John Pilger VERDECKTE ZIELE
Was John Pilger zu einem wirklich großen Journalisten macht, sind sein Mut und seine Unbestechlichkeit. Martha Gellhorn In Pilgers Händen ist die Wahrheit eine Waffe im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt. Guardian
John Pilger
VERDECKTE ZIELE Über den modernen
IMPERIALISMUS
Aus dem Englischen von Waltraud Götting
Zweitausendeins
Deutsche Erstausgabe 1. Auflage, April 2004 2. Auflage, Oktober 2004
Gescannt von c0y0te. Nicht seitenkonkordant. Das Register wurde entfernt. Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
Unsere Ausgabe stützt sich auf zwei englische Originalausgaben. Das Kapitel »Das große Spiel« ist The New Rulers of the World entnommen, alle anderen Kapitel entstammen Hidden Agendas. Die »Einleitung« haben wir mit Einwilligung des Autors aus den »Introductions« beider Werke zusammengestellt. Hidden Agendas ist 1998 bei Vintage in London erschienen, The New Rulers of the World 2002 bei Verso in London. Copyright © 1998 and 2002 by John Pilger. Alle Rechte für die deutsche Ausgabe und Übersetzung Copyright © 2004 by Zweitausendeins, Postfach, D-60381 Frankfurt am Main. www.Zweitausendeins.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Textteile. Der gewerbliche Weiterverkauf und der gewerbliche Verleih von Büchern, CDs, CDROMs, DVDs, Downloads, Videos oder anderen Sachen aus der Zweitausendeins Produktion bedürfen in jedem Fall der schriftlichen Genehmigung durch die Geschäftsleitung vom Zweitausendeins Versand in Frankfurt am Main. Lektorat und Nachbemerkungen: Klaus Gabbert (Büro W, Wiesbaden). Register der deutschen Ausgabe: Ekkehard Kunze (Büro W, Wiesbaden). Korrektur: Beate Koghn, Frankfurt. Umschlaggestaltung: Sabine Kauf, Plön. Satz und Herstellung: Dieter Kohler GmbH, Nördlingen. Druck + Einband: Freiburger Graphische Betriebe. Printed in Germany. Dieses Buch gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand, Postfach, D 60381 Frankfurt am Main, Telefon 069 420 8000, Fax 069-415 003. Internet www.Zweitausendeins.de, E-Mail
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Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit. George Orwell, 1984
Für Jane, José, Sam und Zoë
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das große Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichts hat sich geändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die unsichtbare Faust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweierlei Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 23 45 67
Das Medienzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kulturelles Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Glaubenswächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das letzte Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103 105 159 215
Rückkehr nach Vietnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immer noch eine gerechte Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die letzte Schlacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . China Beach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245 247 269 305
Die Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willkommene Feinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Apartheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 315 337
Die Welt aus der Sicht von Dimbaza . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351 7
Inhalt
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
A
ls US-Vizepräsident Dick Cheney sagte, der »Krieg gegen den Terrorismus« könne ohne weiteres 50 Jahre oder länger dauern, rief er damit unwillkürlich George Orwells prophetischen Roman 1984 in Erinnerung. Wie es aussieht, sollen wir in ständiger Furcht vor einem imaginären, nicht enden wollenden Krieg leben, damit wir die zunehmende soziale Kontrolle und staatliche Repression gutheißen, während zugleich die einzige Supermacht ihre globale Vorherrschaft ausbaut. Washington wird zur »Hauptstadt von Landefeld Eins«, die alle Probleme finsteren Feinden anlastet. Bei Orwell heißt der Inbegriff des Bösen Emmanuel Goldstein. Er kann aber ebenso gut auch Osama Bin Laden heißen oder etwa die »Achse des Bösen«. Drei Maximen beherrschen in Orwells Roman die Gesellschaft: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, und Unwissenheit ist Stärke. Auch das heutige Schlagwort vom »Krieg gegen den Terrorismus« stellt die Tatsachen auf den Kopf. Der Krieg ist Terrorismus. Die schlagkräftigste Waffe in diesem Krieg sind Pseudoinformationen, die – nur der Form nach von denen unterschieden, die in Orwells Roman vorgeführt werden – unangenehme Tatsachen und historische Zusammenhänge verschweigen. Dass Kritik, Abweichung und Opposition innerhalb bestimmter konsensueller Grenzen geduldet werden, nährt nur die Illusion unbegrenzter Meinungs- und Informationsfreiheit. Es stimmt nicht, dass seit dem 11. September 2001 nichts mehr so ist, wie es zuvor war. Die Anschläge haben lediglich als will9
Verdeckte Ziele
kommener Vorwand herhalten müssen, um soziale und rechtsstaatliche Prinzipien über Bord zu werfen, und damit die ohnehin in Gang befindlichen Ereignisse beschleunigt. In einer Zeit, in der in den Vereinigten Staaten verfassungsmäßig verbriefte Rechte abgebaut und in Großbritannien die Unabhängigkeit der Justiz und mit ihr eine Vielzahl bürgerlicher Freiheiten unterminiert werden, verkommt die Demokratie allmählich zum Wahlritual: zum Wettlauf voneinander nicht mehr unterscheidbarer Parteien um die führende Rolle in einem Einideologienstaat. Der entscheidende Wachstumsmotor dieses Staates, dessen eine Ideologie den Bedürfnissen der Privatwirtschaft dienstbar ist, sind die Medienkonzerne, denen Zeitungen und Fernsehsender, Buchverlage, Filmproduktionsfirmen und Datenbanken gehören und deren Macht noch nie so groß war wie heute. Sie schaffen eine virtuelle Welt der »ewigen Gegenwart«, wie es ein Journalist des Time Magazine einmal ausgedrückt hat: Politik via Medien, Krieg via Medien, Gerichtsbarkeit via Medien und sogar Trauer via Medien (wie etwa beim Tod von Prinzessin Diana). Das wichtigste Anliegen dieser Medienkonzerne ist die Feier der »globalen Wirtschaft« – ein moderner Begriff ganz im Sinne Orwells. Deren Verheißungen sind weltweite Handelsbeziehungen, Handys, McDonald's- und Starbucks-Filialen an jeder Ecke sowie das Buchen von Pauschalreisen im Internet. Hinter der glänzenden Fassade führt sie zu einer Globalisierung der Armut, zu einer Welt, in der die meisten Menschen niemals ein Telefon benutzen und von weniger als zwei Dollar am Tag leben müssen, in der täglich 6000 Kinder an Durchfallerkrankungen sterben, weil sie keinen Zugang zu sauberem Wasser haben.1 In dieser Welt hat, weitgehend unbemerkt von uns Bewohnern der nördlichen Hemisphäre, ein raffiniertes System der Ausbeutung dazu geführt, dass seit den 80er Jahren mehr als 90 Staaten Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen wurden, 10
Einleitung
in deren Folge die Kluft zwischen Arm und Reich so tief geworden ist wie nie zuvor. »Staatsbildung« und »verantwortungsvolles Regierungshandeln« sind die Begriffe, die die Quadriga an der Spitze der Welthandelsorganisation (USA, Europa, Kanada, Japan) und das Washingtoner Triumvirat (Weltbank, Internationaler Währungsfonds und US-Finanzministerium) für diesen Prozess geprägt haben, in dessen Rahmen sie den Regierungen der Entwicklungsländer bis ins letzte Detail ihre Vorgaben aufnötigen. Ihre Macht gründet sich vor allem auf die hoffnungslose Verschuldung der Dritten Welt, die die ärmsten Länder zwingt, täglich 100 Millionen Dollar an ihre westlichen Gläubiger zu bezahlen. Die Folge ist eine Welt, in der eine privilegierte Schicht von weniger als einer Milliarde Menschen über 80 Prozent aller Reichtümer der Erde verfügt. Die Propagandisten dieses Prozesses sind die multinationalen Medienkonzerne in US-amerikanischem und europäischem Besitz, zu denen auch die wichtigsten Nachrichtenagenturen gehören. Mit Hilfe modernster Technik haben sie die »Informationsgesellschaft« in ein Medienzeitalter überführt, in dem politisch unbedenkliche Informationen im Sinne der »Staatsbildner« ständig wiederholt und andere Informationen als unliebsame oder vermeintlich irrelevante weitgehend ausgeblendet werden. Dieses Buch ist den Ereignissen gewidmet, die für uns gemeinhin nicht stattfinden, weil sie keinen Nachrichtenwert haben. Ob aus Diego Garcia, Vietnam oder Südafrika: Von überall her erreichen uns bloß beiläufige Eindrücke in den Abendnachrichten, die gleich wieder in Vergessenheit geraten. Sie sind der flüchtigste Teil eines Bilderstroms, der »im Rhythmus einer Coca-Cola-Werbung aufgenommen und bearbeitet wird«, wie es ein Medienkritiker ausdrückt, der ausgerechnet hat, dass die Länge einer einzelnen Nachricht von durchschnittlich 42,3 Sekunden im Jahr 1968 auf nur noch 9,9 Sekunden geschrumpft ist.2 Selbst im 11
Verdeckte Ziele
britischen Fernsehen, das immer noch als das informativste der Welt gepriesen wird, haben nur drei Prozent aller im Abendprogramm ausgestrahlten Sendungen thematisch irgend etwas mit der Dritten Welt, also dem größeren Teil der Menschheit, zu tun – Sendungen zudem, die im Wesentlichen in den Minderheitenprogrammen der kleinen Kanäle laufen. Im globalen Dorf der Medien existieren andere Nationen nur, wenn sie für »uns« von Nutzen sind.3 Hinter der Fassade der Objektivität und des journalistischen Berufsethos folgen Nachrichten heute der immer gleichen ideologischen Ausrichtung, die der Kult des Marktes vorgibt, und sie werden in ein politisches und gesellschaftliches Vokabular gekleidet, das die eigentliche Wahrheit verschleiert. So wird die systematisch um sich greifende Verarmung eines Viertels der Bevölkerung in Großbritannien, den USA und in weiten Teilen Europas als Problem einer sozial unangepassten und verkommenen Unterschicht abgebucht, die ohnehin außerhalb der Gesellschaft steht. Über die Lösung des Problems, die darin bestehen würde, die unermesslichen Schätze, die sich die Reichen auf Kosten der Armen angeeignet haben, umzuverteilen, wird kaum ernsthaft diskutiert. Und genauso selten wird die neue gesellschaftliche Ordnung, in der die Machtlosen dem Kapitalismus zum Opfer fallen und die Mächtigen sich eines Sozialismus erfreuen, der sie mit öffentlichen Subventionen in Milliardenhöhe versorgt, als die entlarvt, die sie ist. Lieber spricht man von »Modernisierung«. Auch die vielen kleinen, sich über Jahre hinziehenden Kriege in den abgelegenen Weltgegenden gehören zu den Ereignissen, die in der Regel nur einen geringen Nachrichtenwert haben. Für ein Feuerwerk in den Medien sorgen bloß die spektakulären Überfälle, Großangriffe und Bombardements. Aber sie werden für den »Konsumenten« vor dem heimischen Fernseher zu leicht 12
Einleitung
verdaulichen Fastfood-Happen aufbereitet. So wurden die beiden Golfkriege als Wunder technischer Errungenschaften dargestellt, die, wie es ein Journalist 1991 ausdrückte, »unglaublich wenige Todesopfer« gefordert haben.4 Obwohl über kaum einen Krieg so viel berichtet wurde wie über diese beiden, haben allerdings nur wenige Journalisten die Wahrheit über die Anzahl der Iraker enthüllt, die, als Kombattanten oder als unbeteiligte Zivilisten, dabei ums Leben kamen. Den geringsten Nachrichtenweit hatte das Schicksal der irakischen Kinder. Wer weiß schon, dass mindestens eine halbe Million Kinder infolge der von den Westmächten verhängten Wirtschaftssanktionen gestorben sind? Wer begreift schon, dass diese Sanktionen nicht dazu gedient haben, Saddam Hussein zu entmachten oder ihn am Bau seiner ominösen Massenvernichtungswaffen zu hindern, sondern dazu, das irakische Öl vom Markt zu verdrängen, das den Preis des von Saudi-Arabien – neben Israel wichtigster Verbündeter des Westens und bedeutendster Waffenkäufer im Nahen Osten – geförderten Öls gedrückt hätte?5 Die irakischen Kinder sind »Unpersonen«, sie zählen für die Medien nicht. Ebenso wenig wie die halbe Million Kinder, die einem UNICEF-Bericht zufolge aufgrund der Schuldenlast ihrer Regierungen jährlich sterben.6 Unpersonen wie sie sind die Helden dieses Buches. Ihr beredter Widerstand und ihr Mut sind genauso bedeutsam wie die verborgenen Ursachen ihrer Not. Um sie geht es – wie auch um Macht, Propaganda und Zensur. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Recht der Menschen, die Wahrheit zu erfahren und sich Gehör zu verschaffen, und der Freiheit selbst. Aber im Medienzeitalter ist Unwissenheit Trumpf und das Verschweigen der Wahrheit an der Tagesordnung. Wer beispielsweise auch nur den Versuch macht, den Ursachen der Anschläge vom 11. September auf den 13
Verdeckte Ziele
Grund zu gehen, zieht den geballten Zorn seiner Kollegen auf sich. »Leute wie John Pilger und Noam Chomsky wollen die Täter offenbar von ihren Verbrechen freisprechen.« So formulierte es der australische Journalist und Universitätsprofessor David McKnight7, nachdem ich im Guardian geschrieben hatte: »Die Wahrheit [über den 11. September] ist, dass der Mord an Tausenden unschuldiger Menschen weder in Amerika noch sonst wo in der Welt gerechtfertigt ist.«8 Für McKnight und diejenigen, zu deren Sprachrohr er sich macht, ist die Ermordung Tausender unschuldiger Menschen in Afghanistan »die globale Entsprechung einer Polizeirazzia gegen das Verbrechen«, wobei »Gewaltanwendung bei der Festnahme von Kriminellen manchmal nicht zu vermeiden ist«. Die schlichte Feststellung, dass ein afghanischer Bauer das gleiche Recht hat zu leben wie ein Bürger New Yorks, ist unmöglich, ist ein Skandal. Die rücksichtslose Zerstörung afghanischer Dörfer, in denen weit und breit kein Taliban- oder Al-QaidaKämpfer zu entdecken war, wird als »unvermeidlich« hingenommen. Das Leben mancher Menschen ist nun einmal mehr Wert als das anderer, und nur der Mord an friedlichen Bürgern der einen Kategorie zählt als Verbrechen. Auf diese uralte Lüge setzen gleichermaßen die terroristischen Banden von Osama Bin Laden und George W. Bush. Und wenn man sich in der Geschichte umsieht, dann befinden sie sich in bester Gesellschaft. Im Rahmen der CIA-Operation »Zyklon« wurden mindestens 35 000 islamische Fundamentalisten, aus denen sich spater die Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer rekrutierten, ausgebildet und bewaffnet.9 »Der [von den USA finanzierte] Dschihad«, schreibt John Cooley in seinem Standardwerk Unholy Wars: Afghanistan, America and International Terrorism, »wurde von der Regierung Thatcher bedingungslos unterstützt.« Einen großen Teil der Koordinationsarbeit in Isla14
Einleitung
mabad leisteten Beamte des britischen Geheimdienstes MI6. Osama Bin Laden ließ man »völlig freie Hand«.10 Den amerikanischen Steuerzahler kostete das Ganze vier Milliarden Dollar. Es wäre die Aufgabe von Journalisten, solche Fakten aufzudecken, damit Nachrichten eine Bedeutung haben und sich nicht nur als unaufhörliches Echo im medialen Hintergrundrauschen verlieren. Gore Vidal stellt fest: »Den Medien wurde in gewohnter Manier der Part zugeschrieben, die öffentliche Meinung gegen Bin Laden einzustimmen, dessen Rolle als Drahtzieher [hinter den Ereignissen des 11. September] bis heute nicht bewiesen ist. Solche Medienkampagnen erinnern manchmal an das klassische Ablenkungsmanöver eines Zauberers: Während wir fasziniert das bunt schillernde Seidentuch in seiner Rechten beobachten, steckt er uns mit der Linken unbemerkt das Kaninchen in die Tasche. Die CIA schwor Stein und Bein, nie mit Bin Laden zusammengearbeitet zu haben. Und das Gerede darüber, die Familie Bush habe in irgendeiner Weise von ihrer Verbindung mit der Familie Bin Laden profitiert, war schließlich – was sonst? – auch nur eine geschmacklose Verleumdung.«11
Tatsächlich steckte der Bush-Clan nicht nur bis zum Hals in Geschäften mit den Bin Ladens, sondern die »Cheney-Bush-Öl-undGas-Junta«, wie Vidal sie getauft hat, verfolgte Ziele, angesichts derer es erlaubt sein muss, zu den Monaten vor dem 11. September und auch zu den Tagen und Wochen, die darauf folgten, die bisher unbeantworteten Fragen zu stellen, die hier im Kapitel »Das große Spiel« aufgeworfen werden. Mit Hilfe der amerikanischen und britischen Presse schuf der US-Geheimdienst das, was die CIA bezogen auf Indochina als »Meisterillusion« zu bezeichnen pflegte. Es war dies die Geschichte von den Massenvernichtungswaffen des Irak. Es gibt bis heute keinen Beweis dafür, dass diese Gefahr jemals real existiert hat. Selbst zahlreiche Experten, darunter auch Scott Ritter, der 15
Verdeckte Ziele
frühere UN-Waffeninspekteur für den Irak, haben sie entschieden in Abrede gestellt.12 Aber für Bushs Strategie des »totalen Krieges« nach dem 11. September war die irakische Bedrohung von zentraler Bedeutung. Die Aufforderung von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an seine Mitarbeiter im Pentagon, »sich das Unvorstellbare vorzustellen«, legt den Eindruck nahe, dass die einzige Supermacht der Welt in die Hände von Fundamentalisten gefallen ist. Ihr fanatischer Eifer hatte ein Gemetzel zur Folge, das den nichtstaatlichen Terrorismus jener, die Flugzeuge in Hochhäuser lenken und Discos auf Bali in die Luft sprengen, weit in den Schatten stellt. Die Öl-und-Gas-Junta in Washington wird zunehmend beeinflußt vom Defence Policy Board (DPB), dem Beratergremium Donald Rumsfelds und seines Stellvertreters Paul Wolfowitz. Diese als »Wolfowitz-Verschwörer« bekannt gewordene Clique repräsentiert die Crème de la Crème der extremen Rechten in den Vereinigten Staaten und steht hinter dem »Krieg gegen den Terrorismus«, der letztendlich nichts anderes ist als ein Konzept des »totalen Krieges«. Richard Perle war bis vor kurzem einer der maßgeblichen Köpfe dieses Gremiums. Ich habe ihn 1987 interviewt, als er noch zum Beraterstab Ronald Reagans gehörte. Damals hielt ich ihn schlicht für verrückt. Aber ich war im Irrtum, denn das USamerikanische Projekt der Welteroberung, das von der BushClique lediglich weiter vorangetrieben wird, folgt einer vollkommen nachvollziehbaren Logik. Der »Krieg gegen den Terrorismus« (oder, wie es der Monty-Python-Komiker Terry Jones ausgedrückt hat, die »Bombardierung eines abstrakten Nomens«) ist Teil dieser Logik. Der Terrorismus wurde als Ersatz für die »rote Gefahr« gesucht und gefunden, mit ihm wird Angst geschürt und ein permanenter Kriegszustand gerechtfertigt, und 16
Einleitung
er dient als Begründung für die Verwirklichung des größten Raketenabwehrprogramms aller Zeiten: des National Missile Defense Programme (NMD). Ziel des Programms ist es dem USWeltraumkommando zufolge, »full spectrum dominance« zu erreichen, das heißt, die militärische Fähigkeit, jede Situation, jedes Terrain und jeden Gegner zu jeder Zeit zu beherrschen.13 Aber darin erschöpft sich die Vision nicht. »Full spectrum dominance« gilt auch im Hinblick auf Wirtschaft und Handel. Faktisch heißt das nichts anderes, als Einfluss auf fremde Regierungen zu nehmen oder, wie es die New York Times ausdrückt, »ihre Innenpolitik an die kurze Leine« zu legen. Alle abweichenden Meinungen auf der Bühne der Weltpolitik werden in dieser Logik zu einem »Problem der internationalen Sicherheit«. Was wir dringend brauchen, ist ein Gegengewicht zu einer Propaganda, die Gefahren an die Wand malt, wie sie zu Zeiten des Kalten Krieges nicht größer waren. Wir müssen uns die mörderische Doppelmoral bewusst machen und erkennen, dass der argumentative Rückgriff auf »Völkerrecht« und »Völkergemeinschaft« oft nicht dem Interesse der Mehrheit, sondern dem Erhalt der Macht dient. So konnten die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Großbritannien und ein paar bestochenen Lakaien ein Schmierentheater inszenieren und das Ganze »Koalition« nennen, um dann in Piratenmanier über andere Länder herzufallen, während über 400 UN-Resolutionen zur Lage der Palästinenser das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben wurden. Nach dem 11. September schrieb Robin Theurkauf, Professorin für internationales Recht in Yale: »Der Nährboden des Terrorismus sind Armut, Unterdrückung und Unwissenheit. Bemühungen, diese Missstände zu beseitigen und den Menschenrechten überall in der Welt Geltung zu verschaffen, müssen an erster Stelle stehen.« Sie hat ihren Mann Tom bei den Anschlägen auf das World Trade Center verloren. 17
Verdeckte Ziele
»Um von totalitären Ideologien verblendet zu werden, muss man nicht in einem totalitären Staat leben«, schrieb Orwell.14 Es gibt keine Alternativen mehr, sondern nur noch einen Weg, behaupten die Big-Brother-Medien und die anderen Mythenschöpfer des Marktes, unserem Pendant zu »Ford«, der herrschenden Gottheit in Aldous Huxleys Schöner Neuer Welt. Und es gibt keinen namhaften kritischen Journalismus mehr, der sich daran stört, dass sich die Bedeutung der politischen Sprache umgekehrt hat. Wenn von »Reform« gesprochen wird, ist Destruktion gemeint, »Reichtum schaffen« heißt nichts anderes als das Abschöpfen von Reichtümern durch immer größer werdende Wirtschaftskonzerne. Widerstand ist Abkehr vom rechten Glauben, Fatalismus wird zum Ideal erhoben. An die Stelle der Privilegien der »Entdecker und Eroberer«, die Christoph Kolumbus in einer Welt genoss, die der Papst als sein Eigentum betrachtete und mit der er nach Belieben verfahren konnte, sind andere als göttlicher Wille deklarierte Akte der Piraterie getreten. Heute genießen Weltbank, Internationaler Währungsfonds und andere Institutionen, befugt durch die neuen Päpste in Washington, die Freiheit der Eroberung.15 Das angestrebte Ziel der westlichen Mission ist, wie es Bill Clinton formuliert hat, »die Integration der Staaten in die Gemeinschaft des freien Weltmarkts«. Doch das Gelingen dieser Mission ist alles andere als gesichert. Das ganze auf Geld, Informationstechnologien und Illusionen gegründete Gebäude steht auf tönernen Füßen. Die Menschen in aller Welt bekommen das zu spüren. Die Wirtschaft der Tigerstaaten ist eingebrochen, und auf den globalisierten Aktienmärkten herrscht Ernüchterung. Mehr als 700 Millionen Menschen sind arbeitslos, davon gut und gern 40 Millionen in den reichen Industrieländern. Viele der Arbeitslosen sind junge Menschen, viele fühlen sich um ihre Hoffnungen betrogen, viele reagieren mit Verbitterung. 18
Einleitung
Und viele Menschen in der »unterentwickelten« Welt haben ein so starkes politisches Bewusstsein gewonnen, dass sie den Prozess nicht als unausweichlich hinnehmen werden. Der uruguayische Schriftsteller und Journalist Eduardo Galeano, Meisterpoet des schwarzen Humors, hat es auf seine Weise ausgedrückt: »Es scheint, als sei kein Platz mehr für Revolutionen außer in den Schaukästen der archäologischen Museen und kein Platz mehr für die Linke außer für die reumütigen Linken, die sich bereitwillig zur Rechten des Bankenkapitals niedergelassen haben. Wir sind alle eingeladen zum Weltbegräbnis des Sozialismus. Die ganze Menschheit wird ihm das letzte Geleit geben, behaupten sie. Ich muss gestehen, ich glaube nicht daran. Sie tragen die falsche Leiche zu Grabe.«16 Dieses Buch zollt den Menschen Tribut, die nicht an dem Begräbnis teilnehmen, sondern stattdessen die verdeckten Ziele von Regierungen, Konzernen und ihren Bürokratien ans Licht bringen: Menschen vom Schlag eines Mordechai Vanunu, der mehr als ein Jahrzehnt in Einzelhaft verbrachte, weil er die Welt über die israelischen Atomwaffenprogramme aufgeklärt hat, und einer Aung San Suu Kyi, die auch dann, wenn birmanische Soldaten in Sturmuniform vor ihrer Tür stehen, noch daran glaubt, dass ihr Land in absehbarer Zukunft frei sein wird. Das Buch ist eine Anklage gegen einen Journalismus, der sich selbst als frei bezeichnet und sich über seine Unfreiheit hinwegtäuscht. Es ist damit zugleich eine Hommage an diejenigen Journalisten, die, indem sie sich nicht im Dienst der Macht instrumentalisieren lassen, zu deren Entmystifizierung und Kontrolle beitragen. »Die Wahrheit ist immer subversiv«, hat ein indonesischer Freund und Kollege einmal zu mir gesagt. »Warum sonst sollten Regierungen so viel Mühe darauf verwenden, sie zu unterdrücken?« 19
DAS GROSSE SPIEL
Nichts hat sich geändert Für mich, das gebe ich zu, sind [Länder] die Figuren auf einem Schachbrett, auf dem ein großes Spiel um die Weltherrschaft ausgetragen wird. Lord Curzon, Vizekönig von Indien, 1898 Wir besitzen ungefähr 50 Prozent des weltweiten Reichtums, aber wir sind nur 6,3 Prozent der Weltbevölkerung. In dieser Situation ist es unsere wirkliche Aufgabe für die kommende Zeit …, unsere Position der Ungleichheit beizubehalten. Um dies zu erreichen, müssen wir jegliche Sentimentalität und Tagträumerei über Bord werfen … Wir sollten aufhören, uns Gedanken über Menschenrechte, Verbesserung des Lebensstandards oder Demokratisierung zu machen. George Kennan, US-Stratege, 1948 Das ist der dritte Weltkrieg. Thomas Friedman, New York Times, 2001
E
in Krieg ist niemals eine angenehme Sache«, schrieb der liberale Independent on Sunday während des Golfkriegs 1991. »Da passieren Dinge, die für eine zivilisierte Gesellschaft nicht vorstellbar sind. Dieses Flächenbombardement ist eindeutig furchtbar. Aber das heißt nicht, dass es falsch ist.«1 In einem anderen Krieg konnte ich von einem Reisfeld in der Nähe von Saigon aus beobachten, wie am Himmel drei leiterförmige Bogengebilde erschienen, und jedes Mal, wenn eine Sprosse den Boden berührte, loderte ein Feuerball auf, und ein Dröhnen lief durch die tiefen Täler wie ein Donner, der sich nicht mit einem Schlag 23
Das Große Spiel
entlädt, sondern langsam grollend anschwillt. Es waren Bomben, abgeworfen von einer Dreierstaffel B-52-Maschinen, die unsichtbar über den Wolken flogen. Insgesamt warfen sie etwa 70 Tonnen Sprengstoff in einem »Rechteckfeld« ab, wie Militärs das Flächenbombardement umschreiben, bei dem innerhalb des »Rechtecks« alles zerstört wird. Als ich ein Dorf innerhalb des »Rechtecks« erreichte, fand ich die Straße in einen Krater verwandelt; im Umkreis von 30 Metern von der Einschlagstelle waren von den Menschen, die sich dort befunden hatten, nicht einmal mehr die verkohlten Schatten übrig, die von den Bombenopfern in Hiroshima geblieben waren. Auf dem Boden lagen zerfetzte Gliedmaßen und die Leichen von Kindern, die von der Explosion durch die Luft geschleudert worden waren; ihre Haut hatte sich wie Pergament zusammengerollt. Absurde Ängste bestürmten mich: Ich fürchtete, auf jemanden zu treten und die Sterbenden zu stören. Aber hier lebte nichts und niemand mehr. Stattdessen rutschte ich auf dem Bein eines Wasserbüffels aus. Erlebnisse wie dieses haben in mir ein tiefes Misstrauen gegen die Macht geweckt, die aus der Ferne ausgeübt wird – nicht nur von denen, die sich hinter den Wolken verbergen, sondern auch von den unangreifbaren, fernen Gestalten, die den Befehl zum Massenmord geben, und von jenen, die ihre Verbrechen herunterspielen, indem sie ihre Opfer als Terroristen präsentieren oder als bloße Zahlen ohne Namen, Gesichter und Vergangenheit oder aber als den unumgänglichen, wenn auch bedauerlichen Preis für den Sieg des moralisch Überlegenen. Dreißig Jahre nach diesen Ereignissen erklärte der britische Verteidigungsminister Geoffrey Hoon vor dem Parlament den Einsatz von Splitterbomben in Afghanistan für »absolut angemessen. Gegen bestimmte Ziele sind sie die besten und wirkungsvollsten Waffen, die wir haben«.2 24
Nichts hat sich geändert
Ich stand auf der Veranda eines Krankenhauses oberhalb von Hongai, einer kleinen nordvietnamesischen Bergwerksstadt mit Fischereihafen in der malerischen Ha-Long-Bucht im Golf von Tonking. Die Ärztin Luu Van Hoat sagte mir, dass ihrer Schätzung nach zehn Prozent der Kinder in dieser Stadt taub waren. »Wir hatten das Gefühl, als würde in unserem Kopf eine große Trommel geschlagen«, erzählte sie. Im Juni 1972 flogen amerikanische Kampfbomber innerhalb von drei Tagen 52 Luftangriffe gegen Hongai. Vermutlich ein einsamer Rekord. Sechs Jahre lang wurde die Stadt in unregelmäßigen Abständen zum Ziel schwerer Bombardements. Kaum eine andere Gegend der Welt ist je so massiv und systematisch bombardiert worden. Die Stadt kann außerdem für sich in Anspruch nehmen, eines der ersten Ziele der so genannten Schrapnellbombe, einer Vorläuferin der modernen Clusterbombe, gewesen zu sein. Diese neue Waffe streute Hunderte von Splittern aus, die zum Teil wie Pfeile geformt waren. In den Trümmern der einzigen Schule des Orts entdeckte ich einen Brief. Er stammte von einem Mädchen namens Nguyen Thi An. »Die Kinder haben in jenen Tagen viele Briefe an sich selbst geschrieben«, erzählte mir ein Lehrer. »Ich heiße Nguyen Thi An. Ich bin 15 Jahre alt. Dieser Brief kommt aus Hongai am Fuß des Berges Bai Tho, wo sich die Meereswellen mit sanftem Rauschen am Strand brechen und wo ich geboren bin. Ich hatte die siebte Klasse der Cao-Thang-Schule beendet. Es war ein strahlend schöner Tag, und meine Mutter hatte mich gebeten, den Tisch zu decken. Mein Vater war von der Arbeit nach Hause gekommen. [Er war Bergarbeiter]. Dann hörte ich die Sirene und rannte zum nächsten Schutzbunker. Ich konnte die Flugzeugmotoren und die Detonationen hören. Als das Sirenengeheul vorbei war, lief ich hinaus. Da lagen meine Mutter und mein Vater, mein Bruder Nguyen Si Quan und meine Schwester Nguyen Thi Binh waren voller Blut. Meine Schwester hatte Metallsplitter im Körper, genau wie 25
Das Große Spiel ihre Puppe. Sie schrie immer wieder: ›Wo sind meine Eltern? Wo ist meine Puppe?‹ Die Ha-Long-Straße, in der ich gewohnt habe, ist völlig verwüstet. Ich mache jetzt Schluss mit meinem Brief.«
In der Straße, in der die Familie Nguyen gewohnt hat, waren Schrapnellbomben eingeschlagen. Nach Aussage von Dr. Luu waren die Splitter in den Körper von Thi Ans Schwester Binh eingedrungen. Dort waren sie gewandert und hatten dabei innere Verletzungen verursacht, an denen das Kind nach einigen Tagen schließlich qualvoll gestorben war. Die Splitter bestanden aus einer Plastikart, die auf dem Röntgenbild schwer zu entdekken ist. Wie ich später las, war dies von den Konstrukteuren beabsichtigt. Eine häufiger gebrauchte Variante der Streubombe, so genannte Rockeyes, wurde im benachbarten Laos erprobt. Sie zerplatzen schon im Anflug und setzen bis zu 160 Explosivkörper oder Minibomben frei. Die Hälfte dieser Geschosse bleiben auf der Erde liegen, bis ein Tier oder ein Mensch darauftritt oder sie von einem neugierigen Kind auf-gehoben werden, was oft geschieht. Dann erst explodieren sie. Noch 30 Jahre später werden in Laos, einem kleinen Land, das sich nie offiziell im Krieg mit den USA befand und im Zuge der Angriffe gegen Vietnam und Kambodscha eher beiläufig bombardiert wurde, jährlich schätzungsweise 20 000 Menschen durch Blindgänger getötet oder verstümmelt. Clustermunition wird eingesetzt, um die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, sie ist eine Zeitbombe, die sich in ihrer Wirkung nicht von den mittlerweile international geächteten Anti-Personen-Minen, um den militärischen Terminus zu gebrauchen, unterscheidet. An dem Tag, an dem Geoffrey Hoon dem britischen Parlament Clusterbomben als »unsere besten und wirkungsvollsten Waffen« anpries, regneten dieselben auf die bitterarme Stadt 26
Nichts hat sich geändert
Gardes in Afghanistan herab, die sich längst nicht mehr in den Händen der Taliban befand. Die Zahl der Opfer ist unbekannt. Bekannt ist nur, dass sieben Mitglieder einer Flüchtlingsfamilie getötet und drei weitere verwundet wurden. Sie hatten Zuflucht in den beim Angriff zerstörten Gebäuden der UN-Behörde gesucht, die für die Räumung von Landminen zuständig war. Die bittere Ironie des Geschehens blieb in der Presse unerwähnt: Clusterbomben sind Landminen. Der einzige Unterschied zu den Landminen, die durch ein internationales Abkommen geächtet sind, besteht darin, dass sie aus der Luft abgeworfen werden. Derzeit befinden sich auf afghanischem Boden schätzungsweise 70 000 dieser tödlichen amerikanischen Minibomben – mehr als in jedem anderen Land dieser Welt.3 So sieht der »Krieg gegen den Terrorismus« aus. Der historische Zusammenhang ist unübersehbar. Dieselben B-52-Bomber, die Tod und Verwüstung über Indochina gebracht haben, warfen Bomben über den Zivilisten ab, die massenhaft aus dem nordafghanischen Kundus flüchteten. »Ich habe 20 tote Kinder auf der Straße gesehen«, erzählt der Flüchtling Zumeray. »Allein gestern wurden 40 Menschen getötet [insgesamt waren es in drei Tagen etwa 150 Zivilisten]. Einige sind bei den Bombenangriffen verbrannt, andere wurden unter den Mauern und Dächern ihrer Häuser begraben, als diese durch die Explosionen einstürzten.«4 Die Belagerung von Kundus endete in einer Festung namens Qala-i-Jhangi, ein Name, der sich in das »zivilisierte« Gedächtnis eingraben sollte; »zivilisiert« ist ein Wort, das in diesen Tagen oft und gern bemüht wird. Zur Unterstützung der Truppen von General Raschid Dostum, einem Warlord der Nordallianz, forderten amerikanische und britische Spezialeinheiten amerikanische Kampfflugzeuge an. Dostum, später stellvertretender Verteidigungsminister in der neuen Regierung, hatte sich als Anführer einer usbekischen Miliz einen Namen als besonders brutaler 27
Das Große Spiel
Kriegsherr gemacht, dem es schon einmal einfallen konnte, seine Feinde an Panzerketten zu fesseln. Die Männer in der Festung waren talibanische Kriegsgefangene. Sie wurden mit Clustermunition bombardiert. Wer die Bombardierung überlebte, wurde mit Öl übergossen und angezündet oder mit auf dem Rücken gefesselten Händen erschossen. Hunderte von Gefangenen wurden auf diese Weise getötet. »Die Zivilisation«, schrieb die Kolumnistin Isabel Hilton im Guardian, »zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie nicht ohne weiteres in Terror und Barbarei abgleitet. Die Afghanen, so hören wir, haben einen Hang zur Brutalität, und es wäre absurd zu erwarten, dass ein Krieg in Afghanistan nach den Regeln eines offiziellen Boxkampfes ausgetragen wird. Aber wessen Krieg ist dies? … Kämpfen sie [die Briten und Amerikaner] nach Dostums Regeln oder nach ihren eigenen? Oder machen wir da inzwischen keinen Unterschied mehr?«5 Nichts hat sich geändert. Nicht die Streubomben, die in Vietnam ihre Feuertaufe bestanden haben. Nicht der Schock, den das liberale Gewissen erleidet, wenn es zu der Erkenntnis gezwungen wird, daß Massenmord, »Terror und Barbarei« nach wie vor zum Standardrepertoire »unserer« Seite gehören. Nicht die Verlogenheit, mit der das reichste Land dieser Erde seine wahren Ziele hinter dem Schleier der Moral verbirgt, wenn es seine überlegene Militärmaschinerie im Namen der »Zivilisation« gegen die Ärmsten in Bewegung setzt. Nur die Technik hat sich weiter entwickelt. Auch das Desinteresse an friedlicher Konfliktlösung ist ungebrochen. 1954 verließ der Außenminister der Vereinigten Staaten, John Foster Dulles, die Genfer Indochinakonferenz, weil sich die Mehrheit auf demokratische Wahlen in beiden Teilen Vietnams zur Wiedervereinigung des Landes geeinigt hatte. Es war der erste Schritt in einen Krieg, der fünf Millionen Menschen das 28
Nichts hat sich geändert
Leben kosten sollte. Ganz in dieser Tradition wurde nach dem 11. September 2001 eine friedliche Lösung der Krise sabotiert. Obwohl die Amerikaner keine anklagetauglichen Beweise dafür vorgelegt hatten, dass Osama Bin Laden der Drahtzieher des Terroranschlags auf das World Trade Center war, hatten die Führer der beiden islamischen Parteien Pakistans ihrer eigenen Aussage nach durch Verhandlungen seine Auslieferung an Pakistan erreicht. Bin Laden sollte in Peschawar unter Hausarrest gestellt werden. Er selbst wie auch der Taliban-Führer Mullah Omar hatten dem Plan zugestimmt. Ein internationales Tribunal sollte dann über eine mögliche Anklage oder die Auslieferung an die Vereinigten Staaten entscheiden. Eine Delegation islamischer Geistlicher aus Pakistan, die das Taliban-Regime stützten, traf in Kandahar mit Mullah Omar zusammen, um ihm klar zu machen, dass die Nichtauslieferung Bin Ladens Pakistan in eine Krise stürzen werde. »Wer immer für diese Tat verantwortlich ist, ob Osama oder nicht, wird nicht unseren Schutz genießen«, erklärte der Informationsminister der Taliban. »Wir baten sie [die pakistanische Delegation], uns Beweise für seine Schuld vorzulegen, denn wie sollten wir ihn sonst ausliefern?« Unter dem Druck der Vereinigten Staaten erhob der pakistanische Präsident Musharraf Einspruch gegen den Plan, der nach den Worten eines amerikanischen Regierungsvertreters »die internationalen Bemühungen zur Gefangennahme Bin Ladens vorzeitig zum Scheitern« hätte bringen können. Vielleicht werden wir nie erfahren, ob der Vorschlag ernst gemeint war und ob er Erfolg gehabt hätte. Als die Bombardierung Afghanistans begann, erklärten die Vereinigten Staaten und Großbritannien übereinstimmend und entgegen der Wahrheit, es habe »nie ein Angebot zur friedlichen Lösung« gegeben. Um Tony Blair zu zitieren: »Man kann mit Bin Laden und dem Taliban29
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Regime keine diplomatischen Verhandlungen führen. … Einen Kompromiss mit diesen Leuten gibt es nicht …, nur die eine Wahl: Du besiegst sie oder sie besiegen dich.« Und George W. Bush meinte dazu: »Ich habe ihnen eine faire Chance gegeben.«6 Wie in Lord Curzons »großem Spiel« wurden in Afghanistan unliebsame Stämme mit Bomben verjagt und durch genehmere ersetzt. Dass beide Seiten im Jargon der modernen Politik »Terroristen« sind, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, dass Präsident Bush die derzeitigen Besatzer in Kabul, die Leute von der Nordallianz, als »unsere Freunde« bezeichnet. Es sind dies die gleichen Leute, die 1992 mit US-amerikanischem Segen schon einmal an die Macht gekommen waren und deren Stammesfehden in den vier Folgejahren etwa 50 000 Zivilisten das Leben kosteten. »Allein im Jahr 1994«, heißt es in einem Bericht der in New York ansässigen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, »wurden in Kabul durch Raketenangriffe und Artilleriebeschuss schätzungsweise 25 000 Menschen, meist Zivilisten, getötet. Ein Drittel der Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt.«7 Und nun haben die neuen Helden, nachdem sie Hunderte von Kriegsgefangenen gefoltert und hingerichtet und die Lagerhäuser internationaler Hilfeorganisationen geplündert haben, in aller Stille ihr altes Macht- und Drogenmonopol wieder etabliert. Eigentlich sollte das Leben für die Frauen in Afghanistan leichter werden, aber die Burka ist ihnen, ebenso wie die meisten Taliban-Gesetze, erhalten geblieben. Nur ein Drittel aller Kinder des Landes besuchen eine Schule, und weniger als drei Prozent von ihnen sind Mädchen. Repressionen gegen Frauen sind an der Tagesordnung; die Vorzeigefrau der Übergangsregierung, die Frauenministerin Sima Samar, verlor ihr Amt und wurde wegen Blasphemie angeklagt. Der neu ernannte Präsident des Obersten Gerichtshofs, Fazul Hadi Shinwari, hat die Beibehaltung von 30
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Strafen nach der Scharia einschließlich Steinigung und Amputation angekündigt. Der von Washington ins Amt gehobene Präsident Hamid Karsai steht einem Stammesrat vor, von dem sich die Mehrheit der Afghanen nicht repräsentiert fühlen. Auf ihn wurde bereits ein Attentat verübt, das er überlebt hat. Seither sorgt eine 46-köpfige Leibwache, Soldaten einer US-amerikanischen Sondereinheit, für seine Sicherheit. Sein Land ist verwüstet, und von dem Geld, das die »Befreier« versprochen haben und mit dem eine zivile Infrastruktur aufgebaut werden sollte, ist nur ein winziger Bruchteil eingetroffen. Die USA haben 10 000 Tonnen Bomben abgeworfen. Nach UN-Schätzungen werden pro Woche 50 bis 100 Menschen durch nicht explodierte Bomben und Landminen getötet oder verletzt.8 Der »Krieg gegen den Terrorismus« selbst ist die größte Heuchelei, und die Jagd auf Osama Bin Laden und seine Spießgesellen eine reine Farce. In Wirklichkeit geht es darum, mit Hilfe von Vasallen die Kontrolle über das früher von der Sowjetunion beherrschte Gebiet Mittelasiens zu gewinnen, das sich durch seinen Reichtum an Öl und Mineralien und seine strategische Bedeutung für die konkurrierenden Großmächte Russland und China auszeichnet. Bis zum Februar 2002 hatten die USA in allen Staaten Zentralasiens militärische Stützpunkte eingerichtet. Gleiches gilt für Afghanistan, dessen heutige Regierung den Segen der Vereinigten Staaten hat. »Amerika wird seine Interessen und seine Präsenz in Zentralasien in einer Art und Weise ausbauen, wie es zuvor [vor dem 11. September] unvorstellbar gewesen wäre.« Diese Erklärung stammt aus dem Mund von US-Außenminister Colin Powell.9 Und das ist nur der Anfang. Das eigentliche militärische und wirtschaftliche Ziel ist viel weiter gesteckt, und die Planung dazu reicht bis in den Zweiten Weltkrieg zurück. Es geht um einen Feldzug, »dessen Ende wir«, wie es US31
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Vizepräsident Cheney ausgedrückt hat, »möglicherweise nicht mehr erleben werden« oder zumindest erst dann, wenn die Vereinigten Staaten ihre Stellung als Torwächter der noch vorhandenen Öl- und Gasquellen der Welt zementiert haben. Cheney und Verteidigungsminister Rumsfeld wurden deutlich, kaum dass die Taliban aus Kabul vertrieben waren. Auf der Liste der potenziellen Feinde der Amerikaner standen »40 bis 50« weitere Staaten. Somalia als angeblicher »Zufluchtsort« der islamistischen Al Qaida nimmt auf dieser Liste einen Spitzenplatz ein, gleich hinter dem Irak. Seinem eigenen Bekunden nach hat Rumsfeld in seinem Ministerium die Devise ausgegeben, »über das Undenkbare nachzudenken«, weil ihm die Visionen des Pentagons für die »Zeit nach Afghanistan« noch »nicht radikal genug« erschienen.10 Kein Wort davon allerdings, dass es in Somalia und im Nordwesten des Indischen Ozeans Öl- und Gasvorkommen von der Größe des Kaspischen Meers gibt. Hier haben amerikanische Firmen bereits ihre Ansprüche angemeldet und warten ungeduldig darauf, dass eine westlich orientierte Regierung das Ruder in die Hand nimmt. Für die Existenz von Stützpunkten der Al Qaida in Somalia liegen den Vereinigten Staaten keinerlei Beweise vor. Washington stützt sich einzig und allein auf die Angaben einer Stammesmiliz namens Rahanwein, Speerspitze des Nachbarstaats Äthiopien, der ein tief verwurzeltes Interesse daran hat, dass die destabilisierenden inneren Kämpfe in Somalia anhalten. Der 11. September hat der Regierung in Washington eine erstaunliche Rechtfertigung für ihr Handeln geliefert. Der frühere pakistanische Außenminister Niaz Naik war bereits Mitte Juli 2001 darüber informiert worden, dass der Beginn militärischer Aktionen gegen Afghanistan für Mitte Oktober geplant war.11 Zu diesem Zeitpunkt warb US-Außenminister Colin Powell in Zentralasien bereits um Unterstützung für den Krieg gegen Afghani32
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stan. Dabei ging es den Vereinigten Staaten weniger um die eher nebensächlichen Menschenrechtsverletzungen der Taliban. Das eigentliche Problem war die Unfähigkeit der Taliban-Regierung, die ursprünglich das Wohlwollen Washingtons genossen hatte, ganz Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihr Einflussgebiet reichte nicht bis in den Norden des Landes, wo verfeindete Mudschaheddin-Gruppen um die Macht stritten. Das Regime ließ also in den Augen der Amerikaner die Stabilität und die Autorität vermissen, die sie bei ihren Geschäftspartnern erwarten. Die unsichere Lage schreckte Investoren ab, die nicht mehr bereit waren, ihr Geld in Pipelines für die Öl- und Gasvorkommen am Kaspischen Meer zu stecken. Die weitgehend unerschlossenen Vorräte an fossilen Brennstoffen in der Kaspischen Senke sind aber heute ein wichtiger, wenn nicht gar entscheidender Faktor in der außenpolitischen Planung der Vereinigten Staaten. 1998 erklärte Dick Cheney, damals noch Berater für den Pipelinebau in verschiedenen zentralasiatischen Republiken, vor führenden Vertretern der Ölindustrie: »Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals eine Region so unerwartet schnell an strategischer Bedeutung gewonnen hätte wie die Kaspiregion.«12 Das westliche Interesse am Kaspischen Meer reicht zurück bis in die Zeit, als erstmals Öl entdeckt und gefördert wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wehrte sich Russland mit allen Mitteln gegen die Bemühungen von John B. Rockefellers Standard Oil Company, dort Fuß zu fassen. »Wissen Sie, wie man in den Vereinigten Staaten Baku buchstabiert? Öl!«, scherzte John Reed, der Journalist und Chronist der russischen Revolution, im Jahr 1919 vor dem Volkskongress des Ostens in Baku, der Hauptstadt Aserbeidschans. Aber nicht nur den USA und den europäischen Kolonialmächten stand der Sinn nach dem kaspischen Öl. Während des Russlandfeldzuges plante Hitler, bevor seinen Truppen der Treibstoff 33
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ausging und sie bei Stalingrad geschlagen wurden, »die kaspischen Bodenschätze als rettende Beute an sich zu bringen und dann nach Süden zu den noch größeren Schätzen in Persien und im Irak vorzustoßen«, wie der heutige Journalist John Rees zu berichten weiß.13 Für den Westen war die Existenz der Sowjetunion ein Ärgernis, weil sie den Weg zu den Öl- und Gasvorräten blockierte, über deren Größe die abenteuerlichsten Spekulationen angestellt wurden. Optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass unter dem größten Binnenmeer der Welt ein Drittel aller irdischen Ölund Gasvorräte lagern könnte. Die flächenmäßig größten Vorkommen finden sich in Kasachstan und Aserbeidschan, etwas kleinere in Turkmenistan und Usbekistan. Nach dem Zerfall der Sowjetunion steigerten sich die Vereinigten Staaten, Russland, China, Frankreich, Großbritannien und Deutschland in eine Art »Ölrausch«, der an die Aufteilung Afrikas durch die westlichen Kolonialmächte erinnert. In den 90er Jahren machten die USA mit einigen medienwirksamen Demonstrationen ihrer »militärischen Reichweite« – den 500 Fallschirmjägern der 82. Division beispielsweise, die nach einem Direktflug vom Heimatstützpunkt in North Carolina über der kasachischen Steppe absprangen – ihre Ansprüche deutlich. Es war die längste Strecke, die bei einer Luftlandeoperation je zurückgelegt worden war, und den Worten eines PentagonGenerals zufolge sollte der Welt damit die Botschaft vermittelt werden, »dass amerikanische Streitkräfte jede noch so abgelegene Region erreichen können«. Da liegt es nahe, dass, wie er hinzufügte, die USA nachdrücklich für die Bildung »unabhängiger Staaten« eintreten, »die in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen«.14 Clintons Energieminister Bill Richardson nahm kein Blatt vor den Mund, als er die ehemaligen Sowjetrepubliken als »Garanten 34
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für die Energieversorgung der Amerikaner« bezeichnete. »Es ist in unserem Interesse, wenn sie auf das wirtschaftliche und politische Engagement des Westens am Kaspischen Meer angewiesen sind, und es ist sehr wichtig für uns, dass die Pipelinepläne zum gewünschten Ergebnis führen.«15 Die Pipelineplanung ist von größter Wichtigkeit, weil Öl und Gas wertlos sind, wenn man sie nicht zu einem Seehafen transportieren kann. Es gibt drei Möglichkeiten, die Pipelines zu verlegen: durch Russland, durch den Iran oder durch Afghanistan. Eine Abhängigkeit von Russland ist für die amerikanische Regierung undenkbar, und der Iran wird seit mehr als 20 Jahren von den Vereinigten Staaten systematisch isoliert. Kein Wunder also, dass die Taliban 1996 nach dem Machtwechsel in Kabul hofiert wurden von einer US-Öllobby, die ein Auge auf »eines der wertvollen Güter des 21. Jahrhunderts« geworfen hatte, wie im Daily Telegraph zu lesen war. »Kenner der Ölindustrie behaupten, der Traum vom sicheren Verlauf einer Pipeline durch Afghanistan sei der eigentliche Grund dafür, dass Pakistan, ein enger Verbündeter der Vereinigten Staaten, den Taliban so viel Wohlwollen entgegengebracht hat und dass die USA deren Machtübernahme stillschweigend gutgeheißen haben.«16 Nach dem 11. September gab es niemanden, der eifriger nach dem Sturz der Taliban rief als das Wall Street Journal. Fünf Jahre zuvor hatte die Stimme des amerikanischen Kapitals allerdings einen ganz anderen Ton angeschlagen. Den Taliban, hatte es damals in dem Blatt geheißen, »ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt am ehesten zuzutrauen, dass sie in Afghanistan Frieden schaffen können«. Nicht zu vergessen die entscheidende Rolle, die ihnen bei der Sicherung »eines der wichtigsten Transportwege für den Export der riesigen Öl- und Gasvorkommen sowie anderer Bodenschätze aus Zentralasien« durch Afghanistan zufallen sollte.17 35
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Die Regierung in Washington brachte den Taliban nicht nur Wohlwollen entgegen, sondern sie lud deren führende Vertreter auch nach Texas ein, wo George W. Bush zu dieser Zeit Gouverneur war und wo sich die Topmanager des Ölkonzerns Unocal (United Oil of California) in Houston höchstpersönlich um sie kümmerten. »15 Cent«, schrieb der kritische Journalist George Monbiot, »bot die Ölfirma diesen Barbaren für 1000 Kubikfuß [28,3 Kubikmeter] Gas, die durch das von ihnen eroberte Land gepumpt wurden.«18 Ein Vertreter der Clinton-Regierung äußerte die Prognose, Afghanistan werde in Zukunft »wie SaudiArabien« eine Ölkolonie ohne demokratische Rechte für die Bevölkerung und mit gesetzlich verankerter Unterdrückung der Frauen sein, und fügte hinzu: »Damit können wir leben.«19 Im Februar 1998 sprach John J. Maresca, der Vizepräsident der Unocal, vor der Asien- und Pazifikkommission des Abgeordnetenhauses über die Möglichkeit des Westens, »die Ölproduktion bis zum Jahr 2010 auf 4,5 Millionen Barrel pro Tag, um mehr als das Fünffache also, zu steigern«. Dazu müsse aber »auf Dauer ein positives Investitionsklima in der Region« geschaffen werden. Mit dem Bau der Pipeline, so Maresca, könne erst begonnen werden, »wenn dort eine anerkannte Regierung im Amt ist, die das Vertrauen von Regierungen, Kreditgebern und unserer Firma genießt« [Hervorhebung von mir]. Davon, dass die Taliban ein grausames Regime errichtet hatten und angeblich der Terrororganisation Al Qaida in ihrem Land Unterschlupf boten, erwähnte er nichts. Als Unocal schließlich die »Absichtserklärung« für den Bau einer Pipeline von Turkmenistan durch Afghanistan unterzeichnete, tat sie dies stellvertretend für ein Konsortium, zu dem die Firmen Enron, Amoco, British Petroleum, Chevron, Exxon und Mobil Oil gehörten. Die Verhandlungspartner bei diesem Geschäft waren der ehemalige Verteidigungsminister und spätere 36
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Vizepräsident Dick Cheney, der frühere Außenminister James Baker und der ehemalige Sicherheitsberater Brent Scowcroft. Sie alle hatten im Kabinett von Bush senior gedient; Cheney und Baker sind in der Ölindustrie groß geworden; Cheney ist gegenwärtig der vielleicht mächtigste Mann im Weißen Haus; und Baker hat seinen Einfluss ebenso wenig eingebüßt wie George Bush senior, der »Präsident der Ölleute«.20 Wenn man die »Öl-GasJunta« der Cheneys und Bushs genauer unter die Lupe nimmt, stellt man fest, dass Vater Bush über die Carlyle-Gruppe, zu der 64 auf Öl-, Gas-, Raumfahrt- und Rüstungsgeschäfte spezialisierte Unternehmen gehören, immer noch als Berater der Familie Bin Laden fungiert und mit dieser auch zweimal persönlich Kontakt hatte.21 Das Pipelinegeschäft platzte, als im August 1998 zwei verheerende Bombenanschläge auf US-Botschaften in Ostafrika verübt wurden und man Al Qaida als Drahtzieher hinter der Tat vermutete. Dem kurzen Liebäugeln mit den Taliban folgte jetzt die Beförderung Hamid Karsais, der früher für eine Unocal-Tochter gearbeitet hatte, ins Präsidentenamt; und zum US-Botschafter in Afghanistan wurde kein anderer als der zum Unocal-Vorstand zählende John J. Maresca ernannt. Auch mit anderen kaspischen Ölrepubliken, die ausnahmslos ein langes Register an Menschenrechtsverletzungen vorzuweisen haben, wurden nach dem Krieg in Afghanistan lukrative Verträge abgeschlossen. Schon in der Vorbereitungsphase des Kriegs hatte Rumsfeld den Regierungen von Tadschikistan und Usbekistan, die sich eine 1500 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan teilen, Zahlungen von »mehreren zehn Millionen Dollar« in Aussicht gestellt.22 Die Russen sind nicht unglücklich über diese Entwicklung, weil sie hoffen, dass die Republiken sich als Gegengewicht zu den Amerikanern an Moskau annähern werden. Seine Kooperationsbereitschaft hat Wladimir Putin Gegenleistungen aus Wa37
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shington eingebracht. So wurde ihm eine weitere Abrüstung strategischer Waffen zugesagt und ein Freibrief für den »Krieg gegen den Terrorismus« in Tschetschenien ausgestellt, dem bisher schätzungsweise 20 000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Tschetschenien ist deshalb so wichtig für Putin, weil Russland keinen anderen Zugang mehr zum kaspischen Öl hat. Den Russen schwebt vor, dass sie Tschetschenien behalten und den USA dafür den Weg nach Zentralasien frei machen. Während amerikanische Bomben auf Afghanistan fielen, war Putin Gast auf Bushs Ranch in Texas, wo er seinen amerikanischen Kollegen, von einem Golfcaddy winkend, als seinen »neuen Busenfreund« pries. China, der zweite große Partner in der »Koalition gegen den Terrorismus«, war das erste Land, das nach den Anschlägen des 11. September 2001 kondolierte. Innerhalb von nur sechs Monaten war aus dem potenziellen Feind ein Freund geworden, dessen Aufnahme in die Welthandelsorganisation kräftige Unterstützung aus Washington erfuhr. Die nach dem TiananmenMassaker verhängten Sanktionen wurden so abgemildert, dass China nun wieder Ersatzteile für die in den 80er Jahren erworbenen Black-Hawk-Hubschrauber kaufen kann. Die Tibetfrage und die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen, die sich die chinesische Regierung vorwerfen lassen muss, sind nicht mehr von Bedeutung. Der Türkei, dem einzigen muslimischen Staat in der NATO, wurden auf Drängen der USA hin Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zur Verfügung gestellt. Die westlichen Staaten lockerten das Embargo, das sie nach Atomwaffentests gegen die pakistanische Militärdiktatur verhängt hatten, und stimmten einer Verlängerung ihrer IWF- und Weltbankkredite zu. Und der US-Senat setzte in aller Eile ein Gesetz durch, das es den USA ermöglichte, Pakistan militärische Sofort38
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hilfe zu gewähren. Das Muster ist altbekannt. Die »Koalition«, die 1991 unter der Führung der Vereinigten Staaten den Irak angriff, war ebenfalls durch massive Bestechung zustande gekommen. »Eine neue Weltordnung« ist im Entstehen, aber die Ziele und sogar das Vokabular sind immer noch die Gleichen wie zu Lord Curzons Zeiten. So deutlich wie Tony Blair in seinem Eifer, den amerikanischen Präsidenten nach dem 11. September seiner Unterstützung zu versichern, hatte seit Anthony Eden kein britischer Staatschef mehr die wahren politischen Ziele genannt. Tatsächlich ähnelt er in seiner Amtsführung weniger dem von seinen Adepten so hoch verehrten Winston Churchill als vielmehr diesem letzten Premierminister des britischen Ancien Régime, der in der Suezkrise den Einmarsch in Ägypten befohlen hatte. In einer wahrhaft missionarischen Rede auf dem ersten LabourParteitag nach dem 11. September kündigte Blair die glorreiche Rehabilitation des Imperialismus an. Nachdem Blair seit seinem Amtsantritt im Jahr 1997 britische Truppen viermal in den Krieg geschickt hatte (Jugoslawien, Sierra Leone, Afghanistan, Irak), bemühte er nun die »Moral« als Rechtfertigung dieser und künftiger Militäreinsätze. Überhaupt nimmt Blair das Wort »Moral« oft und gern in den Mund: In einer Rede, die er auf einer von Rupert Murdoch organisierten Konferenz zum Medienrecht hielt, fiel es elfmal. Der Jugoslawienkrieg war ein »moralischer Kreuzzug«. Die NATO-Mission ist »absolut moralisch«, und so weiter und so fort. Sehen wir uns nun an, wie sich der gute Christ und Gentlemanbomber eine bessere Welt vorstellt, eine Welt für »die Hungernden und Notleidenden, die Entrechteten und Unwissenden und die in Schmutz und Elend Lebenden, von den Wüstengebieten des nördlichen Afrika über die Flüchtlingslager im Gazastreifen bis zu den Bergregionen Afghanistans«. Hören wir uns an, 39
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wie er sich um »die Rechte und Menschenwürde der afghanischen Frauen« sorgt und doch gleichzeitig gemeinsame Sache mit denen macht, die Bomben über ihnen abwerfen wollen und dafür sorgen, dass ihre hungernden Kinder keine Nahrungsmittel mehr bekommen. (Einer Meldung der New York Times vom 16. September 2001 zufolge verlangte Washington, »dass die Lastwagenkonvois mit Nahrungsmittel- und Hilfslieferungen für die afghanische Zivilbevölkerung eingestellt werden«. Wenig später wies Blair die Appelle internationaler Hilfsorganisationen, die Bombenangriffe zu unterbrechen, zurück.) Wie uns Frank Furedi in seinem Buch The New Ideology of Imperialism in Erinnerung ruft, ist es noch nicht lange her, dass »die moralische Berechtigung des Imperialismus im Westen von kaum einem in Frage gestellt wurde. Imperialismus und Ausdehnung der westlichen Machtsphäre wurden in ausnahmslos positiver Wortwahl als entscheidender Beitrag zur Zivilisation gefeiert.« Das änderte sich erst, als deutlich wurde, dass auch der Faschismus mit all seinen Vorstellungen von der rassischen und kulturellen Überlegenheit nichts anderes als Imperialismus war. Der Begriff verschwand also aus dem akademischen Diskurs. In bester stalinistischer Tradition hörte der Imperialismus auf zu existieren.23 Nach dem Ende des Kalten Krieges eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Wirtschaftliche und politische Krisen, die wie die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten und der Zusammenbruch der Rohstoffmärkte in Afrika vor allem die Folge postkolonialer Entwicklungen sind, liefern dem Imperialismus eine nachträgliche Rechtfertigung. Zwar bleibt das Wort selbst unaussprechlich, aber die Intellektuellen sowohl konservativer als auch liberaler Provenienz greifen gern und ungeniert die »Zivilisation« als euphemistische Umschreibung auf. Vom italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der kryptofaschistischen Kreisen nahe 40
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steht, bis zu dem liberalen britischen Journalisten und Verleger Harold Evans teilen die neuen Imperialisten eine Weltsicht, die auf der unausgesprochenen Distanzierung von denen basiert, die »nicht zivilisiert«, also minderwertig sind und die die westlichen »Werte«, insbesondere das gottgegebene Recht zur Unterdrükkung und Ausbeutung, bedrohen könnten. Der neue Imperialismus hat viele Vordenker, aber das überzeugendste Modell liefert Zbigniew Brzezinski, Berater etlicher amerikanischer Präsidenten und einflussreichster Guru in Washington, in seinem 1997 erschienenen Buch Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, das für die BushRiege und ihre Ideologen offenbar zur Bibel geworden ist. »Seit die Kontinente vor ungefähr 500 Jahren miteinander in Verbindung traten«, heißt es darin, »war Eurasien das Machtzentrum der Welt.«24 Unter Eurasien versteht Brzezinski alles, was sich östlich von Deutschland und Polen bis an den Pazifischen Ozean erstreckt, einschließlich des Mittleren Ostens und fast des gesamten indischen Subkontinents. Der Schlüssel zur Macht über diese gewaltige Landmasse liegt in Zentralasien. Politische Dominanz in Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan würde den Vereinigten Staaten nicht nur Zugang zu noch unerschlossenen Energievorräten und anderen Bodenschätzen verschaffen, sondern auch einen »Wachposten«, von dem aus sie ihre Ölinteressen am Persischen Golf sichern können.25 »Was hat größere Bedeutung für die Weltgeschichte«, fragt Brzezinski, »die Taliban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums? Einige muslimische Hitzköpfe oder die Befreiung Zentraleuropas?« Die »muslimischen Hitzköpfe« haben ihm am 11. September 2001 eine Antwort gegeben. Mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit der früheren Supermacht vom Westen ist Brzezinski zufolge das wichtigste Ziel er41
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reicht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, so schreibt er, konnten die USA russische Vermögenswerte in Höhe von 300 Milliarden Dollar an sich bringen und damit die Währung destabilisieren, sodass dem geschwächten Russland nichts anderes übrig blieb, als sein wirtschaftliches und politisches Heil in Europa und nicht in Zentralasien zu suchen.26 »Regionalen Kriegen als Antwort auf den Terrorismus« misst Brzezinski keine große Bedeutung bei. Sie sind für ihn lediglich der Beginn eines letzten großen Konflikts, der unausweichlich dazu führt, dass sich nationalstaatliche Regierungen auflösen und die Vereinigten Staaten in der Welt die Vorherrschaft übernehmen. Die »neue Ordnung«, in der die Nationalstaaten aufgehen, ist ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen bestimmt, wie sie von den internationalen Banken und Konzernen und von dem kleinen Kreis der Herrschenden diktiert werden, denen es darum geht, ihre Macht (durch Manipulation und Krieg) zu erhalten. Er schreibt: »Um es in einer Sprache auszudrücken, die in die raueren Zeiten der klassischen Weltreiche zurückgreift: Die obersten Gebote einer imperialen Geostrategie lauten, erstens konspirative Aktivitäten in den Vasallenstaaten zu unterbinden und diese in sicherheitspolitischer Abhängigkeit zu halten, sich zweitens den Gehorsam der tributpflichtigen Staaten zu sichern und ihnen Schutz zu gewähren und drittens zu verhindern, daß sich die Barbaren zusammentun können.«27 Vielleicht konnte man das einmal als eine Stimme von rechts außen abtun, aber Brzezinski repräsentiert durchaus die politische Mitte. Er war Jimmy Carters Sicherheitsberater, und der Einfluss, den er auf Bush senior und Bill Clinton hatte und heute auf Bush junior hat, ist nicht zu unterschätzen. Zu seinen Protegés gehören Madeleine Albright und John Negroponte, eine der Schlüsselfiguren des amerikanischen Terrors in Mittelamerika und heute UN-Botschafter der Bush-Regierung. In seiner Funkti42
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on als Botschafter in Honduras unterstützte Negroponte die als Bataillon 3-16 bekannten Todesschwadronen des Regimes, die für zahlreiche Morde unter der Bevölkerung verantwortlich waren und die demokratische Opposition buchstäblich auslöschten. Darüber hinaus zog er die Fäden im CIA-geschürten Terrorkrieg der »Contras« gegen das benachbarte Nicaragua. Einen Monat nach den Anschlägen auf das World Trade Center erklärte Negroponte in einem Schreiben an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Amerika sehe sich »aus Gründen der Selbstverteidigung gezwungen, weitere Maßnahmen in Bezug auf andere Staaten zu ergreifen«. Es war eine Vorwarnung an die Welt.28 Acht Monate später räumte Bush alle Unklarheiten über die Absichten der US-Regierung aus. »Wenn wir warten, bis die Gefahren Realität geworden sind, haben wir zu lange gewartet«, erklärte er in einem Interview. »In der Welt, in der wir heute leben, ist der einzig sichere Weg der Weg des Handelns. Und unsere Nation wird handeln.«29 Es fehlte nur das Wort »Öl«. Die kaum verhohlenen Absichten der USA fußen auf dem Wissen, dass die Ausschöpfung der Ölressourcen der Welt in zehn Jahren, vielleicht sogar schon früher, ihren Höhepunkt erreicht haben und danach um täglich zwei Millionen Barrel zurückgehen wird. Eine vom Rat für Auswärtige Beziehungen und vom Baker-Institut für Öffentliche Politik finanzierte Studie aus dem April 2001 geht darauf ein, welche Bedeutung dieser Rückgang für die Weltmacht USA haben wird. »Die Welt«, heißt es hier in Strategie Energy Policy Challenges for the 21st Century, »nähert sich dem kritischen Moment, in dem sie ihre gesamte Ölförderungskapazität ausschöpft.«30 Sollte die weltweite Nachfrage nach Öl weiter ansteigen, könnten die USA durch Energieversorgungsengpässe auf den Stand eines »armen Entwicklungslandes« zurückfallen. Nur ein Land im Nahen Osten, erfahren wir weiter, verfüge über das Potenzial, 43
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die Produktion zu steigern: der Irak, das Land mit den zweitgrößten Ölreserven der Welt. Bushs Gerede von den Massenvernichtungswaffen lenkt vom eigentlichen Problem ab. Der Treibstofftank der Supermacht, die vom Öl und von Erdölprodukten abhängig ist, ist fast leer. 60 Prozent des Erdölverbrauchs in den Vereinigten Staaten gehen allein auf das Konto von Transport und Verkehr. Und wie Bush senior einmal gesagt hat: »Der amerikanische Lebensstil steht nicht zur Debatte.«31
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Die unsichtbare Faust
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ie unsichtbare Hand des Marktes«, schreibt der für außenpolitische Themen zuständige Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, »kommt nicht ohne eine unsichtbare Faust aus. McDonald’s könnte seine lukrativen Geschäfte nicht machen, wenn es McDonnell Douglas, den Hersteller der F-15, nicht gäbe. Und die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, dass die Welt ein sicherer Ort für den Technologieexport aus dem Silicon Valley bleibt, nennen wir US Army, Air Force und Navy.«32 Die eigentliche Macht der Vereinigten Staaten wird oft als ökonomische interpretiert: ein Staat, der über mehr als ein Drittel der Rohstoffe der Welt verfügt und in dem Großkonzerne wie Microsoft und Motorola, Ford und Coca-Cola mehr Einfluss haben als die Regierenden. Diese populäre Sichtweise ist nicht zuletzt auch unter Globalisierungsgegnern verbreitet. »Regierungen spielen nur noch die Rolle beflissener Lakaien für die Großindustrie«, schreibt die Ökonomieprofessorin und ehemalige Weltbankmitarbeiterin Noreena Hertz, die zu den Aushängeschildern der Antiglobalisierungsbewegung gehört, und nennt als Beispiel für die Machtverschiebung in den Vereinigten Staaten »George W. Bushs peinliche Unterwürfigkeit gegenüber den großen Energiekonzernen«.33 45
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Die Illusion eines geschwächten Staats ist der Dunstschleier, mit dem die Architekten der »neuen Ordnung« ihr Tun vernebeln. Margaret Thatcher strebte die Konzentration der Exekutivmacht an, während sie nach außen hin das Gegenteil behauptete; und Tony Blair folgt ihrem Beispiel. Bei der Europäischen Union geht es allein um die Erweiterung der Grenzen eines »Superstaates«. Auch das totalitäre China hat, indem es sich dem »freien« Markt öffnete, zugleich seinen riesigen Staatsapparat gefestigt. Aber der amerikanische Staat hat alle anderen in den Schatten gestellt. Es war die vom Krieg nicht in Mitleidenschaft gezogene Siegermacht USA, die 1944 auf einer Konferenz in Bretton Woods in New Hampshire die Parameter einer »globalen Wirtschaft« absteckte und damit dem amerikanischen Militär und den Großkonzernen uneingeschränkten Zugriff auf Bodenschätze, Öl, Märkte und billige Arbeitskräfte sicherte. Weltbank und Internationaler Währungsfonds wurden als Instrument der Durchsetzung dieser Strategie gegründet. Beide Institutionen haben ihren Sitz in Washington und hängen an der Nabelschnur der US-Notenbank. Über das Stimmrecht ihrer Mitglieder entscheidet ihr Reichtum: So haben die USA stets das Sagen. Der Präsident der Weltbank ist immer ein Amerikaner. All das steht im Einklang mit George Kennans historischer Aussage über die »wirkliche Aufgabe« der USA, nämlich den wirtschaftlichen Vorsprung zum Rest der Welt beizubehalten und sich keine Gedanken mehr zu machen über »Menschenrechte, Verbesserung des Lebensstandards oder Demokratisierung«. In Bretton Woods wurde der Grundstein gelegt für die Globalisierung der Armut und für die Praxis, Schulden als Druckmittel zu gebrauchen. Als der Ökonom John Maynard Keynes, der Großbritannien in Bretton Woods repräsentierte, eine Besteuerung der Gebernationen vorschlug, wodurch verhindert werden 46
Die unsichtbare Faust
sollte, dass arme Länder in eine unentrinnbare Schuldenfalle gerieten, winkten die Amerikaner ab und drohten damit, Großbritannien die dringend benötigten Kriegskredite zu verweigern, sollte es auf dieser Forderung beharren. Ein gutes halbes Jahrhundert später hat sich die Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten 20 Prozent der Menschheit verdoppelt, und eine privilegierte Minderheit von weniger als einer Milliarde Menschen verfügt über 80 Prozent des globalen Reichtums. Mit ihren »Strukturanpassungsprogrammen« haben die von Washington gesteuerten Institutionen ein hoch verschuldetes Weltreich geschaffen, das größer ist als das British Empire in seinen besten Tagen. »Globalisierung bedeutet nicht, dass der Staat ohnmächtig ist«, schreibt der russische Wissenschaftler und Regimekritiker Boris Kagarlitsky, »sondern dass er sich seiner sozialen Verantwortung entzieht und dass repressive Maßnahmen die demokratischen Freiheiten der Bürger immer mehr beschneiden.«34 Seit den 80er Jahren orientieren sich auch sozialdemokratische Regierungen zunehmend am amerikanischen Vorbild und entledigen sich ihrer »sozialen Aufgaben«. Die logische Folge ist ein immer repressiveres politisches Klima. Als der US-Kongress kurz nach dem 11. September den so genannten Patriot Act verabschiedete, betrat er einen Weg, an dessen Ende ein Polizeistaat steht. Das in über 200 Jahren gewachsene konstitutionelle Kontrollsystem der checks and balances wurde aufgeweicht und teilweise ausgehebelt. Arabischstämmige Amerikaner wurden verhaftet und ohne Gerichtsverfahren festgehalten; bis heute verweigert das Justizministerium jede Auskunft über die Anzahl der Inhaftierten. Per Exekutivbefehl ordnete George W. Bush die Einrichtung geheimer Militärtribunale an, die es dem amerikanischen Staat ermöglichen, Angehörige anderer Nationen in aller Stille anzuklagen, zu inhaftieren oder hinzurichten, ohne dass ihnen die Möglichkeit einer Revision oder einer Berufung zugestanden wird. Zum 47
Das Große Spiel
ersten Mal seit 1861 wird das Grundrecht der Habeas-CorpusAkte außer Kraft gesetzt. FBI-Beamte dürfen in öffentliche Bibliotheken gehen und überprüfen, was die Leute lesen. Universitätsangestellte werden aufgefordert, Fakultätsmitglieder zu melden, die »subversive Tendenzen« an den Tag legen. »Es ist so weit gekommen«, schreibt der WashingtonKorrespondent Andrew Stephen im New Statesman, »dass Journalisten, die sich als liberal begreifen, über das Für und Wider des Folterns von Häftlingen diskutieren und zu dem Schluss kommen, dass es unter den gegebenen außergewöhnlichen Umständen durchaus vertretbar sei.«35 Da werden Erinnerungen an die staatlich verordnete Paranoia der McCarthy-Ära wach, die in den 50er Jahren das innen- und außenpolitische Klima in den Vereinigten Staaten bestimmte und dazu führte, daß verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte außer Kraft gesetzt wurden. Getrieben von totalitären Fantasien, die so amerikanisch sind wie der 4. Juli, haben sich die Vereinigten Staaten zu einer Plutokratie entwickelt. Die nicht gewählte Bush-Clique setzt sich aus echten Fundamentalisten zusammen, allesamt Erben der baptistischen Brüder John Foster und Alan Dulles, die in den 50er Jahren als Außenminister und Leiter der CIA eine Reformregierung nach der anderen – Iran, Irak, Guatemala – zerschlugen und internationale Verträge wie die Genfer Indochina-Vereinbarungen von 1954 aufkündigten. Im Unterschied zu den 50er Jahren, als das amerikanische Kapital übermächtig und die potenziellen Rivalen Europa, Asien und die Sowjetunion wirtschaftlich geschwächt waren, können die USA John Rees zufolge »die wirtschaftliche Stabilität des Systems [einer globalen Marktwirtschaft] heute nicht mehr garantieren. Und die sozialen und politischen Verwerfungen, die sich aus dieser Tatsache ergeben, sind eine ständige Bedrohung der amerikanischen Macht.«36 48
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Der gefährlichste und unberechenbarste Faktor ist die wirtschaftliche Ungleichheit, die uns die Globalisierung beschert hat, mitsamt den daraus folgenden Unruhen. Die Notlage der LDCStaaten (Least Developed Countries), also der am wenigsten entwickelten Länder – oder auch, in der neuen Sprache der Macht, der »Versagerstaaten« –, war 1991 Gegenstand einer UNKonferenz in Paris, in deren Folge ein umfangreiches und ambitioniertes Hilfsprogramm ins Leben gerufen werden sollte. So stand es zumindest auf dem Papier. Mehr als ein Jahrzehnt später hat sich praktisch keine der in Paris gemachten Versprechungen erfüllt. Den ärmsten Ländern geht es heute schlechter als 1990, und die Behauptung, durch »Liberalisierung« und »Sickereffekte« werde »Wohlstand geschaffen«, ist der blanke Hohn. In Wahrheit ist die Zahl der armen Länder, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen muss, größer geworden. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt dort um 2 5 Jahre niedriger als in den Industriestaaten; in Afghanistan werden nur wenige Menschen älter als 40. Die Weltbank räumt mittlerweile ein, dass nur wenige der ärmsten Länder das beim Millenniumsgipfel gesetzte Ziel der »Armutsverringerung« bis zum Jahr 2015 erreichen werden. Die »Strukturanpassungsprogramme«, die aus Privatisierung, Verschuldung und Abschaffung öffentlicher Dienstleistungen bestehen, haben einen großen Teil der Weltbevölkerung in noch größere Armut und Verbitterung gestürzt.37 Den Ärmsten dieser Welt dämmert allmählich, dass die Entscheidung darüber, ob sie und ihre Familien leben oder sterben, nach dem Triage-System gefallt wird. Triage nennt man in Kriegszeiten die Einteilung der Verwundeten in solche, die vermutlich überleben werden und daher behandelt werden, und solche, die man sterben lässt. Wenn Einfuhrzölle auf Betreiben 49
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des IWF abgeschafft und Nahrungsmittel- und Treibstoffsubventionen gestrichen werden, wissen Kleinbauern und Menschen ohne Landbesitz, dass man sie für entbehrlich hält. Sie vergrößern fortan das Heer der 750 Millionen, die kaum oder keine Arbeit haben.38 Einer Schätzung des World Resources Institute nach sterben jährlich 13 bis 18 Millionen Kinder; im Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen wird die Zahl von zwölf Millionen Kindern unter fünf Jahren genannt – ein hoher Preis für die Globalisierung.39 »Warum wird den 100 Millionen Menschen, die in den offiziellen Kriegen des 20. Jahrhunderts gestorben sind, mehr Beachtung geschenkt als der Sterberate der Kinder, die seit 1982 Jahr für Jahr den Strukturanpassungsprogrammen zum Opfer fallen?«40 Diese Frage wirft der australische Politikwissenschaftler Michael McKinley auf, wobei er sich die Sichtweise des bekannten Ökonomen Lester C. Thurow zu Eigen macht, dass »diese Tragödie der Menschheit keine Metapher und kein Gleichnis des Krieges, sondern Krieg im eigentlichen Sinne« sei.41 Gegen diesen hat sich weltweit Widerstand von bisher unbekanntem Ausmaß formiert: von der Bewegung der Landlosen in Brasilien über Kampagnen gegen die Privatisierung in Afrika und Asien bis hin zu den großen Protestkundgebungen wie in Seattle und Genua. Ihnen allen liegt das Gefühl vieler Menschen zugrunde, wie im Krieg unter Besatzung zu leben. Ein Freund, der für kurze Zeit Premierminister eines der ärmsten Länder der Welt war, erzählte mir: »Ich konnte die Leute von der Weltbank am Montag einfliegen und am Mittwoch wieder abheben sehen. In ihren Diplomatenkoffern hatten sie alles, was sie wissen mussten – die Modelle, nach denen unsere Wirtschaft, ungeachtet der realen Gegebenheiten des Landes, gestaltet werden sollte. Die ganze Zeit über saßen sie im Intercontinental [Hotel] und tagten mit denen, die ihnen sagten, was sie hören wollten. Mit dem IWF war es das Gleiche. Die britische Regierung 50
Die unsichtbare Faust ließ sich salbungsvoll über Schuldenerlasse aus, aber letztendlich lief es darauf hinaus, dass wir britische Waren kaufen und britische Firmen beauftragen sollten. Profit war ein Wort, das nie ausgesprochen wurde, aber förmlich in der Luft hing. Wenn wir auch nur andeutungsweise durchblicken ließen, dass wir mit den Bedingungen nicht einverstanden waren, machte man uns, zuweilen recht grob, deutlich, dass wir keine andere Wahl hatten; als letzte Hoffnung blieb uns nur der Bruch mit dem ganzen System.«
In diesem Geist verlief im November 2001 auch die vierte Jahreskonferenz der Welthandelsorganisation in Doha, im Golfstaat Katar. Obwohl die WTO 143 Mitgliedstaaten umfasst, sind nur die 21 reichsten befugt, politische Entscheidungen zu treffen, deren Richtung meist ohnehin schon vom »Quartett« – Vereinigte Staaten, Europäische Union, Kanada und Japan – vorgegeben ist. Die reichen Staaten forderten eine neue Runde in der so genannten Liberalisierung des Handels, womit nichts anderes gemeint ist als die Befugnis, sich in die inneren Angelegenheiten armer Staaten einmischen und diese zur Privatisierung ihrer Wirtschaft und zum Abbau sozialer Dienstleistungen zwingen zu können. Nur die Reichen dürfen ihre Industrie und ihre Landwirtschaft schützen, nur sie haben das Recht, den Export von Fleisch, Getreide und Zucker zu subventionieren, die Waren in armen Ländern zu Dumpingpreisen auf den Markt zu werfen und auf diese Weise den Kleinbauern die Lebensgrundlage zu entziehen. (In Indien greifen Selbstmorde unter armen Bauern wie eine Epidemie um sich, berichtet die Umweltaktivistin Vandana Shiva.) Vor der Eröffnung der Konferenz beschwor der USHandelsbeauftragte Robert Zoellick den »Krieg gegen den Terrorismus«: »Die Vereinigten Staaten wollen der Welt ein Vorbild an Offenheit sein, und wir wissen, dass der dauerhafte Bestand unserer neuen Koalition vom wirtschaftlichen Wachstum ab51
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hängt.«42 Er hätte es nicht deutlicher ausdrücken können. »Wirtschaftliches Wachstum« (reiche Elite, arme Mehrheit) ist gleich Antiterrorismus. Mark Curtis, Historiker und Leiter der britischen Hilfsorganisation Christian Aid, hat die Konferenz in Doha verfolgt. Er spricht von »wirtschaftlicher Kanonenbootdiplomatie«, wenn er das »immer deutlicher zutage tretende Muster der Drohungen und Einschüchterungen armer Länder« beschreibt. »Es war empörend«, sagt er. »Die reichen Länder haben ihre Macht im Interesse der Großindustrie eingesetzt. Darüber, dass die großen Konzerne die Armut mit verursachen, wurde kein Wort verloren. Es war wie eine Malariakonferenz, auf der man die Stechmücke nicht erwähnen darf.«43 »Wenn ich zu deutlich werde«, erklärte ein afrikanischer Delegierter im Interview, »rufen die USA meinen Minister an und sagen, ich hätte die Vereinigten Staaten angegriffen. Meine Regierung würde nicht einmal fragen: ›Was hat er denn gesagt?‹, sie würden mir einfach morgen ein Ticket schicken … Also halte ich den Mund, um unseren Herrn und Meister nicht gegen mich aufzubringen.«44 Haiti und der Dominikanischen Republik drohten die Vereinigten Staaten für den Fall, dass die armen Nachbarn die neue »Freihandelsrunde« boykottieren sollten, die Streichung aller Wirtschaftsund Exporthilfen an. Die britische Regierung versprach in Doha vollmundig, 20 Millionen Pfund bereitzustellen, die den armen Ländern helfen sollten, »ihre Handelspolitik neu zu formulieren und sich in der WTO zu engagieren« – ein Angebot, das von Handelsministerin Baroness Symons als ein »Paket neuer Maßnahmen« angepriesen wurde. Die Regierung Blair hatte bereits mit statistischem Blendwerk aufgewartet, als sie die gleichen »neuen Ausgaben« für Gesundheitswesen und Bildungssektor immer wieder von neuem angekündigt hatte. Die »neuen« 20 Millionen Pfund für die armen Länder waren zuerst im Dezember 2000 und dann 52
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nochmals im März 2001 in Aussicht gestellt worden. In ihren Erklärungen sprach die mittlerweile zurückgetretene Entwicklungshilfeministerin Clare Short von einer »Verdoppelung« der britischen Hilfsleistungen.45 Eine glatte Lüge. Der Name ihres Ministeriums entstammt demselben Orwellschen Lexikon wie Blairs »moralische« Bombenangriffe. Wie groß die Bemühungen des Westens wirklich sind, den armen Ländern durch Schuldenerlasse und Reduzierung der Armut generell zu helfen, lässt sich an den Statistiken zur Entwicklungshilfe ablesen. Zwar haben sich die Mitglieder der Vereinten Nationen darauf geeinigt, dass die reichsten Staaten mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts an echter Entwicklungshilfe bereitstellen sollen, aber in Großbritannien sind dies nur 0,34 Prozent, und die USA fallen mit ihren 0,19 Prozent kaum ins Gewicht. Zwei Beispiele verdeutlichen das Bild. Aus einem internen Bericht des Ministeriums von Clare Short geht hervor, dass die britische Regierung die Zahlung von Entwicklungshilfe für eine Wasseraufbereitungsanlage in Ghana von der Privatisierung der Wasserversorgung abhängig gemacht hat. Daraus folgt, dass mindestens ein britischer multinationaler Konzern an dem Projekt verdient, während sich der Wasserpreis für die Ärmsten mit Sicherheit verdoppelt.46 Im Jahr 2000 billigte der US-Senat den ärmsten Ländern ein Almosen von 75 Millionen Dollar zu, ein Zehntel dessen, was ein B-52-Bomber kostet. Im gleichen Atemzug wurde das kolumbianische Militär, das für massive und systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, mit 1,3 Milliarden Dollar bedacht. *** Seit dem 11. September ist die »unsichtbare Hand« der Globalisierung so stark wie nie zuvor. Die Handelskriege der Vereinig53
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ten Staaten werden jetzt unter dem Damoklesschwert einer ständig drohenden militärischen Intervention geführt, die in jedem xbeliebigen Land und ohne rechtliche Grundlage stattfinden könnte. Dies bestätigt eindrucksvoll eine Broschüre, die das USWeltraumkommando unter dem Titel Vision for 2020 herausgegeben hat: »Historisch gesehen sind militärische Streitkräfte entstanden, um nationale – militärische wie wirtschaftliche – Interessen und Investitionen zu schützen. Mit wachsender Bedeutung der Handelsbeziehungen bauten die Staaten eigene Kriegsflotten auf, um ihre Handelsinteressen zu verteidigen und zu fördern. Als die Vereinigten Staaten ihr Territorium bis an die Westküste ausweiteten, wurden zum Schutz von Planwagentrecks, Siedlungen und Eisenbahnlinien neue Stützpunkte eingerichtet und die Kavallerie eingesetzt. Nach dem gleichen Prinzip bildet sich nun eine Weltraummacht heraus. … Obwohl es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einem Kräftemessen mit einer gleichrangigen Weltmacht kommen wird, werden sich die USA regionalen Herausforderungen stellen müssen. Die Globalisierung der Weltwirtschaft wird weiter voranschreiten und die Kluft zwischen ›Besitzenden‹ und ›Besitzlosen‹ wird immer größer werden.«
Diesen Herausforderungen gilt es mit einer »full spectrum dominance« zu begegnen: der Fähigkeit der kombinierten Streitkräfte, jede Situation, jedes Terrain und jeden Gegner zu jeder Zeit zu beherrschen. Mit Hilfe des »Weltraums als viertem Medium der Kriegführung neben dem Land, der See und der Luft« soll »die breiter werdende Kluft zwischen schrumpfenden Ressourcen und zunehmenden militärischen Aktivitäten« geschlossen werden.47 Den Vordenkern dieser Vision ist immerhin klar, dass noch so manches auf der Erde zu erledigen ist, bevor die Fackel an den Chef des Weltraumkommandos übergeben werden kann. Nach dem Ende des Kalten Krieges zettelten die USA drei 54
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Kriege an, um ihre militärische Stärke zu demonstrieren.48 Der erste spielte sich im Dezember 1989, unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer, ab. Im Visier stand Panama, ein kleines, mittelamerikanisches Land, das für seinen Kanal und seine Armut bekannt ist. Die Vereinigten Staaten setzten Kampfhubschrauber und Spezialeinheiten ein, denen im ärmsten Viertel von Panama City Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Die USamerikanische Reporterin Martha Gellhorn, die ein Jahr später vor Ort recherchierte, spricht von mindestens 8000 Toten.49 Diese Menschen, deren Schicksal den Medien kaum einer Erwähnung wert war, mussten für die Verhaftung des in den Drogenhandel verwickelten Staatschefs Manuel Noriega sterben. Unter weniger tragischen Umständen wäre die Sache ein echter Schenkelklopfer gewesen. Noriega und George Bush senior waren alte Freunde, sie kannten sich aus der Zeit, als Bush noch Direktor der CIA und Noriega deren »Marionette« gewesen war. Drogen sind bei der CIA ein Zahlungsmittel mit langer Tradition. Wie andere befreundete Diktatoren auch verlor Noriega jedes Maß und nahm keine Befehle mehr an. Daraufhin wurde er, ohne Rücksicht auf die Menschen, die dadurch ihr Leben verloren, in die Vereinigten Staaten entführt, wo er nun im Staat Florida eine lebenslängliche Gefängnisstrafe absitzt. Das ganze menschenverachtende Theater diente nur einem dreifachen Zweck: Die USA wollten sich die Souveränität über den Panamakanal weiterhin sichern, indem sie Noriega durch eine verlässlichere Marionette ersetzten. Sie wollten ausprobieren, ob der »Krieg gegen die Drogen« als Ersatz für den Kalten Krieg taugte. Und mit der Invasion wollten sie zudem all jenen, die möglicherweise nach dem Ende des Kalten Krieges auch mit dem Gedanken spielten, eigene Wege zu gehen, ihre Entschlossenheit demonstrieren, diese eigenen Wege nicht zuzulassen. Wie sagte Henry Kissinger doch so schön: »An entscheidenden Schnittpunkten 55
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der Geschichte müssen die Vereinigten Staaten in ihrer Weisheit manchmal ihr militärisches Können unter Beweis stellen.« Die zweite Demonstration folgte auf den Einmarsch des Irak in Kuwait 1990. Ziel dieses Golfkriegs war es, der Welt zu zeigen, dass die Vereinigten Staaten die Ölfelder des Nahen Ostens kontrollieren. Und Ende 1992 kam es dann zum Militäreinsatz in Somalia. Unter dem Codenamen »Operation Neue Hoffnung« wurde hier die Strategie der »humanitären Intervention« getestet, die den »Krieg gegen die Drogen« ablösen sollte. Als die Marineinfanteristen in Somalia an Land gingen, »um den Hungernden Nahrung zu bringen«, veröffentlichte die Time ein zweiseitiges Farbfoto, auf dem somalische Kinder einem USSoldaten die Hände entgegenstrecken, um »das Geschenk Hoffnung« von ihm zu empfangen.50 Das Bild ist gestellt; die Hungersnot war zu diesem Zeitpunkt längst beendet. Glücklicherweise fand sich in Somalia eine teuflische Figur ä la Noriega in der Person von General Mohammed Farah Aidid. Dieser Warlord, der sich kurz zuvor zu Verhandlungen mit UNVertretern bereit erklärt hatte, war nun der Oberschurke, den die US-Truppen »tot oder lebendig« beibringen sollten. Nur so sei der Plünderung der Lebensmittellager Einhalt zu gebieten, hieß es aus dem Pentagon. Es war das altbekannte Lied. Die Lager wurden geplündert, weil die Leute nichts zu essen hatten. Und sie hatten nichts zu essen, weil das Land ausgeblutet war nach der mörderischen Regentschaft des ebenfalls von den USA protegierten Diktators Mohammed Siad Barre, der, nachdem er die Seiten gewechselt hatte, in den 80er Jahren zum Spielpartner im großen Kampf gegen den sowjetischen Einfluss am Horn von Afrika geworden war. Und schließlich sind da auch noch die somalischen Ölfelder. Aidid war nur der Anführer einer von 15 Splittergruppen, die wie die Taliban und die Nordallianz in Afghanistan danach drängten, ein Machtvakuum zu füllen, nicht 56
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mehr und nicht weniger räuberisch als seine Rivalen. (Gegenwärtig erhält General Aidids Sohn Hussein finanzielle Unterstützung aus den USA, weil er den Amerikanern angeblich den Aufenthaltsort von »Al-Qaida-Terroristen« verraten kann.) Für George Bush, der nach seiner Wahlniederlage gegen Clinton seinen politischen Ruhestand genießen wollte, war der Einmarsch in Somalia eine willkommene Gelegenheit, von seinen verzweifelten Bemühungen um die Begnadigung der Leute abzulenken, die ihn mit den Verbrechen des Iran-Contra-Skandals hätten in Verbindung bringen können. Die »Operation Neue Hoffnung« kostete 7000 bis 10 000 Somalier das Leben.51 Diese aus CIA-Kreisen stammenden Zahlen tauchten meines Wissens nie in den Medien auf, wo vielmehr im Mittelpunkt des Interesses der Tod von 18 US-Soldaten stand, der später in dem Hollywoodfilm Black Hawk Down nach dem Vorbild der verlogenen Machwerke über den Vietnamkrieg, in denen die Eindringlinge als Opfer erscheinen, glorifiziert wurde. Nach den Bombenangriffen gegen Afghanistan war in der außenpolitischen Kolumne des Guardian zu lesen, dies sei die »Gelegenheit, die noch offene Rechnung für die brutale Ermordung von 18 amerikanischen Soldaten [in Somalia] im Jahr 1993 zu begleichen«.52 Die vielen tausend Somalier, die von den Überbringern des »Geschenks Hoffnung« brutal ermordet worden waren, fanden auch hier keine Erwähnung. *** Fast ein Jahrzehnt nach dem Golfkrieg von 1991 sprach der USamerikanische Fotograf Ken Jarecke in einer BBC-Sendung über die Praxis der »freien« Presse, Zensur durch Unterdrückung von Informationen auszuüben. Von ihm stammt das schockierende Bild eines Irakers, der bis zur Unkenntlichkeit verbrannt hinter dem Steuer seines Wagens sitzt – von US-Piloten abgefackelt wie 57
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Hunderte von Leidensgenossen auf der Straße nach Basra bei der berüchtigten »Truthahnjagd« auf fliehende irakische Soldaten und andere Flüchtlinge, die als »Gastarbeiter« in Kuwait zwischen die Fronten geraten waren. Das Bild war nur im Observer erschienen, allerdings auch dort nicht auf der Titelseite, wo es hingehört hätte. In den Vereinigten Staaten durfte es bis lange nach Kriegsende nicht abgedruckt werden. Dieses eine Foto reicht, um die Mär vom »unblutigen« Krieg, von der »sauberen« und »chirurgischen« Operation Wüstensturm als Propagandalüge zu entlarven. »Keiner wollte sich die Finger an meinem Foto schmutzig machen«, erzählte Jarecke. »Sie behaupteten, es würde zu sehr unter die Haut gehen, die Leute wollten so etwas nicht mehr sehen. Tatsache ist, dass die gesamte US-Presse eine Mauer des Schweigens um die Folgen des Golfkriegs und die Frage nach den Verantwortlichen gezogen hatte.«53 Man hat Jean Baudrillards These, der Golfkrieg finde nicht wirklich statt, seinerzeit als das wirre Gerede eines weltfremden französischen Philosophen abgetan. Phil Coles stellte im Guardian allerdings fest, dass die durchaus einleuchtende »Grundaussage seiner These, was er sehe, sei eine reine Medieninszenierung zu dem Zweck, die militärische Überlegenheit der Amerikaner zu demonstrieren, nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.«54 Das Medienzeitalter wird oft irrtümlich für ein Informationszeitalter gehalten, und so ist es nicht verwunderlich, dass Kriege in den Medien ausgetragen werden. Die »offene« und gelegentlich kritische Berichterstattung über den Vietnamkrieg war eine Lehre für die westlichen Militärstäbe. Als George Bush senior Krieg gegen Panama führte, konnte kein Journalist mit eigenen Augen sehen, wie in Panama City eine Schneise der Verwüstung geschlagen wurde. Erst später ließ man ein »Kontingent« von Journalisten anreisen, denen weisgemacht wurde, die Slums sei58
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en nicht von US-amerikanischen Kampfhubschraubern, sondern von General Noriegas Leuten in Brand gesteckt worden. Pressekonferenzen wurden zu propagandistischen »Events«, auf denen kurzweilige Videos über »chirurgische« Bombenabwürfe auf angeblich »militärische Ziele« für die rechte Einstimmung sorgten. Hier konnten Militärsprecher alle möglichen Behauptungen aufstellen, ohne dass die Journalisten die geringste Möglichkeit hatten, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Während des Golfkriegs gab es erschreckend wenige Journalisten, die danach fragten, wie die Bilder, die man ihnen präsentierte, zustande gekommen und wie die Videoaufhahmen geschnitten waren. Wie die Kommentatoren zu Hause konnten sie gar nicht genug schwärmen von der »Zielgenauigkeit der neuen Waffen«, so die begeisterten Worte des BBC-Reporters David Dimbleby.55 In Wahrheit waren weniger als sieben Prozent der damals eingesetzten Waffen »intelligent«, wie das Pentagon lange nach dem Ende des Krieges einräumte. 70 Prozent der 88 500 Bomben, die auf Irak und Kuwait abgeworfen wurden (was der Sprengkraft von sieben Hiroshima-Bomben entspricht), verfehlten ihr Ziel deutlich, und nicht wenige schlugen in besiedelten Gebieten ein. Entgegen der Behauptung, die irakischen Abschussrampen für SCUD-Raketen seien zerstört, war keine einzige getroffen worden.56 Über all das erfuhr man in den Medien nichts. Die Journalisten gaben die Lügen, die man ihnen auftischte, unbesehen an die Öffentlichkeit weiter. Die Straße nach Basra, von der Ken Jareckes Foto stammte, war nur ein Schauplatz ungezählter Massaker. Über die anderen, die außerhalb der Sichtweite des »Pressepools« begangen wurden, berichtete niemand. Es blieb den Journalisten verborgen, dass amerikanische gepanzerte Bulldozer in den letzten zwei Tagen vor dem Waffenstillstand zu meist nächtlichen Einsätzen ausrückten, um irakische Soldaten samt der Verwundeten in ih59
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ren Schützengräben lebendig zu begraben. Sechs Monate später war in der New York Newsday zu lesen, dass »drei Brigaden der ersten US-Panzergrenadierdivision mit auf Panzern montierten Schneepflügen und Planierraupen Tausende irakischer Soldaten, zum größten Teil Verwundete, auf einer Länge von mehr als 100 Kilometern in ihren Gräben lebendig verschüttet« hatten. »Nach meiner Einschätzung könnten wir Tausende getötet haben«, erklärte der Brigadekommandeur Oberst Anthony Moreno dazu.57 Die einzigen Bilder, die von diesen Gräueln im Fernsehen gezeigt wurden, erschienen in einer spätabendlichen Kultursendung der BBC, wo sie groteskerweise als Hintergrund für eine Diskussionsrunde über die Kriegsberichterstattung dienten, deren Teilnehmer die schockierenden Szenen auf dem Monitor hinter ihnen gar nicht wahrzunehmen schienen.58 Die Devise des amerikanischen Oberbefehlshabers General Schwarzkopf lautete, die irakischen Toten nicht zu zählen.59 »Dies ist der erste moderne Krieg, in dem über jeden Schraubenzieher und jeden Nagel Rechenschaft abgelegt werden kann«, brüstete sich ein höherer Offizier. Und was die Menschen angeht, so sagte er dazu: »Ich glaube nicht, dass je einer in der Lage sein wird, die genaue Zahl der irakischen Toten zu nennen.«60 Tatsächlich nannte Schwarzkopf Zahlen vor dem US-Kongress, als er von mindestens 100 000 getöteten irakischen Soldaten sprach. Über die zivilen Opfer machte er allerdings keine Angaben.61 Einer umfassenden Studie des Medical Educational Trust in London zufolge, die kurz vor Weihnachten 1991 veröffentlicht wurde, kamen bis zu einer Viertelmillion Männer, Frauen und Kinder bei den von den USA geführten Angriffen auf den Irak oder als deren Folge ums Leben.62 Dies bestätigten Schätzungen US-amerikanischer und französischer Geheimdienste, die von »mehr als 200 000 Toten« ausgehen.63 Das schiere Ausmaß dieses Massentötens ist in der westlichen Welt nie ins Bewusstsein der 60
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Öffentlichkeit gedrungen. Dan Rather, der bekannte Chefmoderator der CBS, hat in einer landesweit ausgestrahlten Sendung gesagt: »Es gibt eines, worüber wir uns einig sein können: den Heldenmut der 148 Amerikaner, die ihr Leben gelassen haben, damit die Freiheit Bestand hat.« Allerdings waren ein Viertel dieser Männer, ebenso wie ihre britischen Leidensgenossen, versehentlich von ihren eigenen Kameraden getötet worden, und viele der offiziellen Zeugenberichte über den Heldentod US-amerikanischer Soldaten waren frei erfunden.64 Wenn die Wahrheit unterdrückt wird, treten Mythen an ihre Stelle und verbergen Wesen und Strukturen der herrschenden Macht vor den Augen der Öffentlichkeit. Stattdessen wird der Militarismus als moralische Instanz präsentiert. Einmal mehr war Tony Blair mit seiner moralischen Schönfärberei zur Stelle: »Wir mögen unsere Fehler haben«, erklärte er, »aber Großbritannien ist eine moralische Nation mit einem ausgeprägten Sinn für Gut und Böse. Diese moralische Stärke wird den Fanatismus der Terroristen und ihrer Helfer besiegen.«65 Die Fanatiker, die wissentlich so vielen Menschen im Irak, in Jugoslawien und in Afghanistan den Tod gebracht haben, erwähnte er nicht. Von einem wirklich moralischen Standpunkt aus betrachtet ist das Leugnen dieser Verbrechen selbst ein Verbrechen. Dass das Verbrechen mit seiner »ethischen Dimension« gerechtfertigt wird, gibt dem Ganzen einen Orwell'schen Aspekt. Auch wenn heute schamhaftes Schweigen darüber herrscht, hat der frühere Außenminister Robin Cook die »ethische Dimension« einst zu einem wichtigen Bestandteil seiner Politik erklärt. Und die New-Labour-Regierung fuhr mit diesem geschickten Täuschungsmanöver eine Zeit lang ganz gut. Statt, wie von Cook versprochen, »die Menschenrechte ins Zentrum der britischen 61
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Außenpolitik« zu stellen, verfolgte sie wie gehabt Ziele, bei denen Menschenrechtsverletzungen keine Rolle spielen oder die ihnen gar Vorschub leisten. Die britische Rüstungsindustrie, der zweitgrößte Produzent von Kriegsgerät nach den Vereinigten Staaten, verkauft zwei Drittel ihrer tödlichen Waffen an Staaten, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Ihr größter Kunde ist Saudi-Arabien, das Land mit dem fundamentalistischsten islamischen Regime der Welt, Protektor der Taliban und Heimat der meisten der 19 mutmaßlichen Flugzeugentführer vom 11. September. In einem Untersuchungsbericht des britischen Rechnungshofes zum Al-Yamamah-Projekt (Projekt Taube), einem Waffengeschäft mit einem Umfang von 20 Milliarden Pfund, ist die Rede von »Provisionen« für den Verkauf von TornadoKampfflugzeugen. 15 Millionen Pfund werden als die übliche Summe pro Maschine genannt. In schöner Eintracht widersetzten sich Labour-Führung und Konservative einer Veröffentlichung des Berichts. Großbritannien ist ein wichtiger Waffenlieferant für mindestens fünf Staaten, in denen Bürgerkriege insgesamt fast eine Million Menschen das Leben gekostet haben. Ebenfalls auf der Liste der Kunden stehen Länder wie Indien und Pakistan, die sich gegenseitig mit Krieg drohen. Und die für den Völkermord in Osttimor verantwortlichen indonesischen Militärs werden seit 20 Jahren von Großbritannien bewaffnet. Nachdem Blair sein Amt angetreten und Robin Cook als sein Außenminister sein »politisches Glaubensbekenntnis« abgelegt hatte, kam es zu einem Treffen zwischen Cook und den beiden Friedensnobelpreisträgern des Jahres 1996, Bischof Carlos Belo und José Ramos-Horta aus Osttimor. Bei diesem Anlass versicherte er, Großbritannien würde keine Waffen liefern, die zu Repressalien der unterdrückten Bevölkerung ihres Landes miss62
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braucht werden könnten. Wenig später wurde ich Zeuge eines bewegenden Appells, den Bischof Belo anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung in London an die britische Regierung richtete. »Ich bitte Sie inständig«, sagte er, »verlängern Sie nicht einen Konflikt, der ohne diese Verkäufe weder hätte begonnen noch so lange aufrecht erhalten werden können.« Er hätte im Namen eines großen Teils der Menschheit sprechen können. Die Antwort waren vermehrte Waffenlieferungen an Indonesien unter dem Schutz der britischen Geheimhaltungsgesetze. Zum Lieferumfang gehörten Heckler-&-Koch-Maschinengewehre, mit denen Suhartos Spezialeinheiten in Osttimor ausgerüstet wurden, die nachweislich für schwere Menschenrechtsverletzungen, für Massenmorde und Folterungen verantwortlich waren.66 Am 11. September 2001, dem Tag der Terroranschläge in den Vereinigten Staaten, fand in den Londoner Docklands eine »Waffenmesse« statt, zu der Vertreter etlicher für ihre Menschenrechtsverletzungen berüchtigter Staaten, wie beispielsweise Saudi-Arabien, geistige Heimat der Al Qaida und Geburtsland von Osama Bin Laden, erschienen waren. Aus Rücksicht auf die Opfer der furchtbaren Anschläge auf das World Trade Center wurden in Großbritannien nicht nur viele öffentliche Veranstaltungen und Sportereignisse abgesagt, sondern auch die Jahreshauptversammlung des britischen Gewerkschaftsbundes. Nur die Waffenmesse ging ungetrübt weiter. Wenig später erklärte Blair in einem Interview mit dem BBCModerator David Frost, um die Terroristen zu besiegen, müsse man »ihren Waffenlieferanten das Handwerk legen«. Frost gab dazu keinen Kommentar ab.67 Für die Briten, die den modernen Waffenhandel erfunden haben, ist es eine Glaubensfrage, dass die Geschäfte ihren gewohnten Gang nehmen. Während George W. Bush die »Achse des Bösen« beschwor, zu der er auch den Iran zählte, lieferte die Blair63
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Regierung chemische Waffen an den Iran sowie an 25 weitere Länder, darunter Libyen, Syrien und Israel.68 In den Vereinigten Staaten, dem Waffensupermarkt der Welt, haben Herstellung und Verkauf von Rüstungsgütern entscheidenden Anteil an jedem wirtschaftlichen Aufschwung. Der »militärisch-industrielle Komplex« lebt gut von den Rüstungsaufträgen der Regierung. Von jedem Dollar, den ein US-Bürger an Steuern zahlt, fließen 40 Cent ins Pentagon, das im Haushaltsjahr 2001/2 über 400 Milliarden Dollar ausgegeben hat. Um richtig zu gedeihen, braucht die Rüstungsindustrie Kriege. Nach dem ersten Golfkrieg nahm der Absatz der US-amerikanischen Rüstungsindustrie um 64 Prozent zu. Die NATO-Intervention in Jugoslawien brachte ihr Aufträge im Wert von 17 Milliarden Dollar ein. Seit dem 11. September befindet sich die Branche in Hochstimmung. An dem Tag, als die Aktienmärkte nach den Anschlägen wieder öffneten, gehörten die Rüstungsfirmen Raytheon, Alliant Tech Systems, Northrop Gruman und Lockheed Martin zu den wenigen Gewinnern. Die Aktien des größten amerikanischen Rüstungskonzerns Lockheed Martin, dessen wichtigste Produktionsstätte sich in George W. Bushs Heimatstaat Texas befindet, stiegen um 30 Prozent. 1999 war mit Umsätzen von 25 Milliarden Dollar aus Waffenverkäufen und Pentagon-Verträgen im Wert von zwölf Milliarden Dollar ein Rekordjahr für die Firma. Nur sechs Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center hatte Lockheed Martin bereits den größten Rüstungsauftrag aller Zeiten an Land gezogen: einen 200-Milliarden-Vertrag über die Entwicklung eines Kampfflugzeugs. Das Flugzeug wird in Fort Worth, Texas, gebaut, und es wird damit gerechnet, dass mit dem Projekt etwa 32 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. »Bei allen schlechten Nachrichten dieser Tage«, verkündete ein leitender Angestellter des Konzerns, »kann man über die 64
Die unsichtbare Faust
Entwicklung unserer Aktienwerte nur Gutes sagen.«69 Auch die britische Waffenindustrie erlebt seit dem 11. September einen Boom. So konnte die Firma BAE Systems ein 40 Millionen Pfund teures Raketenabwehrsystem an Tansania, eines der ärmsten Länder der Welt, verkaufen. Tansania hat ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 250 Dollar pro Jahr, die Hälfte der Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und eines von vier Kindern stirbt vor seinem fünften Geburtstag. Obwohl die Weltbank von dem Geschäft abriet, kam es zustande, weil Tony Blair höchstpersönlich intervenierte, vermutlich im Sinne seiner missionarischen Rede über die Armut der Afrikaner, die »eine Narbe im Gewissen der Welt« sei, wie er auf dem Labour-Parteitag verkündet hatte.70
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Zweierlei Maß
I
n den angloamerikanischen Medien, die weitgehend von den Wächtern der offiziell genehmigten Wahrheiten beherrscht sind, wird bei Berichten und Debatten über den neuen Imperialismus und das Schicksal ferner Völker streng von der Prämisse ausgegangen, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien Gewalt zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte ebenso ablehnen wie jede Form von Terrorismus. Die Frage lautet unweigerlich: Wie können »wir« die Probleme mit »denen« am besten lösen? Die offenkundigsten Wahrheiten bleiben tabu. Niemand sollte wagen zu behaupten, die britische Kolonialherrschaft habe etwas anderes als gütiges Wohlwollen repräsentiert. Blairs Versuche, die imperialistischen Tendenzen der Gegenwart zu verschleiern, liefern auch eine Rechtfertigung für vergangene Zeiten. Medien und Wissenschaft halten sich im Allgemeinen an die offizielle Linie. So haben beispielsweise Journalisten, wenn sie über das Apartheidsregime in Südafrika berichteten, selten erwähnt, dass Großbritannien entscheidend zur Entstehung dieses Systems beigetragen hat. Die Strategie, die das britische Militär in den 50er Jahren in Malaya verfolgte, nahm das Vorgehen der USTruppen in Vietnam vorweg: Gefangenen wurde die Nahrung 67
Das Große Spiel
verweigert, ganze Dörfer wurden in Konzentrationslager verwandelt, und mehr als einer halben Million Menschen wurde alles genommen, was sie besaßen. Wenn US-Maschinen Ziele im Nahen Osten und in Zentralasien bombardieren, werden sie auf der Insel Diego Garcia aufgetankt. In den Nachrichten wird die Insel häufig als »unbewohnt« bezeichnet, aber es wird nie erklärt, warum das so ist. 1966 wurde die gesamte Inselbevölkerung unter absoluter Geheimhaltung und gegen die Beschlüsse der Vereinten Nationen auf Anweisung der britischen Regierung unter Harold Wilson aus ihrer Heimat deportiert und die Insel selbst als Atommülllager und Militärstützpunkt an die USA verpachtet. Erst als einige der Betroffenen im Jahr 2000 vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens einen Prozess anstrengten und gewannen, nahmen die britischen Medien die völkerrechtswidrige Vertreibung und das leidvolle Schicksal dieser Menschen im darauf folgenden Exil überhaupt zur Kenntnis. Ebenfalls tabu ist die lange Geschichte der USA als terroristischer Staat und sicherer Zufluchtsort für Terroristen. Kaum einer wagt darüber zu sprechen, dass die USA der einzige Staat sind, der je vom Internationalen Gerichtshof wegen terroristischer Aktivitäten in einem anderen Land (Nicaragua) verurteilt wurde, oder dass die USA Veto gegen eine Resolution des UNSicherheitsrats eingelegt haben, mit der sich die Mitgliedsstaaten zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichten sollten. Dass sich solche Dinge dem Blick der Öffentlichkeit entziehen, ist nicht die Folge einer Verschwörung. Die meisten Journalisten beginnen schon am Anfang ihrer Laufbahn unbewusst, sich den inneren Zwängen der Institution, für die sie arbeiten, zu unterwerfen, nur wird es ihnen, anders als in autoritären Gesellschaftssystemen, nicht direkt vom Staat abverlangt. Den meisten Journalisten oder Journalistikstudenten ist nicht einmal bewusst, wie die 68
Zweierlei Maß
Schere in ihren Kopf geraten ist. Sie sitzt umso tiefer, weil sich der Vorgang unbewußt vollzieht. Es gehört fast schon zum Berufsethos, Verbrechen des Westens herunterzuspielen und über andere Länder nur unter dem Aspekt ihres Nutzens für den Westen zu berichten. Es gibt seltene flüchtige Momente, die entlarvend sind. Ende 2001 erregte Denis Halliday, der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak, der sein Amt lieber niedergelegt hat, als sich länger zum Verwalter der »an Völkermord grenzenden Sanktionen« gegen das Land zu machen, in einer BBC-Sendung das Missfallen des Moderators Michael Buerk. »Sie wollen doch wohl Saddam Hussein und George Bush [senior] moralisch nicht auf eine Stufe stellen, oder?«, entrüstete sich Buerk, nachdem Halliday vom sinnlosen Gemetzel der US-Truppen am Golf gesprochen hatte.71 Dass die Verbrechen des Westens in der jüngeren Geschichte Saddam, so Halliday, »wie einen Waisenknaben aussehen lassen«, ist ein weiteres Tabuthema. Richard Falk, Politikprofessor an der Universität Princeton, hat hierfür eine Erklärung. Westliche Außenpolitik wird in den Medien durch einen »selbstgerechten, rechtlich-moralisch einseitigen Filter betrachtet, wobei westliche Werte in positiven Bildern und Unschuld als bedroht dargestellt werden, sodass ein Feldzug zügelloser Gewalt gerechtfertigt erscheint.«72 1998 hielt Bill Clinton vor den Vereinten Nationen eine Rede über den internationalen Terrorismus. »Was ist unsere globale Verantwortung?«, fragte er und wusste auch eine Antwort: »Dem Terrorismus keine Unterstützung, keine Zuflucht zu gewähren.« Nach dem 11. September 2001 bediente sich George W. Bush fast der gleichen Worte: »Im Krieg gegen den Terrorismus werden wir die Übeltäter jagen, wo immer sie sich aufhalten, egal wie lange es dauert.«73 Eigentlich hätte er nicht lange zu suchen brauchen, denn in den Vereinigten Staaten werden mehr 69
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Terroristen ausgebildet, gefördert und geschützt als in jedem anderen Land, darunter Massenmörder, Folterknechte, verflossene und künftige Tyrannen und Kriminelle aller Art, die der Beschreibung des Präsidenten entsprechen. Die USamerikanische Öffentlichkeit weiß von alldem kaum etwas. Flugzeugentführungen werden, seit dem 11. September mehr denn je, als das schwerste aller Verbrechen betrachtet. Dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, beschreibt William Blum in seinem Buch Rogue State: »Obwohl im Lauf der Jahre immer wieder mit Waffengewalt und ohne Rücksicht auf Menschenleben Schiffe und Flugzeuge von Kuba in die Vereinigten Staaten entführt wurden, ist es schwierig, mehr als einen einzigen Fall zu finden, in dem die Entführer in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt wurden.«74 Schließlich richteten sich diese Entführungen gegen den Erzfeind Castro. Kein US-Bundesstaat bietet Terroristen so bereitwillig Unterschlupf wie das vom Präsidentenbruder Jeb Bush regierte Florida. Über ein für Florida typisches Verfahren gegen drei Terroristen, die ein Flugzeug mit Waffengewalt entführt hatten, schreibt Blum: »Das ist so, als würde man in Nevada jemanden wegen Glücksspiels vor Gericht stellen. Zwar wurde der Pilot des entführten Flugzeugs eigens aus Kuba eingeflogen, um gegen die Täter auszusagen, aber der Verteidiger präsentierte ihn den Geschworenen einfach als Lügner, und nach weniger als einer Stunde verließen die Angeklagten den Gerichtssaal als freie Männer.«75 Der frühere guatemaltekische Verteidigungsminister Hector Gramajo Morales wurde als Verantwortlicher für die Folterung einer amerikanischen Nonne und das Massaker an einer achtköpfigen Familie von einem US-Gericht zur Zahlung einer Summe von 47,5 Millionen Dollar verurteilt. »Die Beweise lassen keinen Zweifel daran«, sagte der Richter, »dass Gramajo für die 70
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Planung und Durchführung einer willkürlichen Terrorkampagne gegen Zivilisten verantwortlich ist.« Gramajo ist Absolvent der renommierten Kennedy School of Government in Harvard, wo er mit einem Stipendium der US-Regierung studiert hat. Er wurde niemals verhaftet und behauptete nach seiner Rückkehr in sein Heimatland, er habe sich auf »eher humanitäre Weise« um Gegner des Regimes gekümmert.76 Der frühere General José Guillermo Garcia lebt seit langem in Florida. Als Militärchef von El Salvador war er in den 80er Jahren für die Ermordung Tausender Menschen durch Todesschwadronen verantwortlich, die mit den regulären Truppen in Verbindung standen. Auch Garcias Amtsnachfolger, General Carlos Vides Casanova, der die gefürchtete Nationalgarde befehligte, hat in Jeb Bushs »Sonnenscheinstaat« eine neue Heimat gefunden. »Einem Bericht der UN-Wahrheitskommission über El Salvador zufolge«, schreibt Blum, »deckte Vides die Männer, die im Jahr 1980 drei US-amerikanische Nonnen und eine Laienschwester vergewaltigt und ermordet hatten. Mindestens zweimal war er persönlich anwesend, als Juan Romagoza von Folterern so schwer verletzt wurde, dass er seinen Beruf als Chirurg später nie mehr ausüben konnte.«77 Der haitianische Diktator General Prosper Avril ließ die übel zugerichteten Opfer seiner Folterungen gerne im Fernsehen vorführen. Als er gestürzt wurde, flog ihn die US-Regierung eilends nach Florida aus. Der berüchtigte Anführer der haitianischen Todesschwadronen, Emanuel Constant, dessen Schlägertruppen Haiti terrorisierten und ihre Opfer mit Macheten zu verstümmeln pflegten, lebt unbehelligt in New York. Armando Fernandez Larios, Mitglied der Mordkommandos, die nach dem Sturz Salvador Allendes im Jahr 1973 für die Folterungen und Hinrichtungen in Chile verantwortlich waren, hat vom FBI im Rahmen des Zeugenschutzprogramms in Miami eine neue Identität be71
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kommen. Der argentinische Admiral Jorge Enrico, prominente Persönlichkeit im »schmutzigen Krieg« der 70er Jahre, als Tausende von Regimegegnern grausam gefoltert wurden oder spurlos verschwanden, verbringt seinen Lebensabend auf Hawaii. Thiounn Prasith, Pol Pots Botschafter bei den Vereinten Nationen, hat sich in Mount Vernon im Bundesstaat New York niedergelassen. In den 80er Jahren sprach ich in Kalifornien mit vier Vietnamesen, die in der Endphase des Vietnamkriegs im Rahmen der Geheimdienstoperation Phoenix Morde an Angehörigen und Sympathisanten des Vietcong verübt hatten. Einer von ihnen betrieb einen Schnellimbiss. Er schien mit seinem Leben ganz zufrieden zu sein. Alle oben genannten Personen haben eines gemein: Sie haben ihre Terrorakte direkt im Dienst der US-Regierung verübt oder zumindest die Schmutzarbeit für diese erledigt. Die von der CIA geplante, finanzierte und geleitete Operation Phoenix beispielsweise hat bis zu 50 000 Menschen das Leben gekostet. Um die Trainingslager der Al Qaida in Afghanistan, erklärtes Ziel der US-amerikanischen Bombenangriffe, wurde ein Riesenwirbel gemacht. Doch sie waren ein Kindergarten im Vergleich zur weltweit führenden Terrorismusakademie in Fort Benning im US-Staat Georgia. In dieser Institution, bis vor kurzem als School of the Americas bekannt, haben mehr als 60 000 lateinamerikanische Soldaten, Polizisten, Paramilitärs und Geheimdienstagenten ihr Handwerk erlernt. 40 Prozent der guatemaltekischen Kabinettsmitglieder in den mörderischen Regierungen von Lucas García, Rios Montt und Mejía Victores waren Absolventen der Schule.78 1993 nannte die UN-Wahrheitskommission die Namen der Armeeoffiziere, die für die schlimmsten Gräueltaten im salvadorianischen Bürgerkrieg verantwortlich waren. Zwei Drittel von ihnen waren in Fort Benning ausgebildet, unter anderen auch 72
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Roberto d'Aubuisson, Anführer der Todesschwadronen, die Erzbischof Oscar Romero und sämtliche Bewohner eines Jesuitenklosters ermordet hatten. Die Männer, die Pinochets Geheimpolizei und die drei größten Konzentrationslager in Chile leiteten, hatten ausnahmslos die Schule absolviert. Als die US-Regierung 1996 gezwungenermaßen die Ausbildungshandbücher der Akademie zugänglich machte, bekam die Öffentlichkeit zum ersten Mal eine Vorstellung davon, was sie in Wirklichkeit waren: eine Anleitung für angehende Terroristen zu Erpressung, Folter, Hinrichtung und Inhaftierung von Familienangehörigen wichtiger Zeugen. Anfang 2001 wurde die Militärakademie umbenannt und firmiert nun als Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, kurz WHISC. Seitdem sucht man auf der Homepage vergeblich nach einem Hinweis auf die »Geschichte« der Institution. Dazu schreibt der britische Journalist und Menschenrechtsaktivist George Monbiot im Guardian: »Was sollen wir, angesichts der Tatsache, dass die Beweise für eine Verbindung zwischen der Schule und den fortgesetzten Verbrechen in Lateinamerika stichhaltiger sind als die Belege, die es bisher für den Zusammenhang zwischen Al-Qaida-Trainingslagern und den Anschlägen in New York gibt, eigentlich mit den ›Übeltätern‹ in Fort Benning, Georgia, tun? Nun ja, wir könnten beispielsweise unsere Regierungen auffordern, mit allen diplomatischen Mitteln zu verlangen, dass die Kommandeure der Akademie ausgeliefert und wegen der Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden. Oder wir könnten unseren Regierungen vorschlagen, die Vereinigten Staaten anzugreifen und deren militärische Einrichtungen, Städte und Flughäfen zu bombardieren und so die nicht gewählte Regierung zu stürzen, um sie durch eine neue, unter UN-Mandat stehende zu ersetzen. Falls das Ganze bei der Bevölkerung nicht so gut ankommt, könnten wir die Herzen der Menschen im Sturm erobern, indem wir Naan-Brot und Fertigcurry, 73
Das Große Spiel eingeschweißt in Plastiktüten mit aufgedruckter afghanischer Flagge, für sie abwerfen.«79
Anschließend erläutert Monbiot – und verzichtet dabei auf den ironischen Unterton –, dass das terroristische Potenzial der Al Qaida, gemessen an den Möglichkeiten der Vereinigten Staaten, relativ gering ist. Die blutige Spur reicht weit: von der Unterwerfung der Philippinen und Mittelamerikas bis zum größten Terrorakt aller Zeiten, den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki, von der Verwüstung Indochinas, die mit der Ermordung von 600 000 Bauern im neutralen Kambodscha, dem Einsatz von chemischen Waffen und dem Aushungern der Zivilbevölkerung einherging, bis zum gezielten Abschuß eines iranischen Verkehrsflugzeugs und der Bombardierung von Kriegsgefangenen in einer afghanischen Lehmfestung. Das Register US-amerikanischer Terrorakte ist gewaltig, und da man solche harten Fakten nicht widerlegen kann, beschimpft man diejenigen, die sie benennen und Zusammenhänge herstellen, einfach als »antiamerikanisch«, auch wenn es sich um USamerikanische Staatsbürger handelt. In den 30er Jahren war es üblich, Kritiker des Dritten Reiches, die mundtot gemacht werden sollten, als »deutschfeindlich« zu denunzieren. »Wir müssen uns daran gewöhnen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird«, hat Robert Cooper, der außenpolitische Berater Tony Blairs, als Labour noch Oppositionspartei war, einmal gesagt.80 Im Medienzeitalter wird dies untermauert durch die Auswahl der Meldungen, die uns als Nachrichten erreichen und in Wirklichkeit doch nur die immer gleichen Vorurteile bedienen. So hat beispielsweise das eine Menschenleben Nachrichtenwert, während ein anderes belanglos ist. Wenn einer von »uns« getötet wird, ist es ein Verbrechen; die anderen zählen nicht als Menschen. 74
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Als Präsident Clinton 1998 den Befehl zum Raketenangriff auf die sudanesische Pharmafabrik Al Shifa gab, weil dort angeblich chemische Waffen produziert wurden, war dies eindeutig ein schwerer terroristischer Akt. Es war bekannt, dass in dieser Fabrik 90 Prozent der wichtigsten Arzneimittel für eines der ärmsten Länder der Welt hergestellt wurden. Es war die einzige Fabrik, in der das Malariamittel Chloroquine und ein Medikament zur Tuberkulosebehandlung produziert wurden, beide lebenswichtig für 100 000 Kranke und mit einem Kostenfaktor von 1,5 Dollar pro Patient und Monat einigermaßen erschwinglich. Nirgendwo sonst wurden die Tiermedikamente zur Bekämpfung von Parasiten hergestellt, die von Rindern auf Menschen übertragen werden und eine der Hauptursachen für die hohe Kindersterblichkeit im Sudan sind.81 Wie ein Mitarbeiter der angesehenen Hilfsorganisation Near East Foundation erklärte, sind infolge der US-amerikanischen Angriffe »Zehntausende von Menschen – darunter viele Kinder — an Malaria, Tuberkulose und anderen heilbaren Krankheiten gestorben … Wegen der von amerikanischer Seite verhängten Sanktionen konnte der sudanesische Staat nicht genügend Medikamente einführen, um die schwere Versorgungslücke, die durch die Zerstörung der Fabrik entstanden war, zu schließen.«82 Wie viele Menschen haben durch Clintons Bombenangriffe ihr Leben verloren? Dazu der damalige deutsche Botschafter im Sudan, Werner Daum: »Mehrere Zehntausend scheinen mir eine realistische Schätzung zu sein.«83 Eine vom Sudan beantragte Untersuchung durch die UN wurde von Washington verhindert. Nichts von alldem hat den Weg in die Nachrichten gefunden. Als Noam Chomsky diesen Terrorakt mit den verheerenden Anschlägen auf das World Trade Center verglich, erntete er in den US-Medien Schelte von allen Seiten. Ein Kommentator unterstellte ihm gar, »mit dem Faschismus zu liebäugeln«.84 75
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Bei keinem anderen Thema sind die Grenzen objektiver Berichterstattung so eng gesteckt wie im Falle Israels. Seit mindestens 35 Jahren wird Palästinensern völkerrechtswidrig und unter Missachtung zahlreicher UN-Resolutionen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt. Die Aufforderung des UN-Sicherheitsrats an Israel, sich aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland zurückzuziehen, weist einen verblüffend ähnlichen Wortlaut auf wie die UN-Resolution, in der 1990 der Irak zum Rückzug aus Kuwait aufgefordert wurde. Als der Irak diese Resolution missachtete, griffen US-Truppen und ihre Verbündeten an und befreiten Kuwait. Als Israel die UN-Resolutionen wiederholt missachtet hat, folgte stets eine Steigerung der wirtschaftlichen Hilfe und militärischen Unterstützung aus dem Westen, namentlich aus den USA. Was in Palästina geschieht, wird in den westlichen Medien, mit einigen wenigen lobenswerten Ausnahmen, nicht als völkerrechtswidrige Besatzung und Unterdrückung eines Volkes und dessen Widerstand gegen die Besatzer dargestellt, sondern so, als bekriegten sich dort zwei verfeindete Gegner. Die Aufmerksamkeit der westlichen Welt richtet sich auf Israel. Israelis werden »von Terroristen ermordet«, während Palästinenser bei »Zusammenstößen mit Sicherheitskräften« ums Leben kommen. Nur selten wird der Unterschied deutlich gemacht zwischen einer mit modernsten Nuklearraketen, Panzern und Kampfflugzeugen hochgerüsteten Militärmacht und einem Haufen Jugendlicher mit ihren Steinschleudern. (Die Selbstmordattentate sind ein neueres Phänomen, vor allem in Reaktion auf den israelischen Libanon-Feldzug mit 17 500 Toten.) Die politischen Morde an mutmaßlichen palästinensischen Extremisten heißen bei der BBC »gezielte Tötungen« – ein Terminus, der auch auf israelischer Seite verwendet wird. Selten erfährt man, daß neun von zehn Menschen, die seit Beginn der 76
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zweiten Intifada getötet wurden, palästinensische Zivilisten waren. 45 Prozent der Opfer waren jünger als 18 Jahre, und 60 Prozent wurden zu Hause, in der Schule oder am Arbeitsplatz erschossen.85 Nach dem Golfkrieg von 1991 wurde in geheimen, von den Vereinigten Staaten vermittelten Vereinbarungen in Oslo die palästinensische Autonomiebehörde geschaffen und das Gebiet der Palästinenser in Parzellen aufgeteilt, die an die Homelands des südafrikanischen Apartheidstaats erinnern. In den Medien wurde all das begrüßt und ohne weitere Erklärung als »Friedensprozess« bejubelt. (Erst als er sich zur Ruhe setzte, nahm sich der langjährige Nahostkorrespondent der BBC die Freiheit, den »Friedensprozess« als »irreführende und demütigende Farce« zu bezeichnen.)86 Als Tony Blair nach dem 11. September Yassir Arafat in der Downing Street empfing, wurde daraus eine gelungene Medieninszenierung, in der sich Blair selbst als Friedensstifter zeigte, der sich vorteilhaft von der kriegsbegeisterten Riege der BushRegierung abhebt. Dieses Bild des besonnenen Staatsmanns, der seinen beruhigenden Einfluss auf Washington geltend macht, wurde in der Zeit des »Krieges gegen den Terrorismus« in der Downing Street kräftig herausgestrichen. Tatsächlich war das Treffen mit Arafat lediglich ein PR-Ereignis, mit dem die arabische Welt beschwichtigt werden sollte. Es diente außerdem dazu, Blairs persönliche Sympathien für das zionistische Projekt und seine Rolle als engster europäischer Verbündeter Sharons zu verschleiern. Auf diese Zusammenhänge wurde in den etablierten Medien nicht eingegangen. Relativ kurz nach seiner Wahl 1997 ernannte Blair seinen Freund Michael Levy, einen wohlhabenden jüdischen Geschäftsmann, der New Labour mit großzügigen Wahlspenden unterstützt hatte, ganz ungeniert zum »Sonderbotschafter für den Nahen Osten«, sorgte aber zuvor noch dafür, dass er zum 77
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Lord geadelt wurde. Und ausgerechnet dieser Mann, der einmal zum Vorstand der Jewish Agency gehörte, der ein Unternehmen in Israel und einen Zweitwohnsitz in Jerusalem besitzt und dessen einer Sohn im israelischen Justizministerium arbeitet, sollte jetzt als unparteiischer Vermittler vor Israelis und Palästinenser treten. Seit Blair an der Regierung ist, erfährt die repressive Politik Israels noch mehr Rückendeckung aus Großbritannien als zuvor. 2001 wurden 650 Palästinenser, die meisten von ihnen Zivilisten, von israelischen Soldaten oder Siedlern getötet; in vielen Fällen konnte man von Mord sprechen. Im gleichen Jahr genehmigte die britische Regierung 91 Waffenexportverträge, auf deren Grundlage unter anderem Munition, Bomben, Torpedos, Interkontinentalraketen, Kriegsschiffe, Militärelektronik, thermografische Geräte und gepanzerte Fahrzeuge an Israel geliefert werden konnten. Auf diesbezügliche Anfragen des Parlamentsabgeordneten George Galloway antwortete Verteidigungsminister Ben Bradshaw, es gebe »keine Hinweise«, dass britische Waffen und Geräte gegen Palästinenser eingesetzt worden seien.87 Es gibt Hinweise in Hülle und Fülle, wie zum Beispiel den AmnestyBericht, aus dem hervorgeht, dass die Apache-Hubschrauber, die bei Angriffen in den Palästinensergebieten zum Einsatz kommen, mit britischen Ersatzteilen gewartet werden.88 Darüber hinaus unterstützt Großbritannien die israelische Rüstungsindustrie durch den Kauf von Munition, Bomben, Granaten und Panzerabwehrraketen. Die Londoner Metropolitan Police und die Polizei von Südwales werden mit israelischer Munition ausgerüstet. Die britische Luftwaffe verfügt über ein israelisches Trainingssystem für Jetpiloten. Und 1999 wurde ein britisch-israelischer Hochtechnologie-Investmentfonds zur Finanzierung gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsprojekte aufgelegt. 78
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Die Blair-Regierung hat keine Einwände gegen die Eröffnung eines Rekrutierungsbüros der israelischen Armee in London – das doch Soldaten für einen Krieg anwerben würde, der eine Folge der von Großbritannien als völkerrechtswidrig eingestuften Besetzung palästinensischer Gebiete ist. Dies wäre ein eindeutiger Verstoß gegen die neuen Antiterrorgesetze, denn man mag es drehen und wenden, wie man will, die Angriffe Israels in den besetzten Gebieten, die ihre Opfer vor allem in der Zivilbevölkerung fordern, sind und bleiben Terrorakte. Blairs Unterstützung für die Sharon-Regierung reicht noch weiter. Im Mai und Juli 2001 war dem von Großbritanniens führendem Militärverlag herausgegebenen Jane's Foreign Report zu entnehmen, daß Großbritannien und Frankreich Sharon für den Fall eines fortgesetzten palästinensischen Widerstands »grünes Licht« für den Angriff auf Arafat gegeben hatten. Der britischen Regierung wurde ein Plan vorgelegt, der die Wiederbesetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens vorsah, wobei »die neuesten F-15- und F-16-Bomber gegen alle wichtigen Einrichtungen der Autonomiebehörde zum Einsatz kommen und 30 000 Mann, also ein vollständige Armee, aufgeboten werden« sollten. Der Plan sollte unmittelbar nach einem größeren Selbstmordattentat »mit zahlreichen loten und Verletzten« umgesetzt werden, »da der Aspekt der ›Vergeltung‹ entscheidend ist. Er motiviert die israelischen Soldaten, die Palästinenser vernichten zu wollen.«89 Was Sharon und seinen Vertrauten, insbesondere dem Urheber des Plans, Brigadegeneral Shaul Mofaz, zu dieser Zeit Chef des Generalstabs, das größte Kopfzerbrechen bereitete, war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Arafat und der Hamas, auf deren Rechnung die meisten Selbstmordattentate gingen, weitere Anschläge dieser Art auf israelischem Gebiet zu verhindern. Sharon trieb, vor allem, als sich George W. Bush zu der erstaunlichen Feststellung verstieg, er habe den palästinensi79
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schen »Traum« von einem eigenen Staat schon immer befürwortet, die eher unnötige Sorge um, der US-amerikanische »Krieg gegen den Terrorismus« könne als Nebenprodukt eine »NahostLösung« nach sich ziehen. Es musste also etwas unternommen werden. Am 23. November 2001 wurde der Hamas-Führer Mahmud Abu Hunud aus israelischen Hubschraubern beschossen und getötet. Wenige Tage später kam die unvermeidliche Antwort, als sich zwei Selbstmordattentäter fast zeitgleich in Jerusalem und Haifa in die Luft sprengten. »Wer immer die Liquidation von Abu Hunud angeordnet hat, wusste im Vorhinein, dass dies der Preis sein würde«, schrieb der gut informierte Sicherheitsexperte Alex Fishman in einem Artikel, der in der israelischen Tageszeitung Yediot Achronot erschien. »Wer immer für diese Liquidation grünes Licht gab, wusste sehr gut, dass er dadurch mit einem Schlag die stillschweigende Übereinkunft zwischen Hamas und Palästinensischer Autonomiebehörde, Israel nicht durch Angriffe auf seine Bevölkerungszentren in die Hände zu spielen, zunichte machte.«90 Umgehend erfolgten massive Angriffe der israelischen Armee in den besetzten Gebieten, die Autonomiebehörde wurde nahezu handlungsunfähig gemacht und Arafat die politische Basis entzogen. Wie gewohnt mahnte Washington zur »Beendigung der Gewalt«, wobei diesmal in Arafat der Hauptschuldige ausgemacht wurde. Keine unbedachten Bemerkungen mehr über den »Traum« von einem palästinensischen Staat. Arafat war, so Sharon, »bedeutungslos« geworden. Und der Friedensstifter Blair hüllte sich, wie fast die gesamten westlichen Medien, in Schweigen. Im April 2002 griffen israelische Truppen erneut im Westjordanland an, diesmal noch massiver als wenige Monate zuvor. Das Flüchtlingslager Dschenin wurde fast vollständig zerstört, 80
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eine nicht genau bekannte Anzahl von Menschen, darunter ein 38-jähriger Schwerbehinderter, wurden in ihren Häusern zu Tode gewalzt. Insbesondere auf diesen Mord berief sich Amnesty International in seinem Appell an Großbritannien und andere Unterzeichnerländer der Genfer Konvention, israelische Soldaten, die »Kriegsverbrechen begangen« haben, vor Gericht zu stellen. Der Direktor der Londoner Staatsanwaltschaft wies Scotland Yard an, wegen Kriegsverbrechen gegen Shaul Mofaz zu ermitteln. Zu alledem gab Blair, der sich stets wortreich zu Saddam Husseins Verbrechen geäußert hat, keinen Kommentar ab.91 *** Robert Coopers Bemerkung über das Messen mit zweierlei Maß fand im Kosovo eine beredte Bestätigung. Anders als die Palästinenser konnten die Angehörigen der albanischen Volksgruppe im Kosovo mit Unterstützung der Vereinigten Staaten und ihrer NATO-Partner unmittelbar nach dem Krieg in ihre Dörfer zurückkehren. In den westlichen Medien fand das Eingreifen der NATO fast uneingeschränkte Zustimmung. Und das, obwohl es um einen Bürgerkrieg ging und die Souveränität Jugoslawiens von der NATO nicht in Frage gestellt wurde. Während die albanische Bevölkerung in ihre kosovarische Heimat zurückkehrte, wurden 250 000 Serben und Roma vertrieben oder ergriffen aus Angst die Flucht. Die 40 000 Mann starken Besatzungstruppen sahen tatenlos zu, wie die UÇK mordete, folterte, Menschen entführte und Kirchen verwüstete, kurz gesagt, wie sie dem Bild der Terrororganisation gerecht wurde, als die Madeleine Albright und Robin Cook sie bei früheren Gelegenheiten übereinstimmend eingestuft hatten. Während des »Krieges« im Kosovo wurde im Internet eine Liste der zivilen Ziele veröffentlicht, in den Zeitungen suchte man vergeblich danach. Unter dem Codenamen »Stage three« wurden 81
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Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs, zivile Fabriken, Telefonschaltzentralen, Nahrungsmittelfabriken, Düngerdepots, Bauernhöfe, Krankenhäuser, Schulen, Museen, Kirchen und denkmalgeschützte Klöster bombardiert. »Schon nach zwei Wochen wurden die militärischen Ziele knapp«,erklärte James Bisseil, der kanadische Botschafter in Jugoslawien, einem Filmteam. »Es war allgemein bekannt, dass die NATO zu ›Stufe drei‹ übergegangen war: dem Angriff auf zivile Ziele. Sonst hätte sie nicht am Sonntagnachmittag Brücken und Marktplätze bombardiert.«92 Elmar Schmähling, Flottenadmiral a.D. und ehemaliger Chef des Militärischen Abschirmdienstes, meinte dazu: »Es war beabsichtigt, zuerst Druck auf die jugoslawische Zivilbevölkerung auszuüben und dann der jugoslawischen Wirtschaft so schwere Schäden zuzufügen, dass sie sich davon nicht würde erholen können.«93 In den letzten Wochen der Luftangriffe sah ich in der BBCSendung Newsnight ein Gespräch der Journalistin Kirsty Wark mit dem NATO-Kommandeur General Wesley Clark. Kurz zuvor waren auf dem belebten Marktplatz der Stadt Niš Alte, Frauen und Kinder durch eine Splitterbombe getötet worden, aber Kirsty Wark fragte mit keiner Silbe nach den zivilen Opfern der Bombenangriffe. Dass nur zwei Prozent der NATOPräzisionsraketen militärische Ziele getroffen hatten, war der Presse nur für kurze Zeit Schlagzeilen wert, und in diesen war von »Fehlern« und »Irrläufern« die Rede. Als exemplarisch für den allgemeinen Tenor der »Berichterstattung« kann man die Arbeit des BBC-Korrespondenten Mark Laity betrachten, der später als Sprecher und Sonderberater des Generalsekretärs in die Dienste der NATO trat. Die »Berichterstattung« setzte sich im Wesentlichen aus den Lügen zusammen, die von offizieller Seite zur Rechtfertigung der Intervention fabriziert wurden, angefangen mit der von US82
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Verteidigungsminister William Cohen genannten Zahl von »100 000 vermissten, möglicherweise ermordeten kosovoalbanischen Männern im wehrfähigen Alter«. Zwei Wochen später wollte der amerikanische Sonderbotschafter David Scheffer bereits von »225 000 möglicherweise getöteten albanischen Männern zwischen 14 und 59 Jahren« wissen. Es war ein gefundenes Fressen für die britische Presse. »Flucht vor dem Völkermord«, titelte die Daily Mail. »Erinnerung an den Holocaust«, stimmten Sun und Mirror in den Chor ein. Auch Tony Blair fühlte sich an den Holocaust und den »Geist des Zweiten Weltkrieges« erinnert, ohne zu merken, wie paradox der Vergleich war: Kein anderes Volk hatte im Widerstand gegen die Nationalsozialisten in der Relation zur Bevölkerungszahl so viele Opfer zu beklagen wie die Serben. Nachdem die Bombenangriffe im Juni 1999 eingestellt worden waren, begannen internationale kriminaltechnische Teams im Kosovo mit akribischen Untersuchungen. Auch Beamte des FBI erschienen am, wie es hieß, »größten Verbrechensschauplatz«, den das FBI in seiner kriminaltechnischen Geschichte bisher zu verzeichnen hatte«. Ein paar Wochen später reisten sie wieder ab, ohne ein einziges Massengrab gefunden zu haben. Der Leiter des spanischen Spezialistenteams, das sich ebenfalls auf den Heimweg machte, meinte verärgert, er und seine Kollegen seien zum »Spielball der Kriegspropagandamaschinerie« geworden, denn sie hatten »nicht ein Massengrab vorgefunden –nicht ein einziges«. Im November 1999 veröffentlichte das Wall Street Journal die Ergebnisse seiner eigenen Nachforschungen und verwies den »Massengrabwahn« ins Reich der Legenden. Anstatt der »riesigen Schlachtfelder, die einige Ermittler aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen vorzufinden geglaubt hatten …, ergibt sich das Bild einzelner, verstreuter Mordschauplätze, die vor al83
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lem in Gegenden liegen, in denen die separatistische UÇK aktiv war«. Die NATO habe, so der Schluss der Zeitung, die Geschichte von den Massenmorden der Serben forciert, als sich abzeichnete, dass »sich ein unzufriedenes Pressecorps der anderen Seite des Geschehens zuzuwenden begann: den zivilen Opfern der NATO-Bombardements«. Die Angaben über die Zahl der Toten konnten zu einem großen Teil auf UÇK-Quellen zurückverfolgt werden. »Der Krieg im Kosovo war grausam, bitter und barbarisch«, endete der Artikel, »aber ein Völkermord war er nicht.« Die NATO hatte ihre Bomben abgeworfen, »um die humanitäre Katastrophe« des Mordens und der Massenvertreibung zu verhindern«, so die Worte des britischen Verteidigungsministers George Robertson. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, deren Beobachter unmittelbar vor Beginn der Luftangriffe im Kosovo waren, veröffentlichte im Dezember 1999 einen Bericht, der in den Medien praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Aus dem Bericht ging hervor, dass die meisten Verbrechen an der albanischen Bevölkerung erst nach Beginn der Luftangriffe begangen worden waren, man sie also nicht als Anlass, sondern als Folge der Bombardierungen sehen musste. »Die serbische Armee war ohne Frage das Instrument der humanitären Katastrophe, die dort ihren Lauf nahm«, schreibt der frühere Chefstratege der NATO Michael McGwire, »aber eine der Hauptursachen war die so lange in der Luft schwebende Kriegsdrohung der NATO, und es ist wirklich absurd, die Luftangriffe als ›humanitäre Intervention zu bezeichnen.« Im Sommer 2000 gab das internationale Kriegsverbrechertribunal die endgültige Zahl der in Massengräbern im Kosovo gefundenen Toten mit 2788 an. Mitgezählt waren auch Serben, Roma und Angehörige der kämpfenden Truppen. Die Zahlen, die britische und US-amerikanische Regierungsvertreter verbrei84
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tet hatten, waren demnach völlig aus der Luft gegriffen. In den Medien wurde darüber wenig berichtet. Die Journalisten, die die NATO-Lügen geschluckt hatten, schimpften am lautesten über die Handvoll Kollegen, denen die Luftangriffe und die zu ihrer Rechtfertigung inszenierte Farce von den »gescheiterten Verhandlungen von Rambouillet« ein paar kritische Fragen wert waren. Ihre Strategie der Diffamierung bestand darin, dass sie Kritik an der Bombardierung ziviler Ziele mit Sympathie für Milošević gleichsetzten. Nach dem gleichen Prinzip wurde jedem, der seine Sorge um die humanitäre Lage der irakischen und afghanischen Bevölkerung äußerte, unterstellt, er sei für Saddam Hussein beziehungsweise das Taliban-Regime. Die intellektuelle Unlauterkeit, die darin zum Ausdruck kommt, hat Tradition. Nach dem 11. September 2001, als es wieder Splitterbomben regnete, nur diesmal auf ein anderes Gebiet, rüsteten sich die Befürworter des »Krieges gegen den Terrorismus« mit dem Schlachtruf: »Wir hatten Recht im Kosovo, und wir haben auch heute Recht.«94 Falls oder wenn der Irak im »Krieg gegen den Terrorismus« angegriffen wird, werden Journalisten wieder einmal eine Hauptrolle übernommen haben. In den Vereinigten Staaten haben die großen Zeitungen und einflussreiche Kolumnisten wie William Saure zur »nächsten Befreiungsaktion« aufgerufen. Den Konsens, der in der etablierten Presse herrscht, bringt der Journalist Michael Kelly in der Washington Post auf den Punkt: »Die amerikanischen Pazifisten … sind auf der Seite der künftigen Massenmörder amerikanischer Bürger. Sie sind objektiv gesehen für den Terrorismus … Das ist die Haltung der Pazifisten, und sie ist böse.«95 In Großbritannien, wo immerhin ein gewisses Maß an Kritik zugelassen ist, wird eine Rechtfertigung der Luftangriffe nicht ganz so wortstark, aber doch beharrlich betrieben. »US-Falken beschuldigen Irak wegen Anthrax-Briefen«, lautet 85
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die Schlagzeile vom 14. Oktober 2001 auf der Titelseite des Observer. Diese propagandistische »Information« war aus Geheimdienstkreisen durchgesickert. Die Milzbranderreger, die in den Vereinigten Staaten verschickt wurden, waren waffentauglich und, wie die New York Times berichtete, »in entscheidenden technischen Details praktisch identisch mit dem in USMilitärlabors produzierten Anthrax«. Das FBI sprach von einem »Insiderjob«.96 Kurz darauf erschien im Observer unter der Überschrift »Die Spur in den Irak« ein zweiseitiger Artikel, in dem der Verfasser, auf nicht genannte »Geheimdienstquellen« gestützt, den Irak mit dem 11. September in Verbindung brachte. »Die Beweise mehren sich«, behauptete er, ohne Fakten zu nennen, und fügte schließlich die Feststellung an, man sei allerdings »weit entfernt davon, die eigentlichen Verantwortlichen benennen zu können«.97 Dies ist ein journalistischer Stil, der mit Andeutungen und Ködern arbeitet, einen Scheingegner aufbaut und dann den Rückzug antritt. Der Reporter David Rose griff die Geschichte auf und schloss das magere Ergebnis seiner Bemühungen mit dem Rat, den Irak anzugreifen, weil das Land hervorragend geeignet sei, um als »Brückenkopf zur Demokratisierung der arabischen Welt« zu dienen. »Es gibt Momente in der Geschichte«, schrieb er, »in denen die Anwendung von Gewalt sowohl richtig als auch vernünftig ist. Dies ist ein solcher Moment.« Sein bemerkenswerter Ratschlag war mit einem Foto illustriert, das den irakischen Diktator mit seinem berühmten satanischen Grinsen zeigte. Es ist das Cartoongesicht eines ganzen Volkes. Dass es um das Schicksal von 20 Millionen Menschen geht, die als Geiseln einer von ihnen nicht beeinflussbaren Machtpolitik zehn Jahre lang unter schwersten Sanktionen gelitten haben und nun ihrer »vernünftigen« Abschlachtung entgegensehen, fällt unter den Tisch. 86
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Ein vergleichbarer, etwas subtilerer Beitrag von David Leigh und Jamie Wilson erschien im Guardian unter der Überschrift »Zählung der irakischen Opfer«. Die Autoren beginnen ihre »Analyse« mit einem Vergleich zwischen den berühmten Propagandalügen über »ermordete Säuglinge«, die im Ersten Weltkrieg und im ersten Golfkrieg der USA kursierten, und neueren UN-Studien, aus denen hervorgeht, dass eine halbe Million irakischer Kinder vor allem in Folge des Embargos gestorben sind. Ihre verblüffende Erkenntnis lautet, dass es die »gestorbenen irakischen Kinder« gar nicht gebe, dass sie vielmehr ein »statistisches Konstrukt« seien, »eine Behauptung von Kritikern der USA«. Im nächsten Atemzug widersprechen sie sich selbst, indem sie sich auf die Vereinten Nationen und andere Institutionen als zuverlässige Informationsquellen berufen. Was den Autoren missfiel, war offensichtlich die Tatsache, dass sich Osama Bin Laden der UN-Studien für seine eigenen Propagandazwecke bedient hatte, woraus man schließen muss, dass die Wahrheit, selbst wenn sie noch so ausführlich belegt ist, als makelbehaftet gilt, wenn sie von einem benutzt wird, den man nicht mag. Etwas weltfremd bemerken die Autoren schließlich: »Vielleicht … hat Bin Laden gar nicht so Unrecht.« Für die gewöhnlichen Leser war der Keim des Zweifels gesät. Wenn die toten und sterbenden Kinder im Irak nur ein »statistisches Konstrukt« waren, warum sollte man dann nicht angreifen?98 Als wichtigster »Beweis« dafür, dass der Irak etwas mit dem 11. September zu tun hatte, wird ein angebliches Treffen zwischen dem mutmaßlichen Anführer der Selbstmordattentäter, Mohammed Atta, und einem irakischen Geheimagenten in der Tschechischen Republik ins Feld geführt. In der britischen Presse erlebte der Mann einen rasanten Aufstieg vom »kleinen Fisch« (Guardian) über »mittleren Ranges« (Independent) und »zum Führungskreis zählend« (Financial Times) bis hin zum »Chef der 87
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irakischen Geheimdienste« (Times). Nur die Financial Times stellte die Frage, ob das Treffen überhaupt stattgefunden hatte und, wenn ja, ob es tatsächlich in irgendeiner Verbindung mit den Anschlägen auf das World Trade Center stand.99 Im BBCNachrichtenmagazin Newsnight enthüllte der Auslandskorrespondent Mark Urban die Existenz »geheimer Informationen« über einen »geplanten Raketenangriff Saddam Husseins«. Beweise legte er dafür nicht vor. Die Fragwürdigkeit der »Irak-Verbindung« war dagegen nie Gegenstand von Schlagzeilen. Nur der Daily Telegraph erwähnte in der Ausgabe vom 18. Dezember 2001, dass Mohammed Atta nach Angaben der tschechischen Polizei nie in der Tschechischen Republik gewesen war. Stillschweigen herrschte auch, als die New York Times am 5. Februar 2002 berichtete: »Der Central Intelligence Agency liegen keine Beweise dafür vor, dass der Irak in den letzten zehn Jahren an terroristischen Aktionen gegen die Vereinigten Staaten beteiligt war; die CIA ist darüber hinaus überzeugt, dass Präsident Saddam Hussein der Al Qaida keine chemischen oder biologischen Waffen zur Verfügung gestellt hat.« Das Verschweigen der Wahrheit ist die wirksamste Form der Zensur. In den meisten Berichten über Afghanistan wurde der Krieg gegen eines der ärmsten Länder der Welt mit Bildern gerechtfertigt, die die Grausamkeit der Taliban dokumentierten: erschütternde Aufnahmen von Frauen, die sich nur in ihren zeltähnlichen Burkas in der Öffentlichkeit sehen lassen durften und denen die grundlegendsten Menschenrechte verwehrt wurden. Zwar wurde gelegentlich auf die angloamerikanische Rolle bei der Gründung der Dschihad-Zellen hingewiesen, aus denen die Taliban hervorgegangen sind, aber ein interessantes Kapitel in der Geschichte dieser finsteren Gesellschaft blieb weitgehend im Dunkel, obwohl das Wissen darum »unseren Krieg für die Men88
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schenrechte und für die Werte der zivilisierten Welt« (Blair) ins richtige Licht gerückt hätte. In den 60er Jahren hatte sich aus den Reihen der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) eine Befreiungsbewegung formiert, die gegen das diktatorische Regime von König Zahir Shah opponierte und 1978 schließlich seinen Vetter und Nachfolger Mohammad Daud stürzte. Die Revolution war von einer breiten Masse getragen. Der New York Times zufolge berichteten ausländische Journalisten aus Kabul, dass »fast alle Afghanen, die sie interviewt hatten, froh waren über den Umsturz«.100 Im Wall Street Journal war von 150 000 Menschen zu lesen, die sich zu einem »Ehrenmarsch unter der neuen Staatsflagge« versammelt hatten: »Die Teilnehmer schienen ehrlich begeistert zu sein.«101 Und in der Washington Post hieß es: »Die Regierungstreue der Afghanen kann kaum in Frage gestellt werden kann.«102 Die neue Regierung entwarf ein Reformprogramm, das Religionsfreiheit, Gleichberechtigung für Frauen, die Abschaffung der ländlichen Feudalstrukturen und mehr Rechte für bis dahin benachteiligte ethnische Minderheiten beinhaltete. Mehr als 13 000 Häftlinge wurden aus den Gefängnissen entlassen und Polizeiakten öffentlich verbrannt. In Zeiten des feudalistischen Stammessystems hatte die durchschnittliche Lebenserwartung bei 35 Jahren gelegen, und fast jedes dritte Kind hatte das sechste Lebensjahr nicht erreicht. 90 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten. Die neue Regierung richtete in den ärmsten Regionen einen kostenlosen Gesundheitsdienst ein, verbot die Leibeigenschaft und rief eine breit angelegte Alphabetisierungskampagne ins Leben. Für die Frauen brach eine Zeit ungeahnter Freiheiten an; gegen Ende der 80er Jahre stellten sie 50 Prozent der Studierenden an afghanischen Universitäten. 40 Prozent der Ärzte, 70 Prozent der Lehrer 89
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und 30 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst waren Frauen. Die Veränderungen waren so radikal, dass sie denen, die davon profitieren konnten, lebhaft im Gedächtnis geblieben sind. Die Chirurgin Saira Noorani, die im September 2001 vor den Taliban flüchtete, erzählt: »Jedes Mädchen konnte die höhere Schule und die Universität besuchen. Wir konnten gehen, wohin wir wollten, und tragen, was uns gefiel. … Wir trafen uns im Café, freitags sahen wir uns die neuesten indischen Filme im Kino an, und wir hörten die neueste Hindi-Musik. … Aber als die Mudschaheddin die Oberhand gewannen, wurde alles anders…. Sie ermordeten Lehrerinnen und steckten Schulen in Brand. … Wir hatten furchtbare Angst. Für uns war es absurd und traurig zugleich, dass dies Leute waren, die der Westen protegiert hatte.«103 Das Problem der afghanischen Regierung war, dass sie von der Sowjetunion unterstützt wurde. Aber obwohl die DVPA ein Zentralkomitee nach stalinistischem Vorbild hatte, war sie nicht die »Marionettenpartei«, zu der sie im Westen stilisiert wurde, und auch die westliche Propagandabehauptung, sie habe den Umsturz mit sowjetischer Hilfe zuwege gebracht, stimmte nicht. Präsident Carters Außenminister Cyrus Vance räumt in seinen Memoiren ein: »Wir hatten keinerlei Beweise dafür, dass die Sowjets an dem Umsturz beteiligt waren.«104 Der ehemalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski verkörpert den anderen Flügel der Carter-Regierung, den es nach einer Wiedergutmachung für die demütigende Niederlage in Vietnam dürstete und der in jeder postkolonialen Befreiungsbewegung irgendwo in der Welt eine Gefahr für die Vereinigten Staaten sah. Darüber hinaus mussten die angloamerikanischen Satellitenstaaten im Nahen Osten und am Golf, allen voran der vom Schah regierte Iran, »beschützt« werden. Und wenn die DVPA in Afghanistan Erfolg hatte, würde das Beispiel möglicherweise Schule machen. 90
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Ohne die US-amerikanische Öffentlichkeit oder den Kongress zu informieren, genehmigte Präsident Carter am 3. Juli 1979 den Betrag von 500 Millionen Dollar für ein verdecktes Aktionsprogramm zur Unterstützung der als Mudschaheddin bekannten Stammesgruppen in Afghanistan. Angestrebt war der Sturz der ersten weltlichen und progressiven Regierung des Landes. Anders als es die Mythenbildung des Kalten Krieges wollte, hatte der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, der erst sechs Monate später begann, nichts damit zu tun. Vielmehr deutet alles daraufhin, dass das verhängnisvolle Eingreifen der Sowjetunion die Reaktion auf eben den Stammes- und Religionsterror war, mit dem die Vereinigten Staaten ihre eigenen Angriffe im November 2001 begründet haben. 1998 räumte Brzezinski in einem Interview ein, dass Washington die Rolle der Vereinigten Staaten falsch dargestellt hatte: »Nach der offiziellen Lesart fing die CIA 1980, also nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, an, die Mudschaheddin zu unterstützen. Aber die Wahrheit, die bisher geheim gehalten wurde, sieht vollkommen anders aus.«105 In einem Bericht des US-Botschafters in Kabul vom August 1979 hieß es: »Der Sturz der DVPA-Regierung würde den allgemeinen Interessen der Vereinigten Staaten dienen, unabhängig davon, was dies für die weiteren sozialen und wirtschaftlichen Reformen in Afghanistan bedeutet.«106 So schloss Washington also einen Faust'schen Pakt mit ein paar Gestalten, die zu den skrupellosesten Fanatikern der Welt gehörten. Gulbuddin Hekmatyar beispielsweise wurde von der CIA mit zig Millionen Dollar gesponsert. Zu Hekmatyars Spezialitäten gehörten Drogengeschäfte und Säureanschläge auf Frauen, die sich weigerten, die Burka zu tragen. Dieser Mann war 1986, einer Einladung nach London folgend, von Premierministerin Thatcher als »Friedenskämpfer« gepriesen worden. Zwi91
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schen 1978 und 1992, der Regierungszeit der DVPA, erhielten die verschiedenen Mudschaheddin-Fraktionen mehr als vier Milliarden Dollar aus Washington. Brzezinski hoffte damit in der islamischen Welt fundamentalistische Kräfte zu aktivieren und so eine Destabilisierung der Sowjetunion zu erreichen, auch wenn dies, wie es in seiner Biografie heißt, ein paar »muslimische Hitzköpfe« auf den Plan rufen würde. Seine weltpolitischen Absichten deckten sich mit den ehrgeizigen Plänen des pakistanischen Diktators Zia ul-Haq, sich die Vorherrschaft über die Region zu sichern. 1986 versprach CIAChef William Casey Unterstützung für ein Projekt des pakistanischen Geheimdienstes ISI, dem zufolge weltweit Mitstreiter für den afghanischen Dschihad rekrutiert werden sollten. Zwischen 1982 und 1992 wurden in Pakistan mehr als 100 000 militante Islamisten ausgebildet. Leute, die sich später den Taliban und Osama Bin Ladens Al Qaida anschlossen, wurden an einer islamischen Universität in Brooklyn, New York, angeworben und erhielten ihre paramilitärische Ausbildung in einem Trainingslager der CIA in Virginia. Die Aktion lief unter dem Namen »Operation Zyklon«. In Pakistan unterhielten die CIA und der britische Geheimdienst MI6 Mudschaheddin-Trainingslager, in denen Mitglieder der britischen Eliteeinheit SAS zukünftigen Taliban- und AlQaida-Kämpfern beibrachten, wie man Bomben baut und andere schmutzige Dinge tut. Sie existierten noch lange, nachdem sich die Sowjetunion 1989 aus Afghanistan zurückgezogen hatte. Als die DVPA-Regierung 1992 schließlich fiel, ließ der Lieblingsschüler des Westens, der Warlord Gulbuddin Hekmatyar, Bomben aus US-amerikanischer Produktion auf Kabul regnen, bis die anderen Fraktionen seiner Ernennung zum Premierminister schließlich zustimmten. Bis dahin waren 2000 Menschen im Bombenhagel umgekommen. 92
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Der letzte DVPA-Präsident Mohammad Najibullah, der die UN-Vollversammlung händeringend um Hilfe ersucht hatte, fand Asyl auf dem UN-Gelände in Kabul, wo er sich aufhielt, bis die Taliban 1996 an die Macht kamen. Sie hängten ihn an einer Straßenlaterne auf.107 *** Am 11. September 2001 verkündete George W. Bush der Nation: »Ich habe die ganze Kraft unserer Geheimdienste und unserer Polizei darauf konzentriert, die Verantwortlichen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.« Ein gutes Jahr später war es auch mit der geballten Kraft von 13 Geheimdienstbehörden nicht gelungen, einen einzigen erwiesenermaßen Schuldigen vor Gericht zu bringen. Von keinem der auf dem Plakat der »gesuchten Terroristen« abgebildeten 22 Männer gibt es eine Spur; von der ausgelobten 500-MillionenDollar-Belohnung wurde noch kein Cent abgerufen. Das Ausmaß des Fahndungsmisserfolgs sucht in der Geschichte seinesgleichen. Und doch wurde in der Führungsetage der CIA und des FBI niemand entlassen oder zum Rücktritt gedrängt oder auch nur vom Kongress getadelt. Eine Zeit lang erfreute sich George W. Bush einer Popularität wie kein Präsident vor ihm. Was Bush seinen Landsleuten allerdings verschwieg, waren die an seine Regierung und an seinen Vorgänger Clinton ergangenen Warnungen vor geplanten Terroranschlägen der Al Qaida, auch »die Basis« genannt, eines internationalen Geflechts von Organisationen, das seinen Ursprung im US-Satellitenstaat Saudi-Arabien hat. Der Öffentlichkeit ebenfalls verborgen blieb die Tatsache, dass in der Zeit des Mudschaheddin-Widerstands gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan eine enge Verbindung zwischen CIA und Osama Bin Laden bestanden hatte und dass der Vater des Präsidenten nach wie vor als Berater der sa93
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genhaft reichen Bin-Laden-Familie fungierte. Nach einem Bericht der Washington Post hatte die Al Qaida ihre Operationsbasis 1996 in den Sudan verlegt und die Regierung in Khartum hatte Washington angeboten, Osama Bin Laden und schätzungsweise 3000 Kämpfer »im Auge zu behalten« oder aber ihn »festzunehmen und auszuliefern«. Verteidigungsminister Generalmajor Elfaith Erwa hatte seiner eigenen Aussage nach die US-Regierung darüber informiert, dass Bin Laden plante, nach Afghanistan zurückzukehren. »Lassen Sie ihn nur«, hatte man ihn beschieden. Wenig später wurden Bin Laden und seine Spießgesellen aus dem Sudan ausgewiesen. Fünf Jahre danach erschien in der Irish Times ein Artikel, der sich auf ein Interview mit dem auf Osama Bin Laden angesetzten FBI-Beamten John O'Neill bezog. Darin heißt es: »Versuche, Bin Ladens Schuld nachzuweisen, wurden vom US-Außenministerium und der hinter dem Ministerium stehenden Öllobby, mit der sich Präsident Bush umgibt, boykottiert. Die USBotschaft in Sanaa hinderte O'Neill im August 2001 an der Einreise in den Jemen. Frustriert legte O'Neill sein Amt nieder und trat eine neue Stellung als Leiter des Sicherheitsdienstes im World Trade Center an. Er kam bei den Anschlägen am 11. September ums Leben.« Die französische Presseagentur Agence France Presse meldete im Zusammenhang mit O'Neills Ermittlerteam: »Die FBI-Beamten, die in Verwandtschaftskreisen des in Saudi-Arabien geborenen Terrorverdächtigen Osama Nachforschungen anstellten …, wurden kurze Zeit, nachdem George W. Bush das Präsidentenamt angetreten hatte, zurückgepfiffen.« Im Januar 2000 wurde die CIA von einem Treffen führender Al-Qaida-Strategen in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur unterrichtet. Gegenstand der Gespräche waren diverse geplante Aktionen, unter anderem der Anschlag auf die USS Cole im Jemen. Zwei der Teilnehmer gehörten, wie die CIA mittler94
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weile einräumt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu den Entführern der American-Airlines-Maschine, die am 11. September ins Pentagon stürzte. Die Männer waren mit saudischen Pässen in Los Angeles eingereist und hatten sich mit Flugstunden auf die Anschläge vorbereitet. Mehrere FBI-Beamte, denen aufgefallen war, dass sich verdächtige Personen zum Training in Flugsimulatoren angemeldet hatten, gaben ihre Beobachtung an Vorgesetzte weiter. Einer dieser Beamten äußerte die Vermutung, es könnten Kamikazeflüge nach New York und Washington geplant sein. Allen beteiligten Beamten wurde unter Hinweis auf den National Security Act mit persönlichen Nachteilen gedroht. Im Juli 2001 wurde Bush ein Memorandum vorgelegt, in dem es hieß: »Wir [die CIA und das FBI] sind der Überzeugung, dass OBL [Osama Bin Laden] für die kommenden Wochen einen massiven und spektakulären Terroranschlag gegen US-amerikanische und/oder israelische Einrichtungen plant, bei dem es möglichst viele Tote und Verletzte geben soll. Es wurden bereits Vorbereitungen für diesen Anschlag getroffen, und er wird mit sehr kurzfristiger oder ganz ohne Ankündigung erfolgen.« Und genau so kam es auch. Wenige Tage, nachdem die Flugzeugentführer von Boston aus zum World Trade Center gestartet waren, entschwanden, wie die BBC zu berichten wusste, »elf Mitglieder des Bin-Laden-Clans vom selben Flughafen mit einer Chartermaschine nach SaudiArabien. Im Weißen Haus, nach dessen offizieller Lesart die Bin Ladens über jeden Verdacht erhaben sind, fand man das völlig normal.« Im Januar 2002 meldete CNN: »Präsident Bush hat den demokratischen Mehrheitsführer im Senat Tom Daschle persönlich aufgefordert, die Kongressuntersuchungen zu den Ereignissen des 11. September einzuschränken. … Geäußert 95
Das Große Spiel wurde dieser Wunsch bei einem privaten Zusammentreffen mit den Fraktionsführern. … Unseren Quellen zufolge kam das Treffen auf Betreiben Bushs zustande. … Seiner Vorstellung nach sollte keine breit angelegte Untersuchung stattfinden, sondern nur die Geheimdienstausschüsse in Senat und Kongress sollten herauszufinden versuchen, welche möglichen Sicherheitslücken bei welchen Bundesbehörden dazu geführt hatten, dass die Anschläge nicht verhindert werden konnten. … Der Debatte vom Dienstag ging ein Anruf von Vizepräsident Dick Cheney voraus, in dem er die gleiche Forderung stellte…«
Die Begründung für dieses erstaunliche Ansinnen lautete, dass die »erforderlichen technischen und personellen Kräfte« für den »Krieg gegen den Terrorismus« gebraucht würden.108 *** Einige Monate vor dem 11. September nahm ich an einem Symposium der Universität von Sussex zum »neuen Imperialismus« teil. Das Außergewöhnliche an dem Ereignis war, dass es überhaupt stattfand. Julian Saurin von der Fakultät für Asien- und Afrikastudien erklärte, er habe in den zehn Jahren seiner Lehrtätigkeit keine einzige offene Diskussion über das Thema Imperialismus erlebt. Die Inhalte des Politikstudiums an britischen Universitäten beziehen sich zu 80 Prozent auf die Vereinigten Staaten und Europa. Der Rest der Welt wird danach beurteilt, wie wichtig er für die »westlichen Interessen« ist. Die Neorealisten, die auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen den Ton angeben und die im Übrigen dem Symposium fern blieben, empfinden den Begriff eines modernen Imperialismus als Provokation. Zwar glauben sie leidenschaftlich an seine Segnungen, aber sie reden sich ein, es sei nicht das, was es ist, und bezeichnen es lieber als Realpolitik. Wer das Kind beim Namen nennt, erntet peinlich berührtes Schweigen und entlarvt 96
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sich eben öffentlich als Ideologe: als das genaue Gegenstück eines Realpolitikers. Der in Oxford lehrende Historiker und Politologe Niall Ferguson macht aus seinem Herzen selten eine Mördergrube. Beifällig kommentierte er die Rede, in der Blair auf dem Labour-Parteitag 2001 polternd das Geschütz der moralischen Überlegenheit eines Liberalismus à la Gladstone aufgefahren hatte: »Imperialismus mag ein anrüchiges Wort sein, aber wenn Tony Blair dazu aufruft, die Werte der westlichen Welt – Demokratie und so weiter – durchzusetzen, ist dies die Sprache des liberalen Imperialismus. Politische Globalisierung ist nur eine neumodische Bezeichnung dafür, dass man anderen seine Ansichten und Verhaltensweisen aufzwingen will«. Und in dieser neuen imperialistischen Welt, so fügt er hinzu, kann nur Amerika die führende Rolle übernehmen.109 Der liberale Realismus als Theorie der internationalen Politik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten erfunden und gefördert von jenen, die der modernen Wirtschaftsmacht Amerika ihr Gesicht gegeben haben. Dazu zählen Ford-, Carnegie- und Rockefeller-Stiftung, das OSS (Office of Strategie Services, aus dem später die CIA wurde) und der Rat für Auswärtige Beziehungen (Council on Foreign Relations, CFR), den man, zumindest in außenpolitischen Belangen, als Schattenregierung der USA bezeichnen könnte. So erfuhr der Kalte Krieg mit allen seinen Gefahren seine theoretischwissenschaftliche Rückendeckung aus den großen amerikanischen Universitäten. Auf den fruchtbarsten Boden fiel dieses »transatlantische« Credo in Großbritannien. Die etablierte Wissenschaft hat den Humanismus aus dem Studium der Staatenwelt herausgenommen und sie in einen Fachjargon im Dienste der herrschenden Macht eingefroren. Ganze Gesellschaften werden seziert und als 97
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»Versagerstaaten« und »Schurkenstaaten« etikettiert, die der »humanitären Intervention« bedürfen. Als »humanitäre Intervention« hat, wie Noam Chomsky in Erinnerung ruft, auch das imperialistische Japan den Einmarsch in die Mandschurei umschrieben, Mussolini berief sich darauf, als er sich Äthiopien einverleibte, und Hitler begründete die Besetzung des Sudetenlandes damit.110 Die modernen Varianten unterscheiden sich nur unwesentlich. Michael Ignatieff beispielsweise, Menschenrechtsprofessor in Harvard und ein glühender Verfechter westlicher Invasionspolitik (als Mittel zum Zweck, um »die Menschen vor dem Verhungern zu bewahren und in Bürgerkriegsgebieten Frieden zu stiften«), zieht den Begriff »liberale Intervention« vor.111 »Zuverlässige Zugehörigkeit zur Staatengemeinschaft«, »verantwortungsvolles Regierungshandeln« und »dritter Weg« sind Schlagwörter aus ein und demselben Lexikon moderner imperialistischer Euphemismen, das sich die »progressive« internationale Politik von heute zu Eigen gemacht hat. Bill Clintons politische Position wurde in der wissenschaftlichen Literatur und in den Medien als »Mitte-links« beschrieben, was historisch gesehen nicht gerechtfertigt ist. Während der Clinton-Regierung wurden die wichtigsten Eckpfeiler des Sozialsystems demontiert, die Armut im Land verschärfte sich, ein offensives Raketenabwehrsystem namens Star Wars 2 wurde angekurbelt, der größte Rüstungshaushalt aller Zeiten wurde genehmigt, Abkommen über die Kontrolle biologischer Waffen und zum Atomtestverbot wurden boykottiert, die Gründung eines internationalen Gerichtshofs, ein weltweites Verbot von Landminen und Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche wurden verhindert. Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung war es Clinton und nicht sein Amtsnachfolger, der sich gegen alle internationalen Bemühungen um eine Reduzierung des Treibhauseffekts gesperrt hat. 98
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Und er war Präsident, als US-Truppen in Haiti einmarschierten, die Kuba-Blockade verschärft wurde und der Irak, Jugoslawien und der Sudan Ziel militärischer Angriffe waren. »Es ist ein schöner und bequemer Mythos, dass die Liberalen die Friedenshüter und die Konservativen die Kriegstreiber sind«, schrieb der walisische Parlamentsabgeordnete Hywel Williams in einem Kommentar zu Blairs Rede anlässlich des LabourParteitags 2001, »aber der Imperialismus der Liberalen ist möglicherweise umso gefährlicher, weil er nirgendwo endet – weil er mit der Überzeugung einhergeht, eine höhere Lebensform zu repräsentieren.«112 Bevor er den Krieg propagierte, verkündete Tony Blair gerne das »Ende der Ideologie«, obwohl doch die Ideologie, die ihn mit einer ganzen Klasse von Politikern und Medienleuten verbindet, zu den stärksten unserer Zeit gehört. Sie ist umso dominanter, als sie unmerklich und oftmals unterschwellig an einen gegebenen Zustand der gesellschaftlichen Unterschiede geknüpft ist, die auf Klassenzugehörigkeit und Wohlstand basieren. Es ist in Mode gekommen, so zu tun, als gebe es keine ideologischen Schubladen mehr, und gleichzeitig andere hineinzustekken. Das interessanteste Etikett, das man mir bisher umgehängt hat, ist das eines »neoidealistischen ›Linken‹«. Warum das Wort »Linker« in Anführungszeichen gesetzt ist, ist mir ebenso schleierhaft wie die Bedeutung des Wortes »neoidealistisch«. Das Etikett wurde mir von Timothy Dunne, Professor für internationale Politik an der University of Wales in Abeiystwyth, in einem Buch verpasst, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass es Suhartos Schreckensherrschaft in Osttimor nonchalant als Nebensache streift.113 Die pragmatische Sicht des »liberalen Realismus« ist in politikwissenschaftlichen Kreisen und vor allem bei denjenigen verbreitet, die uns den »dritten Weg« anpreisen – ein Begriff, hinter dem sich das reaktionäre Wesen dieser Politik 99
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verbirgt. Osttimor war fast ein Vierteljahrhundert lang ein Opfer ihres Schweigens. Eine Annexion, bei der ein Drittel der einheimischen Bevölkerung – im Verhältnis mehr Menschen als zu Pol Pots Zeiten in Kambodscha – ausgelöscht wurde, ist in der akademischen Welt auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, das außer von John Taylor mit seinem Buch Indonesia's Forgotten War, den Autoren Peter Carey und Mark Curtis sowie erst unlängst auch Eric Herring nur selten gebrochen worden ist. Über einen der größten Völkermorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde an keiner einzigen britischen Universität, ob liberal oder konservativ, je eine wissenschaftlich begründete, auf Primärquellen beruhende Studie erarbeitet. In den geisteswissenschaftlichen Fakultäten beklagt man sich hinter vorgehaltener Hand darüber, dass die Universitäten zu Berufsschulen verkommen und auf Sponsorengelder aus Wirtschaft und Industrie angewiesen sind. Doch mit ihrem Schweigen haben sie dazu beigetragen, dass sich der Staat aus der Finanzierung und Förderung der Wissenschaft zurückziehen konnte und die Erforschung globaler Zusammenhänge an Bedeutung verloren hat. Es ist nicht verwunderlich in einer Zeit, in der die geisteswissenschaftlichen Fakultäten selbst – einst Ideenschmieden und Horte des kritischen Denkens – nur noch ein Schattendasein fristen. Wenn Akademiker die Stimme des Wissens unterdrücken, an wen soll sich die Öffentlichkeit dann wenden? Es handelt sich dabei, das muss klar gesagt werden, nicht um eine Verschwörung. Es geht schlicht und einfach um die Funktionsweise eines akademisch-hierarchischen Systems, das den politischen Entscheidungsträgern »Zugehörigkeit« und »Glaubwürdigkeit« garantiert und ihnen ethischere Motive zuschreibt, als diese für sich selbst in Anspruch nehmen würden. Die Ver100
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fechter des liberalen Realismus in den politikwissenschaftlichen Fakultäten sorgen dafür, dass die imperialistische Politik des Westens als Krisenmanagement gewertet wird und nicht als das, was es ist: als Ursache der Krise und ihrer Eskalation. Sie machen sich zu Komplizen, indem sie den Staatsterrorismus des Westens negieren. Diese schlichte Wahrheit auszusprechen gilt als unwissenschaftlich; lieber sagt man gar nichts. Auch nach dem Anschlag auf das World Trade Center herrscht allgemeines Schweigen. Wer hat schon den Mut, das frisch geprägte Credo von den Todespiloten des 11. September als »Apokalyptiker« und »Nihilisten« mit einem Hass auf alles »Moderne« und auf die »zivilisierte Welt« in Frage zu stellen? Oder gar die ernüchternde Wahrheit über den »Krieg gegen den Terrorismus« auszusprechen: dass diejenigen, die ihn führen, selbst Terroristen sind, nur von größerem Format, und dass ihr Tun im besten Fall weiteres Morden nach sich ziehen und noch mehr Märtyrer hervorbringen wird? Es ist vielleicht verständlich, wenn Menschen mit wirklich liberaler Gesinnung die imperialistischen Motive verkennen, die die Vereinigten Staaten veranlasst, allzu ungebärdig gewordene frühere Handlanger und Verbündete mit Hitler zu vergleichen und Krieg gegen ihr Land zu führen. Aber diese »Mischung aus Sprachlosigkeit über das Offensichtliche und aus obskuren Andeutungen der Wahrheit«, wie es der Journalist David Edwards ausdrückt, ist ein Luxus, den sich eine wirklich zivilisierte Gesellschaft heute angesichts der drängenden Gefahren nicht mehr leisten kann.114 »Wir werden noch die Leute erleben«, hat Dennis Halliday, der ehemalige stellvertretende Generalsekretär der UNO, einmal zu mir gesagt, »in deren Augen Saddam Hussein zu gemäßigt und dem Westen zu hörig war. Bei den Palästinensern kann man das schon beobachten. So verzweifelt sind Menschen, die zuse101
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hen müssen, wie allmonatlich Tausende von Kindern sterben, und auf die fast täglich amerikanische und britische Bomben herunterregnen.« Wer außer Halliday wird darüber reden, dass die Vereinten Nationen nur noch die Funktion eines Kolonialverwalters ausfüllen? Wer wird das Schachbrett beiseite schieben und erklären, dass der Terrorismus erst dann an Bedeutung verlieren wird, wenn die Völker aus Not und Elend befreit sein werden und wenn ihnen Gerechtigkeit zuteil werden wird? »Es kann eine Zeit geben, in der Schweigen Verrat ist«, hat Martin Luther King in einer berühmten Rede gesagt. »Diese Zeit ist gekommen.«
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DAS MEDIENZEITALTER
Ein kulturelles Tschernobyl
Das Einzige, worauf es in dieser Welt ankommt, ist immer mehr Geld und immer mehr Macht anzuhäufen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Napoleon Bonaparte
A
m 15. April 1989 wollte sich Eddie Spearitt mit seinem Sohn Adam ein Fußballspiel in Sheffield ansehen. Sie waren im Verkehr stecken geblieben und kamen gerade noch rechtzeitig, um ihre Plätze auf den für die Liverpoolfans vorgesehenen Rängen im Hillsborough-Stadion einzunehmen. Adam war 14 Jahre alt und begeisterter Liverpoolfan, und dies war ein wichtiges Halbfinalspiel gegen Nottingham Forest in der englischen Pokalrunde. »Wir waren unheimlich aufgeregt«, erzählt Eddie, »aber als es in unserem Fanblock immer voller wurde, bekam ich es mit der Angst zu tun.« Die veralteten Drehkreuze wurden für 5000 Liverpoolfans, die versuchten, noch vor dem Anstoß ins Stadion zu gelangen, zum Flaschenhals. Als die Polizei schließlich die Haupttore öffnete, wurden die Leute nicht auf die freien Ränge geschickt, sondern in den bereits überfüllten eingezäunten Fanblock. Eddie und Adam klammerten sich aneinander, als sie in der Menge eingequetscht wurden. Adam war einer von 96 Menschen, die ums Leben kamen. Der zuständige Untersuchungsrichter Taylor ließ keinen Zweifel daran, wo die Schuldigen zu suchen waren. In 105
Das Medienzeitalter
seinem Untersuchungsbericht heißt es: »Die Ursache der Hillsborough-Katastrophe war das überfüllte Stadion … Ausgelöst wurde das Unglück durch das Versagen der Polizei.«1 Bis zum Dienstag darauf hatte es sich der Chefredakteur der Sun, Kelvin MacKenzie, in den Kopf gesetzt, dass »Hooligans aus Liverpool« schuld an der Tragödie waren. Als Schlagzeile für die Titelseite schrieb er in fetten Großbuchstaben: »Die Wahrheit«. Darunter setzte er drei weitere Überschriften: »Todesopfer von Fans beraubt«, »Fans urinieren auf tapfere Polizisten«, »Wachtmeister bei Mund-zu-Mund-Beatmung von Fans verprügelt«. Der Artikel beschreibt, wie »Rettungskräfte beim Versuch, Opfer wiederzubeleben, von betrunkenen Liverpoolfans brutal angegriffen« und »Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter geschlagen, getreten und angepinkelt« wurden. Ein totes Mädchen wurde angeblich missbraucht, und die Fans, sagte ein anonymer Polizist, »urinierten demonstrativ auf uns und die Toten«. Ein konservativer Parlamentsabgeordneter, dessen einzige Quelle die Polizei war, wurde zitiert.2 Nichts davon entsprach der Wahrheit. Es waren keine Hooligans am Werk. Die Leute übergaben sich und verhielten sich merkwürdig, weil sie eingequetscht waren und unter Schock standen. Menschen mussten sterben, weil leitende Polizeibeamte nicht begriffen, dass die Leute im umzäunten Fanblock nicht das Feld stürmen wollten, sondern um ihr Leben kämpften. »Die Wahrheit« war eine Lüge. Wie so oft bediente MacKenzie in seinem Sun-Artikel bewusst bestehende Vorurteile. Andere Journalisten der Sun schienen das instinktiv zu ahnen. In ihrer Geschichte der Sun schreiben Peter Chippendale und Chris Horrie: »Als die Leute in der Redaktion MacKenzies Aufmacher sahen, ging ein kollektiver Schauder durch den Saal, aber MacKenzie war so mächtig, dass es außer Murdoch niemanden in der Firma gab, der ihn bremsen konnte. Alle waren wie gelähmt, ›wie Hasen, die ins 106
Ein kulturelles Tschernobyl Scheinwerferlicht starren‹, sagte ein Reporter. Die Lüge sprang ihnen förmlich ins Gesicht. Es war offensichtlich, dass es sich nicht um einen ärgerlichen Fehler oder um nachlässige Recherche handelte. Es verschlug allen die Sprache – sie warfen nur einen Blick auf die Seite, dann gingen sie davon und schüttelten den Kopf über die Monstrosität des Artikels. Es war ein klassischer Fall von ›Schmierenjournalismus‹.«3
Acht Jahre später traf ich mich mit Eddie Spearitt und zwei weiteren Personen: Phil Raymond, dessen 14-jähriger Sohn Philip im Hillsborough-Stadion umgekommen war, und Joan Traynor, die zwei Söhne, Christopher, 26, und Kevin, 16, verloren hatte. Wir saßen bei Kaffee und Sandwiches in einem großen, sonnigen Raum des Philharmonie Pub, von dem aus man Liverpool überschauen kann. Diejenigen, die es völlig in Ordnung finden, wenn die freie Presse durch Sensationsblätter verdrängt wird, die von Vorurteilen leben und »das schreiben, was die Leute lesen wollen«, sollten über das nachdenken, was Eddie, Phil und Joan zu sagen haben. Eddie erzählt: »Als ich im Krankenhaus lag, versteckte das Pflegepersonal die Sun vor mir. Es ist schlimm genug, seinen 14-jährigen Sohn zu verlieren, weil man ihm etwas Gutes tun wollte und ihn zu einem Fußballspiel mitgenommen hat. Schlimmer kann es eigentlich nicht kommen. Aber dann musste ich ihn auch noch gegen die Lügen verteidigen, die in der Sun über angeblich betrunkene Hooligans verbreitet wurden. Es gab keine Randalierer im Stadion. Während der 31tägigen richterlichen Anhörung wurde kein einziges Mal der Vorwurf laut, es sei Alkohol im Spiel gewesen. Adam hat nie auch nur einen Tropfen getrunken.«
Joan Traynor erzählt, dass der Fernsehsender ITN um Erlaubnis ersucht hatte, die Beerdigung ihrer beiden Söhne filmen zu dürfen. Sie lehnte ab und bat darum, die Privatsphäre ihrer Familie zu respektieren. Die Sun störte sich nicht daran und schickte Re107
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porter, die von einer Mauer aus die Trauernden fotografierten. Das Bild der Särge ihrer Söhne auf der Titelseite einer Zeitung, die die Umstände ihres Todes so skrupellos durch den Schmutz gezogen hatte, regte sie so auf, dass sie auch acht Jahre später noch Schwierigkeiten hat, darüber zu sprechen. »So etwas dürfte eine Zeitung nicht tun«, sagt sie. Phil Hammond berichtet: »Mir ging es wie Eddie, meine Familie zeigte mir die Zeitungen nicht. Die liegen immer noch in einer weißen Plastiktüte auf dem Dachboden. Nehmen Sie nur eine der Lügen, die in der Sun standen. Da wird behauptet, die Fans hätten den auf dem Spielfeld aufgereihten Toten Uhren und Geld gestohlen. Ich bin der Schriftführer der Selbsthilfegruppe für betroffene Familien, und alle haben sich wegen dieser Vorwürfe an mich gewendet. Alle haben die Habseligkeiten ihrer Angehörigen durchgesehen. Es war nichts gestohlen worden. In der Sun wird behauptet, die Fans hätten auf die Toten uriniert. Wir haben alle Kleidungsstücke zurückerhalten. Sie waren nicht gewaschen worden, und keins roch nach Urin. Aber Schmutz ist klebrig, und es gibt immer jemanden, der bereit ist, ihn weiter zu verbreiten. Die Sun hat uns zutiefst verletzt. Wir mußten den Ruf unserer Angehörigen verteidigen, die nichts weiter getan haben, als zu einem Fußballspiel zu gehen, von dem sie nicht wieder heimgekommen sind.«
In den Tagen nach der Tragödie verlieh Billy Butler, ein beliebter Discjockey von Radio Merseyside, der Trauer und Wut in Liverpool eine Stimme. »Es haben Zeitungshändler beim Sender angerufen«, erzählt er mir, »um die Leute wissen zu lassen, dass sie die Sun nicht mehr bestellen. Sie hängten Zettel in die Schaufenster, auf denen stand: ›Hier wird keine Sun verkauft‹. In Kirkby wurde die Sun öffentlich verbrannt. Ein Anrufer nach dem anderen erklärte, dass er die Zeitung boykottiert, und dieser Boykott hält bis heute an. Es ist eine tolle Sache, wenn die einfachen Leu108
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te auf diese Weise ihre Macht demonstrieren können, und die Liverpooler haben gezeigt, wie es geht.« Kelvin MacKenzies Villa am Stadtrand wurde nicht von einem Pressemob belagert wie die Häuser der Hillsborough-Familien. Er wurde jeden Morgen von einem Chauffeur im Jaguar abgeholt und nach Wapping in Murdochs Festung im Osten Londons gefahren, wo er, geschützt von Stacheldraht und Wachpersonal, im Aufzug in sein fensterloses Büro fuhr und dort blieb, bis ihn der Jaguar wieder abholte. In Merseyside, der Gegend um Liverpool, brachen die Verkaufszahlen der Sun jedoch um fast 40 Prozent ein, was Murdochs britischer Mediengruppe News International, aufs Jahr umgerechnet, einen Verlust von etwa zehn Millionen Pfund beschert haben dürfte. Als der Presserat später die Lügen der Sun verurteilte und der Boykott der Zeitung weiter um sich griff, musste MacKenzie auf Murdochs Anweisung hin öffentlich Stellung nehmen. Er suchte sich dazu die Sendung »The World This Weekend« von BBC Radio 4 als Podium aus. Der von ihm kultivierte Arbeiterslang, der ihn als »Mann von der Straße« ausweisen sollte, wich jetzt der zerknirschten Stimme eines Vertreters der Mittelschicht, für die Radio 4 sendet. »Es war meine Entscheidung«, sagte MacKenzie, »und nur meine Entscheidung, die Titelseite auf diese Weise zu gestalten, und das war ein schwerer Fehler.«4 1996 war MacKenzie wieder in Radio 4 zu hören; dieses Mal schlug er einen ganz anderen Ton an. »Die Sun hat niemanden angeklagt und niemanden für irgendetwas beschuldigt«, verkündete er kämpferisch. »Wir waren nur das Sprachrohr für andere …«5 Die Berichterstattung über die Hillsborough-Katastrophe ist ein typisches Beispiel dafür, wie skrupellos die Sun Tatsachen verdreht und wie aggressiv und menschenverachtend die Zeitung ist. Die Reichen und Berühmten sind in der Lage, sich mit 109
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teuren Verleumdungsklagen zu wehren; so wurden etwa dem Sänger Elton John nach einer Rufmordkampagne vor Gericht eine Million Pfund Schadenersatz zugesprochen. Aber die meisten Opfer der Sun sind Menschen wie die Hillsborough-Eltern, die für ihr Leiden nicht entschädigt werden. Man muss nur ein paar alte Ausgaben der Sun aufschlagen, dann erkennt man das Muster, wie einige willkürlich ausgewählte Beispiele zeigen: Ein Mann, der gerade eine Herztransplantation hinter sich hat, wird über mehrere Seiten hinweg verunglimpft, weil er 15 Jahre zuvor seine Frau verlassen hat. Die Geschichte wird veröffentlicht, während er sich noch in der kritischen Phase seiner Genesung befindet. Ein Mensch, der als Held gefeiert wird, weil er jemandem das Leben gerettet oder einen Verbrecher dingfest gemacht hat, wird genüsslich »in der Luft zerrissen«, sobald sich irgendwo in seinem Privatleben ein dunkler Fleck finden lässt. Schon ist aus dem Helden eine »miese Ratte« geworden.6 Auch Minderheiten sind eine beliebte Zielscheibe. Da wird ein Bischöfin den Schmutz gezogen, weil er homosexuell ist, einer Lesbierin wird die Befähigung abgesprochen, Kinder angemessen zu betreuen.7 Eine beliebte Form der Diffamierung sind die regelmäßig auftauchenden Rassenklischees. So wird beispielsweise ein asiatischer Schauspieler aus der Serie EastEnders als »klein und schäbig« diffamiert.8 Und zur Zweihundertjahrfeier Australiens erschien in der Sun ein Leitartikel über die Aborigines unter der Überschrift: »Die Abos: gewalttätig und tückisch«. Der Presserat rügte den Artikel später als »unannehmbar, weil unzutreffend, ungerechtfertigt und rassistisch«.9 Die Diskriminierung Behinderter dagegen verbirgt sich hinter verlogenem Mitleid, wie im Fall von Simon Weston, der als Soldat im Falklandkrieg schwerste Verbrennungen erlitten hatte. Er musste für ein fingiertes »Interview« herhalten, das auf die Ekelgefühle der 110
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Leser abzielte, indem es seine Entstellungen in den Vordergrund rückte.10 Im Gegensatz zu Journalisten sind Politiker sozusagen Freiwild, wenn sie als Heuchler entlarvt werden. Der LabourAbgeordnete Tony Benn ist zwar kein Heuchler, aber seine Ansichten sind Murdoch ein Dorn im Auge. Prompt erklärte die Sun Benn für »verrückt« und berief sich in ihrer billigen Diffamierungsgeschichte auf einen amerikanischen Psychologen als Gewährsmann, der die »Absurdität« irgendwelcher erfundenen Zitate Benns bestätigte.11 Die Kampagne der Thatcher-Regierung gegen die »loony left«, die »linken Spinner« im Londoner Stadtrat, die vermutlich viel dazu beigetragen hat, dass sich die Labour-Partei selbst untreu wurde und von ihren progressiven Kräften trennte, stützte sich im Wesentlichen auf eine lange Reihe erfundener und verzerrender Geschichten in der Sun. Der Mann, der letztlich hinter all dem steht, ist Rupert Murdoch. Mehr als jeder andere Zeitungsverleger seit Lord Beaverbrook ist Murdoch stolz auf seine glückliche Hand bei der Auswahl seiner Chefredakteure, mit denen er einen engen Kontakt pflegt. Kelvin MacKenzie war sein erklärter »Liebling«. Unter ihm machte die Sun Gewinne, die es Murdoch ermöglichten, sein Fernsehimperium aufzubauen. Murdoch gab MacKenzie Rükkendeckung für seine zweifelhaften Praktiken oder billigte sie doch zumindest stillschweigend. Als Journalisten der Times, einer Schwesterzeitung der Sun, nach der Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher ihre Sorge über den damit verbundenen Ansehensverlust für die Zeitung zum Ausdruck brachten, entgegnete Murdoch nur: »Wir sind schließlich im Unterhaltungsgeschäft.«12 Die Gesinnung, auf die Murdoch in seinen Zeitungen baut, zeigte sich schon am Anfang seiner Laufbahn. 1964 veröffentlichte sein in Sydney erscheinendes Boulevardblatt Daily Mirror das 111
Das Medienzeitalter
Tagebuch einer 14-jährigen Schülerin unter der Überschrift: »Aus dem Orgientagebuch eines Schulmädchens«. Ein namentlich erwähnter 13-jähriger Mitschüler des Mädchens wurde daraufhin von der Schule verwiesen und erhängte sich wenig später zu Hause mit einer Wäscheleine. Bei der ärztlichen Untersuchung, die auf Veranlassung des Jugendamts vorgenommen wurde, stellte sich dann heraus, dass das Mädchen noch unberührt war. Das »Tagebuch« war ein Produkt der lebhaften Fantasie einer pubertierenden Jugendlichen. Richard Neville, Redakteur beim australischen Satiremagazin Oz, besuchte die Angehörigen des Jungen. Ihre Trauer und die Umstände seines Todes gingen ihm sehr nah. »Offenbar gibt es Verleger«, schreibt er in seiner Autobiografie, »die sogar bei einem Mord ungestraft davonkommen … oder doch zumindest bei einem Beinahmord.«13 Von Neville auf die Folgen der Berichterstattung seiner Zeitung angesprochen, sagte Murdoch nur: »Jeder macht mal Fehler.«14 In den wenigen Interviews, zu denen er sich herablässt, bricht Murdoch oft eine Lanze für das Werk, das ihn zum Multimilliardär gemacht hat. Kurz bevor er 1967 an die Londoner Fleet Street wechselte, erklärte er in einer Sendung von ABC Television in Sydney: »Ich schäme mich für keine meiner Zeitungen, und die Snobs, die behaupten, es seien schlechte Zeitungen, finde ich schlicht zum Kotzen. Diese selbst ernannten Liberalen oder Radikalen lesen Zeitungen, die sonst keinen Menschen interessieren, und wollen den anderen ihren Geschmack aufzwingen.«15 In London pflegte Murdoch sein Image als »Außenseiter«, der von »Snobs« schikaniert wird. Zu den »Snobs« zählte er schon bald auch die Mitglieder des Unterhauses und der Rundfunkaufsichtsbehörde, die ihm hartnäckig den Zugang zum britischen Fernsehmarkt verweigerten. Murdoch selbst stammt aus der anglozentrischen Oberschicht 112
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Australiens. Er besuchte die exklusivste Privatschule des Landes, Geelong Grammar (auf die auch Prinz Charles eine Zeit lang als Austauschschüler geschickt wurde) und studierte in Oxford. Die gesellschaftlichen Verbindungen seiner Eltern öffneten ihm viele Türen. Als vermögende Witwe hatte sich seine Mutter in der Kunst- und Kulturszene einen Namen als großzügige Mäzenin gemacht. Eine Zeitung wie die Sun musste ihr ein Dorn im Auge sein, genau wie Murdochs Frau Anna, einer gläubigen Katholikin. Murdochs amerikanischer Biograf, Thomas Kiernan, ist einer der wenigen Außenstehenden, die nähere persönliche Bekanntschaft mit ihm geschlossen haben. Er wurde bei der Arbeit an seinem Buch Citizen Murdoch von Murdoch selbst, dessen Familie und dessen Freunden nach Kräften unterstützt.16 In einem Gespräch erzählte er mir: »Der Gegensatz zwischen dem Privatmenschen und dem Geschäftsmann Murdoch ist frappierend. Ich habe oft mit ihm Tennis gespielt, und für jemanden, der sich in der Öffentlichkeit so hemdsärmelig gibt, ist sein Auftreten ausgesprochen elitär. Im Büro verhält er sich wie ein Feldmarschall: fordernd, barsch und aufbrausend. Aber in seinem Privatleben setzt er strenge Maßstäbe und hat strikte Wertvorstellungen, und er erwartet, dass seine Kinder und seine Freunde sich daran halten. In den Medien dagegen trägt er zu einem massiven Werteverfall bei. Für seine Zeitungen gilt dies schon sehr lange. Es ist wie eine ansteckende Krankheit. Selbst die New York Times zitiert bisweilen das Boulevardblatt Star, eine der ersten Zeitungen, die Murdoch in den Vereinigten Staaten auf den Markt gebracht hat. Quelle der Geschichten, die im Star erscheinen, ist nicht selten die Sun, und wenn sie dann die Runde durch alle Murdoch-Blätter gemacht haben, ist unversehens aus einer billigen Erfindung die verbürgte Wahrheit geworden. Jetzt hat Murdoch das Fernsehen ins Vi113
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sier genommen, und man kann die Gefahr schon riechen. In den Vereinigten Staaten übt Murdoch direkten Einfluss auf die Programmgestaltung der Fox-Gruppe (Fox-Fernsehstudios sowie 20th Century Fox) aus, die für ihre anspruchslosen Produktionen bekannt ist. Nachrichten sind bei ihm zur Unterhaltung verkommen und werden von Paparazzi geliefert, die sich mit ihren Videokameras Prominenten an die Fersen hängen – eine Praxis, die Murdoch in den USA im Prinzip erst eingeführt hat. Die anderen Nachrichtensender müssen diesen Abwärtstrend zwangsläufig nachvollziehen, wenn sie mit Murdoch Schritt halten wollen. Es ist, als ob alles, was er anfasst, so stumpf würde wie das Grauen, das täglich auf den Titelseiten seiner Zeitungen zur Schau gestellt wird. Es dauert nicht lange, und wir haben uns daran gewöhnt. Und dann sehen Sie sich dagegen sein Privatleben an, in dem seine Frau Anna entscheidenden Einfluss hat. In der Zeit, die ich mit den beiden verbracht habe, hat sie ihn oft wegen seiner Unternehmenspolitik kritisiert. Als er aus der New York Post einen Abklatsch der Sun machte, verzichtete er auf die üblichen Bilder halbnackter Mädchen, weil seine Frau entschieden dagegen war, dass ihre drei Kinder mit dem Anblick barbusiger Frauen konfrontiert würden, wenn sie die Zeitung ihres Vaters im Zeitungskiosk sähen. Sie wollte nicht, dass die Kinder in der Schule gehänselt wurden, und fürchtete gesellschaftliche Nachteile für die Familie, die in dieser Zeit gerade in New York Fuß zu fassen suchte.« Der preisgekrönte deutsche Journalist Reiner Luyken berichtet seit 20 Jahren für Die Zeit aus Großbritannien. Unter dem Titel »Ein kulturelles Tschernobyl« hat er eine kluge Artikelserie verfasst, in der er Murdochs Einfluss auf die britische Medienlandschaft beschreibt. »Das Wichtigste, was Murdoch bewirkt hat, ist die um sich greifende Selbstzensur«, schreibt Luyken. »Sie ist 114
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mittlerweile in den britischen Medien so selbstverständlich geworden, dass sich Journalisten zu ihr bekennen, ohne rot zu werden.« Wir trafen uns vor den Toren von Murdochs riesiger Zentrale in Wapping, die Luyken als »journalistische Vollzugsanstalt« und als eine »neue schöne neue Welt« bezeichnet. »Wenn Sie sich den Ort genauer ansehen«, sagte er, »die elektronischen Schranken, den Stacheldrahtzaun, die Wachposten, dann müssen Sie sich doch fragen: ›Wie sollen an solch einem Ort Informationen und Ideen frei fließen?‹ Wapping ist eine Geldvermehrungsfabrik, die jedoch zu einer Art Medienmodell avanciert ist. Egal, ob man den Daily Mirror oder den Telegraph aufschlägt oder BBC einschaltet, man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Sinn der journalistischen Arbeit auf den Kopf gestellt wurde und dass der Journalismus zu einer Ware mutiert ist, die nur noch der Geldbeschaffung dient. Das ist der Murdoch-Effekt. Wapping ist ein kulturelles Tschernobyl, das mit seinen giftigen Strahlen die ganze journalistische Landschaft verseucht.« Viele der Journalisten, die mit der »neuen schönen neuen Welt« in Wapping in Berührung gekommen sind, betrachten die Person Murdoch auch Jahre später noch mit zwiespältigen Gefühlen und behaupten hartnäckig, es habe ihnen nie jemand Vorschriften gemacht oder eine »Linie« vorgegeben – derer es in Wahrheit auch gar nicht bedurfte: Sie wussten, was von ihnen erwartet wurde und handelten danach. Roy Greenslade, der Murdoch jetzt kritisch gegenübersteht, war bis 1987 nach Kelvin MacKenzie die Nummer Zwei bei der Sun. »In jungen Jahren«, schreiben Peter Chippendale und Chris Horrie, »war Greenslade bekennender Maoist und militantes Gewerkschaftsmitglied in der National Union of Journalists … Doch seine politischen Ansichten waren nach einiger Zeit so verwässert, dass er ohne große Bedenken eine leitende Stellung 115
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bei der Thatcher-treuen Sun annehmen konnte.«17 Greenslade erlebte in seiner Zeit bei der Sun einige von MacKenzies journalistischen »Glanzleistungen« mit, wie die propagandistischen Lügenmärchen beispielsweise, die er als Berichterstattung über den Falklandkrieg verkaufte. Als MacKenzie seine Mitarbeiter aufforderte, als Streikbrecher im Kampf der Gewerkschaft gegen die Entlassung von 5900 Druckern, Sekretärinnen, Bibliothekaren und Putzleuten zu fungieren, tat Greenslade ihm diesen Gefallen. 1995 rechnete Greenslade, inzwischen aus Murdochs Diensten ausgeschieden, erbarmungslos mit den Gepflogenheiten in Wapping ab und lieferte eine der überzeugendsten Erklärungen zum Erfolg der Sun: »Murdoch erkannte die Zeichen der Zeit, als die traditionellen Werte eines in Misskredit geratenen Bürgertums zu bröckeln begannen. Eine erstarkte Arbeiterklasse erklärte ihren früheren Mangel an Selbstbewusstsein zu einem Fehler vergangener Generationen. Das Fernsehen ersetzte Gott … Worüber man früher nur hinter vorgehaltener Hand oder in den eigenen vier Wänden gesprochen hatte, wurde jetzt millionenfach in der Sun herausposaunt, die auf den Zug der Zeit aufsprang und sich grenzenlos tolerant gab. Im Laufe der Jahre pervertierte sie diesen liberalen Geist in ihrem eigenen Sinne. Einerseits wurde Sex groß geschrieben, andererseits in den Leitartikeln ein Übermaß an sexueller Freizügigkeit beklagt. Einerseits wurden die Leser zum Bingospiel um hohe Geldsummen animiert, andererseits der Moralverlust in einer Selbstbedienungsgesellschaft angeprangert. Einerseits wurden Leser überredet, ihre erotischen Geheimnisse zu verkaufen, andererseits wurden sie dafür der Lächerlichkeit preisgegeben. Die seichte Welt der Reichen und Schönen wurde zur Steigerung der Auflage schamlos aufgewertet. Die Grenzen des guten Geschmacks und des Anstands wurden ständig zurückgenommen, während man händeringend den Sittenverfall beklagte. Man schaute dem Stammtischpöbel aufs 116
Ein kulturelles Tschernobyl Maul und drosch gleichzeitig auf die sich ausbreitende Jugendkultur ein. Die Sun verband auf opportunistische Weise radikale und reaktionäre Elemente, um die Verdienste von Margaret Thatcher, der Oberpriesterin des Spießbürgertums, zu preisen.«
Greenslade nannte dies »die Degradierung der Zeitungen vom Informationsmedium zur Geldmaschine«. Er beschrieb, wie sich seriöse Zeitungen und Boulevardblätter überschlugen, um »die Erfolgsformel« der Sun zu kopieren, »die auf Prominentenkult, Spiele und Fernsehpromotion setzt und bei der billige Unterhaltung zum nationalen Zeitvertreib wird, Geschmacklosigkeit in Mode ist und der kleinste gemeinsame Nenner das Einzige ist, was man erreichen will …«18 Greenslade sagte mir, sein in der Literary Review abgedruckter Artikel sei »ein Eingeständnis, dass vieles von dem, was er mitgemacht habe, falsch war«. Und er fuhr fort: »Man geht völlig auf in den technischen Abläufen der Zeitungsproduktion. Das ist fast wie im Nazideutschland. Wenn man ein funktionierendes Rädchen in einem Getriebe ist, wird man in vielerlei Hinsicht blind für das, was man eigentlich tut. Man ist so damit beschäftigt, die nächste Geschichte zu finden, die nächste Reportage zu produzieren, eine bestimmte Seite zu füllen und so weiter, daß man den Blick für das Ganze verliert … Es ist nicht so schlimm wie damals in Deutschland, aber ich glaube schon, dass wir das gleiche System der Arbeitsteilung haben, und jeder von uns trägt das Seine dazu bei …«
Greenslade hatte viele Gelegenheiten, sich mit Murdoch zu unterhalten. »Er entspricht nicht dem Bild des Aussieproleten, als der er oft dargestellt wird. Er ist ein gebildeter Mann. Für mich ist er ein absolut rationaler Mensch. Das zeigt sich nicht nur in finanziellen Angelegenheiten, sondern auch an der Art von Fragen, die er stellt: ›Wird 117
Das Medienzeitalter sich das verkaufen? Sollten wir nicht mehr Sport bringen? Haben wir irgendwelche Sexumfragen?‹ Er stellt seine Fragen so, dass man gar nicht merkt, was dahinter steckt …, aber wenn die Sprache auf Politik kommt, nun ja … Ungefähr zu der Zeit, als die Berliner Mauer fiel, traf ich mich mit ihm zum Abendessen in London. Er vertrat vehement die Ansicht, der Westen müsse an seinen Atomwaffenbeständen festhalten. Während selbst konservative Stimmen in der Sunday Times für eine Friedensdividende plädierten, beharrte er auf seiner sturen Haltung und berief sich dabei fortwährend auf seinen »politischen Berater‹, wie er es nannte. Auf die Frage, wer damit gemeint sei, antwortete er: ›Richard Nixon‹.«
In der Pressesatire Prawda von David Hare und Howard Brenton sagt die Figur Lambert Le Roux, in der man unschwer Murdoch erkennen kann, den Satz: »Seriös, unseriös, das ist doch alles ein und dasselbe.« Und wenn er im Schlusssatz des Stückes ausruft: »Willkommen in der Lügenfabrik«, ist damit eindeutig Wapping gemeint. Rupert Murdoch hat es geschafft, sein gesamtes Imperium, ob in Großbritannien oder sonst wo in der Welt und quer durch die unterschiedlichen Zeitungen, die gleichzeitig in Wapping produziert werden, mit dem gleichen Geist zu beseelen. 1981 kaufte Murdoch die Times und die Sunday Times nach langen, zähen Verhandlungen, in deren Verlauf er sich bereit erklärte, »unabhängige Direktoren« im Aufsichtsrat des Unternehmens zu akzeptieren. Außerdem »verbürgte er sich mit seinem Wort« dafür, dass er bei keiner der beiden Zeitungen Einfluss auf die redaktionellen Entscheidungen nehmen werde. Genauso gut hätte man an den Osterhasen glauben können. Während er Politikern und anderen Entscheidungsträgern gegenüber mit Zusicherungen dieser Art nicht geizte, äußerte sich Murdoch im Gespräch mit Thomas Kiernan ganz anders. »Eines musst du dir merken, Tom. Du erzählst diesen verdammten Poli118
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tikern, was sie hören wollen, und wenn du den Vertrag in der Tasche hast, kümmerst du dich nicht mehr darum. Wenn sie später plötzlich merken, dass das, was du gesagt hast, und das, was sie zu hören geglaubt haben, zwei verschiedene Dinge sind, werden sie dir nicht auf die Pelle rücken. Sonst stehen sie nämlich ziemlich dumm da, und das können sie sich nicht leisten. Lieber stecken sie den Kopf in den Sand und warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«19 Und genau so spielte es sich ab. Margaret Thatchers Wirtschaftsminister John Biffen legte Murdochs Kaufgebot nicht dem Kartellamt vor, obwohl die Bestimmungen vorschreiben, dass ein Zeitungsverlag mit einer Auflage von mehr als einer halben Million eingehend geprüft werden muss, bevor er ein weiteres Blatt erwerben kann. Eine Ausnahme ist nur möglich, wenn das zum Kauf stehende Unternehmen andernfalls von der Schließung bedroht wäre. Sicher stand die Times nicht auf soliden finanziellen Füßen, aber die Sunday Times fuhr Gewinne ein und versprach noch profitabler zu werden. Des ungeachtet ließ sich Biffen mit sehr umstrittenen Zahlen abspeisen, die »bewiesen«, dass die Sunday Times ein Verlustgeschäft war. Die Tatsache, daß die Zeitung Murdoch seither ein Vermögen eingebracht hat, lässt Biffens Entscheidung in einem umso fragwürdigeren Licht erscheinen.20 Just in dem Moment, als die Vorgänge vor Gericht geklärt werden sollten, gab Murdoch, diesmal an die Adresse der Journalisten gerichtet, noch einmal sein Wort, die redaktionelle Unabhängigkeit der beiden Zeitungen zu wahren. Gleichzeitig behauptete er, die Blätter stünden vor dem sicheren Aus und nur die Übernahme durch ihn könne sie vor diesem Schicksal bewahren. »In einer bestimmten Phase des Tauziehens um die Times«, schreiben Christopher Hird und seine Mitautoren in ihrem Buch Murdoch: The Great Escape, »rief ein Mitglied des Mitarbei119
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terkonsortiums, das ebenfalls am Kauf der Sunday Times interessiert war, einen alten Freund an, der zu Thatchers Beraterstab in der Downing Street 10 gehörte. Unter Berufung auf das Bekenntnis der Regierung zum freien Wettbewerb drängte er darauf, die Übernahme durch Murdoch zu verhindern. Man sagte ihm, er solle seine Zeit nicht vergeuden. ›Du hast es vielleicht noch nicht bemerkt, aber sie mag den Kerl.«‹ Als die Übernahme in einem Kabinettsausschuss erörtert wurde, führte Thatcher den Vorsitz, und Murdoch erhielt endlich den Lohn für die »jahrelange treue Unterstützung« durch seine Zeitungen. Das Ergebnis war, so Michael Leapman, »eine unangefochtene Übernahme mit allen Merkmalen einer politischen Absprache, wie sie Murdoch angeblich so verhasst ist«.21 Und Murdochs Mutter verkündete in einem BBC-Interview: »Vielleicht werden die Briten noch dahinter kommen, dass er gar kein so übler Kerl ist.«22 Anders als in der anspruchslosen Sun finden sich in der Sunday Times auch Beispiele solider journalistischer Arbeit, und manchmal sind sogar echte Knüller darunter, die allerdings schwer zu unterscheiden sind von journalistischen Machwerken, die sich nur den Anschein von Seriosität geben. Seit der Übernahme durch Murdoch ist die Sunday Times zum wichtigsten Vehikel für die Interessen und Ziele ihres Verlegers avanciert. In den 80er Jahren lancierte er immer wieder scharfe Angriffe geben BBC und ITV, die offenkundig seinem Einstieg ins britische Fernsehgeschäft im Wege standen. Und als er Andrew Neil, den Chefredakteur der Sunday Times, zum Leiter seines Satellitenfernsehsenders Sky machte, war das die Art von »Fremdbefruchtung«, wie es ein Insider ausdrückte, die in seinem PresseImperium in aller Welt schon lange praktiziert wurde. In Neils 470-Seiten-Wälzer Full Disclosure, dem vermutlich aufgeblasensten Machwerk in der Geschichte der Autobiografi120
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en, hat der Autor nicht einmal 30 Wörter für die absurdeste und übelste aller Schmierenkampagnen der Sunday Times übrig, die sich gegen die Produzenten der Fernsehdokumentation Death on the Rock für Thames Television richtete. Dieser 1988 ausgestrahlte Dokumentarfilm war von außerordentlicher Brisanz, weil er einiges über die Strategien der britischen Geheimdienste und deren skrupellose Praktiken unter Thatcher verriet. Der Film über den Vorfall, bei dem einige Monate zuvor auf Gibraltar drei unbewaffnete IRA-Mitglieder von einem SAS-Sonderkommando erschossen worden waren, brachte ans Licht, dass die britische Regierung nicht davor zurückschreckte, in Verfolgung ihrer aggressiven Irlandpolitik Todesschwadronen im Ausland einzusetzen. Mit Death on the Rock brachen die Filmemacher aber auch den Konsens, der in der Nordirlandfrage zwischen Regierung und Medien herrschte. Thatcher verzieh dem Sender diese Grenzüberschreitung nie. Hatte sie den Pay-TV-Sender auch vorher schon oft wegen seiner »Monopolstellung« attackiert, klangen ihre Anwürfe jetzt, als kämen sie aus Murdochs Mund, und wurden entsprechend begierig von der Sunday Times aufgenommen. Kaum war Thames Television mit dem Vorwurf der Regierung konfrontiert worden, Death on the Rock sei eine bewusste »Verzerrung« der Wahrheit, beeilte sich die Sunday Times, seitenlang in tendenziöser, sensationslüsterner und ehrverletzender Weise über die Ereignisse zu berichten. Carmen Proetta, eine Augenzeugin der Morde, erklärt in dem Film, dass sie gesehen hatte, wie zwei unbewaffnete Personen aus nächster Nähe ohne Gegenwehr erschossen wurden. Die beiden hatten die Arme hochgerissen, entweder um sich zu ergeben oder in Reaktion auf die Schüsse. Carmen Proetta hatte keinen Warnruf gehört. Die Murdoch-Presse ebenso wie die meisten anderen Zeitungen an der Fleet Street überzogen die Zeugin 121
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mit einer Flut von Lügen und Verleumdungen. Sie wurde fälschlicherweise der Prostitution und des Drogenhandels bezichtigt und als »britenfeindlich« beschimpft. Die Sun bezeichnete sie als die »Nutte von Gibraltar«. Die Berichterstattung in der Sunday Times war nur in einem Punkt anders: Sie war ausführlicher. Carmen Proetta erhielt schließlich nach einer Verleumdungsklage gut 300 000 Pfund, von denen mehr als die Hälfte von der Sunday Times stammte, die sich in einem außergerichtlichen Vergleich mit der Klägerin auf diese Summe geeinigt hatte. Wie Roger Bolton, der Produzent des Dokumentarfilms Death on the Rock, erzählte, stimmte Neil dieser Einigung nur deshalb zu, weil »eine frühere Mitarbeiterin der Sunday Times gleich am ersten Verhandlungstag bereit war auszusagen, dass der Bericht, den sie aus Gibraltar geschickt hatte, von Neils Redakteuren falsch wiedergegeben worden war«.23 In einer Notiz an den verantwortlichen Redakteur Robin Morgan erhob die Journalistin den Vorwurf, die Zeitung habe »keine Skrupel, Schuldzuweisungen zu konstruieren, um einen bestimmten Standpunkt zu rechtfertigen und mit verdrehten und falsch zitierten Interviews zu untermauern – also genau das zu tun, was wir Thames Television angekreidet haben.«24 Sie reichte später ihre Kündigung ein. Eine Untersuchungskommission unter der Leitung des früheren Tory-Ministers Lord Windlesham kam zu dem Schluss, dass die Ereignisse in dem Film wahrheitsgetreu dargestellt worden waren. Die britische Journalistengewerkschaft verlangte eine Untersuchung, in der geklärt werden sollte, welche Rolle die Sunday Times und vor allem Andrew Neil in der Affäre gespielt hatten. Aber dazu kam es nicht. Durch das von Thatcher eingeführte neue System der Lizenzvergabe für das kommerzielle Fernsehen verlor Thames Television, einer der innovativsten Privatsender Großbritanniens, seine Sendeberechtigung. Hugo Young, zuständig für das Politikressort der Sunday 122
Ein kulturelles Tschernobyl
Times, als Murdoch die Zeitung übernahm, schreibt: »Von Anfang an standen die Zeichen schlecht. Schon bei ihrem ersten Besuch in den Redaktionsräumen machten Murdoch und seine Partner keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die journalistische Linie der Sunday Times und äußerten sich verächtlich über diejenigen, die sie vertraten. Die Journalisten wurden kollektiv als trotzkistische Faulenzer, Drückeberger und Spesenritter diffamiert. Ich habe jedes dieser Schmähworte persönlich aus dem Munde von Murdoch-Managern gehört. Besonders nachdrücklich wurde die politische Etikettierung betrieben, die zugleich an jeder Realität vorbeiging. So galten Berichte aus El Salvador, die auch nur die Möglichkeit andeuteten, die USA könnten außenpolitische Fehler machen, als schlagender Beweis dafür, dass die Roten die Zeitung im Griff hatten.«25
Einst gepriesen für ihre journalistische und politische Unabhängigkeit, wurde die Sunday Times bald zum Spiegel der Weltanschauung ihres Eigentümers. Die größte Friedensdemonstration, die je von der Campaign for Nuclear Disarmament organisiert wurde und an der über eine halbe Million Menschen teilnahmen, wurde unter der Schlagzeile »Der sinkende Stern der CND« heruntergespielt. In den tendenziösen Berichten über den Streik in den Kohlegruben 1984/85 erschienen die Bergarbeiter, ganz im Einklang mit der Regierungspropaganda, als gewalttätige, radikale, mit ihren Gewerkschaftsführern zerstrittene »innere Feinde«. Für die Sunday Times war der Streik, abermals Hugo Young zufolge, »eine marxistische Verschwörung«. In der internationalen Berichterstattung beschränkte sich das Blatt auf die Rolle eines »mittelatlantischen Cheerleaders«.26 Ein Interview mit Ronald Reagan erinnerte auffallend an einen Exklusivbericht der Sun, hatte also, mit anderen Worten, nie stattgefunden. Im Stil der Sun brachte die Zeitung eine Titelseite, auf der Salman Rushdie von seiner getrennt von ihm lebenden Frau persönlich 123
Das Medienzeitalter
attackiert wurde, während er sich versteckt halten musste, weil er durch eine iranische Fatwa mit dem Tod bedroht war. Michael Foot, der frühere Parteivorsitzende der Labour-Partei, wurde in einer fetten Schlagzeile auf der Titelseite als »KGBSpion« bezeichnet. Dem »Exklusivbericht« folgte dann die Meldung, daß man Foot eine »beträchtliche Entschädigung« zu zahlen habe: ein Nachtrag, wie er bei »investigativen Reportagen«, die einst der Stolz der Zeitung waren, fast schon zur Regel wurde. Die Seuche verbreitete sich bis in den letzten Winkel der Sunday Times. Im so genannten Kulturteil der Zeitung bedachte der Fernsehkritiker Adrian Gill einen meiner Filme über Murdochs Einfluss auf die britische Zeitungslandschaft insgesamt und den Daily Mirror im Besonderen mit einer Flut von Beschimpfungen. In seiner »Rezension« griff er unter anderem Donald Zec, einen ehemaligen Autor und Kritiker des Daily Mirror, scharf an und bezichtigte ihn, in den 50er Jahren in Marilyn Monroes Haus eingebrochen zu sein. Kurz darauf erschienen auf der Kulturseite der Sunday Times die üblichen Entschuldigungen und Dementis.27 In der Gesellschaftsrubrik der Zeitung gab es eine Kolumne mit dem Titel »Das Paar der Woche«, in der die Klatschjournalistin Chrissy Hey, abgebildet in einem schwarz schimmernden Jackett, genüsslich die neuesten Spekulationen und Gerüchte über zwei Menschen ihrer Wahl verbreitete. Eines Sonntags war die Kolumne aus unerfindlichen Gründen auf Nimmerwiedersehen aus der Zeitung verschwunden. In der gleichen Woche erklärte die US-amerikanische Spendenorganisation United Jewish Appeal Murdoch zum »Wohltäter des Jahres«. Der Preis wurde ihm durch Henry Kissinger überreicht. Als Kissinger den Friedensnobelpreis für seinen Beitrag zum »Frieden« in Vietnam erhielt, sagte der große amerikanische Satiriker Tom Lehrer, jetzt sei es Zeit für ihn, in Rente zu gehen, weil Satire offensichtlich 124
Ein kulturelles Tschernobyl
überflüssig geworden sei. Der »Wohltäter des Jahres« bestätigte seine Worte.28 *** Murdochs Einzug in die »neue schöne neue Welt« von Wapping fand am 24. Januar 1986 statt. Praktisch über Nacht verloren 5000 Angestellte ihren Arbeitsplatz. »Die Gewerkschaften«, verkündete Kelvin MacKenzie den bei der Sun beschäftigten Journalisten, »können uns jetzt am Arsch lecken.«29 Meiner Erfahrung nach waren die meisten Setzer, Drucker und Druckereiarbeiter rechtschaffene Menschen, die, besonders in den alten Verlagsgebäuden der Sun und der News of the World in der Bouverie Street, in schmutzigen Räumen und unter gefährlichen Bedingungen an veralteten Maschinen schufteten. Sie wurden im Vergleich zu anderen Arbeitern gut bezahlt, und das reichte in einem Land mit so skandalös niedrigen Löhnen wie Großbritannien aus, um sich andere zu Feinden zu machen. 1985 wurde Brenda Dean Generalsekretärin der Society of Graphical and Allied Trades (SOGAT), die die Büroangestellten und Hilfskräfte der Druckereibranche vertritt. Sie sagt mir: »Es ist an der Zeit, mit den Mythen, die um Wapping gesponnen werden, aufzuräumen. Murdoch machte mir als erstes unmissverständlich klar, dass er nur dann zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften bereit sei, wenn ich ihm die Zustimmung zur Reduzierung des Personalbestands präsentieren könnte. Natürlich gab es einigen Widerstand gegen die neue Technik, vor allem von Leuten, die ihr Leben lang in der Branche gearbeitet hatten und nicht fest angestellt waren. Viele dieser Beschäftigten hatten keine Altersvorsorge. Sie hätten nach einer Entlassung keine Arbeit mehr gefunden und wollten nun wissen, was aus ihnen werden sollte. Aber das heißt keineswegs, dass wir keine Einigung hätten erzielen können. Die Chance war da. Die große Mehrheit war an einer Einigung in125
Das Medienzeitalter teressiert, das ist überhaupt keine Frage.«
Mit Clive Thornton, dem neuen Hauptgeschäftsführer beim Daily Mirror, hatten die Gewerkschaften bereits einen weit reichenden Vertrag ausgehandelt und darin unter dreijährigem Verzicht auf alle Streiks zugestanden, dass der Personalbestand reduziert und neue Techniken eingeführt werden konnten. Von Murdoch, mit dem sie ein ähnliches Abkommen zu erzielen hofften, erfuhren die Gewerkschaften, dass geplant sei, in Wapping eine neue Zeitung, die London Post, zu produzieren. Die Gewerkschaften begrüßten dies im Großen und Ganzen und unterbreiteten ihre Vorschläge für einen umfassenden Haustarifvertrag im Hinblick auf die Einführung der neuen Techniken. Am 2. Januar 1986 schrieb Tony Britton, der stellvertretende Leiter der News Group Newspapers Limited, zu der Sun und News of the World gehören, an den Gewerkschaftsvertreter Tony Isaacs: »Das Unternehmen hat den Vorschlägen der Gewerkschaft zugestimmt … und sichert zu, dass kein fest Angestellter freiwillig kündigen muss«, worauf Isaacs antwortete: »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass meine Gewerkschaftsgruppe die Vorschläge der Firmenleitung zum Verlagshaus in Wapping akzeptiert hat.« 30 Murdoch hatte allerdings ohne Wissen von Dean, Isaacs oder sonst eines Gewerkschaftsvertreters seit Monaten heimlich gewerkschaftlich nicht organisierte Mitarbeiter nach Wapping versetzt und überlegte nun, wie er die Tausende, denen der Arbeitsplatz »garantiert« worden war, auf elegante Art loswerden konnte. In einem Brief an Bruce Mathews, den Geschäftsführer von News International, schildert Murdochs Anwalt Geoffrey Richards in aller Ausführlichkeit, wie man sich »der Belegschaft entledigen« könne. »Am billigsten wäre es«, führt er aus, »die Angestellten zu entlassen, wenn sie sich an einem Streik beteili126
Ein kulturelles Tschernobyl
gen … Um möglichst viele Angestellte auf einmal zu erwischen, sollten die Entlassungen meiner Einschätzung nach am besten am Wochenende stattfinden …«31 Grundlage seiner Auslassungen waren Thatchers neue Antigewerkschaftsgesetze, denen zufolge Arbeiter, die während laufender Tarifverhandlungen in den Streik treten, fristlos und ohne Abfindungen entlassen werden können, wodurch die Firma sehr viel Geld sparen würde. Von der London Post war keine Rede mehr, sie wurde immer mehr zur Fata Morgana, ein Manöver, das, wie Murdoch-Kenner sagten, vom »eigentlichen Coup« ablenken sollte. »Wir wurden hinters Licht geführt«, erinnert sich Brenda Dean. »Die Verträge waren unterschriftsreif, aber plötzlich zierte sich die Unternehmensleitung. Dabei hatten wir in einigen Bereichen sogar der Reduzierung der Belegschaft um ein Drittel zugestimmt.« Tatsächlich hatte Dean so große Zugeständnisse gemacht, wie es im Druckereigewerbe noch nie jemand vor ihr gewagt hatte. Noch weiter gegangen war Tony Dubbins von der National Graphical Association, in der die Schriftsetzer vertreten sind, als er sein Plazet gegeben hatte, daß die Journalisten ihre Artikel direkt an den Redaktionscomputern in Wapping eingeben durften, obwohl dies seiner Gewerkschaft faktisch die Existenzgrundlage entzog. Es fehlten nur noch die Unterschriften. Murdoch aber hielt an seiner Hinhaltetaktik fest, während seine Leute nur auf das Signal warteten, um das streng geheime »Projekt 800« in die Tat umzusetzen, das er selber auf einer Sitzung der Unternehmensspitze in New York als »unseren Sprung in die Freiheit« ausgegeben hatte.32 Als die Gewerkschaften endlich begriffen, dass man sie an der Nase herumgeführt hatte und alle Vereinbarungen wertlos waren, riefen sie zur Urabstimmung auf, und es kam zum Streik. »Wir hatten ihm den Ölzweig gereicht«, sagte Dub127
Das Medienzeitalter
bins, »aber er hat ihn zerbrochen und uns um die Ohren gehauen.«33 Da die Verhandlungen formal noch in Gang waren, konnten die Streikenden ohne Abfindung entlassen werden. Auf diese Weise verloren 5000 Menschen, von denen viele seit ihrer Ausbildung bei der Zeitung gearbeitet hatten, ihre Stellung. Dean gesteht ein: »Ich bin zutiefst und persönlich verbittert angesichts der Menschen, die über ein Jahr die Stellung an der Streikfront in Wapping gehalten haben und dann vergessen wurden. Das ganze Ausmaß der menschlichen Tragödie ist erschreckend. Manche kamen mit ihrer Familie, ihren Kindern, um an einer friedlichen Demonstration teilzunehmen. Sie wollten Murdoch zeigen: ›Das hast du nicht nur mir angetan, sondern auch meiner Frau und meinen Kindern.‹ Aber die Polizisten hatten offensichtlich andere Instruktionen. Sie waren da, um die Zeitungen zu schützen, um dafür zu sorgen, dass Murdochs Sun und seine anderen Publikationen ungehindert erscheinen konnten. Wir nannten sie ›Zeitungsjungen‹, und das traf den Nagel auf den Kopf. Sie gingen mit unglaublicher Brutalität gegen die Streikenden vor – wie anschließende Untersuchungen bestätigten. Ich konnte mit ansehen, wie die Beamten der Bereitschaftspolizei wahllos auf Menschen einschlugen. Die Journalisten, die Zeugen des Geschehens wurden, waren schockiert. Die Polizisten gingen auf anständige, ehrliche Gewerkschaftler los, als wären sie in einem Bürgerkrieg. Einer unserer Leute wurde von einem Firmenlastwagen überrollt, und der Fahrer hielt es nicht einmal für nötig, anzuhalten. Es gab etliche Nervenzusammenbrüche, und manch eine Ehe ging zu Bruch. Starke Menschen – und ich meine das nicht im körperlichen Sinn, sondern Menschen mit Führungsqualitäten – wurden verbittert. Es hat sie zerbrochen. Vielen wurde das Arbeitslosengeld vorenthalten, obwohl sie Anspruch darauf gehabt hätten. Und ich spreche nicht nur von den relativ gut bezahlten Angestellten, sondern vom Reinigungspersonal und von Kantinenarbeitern, von denen es viermal so 128
Ein kulturelles Tschernobyl viele gab wie Drucker … Es war, als hätte sich der britische Staat mit Murdoch gegen uns verbündet…«
In den Wochen und Monaten nach dem »Sprung in die Freiheit« wurden in den Fernsehnachrichten surreale Bilder von Journalisten ausgestrahlt, die aus Murdochs firmeneigenen Bussen ausstiegen und vor den Wachposten Schlange standen, um ihre neuen Betriebsausweise vorzuzeigen, in denen sie jetzt schmachvollerweise als »Berater« tituliert wurden. Dann mussten sie die mit Stacheldraht gekrönten Mauern durch drei Meter hohe, elektronisch gesicherte Stahltore passieren, wobei sie von den Suchscheinwerfern geblendet wurden, die die Grenzen ihres neuen Arbeitsplatzes ausleuchteten. Es waren dies Journalisten der Zeitungen, die zusammen genommen über die größte Leserschaft im englischen Sprachraum verfügten. Man hatte sie vor die Wahl gestellt, nach Wapping oder nach Hause zu gehen. Sie hatten kein Mitspracherecht, und ihre Arbeitsverträge wurden missachtet. Dean erinnert sich: »Auf mich wirkten sie furchtbar eingeschüchtert. Journalisten gehörten für uns immer zur denkenden Zunft, aber wenn sie auch nur eine Sekunde nachgedacht hätten, wäre ihnen klar geworden, daß sie an jenem Wochenende mehr Macht hatten als je zuvor. Ohne sie wären diese Zeitungen nicht erschienen. Die Journalisten haben damals viel von ihrem Stolz und ihrem Selbstbewusstsein eingebüßt. Sie kamen und gingen, manchmal bäuchlings auf dem Boden der Busse liegend, deren Fenster mit Sichtblenden verdeckt waren. Das war kein Bild, das den Journalisten gut zu Gesicht stand, zumal es auch andere gab, die ihr Leben riskierten, um an diese Geschichte zu kommen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Achtunddreißig Journalisten weigerten sich, in Wapping zu arbeiten. Zu den wenigen aus der Redaktion der Sun gehörte Eric Butler, ein Sportreporter mit dem Spitznamen »Scoop«, was 129
Das Medienzeitalter
so viel heißt wie »Knüller«. Nach 42 Jahren an der Fleet Street hätte er nur noch drei Jahre bis zu seinem wohlverdienten Ruhestand warten müssen: »Ich wusste, dass es das Ende meiner beruflichen Laufbahn bedeutete, aber ich hatte keine andere Wahl. Das waren doch Gangstermethoden, die Murdoch da angewandt hat. Die Leute, die er entließ, haben loyal für ihn gearbeitet, und er hat mit ihrer Hilfe einen Haufen Geld verdient. Er hat denjenigen, die sich nicht am Streik beteiligten, 2000 Pfund geboten. Dafür behielten sie zwar ihren Job, verloren aber ihre Selbstachtung. Eines Abends klingelte das Telefon bei uns, und meine Frau Ellen nahm den Hörer ab. Es war einer meiner Kollegen, der sagte: ›Eric wird doch seine Meinung noch ändern, oder?‹, worauf meine Frau sagte: ›Nein, das wird er nicht. Genauer gesagt, ich möchte nicht, dass er seine Meinung ändert.‹ Ich fand es merkwürdig, wie viele Journalisten auf einmal meinten, die Drucker gingen sie nichts an. Natürlich hatte es mit ihnen immer Differenzen gegeben, aber das ging von beiden Seiten aus. Die Typen wollten doch genau wie wir nur die Butter aufs Brot verdienen, und es gab eine Menge guter Leute unter ihnen. Wir hatten eine tolle Firmenfußballmannschaft, in der Journalisten und Drucker zusammen spielten. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, behaupteten meine Kollegen, sie könnten die Drucker nicht leiden. Stimmte das wirklich, oder war es nur ein Vorwand, mit dem sie ihr Verhalten rechtfertigen wollten? Ich stand ein ganzes Jahr lang auf Streikposten, oft in eisiger Kälte, und sah zu, wie meine alten Kollegen mit Bussen ankamen und wieder abgeholt wurden. Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen. Später verloren viele ihre Illusionen, oder sie wurden von Murdoch rausgeworfen. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Das muss traurig für sie gewesen sein.«
David Banks machte als Redakteur der Sun den Umzug nach Wapping mit. »Wir standen ständig unter Strom«, sagt er, »und waren misstrauisch …, misstrauisch wegen der Umstände und 130
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wegen der Leute, die das Gelände belagerten, weil uns klar war: wir oder sie.« Auf die Frage, ob er sich auch auf den Boden gelegt hatte, wenn er mit dem Bus durch die Kette der Streikenden gefahren war, sagte er: »Ja natürlich, klar … Das war kein Vergnügen. Wir wussten, daß die Flaschen und Steine, die gegen die Busse flogen, für uns bestimmt waren; und dann mussten wir mit dem Bus meilenweit durch dunkle Hafengegenden fahren, um nicht mitten in die wütende Menge zu geraten. All das begann Wirkung zu zeigen … Nach einer Weile dämmerte es mir, dass wir keine strahlenden Ritter auf stolzen Schimmeln waren, sondern dass dem, was wir taten, etwas ausgesprochen Unsoziales anhaftete. Aber alles in allem kam ich am Ende zu dem Schluss, dass es sich lohnte, einen ganzen Industriezweig zu retten, auch wenn es irgendwie auf Kosten der kleinen Leute ging.«
Murdoch, der fast zwei Wochen lang auf einem Feldbett in Wapping übernachtete, verbreitete eine Atmosphäre, als ginge es um einen »Kreuzzug« gegen die Ungläubigen vor den Toren. Andrew Neil trug auf seine Weise dazu bei, indem er den Streikposten von seinem Fenster aus mit dem Champagnerglas in der Hand zuwinkte. In einem Fernsehinterview räumte er allerdings ein, dass es in seinen neuen Büros aussehe wie in »einem Konzentrationslager«. Die Journalisten der Sun genossen zunächst den Blick auf die Themse. Der wurde, offenbar aus Sicherheitsgründen, bald versperrt, und dann gab es überhaupt keinen Ausblick mehr. Diese hermetisch abgeschlossene Atmosphäre trug dazu bei, dass sich, wie Murdochs persönlicher Berater John Murray es ausdrückte, »bei den sensibleren Mitarbeitern eine gewisse seelische Verunsicherung« bemerkbar machte. Murdoch hatte seinen Vertrauten Murray eigens aus Australien nach London geholt, um sich von ihm »beim Übergang« bera131
Das Medienzeitalter
ten zu lassen. Als ich Murray darauf ansprach, dass Murdoch als rücksichtsloser Mensch verschrien war, entgegnete er: »Wissen Sie, auf einer so hohen Führungsebene können unternehmerische Grundsätze als Rücksichtslosigkeit daherkommen. Aber ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die den Mann von einer ganz anderen Seite zeigt. Eines Tages wurden ein paar Leute in den Ruhestand verabschiedet – nicht gefeuert, wohlgemerkt –, und ich bat Rupert, herunter zu kommen und einige Worte zu ihnen zu sagen. ›Sicher, John‹, antwortete er spontan. Na ja, er dankte ihnen für ihre Arbeit und das Engagement, und als er fertig war, hob ein Gewerkschaftsfunktionär die Hand und sagte: ›Mr. Murdoch, wir wissen, wie großzügig Sie sich um Ihren Chauffeur gekümmert haben, der kürzlich gestorben ist, und ich möchte Ihnen dafür im Namen der Gewerkschaften unseren Dank aussprechen.‹ Im Hinausgehen wandte sich Murdoch an mich und sagte: ›John, ich habe das Gefühl, die waren überrascht, als ob sie nicht erwartet hätten, dass ich ein netter Mensch bin.‹«
1989 outete sich Murdoch als wiedergeborener Christ. Er kündigte eine starke Neubelebung des religiösen Glaubens in Großbritannien an, zu der seine Zeitungen durch die Vermittlung »hoher moralischer Werte« beitragen würden.34 Das war wenige Monate, nachdem die Sun den Hillsborough-Familien das Leben zur Hölle gemacht hatte. John Murray erklärt: »Ich kenne Ruperts christliche Einstellung sehr gut«. Der Umzug nach Wapping war so etwas wie die Durchquerung des Roten Meeres, und Rupert war wie unser biblischer Führer. Es war der Auszug aus der Fleet Street, aus Ägypten, der schließlich ein neues Volk hervorbrachte. Es war ein bisschen wie der Holocaust. Ich meine, der Staat Israel ist aus dem Roten Meer und dem Durchleiden des Holocaust geboren worden …, und hier in Großbritannien hat der Auszug aus der Fleet Street das gesamte Pressewesen revolutioniert. Ich glaube, bis heute sehnen sich die Journalisten nicht nach 132
Ein kulturelles Tschernobyl den Fleischtöpfen Ägyptens …, nach der guten alten Fleet Street zurück. Sie wissen, dass es vorbei ist, jetzt leben wir mit den Verheißungen der modernen Welt.«35
Was Murdoch in Wapping gewann, war Geld. Durch die neuen Gesetze der Thatcher-Regierung ersparte er sich Abfindungen in Millionenhöhe, die er den Entlassenen ansonsten hätte bezahlen müssen. Quasi über Nacht sanken seine Personalkosten um 45 Millionen Pfund. Mit den billigen, gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitskräften – die meisten von ihnen Arbeitslose und Jugendliche ohne Berufsausbildung –, die er mit Bussen aus Southampton herankarren ließ, steigerte er seine Gewinne von 39,1 Millionen Pfund im Jahr 1985, dem Jahr vor dem Umzug, auf 98,3 Millionen Pfund im Jahr 1987 und 675 Millionen Pfund 1990. Mit diesem Geld bezahlte er die Zinsen für Kredite, die er im März 1985 aufgenommen hatte. Wäre sein »Sprung in die Freiheit« fehlgeschlagen, so hätte er höchstwahrscheinlich seine Schulden nicht bezahlen können. Er hatte ein riskantes Spiel gespielt. Mit geliehenem Geld hatte er in den Vereinigten Staaten sechs Fernsehsender des Medienkonzerns Metromedia gekauft. Diese bildeten die Grundlage der Holding Fox Corporation, mit der er das Monopol der großen amerikanischen Fernsehnetze zu brechen suchte. Als die »Revolution von Wapping« gewonnen war, klappte er sein Feldbett zusammen und nahm die Concorde nach New York, um die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen, die er brauchte, um neben Zeitungen auch Fernsehstationen erwerben zu können. Die Reagan-Regierung entschied die Sache im Eilverfahren für einen Mann, dem der Präsident »tiefste Anerkennung« für die Unterstützung in seinen Zeitungen ausgesprochen hatte.36 »Man kann die Bedeutung von Wapping in der Geschichte des Murdoch-Imperiums gar nicht hoch genug ein133
Das Medienzeitalter
schätzen«, sagt Chistopher Hird. »Ohne den Umzug nach Wapping wäre Murdoch wahrscheinlich Pleite gegangen. So einfach ist das.«37 Murdoch brüstete sich damit, dass mit seiner »Revolution« eine »Morgendämmerung der Freiheit« für die britische Presse, eine Blüte der unabhängigen Zeitungen anbrechen werde. Das Gegenteil war der Fall. Von den vier überregionalen Zeitungen, die Mitte der 80er Jahre gegründet wurden – Today, Correspondent, News on Sunday und Independent –, existiert nur noch der Independent und führt, nachdem seine Unabhängigkeit von den Mehrheitseignern, der Mirror-Gruppe, beschnitten wurde, ein Schattendasein in der britischen Zeitungslandschaft. Es gibt heute in der britischen Presse weniger Vielfalt und Unabhängigkeit als je zuvor, Murdochs Macht dagegen ist größer denn je. Zur Zeit der Auseinandersetzungen in Wapping war Alf Parish der Londoner Bezirksvorsitzende der Society of Lithographie Artists, Designers and Engravers (SLADE), die später mit der National Graphical Association (NGA) zu einer gemeinsamen Druckergewerkschaft: fusionierte. Er hatte direkt mit Murdoch verhandelt. »Es erheitert mich schon, so bitter es auch ist. Viele der Leute aus den Chefetagen, die Murdoch damals unterstützt haben, sind heute Opfer seiner aggressiven Unternehmenspolitik, die er nur verfolgen kann, weil er in Wapping eine so große Finanzmacht aufbauen konnte. Der Sieg über die Gewerkschaften war nur der erste Schritt. Jetzt schwingt er den Knüppel im Preiskrieg gegen seine alten Verbündeten. Denken Sie an die Verleger der Lokalzeitungen, die ihn unterstützt haben und dafür jetzt den Dank bekommen. Jedes Mal, wenn er den Preis für eine seiner überregionalen Zeitungen senkt, bekommen das die Lokalblätter an ihren Verkaufszahlen zu spüren.«
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Heute beherrscht Murdoch 34 Prozent des Marktes für überregionale Tageszeitungen, und bei den Sonntagszeitungen beträgt sein Marktanteil 37 Prozent. Er kann den Verkaufspreis für seine Zeitungen senken und den Verlust durch die Gewinne in anderen Bereichen seines weltweiten Firmenimperiums ausgleichen. Er kann den Markt willkürlich beeinflussen, und Konkurrenten, die nicht über eine vergleichbare finanzielle Rückendeckung verfügen, werden vermutlich auf der Strecke bleiben. Andrew Marr, der frühere Chefredakteur des Independent, erklärt: »Für mich steht fest, dass Murdoch im Begriff ist, in Großbritannien de facto ein Zeitungsmonopol aufzubauen, und dass die Politiker dies sehr wohl wissen, aber offensichtlich nicht gewillt sind, etwas dagegen zu unternehmen. Im Gespräch mit dem langjährigen Chefredakteur des Daily Mirror, Sir David English, stellte Murdoch einmal die Prognose auf, drei Zeitungen, Daily Mail, Times und Sun, würden auf Dauer überleben, mehr nicht. Der Preiskrieg ist Teil der Strategie, mit der er dieses Ziel zu erreichen sucht. Mit seiner Hilfe möchte er zuerst den Independent ausschalten und die Hollinger-Gruppe schwächen, die unter anderem den Telegraph vertreibt, und dann die anderen aufs Korn nehmen. Er kann sich das erlauben, weil sein Satellitenfernsehgeschäft riesige Gewinne abwirft. Jeder, der sich mit Politik und Medien auskennt, weiß das. Jeder ist sich auch der Gefahren bewusst …, und ich vertraue nicht darauf, dass die Politiker etwas dagegen tun werden.«38
Wenn Murdochs Vorhersage eintrifft, werden zwei der drei überregionalen Zeitungen, die es dann in Großbritannien noch zu kaufen gibt, ihm gehören – eine Aussicht, zu der sich offizielle Seiten geflissentlich ausschweigen. In der »Europadebatte« im Parlament und den Medien wurde die Zeitungsfrage erstaunlicherweise nie thematisiert, obwohl doch die europäische Presselandschaft Beispiele genug für Regulierungsmöglichkeiten bietet. 135
Das Medienzeitalter
In Frankreich gibt es Medienkartellgesetze, die verhindern sollen, dass der Anteil einer Einzelperson oder eines Konzerns am Gesamtmarkt der regionalen und überregionalen Zeitungen 30 Prozent übersteigt. In Deutschland wacht eine Kartellbehörde darüber, dass Minderheitsgesellschafter in Zeitungsverlagen gegen die Entscheidungen eines Großeigentümers ihr Veto einlegen können. In Schweden sichert eine unabhängige Presseförderungskommission den Erhalt einer vielseitigen Zeitungslandschaft. In keinem dieser Länder ist die Pressefreiheit durch Gesetze eingeschränkt. Diese Informationen stammen aus einem Diskussionspapier, das die Labour-Partei 1988 unter dem Titel »Freiheit für die Presse« vorlegte. In dem Dokument wird das Recht auf Gegendarstellung und Prozesskostenhilfe bei Verleumdungsklagen gefordert sowie ein ungeschmälertes Vertriebsrecht nach dem Vorbild Frankreichs, das den kleinen Verlagen den Zugang zu den Zeitungskiosken sichert – anders als in Großbritannien, wo Zeitungen mit kleineren Auflagen wie etwa der Tribüne dieser Marktzugang versperrt wurde. Der wichtigste Punkt des Papiers aber ist die Empfehlung, eine Kommission ins Leben zu rufen, die nach dem Vorbild der Presseförderungskommission in Schweden bei der Gründung unabhängiger Zeitschriften finanzielle Starthilfe leisten soll. (In Schweden werden 70 von 165 Zeitungen von der Kommission mit Zuschüssen gefördert.) Dass solche Vorschläge in die Gesetzgebung der BlairRegierung einfließen, ist unwahrscheinlich. Tony Blairs New Labour ist in vielerlei Hinsicht ein Produkt der Murdoch-Presse und der anderen konservativen Medien. Die Bereitwilligkeit, mit der sich Blairs Regierungsmannschaft dem traditionellen politischen Gegner anbiedert, ist in der Geschichte der Partei beispiellos. Vom Tag seiner Wahl zum Parteivorsitzenden an veröffentlichte Blair von seinem Pressesprecher Alistair Campbell verfass136
Ein kulturelles Tschernobyl
te Beiträge in Sun und News of the World. Blairs Hochachtung vor Margaret Thatchers Erbe und seine Entschlossenheit, ihre Politik fortzusetzen, ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Artikel. Kurz nach dem Tod seines Vorgängers John Smith erhielten Blair und seine Frau Cherie eine Einladung zum Abendessen bei Rupert Murdoch und dessen Frau Anna. Zwei weitere Einladungen folgten. Im Juli 1995 flogen die Blairs auf Murdochs Kosten erster Klasse nach Australien, wo Tony Blair als Hauptredner einer Konferenz der News Corporation auftrat, die in Murdochs Luxushotel Hayman Island Resort stattfand. Vom blauen Rednerpult der News Corporation verkündete Blair, die Politik müsse sich »neue ethische Ziele setzen«, um der »moralischen Herausforderung«, der das britische Volk gegenüberstehe, gerecht zu werden. Murdoch nickte beifällig; die beiden sind schließlich Christen. »Diese moralische Herausforderung«, so Blair weiter, »steht in ihrer Dringlichkeit der wirtschaftlichen Herausforderung um nichts nach – das eine ist mit dem anderen untrennbar verbunden.« Er nannte zwei Politiker, die sich in seinen Augen der wirtschaftlichen Herausforderung gestellt hatten: Ronald Reagan und Margaret Thatcher, die »dem Unternehmertum einen größeren Stellenwert einräumten und Erfolg belohnten«. Murdoch applaudierte begeistert. Schließlich waren Reagan und Thatcher seine Lieblingspolitiker, und er hatte geholfen, sie an die Macht zu bringen. Dann kam Blair zur Sache. Auch die Zeitungsverleger seien aufgerufen, sich der »wirtschaftlichen Herausforderung« zu stellen, denn ihre »unternehmerische Freiheit« sei durch staatliche Vorschriften eingeschränkt. Er bezog sich damit auf die Crossownership-Regelung, die verhindern soll, dass einflussreiche Interessengruppen oder Personen bei Zeitungen und Fernsehsendern zugleich den Ton angeben. »Die Notwendigkeit«, so 137
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Blair, »das System der Medienrichtlinien ständig zu revidieren, liegt auf der Hand. Vieles wird durch die gegenwärtige Revolutionierung der Branche obsolet. Wir leben in einer multimedialen Massengesellschaft, und wir sind ernsthaft besorgt über die Rolle der neuen Regulierungsinstanzen, denen nach den Plänen [der damaligen Tory-Regierung] ein immenser Einfluss zugestanden wird.« Nach der Rede bedankte sich Murdoch mit einem warmen Händedruck bei seinem Gast. Am nächsten Tag stand in der Sun zu lesen: »Mr. Blair ist ein Mann mit Weitsicht und spricht unsere Sprache, wenn es um Moral und Familienleben geht.«39 Lange vor ihrem Wahlsieg sprach sich die Labour-Führung für die Monopolisierung der Medienlandschaft aus und überholte damit die Konservativen. Für unfreiwillige Unterhaltung im Unterhaus sorgte immer wieder der für Medienangelegenheiten zuständige Tory-Minister, dessen bescheidene Regulierungsvorschläge von der Labour-Partei mit schöner Regelmäßigkeit abgewunken wurden. »Wir wollen vor allem sicherstellen«, zitiert Murdochs Sunday Times den damaligen Sprecher der LabourPartei und heutigen Staatssekretär Lewis Moonie, »dass die Bildung größerer Konzerne möglich ist.« Für Moonie war Murdoch erklärtermaßen ein »Visionär«.40 Andrew Neil schreibt in seiner Autobiografie: »Die Öffentlichkeit erfuhr nie, wie weit die Verbindungen zwischen New Labour und News Corporation tatsächlich reichten. Abgesehen von den regelmäßigen Treffen der beiden Spitzenmänner wurde ein Netzwerk von Verbindungen zwischen leitenden Angestellten der Firma und einflussreichen Abgeordneten der Labour-Partei hergestellt. Auch Familienmitglieder waren in das Spiel einbezogen. Lachlan, der Sohn, den Murdoch auf die Rolle des Kronprinzen eingeschworen hat, verstand sich von der ersten Begegnung an ebenso gut mit Tony Blair wie sein Vater. Und auch Elisabeth, die Tochter, 138
Ein kulturelles Tschernobyl mit der Lachlan nach dem Willen des Vaters um die Nachfolge wetteifern sollte, machte die Bekanntschaft einiger Spitzenpolitiker aus dem Labour-Lager … wie beispielsweise Peter Mandelson, den sie schon bald als ihren ›lieben Freund‹ bezeichnete. Weitere Kontakte wurden bei regelmäßigen Treffen zwischen Ruperts Topmanagern und Beratern und Labour-Leuten geknüpft… Als Regierungschef hat Blair Ruperts Erwartungen bisher weit übertroffen.«41
*** »Was wollen Sie: täglich eine Schlagzeile oder täglich einen Kübel Jauche?«, war die denkwürdige Frage, die Murdoch einem australischen Politiker einmal stellte. Als Tony Blair auf dem Weg zur Insel Hayman in Sydney landete, begrüßte ihn dort Paul Keating, der damalige Labor-Premier, der seinen Aufstieg zur Macht nicht unwesentlich Murdoch zu verdanken hatte. Keating verriet Blair, was Murdoch gern hörte: »Deregulierung« lautete sein absolutes Lieblingswort. Die Mediensituation in Australien führt uns die Zukunft der britischen Medien anschaulich vor Augen. Murdoch gehören sieben der zwölf großen lokalen Tages- und sieben von zehn Sonntagszeitungen. In Adelaide hält Murdoch das uneingeschränkte Monopol. Dort gehören ihm die Tageszeitung, die Sonntagszeitung und alle Druckereien. In Brisbane besitzt er alles bis auf einige Provinzblätter. In den Großstädten des Landes, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung lebt, stammen demnach zwei von drei verkauften Tageszeitungen und drei von vier Sonntagszeitungen aus Murdochs Verlagen. Der einzige, der in Australien noch Schritt mit ihm halten kann, ist der Medienmogul Kerry Packer, dem die meisten australischen Illustrierten und der größte Privatfernsehsender gehört. Bis Dezember 1996 war auch der Kanadier Conrad Black, der mit seiner Fairfax-Gruppe den Rest des lokalen Zeitungs139
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marktes kontrollierte, noch eine ernsthafte Konkurrenz. Nach Blacks Rückzug aus dem australischen Geschäft versuchte die Howard-Regierung zunächst, die Zeitungen der Fairfax-Gruppe in Packers erwartungsvoll ausgebreitete Arme zu lenken, machte aber einen Rückzieher, als die Hinterbänkler im Parlament den Aufstand probten. Zur gleichen Zeit bemühte sich Murdoch, sich durch Kompensationsgeschäfte in den Besitz eines kommerziellen Fernsehsenders zu bringen. Das Bezahlfernsehen steckt noch in den Kinderschuhen, aber Murdoch und Packer stehen schon in den Startlöchern, um sich eine beherrschende Stellung auf dem neuen Markt zu sichern. Dass dies im Bereich des Möglichen liegt, ist vor allem der Labor-Regierung unter Bob Hawke und Paul Keating zu verdanken, an deren Thatcherismus sich »New« Labour in Großbritannien ein Beispiel nahm. Als Finanz- und späterer Premierminister war Keating maßgeblich an der Deregulierung im Mediensektor beteiligt. Im November 1986 kündigte er Gesetze zur Umstrukturierung des kommerziellen Fernsehens an. Bis dahin durfte kein Eigner mehr als zwei Fernsehstationen betreiben. Die neuen Gesetzesvorlagen der Regierung sahen dagegen vor, dass ein einziger Unternehmer eine »Zuschauerreichweite« von bis zu 75 Prozent auf sich vereinen konnte. Auf diese Weise konnten einige wenige Konglomerate mit oft gegensätzlichen kommerziellen Interessen die 50 Fernsehsender des Landes übernehmen, die zuvor auf 25 Eigentümer verteilt waren. Nie zuvor in der Geschichte des australischen Fernsehens gab es eine solche Machtkonzentration. In dieser Phase richtete auch Rupert Murdoch, der das Wapping-Problem inzwischen gelöst und im amerikanischen Fernsehen Fuß gefasst hatte, seinen begehrlichen Blick wieder auf sein Heimatland. Es war sein lange gehegter Traum, die größte Zeitungsgruppe des Landes, Herald and Weekly Times, zu kaufen 140
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und damit zum Marktführer im australischen Zeitungswesen zu avancieren. Dem standen zwei Dinge im Weg: zum einen das restriktive Gesetz gegen ausländische Firmenübernahmen und zum anderen die australische Verfassung. Da er auf die australische Staatsbürgerschaft verzichtet hatte, um seine USamerikanischen Pläne zu verwirklichen, stand er nun vor dem Problem, als Ausländer keinen Zeitungsverlag übernehmen zu können. Darüber hinaus hat das Parlament aufgrund des Artikels 51 der Verfassung die Möglichkeit, in jedem Zweig der ohnehin relativ einseitigen und wenig ausbalancierten australischen Wirtschaft der Monopolbildung einen Riegel vorzuschieben. Es lag auf der Hand, dass Murdoch einen Partner brauchte. Am 13. November 1986, drei Wochen bevor Murdoch nach Melbourne flog, um sein Kaufgebot für Herald and Weekly Times zu unterbreiten, erschien in seinem Australian ein Leitartikel, der ungewohnt scharfe Töne gegen die konservative Opposition des Landes anschlug. Kurz zuvor waren Murdoch und Paul Keating in den USA zu einem Gespräch über die Probleme des australischen Medienrechts zusammengetroffen. Ein weiteres Treffen fand, diesmal in Anwesenheit des damaligen Premierministers Bob Hawke, in Australien statt. Innerhalb weniger Tage mussten sich Murdochs Leute darauf einstellen, dass ihre Zeitungen nunmehr die Linie der Labor-Regierung zu vertreten hatten.42 Von da an gab sich Murdoch in der Öffentlichkeit ausgesprochen zuversichtlich. In einer Pressekonferenz darauf angesprochen, dass der Leiter der Wettbewerbsregulierungskommission die Übernahme von Herald and Weekly Times als zweifelhaft, weil möglicherweise mit dem Gesetz nicht vereinbar bezeichnet hatte, erwiderte er: »Das ist kein unüberwindbares Hindernis.« Weder das Gesetz zur Regelung der Übernahme eines Unternehmens durch ausländische Interessenten noch verfassungs141
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rechtliche Bestimmungen stellten für Murdoch noch »ein Problem« dar. Die einzige Hürde, die seinen Plänen noch im Weg stand, war ein Gesetz, das es ihm verbot, auch die Radio- und Fernsehstationen zu erwerben, die zur Herald-and-Weekly-Times-Gruppe gehörten. Murdoch löste das Problem, indem er einfach verschwand. Seine australische Gesellschaft News Limited teilte sein Verschwinden in der folgenden Presseverlautbarung mit: 1. Der frühere Geschäftsführer von News Ltd., Mr. Murdoch, hat diese Funktion nicht mehr inne und unterhält kein Büro mehr in der Firma. 2. Mr. Murdoch hat keine Befugnis, im Namen von News Ltd. Zu sprechen oder verbindliche Absprachen zu treffen … Da ihm dieser Trick eine Flut gerichtlicher Verfahren einbrachte, ließ er sich einen anderen einfallen. Nunmehr faktischer Mehrheitsgesellschafter von Herald and Weekly Times, veranlasste er den Verkauf der Radio- und Fernsehanteile des Unternehmens vor der offiziellen Übernahme. Diesmal funktionierte der Trick. Zwar schaltete der australische Journalistenverband die Rundfunkaufsichtsbehörde ein, aber diese gab sich, durch Murdochs Finte ausmanövriert und von Seiten der Regierung nicht eben ermutigt, kampflos geschlagen.43 Premierminister Hawke seinerseits brauchte als Zeichen seiner Einwilligung nichts weiter zu tun, als zu schweigen. Außenminister Bill Hayden und der Oppositionssprecher Ian Macphee forderten eine öffentliche Untersuchung der MurdochÜbernahme, aber ihre Bemühungen blieben fruchtlos. Hayden wurde vom Kabinett zurückgepfiffen, und Macphee erhielt eines schönen Sonntagmorgens Besuch von seinem aufgebrachten Parteivorsitzenden, der eigens den Urlaub unterbrochen hatte, um 142
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ihm klar zu machen, dass man Murdoch unter keinen Umständen auf die Füße treten dürfe. Beide politische Lager im Parlament hüllten sich in Schweigen. Ein Parlamentsabgeordneter sagte damals zu mir: »Wenn ich mir Murdoch zum Feind mache, ist das mein politischer Tod. Also halte ich die Klappe, aber ich bin nicht stolz darauf.« Auch von anderer Seite wurde kein großer Lärm gemacht. Die Medien, die nicht zum Murdoch-Unternehmen gehörten, kommentierten die historische Machtverschiebung mit artiger Bewunderung für seine raffinierten Schachzüge. Der australische Presserat löste sich nach Murdochs Übernahme praktisch selbst auf. Die sieben Mitglieder, die die Unternehmerseite repräsentierten, verhinderten mit ihren Stimmen, dass eine Untersuchung eingeleitet wurde. Daraufhin resignierte der Vorsitzende Hal Wootten, ein ehemaliger Richter, und legte empört sein Amt nieder. »Dass es Murdoch ermöglicht wurde, die Kontrolle über die australische Presselandschaft an sich zu reißen, ist ein einmaliger Vorgang in einem nichttotalitären Staat. Der Finanzminister [Keating] hätte die Übernahme verhindern können, wenn er gewollt hätte … Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der seine Staatsbürgerschaft abgelegt hat, um seine Machtstellung weltweit auszubauen, und der keinen Hehl daraus macht, dass er aus seinem Zeitungsimperium persönlichen Nutzen zu ziehen gedenkt.«44 Als sich Hawke schließlich zu den Vorgängen äußerte, geschah dies unmittelbar, nachdem er gemeinsam mit Keating einer Einladung Murdochs in dessen Haus in der Nähe von Canberra gefolgt war. Ian Macphee, der sich weigerte, das Schweigen der Regierung klaglos hinzunehmen, berief sich auf sein Recht auf Information und verlangte von Keatings Ministerium Einsicht in die entscheidenden Unterlagen. Sechs der acht Seiten, aus denen die Empfehlungen des Aufsichtsrats für ausländische 143
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Investitionen bestanden, waren geschwärzt und mit dem Stempel »Geschäftlich/Vertraulich« versehen. Ein Absatz des Berichts, der später veröffentlicht wurde, ließ darauf schließen, dass der Aufsichtsrat davon abgeraten hatte, der Übernahme zuzustimmen. Hawke bestritt dies, und Keating lehnte es mit dem Hinweis, die Sache habe sich erledigt, weiterhin ab, den vollständigen Bericht freizugeben.45 Murdochs Finanzkraft beruht unter anderem auf seinem Geschick, Steuergesetze zu umgehen. Anfang der 90er Jahre führte seine australische Muttergesellschaft News Corporation weniger als zwei Cent Steuern von jedem verdienten Dollar ab. 1996 schätzte die Australian Financial Review, dass Murdoch etwa 300 Millionen australische Dollar Steuern weniger entrichtete, als er beim regulären Steuersatz von 33 Prozent hätte bezahlen müssen.46 Aber das ist noch gar nichts gegen seinen Coup in Großbritannien, wo er in den zehn Jahren vor 1996 bei einem ausgewiesenen Gewinn von fast einer Milliarde Pfund praktisch überhaupt keine Steuern gezahlt hat.47 Das alles verstößt nicht gegen das Gesetz. Murdoch versteht es meisterhaft, Kapital und Gewinne vor allem zwischen den Büchern von »Briefkastenfirmen« in Steuerparadiesen wie den Kaimaninseln, den Jungferninseln und den Niederländischen Antillen hin und her zu schieben. Das ist sein geheimes Reich: eine ständig wechselnde Anzahl von Tochterfirmen, deren Geschäfte nur für einen ausgesprochen fantasiebegabten Buchhalter durchschaubar sind. Beispielsweise bezahlte Murdochs Tochterfirma News Times Holdings 1994 fast eineinhalb Milliarden Pfund für News Publishers, eine auf den Bermudainseln eingetragene Strohfirma, die zum Murdoch-Unternehmen News International gehörte. Wieso war eine bis dahin unbekannte Firma so viel Geld wert? Warum kaufte ein Tochterunternehmen Murdochs eine auf den Bermu144
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dainseln ansässige Firma, die seiner Muttergesellschaft gehörte? Die Antworten auf diese Fragen liegen in der mittlerweile üblich gewordenen Praxis multinationaler Konzerne, durch die Gründung von Scheinfirmen Steuern zu sparen. Murdoch gilt als ein Fuchs auf diesem Gebiet. Obwohl 1997 in seinen Firmen in Großbritannien, Australien und Israel Steuerprüfungen durchgeführt wurden, rechnete niemand damit, dass sich daraus irgendwelche Konsequenzen für ihn ergeben würden. »Diese Regierung wird es nicht zulassen, dass Firmen sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern.« Das hatte Paul Keating 1987 verkündet, dem gleichen Jahr, in dem Schätzungen der Finanzbehörde zufolge News Corporation und andere in Australien ansässige Firmen dem australischen Staat 1,2 Milliarden Dollar vorenthielten, indem sie ihre Gewinne in eine der vielen Steueroasen verschoben.48 Christopher Hird, einer der wenigen Journalisten, die Murdochs Steuerpraktiken unter die Lupe genommen haben, erklärt das so: »Murdoch ist kein Mensch wie du und ich. Wir arbeiten und bezahlen Steuern. Er dagegen lebt nach anderen Regeln. Seine Firmen nutzen die Dienstleistungen, die wir bezahlen, sie benutzen die Straßen, um ihre Zeitungen zu transportieren, und ihre Angestellten nehmen das Gesundheitssystem in Anspruch, wenn sie krank sind. Sie profitieren von den Einrichtungen, die unsere Gesellschaft zur Verfügung stellt, aber sie fühlen sich nicht verpflichtet, ihren Teil zum Gemeinwesen beizutragen. Sie betrachten es vielmehr als einen Sport, Steuerzahlungen zu umgehen. Sie halten sich für überlegen, sie wollen die Welt regieren, aber bezahlen wollen sie nicht für die Privilegien, die sie in Anspruch nehmen.«49
Das Ausmaß der Heuchelei ist kaum zu fassen. In Murdochs Zeitungen werden Menschen, die den »moralischen Ansprüchen« nicht genügen, die also inpuncto »Moral und Familienle145
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ben« nicht die gleiche Sprache sprechen wie die Sun, permanent an den Pranger gestellt. Gemeint ist in der Regel die Minderheit der Armen, die, nicht selten aus Verzweiflung, mit List und Tükke ein paar Extrapfund vom Sozialstaat ergaunern. Allein erziehende Mütter, die Sozialhilfe beziehen, sind ein beliebtes Ziel der Angriffe und werden gern als »Schnorrerinnen« bezeichnet. Die Sun hat sich mit dem Argument, damit ließe sich eine Steuersenkung um fünf Cent finanzieren, für eine Kürzung des Kindergelds für diese Personengruppe stark gemacht.50 Dass Großunternehmen dem Staat 23 Milliarden Pfund Steuern schuldig geblieben sind, wird mit keinem Wort erwähnt. Angesichts der lächerlichen Steuern, die Murdochs Gesellschaften bezahlen, kann man mit Recht sagen, daß sich Zeitungen wie die Sun von der öffentlichen Hand subventionieren lassen und damit Schnorrer im großen Stil sind. 1996 wollte der Independent von der Labour-Führung wissen, was sie hinsichtlich der Murdoch-Steuern beziehungsweise deren Ausbleiben zu tun gedenke. Als damaliger Schattenkanzler hatte Gordon Brown mehrfach die »großen Fische« angeprangert und vollmundig angekündigt, man wolle auch sie »gerecht« besteuern. Auf Murdochs Steuerpraktiken angesprochen, gaben nun weder er noch ein anderer Spitzenpolitiker der LabourPartei einen Kommentar ab. Schließlich wurde der Parlamentsabgeordnete Alistair Darling als Sprecher vorgeschickt. »Man darf nicht einseitig urteilen«, bemerkte er. »Die Steuergesetze sind nicht dazu da, einen Einzelnen unter Druck zu setzen. Sie repräsentieren ein Grundprinzip.«51 Wie sehr sich die Politiker scheuten, sich mit Murdoch anzulegen, wurde Anfang des Jahres 1997 deutlich, als Murdoch sich anschickte, in der »digitalen Revolution« des Fernsehens die Führungsposition zu übernehmen. Er hat sich das Monopol an der Black-Box-Technologie gesichert. Wer seinen Fernseher da146
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mit aufrüstet, kann per Satellitenschüssel bis zu 200 digitale Kanäle empfangen, per Kabel immerhin mindestens 30 terrestrische Stationen. Zusammen mit den beiden größten Privatfernsehgesellschaften Carlton und Granada bildete Murdoch die Gruppe British Digital Broadcasting, der die Independent Television Commission (ITC) die Lizenz erteilte, auf den ersten digitalen Kanälen zu senden, obwohl ihr nach eigenem Bekunden »die innovativen Programmideen« des Mitbewerbers Digital Television Network besser gefielen. Die Gruppe erhielt den Zuschlag, weil zu erwarten war, dass sie Filme und Sportübertragungen von Murdochs Bezahlsender BSkyB kaufen und damit mehr Zuschauer gewinnen würde. Zwar verpflichtete die Fernsehkommission Murdoch zugleich, seine Anteile zu verkaufen, aber das war nicht viel mehr als eine vordergründige Machtgebärde der Regulierungsbehörde. De facto gibt Murdoch nach wie vor den Ton an. 70 Prozent der Einnahmen werden in seine Taschen fließen, er wird die elektronischen Programmhinweise kontrollieren, und, was ihm am meisten am Herzen liegt, er wird nach vielen vergeblichen Anläufen endlich Fuß im britischen terrestrischen Fernsehen fassen. Die politische Reaktion in Großbritannien reichte von Schweigen bis zu Gemeinplätzen über die Unausweichlichkeit des Fortschritts. »Der Zuschauer kann sich zurücklehnen«, hieß es in einem Kommentar des Guardian, »und sich von der Programmauswahl verwöhnen lassen.«52 Diese »Auswahl« zeigte sich dann auch alsbald in den Sendungen des neuen Konsortiums: »Teleshopping«, »Animal Planet«, Sport, alte Spielfilme, Kostümschinken und Familienserien. Aktuelle Berichterstattung und Dokumentarsendungen, so die Vorankündigung, »bewegen sich im Rahmen von Gesetz und Ordnung und werden im Vormittagsprogramm von Sky News gesendet«. 147
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An die Stelle des ohnehin nicht mehr großen Programmspektrums im britischen Fernsehen wird so etwas wie ein großes Einkaufszentrum treten, in dem sich hinter bunten Verpackungen die immer gleichen Produkte verbergen. Es wird keine Experimente geben und kaum etwas, das man nicht in der einen oder anderen Form schon einmal gesehen hat. Wie sagte doch der CNN-Gründer und Murdoch-Rivale Ted Turner einmal so treffend: »Wir arbeiten wie eine moderne Hühnerfarm. Dort werden Hühnerkrallen zu Dünger und Innereien zu Hundefutter verarbeitet, und mit den Federn werden Kissen gestopft. Selbst aus dem Hühnerkot wird noch Dünger gemacht. Kein einziges Stück vom Huhn, das nicht verwendet wird. Und genauso verfahren wir mit unseren Fernsehprodukten.«53 In Doug Lucies Theaterstück The Shallow End, dessen Handlung an die Übernahme der Sunday Times durch Murdoch anknüpft, sagt ein Reporter, an den Medienmogul gewandt, der im Begriff ist, sich auch noch die letzte seriöse Zeitung unter den Nagel zu reißen: »Vergiften Sie den Markt, pervertieren Sie ihn, drücken Sie Qualität und Preis auf das tiefstmögliche Niveau, und wenn es dann noch einen Markt gibt, schön und gut, denn Sie ziehen die Fäden, und wenn nicht …, dann wird eben ein weiteres überholtes Produkt Geschichte, und überhaupt bestimmen Sie über die Alternativen.« Das Gift des »kulturellen Tschernobyl« hat mittlerweile fast die ganze Medienlandschaft durchdrungen. Schalten Sie die Independent Television News ein, und Sie hören beispielsweise: »Guten Abend. Die Teddybären, die er so liebte, saßen heute, am Tag der Beerdigung von James Bulger, Seite an Seite in der Kirche. Sie thronten auf einem Stuhl, den James' Vater eigenhändig für seinen Sohn gefertigt hat. Er stand nur wenige Zentimeter neben dem Sarg …« In seinem Buch Newszak and the News Media schreibt Bob 148
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Franklin über diese Art der Berichterstattung: »Es ist kaum zu glauben, dass dies ein ernst gemeinter Nachrichtenbeitrag sein soll und nicht eine groteske Parodie auf die zynischen Possen des fiktiven Journalisten Damien Day aus der Fernsehsatire Drop the Dead Donkey. Dieser Bericht über den Tod eines kleinen Kindes, der auf herzlose Weise Trauer und Sensationslust, Voyeurismus und Anbiederei verknüpft, schlachtet die persönliche Tragödie als öffentliches Spektakel aus und steht auf einer Stufe mit Pornographie.« Über die gegenwärtige Tendenz zum »Infotainment« schreibt er weiter: »Noch nie hat sich das Gleichgewicht in den Nachrichtenmedien so deutlich zur Unterhaltung hin verlagert, und einhergehend mit dem Niedergang des Nachrichtenwesens insgesamt sind Auslandsberichte und investigativer Journalismus aus manchen Nachrichtenmedien buchstäblich verschwunden …‹‹54 Auf einer 1996 von der Financial Times in London veranstalteten Medienkonferenz zur Lage des Satelliten- und Kabelfernsehens wurde deutlich, wie tief die Entwicklung zum Infotainment bereits im allgemeinen Bewusstsein verankert ist. Einer der Referenten war Kelvin MacKenzie in seiner Funktion als Chef des zur Mirror-Gruppe gehörenden Kabelsenders L!ve TV, in dem ein »News Bunny« jeden Nachrichtenbeitrag mit erhobenem oder gesenktem Daumen kommentiert. MacKenzie begann seinen Vortrag mit einem Witz über Oralsex und stotternde Nachrichtensprecher. Dann pries er die Boulevardzeitungen als leuchtendes Beispiel für Fernsehnachrichten und meinte, »je mehr Sender, desto mehr Fernsehen und desto mehr Standpunkte« werde es geben. Die Nachrichtensendungen der großen Sendeanstalten beschrieb er als »langweilige, reglementierte Einheitsprodukte, deren Informationsgehalt Lichtjahre von den Interessen breiter Schichten der Bevölkerung entfernt« sei. Niemand widersprach ihm auch nur in einem einzigen Punkt. 149
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Als Herausgeber der Sun setzte sich MacKenzie allerdings nicht gerade für die »Interessen breiter Bevölkerungsschichten« ein. In der Welt der Sun und des News Bunny sind die normalen Zuschauer nichts weiter als passive Konsumenten der trivialen, infantilen, kitschigen und pornographischen Nahrung, die ihnen vorgesetzt wird. Sie sind keine politische Kraft, weil sich die »politischen« Äußerungen, die ihnen zugestanden werden, in gespielter Entrüstung über falsche Dämonen und der Anbetung der Konsumgötter und ihrer Priester erschöpften. Ältere Menschen treten höchstens als Opfer in Erscheinung. Jugendliche sind Schwachköpfe oder Drogendealer. Die Solidarität der arbeitenden Bevölkerung zählt ebenso wenig wie diese selbst. Die modisch gekleideten Marketingtypen im Saal lauschten MacKenzies aggressiven Gemeinplätzen aufmerksam. Für sie war der Mann kein alberner Hanswurst, und sie waren stolz darauf, ihn »Kelvin« nennen zu dürfen. Schließlich war er es, der aus der Sun einen »Erfolg« gemacht hatte, und Erfolg misst sich am Umsatz, nicht an Dingen wie Hillsborough. Im Saal lag eine gewisse Hochachtung in der Luft. Mark Damazer, der stellvertretende Direktor von BBC News, klang geradezu ehrerbietig, als er einräumte, dass »Kelvin genau genommen nicht Unrecht« habe, denn »wenn das Spektrum sich erweitert, müssen nicht alle Nachrichtenprogramme einen so hohen Anspruch erfüllen, dann sind unterschiedliche Ansätze vertretbar«. Er beeilte sich hinzuzufügen, bei der BBC werde es keine Qualitätsabstriche geben. Feststellungen wie diese deuten nicht gerade darauf hin, dass alle Bevölkerungsgruppen – Alte wie Junge, Behinderte und Nichtbehinderte, nachdenkliche wie unbeschwerte Gemüter – wirklich erwarten können, bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, die sie ja finanzieren, in gleichem Maße berücksichtigt zu werden. Daneben ist auch die Rolle des regulierten Privatfernsehens nicht zu unterschätzen; meine eigene Fernsehkarriere hat 150
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sich ausschließlich im privaten Sektor abgespielt. Einige der besten Spielfilme, politischen Reportagen, Dokumentarfilme und Kinderprogramme wurden vom britischen ITV-Netz produziert, das jetzt ebenfalls vor dem Aus steht. Sonny Fox, früher für das NBC-Vormittagsfernsehen in den Vereinigten Staaten zuständig, spricht aus, worum es geht: »Das Privatfernsehen dient in erster Linie dem Marketing und ist erst in zweiter Linie ein Unterhaltungsmedium; das weiß doch heute jeder.« Noch deutlicher drückt es Arnold Becker, Vizepräsident bei CBS, aus: »Kultur interessiert mich nicht, und ich interessiere mich auch nicht für sozialkritische Themen. Mich interessiert einzig und allein, ob die Leute sich das Programm anschauen. Das ist meine Definition von gut und schlecht.«55 Wie Thomas Kiernan gezeigt hat, ist in den Vereinigten Staaten der unangefochtene »Schrittmacher« dieser Entwicklung Rupert Murdoch mit seiner Fox-Gruppe, in deren erster Sendung die Todesschreie einer Frau in einem brennenden Gebäude »live« ausgestrahlt wurden. 1990 leitete die Thatcher-Regierung mit ihrem Rundfunkgesetz eine »Revolution« ein, die das Fernsehen so einschneidend verändert hat wie Wapping das Zeitungswesen. »Bei ITN waren die Beschaffung und Präsentation von Nachrichten jetzt den Marktgesetzen unterworfen«, schreibt Franklin, »sodass mit den Nachrichten zum ersten Mal in der Geschichte des britischen Fernsehens Profit gemacht werden musste.«56 Jon Snow, Nachrichtensprecher bei Channel 4, spricht in diesem Zusammenhang von »Nachrichten im Belagerungszustand«. »Die Einschaltquoten werden zum Gradmesser«, schreibt er, »weil das Geld von den Werbekunden kommt. In ein paar Jahren wird es im amerikanischen Fernsehen keine seriösen Nachrichtenprogramme mehr geben. Das ist die Richtung, in die wir uns bewegen.57 Eine ähnliche Entwicklung hat bei den Radiosendern stattge151
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funden. Durch die Novellierung der britischen Rundfunkgesetzgebung in den Jahren 1990 und 1996 verdoppelte sich die Zahl der unabhängigen regionalen Radiosender. Erklärtes Ziel der Regierung war es dabei, den Wettbewerb zu fördern und so eine größere Auswahl und Vielfalt der Programme zu erzielen. »In Wirklichkeit«, merkt Franklin an, »wurde mit dieser Politik genau das Gegenteil erreicht. Der Markt straft diejenigen ab, die zu weit vom allgemeinen Trend abweichen; so halten sich die Regionalsender an ein eintöniges und berechenbares Rezept – und heraus kommt ein fader Einheitsbrei aus Musikberieselung und Infotainment.«58 Wieder wurde die einschneidende Veränderung der Voraussetzungen, unter denen Millionen von Menschen die Welt, in der sie leben, begreifen und interpretieren, weitgehend mit Schweigen beantwortet. Im Feuilleton der seriöseren Zeitungen werden gelegentlich kritische Stimmen laut, aber um Kritik geht es den Redaktionen nicht wirklich. Sie sind, wie die Medien insgesamt, im eigentlichen Sinn Marketingvehikel, und sie sind als solche nicht in erster Linie an seriöser journalistischer Recherche interessiert, sondern am Klatsch und Tratsch aus dem Nähkästchen der Branche: hier ein paar Verkaufszahlen, da ein bisschen journalistische Nabelschau und vielleicht noch ein »polemisches« Streitgespräch mit einem aalglatten politischen Meinungsmacher. Über die Gründe dafür, dass Journalisten so angepasst sind, wird selten gesprochen. Geschichten aus der Medienwelt, und mögen sie noch so anstößig oder trivial sein, sind in den Zeitungsverlagen mittlerweile so begehrt, dass sie nicht mehr auf das Feuilleton beschränkt bleiben. Als der Guardian im Unterhaltungsteil ein dreiseitiges »Profil« von Tina Brown, der Chefredakteurin des New Yorker, brachte, geschah dies in dem schrillen, marktschreierischen Ton, den man sonst aus der amerikanischen Werbung gewohnt ist. 152
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»Als forsche neue Triebkraft im verstaubten New Yorker«, hebt der Artikel an, »erntete die Britin Tina Brown nicht nur schmeichelhafte Worte, sondern auch harsche Kritik. Von den einen als ganz großer Fisch im ›Big Apple‹ gefeiert, ist sie für andere ein Stalin in Stöckelschuhen … Tina ist der Senkrechtstarter der Branche, eine Frau, die jederzeit in jedem New Yorker Restaurant einen Tisch bekommt.« Allerdings »kehrt sie mit eisernem Besen«. Und so weiter und so fort. Abschließend wird die von Marktideologen praktizierte Aufteilung der Menschheit in »neue« (gute) Leute und (schlechte) »alte Garde« gebührend gewürdigt. Die Geschichte hätte in keinem Boulevardblatt deplatziert gewirkt.59 Immer häufiger erscheinen reißerische Geschichten, wie man sie aus der Sensationspresse kennt, auch im Nachrichtenteil seriöser Zeitungen. Der Observer brachte Lynn Barbers geschmacklose Verunglimpfung der Schauspielerin Felicity Kendal – »Wenn ein Mann sagt, er findet sie anziehend, muss er in meinen Augen sexuell gestört sein« – als Riesenschlagzeile auf der Titelseite. In dem »Interview« im Innern der Zeitung erfuhren die Leser, Kendals Hände seien »abscheulich verkrüppelte, knochige Klauen mit purpurroten Krallen«. Darüber, was die Frau getan hatte, um eine solche Behandlung zu verdienen, wurden die Leser nicht aufgeklärt. Die Geschichte hätte ausgezeichnet in die News of the World gepasst.60 Es gibt Journalisten, die sich von Murdochs angeblichem Ethos blenden lassen. Ihre Bewunderung für die Sun ist von der Art, wie sie die Mittelklasse empfindet, wenn sie lustvoll erschauernd mit dem Leben in der Gosse kokettiert. William Shawcross, Murdochs halboffizieller Biograf und treuer Bewunderer, adelt die einfältigen Hohlheiten der Sun als »geistreich«. Was zählen schon die Lügen und das Leid, das sie den Menschen zufügen: So ist der Zeitgeist, die reaktionäre Strömungsrichtung 153
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der späten 90er Jahre.61 Deutlich wird dies in dem 1996 erschienenen Buch Tickle the Public, in dem der Journalist Matthew Engel die Geschichte der Boulevardpresse nachzeichnet. Er bezeichnet darin die berüchtigte »Gotcha«-Überschrift der Sun als »kulturellen Meilenstein« und versucht seine Leser mit fast missionarischem Eifer davon zu überzeugen, dass Kelvin MacKenzie missverstanden wurde. Trotz seines »abstoßenden Verhaltens«, heißt es in dem Buch, sei MacKenzie »kein abstoßender Mensch«, er könne im Gegenteil »auf rührende Weise verletzlich« sein. Ganz klar, er verunglimpfte andere nur, weil er sich selbst »sehr hohe journalistische Maßstäbe« setzte. Denn wir haben es hier mit einem Chefredakteur zu tun, der ein »sicheres Gespür dafür hat, wie man aus einfachen Fakten eine spannende Geschichte macht …« Es folgen ein paar charmante Anekdoten von der Sorte, »wie sie allen wirklich großen Journalisten anhängen«. Schließlich kann sich Engel kaum noch beherrschen: »MacKenzie war ein Genie«, schwärmt er, »jedes andere Wort wäre zu wenig.« Und Murdochs »Revolution« in Wapping hat den Journalisten in Engels Augen »eine völlig neue Freiheit« beschert. Was für eine Art von Freiheit das gewesen sein soll, darüber schweigt sich Engel aus. Die Freiheit, Lügen zu verbreiten, Menschen an den Pranger zu stellen und unter dem Banner auflagenträchtiger Unterhaltung elementare Bürgerrechte mit publizistischen Füßen zu treten? Er sagt es uns nicht.62 1975 fand in Murdochs Zeitung Australian eine Kampagne gegen den reformwilligen australischen Premierminister Gough Whitlam statt, die einer Vendetta glich. Die von Malcolm Fraser geführte konservative Opposition hatte den australischen Senat lahm gelegt, indem sie die Gesetzesvorlage für den Jahreshaushalt der Regierung blockierte. Der Generalgouverneur Sir John Kerr war im Begriff, Whitlam durch einen konstitutionellen 154
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Staatsstreich abzulösen. Der Australian feuerte Fraser und Kerr in der kritischen Phase, bevor der Generalgouverneur schließlich zur Tat schritt, regelrecht an. In dieser Kampagne, mit der die einzige überregionale Zeitung des Landes ihren Teil zum Sturz der gewählten Regierung beitrug, scheute die Chefredaktion nicht einmal davor zurück, die Artikel ihrer Journalisten zu verfälschen und umzuschreiben. Die Journalisten begehrten auf und schickten Murdoch einen Protestbrief, der von 70 Redaktionsangestellten unterschrieben war: »Der Australian«, hieß es darin, »ist zum Witzblatt verkommen. Reporter, die früher mit Respekt empfangen wurden, wenn sie den Australien erwähnten, müssen heute Spotttiraden über sich ergehen lassen, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnen können.«63 Abschließend ließen sie Murdoch wissen, dass es ihnen unmöglich sei, einem »Propagandablatt« gegenüber Loyalität zu üben. Murdoch ignorierte den Brief, und Kerr setzte Whitlam ab. Die Journalisten gingen auf die Straße und verbrannten in der Innenstadt von Sydney ganze Stapel »ihrer« Zeitung. Hunderte von Passanten schlossen sich ihrer Protestkundgebung an. So etwas hatte es in Australien noch nie gegeben. »Wann hat je ein Demokrat Bewunderung dafür gezeigt, daß Macht im Dienst persönlicher Interessen genutzt wird?«, schreibt David Bowman, ehemaliger Chefredakteur des Sydney Morning Herald und einer der wenigen Journalisten in Australien, die Murdoch heute öffentlich kritisieren. »Es besteht die Gefahr, dass die Medien der Zukunft, die Kanäle der Massenkommunikation auf lokaler und globaler Ebene von den sozialen, kulturellen und politischen Werten einiger weniger Individuen und großer Konzerne beherrscht werden. Wer sich als Demokrat versteht, sollte sich mit allen Mitteln gegen das wehren, was Murdoch und andere Mediengiganten repräsentieren.«64 Wie jeder Alleinherrscher will Murdoch seine Dynastie festi155
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gen, vor allem in seinem Heimatland. Wenn er selbst sich einmal aufs Altenteil zurückzieht, müssen sich andere darum kümmern, dass Politiker beeinflusst und Gesetze umgangen werden, damit sein Firmenimperium weiter prosperiert. Für die Nachfolgegeneration wird also nunmehr ernsthaft der Weg bereitet. 1996 wurde die Sir Keith Murdoch Memorial Lecture ins Leben gerufen, eine Vortragsreihe zu Ehren von Rupert Murdochs Vater, einem einst berühmten Journalisten. In seiner Antrittsrede legte dessen Enkel Lachlan großen Wert auf die Feststellung, dass er von australischen Eltern abstamme und ein Produkt sowohl der australischen als auch der amerikanischen Kultur sei. Tatsächlich ist er in Großbritannien geboren und in den Vereinigten Staaten aufgewachsen. Gleichzeitig sollte eine Propagandakampagne dafür sorgen, dass der Erbprinz Rückhalt in der Bevölkerung gewann. Gemeinsam mit seinem Vater posierte Lachlan in bester Maxwell-Manier für den Adelaider Advertiser. Sie strahlten den Lesern von der Titelseite, den Sportseiten (Murdoch besitzt die Fernsehrechte an den Spielen der australischen Football-Erstliga) und aus dem Wirtschaftsteil entgegen. »Die Murdochs müssen damit rechnen«, schreibt David Bowman, »dass Rupert Murdochs Abgang den Politikern in Canberra den Rücken stärkt. Nur Canberra kann die australische Presse aus seinem Klammergriff befreien … Dass er die Macht und die Privilegien, zu denen ihm Paul Keating verholfen hat, überhaupt erlangen konnte, lag zum großen Teil an dem positiven Bild, das die australische Öffentlichkeit von ihm hatte. Aber allmählich wird den Leuten die Realität bewusst, und sie betrachten ihn nicht mehr als den Aussie, der auszog, um die Welt zu erobern, sondern als einen Auswanderer, der nach Australien zurückgekehrt ist, um sich hier zu bereichern.«65 Murdoch bezeichnete sich, an der Seite seines Sohnes stehend, als Australier. Er schien nicht zu begreifen, dass es in einer Ein156
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wanderungsgesellschaft nicht sonderlich gut ankommt, wenn einer freiwillig auf seine Staatsangehörigkeit verzichtet, vor allem, wenn er es nur tut, um Gesetze in dem Land zu umgehen, dessen Staatsbürger er nunmehr ist. Als er darüber hinaus auch noch die Stirn hatte, in dem Land, in dem er so gut wie keine Steuern zahlt, eine »Steuerreform« zu fordern, machten die Leute in Leserbriefen an die Redaktionen von Age und Sydney Morning Herald (die Murdoch bisher noch nicht gehören) ihrem Ärger Luft. »Wie kann es Rupert Murdoch wagen, die Worte ›wir‹ und ›uns‹ zu gebrauchen, wenn er von Australien spricht?«, lautete ein typischer Vorwurf. Oder: »Jemand sollte Herrn Rupert Murdoch daran erinnern, dass er kein Australier mehr ist. Er hat sein Heimatrecht für Geld verkauft und damit das Recht verspielt, Einfluss darauf zu nehmen, wie dieses Land geführt wird.«66 Die öffentliche Meinung ist unberechenbar, auch wenn manch einer glaubt, sie zu durchschauen oder gar zu beherrschen. In The Captive Press, einer klugen Analyse des Journalismus, vergleicht David Bowman die stetig wachsende Macht Rupert Murdochs mit dem Aufstieg des deutschen Verlegers Alfred Hugenberg in den 20er Jahren. »Nach zuverlässigen Schätzungen beherrschte Hugenberg 1930 fast 50 Prozent der deutschen Presse. Als strammer Rechter und Nationalist setzte er einiges daran, die Verbreitung demokratischer Ideen zu verhindern. Auf diese Weise trug er zum Scheitern der Weimarer Republik und zum Siegeszug des Nationalsozialismus bei.«67 Ähnlich äußert sich der Zert-Journalist Reiner Luyken, der den Ausdruck »kulturelles Tschernobyl« geprägt hat. »Hitler machte sich das Gesetz von Angebot und Nachfrage zunutze«, erklärt er im Gespräch mit mir. »Zweifellos gab er vielen Leuten das, was sie wollten. Aber sind Angebot und Nachfrage denn ein unumstößliches Gesetz? Müssen wir als Journalisten wirklich auf 157
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die Murdochs hören und ständig darauf achten, ob wir den Leuten das geben, was sie wollen, auch wenn es unseren Prinzipien und unserer Vorstellung von ehrlichem Journalismus widerspricht? Natürlich nicht. Als Deutscher weiß ich, daß Großbritannien nicht nur den Krieg gewonnen, sondern Deutschland auch die Freiheit zurückgegeben hat. Diese Freiheit ermöglichte es uns, Zeitungen zu machen, deren wichtigstes Anliegen es war, die Wahrheit zu ergründen und einen Beitrag zur Demokratie zu leisten, und nicht etwa, die Leser zufrieden zu stellen. Wer sich nicht für dieses Ziel einsetzt, wer nicht daran festhält, als hinge das liebe Leben davon ab, übt Verrat an einer Sache, für die Zehntausende von Soldaten sterben mussten.« Hugh Cudlipp, der renommierte Journalist und frühere Chefredakteur des Daily Mirror, geht noch weiter: »Selbst von einem Journalisten, der für das mieseste Blatt arbeitet, erwarte ich, dass er sich für die Schmutzarbeit zu schade ist.«68
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Die Glaubenswächter
Alles ist zu jeder Zeit von einem Dogma durchdrungen, einer allgültigen stillschweigenden Übereinkunft, über große und unangenehme Wahrheiten nicht zu reden. George Orwell
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ie BBC feierte den 60. Jahrestag des Fernsehens in Shepherd's Bush im Londoner Westen mit einem Galadiner und großer Preisverleihung. Ganz im Stil der Zeit wurde die Veranstaltung von einem multinationalen Konzern, dem Elektronikriesen Philips, gesponsort. Jeder Gast erhielt als Geschenk ein Miniaturmodell des ersten Radioapparats von Philips. Anwesend war alles, was beim Fernsehen Rang und Namen hat, darunter Sir Robin Day (Officer of the British Empire), Sir Jeremy Isaacs, Sir Christopher Bland, Sir Geoffrey Cox (Commander of the British Empire), Lord Thomson of Monifieth, Esther Rantzen (OBE), Kate Adie (OBE) und David Glencross (CBE). In einer Hochglanzbroschüre lobte sich die BBC selbst als »Garant für Qualität«. Die erste Seite der Broschüre zierte ein Porträtfoto von Robin Oakley, dem, so die Bildunterschrift, »Chef der politischen Redaktion in den Millbank Studios in Westminster, wo die Redakteure einen direkten Draht zu den Zentren der Macht, dem Parlament und der Downing Street 10, haben.« Zwei Seiten waren der Sendung Crimewatch UK gewidmet, »deren Bedeutung daran zu messen ist, dass fast 300 159
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Täter nach Hinweisen der Zuschauer gefasst werden konnten«. Der Höhepunkt des Abends war eine von der Royal Television Society produzierte Videohommage an die BBC. Erwähnt wurde darin nur ein einziger Film, in dem das politische und gesellschaftliche System, zu dem das Fernsehen gehört, auch nur indirekt kritisch hinterfragt wird. Es war dies Death on the Rock, eine Reportage über den von SAS-Leuten verübten Mord an drei IRA-Mitgliedern in Gibraltar, die vermutlich Schuld daran war, dass Thames Television die Sendelizenz verlor. Als die Festreden zu Ende gingen, entschwebten die prominentesten Gäste mit einer Flotte von Luxuskarossen mit Chauffeur. Wie bei einem Rathausempfang oder einer Flaggenparade war hier das Privileg der Macht zelebriert worden. 1968 überholte das Fernsehen die Zeitungen als wichtigste Informationsquelle der britischen Bürger. »Die Leute vom Funk«, schreibt der Medienhistoriker Michael Tracey, »hatten die Öffentlichkeit davon überzeugt, dass ihre Sendungen [verglichen mit der Presse] zwar weniger wortreich, dafür aber, bei Gott, vom Glanz der Wahrheit geadelt waren.«69 Heute genießt das Fernsehen in Großbritannien eine höhere Glaubwürdigkeit als in den meisten anderen Ländern, wo man sich, wenn auch manchmal unterschwellig, der politischen Einflussnahme auf die Fernseh- und Rundfunkanstalten bewusst ist. Im früheren Ostblock, wie in anderen totalitären Staaten, war die Einflussnahme des Staates für viele Bürger ein immanenter Bestandteil aller Medien, der, bewusst oder unbewusst, von vornherein mit einkalkuliert wurde. Seit den Kindertagen der BBC hat der britische Staat auf einen »Konsens« gebaut, der einem paternalistischen System entspringt und von diesem genährt wird. Die Öffentlichkeit wurde keiner Gehirnwäsche unterworfen, sie wurde konditioniert. In einem unveröffentlichten Vorwort zu seinem Roman Farm der 160
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Tiere legt George Orwell dar, dass Zensur in einer freien Gesellschaft viel subtiler und gründlicher greifen kann als in einer Diktatur, weil »unliebsame Gedanken unterdrückt und unbequeme Wahrheiten im Dunkeln gehalten werden können, ohne dass es eines offiziellen Verbots bedarf«.70 In den 50 Jahren, die vergangen sind, seit diese Worte geschrieben wurden, ist viel geschehen, aber die zentrale Botschaft hat ihre Gültigkeit nicht verloren. Damit ist keine Verschwörung gemeint, die auch gar nicht nötig wäre. Journalisten und Rundfunkleute verinnerlichen die Regeln und Trends der etablierten Macht nicht weniger bereitwillig als Historiker und Lehrer. Wie andere wichtige Funktionsträger des Staatsgefüges haben sie gelernt, ernsthafte Zweifel gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn zur Skepsis gemahnt wird, richtet sich diese nicht gegen das System selbst, sondern gegen die angebliche Inkompetenz seiner Vertreter oder gegen die öffentliche Meinung, wie sie von den Journalisten wahrgenommen wird. Ehrgeizige Nachwuchsreporter geben sich oft der Illusion hin, ein gewisser Zynismus gegenüber dem Mann auf der Straße mache den wahren Journalisten aus, Obrigkeitshörigkeit und Anbiederung an die so genannten Experten hingegen führe auf der Karriereleiter bergan. Auf diese Weise finden die Mythen und Scheinwahrheiten der Macht immer wieder unbemerkt und unangefochten Eingang in die Köpfe der Leute. »Ich möchte mir meinen Idealismus bewahren«, schrieb mir einmal ein junger walisischer Journalist, der frisch von der Uni kam. »Aber meine Kollegen finden es befremdlich, dass ich an den demokratischen Auftrag der Medien glaube und der Meinung bin, daß Institutionen und Ereignisse auch in Frage gestellt werden müssen. Ich bekomme regelmäßig zu hören, das würde sich mit der Zeit von selbst verlieren.« Wer die Grundsätze des Systems in Frage stellt, wird unmerk161
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lich an den Rand gedrängt, ein Prozess, den ein altgedienter Journalist einmal als »sanften Fenstersturz« bezeichnet hat.71 Solche Leute werden, wenn sie nicht vorsichtig agieren, abwertend in die Schublade der »engagierten Journalisten« gesteckt, obwohl ihr Eintreten für die Freiheit der Gedanken vielleicht gar nichts ist gegen den heimlichen Eifer derjenigen, die dem System treu ergeben sind. In kaum einem anderen Land wirkt das Fernsehen so prägend auf die öffentliche Meinung wie in Großbritannien. »Informationen« werden von der BBC mit einem solchen professionellen Ernst vermittelt, dass es fast unmöglich ist, nicht an ihren Wahrheitsgehalt zu glauben. Indem er es meisterlich verstanden hat, den Schein von Professionalität, Unparteilichkeit und liberalem Ethos um sich zu verbreiten, hat sich der »öffentliche Rundfunk« in Großbritannien zu einem subtilen und vielseitigen Instrument der staatlichen Propaganda und Zensur entwickelt. Beispielhaft hierfür ist der viel gerühmte Auslandsdienst der BBC. Als der Generaldirektor der BBC, John Birt, seine Pläne zum Kostenabbau vorlegte, liefen nicht nur Journalisten dagegen Sturm, sondern auch so angesehene Vertreter des Establishments wie General Peter de la Billiere, britischer Kommandeur im ersten Golfkrieg, und Admiral Sir Sandy Woodward, Kommandeur der Seestreitkräfte im Falklandkrieg. Auch der NATOGeneral Sir Anthony Farrar-Hockley gehörte zu den Unterzeichnern der Protestnote. Ursprünglich unter dem Namen Empire Service, später dann als World Service wurde und wird der Auslandsdienst der BBC vom Außenministerium finanziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte er dazu beitragen, »den Commonwealth und das britische Empire zu erhalten und zu stärken, Handelsbeziehungen zu fördern und Investitionen im Ausland zu schützen«. 1948 war dem World Service nach dem Willen des Labour-Kabinetts die Auf162
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gabe zugedacht, durch »systematische und heftige Angriffe« gegen die kommunistische Ideologie zum Sieg im Kalten Krieg beizutragen. Kritik an den Regierungen der »freien Welt« war verpönt. Seit dieser Zeit hat sich der World Service stets auf der Seite des Kapitalismus geschlagen und die Politik Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Vietnam bis zum ersten Golfkrieg sowohl ganz offen als auch stillschweigend unterstützt. General de la Billiere und Admiral Woodward hätten keinen Grund gehabt, sich über die Berichterstattung zu ihrer Kriegsführung zu beklagen. Das soll nicht heißen, dass das liberale Image des BBCAuslandsdienstes täuschen würde oder dass er nicht der beste staatliche Sender seiner Art wäre. Verglichen mit dem propagandistischen US-Sender Voice of America bewahrt sich die BBC ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Ihren Auslandskorrespondenten steht es frei, tyrannische Regime zu kritisieren – solange sie damit nicht gegen »westliche Interessen« verstoßen. Dann sieht die Sache schon anders aus. Die indonesische Diktatur ist so ein Fall. Als 1996 in den Straßen Jakartas die seit Jahrzehnten größten Demonstrationen gegen das Suharto-Regime und für eine Demokratisierung des Landes stattfanden, bezeichnete ein Korrespondent des World Service die Unruhen als »Randale: Wir haben hier über 20 Millionen Jugendliche zwischen 17 und 21 Jahren, mit denen die Hormone durchgehen.« Sein Interviewpartner in London widersprach ihm nicht. Die »Stabilität« des Landes hing diesem Korrespondenten zufolge von den Schwankungen des Börsenkurses ab. Dass Suharto zunehmend in die Isolation geriet und die Unruhen zu eskalieren drohten, wurde mit keinem Wort erwähnt.72 Weit entfernt davon, die von Lord Macaulay gepriesene »vierte Kraft im Staat« zu sein, fungiert der vom Fernsehen dominier163
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te seriöse Journalismus in Großbritannien weitgehend als verlängerter Arm der Regierung. Zu seinen Aufgaben gehört es, politische Absichten in der Öffentlichkeit »zu ventilieren«, um ihre Akzeptanz zu testen, die politische Debatte auf die – wie es in der Festschrift der BBC heißt – »Zentren der Macht« zu beschränken und vor allem den westlichen Einfluß in der Welt zu stärken. Zu den wichtigsten Funktionen der »Kommunikatoren« gehört es, den Schuldgefühlen entgegenzuwirken, die sich im Westen angesichts von Kriegen und Terrorismus, der zunehmenden Verarmung breiter Massen, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Unterdrückung der Menschenrechte einstellen könnten. Dies erreicht man durch Verdrängung der Realität im großen Stil, durch die Wiederholung landläufiger Halbwahrheiten und die Vernebelung der Ursachen. »Ich habe in jüngster Zeit haufenweise Material gefunden, das die britische Außenpolitik der Nachkriegszeit in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt«, schrieb der Historiker Mark Curtis 1996. »Es lag offensichtlich unbeachtet im Bundesarchiv.« Die Dokumente belegen, dass Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie Indonesien, der Türkei und Kolumbien, »die nicht Ausdruck einer ›Doppelmoral‹ waren, sondern systematisch und permanent begangen wurden«, von der britischen Regierung wissentlich hingenommen und gedeckt wurden. »Weder die konservativen noch die liberalen Medien zeigten großes Interesse daran, auf dieses Thema einzugehen …«73 Im Fernsehen erfahren wir wenig über die vielen Millionen Betroffenen, genauer gesagt über den Rest der Welt. Einer Programmstudie zufolge sind nur drei bis vier Prozent der Hauptsendezeit solchen Themen gewidmet, und sie finden sich in der Regel auf einem der »Minderheitenkanäle« wieder.74 Die wenigen Nachrichten über einen großen Teil der Menschheit sind 164
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nach einem klischeehaften Muster gestrickt, das selten in Frage gestellt wird. Da wird Mobutu, der ehemalige Diktator Zaires, als verabscheuungswürdige Figur gezeichnet, als hätte er sein Land alleine ausgeplündert. Dass er ein vom Westen angeheuerter Kreuzritter gegen den Kommunismus war, wird nicht erwähnt. Die Regierung von Sierra Leone, eine »Demokratie in den Kinderschuhen«, fällt einem Staatsstreich zum Opfer, der die »leidgeprüfte Bevölkerung der ehemaligen britischen Kolonie« in die »Anarchie« stürzt. Die Botschaft ist immer die gleiche: In den guten alten Tagen der Kolonialzeit ging es den Leuten besser. Von der postkolonialen Verschuldung bei westlichen Institutionen, vornehmlich bei britischen Banken, ist nicht die Rede. Für mehr als kurze, meist bloß rhetorische Zusammenfassungen, die weniger »prägnant« als sanktioniert sind, reicht die Sendezeit nicht. Erklärungen und Behauptungen, die der landläufigen Meinung entsprechen, gelten als »objektive Wahrheit«, während kritische Stimmen als »subjektiv« abgetan werden.75 Die Sprache spielt eine entscheidende Rolle; Begriffe wie »Demokratie«, »Freiheit«, »Entscheidungsfreiheit« und »Reform« sind ihres Inhalts beraubte Worthülsen. Das ist zwar nichts Neues, greift aber stärker um sich durch die technische Entwicklung einer »Informationsgesellschaft« des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die doch in Wirklichkeit nur daraus besteht, dass mehr Medien in der Hand immer weniger großer Gesellschaften konzentriert sind. Eine öffentliche Diskussion darüber findet praktisch nicht statt, aber viele Anzeichen sprechen dafür, dass sich in der Öffentlichkeit ein intuitives Mißtrauen gegen die verborgenen Gesetze der Medienmacht und gegen den Einfluss der Medien auf unser Leben regt. In den bürgerlichen Medien, vor allem in Rundfunk und Fernsehen, ist die weit verbreitete und subtile freiwillige Zensur ein 165
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Tabuthema. Anschaulich wurde dies belegt, als es 1997 bei der BBC zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Direktorium und Nachrichtenredaktion kam. Dabei ging es um die Ernennung von fünf Direktoren, die für alle Programme verantwortlich sein sollten. Die Journalisten führten dagegen ins Feld, dass die BBC dadurch zu einem Abklatsch von CNN gemacht und ihrer Meinungsvielfalt beraubt würde. Der BBCKorrespondent Fergal Keane beschwor den »ehernen Grundsatz des Journalismus, der unser Vermächtnis und unser Auftrag ist«, und erklärte, er wolle »lieber in London Straßen kehren, als diesen zu verraten«.76 Im Grunde genommen ging es bei der ganzen Auseinandersetzung aber nur um die Form. Dass es bereits einen breiten, fast unbewussten, mit wenigen Ausnahmen einhelligen Meinungskonsens gab, der, wie sich in der Berichterstattung über weltbewegende Ereignisse wie den Golfkrieg oder Diana Spencers Tod zeigte, das Echo einer Corporate Identity war, kam überhaupt nicht zur Sprache. Wie und warum es zu dieser Uniformität kommen konnte und welche subtilen Kräfte dabei wirken, ist ein Thema, das ganz oben auf dem Lehrplan der journalistischen Fakultäten stehen sollte, deren Anliegen es ist, unabhängige und kritische Journalisten hervorzubringen; aber darüber wird selten auch nur diskutiert. Vielmehr werden die Studenten hier, oft von Lehrern, die früher selbst im Metier beschäftigt waren, kollektiv auf eine Lehre eingeschworen, die den staatlichen Einfluss unter einem Schleier »heiliger Prinzipien« verbirgt. Zu diesen Prinzipien gehören die »drei Leitbegriffe«, die der Gründer der BBC, Lord Reith, formuliert hat: »Unparteilichkeit«, »Objektivität« und »Ausgewogenheit«. Die von Reith geschaffenen Mythen, das muss man ihnen lassen, haben sich dauerhaft eingeprägt. Als Propagandist war Reith ein echter Pionier. Seine »drei Leitbegriffe« hatten stets und überall Gültigkeit, solange 166
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die bestehende Ordnung nicht gefährdet war. Reith selbst demonstrierte dies anschaulich während des Generalstreiks im Jahr 1926, indem er die Propagandareden von Premierminister Stanley Baldwin, die er zum großen Teil selbst verfaßt hatte, großzügig ausstrahlte, während die Gewerkschaftsführer ihren Standpunkt erst öffentlich darlegen durften, nachdem der Streik beendet war. »Reith ging [aus dem Streik] als Held hervor«, schreibt Patrick Renshaw in seiner Studie The General Strike. »[Hier war] ein junger Mann, der verantwortungsvoll gehandelt und dabei die kostbare Unabhängigkeit der BBC bewahrt hatte. Aber obwohl sich dieser Mythos lange hielt, hatte er mit der Realität wenig zu tun … Die Unabhängigkeit wurde in Wirklichkeit damit erkauft, dass man tat, was die Regierung wollte … Baldwin hatte erkannt, dass es für die Regierung leichter war, wichtige Ziele zu erreichen und ihre eigene Propaganda unterzubringen, wenn sie der BBC zugestand, den Schein der Unparteilichkeit zu wahren.«77 Aber selbst zu dieser Zeit war der Gedanke nicht neu. Schon im Burenkrieg und im Ersten Weltkrieg mauserten sich Journalisten, die sich die Unparteilichkeit als oberste Tugend auf die Fahnen geschrieben hinten, zur bloßen Propagandastimme ihrer Regierung. »Unsere Berichte mussten nicht zensiert werden«, erklärte der Times-Korrespondent Sir Philip Gibbs einmal. »Wir waren unsere eigenen Zensoren.«78 Und Premierminister Lloyd George vertraute C.P. Scott, dem Herausgeber des Manchester Guardian, an: »Wenn die Leute [die Wahrheit] wüssten, wäre der Krieg morgen zu Ende. Aber natürlich wissen sie sie nicht und können sie auch nicht wissen.«79 In den Augen des Historikers Arthur Ponsonby »gab es in der Geschichte des Journalismus keine unrühmlichere Zeitspanne als die vier Jahre des Ersten Weltkriegs«.80 167
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Aber im Laufe des Jahrhunderts sollten noch weitere unrühmliche Beispiele folgen. 1945 taten die Alliierten alles, um zu vertuschen, welche verheerende Wirkung der Abwurf der Atombomben in den betroffenen japanischen Städten hatte. Die Medien, einschließlich der BBC, hielten sich an die offizielle Sprachregelung. Nur einem australischen Einzelgänger, Wilfred Burchett, der damals für den Daily Express schrieb und um ein Haar von den Alliierten aus Japan ausgewiesen worden wäre, weil er heimlich nach Hiroshima gereist war, um sich selbst ein Bild zu machen, blieb es überlassen, die Dinge beim Namen zu nennen. Eine Bemerkung, die der United-Press-Korrespondent Robert C. Miller 1952, auf dem Höhepunkt des Koreakriegs, machte, ruft Philip Gibbs' Worte in Erinnerung: »Die Zeitungen haben Geschichten aus Korea gedruckt, die frei erfunden waren … Viele von uns wussten, daß sie falsch waren, aber wir mussten sie weitergeben, weil es sich um offizielle Verlautbarungen der militärischen Hauptquartiere handelte, und auch die Verantwortlichen dort wussten, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen.«81 Anders, als es einer der hartnäckigsten Mythen des modernen Journalismus will, wurde der erste »Fernsehkrieg«, ausgefochten in Vietnam, hauptsächlich aus amerikanischer Sicht übertragen. Zwar wurde die Berechtigung des militärischen »Engagements«, wie man die US-Invasion nannte, gelegentlich in Zweifel gezogen, nicht aber die amerikanischen Beweggründe, die im Wesentlichen als gut gemeint, sogar als »edel«, und im schlimmsten Fall als starrköpfig betrachtet wurden (siehe S. 216f.). Auch der Falklandkrieg im Jahr 1982 wurde aus einem »edlen Grund« geführt. Aus einem durchgesickerten Protokoll der wöchentlichen Vorstandssitzungen der BBC geht hervor, dass sich die Kriegsberichterstattung nach dem Willen des Direktoriums »hauptsächlich auf die Regierungsverlautbarungen« zu stützen habe und dass Unparteilichkeit eher als »überflüssiger Störfak168
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tor« empfunden wurde.82 Das Konzept ging auf. Da die britische Regierung die von der peruanischen Regierung ausgearbeiteten Pläne zur friedlichen Beilegung des Konflikts zwischen Großbritannien und Argentinien in ihren Verlautbarungen kaum erwähnte, fanden sie auch in der BBC nur ein geringes Echo. Wie dicht diese Pläne vor dem Erfolg standen, sollte die Öffentlichkeit nie erfahren. Am 13. Mai 1982 berichtete Edward Heath in einem ITNInterview, es seien von Seiten der Argentinier nur noch drei minimale Änderungen am Friedensplan gefordert worden. Diese seien, so meinte er, so geringfügig, dass man sie schlechterdings nicht ablehnen könne. Premierministerin Thatcher lehnte sie dennoch rundweg ab – und das kurze Interview mit Heath war die einzige Gelegenheit, bei der im Fernsehen erwähnt wurde, dass die britische Regierung durchaus die Möglichkeit hatte, eine andere Entscheidung zu treffen. Die Geschichte wurde dann unter den Tisch gekehrt, und die Invasion nahm ihren Lauf. Als der Krieg vorüber war, zeigten die Fernsehleute ihr wahres Gesicht. Hatten sie zuvor ihre Objektivität als eine »Frage der Ehre« verteidigt, so priesen sie jetzt auf fast penetrante Weise ihre Parteinahme für Königin und Vaterland, als wäre der Krieg eine nationale Bedrohung gewesen, was nicht der Fall war. Wenn sie überhaupt etwas beklagten, dann die Tatsache, dass man ihnen nicht genug Gelegenheit gegeben hatte, »vor Ort« zu sein und den »Propagandakrieg« zu gewinnen. Wer diese Art von Berichterstattung in Frage stellte, riskierte, wie schon in vorangegangenen Kriegen, einiges. Die Channel-4Reihe The Friday Alternative wurde abgesetzt, weil in einer Folge über Recherchen der Glasgow Media Group berichtet wurde, die zeigten, wie Journalisten sich während des Falklandkrieges von der Regierung hatten instrumentalisieren lassen.83 Eine Studie offenbarte wenig später, daß sich sowohl BBC als auch ITN 169
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für Thatchers Ziel hatten einspannen lassen, eine politische Verbindung zwischen ihrem »Sieg« über die Argentinier und ihrem »Kampf« gegen die Arbeiter im eigenen Land herzustellen. »Wir haben zu einem neuen Selbstbewusstsein gefunden«, erklärte sie in einem ITN-Interview, »das aus dem wirtschaftlichen Ringen in der Heimat entsprungen ist und 8000 Meilen entfernt auf die Probe gestellt wurde und sich bewährt hat.«84 Als der für den Arbeitskampf zuständige Berichterstatter der BBC einen von Thatchers Ministern fragte: »Wird die Regierung dem Streik [der Bergarbeiter] mit der gleichen Entschlossenheit begegnen, die sie während des Falklandkrieges gezeigt hat?«, erhielt er die erwartete Antwort.85 Seriöse Journalisten gingen in ihren Berichten über den Kohlestreik 1984-85 nicht so weit wie die Boulevardpresse, beispielsweise der Daily Express, der dem Vorsitzenden der Bergarbeitergewerkschaft Arthur Scargill das »heimliche Eingeständnis, gelogen zu haben«, in den Mund legte, oder die Sun, die ein Foto Scargills so manipulierte, daß er Ähnlichkeiten mit Hitler hatte.86 Aber sie zeichneten im Fernsehen Abend für Abend ein Bild der Streiks, das die Bergarbeiter als gewalttätige, aggressive Gesetzesbrecher zeigte, als den »Feind im Inneren«. Kamerateams, die in Beirut nicht gezögert hatten, beide Seiten zu filmen, machten nun brav hinter den Polizeiabsperrungen Halt. Ihre Aufnahmen zeigten die wütenden Gesichter von Bergarbeitern, selten die Polizei und nie die fast paramilitärisch organisierten Angriffe gegen Bergarbeitersiedlungen und das Leid, das damit verursacht wurde. Als der Streik vorbei war, dokumentierte die in London ansässige Bürgerrechtsorganisation National Council for Civil Liberties das Ausmaß der polizeilichen Brutalität. »Entgegen dem Eindruck, der durch die Medien permanent erzeugt wurde«, heißt es in der Dokumentation, »fanden die Streikaktionen weitgehend 170
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gehend geordnet und in bescheidenem Umfang statt.« Nur dem Guardian war der Bericht eine Erwähnung wert.87 Dass der Krieg der Regierung gegen die Bergarbeiter nur ein Ziel hatte, nämlich der Kohlenindustrie den Todesstoß zu versetzen, wurde in den Medien als »Märchen« belächelt. Und als Arthur Scargill fast hellseherisch die massenhafte Stilllegung von Minen voraussagte, falls der Streik verloren ginge, wurde dies als Propaganda abgetan. Obwohl die Reporter in den Kohlenrevieren verlässliche Hinweise darauf erhielten, dass die Geheimdienste ihre Finger im Spiel hatten, erwähnte keiner von ihnen, aufweiche Weise die Regierung mit Hilfe von MI5-Leuten die Bergarbeitergewerkschaft infiltriert hatte und zu zerschlagen versuchte. Zehn Jahre gingen ins Land, bis die Öffentlichkeit aus Seamus Milnes Buch The Enemy Within die Wahrheit über die von einer Spezialeinheit des MI5 durchgeführte und von Margaret Thatcher persönlich autorisierte Aktion gegen Cargill und seine Gewerkschaft erfuhr.88 Die Kampagne gegen Scargill war kein bloßer Rachefeldzug des Mirror-Chefredakteurs Robert Maxwell, sie hätte ohne die Unterstützung seriöser Journalisten keine Aussicht auf Erfolg gehabt. In Bergarbeiterkreisen galten Reporter aus allen Medienbereichen als »Thatchers Fronttruppen«. Erst als der Streik verloren war und unzählige Verfahren gegen Bergarbeiter von den Gerichten eingestellt wurden, weil die Vorwürfe der Körperverletzung und des Landfriedensbruchs offensichtlich falsch waren, dämmerte einigen wenigen Journalisten, wie sehr sie sich vom Staat hatten manipulieren lassen. Viele andere hielten Arthur Scargill auch dann noch für schuldig, als die im Daily Mirror und im Cook Report des Senders Central Television verbreitete Lüge, er habe seine Hypothekenschulden mit Geldern aus Libyen bezahlt, aufgeflogen war. Ohne jede eigene Recherche »geiferten seriöse Journalisten 171
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derartig gegen Scargill, dass es an Raserei grenzte«, schreibt Milne. Alles, was Scargills Rechtsanwälte taten, um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe zu widerlegen, wurde als »typisches Kominterngemauschel« abgetan. Der Gewerkschaftsvorsitzende musste sich Vergleiche mit dem rumänischen Diktator Nicolae Ceauşescu gefallen lassen, der kurz zuvor standrechtlich erschossen worden war. Bis zum heutigen Tag hat sich keiner der Journalisten, die diesen, wie Milne schreibt, »bedingungslos prinzipientreuen« Mann denunziert haben, zu einer Entschuldigung durchringen können. Ähnliches geschah, als 1994 bekannt wurde, dass sich der Feuilletonredakteur des Guardian, Richard Gott, Reisen von der sowjetischen Botschaft in London hatte bezahlen lassen. Die bei der Konkurrenz beschäftigten Journalisten stürzten sich begeistert auf die Nachricht. Dass sich der Guardian zu dieser Zeit im Anfangsstadium einer noch undurchschaubaren Kampagne befand, die der politischen Laufbahn des in Kreisen der Rüstungsindustrie bestens etablierten Ministers Jonathan Aitken ein jähes Ende bereiten sollte, wurde kaum zur Kenntnis genommen. Für die Times war Richard Gott nicht weniger als ein »Vaterlandsverräter«. Sicher hatte der Journalist gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit verstoßen, aber er hatte sich nicht in den Dienst pekuniärer westlicher Interessen gestellt, wie es bei Journalisten gang und gäbe ist. »Die Gott-Affare«, hieß es in einem Leitartikel der Times, »hat die These vom moralischen Gleichgewicht zwischen der Sowjetunion und dem Westen wiederbelebt. Es wurde behauptet, Richard Gotts Verbindungen zum KGB seien nichts anderes als die Kontakte, die Journalisten mit westlichen Geheimdiensten pflegen. Aber das ist nicht dasselbe. Viele britische Journalisten erhielten während des Kalten Krieges Zuwendungen von CIA und MI6. Aber keiner von ihnen unterstützte ein totalitäres, dem eigenen Staat feindlich gesonnenes 172
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Regime …«. Der von mir kursivierte Satz enthält ein erstaunliches Eingeständnis. Was genau muss man sich unter diesen »Zuwendungen« vorstellen? Was mussten die Journalisten tun, um in ihren Genuss zu kommen? Und wer waren die Journalisten? Sollte man sie nicht wie Richard Gott beim Namen nennen? Sie haben doch nichts zu befürchten, da man sie ja mit den Agenten des Stalinismus »moralisch nicht gleichsetzen« kann. Die »Zuwendungen« kamen unter anderem von Beauftragten des Information Research Departments (IRD), einer Geheimabteilung für politische Kriegführung im Außenministerium, die in den 1950er und 1960er Jahren Dutzende von Fleet-StreetJournalisten »beschäftigt« hatte.89 Das IRD arbeitete mit weißer, grauer und schwarzer Propaganda (Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen), gefälschte amtliche Dokumente, Verleumdungen und frei erfundene Geschichten wurden an die Medien lanciert. In den antikolonialen Kämpfen in Kenia, Malaya und Zypern war die Taktik des IRD so erfolgreich, dass die journalistische Aufbereitung zu einem Gemisch aus verzerrten und falschen Geschichten geriet, das die wahren Ziele und das oft grausame Vorgehen der Briten im Verborgenen ließ. Auf diese Weise wurde das Blutvergießen in Malaya zur beispielhaften Niederschlagung eines Rebellenaufstandes uminterpretiert – eine Lesart, die sich bis heute gehalten hat. Der Volksaufstand in Kenia wurde und wird fälschlicherweise als terroristischer Mau-MauFeldzug gegen die Weißen dargestellt. Und der Kampf um fundamentale Menschenrechte in Nordirland war und ist eine gerechte Verteidigung von Recht und Ordnung gegen den Terror der IRA (siehe S. 165-70). Das Zusammenspiel von politischem und militärischem Terror von Seiten der Briten war nicht existent: eine Fata Morgana, die den Begriff »Desinformation« auf den Punkt brachte. 173
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Den dauerhaftesten Erfolg erzielten das IRD und seine »Kontaktleute« in den Medien, indem sie die Sowjetunion zur Bedrohung und Quelle einer weltweiten Verschwörung stilisierten. Dies legitimierte das atomare Wettrüsten, das die USA in der Kennedy-Ära hauptsächlich mit der Begründung einer angeblichen »Raketenlücke« – ein Triumph der Desinformation – begonnen hatten, indem sie nukleare »Erstschlagwaffen« in Westeuropa stationierten. Wäre es zu einem Krieg mit der Sowjetunion gekommen, hätten die Journalisten, die von der Times von jeglicher moralischer Vergleichbarkeit mit dem Stalinismus freigesprochen worden waren, ihren Teil der Verantwortung tragen müssen. 1991 ergaben Nachforschungen des Guardian-Reporters Richard Norton-Taylor, dass 500 prominente Briten über die korrupte und jetzt bankrotte BCCI (Bank of Commerce and Credit International) in London Gelder von der CIA bezogen. 90 dieser Personen waren Zeitungs- und Fernsehjournalisten, viele von ihnen in »leitenden Positionen«. Journalisten, die direkt für die Geheimdienste arbeiteten, sind keine Seltenheit. Ein prominenter Journalist und Autor trat unmittelbar nach seinem Hochschulabschluss in Oxford in die Dienste sowohl des britischen als auch des US-amerikanischen Geheimdiensts ein. An alldem überrascht eigentlich nur, dass es so erfolgreich verheimlicht werden konnte. Von einem Büro im Londoner Bush House, wo der Auslandsdienst der BBC seinen Sitz hat, wurden 40 Jahre lang die Namen von Stellenbewerbern zur »Überprüfung« an den MI5 weitergereicht. Journalisten, die als kritisch galten, wurden von der BBC als »unzuverlässig« eingestuft und abgelehnt. Hätte der Observer diese geheime Praxis nicht 1985 ans Licht gebracht90, würde sie wohl heute noch angewandt. Im Grunde genommen waren die Bemühungen aber gar nicht notwendig. Viele altgediente Journalisten sind stolz darauf, als »zu174
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verlässig« zu gelten, und sie lassen sich, von Zeit zu Zeit staatlicherseits belobigt, auch ohne amtliche Intrigen und materielle Zuwendungen bereitwillig beeinflussen. Ihnen erscheint es vollkommen normal, wenn ihnen vom Staat »Beziehungen« verschafft und »Türen geöffnet« werden. So gehören zum Beispiel einflussreiche Fernseh- und Zeitungsjournalisten ebenso wie einige Mitglieder des BlairKabinetts zum Netzwerk der »Successor Generation«, einer 1985 mit Geldern einer für ihre Unterstützung rechtsextremistischer Umtriebe bekannten Stiftung in Philadelphia ins Leben gerufenen britisch-amerikanischen Organisation. Den Anstoß zur Gründung des Netzwerks gab, auch wenn dies nirgendwo offen zugegeben wird, ein Aufruf Reagans zu Zeiten des Kalten Krieges an die »Nachfolgegenerationen« auf beiden Seiten des Atlantiks, »künftig in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zusammenzuarbeiten«. Zu jener Zeit machte man sich in Washington große Sorgen um die Friedensbewegung, insbesondere um den Widerstand gegen die Stationierung von Cruise Missiles in Großbritannien. Heute sind die Ziele des Netzwerks weiter gefasst. Es soll nach Aussage des ehemaligen Studiendirektors am Thatcher-nahen Zentrum für politische Bildung dazu beitragen, »die angloamerikanischen Beziehungen zu fördern und zu vertiefen, vor allem, wenn einige Mitglieder bereits jetzt oder möglicherweise später einflussreiche Positionen bekleiden sollten«. Sir John Kerr, britischer Botschafter in Washington, sagte es noch deutlicher. In einer Rede vor Mitgliedern der »Successor Generation« sagte er 1997, dass die »starke Verbindung einflussreicher Mitglieder über den Atlantik hinweg die Botschaft überflüssig« zu machen drohe. In der Tat war die »Successor Generation« »eindeutig eine ernst zu nehmende Konkurrenz für die Diplomaten«!91 Ein US-amerikanisches Mitglied des Netzwerks be175
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zeichnete es als eine der Aufgaben seiner Organisation, »Führungspersönlichkeiten heranzuziehen« und die »weltweit führende Rolle [Großbritanniens und der USA] zu stärken«.92 Es ist kaum verwunderlich, dass man in den Medien nur selten etwas über diese Organisation erfährt. Ein Instrument zur Erhaltung der »weltweit führenden Rolle« ist natürlich die NATO. Als der Guardian-Journalist Ian Black 1997 vom NATO-Gipfel in Madrid berichtete, stellte er irritiert fest, dass es über die Osterweiterung der NATO, die von kritischen Stimmen als »ein Fehler von historischen Dimensionen« und als möglicher »Auslöser eines neuen, 22 Millionen Pfund teuren Wettrüstens und Gefahr für den Demokratisierungsprozess in Russland« bezeichnet wurde, in der Öffentlichkeit kaum eine nennenswerte Diskussion gab.93 An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass nicht von einer Verschwörung die Rede ist, sondern eher von einer Weltsicht, die hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, das Produkt einer Klassengesellschaft ist. »Das britische Klassensystem«, schreibt der Mandela-Biograf Anthony Sampson, »ist wie eine Zwiebel, man stößt auf immer neue Schichten.«94 Der Zusammenhang von Klassenzugehörigkeit und Karriereerwartung ist eine Selbstverständlichkeit, über die niemand spricht, man spürt das wärmende Gefühl der Macht. Für manche ist dies eine hehre Verbindung, die zwar nichts mit Journalismus, aber umso mehr mit dem Erhalt des Status quo zu tun hat. Sie sind die Glaubenswächter. Wächter stehen in dem Ruf, aufrechte und stolze Gestalten zu sein. In seiner Autobiografie News front the Front erzählt der ITN-Korrespondent und Nachrichtenredakteur Sandy Gall begeistert von seinen Kontakten zur Regierungsspitze und von den Diensten, die er dem MI5 erwiesen hat. »Ein Freund vom britischen Geheimdienst rief mich an«, schreibt er, »und sagte mir, 176
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der Außenminister sei nach wie vor besorgt über die Lage in Afghanistan und ihm liege viel daran, dass der ›Krieg bei der britischen Öffentlichkeit nicht in Vergessenheit gerät‹; was man da machen könne. Ob ich mit jemandem aus seinem Amt sprechen könne, um ihn und Lord Carrington in den Genuss meines Rats kommen zu lassen? Ich fühlte mich geschmeichelt und sagte zu …« Afghanistan wurde Galls Spezialgebiet. In den 80er Jahren unternahm er mehrere Reisen mit den Mudschaheddin, den Rebellen, die gegen die sowjetische Besatzungsmacht kämpften. Im Vorfeld einer dieser Exkursionen, die in Pakistan begannen, besuchte er den pakistanischen Diktator Zia ul-Haq, der Gall offenkundig als wichtigen Verbündeten betrachtete. Als Machthaber eines Frontstaates in diesem kritischen Konflikt des Kalten Krieges mit der Sowjetunion erfuhr General Zia ul-Haq Unterstützung von CIA und MI6. Beim Spaziergang im Park des Generals, der zu den grausamsten Diktatoren und unerbittlichsten Fundamentalisten der Welt zählt, erkundigte sich dieser, ob er etwas für Gall tun könne. ›»Ja‹, sagte ich [Gall], ›könnten Sie uns nicht ein paar SAM-7Raketen mitgeben?‹ Zia lachte. ›SAM-7-Raketen? Warum denn nicht, aber wofür?‹ ›Wir werden bestimmt von MI-24Kampfhubschraubern beschossen, und wenn wir einen davon vom Himmel holen könnten, würde das spektakuläre Bilder geben.‹ Zia lachte wieder, er hatte verstanden. ›Ich kümmere mich darum‹, versprach er. ›Sie bekommen Ihre Raketen.‹« Gall bekam seine Rakete, und, so erzählt er, »wir feuerten sie auch ab«, aber leider funktionierte sie nicht. Nach London zurückgekehrt, traf er sich mit dem Chef des MI6 zum Mittagessen. »Es war eine ganz zwanglose Angelegenheit«, schreibt Gall, »der Koch hatte frei, und so gab es kalten Braten, Salat und jede Menge Wein.« Der oberste Dienstherr aller britischen Spione wollte 177
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Informationen über Afghanistan von Gall, und der fühlte sich natürlich wieder einmal »sehr geschmeichelt und gab das, was er aus erster Hand wusste, bereitwillig weiter«. Darüber hinaus verzichtete Gall auf jeden Versuch, »seinem Gesprächspartner als Gegenleistung ebenfalls Informationen zu entlocken«, obwohl »das kein für einen Journalisten typisches Verhalten war«. Der Grund für seine Zurückhaltung war das Wissen, dass der Chef des MI6 trotz seines »onkelhaften Charmes viel zu erfahren war, um sich gegen seinen Willen irgendwelche Fakten entlocken zu lassen«.95 Ein interner Lagebericht der CIA offenbarte 1992 die ausgezeichneten Verbindungen der Behörde zu den Medien. »Wir unterhalten Beziehungen zu Reportern«, heißt es in dem Bericht, »[die] uns helfen, fehlgeschlagene Operationen zu Erfolgsgeschichten umzuschreiben. Manchmal reicht ein einziges Telefongespräch, um die Medien zufriedenzustellen, bei anderen Gelegenheiten, wie der sechsteiligen Serie der BBC beispielsweise, müssen wir intensiv auf unsere Quellen zurückgreifen.«96 Die BBC-Serie, von der hier die Rede ist, stammte aus der Feder von John Ranelagh, der früher einmal Recherchen für die Konservativen angestellt und als Redenschreiber für Margaret Thatcher fungiert hatte. »Intensiv auf CIA-Quellen« gestützt, »widerlegte« Ranelagh in seinem Film beispielsweise den Vorwurf, der berüchtigte Geheimdienst sei am Sturz mehrerer Regierungen beteiligt gewesen und habe 1962 aus durchschaubaren Gründen die Kubakrise bewusst herbeigeführt. »Von allen Themen, mit denen sich der US-Geheimdienst seinem Auftrag gemäß zu befassen hatte«, heißt es bei Ranelagh, »war keines so wichtig wie die Zunahme des internationalen Terrorismus, ein Thema, das der Reagan-Regierung sehr am Herzen lag.«97 Was in dem Film nicht zur Sprache kommt, ist die Frage, ob nicht 178
Die Glaubenswächter
die CIA selbst, vor allem unter der Reagan-Regierung, das mächtigste Instrument des internationalen Terrorismus war, worauf doch zahlreiche Indizien hindeuten. Allein in der ersten Amtszeit Ronald Reagans wurden »8000 nicaraguanische Zivilisten durch von der CIA ausgebildete, instruierte und bezahlte Contras ermordet«, schreibt der Historiker William Blum.98 1994 marschierten die Amerikaner in Haiti ein. »Das Land verrottete in Amerikas Hinterhof und schrie förmlich um ›Hilfe‹«, lautete der Kommentar des ITN-Reporters Bill Neely. Einem BBC-Bericht zufolge hatte das Pentagon »Haiti die Demokratie gebracht«, was ein Korrespondent noch um die Bemerkung ergänzte: »Die Tage, in denen Amerika der nette Onkel von nebenan war, sind vorbei.«99 Keiner dieser großen Sender erwähnt die mörderischen Invasionen, mit denen der nette Onkel Haiti seit 1849 überzogen und dafür gesorgt hat, dass, so der USamerikanische Historiker Hans Schmidt, »demokratische Institutionen im Land systematisch unterdrückt und den Menschen elementare politische Freiheiten vorenthalten wurden«. Gegenwärtig verfolgt der nette Onkel nach Einschätzung der USamerikanischen Journalistin Amy Wilentz zwei strategische Ziele: »Erstens eine umstrukturierte und abhängige Landwirtschaft, die die US-Märkte beliefert und der Ausbeutung durch die Vereinigten Staaten nichts entgegenzusetzen hat; und zweitens eine verarmte Landbevölkerung, die nicht nur US-amerikanischen Firmen als billige Arbeitskräfte in ihren ausländischen Niederlassungen dienen kann, sondern auch leichter durch die Armee zu überwachen ist.«100 Britische Regierungen haben den Terror der USA in dieser Region im Allgemeinen unterstützt. Geoffrey Howe, Außenminister unter Margaret Thatcher, beteuerte nachdrücklich, dass »seine Regierung fest hinter der Mittelamerika-Politik der Vereinigten Staaten« stehe. Der Times zufolge war es Ziel dieser Poli179
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tik, »in einer Region, die vom kommunistischen Umsturz bedroht war, die demokratischen Kräfte zu unterstützen und zu stärken.« In einer Analyse der seriösen britischen Presse nahm sich Mark Curtis 500 Artikel zum Thema Nicaragua vor, die zwischen 1981 und 1983, in den ersten Jahren der Reagan-Regierung also, erschienen waren. Fast durchgängig wurden die Errungenschaften der sandinistischen Regierung verschwiegen und statt dessen die »Gefahren eines kommunistischen Umsturzes« betont. »Man musste sein Hirn schon sehr verrenken«, schreibt Curtis, »um zu dem Schluss zu kommen, dass der erfolgreiche – und in jeder Hinsicht bemerkenswerte – Kampf der Sandinisten gegen die Armut in ihrem Land objektiv betrachtet nicht der Rede wert sei. Dies erstaunt umso mehr, wenn man die furchtbaren Zustände in den Nachbarländern betrachtet, über die sich jeder Reporter, der je in der Gegend war, im Klaren sein musste. Dass die Leistungen der Sandinisten in der Presse quasi totgeschwiegen wurden, ist noch bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass es in diesen Jahren eine wahre Schwemme von NicaraguaBerichten gab. Man kann berechtigterweise zu dem Schluß kommen und durch Beispiele belegen, dass die Berichterstattung über Nicaragua ideologisch gesteuert war und dass die positive Entwicklung im Land in einem Strom gezielter Desinformationen aus Washington und London unterging.«101 Curtis ist kein Verfechter irgendwelcher Verschwörungstheorien. Vielmehr macht er bei prominenten Journalisten und Geisteswissenschaftlern eine sklavische, wenn auch oft unbewusste Bereitschaft aus, an die Mythen zu glauben, von denen der erste Kalte Krieg durchdrungen war und die sich bis in den heutigen kalten Krieg erhalten haben. Manch einem gerät der ideologische Zuspruch unfreiwillig zur Parodie. Lawrence Freedman, Professor am King's College in London und von BBC und Presse häufig 180
Die Glaubenswächter
als »Experte« zitiert, schreibt in einer zusammen mit Efraim Karsh verfassten Analyse des ersten Golfkriegs, es gebe »kaum Zweifel daran, dass [Präsident] Bush von dem Wunsch geleitet wurde, den Grundsatz des Gewaltverzichts zu verteidigen.« In seinen Augen ist Bush ein »Kreuzritter, der sich für die Wahrung internationaler Verhaltensregeln einsetzt«.102 Kurz nach seinem Amtsantritt überfiel der Kämpfer für Frieden und Anstand Panama. Bei der Invasion kamen 2000 Zivilisten, mehr Menschen als bei der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des himmlischen Friedens durch die chinesische Armee, ums Leben. Beim dann folgenden Angriff auf den Irak verloren 200 000 Menschen, die meisten von ihnen ebenfalls Zivilisten, ihr Leben. Der Einmarsch in Somalia kostete nach Schätzungen der CIA zwischen 7000 und 10 000 Menschen das Leben. Und bei alledem wurde Bush ebenso wie vor ihm Richard Nixon in den britischen Medien permanent als Präsident mit großem außenpolitischen Verstand gepriesen.103 In den euphorischen Tagen nach dem Sieg der Vereinigten Staaten im ersten Golf krieg interviewte Peter Snow den Chef des US-Generalstabs, General Colin Powell, für die BBC-Sendung Newsnight. Snow begann sein Interview mit der Frage: »Betrachten Sie die Vereinigten Staaten jetzt als Weltpolizei?« Der General, weich von hinten beleuchtet, die Orden auf seiner Brust in Reih und Glied, lächelte weise. »Sir«, antwortete er, »unsere Anwesenheit allein ist ein stabilisierender Faktor. Wissen Sie, wir repräsentieren eine Macht, der die Menschen normalerweise vertrauen! [Dennoch] würde ich nicht behaupten, daß wir damit den letzten Krieg oder das Ende der Geschichte gesehen haben.« Anschließend rückte Snow mit ein paar eigenen Vorschlägen heraus. Ob man nicht amerikanische Truppen nach Jugoslawien schicken könne, »um dort für Ordnung zu sorgen«? Und man könne doch »Luftangriffe fliegen«. Die Möglichkeit hatte Marga181
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ret Thatcher jedenfalls ins Spiel gebracht. »Niemand«, entgegnete der General, »achtet, ja bewundert Margaret Thatcher mehr als ich. Aber, Sir, ich schrecke immer ein wenig zurück, wenn behauptet wird, man müsse nur ein paar Leute bombardieren, um zu verhindern, dass sie Dinge tun, die man missbilligt.« Snow nickte zustimmend und bedankte sich artig.104 1997 strahlte die BBC die letzte Sendung ihrer viel gerühmten Dokumentarreihe People's Century aus, in der die weltbewegenden Ereignisse und Katastrophen des Jahrhunderts in einer gekonnten Mischung aus Archivmaterial und Gesprächen mit Zeitzeugen aufgearbeitet waren. Eine in dieser Serie häufig angewendete Technik bestand darin, staatliches Propagandamaterial aus Großbritannien, Frankreich, den USA und der Sowjetunion mit dokumentarischen Sequenzen zusammenzuschneiden und mit einer Erzählstimme zu unterlegen. Nach einer Weile fiel es dem Zuschauer schwer, die beiden Quellen auseinander zu halten. Die Gesamtwirkung war eine vollkommen andere als in Ranelaghs propagandistischem Film über die CIA. Die politische Färbung kam viel gekonnter und subtiler daher. Die Schlüsselfolge über den Beginn des Kalten Kriegs hatte den Titel »Schöne neue Welt«. In ihr wurden Stalins Verbrechen und westliche Heldentaten der Nachkriegszeit wie die Luftbrücke nach Berlin dokumentiert. Für »Ausgewogenheit« sorgten Sequenzen über die absurden und brutalen Auswüchse der antikommunistischen Paranoia, die in den 50er Jahren das politische Klima in den USA bestimmt hatte. Unerwähnt blieben allerdings Nachkriegspläne der USA, die eines anstrebten: eine Hegemonie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, die Märkte und Handel von den Nahrungsmitteln bis zum Öl beherrschte; eine Pax Americana, die, wie es der im182
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perialistisch gesonnene Chef des politischen Planungsstabes George Kennan formulierte, den Vereinigten Staaten »das moralische Recht« einräumte, militärisch zu intervenieren, wo immer sie wollten. Und sie machten reichlich Gebrauch von diesem Recht, indem sie – von Italien bis zum Iran, von Chile bis Indonesien – Regierungen, die es wagten, Unabhängigkeit zu demonstrieren, erbarmungslos sabotierten und ihren Sturz betrieben.105 Über eine halbe Million »Kommunisten« mussten in Indonesein sterben, nachdem die US-amerikanische Kolonialmacht dem Diktator Suharto zur Macht verholfen hatte. In Indochina kostete die gleiche Politik mindestens fünf Millionen Menschen das Leben. Weitere Millionen wurden enteignet, ihr Land verwüstet und vergiftet. »Die freie Welt«, wie das US-amerikanische Imperium damals genannt wurde, beschönigt ihre Hegemonialansprüche bis heute mit wechselnden Euphemismen. Den vielleicht glanzvollsten, wenn auch wenig besungenen Sieg erzielte sie mit dieser Taktik auf dem Gebiet der Medienbeeinflussung, was sich daran deutlich zeigt, dass in People's Century nichts von ihrer Machtgier zu erfahren war. *** Die Glaubenswächter, die Prediger der bestehenden Ordnung, sind vor allem im »lobbyistischen System« beheimatet, das mit schöner Regelmäßigkeit als »Filz« gescholten und gelegentlich sogar als »kriminell« bezeichnet wird, aber alle diese Anwürfe schadlos übersteht. »Lobbykorrespondenten« haben ihre eigenen Regeln, »Verbindungsleute« und Methoden der Disziplinierung. Zu ihren Privilegien gehört der Zugang zu Regierungsverlautbarungen, bevor diese veröffentlicht werden, und sie werden von den Pressereferenten der Ministerien, von hohen Beamten oder gar von den Ministern persönlich mit vertraulichen Informationen versorgt. 183
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Gegenwärtig beschäftigt die BBC 13 Redakteure im überregionalen und 19 im regionalen Politikressort. Sie alle haben ihren Arbeitsplatz im Londoner Bezirk Millbank in der Nähe des Parlaments und der anderen »Machtzentren«, über die Robin Oakley und sein Team berichten. An klaren Tagen kann man sehen, wie die Abgeordneten dort Schlange stehen, um ihre ohnehin allseits bekannten Ansichten loszuwerden. Steve Richards, ein ehemaliger BBC-Journalist, der jetzt für den New Statesman schreibt, behauptet, dass so mancher Parlamentsabgeordnete morgens, bevor er den Weg ins Unterhaus nimmt, erst einmal in Millbank vorbeischaut, »in der Hoffnung, dort jemanden zu finden, der ihn interviewen möchte«.106 In einer normalen Woche produzieren die »Lobbyjournalisten« mehr als 300 Berichte: Die meisten behandeln das gleiche Thema und halten sich dabei an die weitgehend austauschbaren Linien, die von den beiden großen Parteien vorgegeben werden. Dass den Briten heute nicht einmal der Anschein demokratischer Meinungsvielfalt zugestanden wird, kommt nirgendwo zur Sprache. Die politische Botschaft, die aus Millbank widerhallt, ist eindeutig. Es gibt nur noch einen Leitgedanken, den triumphreichen »Markt«; kein Wenn und Aber und schon gar keine »Ausgewogenheit«. Er bestimmt die politischen Nachrichten und Kommentare, und er grenzt ernst zu nehmende Kritiker aus – jene nämlich, die sich nicht dem Prinzip der kollektiven Verantwortung unterwerfen, wie sie etablierte Journalisten und Politiker sowie ihre Seilschaften definieren. Den Einfluss dieser Hilfstruppen der Regierung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. »Die Abgeordneten verzichten auf die Möglichkeit eigener politischer Zielsetzungen«, schreibt Richards, »und überlassen es den Journalisten, die Richtung vorzugeben und ihnen in den Mund zu legen, was sie für richtig halten«.107 184
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Was ihnen die Journalisten in den Mund legen, basiert auf einer Vorstellung, die unsere Welt fein säuberlich in »Neu« und »Alt« teilt, analog zu den beiden Lagern, in die sich die LabourPartei vor der Wahl gespaltet hat. Dem »Neuen« wird, entsprechend der uneingeschränkten Marktbegeisterung der Medien, der Vorzug gegeben – auch wenn so seriöse Quellen wie die jährliche sozialwissenschaftliche Erhebung der altehrwürdigen Institution British Social Attitudes (BSA) kaum Zweifel daran lassen, dass für die Mehrheit der Bevölkerung das »Alte« Priorität hat. Millionen Menschen sind unzufrieden, weil die Parlamentsparteien keine Bereitschaft erkennen lassen, den Wohlstand des Landes so umzuverteilen, dass auch die Armen profitieren, und mehr Geld für elementare öffentliche Bereiche wie Gesundheitswesen, Bildung und Schaffung von Arbeitsplätzen auszugeben. Meines Wissens wurde während des Wahlkampfs 1997 weder John Major noch Tony Blair von den Medien aufgefordert, zu diesem Thema Stellung zu nehmen.108 Gleich nach dem Erdrutschsieg der Labour-Partei erhob sich in den Medien die Frage, wie sich dieser auf den Status quo auswirken würde – was bedeutete er für die »Stabilität« des Pfunds, des Aktienmarkts und der Leitzinsen. Konnte man Tony Blair vertrauen? Natürlich konnte man. Mit den Aktienindizes ging es steil bergauf, und das Pfund wurde stärker. Die Wächter mögen abgelöst worden sein; der Glaube hat sich nicht verändert. Die drei wichtigsten Vertreter der liberalen Presse in Großbritannien, Guardian, Observer und Independent gerieten, gemeinsam mit der BBC, völlig aus dem Häuschen. Die Regierung, frohlockte der Guardian, »arbeitet mit atemberaubender Geschwindigkeit daran, alte Zöpfe abzuschneiden …« Der erste Zopf verschwand, als Finanzminister Gordon Brown wichtige finanzpolitische Kompetenzen an ein nicht gewähltes Expertengremium 185
Das Medienzeitalter
der Bank von England abtrat: Ein Tory hätte das nie gewagt. »Der kühne Finanzminister …«, hallte es bewundernd von der Titelseite. »Welch ein Mut… das war ein echter Blitzstart der neuen Regierung.« »Abschied von der Isolation«, lautete die Schlagzeile des Observer am Tag nach der Wahl. »Das Außenministerium begrüßt die Welt: Wir sind wieder da.« Die Regierung, so die Zeitung, werde das Maastrichter Sozialprotokoll innerhalb weniger Wochen ratifizieren, sich für »neue, weltweit geltende Menschenrechts- und Umweltschutzbestimmungen« sowie ein Verbot von Landminen einsetzen, »strenge Richtlinien für alle sonstigen Waffenverkäufe« erlassen und der »Politik nach Gutsherrenart« ein Ende machen. Abgesehen vom Landminen-verbot, das ohnehin schon in Kraft war, wurde nichts von alldem umgesetzt. Eine Woche später hieß es: »Reform des Sozialstaats«. Der Finanzminister, ließ sich die Zeitung vernehmen, »steht im Begriff, die radikalsten Änderungen des Sozialhaushalts seit dem Zweiten Weltkrieg zu verkünden …« Die an eine Reintegration in den Arbeitsmarkt gekoppelte Arbeitslosenhilfe, die er verkündete, war jedoch, ganz im Gegenteil, nur der müde Abklatsch einer reaktionären Sozialpolitik, mit der schon die britischen Konservativen und die Clinton-Regierung gescheitert waren. Von einer Reform keine Spur. Als sich Blair nach Europa aufmachte, erhob sich ein neuerlicher Jubelsturm: »Blair nimmt den Kampf für ein Europa des Volkes auf«, verkündete der Independent und tags darauf: »Europas Staatsoberhäupter im Banne Blairs«. In Amsterdam, so der Guardian, »ließ Blair in den Verhandlungen zum EU-Vertrag erfolgreich seinen Charme spielen«. Peter Snow schwärmte in der BBC-Sendung Newsnight: »Es war Blairs Tag, er schwelgte in der Bewunderung der tief beeindruckten Delegierten …« Das meiste davon war frei erfunden, wie in der guten alten 186
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Prawda. Blairs europäischer »Triumph« bestand darin, dass er, wie schon sein Vorgänger, der Frage einer gemeinsamen Währung auswich und die ohnehin schon strengen Asylbestimmungen durch die Forderung nach verschärften Grenzkontrollen für Großbritannien zu zementieren suchte. »Frieden für unsere Kinder«, jubelte der Independent. Endlich ein Anflug von Ironie? Von wegen, auch die Unterzeichnung des Sicherheitspakts zwischen der NATO und Russland, für die Blair unermüdlich geworben hatte, wurde als Triumph gefeiert. Und niemand interessierte sich dafür, welche beängstigenden Folgen die NATOErweiterung haben konnte. »Das neue Sonderverhältnis«, lautete die nächste frohe Botschaft; darunter prangte ein Foto, auf dem sich Tony Blair und Bill Clinton im Garten von Downing Street 10 vertrauensvoll in die Augen sehen. »Was«, fragte Rupert Cornwall auf der Titelseite des Independent, »sagte ein gewisser Jack Kennedy doch gleich über die Fackel, die ihn übergeben würde, als er, genau wie unser Premierminister, im Alter von 43 Jahren an die Macht kam? Man reibt sich die Augen an einem strahlenden Frühlingstag in der Downing Street, und es scheint wahr zu werden – eine Übergabe von der träge und ziellos gewordenen amerikanischen Präsidentschaft an die unbekümmerte Omnipotenz eines Blair.« Dem Journalismus war jede Fähigkeit zur Satire abhanden gekommen, er persiflierte sich selbst. Mystische Bilder wurden beschworen. Der neue Premierminister, schrieb der Kolumnist Hugo Young, »möchte eine Welt schaffen, wie wir sie noch nie gesehen haben, eine Welt, in der sich die Gesetze der politischen Schwerkraft umgekehrt haben«. Im Blairschen Zeitalter »treten ›Werte‹ an die Stelle von Ideologien …, es gibt keine heiligen Kühe [und] und keine starren Grenzen für den Geist, der auf der Suche nach einem besseren Großbritannien ausschweift, und nur wenige, die sich mit diesen Wer187
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ten nicht identifizieren könnten«. Der berauschte Geist schweifte weit aus. In einem elitären, preisgekrönten Artikel erklärte der Guardian-Kommentator Martin Kettle Blair zum Ehrenaustralier: »Er hat keine Ehrfurcht vor der Vergangenheit. Klassendünkel beeindruckt ihn nicht. Er ist ein Meritokrat, ein Macher, [und] es ist ihm gleich, woher er seine Ideen bezieht. Er schreibt einfach unbefangen seine eigene Geschichte … es wäre schön, den Tag zu erleben, an dem man diese Charaktereigenschaften auch als typisch britisch bezeichnen könnte.« Vielleicht müsste ich für die Neubewertung meines charakterlichen Erbes dankbar sein. Da war meine Spezies, der australische Mann, also plötzlich vom Biersäufer mit Kronkorkensammlung am Hut zum Prototypen des postmodernen Menschen aufgestiegen. Kettles Ergüsse waren von eben jener herablassenden Ignoranz, wie sie in dem alten Comic-Strip Barry MacKenzie, dessen Hauptfigur ein Australier in London ist, auf die Schippe genommen wird. Ironischerweise hat Australien, eine Klassengesellschaft wie jede andere, genauso wie Großbritannien mit einer hohen Arbeitslosenquote und zunehmender Verarmung zu kämpfen, Folgen der Politik einer Labor-Regierung, die in gewisser Weise Modell stand für Blairs New Labour. Als Außenminister Robin Cook seinen berühmten »Zielekatalog« verkündet hatte, in dem er die Menschenrechte ins »Zentrum« der britischen Außenpolitik rückte und eine Überprüfung der Rüstungsgeschäfte nach »ethischen« Grundsätzen versprach, blieb öffentliche Skepsis aus. Der Guardian mahnte ihn gar, nicht allzu »weichherzig« zu sein. In Newsnight wiederholte Jeremy Paxman die Lüge des Außenministeriums, die Stationierung von Hawk-Kampfflugzeugen in Osttimor sei »keinesfalls bewiesen«, auch wenn der Export der Maschinen aufgrund der »ethischen Bedenken« der Regierung nun möglicherweise eingestellt wer188
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den müsse. Als einsamer Kämpfer im Kreis der New-LabourHagiographen fühlte sich nur ein einziger Mann genötigt, darauf hinzuweisen, dass Menschenrechtsverletzungen institutionalisierter Bestandteil der britischen Außenpolitik und Cooks politische Absichtserklärungen somit eine einzige Heuchelei waren. Wie sich herausstellte, setzte Cook die Rüstungsexporte im gleichen Umfang wie zuvor alle Labour- und Tory-Regierungen fort. Verteidigungsminister George Robertson kündigte mit der »radikalen und weit reichenden Revision« der »Prioritäten« die nächste »dynamische« Veränderung an. Die »Revision« bestand darin, daß jegliche Diskussion um die Milliardensummen, die das Verteidigungsministerium für Eurofighter und nukleare Trident-U-Boote ausgibt, unterbunden wurde. Bei BBC Radio hörte sich die entsprechende Nachricht so an: »Die Regierung ist sehr beunruhigt darüber, daß Deutschland seinen finanziellen Beitrag zur Entwicklung dieses multinationalen Projekts, von dem Tausende britischer Arbeitsplätze abhängen, nur sehr zögerlich leistet.« Dass jeder dieser Arbeitsplätze 1,1 Millionen Pfund kostete, eine Summe, mit der man Hunderte neuer Stellen hätte schaffen und die Infrastruktur des Landes wesentlich hätte verbessern können, wurde tunlichst verschwiegen. Eine mediengesteuerte Showeinlage folgte der anderen. »Armut ist das Problem, Arbeit ist die Lösung«, lautete die viktorianisch anmutende Überschrift eines Independent-Ainkels über einen Abstecher Blairs ins Reich der »Unterschicht«, einen heruntergekommenen Londoner Sozialbaukomplex. Hier, im Herzen realer Armut, versprach Blair nicht etwa finanzielle Hilfe und er brachte auch keine Vorschläge zur Linderung des Elends mit. »Blair«, so schrieb Donald Macintyre, »wollte den Leuten klar machen, dass die 1960er Jahre die Ära des Staates und die 1980er die Ära des Individualismus gewesen waren, das neue Jahrtausend aber das Zeitalter der Gemeinschaft einläuten werde.« So 189
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arbeiteten politischer Journalismus und staatliche Propagandaschmiede Hand in Hand.109 Ein nicht untypisches Beispiel dafür, wie sich die Presse für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung einspannen ließ, war das Titelbild auf der ersten Ausgabe des neu gestalteten Independent. Es war Bagdad Observer in Reinkultur: ein von hinten angestrahlter, messianischer Premierminister und darüber die Balkenüberschrift: »Blair: Meine Vision für das Jahr 2000«. Das »Interview« war nicht viel mehr als eine Aneinanderreihung von Schlagworten. Auf seinem Landsitz in Chequers weilend, verkündete der Regierungschef, er werde »ein Land schaffen, das stolz darauf sein wird, der Welt zu zeigen, wie eine fortschrittliche Nation des 21. Jahrhunderts aussieht«. Er führte dies nicht näher aus, sondern sprach nur von »vor uns liegenden schweren Entscheidungen«, um »angemessene soziale Standards« zu erreichen. »Der Premierminister«, merkte der politische Redakteur Anthony Bevins an, »wird nicht zögern, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen«. Am nächsten Tag war die Stunde von Sozialministerin Harriet Harman gekommen. Im Hinweis auf ein »Exklusivinterview« mit der Ministerin pries das Blatt »die sensationellen ersten Erfolge der neuen Sozialpolitik …, die der Unterschicht einen Weg aus der Sozialhilfe weist«. »Mit einer Vermittlungsquote von 1000 allein erziehenden Müttern«, schrieb Bevins, »übersteigt das Ergebnis alle Erwartungen; es ist beispiellos.« Darüber, was für eine Art von Arbeit diesen Frauen vermittelt worden war, schwieg er sich aus. Und er verlor auch kein Wort darüber, wie viel sie verdienten und was sie die Betreuung ihrer Kinder kostete.110 Unerwähnt blieb im Übrigen, dass Harman als erste Amtshandlung nach dem Regierungswechsel die Zusatzzahlungen zur Sozialhilfe für allein erziehende Eltern strich, nachdem sie 190
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diese von der Tory-Regierung vorgeschlagene Maßnahme zuvor im Unterhaus im Namen der Labour-Partei als unsozial abgelehnt hatte. »Wir können«, hatte die zukünftige Ministerin damals erklärt, »allein erziehenden Müttern nicht aus der Armut helfen und die Sozialausgaben für sie damals senken, indem wir den Betrag, von dem sie leben müssen, Jahr für Jahr verringern und sie damit in immer tiefere Armut treiben. Solche Einschnitte würden die Not von Hunderttausenden der ärmeren Kinder noch vergrößern.«111 Ebenso unerwähnt blieb der in der gleichen Woche veröffentlichte unabhängige Bericht der JosephRowntree-Stiftung, dem zufolge die neue Sozialpolitik als Fehlschlag zu werten war, weil die Programme zur Reintegration in den Arbeitsmarkt den Arbeitslosen nicht viel mehr einbrachten als schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs.112 Wohl aber durfte die Ministerin in dem Interview ihr finsteres Programm unwidersprochen als »wirklichkeitsbezogene Hilfe für die Menschen« bezeichnen, als das, »wofür die Regierung da ist. Es ist aufregend; es macht die Menschen frei. Es ist Teil des Prozesses, aus dem ein neuer Wohlfahrtsstaat hervorgehen wird. Und es funktioniert.« Als Blair Margaret Thatcher in die Downing Street bat, führte dies zu vorübergehender Irritation. Hugo Young, einst Thatchers journalistische Geißel, baute Blair (der Thatcher 1987 als »unberechenbare und unausgeglichene Persönlichkeit« bezeichnet hatte) die rettende Brücke. Er schrieb: »Es entspricht vollkommen der integrativen Philosophie, von der sich seiner Ansicht nach jedes vernünftige Staatsoberhaupt bei der Regierung des Landes, das ihm anvertraut wurde, leiten lassen sollte. Margaret Thatcher passt problemlos in diesen Rahmen. Sie kann einen Beitrag leisten.« Die Rede ist von der Frau, von der Hugo Young einmal geschrieben hatte, sie sei »von unersättlicher Herrschsucht« besessen.113 191
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Die neuen Glaubenswächter kamen kurz ins Grübeln bei der Frage, warum Hardliner-Kapitalisten wie Alan Sugar und Lord Rothermere, Eigentümer der Daily Mail, plötzlich zum Blairismus überliefen. Ach ja, sie waren jetzt »einer von uns«. Lasst uns also nach Hello!-Art weiterjubeln! Der Blairismus, schrieb die Guardian-Journalistin Sally Weale, »hat schon jetzt eine Ikone wie Prinzessin Diana«. Gemeint war Cherie Blair! »Cherie ist von Natur aus brillant«, erfuhr Sally von Tony. »Zum ersten Mal«, fuhr sie fort, »haben wir in der Downing Street 10 eine brillante Karrierefrau, die mit ihrem Gehalt (und ihren Fähigkeiten, wie manche sagen) ihren Mann in den Schatten stellt.« Und sie ist noch dazu eine »großartige berufstätige Mutter«. Es ist dies die Anwältin, die 1995 den Richter aufforderte, einen mittellosen Steuerschuldner hinter Gitter zu schicken.114 »New York, New Labour, neue Möglichkeiten …«, tönte der Guardian im Bericht über eine »Spendengala der Prominenz«, die reiche, in den USA lebende Briten für die Blairs organisiert hatten. Die Gästeliste hatte Blairs Pressesprecher Alistair Campbell »einen freudigen Schauer« bereitet. Alle Welt hatte sich angekündigt: Henry Kissinger, Bianca Jagger, Lauren Bacall, Barbara Walters. »Aber es gab einen Namen auf der Liste [John F. Kennedy jr.], der ihm Sorge bereitete. Lieber Himmel, er sah die Überschriften schon vor sich … »Blair diniert mit IRASympathisanten«. Der Sohn des verstorbenen Präsidenten »war bei einer IRA-Beerdigung gesehen worden«. JFK Junior wurde also von der Gästeliste gestrichen, und »Campbell selbst hätte es nicht besser planen können … Alle waren hingerissen von Blair.«115 Und auch in Gordon Brown schienen sie buchstäblich vernarrt zu sein. »Ein Haushalt für das Volk« titelte der Independent neben einer Zeichnung, die Brown als Oliver Cromwell verkleidet zeigte. Das Ganze war schwer vorstellbar. Abgesehen von ein 192
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paar armseligen Brosamen für das Gesundheits- und Bildungswesen und einer Zusatzsteuer für Versorgungsunternehmen, die diese aufgrund ihrer hohen Gewinne mit Links zahlen konnten, spiegelte sich die Verteilung der Mittel in Browns Haushalt am nächsten Tag im Aktienindex der Financial Times, der einen Rekordanstieg von 80 Punkten verzeichnete, wobei die Aktienwerte der Versorger in die Höhe schossen, weil die Investoren erwartet hatten, dass Brown härter mit ihnen umspringen würde. Darüber hinaus senkte er die Körperschaftssteuern auf das niedrigste Niveau aller großen Industrienationen. Die Labour-Wähler hatten18 Jahre lang hinnehmen müssen, dass die Mittel für Bildung und Erziehung, Gesundheitswesen und soziale Belange immer weiter gekürzt wurden – nicht eine dieser Kürzungen wurde von Brown zurückgenommen, und die Medien schwiegen dazu. Wie aus dem Institut für Steuerforschung staunend verlautete, hatte der neue Labour-Finanzminister »den Haushaltsgürtel so eng geschnallt wie keine konservative Regierung in den 18 Jahren davor«. »Ich persönlich«, schrieb Guardian-Kommentatorin Emma Forrest, »bin hingerissen von seinem Outfit und frage mich immer, worin er das nächste Mal auftaucht. Ich sehe ihn vor mir, wie er in lila Knittersamt durch die Casinos von Las Vegas schlendert oder im Trainingsanzug durch die Flure der Macht wandelt … Seien wir ehrlich, wer hätte in den 1990ern nicht gern einen Mann, der mit Geld umgehen kann und weiß, wie es auf den Märkten zugeht?«116 Im Independent schwärmte Suzanne Moore: »Sein Lächeln am Wahlabend war wunderbar, man fühlte sich an Mandela erinnert … so ganz und gar gegenwärtig und real.« Moore ist eine eifrige Glaubenswächterin. Vor der Wahl schlug sie ein »politisches Rehabilitierungsprogramm« für diejenigen vor, »die sich nicht mit den [von New Labour] geplanten Veränderungen anfreunden können«. 193
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Und wie früher in der Sowjetunion oder auf der Orwellschen Farm der Tiere, musste, wer die »neue« Macht im Staat nicht freudig begrüßte, von einer Art Geisteskrankheit befallen sein. Die in den Medien und als Autorin erfolgreiche Psychologin Susie Orbach verstieg sich zu der Diagnose, wenn nicht jeder uneingeschränkte Begeisterung für Blairs Aufstieg empfinden könne, so müsse dies daran liegen, daß »eine negative Einstellung etwas Beruhigendes haben kann … man findet [diesen Gemütszustand] oft bei Menschen, die nach außen hin als Kämpfernaturen erscheinen, die sich gegen Ungerechtigkeiten und Feinde auflehnen, sich aber andererseits nicht eingestehen können, dass sie die ständige Niederlage brauchen«. Wer in diesem historischen und rauschhaften Moment Kritik an New Labour äußerte, musste demnach emotional aus dem Gleichgewicht geraten sein, eine bemitleidenswerte Figur: »Ein Kämpfer, der immer kämpfen muss und sich nie von der Schlacht ausruhen kann …, weil er gegen seine inneren Dämonen ankämpfen muss, gegen hoffnungslose Gefühle, die ihn so ängstigen, dass er sich nicht direkt mit ihnen konfrontieren kann.« Man fühlt sich daran erinnert, wie Margaret Thatcher während des Falklandkrieges die Nation aufrief, zu »frohlokken«.117 Leider lösten sich die inneren Dämonen und hoffnungslosen Gefühle nicht in Wohlgefallen auf, sondern griffen auch auf den Kreis der Frohlockenden über. Der Guardian tat sein Bestes, das zunehmende Unbehagen zu ignorieren. »Große Ideale, schwere Entscheidungen«, war auf einer Titelseite zu lesen. »Blair kann ein Leitstern für die Welt sein … Er erhebt die Staatsführung zu einer Kunstform.« Aber es sollte anders kommen.118 In den Augen der Medien war Bernie Ecclestone, anders als die Arbeitslosen und allein erziehende Mütter oder Väter, sicher kein Betroffener der »schweren Entscheidungen«. Tony Blair hat194
Die Glaubenswächter
te Ecclestone, den milliardenschweren Formel-Eins-Chef, kurz vor der Wahl beim Silverstone-Rennen kennen gelernt. Er durfte sich in einen Formel-Eins-Wagen setzen; er war sehr beeindruckt, und Ecclestone, der ein Leben lang tatkräftig die ToryPartei unterstützt hatte, war von ihm beeindruckt. Bedauerlicherweise hatte New Labour den Wählern »versprochen«, die Tabakwerbung generell und auch bei Sportveranstaltungen zu verbieten. Nach Blairs Einzug in die Downing Street 10 bat Ecclestone um ein Treffen. 24 Stunden später hielt die Gesundheitsministerin eine Notiz des Premierministers in Händen, der zufolge Formel-Eins-Rennen vom Werbeverbot auszunehmen seien. Der Gesundheitsministerin Tessa Jowell blieb die undankbare Aufgabe überlassen, der Welt den Sinn dieser Entscheidung zu erklären. Dummerweise sickerte durch, dass Jowells Ehemann David Mills bis kurz nach der Wahl im Direktorium des Benetton-Rennstalls gesessen hatte und diesen auch weiterhin in Rechtsfragen beriet. Die Ministerin bestritt jeglichen Interessenkonflikt. Später wurde bekannt, daß Ecclestone der LabourPartei eine Million Pfund gespendet hatte. Blair behauptete, er habe sich, lange bevor die Presse Wind von der Sache bekam, an Sir Patrick Neill, den Vorsitzenden des Nolan-Ausschusses (für die Festlegung von Standards im öffentlichen Leben), gewandt und auf die »ethische Problematik« einer Spende in dieser Höhe aufmerksam gemacht. In Wahrheit wurde der Brief erst geschickt, nachdem die Presse die Sache publik gemacht hatte. Die Regierung hatte sich nicht nur zugunsten eines einflussreichen Geschäftsmannes über die Interessen der Wähler hinweggesetzt, sondern auch die Öffentlichkeit belogen. Blair entschuldigte sich zwar später, aber gemeint war mit der Entschuldigung eigentlich nur das Versagen seiner Presseabteilung. Wenn man die Öffentlichkeit schon hinters Licht führt, sollte man dies gefälligst 195
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gründlich tun. Tatsächlich unterschied sich die Bestechlichkeit von New Labour und den Tones nur darin, dass es bei Ersteren um größere Summen ging. »Hast du uns belogen, Tony?«, stand in der Sonntagsausgabe des Independent zu lesen. »Wir haben dir geglaubt, als du uns eine Politik ohne Korruption versprachst. Wir haben den Wahlsieg mit dir gefeiert. Wir dachten, du bist anders. Aber jetzt sind wir nicht mehr so sicher.«119 *** Noch in den Zeiten des Kalten Kriegs, 1983, war ich mit zwei Kollegen im Verteidigungsministerium, wo wir unter der Regie von Ian McDonald, der es während des Falklandkriegs als Regierungssprecher oder, wie ihn Journalisten treffend, aber nicht eben schmeichelhaft nannten, deren »sprechende Uhr« zu flüchtigem Ruhm gebracht hatte, »vertrauliche« Informationen erhielten. Wir setzten uns mit einem Beamten, dessen Name und Amt mir entfallen sind, der uns aber als Experte für »nukleare Abschreckung« vorgestellt wurde, an einen Tisch. Dann ergoss sich eine Flut billiger antikommunistischer Propaganda über uns, wie man sie in den Kommentaren des Daily Telegraph lesen kann. Waren das die Dinge, die offiziell akkreditierten Journalisten ständig mit naiver Verschwörermiene vorgesetzt wurden? Mein Verdacht bestätigte sich umgehend, als McDonald beim Abschied zu uns sagte: »Ihnen ist doch klar, dass das alles hier nie stattgefunden hat? … Mehr noch, Sie dürfen nicht einmal sagen, dass es nie stattgefunden hat.« Kein Wunder, dass Journalisten, die sich nur von dem nährten, was ihnen die Regierung an Propaganda vorsetzte, wie vom Donner gerührt waren, als die Berliner Mauer fiel und der Kalte Krieg beendet war. Aus Sicht des Staates ist die Effizienz des Systems allerdings nicht zu bestreiten. Zwischen 1965 und 1980 war das atomare 196
Die Glaubenswächter
Wettrüsten, die vermutlich größte Bedrohung der Menschheit, nicht ein einziges Mal Gegenstand einer Parlamentsdebatte. Auch die Medien schwiegen sich, ganz und gar regierungskonform, zu dem Thema aus. Journalisten wurden entweder mit gezielten Desinformationen von heißen Themen abgelenkt oder mit beschwichtigenden Erklärungen abgespeist. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Das beschleunigte atomare Wettrüsten, das nach dem Ende des Kalten Krieges in Großbritannien und den USA einsetzte und von Russland mit ähnlichen Anstrengungen beantwortet wurde, ist für die Medien kein Thema. Das kollektive Schweigen ist Teil der »Lügenkultur«, die der ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums Mark Higson vor dem von Sir Richard Scott geleiteten Untersuchungsausschuss zu Waffenlieferungen an den Irak beschrieben hat. Das Lügengeflecht spannte sich über einen Zeitraum von 40 Jahren, in denen eine Reihe von Atomunfällen, darunter Brände und andere Zwischenfalle in Atomkraftwerken, radioaktive Verstrahlung und Verlust oder Beschädigung von Atomwaffen, verschleiert wurden. Beim gravierendsten Zwischenfall, über den der Observer mit einiger Verspätung 1996 berichtete, hatte »ein Kampfflugzeug samt seiner Nuklearraketen auf dem amerikanischen Militärflughafen Greenham Common in Berkshire Feuer gefangen und den Boden in der Umgebung verstrahlt«. Um ein Haar wäre eine große Fläche Großbritanniens in eine »Atomwüste« verwandelt worden. Damals erfuhr die Bevölkerung nicht ein Wort von dem Zwischenfall.120 Dieses fatale Bündnis des Schweigens thematisierte der Regisseur Peter Watkins in seinem Aufsehen erregenden Film Kriegsspiel, einer fiktiven Reportage über die Folgen eines Atomangriffs in Großbritannien. Im Off-Kommentar heißt es: »Der gesamte Themenbereich thermonuklearer Waffen, die Frage, wer sie besitzt, und die Folgen ihres Einsatzes werden heute in der 197
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Presse, in amtlichen Publikationen und im Fernsehen nahezu totgeschwiegen. In jeder schwierigen und unberechenbaren Lage gibt es auch einen Schimmer Hoffnung. Aber gibt dieses Schweigen wirklich irgendeinen Anlass zur Hoffnung?« Die Frage war genauso ironisch wie berechtigt. 1965 verbannte die BBC den Film aus ihrem Programm. In der offiziellen Erklärung hieß es: »Die BBC ist zu dem Urteil gekommen, dass die Wirkung des Films für die Fernsehzuschauer zu beängstigend wäre.« Die BBC beharrte nachdrücklich darauf, diese Entscheidung aus freien Stücken getroffen zu haben und »nicht etwa, weil von außen Druck auf uns ausgeübt worden wäre«. Beide Behauptungen waren falsch. Vorsitzender des BBC-Verwaltungsrats war zu jener Zeit der ehemalige Staatssekretär Lord Normanbrook. In einem Brief an Sir Burke Trend, seinen Amtsnachfolger im Kabinett, offenbarte Normanbrook den wahren Grund für das Ausstrahlungsverbot: »Der Film könnte sich eindeutig negativ auf die Haltung der Öffentlichkeit zur Politik der atomaren Abschreckung auswirken.«121 Generaldirektor der BBC zum Zeitpunkt der Entscheidung war Hugh Green. Wenige Monate zuvor hatte Green, ein überzeugter Liberaler, in einer Rede gesagt: »Zensur ist in meinen Augen umso verdammenswerter, wenn man bedenkt, welche Gefahren diejenigen auf sich genommen haben, die in der Vergangenheit für Redlichkeit, Recht und Wahrheit eingetreten sind.«122 Erst 1985, 20 Jahre, nachdem er gedreht worden war, strahlte die BBC den Film Kriegsspiel aus. Bei der Ankündigung des »höchst kontroversen Films« bemerkte Ludovic Kennedy, er sei so lange nicht gesendet worden, weil »seine Wirkung zu schokkierend und beängstigend« sei. Meines Wissens hat niemand dieser Darstellung widersprochen. 198
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Verbittert, aber auch klüger geworden, arbeitete Peter Watkins nie wieder für die BBC. 1980 beschrieb er »die Repression, die im Fernsehen zunehmend in Erscheinung tritt… Unter dem Deckmantel von Begriffen wie ›Qualität‹, ›Professionalität‹, ›Objektivität‹ und ›Niveau‹ übt das mittlere Management beim Fernsehen mittlerweile größeren Druck aus als die Intendanten, die gerne dafür verantwortlich gemacht werden, die von der mittleren Führungsebene aber oft nur zur Begründung einer seit Einführung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht dagewesenen Politik der Zensur und Selbstzensur vorgeschoben werden.«123 *** Es gibt Journalisten wie Peter Taylor, John Ware, Robert Fisk, Eamonn McCann, Simon Winchester und Paul Donovan, die informativ und oftmals couragiert über den Nordirlandkonflikt berichtet haben. Sie sind allerdings die rühmliche Ausnahme; denn das Wesen des Konflikts, seine Ursachen und möglichen Lösungen werden selten beleuchtet. Für britische Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser ist »Nordirland« das Synonym für einen Kreislauf brutaler Gewaltakte, die ausschließlich von der IRA begangen werden. Dahinter steht das rätselhafte Kräftemessen zweier Gruppen, und zwischen den Fronten schlägt sich ehrenhaft die britische Ordnungsmacht. Das ist die amtliche Lesart, und wenn ein Journalist einmal den Versuch macht, die Wahrheit darüber zu berichten, wie den Menschen in Irland unter tatkräftiger Mithilfe des britischen Staats Menschenrechte und Gerechtigkeit verwehrt werden, endet sein Artikel oder sein Film aller Wahrscheinlichkeit nach auf der langen Liste der Irlandbeiträge, die abgelehnt, manipuliert, verschoben oder entschärft werden.124 Ich selbst habe zwar schon aus Nordirland berichtet, aber 199
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noch nie ein Dokumentarfilmprojekt eingereicht, was zum Teil sicher den »besonderen Schwierigkeiten« zuzuschreiben ist, mit denen das verbunden wäre und die zu einer gewissen Selbstzensur führen. Die Richtlinien der Rundfunkaufsichtsbehörde besagten, dass man überall auf der Welt ohne vorherige Absprache mit der Behörde »Paramilitärs« interviewen durfte, außer in Irland. Ich konnte problemlos die Massenmörder Pol Pots befragen, nicht aber ein Mitglied der IRA. Im Jahr 1988 geriet dies vollends zur Farce, als die Rundfunkanstallen einer Verordnung des Innenministeriums Folge leisteten und die Vertreter bestimmter politischer Organisationen in Irland, darunter gewählte Parlamentsabgeordnete, bei öffentlichen Sendern nicht mehr zu Wort kommen ließen. Die Zuschauer konnten ihre Gesichter sehen, sie konnten sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, sie durften hören, wie eine andere Person ihre Worte sprach, aber ihre Stimmen durften nicht übertragen werden. Anstatt sich vehement gegen die absurde Vorschrift zu wehren, ließen die Sendeanstalten die Texte von Schauspielern sprechen. Erreicht wurde damit, dass Personen wie der Sinn-FeinVorsitzende Gerry Adams, die zu einem Friedensprozess in Irland hätten beitragen können, an den Rand geschoben und dämonisiert wurden. »Manche Journalisten, die dieses Verbot als kontraproduktiv bezeichnet haben«, schreibt David Miller in seinem Buch Don't Mention the War, »stimmen im Grunde genommen mit dessen Befürwortern überein, dass es bei der Berichterstattung über die Sinn Fein und die IRA nicht in erster Linie darum geht, den Konflikt zu erklären, sondern die Republikaner im Sinne der Kampagne gegen den ›Terrorismus‹ zu diskreditieren. Der Unterschied zu den Befürwortern des Verbots besteht darin, dass sie glauben, durch das Verbot werde die Entlarvung der Sinn Fein verhindert.«125 200
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Der damalige ITN-Intendant David Nicholas bezeichnete das Sendeverbot als überflüssig, »weil wir alle wissen, dass das, wofür diese extremistischen Organisationen stehen, für viele Menschen abstoßend ist. Die britische Öffentlichkeit stand meiner Ansicht nach nie entschiedener hinter dem Kampf gegen den Terrorismus, und das ist unserer umfassenden und offenen Berichterstattung zu verdanken …«126 Was er allerdings verschwieg, war die Tatsache, dass weder bei ITN noch bei der BBC der Abzug der britischen Truppen aus Nordirland thematisiert wurde, und in dieser Frage gab es in der Öffentlichkeit tatsächlich einen »entschiedenen« Konsens. »Fast alle Meinungsumfragen seit 1971«, erklärt Miller, » haben ergeben, dass die Mehrheit der britischen Bevölkerung den Truppenabzug aus Irland in der einen oder anderen Form befürwortet.«127 Unterstützt von der Journalistengewerkschaft des Landes habe ich zusammen mit fünf Kollegen beim Obersten Gerichtshof Klage gegen das Verbot eingereicht, doch die Klage wurde abgewiesen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass BBC, ITN und Channel 4 das Verbot, wären sie in einer konzertierten Aktion dagegen vorgegangen, zu Fall hätten bringen können. John Blirt, damals stellvertretender Generaldirektor der BBC, schrieb zwar ein paar larmoyante Zeitungskommentare, nachdem die Verordnung in Kraft getreten war, aber auch er hatte erst einmal keinen Einspruch dagegen erhoben. Großbritannien machte sich mit seinen Bauchrednern in den Abendnachrichten weiter zum Gespött, bis das Verbot 1994 nach Ausrufung einer Waffenruhe durch die IRA aufgehoben wurde. Colin Wallace, ein britischer Offizier und Experte für psychologische Kriegführung, dem später wegen Totschlags der Prozess gemacht wurde, beschrieb die Irland-Paranoia der britischen Regierung in einem Gespräch mit Paul Donovan so: »Die immer stärkere Präsenz des MI5 in Nordirland seit den frühen 70er Jah201
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ren traf zeitlich mit der Zunahme von Arbeiterunruhen im übrigen Großbritannien zusammen. Extremistischere Kreise innerhalb des Militärs betrachteten die Situation, bestärkt durch ähnlich denkende Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Medien, als Teil einer weltweiten kommunistischen Verschwörung. Für die Geheimdienste war Irland die Frontlinie der linken Bedrohung des Vereinigten Königreichs und des großangelegten, Komplotts, das der kommunistische Block schmiedete, um das gesamte Vereinigte Königreich zu unterminieren … Die Medien spielten und spielen, soweit ich das beurteilen kann, immer noch eine zentrale Rolle in dieser psychologischen Kriegführung.«128 Im Dezember 1996 wurde Sean O'Callaghan, ein ehemaliger IRA-Kommandeur, der seine Beteiligung an mehr als 70 Angriffen auf Sicherheitsziele zugegeben hatte, überraschend begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen. Der MI5 schickte ihn umgehend in einen 10 000 Pfund teuren Kurs, in dem er auf »Medienauftritte« vorbereitet wurde, und seine IRA-Geschichte wurde zur Steigerung seiner Glaubwürdigkeit umgeschrieben. Danach tauchte der »ehemalige IRA-Führer« ständig in den Medien auf. Für seine Führungsoffiziere beim MI5 lief die Sache prächtig. O'Callaghan trat in der BBC-Nachrichtensendung World at One auf, dann in den Nine O'Clock News und in Newsnight. Seine Botschaft war unmissverständlich: »Der von der IRA ausgerufene Waffenstillstand war nie ehrlich gemeint … Die irische Regierung muss sich eingestehen, dass sie getäuscht wurde … Ohne politischen und militärischen Sieg über die IRA wird es keinen Frieden geben.« Der SDLP-Chef und Friedensvermittler John Hume »muss an die Kandare genommen werden«.129 All das hörte sich vertraut an. In der BBC und im Belfast Telegraph gab O'Callaghan seiner Meinung Ausdruck, dass »die politische Isolation, der Zermürbungskrieg mit den Sicherheitskräften und die Sendeverbote in Funk und Fernsehen die Aspekte 202
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[waren], die die IRA an den Rand der Niederlage« gebracht hatten. Im Independent wurde er mit den Worten zitiert, »das Gesetz zur Terrorismusbekämpfung von 1996 oder Vergleichbares« sei »im Kampf gegen den Terrorismus unverzichtbar«. O'Callaghans »Einsichten« deckten sich fast wörtlich mit der britischen Regierungspropaganda der vorausgegangenen 25 Jahre.130 In der irischen Presse, selbst in der konservativen Irish Times, wurden die Auslassungen O'Callaghans denn auch mit der gebotenen journalistischen Vorsicht behandelt. Die britische Presse dagegen, schreibt David Miller, »übernimmt im Allgemeinen kritiklos die Deutung des Irlandkonflikts als Kampf zwischen ›Terrorismus‹ und ›Demokratie‹.« Das hat das »Verhältnis der Republikaner zu den Medien nachhaltig getrübt«, so dass Journalisten immer wieder erleben, dass ihnen offiziell Kontakte verwehrt werden, die es ihnen ermöglichen würden, die Art der »Erkenntnisse«, die O'Callaghan zu bieten hat, objektiver zu beurteilen.131 In seinem 1969 erschienenen Buch Im Vorfeld des Krieges, das als Propagandamodell für den Krieg in Nordirland gelten kann, schreibt der Brigadegeneral Frank Kitson, die Regierung müsse vor allem »für ihre Sache werben und die des Feindes unterminieren, indem sie ihre eigene Einschätzung der Lage verbreitet«. Und was konnte diesem Ziel besser dienen als die altbewährte Kooperation mit einer dankbaren und beeinflussbaren Presse?132 Am 29. Dezember 1996 berichtete die Sunday Times auf ihrer Titelseite, dass »Gerry Adams und Martin McGuinness, die beiden führenden Strategen der Sinn Fein, nach Informationen britischer Geheimdienste in den Militärrat der IRA berufen« worden seien. Für diese »Geheimdienstinformation« gab es keinerlei Bestätigung. Zehn Tage später durfte der frühere Nordirlandminister Michael Mates im Observer die unbewiesene Behauptung wiederholen und noch hinzuzufügen, dass die beiden Männer 203
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»mit Sicherheit« Terroranschläge planen. »Mehr«, versicherte Mates im Observer, »braucht man dazu nicht zu sagen.« 133 Während des Waffenstillstands von 1994 bis 1996 hielten sich die Medien strikt an die Vorgaben der britischen Regierung, das heißt, sie richteten ihr Augenmerk weiterhin ganz auf die IRA. Die »Niederlegung« der Waffen durch die IRA wurde zum zentralen Thema, obwohl dies eigentlich kein Thema war. Gleichzeitig wurde weder den paramilitärischen Aktionen der Unionisten noch der massiven Aufrüstung der britischen Militärstützpunkte oder den Militäreinsätzen gegen republikanische Hochburgen wie die Grenzstadt Crossmaglen große Beachtung geschenkt. Während einer Entmilitarisierungskonferenz in Crossmaglen kreisten Armeehubschrauber über dem Veranstaltungsort. Dieses demonstrative Einschüchterungsmanöver blieb in den britischen Medien unerwähnt. Während des Waffenstillstands setzte die Polizeitruppe immer wieder Gummimunition ein, 100 solcher Geschosse wurden allein in Derry innerhalb von zwei Tagen abgefeuert. Auch darüber war in den britischen Medien kein Wort zu erfahren.134 Als die IRA im Februar 1996 ihre Bombenanschläge wieder aufnahm, wurde dies in der liberalen US-amerikanischen Zeitschrift Nation als »die unvertretbare Reaktion auf die Skrupellosigkeit eines Politikers« bezeichnet, »der bereit ist, den Frieden zu torpedieren, um im Amt zu bleiben«. Ähnlich deutlich wurde John Major in der Washington Post vorgeworfen, die Friedensverhandlungen bewusst zu sabotieren.135 Die Kommentatoren, die hier zu Wort kamen, waren bei weitem keine Sympathisanten der irischen Republikaner; in ihren Artikeln spiegelte sich vielmehr die Meinung vieler US-Amerikaner, die verstanden, warum die Bombenleger wieder aktiv geworden waren. Eine solche Sicht wird in Großbritannien negiert oder durch die floskelhafte Verurteilung von Gewalt verdeckt, oder Medien und Parlament breiten 204
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einen kollektiven Schleier des Schweigens darüber. Mit dem Film Hidden Agenda von Ken Loach, der 1988 in die Kinos kam und das Schweigen über die »mörderische« Regierungspolitik brach, begann das Kino eine Rolle zu übernehmen, aus der sich die Journalistenzunft verabschiedet hatte. Der Sturm der Empörung, den Loachs Film in der Presse entfachte, lässt vermuten, dass sich die Journalisten ihrer unrühmlichen Rolle im Nordirlandkonflikt durchaus bewusst waren. In einer Ansprache vor Besuchern des Londoner Filmfestivals äußerte der Filmemacher Jim Sheridan die Hoffnung, Filme wie Hidden Agenda, In the Name of the Father, Michael Collins und Some Mother's Son könnten »der britischen Öffentlichkeit allmählich einen Einblick in die Geschichte« eröffnen.136 Als Ende 1996 der Film Some Mother's Son, der von dem Hungerstreik handelt, bei dem 1981 zehn IRA-Häftlinge starben, in die Kinos kam, wurde er von allen Seiten als »antibritisch« oder als »IRA-Propaganda« denunziert. Die Daily Mail sagte besorgt voraus, der Film werde den »parlamentarischen Konsens in dieser Frage schwächen …«. Helen Mirren, die Hauptdarstellerin des Films, sah sich unablässig gedrängt, ein Treuegelöbnis für Königin und Vaterland abzugeben. »Mirren beeilt sich zu betonen«, schrieb Ian Katz im Guardian, »dass eine der sympathischsten Figuren im Film ein Beamter des britischen Außenministeriums ist, der sich vergeblich bemüht, die Streikenden zum Aufgeben zu bewegen. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch ihr die erkennbare Voreingenommenheit des Films Unbehagen bereitet. Sie hat ihrer eigenen Aussage nach hart dafür gekämpft, daß die ablehnende Haltung der von ihr gespielten Figur gegenüber der IRA und dem Hungerstreik zum Ausdruck kommt.«137 Anders als im Film dargestellt, war es jedoch in Wirklichkeit die IRA, die sich bemühte, die Häftlinge zum Abbruch des Hun205
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gerstreiks zu bewegen. Diese Tatsache war den Filmkritikern entgangen, die auch nicht danach fragten, ob es den »sympathischen« Beamten des Außenministeriums je gegeben hatte. »Erkennbare Voreingenommenheit« kann wie ein Spiegel sein. »Die Widersprüche und Ängste, die der Film aufzeigt«, schreibt der nordirische Drehbuchautor Ronan Bennett über Some Mother's Son, »werden das britische Kinopublikum sicher genauso aufrütteln wie andere Filme über Nordirland, die in letzter Zeit in den Kinos gezeigt wurden. Aber was soll es schaden, wenn er die Leute zu Diskussionen und Spekulationen anregt und sie dazu bringt, das Postulat in Frage zu stellen, auf das die britische Regierung nach wie vor ihre Nordirlandpolitik gründet? Die Fragen, die der Film aufwirft, können entweder beantwortet werden oder sie können es nicht.«138 *** »Europa« ist ein Reizthema, mit dem sich die britische Gesellschaft geradezu zwanghaft beschäftigt. Für die seriösen Medien sind die Politiker entweder »pro-europäisch«, »Euroskeptiker« oder »Kleinengländer«; die vornehmlich im Fachjargon geführte Debatte ist mit xenophobischen Einsprengseln gespickt. Interviewer wie Interviewte sprechen über »die Maastricht-Verträge«, ohne den Zuhörern oder Zuschauern auch nur ansatzweise zu erklären, um was es geht. Aber für die Mehrheit der Bevölkerung hat die Tatsache, dass Großbritannien Mitglied des »gemeinsamen Markts« und der Europäischen Währungsunion ist, weit reichende Konsequenzen. Dabei geht es nicht um das erhebende Gefühl europäischer Zusammengehörigkeit oder um die europäische Vorstellung von Demokratie und Wohlstand für alle. »Europa« ist ein Wirtschaftskartell, das von der deutschen konservativen Oberschicht und der Deutschen Bundesbank gelenkt wird, mit dem Ziel, dass 206
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die Haushaltsverschuldung und Inflationsrate aller Mitgliedsländer auf Null gesenkt werden, damit die D-Mark im Gewand des Euro zur stärksten Währung wird. Während die Regierungen Anstrengungen unternehmen, durch Maßnahmen wie Lohnkürzungen und Einschnitte in den Sozialversicherungen, der Bildung und im öffentlichen Verkehr diese Bedingungen zu erfüllen, zeichnet sich in der Europäischen Union, vor allem in den ärmeren Mitgliedsstaaten, eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe ab. Millionen Europäer haben im Bewusstsein dieser Situation vehement gegen »Maastricht« protestiert. In Frankreich kam das öffentliche Leben zweimal durch Streiks zum Erliegen. In Deutschland stieg die Arbeitslosenrate auf zwölf Prozent, den höchsten Stand seit der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933. Die britischen Medien fragten nicht nach den Ursachen, sondern nur nach der Wirkung und nach den Folgen für die politische Laufbahn Einzelner. Als die Menschen 1995 in französischen Großstädten massenhaft demonstrierten, interessierte die Medien lediglich die Frage, ob der damalige Premierminister Juppé mit seiner Politik der staatlichen Defizitbekämpfung politisch überleben würde. Ein Jahr später, während des Fernfahrerstreiks in Frankreich, beschäftigten sich die britischen Medien vor allem mit den negativen Auswirkungen, die der Streik für den britischen Handel hatte, und mit angeblichen »Einschüchterungsversuchen« gegenüber britischen Lastwagenfahrern, die in Krankreich gestrandet waren. In einem Beitrag der NineO'Clock-News ging es fast ausschließlich um die Anstrengungen, die britische Fernfahrer unternahmen, um den Blockaden zu entgehen.139 Die Gründe, die dazu geführt hatten, dass die Fernfahrer Straßen und Häfen blockierten, wurden kaum angesprochen. Der Nachrichtensprecher referierte über die »anarchistische Na207
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tur« französischer Arbeiter, als ob dies eine Erbkrankheit sei. Der positive und bewegende Aspekt einer vereint demonstrierenden Arbeiterschaft, die bei der Mehrheit des französischen Volkes Rückhalt genoss, wurde heruntergespielt.140 An dem Tag, als die Fernfahrer ihren Streik siegreich beendeten, gab der Pariser BBC-Korrespondent Hugh Schofield eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, bevor er eine Sprecherin der Arbeitgeberseite interviewte. In diesem Interview warf er den Arbeitgebern vor, »klein beigegeben« und sich der »Erpressung gebeugt« zu haben. Ohne sich auf die Argumentationslinie des BBC-Mannes einzulassen, erklärte die Frau, die Lkw-Fahrer seien schlecht bezahlt und es sei ihr gutes Recht, mit 55 in Rente zu gehen, »weil das ein sehr harter Job ist«. Wie absurd es war, dass die Arbeitgeberseite Partei für die Fernfahrer ergreifen musste, schien dem Reporter, der im Übrigen kein Wort darüber verlor, warum kein Gewerkschafter zum Interview geladen worden war, überhaupt nicht bewusst zu sein.141 Ich konnte nur einen einzigen Bericht entdecken, in dem ein Zusammenhang zwischen dem Fernfahrerstreik und der geplanten Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung hergestellt wurde. Das war ein Artikel von Martin Woollacott im Guardian. Er erklärte, warum »die Politik, die die Grundlage für die Einführung einer Gemeinschaftswährung ist, den Franzosen zunehmend gegen den Strich geht. Die Mehrheit der Franzosen haben mit den Fernfahrern sympathisiert; und vor die Wahl gestellt, ob die Haushaltsdefizite verringert und Arbeitsplätze geschaffen werden oder ein angemessenes Lohnniveau gewahrt werden soll, geben sie der zweiten Option den Vorzug … Der noch nicht ganz verwirklichte gemeinsame Markt ist bereits eine Kraft, die das Lohnniveau drückt und sich negativ auf die Arbeitsbedingungen auswirkt.«142 Massenstreiks in anderen europäischen Ländern waren den 208
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Nachrichtenmedien in Großbritannien kaum eine Meldung Wert, weder der lang anhaltende Lehrerstreik in Griechenland, an dem sich 70 000 Pädagogen beteiligten, noch die Streiks des Bus- und Metropersonals in Paris und der Stahlarbeiter in Belgien. Das bemerkenswerteste Ereignis geschah am 28. und 9. September 1997, als in 105 Häfen rund um die Welt aus Protest gegen die Entlassung von 500 Hafenarbeitern in Liverpool die Arbeit niedergelegt und kein Schiff mehr abgefertigt wurde. Die Sache war in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Es war eine in der Geschichte der Seefahrt nie dagewesene Aktion, und in den Medien erschien kein Wort darüber. Die »Marktkräfte« und ihre Folgen werden im Allgemeinen behandelt, als seien sie gottgegeben. Die Armut von mehr als 60 Millionen Rentnern in Russland ist für die BBC eine »Reform zur Öffnung des Marktes«, und wer sich dagegen auflehnt, ist ein »Hardliner« und »Kryptokommunist«. Wen wundert es da, dass BBC Radio Boris Jelzins Sturm auf das demokratisch gewählte russische Parlament, als sich das Ereignis jährte, als »die Heldentat« feierte, mit der »die Hardliner vernichtet wurden«.143 Und nun gebe es, so klagte der Moskauer Guardian-Korrespondent David Hearst, kein »Vertrauen mehr darauf, dass die demokratischen Werte die richtigen sind für das von Krisen erschütterte Russland … Es stellt sich die Frage, ob wir den Osten gewonnen haben oder ob wir im Begriff sind, ihn zu verlieren? [Hervorhebungen durch den Autor]« Wer ist »wir«? Genauer gesagt, warum ziehen sich Journalisten auf das zurück, was George Orwell als die »Sprache der Macht« bezeichnet hat?144 Das »Wir« hat lange Zeit dazu gedient, den zivilisierten Westen gegen die finsteren Mächte des Ostens abzugrenzen, und es wird heute mit bemerkenswertem Erfolg benutzt, um etwas zu propagieren, das wir als das »neue Großbritannien« bezeichnen. Es wurde am Tag des Wahlsiegs von Tony Blair geboren und ist 209
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der letzte Versuch, dem viktorianischen Modell, nach dem »wir« eine einheitliche Nation mit einer einheitlichen Identität sind, neues Leben einzuhauchen. Klassenunterschiede, die darüber bestimmen, wie viel man verdient und wie lange man lebt, haben keinen Platz in diesem »besseren und freundlicheren Land«, in dem nach Jeremy Hardings Worten »Michael Heseltine einen ehemaligen Bergarbeiter umarmt, weil sie beide Waliser sind, und in dem die Menschen über ihr eigenes Leben bestimmen können, so lange sie nicht ihre politischen Vertreter selbst auswählen oder ihren Arbeitgebern ins Zeug reden wollen«.145 »Kultur« ist alles; Stil und Image «machen den Unterschied«; Populismus ist Demokratie. Die Werbeagentur Demos, die das »neue Großbritannien« zum Schlagwort vieler ihrer Kampagnen macht, gibt Ratschläge für solche, die »die Kultur verändern wollen«. »Seid unverwechselbar«, heißt es da. »17 von 20 neuen Marken gehen wieder unter – hauptsächlich deshalb, weil sie den Konsumenten nichts Neues zu bieten haben. In einer Welt, in der ein Land kaum einen ›Wiedererkennungseffekt‹ hat, ist es unbedingt notwendig, ein unverwechselbares Verkaufsargument herauszustreichen«.146 Obwohl Blair unbestritten die treibende Kraft hinter der Idee eines »neuen Großbritannien« ist, bedurfte es, wie Jonathan Freedland in einem unvergesslichen Artikel im Guardian schrieb, »erst des Unfalltodes von Prinzessin Diana, um das Bild wirklich zum Leben zu erwecken«.147 Am Abend der Beisetzung verkündete der BBC-Reporter Gavin Eslar, dass wir »uns als ein Volk versammelt und erkannt haben, wer wir sind«. Kein rührseliges Klischee, kein salbungsvoller Erguss wurde ausgelassen, von: »Diana hat ihre Ruhe gefunden, die Nation nicht«, bis zu: »Es wird nie mehr so sein, wie es war«, schien den Kommentatoren keine Plattitüde zu abgeschmackt. Diejenigen, deren Aufgabe es eigentlich ist, gerade unter schwierigen und 210
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emotional aufgeladenen Umständen objektiv zu bleiben, fanden sich so mit der Rolle der Sargträger oder des kleinen Rädchens im Getriebe eines gewaltigen Medienspektakels ab. Wie schon im ersten Golfkrieg wagte kaum jemand, unangenehme Fragen aufzuwerfen; und diejenigen, die es doch taten, wurden als Ketzer diffamiert. Kaum einer wagte darauf hinzuweisen, dass hier eine reiche Aristokratin mit ihrem Playboy und einem alkoholisierten Chauffeur mit überhöhter Geschwindigkeit durch eine dicht besiedelte Innenstadt gerast war und das Leben unbeteiligter Verkehrsteilnehmer gefährdet hatte. Kaum einer wagte es, darauf hinzuweisen, dass sie, gemessen an den Möglichkeiten und Privilegien ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Reichtums, nur wenig zum Wohl der Menschheit beigetragen hatte und dass ihr eigenes, von den Medien konstruiertes Image ihre herausragendste Leistung war. Der größte Teil ihres geschätzten Vermögens von 40 Millionen Pfund ging nicht an die Hilfsorganisationen, die »ihr so sehr am Herzen lagen«.148 Außer mit »unserer« Trauer, waren die seriösen Medien mit der Sorge beschäftigt, die durch ihren Tod noch gestiegene Popularität Dianas könne sich zur Bedrohung für die königliche Familie erweisen. Das Gegenteil war der Fall. Die herrschende Klasse Großbritanniens stellte in der Woche der Trauerfeierlichkeiten für Diana einmal mehr ihre Fähigkeit unter Beweis, im Populismus aufzugehen und neue Kraft daraus zu schöpfen. Von einem prominenten Politiker kann man selbstverständlich erwarten, dass er sich eine solche Gelegenheit, durch Populismus zu glänzen, nicht entgehen lässt. Die »spontane und von Herzen kommende« Rede des Premierministers, mit der er auf die Nachricht von Dianas Tod reagiert hatte, war in Wahrheit von einem seiner vielen Ghostwriter in den frühen Morgenstunden für ihn verfasst worden. Aus dessen Feder stammte auch der Begriff »Prinzessin des Volkes«, den Politiker und Medien für211
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derhin unisono wie ein Mantra nachbeteten. Was die trauernden Massen betrifft – und ich will keineswegs die ehrlichen Gefühle der Menschen und ihre Begeisterung für eine Frau, der vermeintlich Unrecht geschehen war, herabwürdigen –, so wagten es nur wenige Journalisten, darauf hinzuweisen, dass sie ebenso ein Produkt der neuen Medienmacht und des damit verbundenen »Starkults« waren wie Dianas vergänglicher Nimbus. Ganz deutlich wurde dies, als die Leute vor der Kamera übereinstimmend die vorschnellen Urteile und Gerüchte wiederholten, die ihnen vorher als Nachrichten und aktuelle Berichterstattung präsentiert worden waren. Zum seriösen Journalismus gehört ein gewisses Geschichtsbewusstsein, und Geschichte verdichtet sich im Bild »trauernder« oder auf andere Weise »bewegter« Menschenmassen. Ich habe solche Momente erlebt. Als Papst Johannes Paul 1979 den Altar der schwarzen Madonna von Tschenstochau besuchte, jubelten ihm Millionen begeisterter Polen zu. Ich werde die Landschaft mit ihren grünen Wiesen, die mit Hunderten tragbarer Beichtstühle übersät waren, nie vergessen. Auch hier waren die Menschen »ergriffen« und überhäuften ihren Helden mit Blumen, genau wie bei Dianas Begräbnis. Zu den Beerdigungsfeiern für den ägyptischen Nationalisten Gamal Abdel Nasser und den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini versammelten sich Millionen trauernder Menschen. Das bedeutet nicht, dass sie sich der wahren Bedeutung des Ereignisses bewusst werden. Meiner Erfahrung nach ist eher das Gegenteil der Fall, und Journalisten, die dem keine Rechnung tragen, lassen diejenigen im Stich, die keine Blumen und Kränze niedergelegt und sich die Trauerfeier nicht im Fernsehen angesehen haben (fast die »halbe Nation«) und die daran glauben, dass sie aus den Medien die Wahrheit erfahren. In seinem Buch Joe McCarthy and the Press enthüllt der Autor 212
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und langjährige Reporter Edwin P. Bayley mit einigem Bedauern, auf welche Weise er selbst und die meisten seiner Kollegen sich zum »willfährigen Propagandawerkzeug« des McCarthyWahns in den Vereinigten Staaten hatten machen lassen. Kaum einer von ihnen hatte je eine Behauptung von amtlicher Seite angezweifelt oder das politische Machtspiel durchschaut. »Wir waren immer von unserer eigenen Objektivität überzeugt«, schreibt er.149 Vierzig Jahre später legte auch der langjährige BBCKriegsreporter und jetzige Parlamentsabgeordnete für den Bezirk Tatton, Martin Bell, mit Bedauern ein Bekenntnis ab. Den »Anspruch der Objektivität« empfand er jetzt als charakteristisch für einen »Zuschauerjournalismus«. Er glaube an einen »Journalismus, der Stellung bezieht – einen Journalismus, der sowohl mitfühlt als auch unterscheidet, der sich über seine Verantwortung im Klaren ist und nicht als neutrale Instanz über Gut und Böse, Recht und Unrecht, Opfer und Täter steht«. Bemerkenswert an Beils Wandlung vom Saulus zum Paulus ist – abgesehen von dem widersprüchlichen Wunsch, sich einerseits vom BBC-Prinzip der »Objektivität« zu lösen, andererseits aber an dem der »Unparteilichkeit festzuhalten« – die Tatsache, dass er offensichtlich nicht erkennt, welche Rolle die Medien und insbesondere die BBC als verlängerter Arm der herrschenden Macht per se spielen. Wann standen sie je als »neutrale Instanz über Gut und Böse, Recht und Unrecht, Opfer und Täter«? Bell hat natürlich Recht, wenn er den »Anspruch auf Objektivität« als Illusion bezeichnet; Orwell hat sie schon vor langer Zeit als solche durchschaut und abgetan. »Je mehr man sich der politischen Einseitigkeit bewusst ist«, schrieb er, »desto unabhängiger kann man sich davon machen, und je unparteiischer man sich gibt, desto voreingenommener ist man.«150 Man kann dies nur verstehen, wenn man hinter die altväterliche Fassade der 213
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Institution schaut, der Martin Bell gedient hat, und die »Sprache der Macht« erkennt, derer sie sich wirklich bedient. Bell aber begnügt sich damit, »der langen und ehrenwerten Tradition der Objektivität und Neutralität und der Kultur der Wahrheit« als immer noch gültigen Prinzipien der BBC zu huldigen.151 Er sollte das einmal den Bergleuten, den Iren und den Hafenarbeitern erzählen, den französischen Fernfahrern, den Menschen in Nicaragua, den Vietnamesen und den Russen, um nur einige zu nennen, deren Leben und Kampf im Namen der gleichen »Tradition« und »Kultur« zensiert, umgeschrieben und negiert wurde. Und vielleicht möchte er es seinem viel gescholtenen Kollegen Peter Watkins erzählen, der sich nicht lange mit dem Mythos der »Objektivität« aufhielt, sondern einfach der Wahrheit auf den Grund ging. Es wird Zeit, dass diesen Mythen ein Ende bereitet wird. Der große amerikanische Journalist T. D. Allman hat »objektiven Journalismus« einmal als solchen definiert, der »nicht nur die Fakten richtig erkennt, sondern auch die Bedeutung der Ereignisse. Objektiver Journalismus ist überzeugend, und zwar nicht nur für kurze Zeit, sondern auf Dauer. Er erlangt seine Gültigkeit nicht nur aus »zuverlässigen Quellen«, sondern auch aus dem Geschehen selbst. Es ist Berichterstattung, die nicht nur am Tag des Ereignisses als richtig erscheint. Es ist ein Journalismus, der auch zehn, zwanzig, fünfzig Jahre danach noch ein wahrhaftes und scharfsichtiges Bild des Ereignisses zeichnet.152
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Das letzte Wort
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen – ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert – ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert – ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte. Martin Niemöller
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or nicht allzu langer Zeit habe ich mich von einem Ort verabschiedet, an dem ich einen großen Teil meines Arbeitslebens verbracht habe. Es war die Heimat der freischaffenden Dokumentarfilmer von Central Television: ein unscheinbares zweistöckiges Reihenhaus in der Londoner Charlotte Street, das man leicht übersehen konnte. Nur die Nachtklingel gab einen Hinweis darauf, was sich hinter der Fassade verbarg. Der Eindruck änderte sich, wenn man das Foyer betrat, wo Michelle Hartree am Empfang saß und die Besucher in ihrer unnachahmlich überschschwänglichen Art an diesem Ort willkommen hieß, der Außenstehenden wie ein Nest verschworener Anarchisten vorkommen musste. Der Strom unserer Besucher riss nicht ab: Obdachlose, politische Dissidenten, die von guten und schlechten Filmideen besessen waren, talentierte Menschen, die ohne Bezahlung arbeiten 215
Das Medienzeitalter
wollten, unwirkliche Gestalten wie der Abtrünnige des britischen Geheimdienstes SAS, der der Regierung in London anrüchige Dienste erwiesen hatte und dem ein Stück vom Gesicht fehlte. »Charlotte Street«, wie unser Dokumentarnimzentrum kurz genannt wurde, war eine Ausnahmeerscheinung nicht nur im britischen Fernsehen: Hier wurden Filmemacher darin bestärkt, das zu drehen, was sie für richtig hielten, ohne offizielle Vorgaben und Reglementierungen. Die Filme, die hier entstanden sind, blicken hinter die Kulissen der Macht und des Zeitgeists, wie man es von jedem guten Journalismus erwarten kann. Die Umgebung spielte dabei eine bedeutsame Rolle. Die Charlotte Street ist das Rückgrat von Fitzrovia, einem der letzten urbanen Dörfer im Herzen von London, Wohnort von so berühmten Schriftstellern und Dichtern wie Dylan Thomas. Obwohl das hektische Treiben der Oxford Street nicht weit ist, hat sich die Charlotte Street ihren eigenen exzentrischen Charme bewahrt. Die Bilderstürmer in unserer Nachbarschaft, wie der revolutionäre Index-Buchladen beispielsweise, hätten in einem bürgerlicheren Viertel genauso wenig überlebt wie der Mann mit dem Schlapphut, der lautstark gegen die Autos zu wettern pflegte und den die Leute vom Restauraunt Villa Carlotta und aus dem gegenüberliegenden Feinkostgeschäft Camisa mit Essen versorgten. An meinem Arbeitsplatz stieg mir um die Mittagszeit, wenn in den beiden nahe gelegenen Restaurants – einem Griechen und einem Italiener – in großen Pfannen gebruzzelt wurde, der Geruch von Knoblauch und Basilikum in die Nase, der verriet, welches Tagesgericht auf der Karte stand. Im Sommer winkten wir den Leuten zu, die es sich in ihren Liegestühlen auf den Dächern zwischen den Schornsteinen gemütlich gemacht hatten. Bei uns herrschte so drangvolle Enge, dass wir nur im Gänsemarsch die Türen passieren konnten. Bei Auslandsgesprächen konnte es passieren, dass der Gesprächspartner Witze über unse216
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re Klospülung machte. Es war praktisch niemandem möglich zu telefonieren, ohne dass jemand mithörte, außer dem Regisseur Adrian Cowell vielleicht, wenn er auf Portugiesisch flüsterte. Gelegentlich wurden die Telefonleitungen angezapft, und wenn gerade an einem Film gearbeitet wurde, der Staatsgeheimnisse zu enthüllen drohte, kam es auch schon einmal zu einem Einbruch. Aber letztendlich fanden sie nie etwas; wahrscheinlich war das Chaos einfach zu groß. Als jedoch Michelle Hartree zum dritten Mal kündigte (sie war eine begnadete Tänzerin und arbeitete nebenbei bei einem Zirkus als Assistentin des Messerwerfers), wussten wir, dass allmählich auch unsere Stunde geschlagen hatte. Die Idee, ein solches Dokumentarfilmzentrum einzurichten, stammte von Richard Creasey, einem freundlichen, engagierten Mann, der auch Link, die erste Fernsehserie für Behinderte, produziert hat. Als Programmdirektor bei ATV (Associated Television), dessen Nachfolge Central Television antrat, war er 1980 auf der Suche nach einem Ort, an dem, wie er sagte, »Filmemacher mit unserer Unterstützung aus ihren Ideen Filme entwikkeln konnten, über deren Fortschritte sie uns gelegentlich Bericht erstatteten; wir wurden nur selten enttäuscht«. Richards Nachfolger Roger James, ein fähiger Redakteur, förderte die Arbeit von Leuten, die andere vielleicht abfällig als Klinkenputzer abgetan hätten, die aber, als ihnen die Möglichkeiten und die Mittel zur Verfügung gestellt wurden, unvergessliche Filme produzierten. Dazu gehören Adrian Cowells Decade of Destruction, eine aufrüttelnde Dokumentarserie über die Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasgebiet; In Search of the Assassin von Judy Jackson, die ein anschauliches Bild der CIA-Aktivitäten in Mittelamerika zeichnet; Chris Menges East 103rd Street, das faszinierende Porträt eines verloren geglaubten und wieder entdeck217
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ten New York; Brian Mosers poetische Südamerikadokumentation Before Columbus; Thy Kingdom Come and Thy Will Be Done on Earth von Antony Thomas, ein Film über die Geschichte der Episkopalkirche in den USA; Juris Podniks Film Hello, Can Your hear Us?, in dem der mittlerweile verstorbene Regisseur ein Streiflicht auf Ost- und Mitteleuropa im Zeichen des Umbruchs wirft; und Michael Grigsbys Living on the Edge über Armut und Verelendung in Thatchers Großbritannien. Auch Ken Loachs Questions of Leadership, eine vierteilige Dokumentarserie über die Verflechtungen zwischen Gewerkschaftsführungen und Thatcher-Regierung, ist in der Charlotte Street entstanden. Mit Hilfe juristischer Spitzfindigkeiten wurde die Ausstrahlung der Serie vorerst verhindert und war erst später in stark beschnittener Form möglich – eine unrühmliche Geschichte. Gemeinsam mit Alan Lowery habe ich in der Charlotte Street The Last Dream produziert, eine Dokumentation über die unrühmlicheren Aspekte der ausbeuterischen Vergangenheit und Gegenwart unseres australischen Heimatkontinents. Und für die fünf Kambodscha-Dokumentationen, die neben vielen anderen Filmen aus meiner langjährigen Zusammenarbeit mit David Munro hervorgegangen sind, wurde die Vorbereitungs-, Recherche- und Produktionsarbeit ebenfalls in dem beengten, feuergefährdeten Domizil gegenüber dem Feinkostgeschäft geleistet. Es ging das hartnäckige Gerücht, die Institution sei ein Minusgeschäft; in Wirklichkeit bescherte sie Central Television jedoch einen bescheidenen, aber regelmäßigen Gewinn, vor allem deshalb, weil unsere Filme in die ganze Welt verkauft wurden und unser britisches Stammpublikum notfalls bis spät in die Nacht aufblieb, um sie sich anzusehen. Als ITV (Independent Television) den Film Death of a Nation ausstrahlte, den ich zusammen mit David Munro über ein unbekanntes Fleckchen Erde namens Ost-Timor gedreht hatte, verzeichnete British Telecom 218
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nach Mitternacht unter seiner Servicenummer 4000 Anrufe pro Minute. Charlotte Street wurde schließlich aufgelöst, weil die Einrichtung nicht in das Unternehmenskonzept der Zukunft passte. Angeblich gaben sich die Obdachlosen bei uns zu oft die Klinke in die Hand und schliefen in unserem Hauseingang. Bezeichnenderweise erfolgte der endgültige Rausschmiss durch den neuen Firmeninhaber Carlton just an dem Tag, an dem die damals zuständige Tory-Ministerin Virginia Bottomley das neue Rundfunkgesetz verkündete, das die Übernahme kleiner Fernsehsender durch die reichsten und größten kommerziellen Gesellschaften überhaupt erst möglich machte. Das ist der Trend. Die Größten und Reichsten schlucken nicht nur kleine Fische wie Charlotte Street, sondern sie beherrschen die Medien weltweit: Nachrichten, aktuelle Reportagen und Dokumentationen, unsere wichtigsten Informationsquellen. Begonnen hat diese Entwicklung in den 90er Jahren in den Vereinigten Staaten mit der Übernahme der American Broadcasting Company durch den Disney-Konzern, von Paramount Communications durch Sumner Redstone, dem Zusammenschluss von Time Warner und Turner (CNN) zum weltgrößten Medienmonopol und dem Aufstieg Rupert Murdochs zum Herrn über das größte USFernsehnetz. Murdochs Freund John Malone besitzt jetzt 23 Prozent aller Kabelfernsehsender weltweit. In Großbritannien beherrschen die beiden Gesellschaften Granada und Carlton das ITV-Sendernetz, und die Zukunft des digitalen Fernsehens gehört Murdoch und seinen Freunden. Ken Auletta beschrieb im New Yorker ihre Strategie. Murdoch ist seinem Artikel zufolge derjenige, »der das erste globale Mediennetz schuf, indem er sowohl in die Software (Filme, Fernsehserien, Sportübertragungen und Verlagsprodukte) als auch in die Vertriebskanäle zur Verbreitung dieser Software (Fox-Gruppe, 219
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Kabel- und Satellitenfernsehsysteme) investierte. In ein paar Jahren werden über das Satellitensystem der News Corporation der südamerikanische Kontinent, Asien, Europa und Teile des Nahen Ostens und Afrikas bedient werden. ›Grundsätzlich‹, so Murdoch, ›wollen wir Satellitenplattformen in weiten Teilen der Welt einrichten.‹«153 Er und Malone hoffen auf 30 Millionen PayTV-Abonnenten, die sie unter sich aufteilen können. Wenn es nach Murdoch geht, wird die technische Entwicklung in naher Zukunft »die alte Regulierungsmaschinerie überrollen und Politikern und Regulatoren ein Schnippchen schlagen«.154 Und zwar überall. Man denke nur an die besonderen Beziehungen, die er zu den Machthabern des bevölkerungsreichsten Staates der Welt unterhält. In einer Rede über die »Kommunikationsrevolution« sprach Murdoch 1993 davon, dass die Fortschritte in der Medientechnologie eine »eindeutige Bedrohung für alle totalitären Regime« seien.155 Die Antwort der chinesischen Regierung war ein Gesetz, das Privatleuten den Besitz von Satellitenschüsseln verbot, wodurch Murdochs Star TV in Hongkong seinen größten Markt verlor. Als einer, der aus Fehlern lernt, machte sich Murdoch umgehend daran, das Regime zu beschwichtigen und zu hofieren. Der erste Schritt bestand darin, dass BBC World seinen asiatischen Satellitensender nicht mehr nutzen durfte. Die Regierung in Peking hatte gegen die BBC-Berichte über das TiananmenMassaker sowie eine BBC-Dokumentation über Mao Tse-tung protestiert. »Die BBC hat sie wahnsinnig gereizt«, sagte Murdoch. »Das ist es nicht wert. Die chinesische Regierung hat eine Heidenangst wegen der Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz. Die Wahrheit ist – und wir Amerikaner geben das nur ungern zu –, dass ein autoritäres System durchaus funktionieren kann.«156 Als nächstes fasste Murdoch ein Jointventure mit dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, dem People's Daily, ins 220
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Auge, um seine Informationstechnologie zu verkaufen. 1996 folgte der Chefredakteur des People's Daily, Shao Huaze, der gleichzeitig Vorsitzender des Zentralkomitees der KPCh war, einer Einladung der Times und stattete Großbritannien einen Besuch ab. Er residierte im Ritz, wo ihm Premierminister Major seine Aufwartung machte. Kurz darauf sendete Murdochs Star TV eine im Auftrag der chinesischen Regierung gedrehte Dokumentarreihe über das ruhmreiche Leben und Wirken des »großen Staatsmannes« Deng Xiaoping. Der Film basierte auf einer völlig unkritischen Biografie der Tochter Dengs, die bei Basic Books erschienen war, einem Tochterunternehmen von HarperCollins. Eigentümer: Rupert Murdoch.157 Murdoch ließ die Autorin in die USA einfliegen und beherbergte sie auf seiner Ranch, wo er rauschende Partys für sie veranstaltete und Lobreden auf ihren Vater hielt, »der China in die moderne Welt geführt hatte«.158 Es war gerade so, als hätte es die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens 1989 nie gegeben. Wie bekannt wurde, bot Murdoch den chinesischen Diktatoren im Rahmen des Geschäfts mit dem People's Daily eine Decodertechnik an, mit deren Hilfe Fernsehsendungen vor ihrer Ausstrahlung überprüft werden können, was von seiner Firmenleitung allerdings abgestritten wurde.159 Was ihm vorschwebt, ist ein Gemeinschaftsunternehmen, das es ihm ermöglicht, China für sein Bezahlfernsehen zu verkabeln, und sein jüngstes Geschäft mit Peking lässt darauf schließen, dass er sein Ziel bald erreicht haben wird. Zusammen mit dem People's Daily richtete er 1997 den englischsprachigen Internetdienst Chinabyte ein. Politische Inhalte werden zensiert werden, und den chinesischen Nutzern wird der Westen aus Murdochs Sicht präsentiert werden. 221
Das Medienzeitalter
*** 90 Prozent der Pressenachrichten aus aller Welt und der aktuellen politischen Berichterstattung gehen auf einen immer kleiner werdenden Kreis immer reicherer und immer mächtigerer Informationsquellen zurück. Der Löwenanteil der Agenturmeldungen stammt von den drei Nachrichtenagenturen Associated Press, Reuters und Agence France Press – einem USamerikanischen, einem britischen und einem französischen Unternehmen. Reuters und AP verdienen Unsummen mit dem Verkauf von Finanz- und Wirtschaftsinformationen; ihre Redaktionen sind zur Schaltzentrale des »freien Marktes« geworden. AP macht seine größten Umsätze mit amerikanischen Kunden, und die Agentur berichtet vornehmlich über Ereignisse in den Vereinigten Staaten. Nachrichten aus Afrika nehmen weniger als fünf Prozent der Meldungen ein und beschränken sich im Allgemeinen auf Katastrophenberichte.160 Julius Nyerere, der frühere Präsident von Tansania, hat einmal sarkastisch vorgeschlagen, die Bürger seines Landes an den Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten teilnehmen zu lassen, weil sie mit ebenso vielen Informationen über die Kandidaten bombardiert werden wie die Amerikaner selbst.161 Der Fernsehmarkt in aller Welt wird von nur zwei Agenturen mit Auslandsnachrichten versorgt: Reuters TV (bis 1992 Visnews) und World Television Network (WTN). Reuters bedient 400 Fernsehstationen in 85 Ländern mit 500 Millionen Zuschauern. WTN erreicht schätzungsweise drei Milliarden Zuschauer. Die folgenden Plätze teilen sich zwei weitere westliche Sender: CNN und BBC World. Außerdem gibt es das Internet, das bei all seiner Vielfalt und seinen Möglichkeiten im Grunde genommen ein elitäres Medium ist, da die Mehrheit der Menschen keinen Telefonanschluss, geschweige denn einen Computer besitzt. 222
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Auf einer Medienkonferenz der Financial Times im Jahr 1996 sagte ein Mann, der als »Rupert Murdochs technischer Guru« vorgestellt wurde, voraus, man werde im Jahr 2000 in der Lage sein, »eine Zeitung nicht wie bisher im Internet in einer Stunde, sondern mit Hilfe von digitalen Satellitensignalen in zehn Sekunden um die Welt zu schicken«. Niemand fragte danach, welchen Unterschied das für den Inhalt der Zeitung machen würde. Die Sun ist, auch wenn sie in zehn Sekunden um die Welt geht, leider Gottes immer noch die Sun; die Sunday Times bleibt auch in digitalisierter Form immer noch die Sunday Times. Kein Zwischenrufer stellte die Frage: »Wozu das Ganze?«162 Auf Veranstaltungen dieser Art wird gern behauptet, ein neuer »technologischer Determinismus« habe den alten »ökonomischen Determinismus« verdrängt. Beide Bezeichnungen sind beschönigende Umschreibungen für die jüngste Variante des Laissez-faire-Kapitalismus. Das Kind wird allerdings nie beim Namen genannt. Darüber, welche gesellschaftlichen Folgen die rasante Entwicklung der Medientechnik hat, spricht man nicht. Wenn moderne Medienmanager über ihren Beruf sprechen, feiern sie die Chuzpe ihrer Bosse. Der Disney-Chef Michael Eisner streicht zehn Millionen Dollar pro Jahr ein. Murdoch belohnt seine Topmanager mit Gehältern und Gratifikationen im Gesamtwert von 45 Millionen Dollar. Michael Grade, der ehemalige Chef von Channel 4, ist mit Aktienoptionen geradezu überschüttet worden. Zugleich werden die Etats für Informationsprogramme zusammengestrichen. Die Nachrichtenprogramme von Independent Television News (ITN), auf die das Unternehmen früher so stolz war, leiden unter Sparmaßnahmen und Gewinndruck, die BBC wird von ihrem Verwaltungsapparat schier aufgefressen, der neue Channel 5 ist die Fernsehvariante einer Spielhalle (»Bleibt dran oder macht die Bahn frei«, lautet die Ansage zwi223
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schen den Sendungen). Die »Allroundqualifizierung«, die heute zur Doktrin erhoben wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine »Entqualifizierung« der Fernsehberufe, die darin gipfelt, dass jeder, der eine Videokamera besitzt, glaubt, ein Filmemacher zu sein und einen »beobachtenden Dokumentarfilm« machen zu können, indem er die Kamera einfach in die Gegend hält. Murdochs Satellitenkanal BSkyB bietet eine Sendestunde für 2000 Pfund an. 1998 hat es mehr als 170 Satelliten- und Kabelstationen gegeben, die den Zuschauern bei minimalen Kosten und maximalem Gewinn – um mit dem L!ve-TV-Chef David Montgomery zu reden – »aufregendes, unverfälschtes Fernsehen« ins Haus brachten.163 Mit anderen Worten: gefühlsbetonten, irrelevanten Schund. Murdoch nutzt seiner eigenen Aussage nach die Übertragungsrechte für Sportveranstaltungen als »einen Rammbock«, mit dessen Hilfe er die alten Strukturen zu zerstören und an ihrer Stelle das Bezahlfernsehen zu etablieren gedenkt. Da ihn kein Gesetz dazu zwingt, über seine Kabel- und Satellitensender die Informationssendungen auszustrahlen, die aufwendig recherchiert sind und wenig Profit bringen, kann Murdoch mit den Gewinnen aus seinem Firmenimperium, gepaart mit der bemerkenswerten Fähigkeit, durch weltweite Kapitalverschiebungen Steuern zu sparen, die BBC bei der Vergabe von Exklusivrechten für Sportübertragungen und andere beliebte Unterhaltungsformate mühelos überbieten. Die BBC verliert ihre Zuschauer, und es wird immer schwieriger, die Gebührenerhöhungen für die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten zu rechtfertigen.164 Unter dem Druck der Konkurrenz entwickelt sich die BBC allmählich, entgegen ihrer ursprünglichen Bestimmung, zu einem kommerziellen Unternehmen wie andere auch. 1997 kam 224
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ein Kooperationsvertrag zwischen der BBC und John Malones populärwissenschaftlichem Discovery Channel zustande, in dem die Koproduktion von Dokumentarfilmen und die gemeinsame Nutzung von Kabel- und Satelliteneinrichtungen in aller Welt festgeschrieben wurde. Discovery vergibt Aufträge zu Filmproduktionen nur, wenn die Marktforschung ausreichendes Interesse signalisiert; kontroverse Themen sind tabu. Das um-fassende Vertragswerk enthält 61 Vereinbarungen und Bedingungen, deren Inhalt von der BBC, einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt, beharrlich unter Verschluss gehalten wird. Die Zwänge kommen nicht immer von außen. Wie Murdoch bemüht, das chinesische Regime nicht zu verärgern, pfiff die BBC einen Reporter zurück, als dieser für die Nine O'Clock News in chinesischen Fabriken recherchieren sollte, in denen unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen billiges Spielzeug für das britische Weihnachtsgeschäft produziert wird. Newsnight ließ die Absicht, geheimes Filmmaterial aus Tibet zu zeigen, nach »internen Beratungen« wieder fallen. Die BBC verkauft mit zunehmendem Erfolg Sprachkurse, Bücher und erfolgreiche Serien wie Stolz und Vorurteil und Das geheime Leben der Pflanzen nach China. »Unsere Programmmacher«, so ein BBC-Vertreter, »müssen in China arbeiten und sind auf Kontakte zu den Entscheidungsträgern angewiesen.«165 Beim Rundfunk sieht die Sache nicht anders aus. Unter der Aufsicht einer neuen, »weniger strengen« Regulierungsbehörde hat sich die Zahl der kommerziellen Radiosender in Großbritannien in den letzten Jahren verdoppelt. Dem Rundfunkgesetz von 1996 zufolge sollte dies zu einer größeren Auswahl und Vielfalt führen. »In Wirklichkeit«, schreibt Bob Franklin in Newszak and the New Media, »hat diese Politik genau das Gegenteil bewirkt. Der Markt bestraft diejenigen, die sich zu weit vom Mainstream entfernen, und das Ergebnis ist ein eintöniges, homogenes Ange225
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bot, das keinerlei Überraschungen birgt.«166 Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan irrte, als er in den 60er Jahren vorhersagte, die modernen Informationstechniken würden aus der Welt ein »globales Dorf« machen, Sprachbarrieren und Entfernungen überwinden und den Menschen einen »vernetzten« Sozialismus bescheren. Alle Medien sind eine Ausweitung unserer Sinne, und das Medium ist die Botschaft, lautete sein Credo. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1980 änderte McLuhan seine Meinung. Er prophezeite nun eine Technik, die außer Kontrolle geraten werde, und Menschen, die zu »Hilfsmechanismen« eines technologischen Systems werden würden, in dem einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit das Sagen hätten.167 Norbert Wiener, der amerikanische Mathematiker und Begründer der Kybernetik, sagte schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren voraus, dass die technische Entwicklung zu einem Ausmaß an Arbeitslosigkeit führen werde, »gegen die selbst die Depression der 30er ein Witz« gewesen sei.168 Heute betrachten die tonangebenden Leute solche Ansichten als hoffnungslos antiquiert. So nimmt es nicht wunder, dass sie, außer auf »alternativen« Konferenzen oder in der Undergroundliteratur, kaum noch zum Ausdruck gebracht werden. Eine ausgesprochen eloquente Systemkritikerin ist die indische Physikerin, Agrarwissenschaftlerin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Vandana Shiva, die seit langem gegen die vom Westen erzwungene »geistige Monokultur« kämpft und zum »Aufstand des unterdrückten Wissens« gegen das kapitalistische »Herrschaftswissen« aufruft. »Dieses Herrschaftswissen ignoriert eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Natur und das Universum zu begreifen«, schrieb sie. »Wir könnten auf 90 Prozent davon verzichten, ohne dass die Menschen etwas entbehren müssten.«169 226
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Die Medientechnik hat sich zu einem wundersamen Ding entwickelt. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Bilder sowie das gesprochene und das gedruckte Wort übermittelt werden können, sollte das Zusammentragen von Fakten und Informationen eigentlich so spannend sein, dass wir, die wir uns noch mit Telegrafenämtern und schlechten Telefonverbindungen herumzuschlagen hatten, vor Neid erblassen müssten. Bedauerlicherweise ist es aber nicht nur das traditionelle journalistische Handwerkszeug, das seine Bedeutung verloren hat, sondern der journalistische Geist selbst. In Canary Wharf, dem gläsernen Obelisken, der hoch über das ehemalige Londoner Hafengebiet aufragt, werden fünf überregionale britische Zeitungen produziert. Journalisten nennen das Gebäude auch »das Wahrheitsministerium«. Hier kreist der Journalismus nur noch um sich selber. Wenn der Besucher die »Sicherheitszonen« überwunden hat, wird ihm bewusst, wie still es um ihn herum ist: Schritte sind nicht zu hören, Stimmen klingen gedämpft und wie aus weiter Ferne. Blickkontakt findet nur mit den aneinandergereihten Anzeigenmonitoren statt. Der Geruch ist vollkommen neutral, man riecht weder Tinte noch alte Holztäfelungen oder Putzmittel in den Fluren. Das Ganze erinnert irgendwie an einen hoch aufragenden Flughafenterminal. Das Stockwerk, in dem der Daily Mirror sein Domizil hat, wird mit Videokameras überwacht, und in den Redaktionsräumen patrouillieren Sicherheitskräfte. Einmal wurde ein Reporter zu seinen Vorgesetzten zitiert, weil ihn die Videoaufzeichnungen der »Faulenzerei« überfuhrt hatten. »Keiner verlässt seinen Schreibtisch ohne seine persönliche Chipkarte«, erzählt ein Journalist. »Wir sind so weit von unseren Lesern entfernt, wie man es nur sein kann.«170 Der Reporter von altem Schrot und Korn hat keinen Platz mehr in einer solchen Umgebung. Man denke nur an Leute wie 227
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Robert Fisk, Ed Vulliamy und Maggie O'Kane. Ihre journalistische Erfahrung hat sie gelehrt, sich Zeit zu nehmen und den Menschen zuzuhören; sie nehmen bereitwillig Gefahren und Unbequemlichkeiten auf sich, um Spuren zu verfolgen und Fakten zu sammeln. Sie bringen den Mächtigen Skepsis entgegen. Sie sind das, was eigentlich alle Reporter sein sollten, nämlich echte Enthüllungsjournalisten. Isolation und Ausdünnung der Belegschaften haben hingegen einen Typus des Allroundjournalisten geschaffen, der nicht etwa ein Alleskönner ist, sondern ein bedauernswerter Opportunist, der für die unterschiedlichsten Publikationen einer Unternehmensgruppe arbeiten muss, ohne so etwas wie ein Loyalitätsgefühl zu entwickeln. Für Recherchen ist keine Zeit; um zum Telefonhörer zu greifen oder am Bildschirm Zeitungsartikel zu überfliegen, braucht man keine spezielle Ausbildung, und es kostet nicht viel. Die Folge dieser Entwicklung sind Zeitungen, die den Worten des Medienkritikers Julian Petley zufolge keine Vehikel der Wissbegierde und Wahrheitssuche mehr sind, sondern nur noch die Eitelkeit befriedigen.171 Der so genannte weltstädtische Journalist ist mehr mit sich selbst beschäftigt als mit anderen. Für weibliche Reporter bedeutet das »Beziehungen« und exhibitionistische Nabelschau, Themen, die zwanghaft um Kinder kreisen, und alle möglichen Sorgen und Ängste der Mittelklasse. Kaum eine Journalistin, deren Artikel nicht die Klischees der Frauenzeitschriften bedienen würden: das, was indische Frauen den »Sari-Talk« nennen, mit anderen Worten Klatsch und Tratsch, eben auch eine Form von opportunistischem Journalismus. In ihm sucht man vergeblich den Mut zur konsequenten Wahrheitssuche und zur Erkenntnis. Niemand scheint es zu wagen, den Feminismus wieder von der Couch des Psychiaters zu holen und Frauen wie Männern klar zu machen, dass kein Unterschied besteht zwischen einem arbeits228
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losen Stahlarbeiter und einer allein stehenden minderjährigen Mutter, die sich und ihr Kind schlecht und recht in einer Mietskaserne durchbringen muss, und dass es nur dann mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geben kann, wenn man diesen politischen Zusammenhang herstellt. Frauenthemen sind in unserer seriösen Presse so einseitig geworden, dass feministische Artikel über den Kampf benachteiligter Frauen in aller Welt um mehr Freiheit und Gerechtigkeit eine Seltenheit sind. Eine Ausnahme bildet Sheila Rowbotham. Die Autorin veröffentlichte 1997 eine erfrischende Streitschrift gegen einen Journalismus, der sich ausschließlich mit den »persönlichen Miseren der Mittel-klasse« beschäftigt und die »Erfahrungswelt der großen Mehrheit« nicht einmal streift. Die Debatte über Frauenangelegenheiten, so argumentiert sie in ihrem Buch, ist wie eine Plattennadel, die in der letzten Rille hängen geblieben ist. Sie zählt einige beispielhafte Initiativen von Frauen auf, die »das Unvorstellbare taten und dachten …, die in ihrer Not und Verzweiflung den Mut und das Selbstvertrauen aufbrachten, sich gegen die Verherrlichung der ›Flexibilität‹ und der Marktkräfte aufzulehnen, die ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen drohten«. Als eines von vielen leuchtenden Beispielen nennt sie die Vereinigung von Kleinunternehmerinnen (SEWA) im indischen Ahmedabad. Die SEWA ist zugleich Aktionsgruppe und Gewerkschaft für ihre verarmten Mitglieder, zu denen Müllsammlerinnen ebenso gehören wie Straßenverkäuferinnen, Land- und Heimarbeiterinnen. Unter dem Motto »Würde und tägliches Brot« vertritt die Organisation mittlerweile mehr als 200 000 Frauen. In Peru, Mexiko, Brasilien und Südafrika engagieren sich Tausende von Frauen für Aktionen und Projekte, bei denen es um Dinge wie »Preise, Mieten, soziale Grundbedürfnisse, Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Hygiene« geht. Rowbotham ruft uns auch in Erinnerung, dass es nicht nur in 229
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den Ländern der Dritten Welt Frauen gibt, die, unbeachtet von den Kameras, für ihre Rechte kämpfen. So haben schwarze und indigene Frauen in den Armengegenden der Vereinigten Staaten zum Protest gegen Giftmülldeponien aufgerufen, in deren Umkreis eine wachsende Zahl von Fehlgeburten und Missbildungen registriert wurde. Zu diesen »militanten Müttern« zählt beispielsweise Dolly Burwell, die immer wieder im Gefängnis saß, weil sie hartnäckig gegen die PCB-Vergiftung des Bodens in ihrer Heimatgemeinde protestiert hat. Dies ist ein Feminismus, der weit über das hinaus geht, was uns in der Presse als Frauenthemen verkauft wird. »Von diesen Frauen können diejenigen, für die Feminismus nicht nur die Sache einer privilegierten Minderheit ist, sehr viel lernen«, schreibt Rowbotham, »und nicht nur diese, sondern jeder, der sich gegen eine aus den Fugen geratene Gesellschaft und ein politisches System wehrt, in denen Ungleichheit und Ungerechtigkeit als Selbstverständlichkeit hingenommen werden.«172 Ihre Worte treffen auch auf die männlichen Kollegen zu, die nichts weiter sind als die Wegbegleiter der Mächtigen und sich auf das geschickte Taktieren der Politiker und Meinungsmacher und den »Insidertratsch« der Mediengemeinde beschränken – auf das eben, was Francis Scott Fitzgerald in Der große Gatsby als »spöttelnde Inkonsequenz« bezeichnet hat. Diese MöchtegernMeinungsmacher bedienen sich einer »ironischen Arroganz«, so etwa der Kommentator, dem Tony Blairs »revolutionärer Akt«, den Mitgliedern seines Kabinetts zu erlauben, dass sie sich mit dem Vornamen anreden, eine ganze Kolumne wert war. Falsche Symbolik ist alles; auf politische Inhalte kann man verzichten.173 Und die Leser werden, gleichgültig ob seriöse Zeitung oder Boulevardblatt, nicht zum kritischen Denken angeregt, sondern eingelullt, bis sie »Ungleichheit und Ungerechtigkeit als Selbstverständlichkeit hinnehmen«. Auch wenn einige wenige Aus230
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nahmejournalisten hin und wieder die Korruption unter den Machern und Nutznießern des Systems aufdecken, bleibt das große Ausmaß dessen, was faul ist in der Gesellschaft, im Dunkeln. 1988 schrieb der Literaturkritiker DJ. Taylor einen hervorragenden Artikel mit der Überschrift »Wenn die Feder schweigt«. Er baute das Thema weiter aus, und es entstand das Buch A Vain Conceit, in dem er darüber nachgrübelt, warum der englische Roman so oft zum »seichten Salongeplauder« verkommen ist und warum britische Autoren, anders als ihre Kollegen in Lateinamerika beispielsweise, die großen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart meiden wie die Pest. Wo, so fragt er sich, sind sie, die George Orwells, Upton Sinclairs und John Steinbecks unserer Tage? Nicht anders sieht es im Journalismus aus. Wenn ich Orwell zur Hand nehme, bin ich immer wieder erstaunt, mit welch sicherem Gespür er die Lügen aufdeckt, die sich hinter der Fassade des Status quo verbergen. Doch die Literaturpreise, die in seinem Namen an Autoren und Journalisten vergeben werden, spiegeln dies selten wider. John Keane, der Leiter der Jury, die 1995 über die Vergabe des Orwell-Preises für politische Schriften entschied, tadelte in einem Observer-Artikel all jene, die sich rückbeziehen auf eine »imaginäre goldene Vergangenheit«. Wenn die Vergangenheit aber imaginär ist, warum dann einen Preis in Orwells Namen verleihen? Keane wirft diesen »nostalgischen Träumern« vor, den Schriftstellern und Journalisten, die das »Ende der alten Kluft zwischen der Rechten und der Linken begreiflich machen«, ihre Anerkennung zu versagen.174 Welches Ende? Die Annäherung zwischen Labour und Tory in Großbritannien, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA ist nichts anderes als der historische Schulterschluss grundsätzlich Gleichgesinnter. Die wirkliche Kluft zwischen 231
Das Medienzeitalter
Linken und Rechten liegt außerhalb der Parlamente und war nie tiefer. Sie reflektiert das beispiellose Ungleichgewicht zwischen der Armut der Mehrheit und der Macht der wenigen Privilegierten, die über die Reichtümer der Welt bestimmen. Erzählen Sie den Leuten in Glasgow Pollock, dass es zwischen Rechten und Linken keinen Unterschied mehr gibt. Dort sind in den letzten zwölf Jahren die Arbeitsplätze in der Industrie um 50 Prozent zurückgegangen, und Armut ist ein Dauerzustand. »Es ist so, als hätte man eine Decke über den Ort gezogen,« schreibt Tommy Sheridan, sozialistischer Stadtrat mit Wohnsitz in Pollock. Wo sind die Orwells, die Der Weg nach Pollock schreiben?175 In den Vereinigten Staaten, wo Medienkritik nicht wie in Großbritannien nur ein Publikumssport ist, hat der Soziologe James Petras das »Ende« der Kluft zwischen Links und Rechts unter die Lupe genommen: »In den 80er Jahren eigneten sich die Massenmedien systematisch die Ideen der Linken an, entleerten sie ihrer ursprünglichen Inhalte und füllten sie mit neuen. Politiker, die den Kapitalismus förderten und Ungleichheiten schufen, wurden als ›Reformer‹ und ›Revo lutionäre‹ bezeichnet, während man ihre Gegenspieler als ›Konservative‹ abstempelte. Diese Umdeutung politischer Begriffe verfehlte ihre Wirkung nicht, und viele schenkten der Behauptung Glauben, dass ›links‹ und ›rechts‹ keine Rolle mehr spielen würde und dass Ideologien nicht mehr von Bedeutung seien. Verfälschungen solcher Art untermauern eine globale kulturelle Manipulation. Wenn in der Dritten Welt staatliche Betriebe verkauft werden, ist dies die ›Zerschlagung von Monopolen‹. ›Personalumstellung‹ ist die euphemistische Umschreibung einer Rückkehr zu den Arbeitsbedingungen des 19. Jahrhunderts ohne jede soziale Absicherung. ›Umstrukturierung‹ bezeichnet den Transfer von Gewinnen aus der Produktion in die Spekulation. ›Deregulierung‹ ist die Verschiebung vom sozialstaat232
Das letzte Wort lichen Denken zur Politik der internationalen Banken- und Wirtschaftsmonopole.«
Die Begriffsbeispiele sind demselben Lexikon entnommen, aus dem der Wahlspruch »Arbeit macht frei« über den Toren von Auschwitz stammt.176 Noam Chomsky zitiert oft und gern die Worte des australischen Soziologen Alex Carey, der 1978 mit seiner Analyse der modernen Unternehmenspropaganda Pionierarbeit geleistet hat. »Drei Entwicklungen von weit reichender politischer Bedeutung«, schrieb Carey, »charakterisieren das 20. Jahrhundert: die Stärkung der Demokratie, die immer größere Macht der Konzerne und die zunehmende Propaganda der Konzerne gegen die Demokratie.«177 Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Chomsky weiter, bemühten US-Konzerne Werbespezialisten, um sozialdemokratischen und sozialistischen Tendenzen in der arbeitenden Bevölkerung entgegenzuwirken. »Von Beginn der 50er Jahren an sahen pro Woche 20 Millionen Zuschauer von der Industrie finanzierte Filme, in denen die Gewerkschaften als der Feind dargestellt wurden, der den ›American Way of Life‹ von außen zu torpedieren suchte. Die Unterhaltungsindustrie wurde zur willigen Gehilfin bei der ›Verbreitung der kapitalistischen Botschaft‹ … Die Propaganda erfasste alle gesellschaftlichen Bereiche und fand Eingang in Schulen, Universitäten, Kirchen und Freizeitaktivitäten. 1954 wurde für die Propaganda an staatlichen Schulen halb so viel ausgegeben wie für Lehrbücher.«178 Am deutlichsten zeigte sich die zunehmende Bedeutung der Wirtschaftspropaganda Ende der 70er Jahre im heiß umkämpften Umweltsektor. Nachdem »grüne Aktivisten« mit neuen Bestimmungen gegen Luft- und Wasserverschmutzung und der Einrichtung von Umweltbehörden einige Siege davongetragen hatten, blies die US-amerikanische Wirtschaft zum Gegenangriff. 233
Das Medienzeitalter
Schon 1980 gab es in Washington mehr Lobbyisten, Öffentlichkeitsberater und von der Industrie bezahlte Journalisten als Staatsbedienstete, darunter 8000 PR-erprobte »Umweltspezialisten«. Sharon Beder beschreibt in ihrem Buch Global Spin, wie die »Denkfabriken«, die Reagan und seiner »neuen« Rechten (analog zum Thatcherismus in Großbritannien) den Weg bereitet haben, »nach Möglichkeit alles, was die Menschen als Umweltproblem wahrnahmen – sei es das Ozonloch, der Treibhauseffekt oder giftige Industrieabfälle –, zu verharmlosen suchten«. Indem sie den Blick der Öffentlichkeit von den Gefahren der Umweltzerstörung ablenkten, bereiteten sie einen Stimmungswandel vor, als dessen Ergebnis »Umweltschutzbestimmungen aufgrund von Kosten-Nutzen-Analysen und Entschädigungszahlungen an Bundesstaaten und private Grundeigentümer als zu teuer und darum nicht umsetzbar eingeschätzt wurden. Hatten 1991 einer Umfrage zufolge noch 17 Prozent der Bevölkerung die Forderungen der Umweltschützer für übertrieben gehalten, waren im Folgejahr bereits 51 Prozent dieser Meinung.«179 Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten eroberte sich der PRBereich auch in Großbritannien und anderen westlichen Ländern einen festen Platz im journalistischen Getriebe und etablierte sich, wie es Tom Baistow einmal ausgedrückt hat, als dessen »fünfte Kraft«.180 Für den bekannten britischen Publizisten Max Clifford, der den Londoner Boulevardblättern oft den Stoff für ihre Geschichten liefert, springt die PR heute da ein, wo »der Enthüllungsjournalismus seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, weil ihm durch massive Sparmaßnahmen der Boden entzogen wurde«.181 In dem Maße, in dem die Redaktionsbelegschaften schrumpfen, nimmt das PR-Geschäft zu. Nach Aussage des Herausgebers der PR Week »erhalten die großen Tageszeitungen heute, abge234
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sehen von den Sportnachrichten, 50 Prozent ihres Materials aus PR-Agenturen. In der Provinzpresse, im mittleren Marktbereich und bei den überregionalen Boulevardzeitungen dürfte der Anteil noch höher liegen. Musik- und Modejournalisten arbeiten Hand in Hand mit PR-Agenturen. Es ist oft ein Bluff und ein Spiel mit gezinkten Karten, aber die Beziehung ist absolut symbiotisch. Die PR-Leute liefern den Journalisten den Stoff, aber wenn sie schlau sind, nehmen sie ihnen auch noch das Denken ab.«182 Das Gleiche gilt für das Phänomen der Denkfabriken, die sich selbst gern als Forschungsinstitute ausgeben. Die alteingesessenen Einrichtungen dieser Art wie das Royal Institute for International Affairs sind Propagandainstrumente der herrschenden Macht. Andere Institutionen mit ähnlich akademisch anmutenden Namen (wie das Institut für strategische Studien) schossen in den 70er und 80er Jahren wie Pilze aus dem Boden. Zunächst verfolgten sie das Ziel, als Gegengewicht zu den »revisionistischen« und radikalen Sozialwissenschaftlern und Historikern die Arbeit von deren Kollegen zu fördern, die der Wirtschaft nahe standen und den Kalten Krieg befürworteten. Als Vorsitzender der steinreichen US-amerikanischen Olin-Stiftung rief William Simon nach einer »intellektuellen Gegenbewegung« in Universitäten und Medien, die »der Wirtschaft wieder zu ihrer ideologischen Dominanz« verhelfen könne.183 In den Jahren der Reagan- und Thatcher-Regierung propagierten wohlhabende und einflussreiche Denkfabriken wie die Heritage Foundation in den Vereinigten Staaten die Wiederbelebung des konservativen Wertesystems nach den bewegten Zeiten der 60er Jahre. Die Medien griffen den Gedanken auf und lieferten ein, wie Noam Chomsky es ausdrückt, »Paradebeispiel gezielter Meinungsmache«, indem sie – ob bei Fragen der Besteuerung, der sozialen Absicherung, der Rassendiskriminierung, des Um235
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weltschutzes oder der Militärausgaben – progressive Tendenzen auf beiden Seiten des Atlantiks negierten. »Die Presse trug ihren Teil dazu bei, dass sich die politische Meinung nach rechts verschob«, schrieb Michael Parenti in einer Studie der amerikanischen Medienlandschaft, »indem sie eine breite Zustimmung zur konservativen Politik unterstellte, die es gar nicht gab.«184 Heute ist es selbstverständlich geworden, dass Denkfabriken die Aufgaben des unabhängigen Journalismus übernehmen. Die Wortführer der »intellektuellen Gegenbewegung« sind nicht nur Meister der Selbstdarstellung, sondern sie wissen auch um die Schwierigkeiten (und die Versäumnisse) in den Redaktionsstuben und finden daher mühelos die öffentlichen Foren, in denen sie mit ihren reaktionären Vorstellungen glänzen können. Meisterhaft wird dieses Spiel vom Thatcher-freundlichen Centre for Policy Studies beherrscht, und das Institut Demos steht ihm, im Dienste des neuen Thatcherismus, darin nicht nach. In Australien, wo die Medienkonzentration stärker ist als in jeder anderen westlichen Demokratie, gibt es von solchen Denkfabriken mehr als genug. Die bekannteste ist das Sydney Institute, das sich früher Institute of Public Affairs nannte. Dieses Institut arbeitet nach dem Vorbild der rechtskonservativen Gruppierungen in den USA, die es sich in der Reagan-Zeit zur Aufgabe gemacht hatten, liberale Journalisten unter die Lupe zu nehmen und zu denunzieren. Gegründet hat es im Alleingang ein Mann namens Gerald Henderson, der schon als fleißiger Propagandist und Lobbyist der konservativen Howard-Regierung einschlägige Erfahrungen gesammelt hat. 1987 nahm Henderson in Washington an einem Seminar teil, dessen Thema »Das rote Orchester im südwestlichen Pazifik« war. Bei dieser von der Reagan-nahen Hooverite Institution finanzieren Veranstaltung wurde über Verschwörungen aller Art doziert, so beispielsweise über das »linke Netzwerk und die australischen Medien« oder die »sowjetische 236
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Unterwanderung« der australischen Presse (die sich zum größten Teil in Rupert Murdochs Besitz befand und heute noch befindet). Henderson begann seine journalistische Laufbahn bei Murdochs Australian und schreibt heute regelmäßige Kolumnen für die beiden wichtigsten australischen Zeitungen, die nicht Murdoch gehören, nämlich den Sydney Morning Herald und den Age in Melbourne. Sein Zorn richtet sich gegen die viel gescholtene Australian Broadcasting Corporation ebenso wie eigentlich gegen jeden, der eine Alternative zu dem politischen Kurs jener zügellosen Kräfte aufzuzeigen wagt, dem der stolze Anspruch der Australier auf soziale Gerechtigkeit zum Opfer gefallen ist. *** Der Ruf nach der »Freiheit der Presse« ertönte vielleicht zum ersten Mal um die Zeit, als Wynkyn de Worde im Hof der St. Bride's Church unweit der Fleet Street in London die Buchdrukkerei Caxton einrichtete. 20 Jahre später, 1520, stand ein Weber auf dem Marktplatz von Magdeburg und bot die gedruckten Schriften Martin Luthers feil. Der Bürgermeister ordnete die sofortige Verhaftung des Webers an. Den anschließenden Unruhen folgte ein Bürgeraufstand, der das Ende der Herrschaft des katholischen Stadtrats einläutete. Die Herrschenden, die sich der Macht des geschriebenen und gesprochenen Wortes schon bewusst waren, fürchteten nun Gutenbergs revolutionäre Erfindung der Druckerpresse und deren Produkte – eben die »Presse«. Die erste große Schlacht für die Freiheit des gedruckten Worts schlugen die kritischen Denker, Träumer und Visionäre, die ein Zeichen setzen wollten gegen die Hüter des herrschenden Gesellschaftssystems. Sie wurden grausam bestraft. Thomas Hytton wurde hingerichtet, weil er Bücher von William Tyndale verkaufte, der die Bibel ins Englische übersetzt hatte. Richard Bay237
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field, John Tewkesbury und andere Buchhändler endeten auf dem Scheiterhaufen. John Stubbs wurde die rechte Hand abgehackt, weil er anlässlich der bevorstehenden Hochzeit von Königin Elisabeth ein Pamphlet verfasst hatte. William Carter wurde gehängt und gevierteilt, weil er ein Buch gedruckt hatte, das die Hofdamen angeblich als Aufforderung zum Mord an Elisabeth hätten auffassen können. Für das Verbrechen, in den Niederlanden Bücher mit puritanischem Inhalt gedruckt zu haben, wurde der Leveller John Lilburne in London zu 500 Peitschenhieben verurteilt und an den Pranger gestellt; überdies musste er die horrende Strafe von 500 Pfund bezahlen.185 Im frühen 19. Jahrhundert entwickelten sich Recht und Gesetz immer mehr zu einem Instrument der Zensur und der Sanktionen. Der Verleger des streitbaren Monitor in Sydney, Edward Smith Hall, wurde mit schöner Regelmäßigkeit unter dem Vorwurf des Landesverrats vor ein Militärgericht zitiert, dessen Geschworene der Militärgouverneur von Neusüdwales persönlich auswählte. Aber selbst als er eine mehr als einjährige Haftstrafe in einer Zelle verbüßt hatte, die nur mit einem vergitterten Oberlicht ausgestattet und in der er von Moskitos fast aufgefressen worden war, ließ er sich nicht davon abhalten, für den Monitor zu schreiben und die Korruption der Mächtigen anzuprangern. Halls Ideal war eine Presse, die »eine Vielfalt gegensätzlicher Meinungen« repräsentiert. Als er 1861 starb, gab es allein in Neusüdwales mehr als 50 unabhängige Zeitungen. 20 Jahre später waren es bereits 141 oft kritische Publikationen, die sich als »Stimme des Volkes« verstanden und nicht als »Sprachrohr der Staatsmacht« oder bestimmter Interessengruppen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Australien 21 überregionale Zeitungen in den Händen von 17 Verlegern. 1997 war die »Vielfalt gegensätzlicher Meinungen« auf 16 große Zeitungen zusammengeschrumpft, von denen zehn Murdoch gehörten. 238
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Fernsehstationen, Radiosender und Computersoftware teilen sich ebenfalls wenige Großkonzerne. So kommt es, dass das freie Australien heute nur noch als Beispiel für die Zerstörung einer 400 Jahre alten freiheitlichen Tradition glänzt. David Bowman schrieb: »Es entbehrt nicht einer tiefen Ironie, wenn sich die Presse, nachdem sie das eine Joch abgeschüttelt hat, freiwillig in ein anderes spannen lässt, nämlich in das eines immer kleiner werdenden Zirkels geschäftstüchtiger Medienbarone. Anstatt sich zu einem vielseitigen gesellschaftlichen Forum zu entwickeln und dem Demokratisierungsprozess zu dienen, konzentrieren sich Presse und Medien überhaupt in den Händen einiger Weniger und lassen sich von den Wertvorstellungen leiten, die diese Wenigen für gesellschaftlich, politisch und kulturell akzeptabel halten. … Historisch gesehen stehen wir vor der zweiten großen Schlacht für die Freiheit des gedruckten Wortes.«186
Wenn Marshall McLuhans »globales Dorf« überhaupt für etwas steht, dann für die Macht der weltweiten Medienmonopole mit ihrer ausgeprägten Aversion gegen die »Vielfalt gegensätzlicher Meinungen«. »Es ist absurd«, so wiederum Bowman, »wenn wir zulassen, dass sich die Presse oder vielmehr die Medien ihrer gesellschaftlichen Aufgabe entledigen und prompt in die Arme der großen Monopolgesellschaften stürzen. Das ist das Gegenteil von Pressefreiheit.« Journalisten und Politiker verleugnen durch ihr Schweigen die Geschichte, denn der Kampf für die Pressefreiheit war immer untrennbar verknüpft mit der langen und mühevollen Aneignung demokratischer Rechte. Es war ein Kampf dafür, dass oppositionellen Stimmen Gehör verschafft wurde, wenn sich die Herrschenden als die Hüter der Wahrheit gebärdeten: eine hartnäckige Irreführung. Durch ihr Schweigen verraten Journalisten auch Kollegen wie 239
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Edward Smith Hall, die unermüdlich dafür gekämpft haben, dass die Presse zwei Jahrhunderte repressiver Gesetzgebung und politischer Korruption überstehen konnte. Oder nehmen wir William Howard Russel, dessen Berichte von der Krim den Menschen die Realität des Krieges, die blutigen Schlachten und ihre horrenden Kosten, bewußt gemacht haben; oder den Moskauer Guardian-Korrespondenten Morgan Philips Price, der 1917 als Einziger über den Einmarsch der Alliierten und dessen Folgen für die Zukunft berichtete; oder Ted Scott, den Chefredakteur und späteren Herausgeber des Guardian, der einmal geschrieben hat: »Wenn das Streikrecht aus irgendeinem Grund abgeschafft wird, dann verlieren wir das, was wir im Allgemeinen als kostbarstes Vehikel des sozialen Fortschritts betrachten.« Der Satz stammt aus dem Jahr 1919, aber er könnte ebenso gut von heute sein.187 Journalisten sollten nicht vor den geschlossenen Toren der Macht stehen und darauf warten, dass man ihnen Lügen serviert. Sie sind keine Funktionäre, und sie sollten keine Scharlatane sein: »Verlogene Imperialisten«, wie Robert Lewis Stevenson es ausdrückte, »Wölfe im Schafspelz, die dir treu ins Gesicht lächeln, während sie dich unterdrücken.« Sie sollten ein gesundes Misstrauen pflegen gegen landläufige Meinungen und Konventionen und insbesondere gegen das, was sich als legitim und ehrbar präsentiert. (»Glaub nichts, bevor es nicht offiziell widerrufen wird«, hat Claude Cockburn einmal gesagt.) Sie sollten nicht untätig bleiben, sondern für die »wahren Zeugen sprechen, für diejenigen, die im Besitz der furchtbaren Wahrheit sind«. Diese Worte von Primo Levi beziehen sich auf die Opfer des Nationalsozialismus. Sie sollten Gegner der autoritären Strukturen sein, von denen Rupert Murdoch einmal behauptet hat, sie »können funktionieren«. Das ist das Mindeste, was man von einem Journalisten verlangen kann. 240
Das letzte Wort
Der Mut und die Opferbereitschaft von Journalisten in den Teilen der Welt, in denen der größte Teil der Menschheit lebt, müssten die saturierte Zunft im Westen eigentlich beschämen. Der indonesische Journalist und Vorsitzende der Allianz unabhängiger Journalisten Ahmad Taufik verbrachte drei Jahre im Gefängnis. Sein Vergehen bestand in einem kritischen Beitrag über das Suharto-Regime im Independent, einer in Jakarta erscheinenden Zeitung, die er zusammen mit Kollegen gegründet hatte. In der Türkei gehört es zum Alltag, dass Journalisten von der Polizei schikaniert und terrorisiert werden. Der Reporter Metin Goktepe, der für die Tageszeitung Evrensel arbeitete, wurde am 8. Januar 1996 in Istanbul im Polizeigewahrsam zu Tode geprügelt. Verhaftet worden war er, weil er gegen ein Gesetz verstoßen hatte, dem zufolge jeder Bericht über Unterdrückung und Widerstand in der Türkei entweder Propaganda oder »Anstiftung zum Rassenhass« ist. Ocak Isik Yurtçu, der Herausgeber der türkischen Zeitung Ozgur Gundem, wurde 1995 wegen Verstoßes gegen dasselbe Gesetz zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. »Ich bin im Gefängnis«, sagte er einmal, »weil ich mich bemüht habe, die Wahrheit herauszufinden und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – mit anderen Worten, meine Arbeit zu erledigen –, weil ich überzeugt bin, dass es in einem Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt, auch keine anderen Freiheiten geben kann.«188 Ihrer Verfassung nach haben die Philippinen die freieste Presse in ganz Asien, aber in keinem anderen Land der Welt sterben so viele Journalisten eines gewaltsamen Todes. Edgar Cadagat, der die Nachrichtenagentur Cobra auf der Insel Negros leitet, arbeitet hinter Sandsäcken. Er hat sich darauf spezialisiert, Fälle staatlicher Korruption publik zu machen. Bisher hat er schon mehrere Attentate überlebt, und einmal schickte ihm jemand zu 241
Das Medienzeitalter
Weihnachten einen Miniatursarg mit einer Kugel und seinem Foto darin.189 Allein im Jahr 1996 wurden in Russland 50 Journalisten ermordet, darunter der Fernsehkommentator Oleg Slabynko, der als erbitterter Gegner des organisierten Verbrechens bekannt war. In Algerien haben 60 Journalisten in Ausübung ihres Berufes das Leben verloren. In der St. Bride's Church, der Kirche der Journalisten in der Nähe der Fleet Street, finden sich die Namen vieler Kollegen, die als stolze Vorbilder ihrer Zunft gelten können. Bei meinem letzten Besuch habe ich eine Kerze vor der Gedenktafel von Veronica Guerin entzündet, der Journalistin des Sunday Independent, die im Alter von 33 Jahren in Dublin ermordet wurde, »weil sie die Wahrheit schrieb«. Das soll nicht heißen, dass ein Journalist sein Leben riskieren muss, um sich zu beweisen – obwohl ihm in Ländern wie Indonesien, Algerien, Russland, Nigeria oder den Philippinen vielleicht gar nichts anderes übrig bleibt. Wodurch sich jeder seriöse Journalist aber auszeichnen sollte, das sind moralische Grundsätze, und dazu gehört sicher auch ein gewisser Mut. In einer Demokratie ist er gefordert, den ideologischen Schutt beiseite zu räumen, der die Freiheit des Geistes erstickt und zur Selbstzensur führt. Auch das birgt sein ganz eigenes Risiko. »Wer die Wahrheit sagt«, schrieb Oscar Wilde, »dem wird früher oder später der Stuhl vor die Tür gesetzt.« In Großbritannien könnten sich kritische Journalisten für die Aufhebung der Gesetze stark machen, die nach 1979 erlassen wurden und das Recht auf freie Berichterstattung einschränken: das Gesetz gegen die Missachtung der Gerichte von 1981 und die Gesetzesnovellen zur Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts in Strafverfahren von 1984 und 1996. Jedes autoritäre Regime würde diese Punkte mit Kußhand in seine Gesetzbücher aufnehmen. Auch die Verleumdungsgesetze bedürfen dringend ei242
Das letzte Wort
ner Revision, damit einfache Leute bei Entschädigungsverfahren Prozesskostenhilfe beantragen können. Im Übrigen sollten große Ketten wie W.H. Smith und John Menzies, die landesweit mehr als die Hälfte aller verkauften Zeitungen vertreiben, wie in Frankreich gesetzlich dazu verpflichtet sein, auch Zeitschriften und Zeitungen mit geringerer Verkaufsauflage zu führen. Denn sie sind unser Samisdat. Ein gesetzlich geregeltes Recht auf Informationsfreiheit, das nicht von »Ausnahmen« unterhöhlt wird, eine staatliche Behörde, die bei der Gründung unabhängiger Kleinverlage und Rundfunksender finanzielle Starthilfe leistet, ein Rundfunkgesetz, das verhindert, dass die Reichsten und Größten die Kleinsten schlukken, und das die Sender verpflichtet, eigene Spielfilme und unabhängige Kultur- und Informationsprogramme zu senden – damit wären wir dem Sieg in der zweiten großen Schlacht für die Pressefreiheit schon einen guten Schritt näher. Im Moment laufen wir Gefahr, diese Freiheit zu verspielen, ohne es zu merken. Denn wenn keiner mehr da ist, der die Stimme erhebt, wer wird dann das letzte Wort haben?
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RÜCKKEHR NACH VIETNAM
Immer noch eine gerechte Sache
Sie fragen mich, was wir all die Jahre, dort drüben gemacht haben: worum es da eigentlich ging? Ich sage es ihnen schlicht und einfach: Es war für eine gerechte Sache. Ronald Reagan
V
ietnam ist in Mode in den späten 90er Jahren. Am Flughafen von Saigon wimmelt es von Rucksacktouristen, Pauschalurlauber warten in langen Schlangen, und Geschäftsleute aus Taiwan sehen sich Mr. Bean an. Sie machen alle nostalgischen Gefühle und die Erinnerungen an die Angst zunichte, beschwören aber manchmal absurde Situationen herauf. John Blake und seine Freundin sind aus Wolverhampton angekommen; in ihren schwarzen Designerkampfanzügen sehen sie aus wie ein zweiköpfiges Sonderkommando. »Die Stiefel sind echte US-ArmyAusrüstung«, erklärt John. An den Wochenenden verkleiden sich die beiden als GIs, »authentisch bis hin zu den ZippoFeuerzeugen«, und »spielen Vietnam«. Johnny Rambo? »Nein, das ist Unsinn. Eher wie Platoon … ohne die Politik und die Massaker an der Zivilbevölkerung.« In Chu Chi, etwa 30 Kilometer von der Stadt entfernt, steigen die Touristen zu einem der beeindruckendsten Schauplätze des Krieges hinunter: in das Tunnelsystem, das sich die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront (von den Amerikanern Vietcong genannt) mit Schlangen und Geziefer aller Art teilen mussten und 247
Rückkehr nach Vietnam
in dessen Finsternis sie herumkrochen, während über ihnen mit modernsten Waffen auf alles geschossen wurde, was sich bewegte. Heute fuhren Schulmädchen in Guerillauniform die Touristen zu den Bombenkratern, scheuchen sie vom frisch gesäten Gras und lenken ihren Schritt zu den Verkaufsständen, wo aus Coladosen gefertigte Kampfhubschraubermodelle feilgeboten werden. Wie so vieles im neuen Vietnam hat sich die Volksarmee selbst zu einem Profitunternehmen gemausert und betreibt das Tunnelsystem jetzt als eine Art Vergnügungspark. Die Gänge und Einstiegsöffnungen wurden rücksichtsvollerweise für beleibtere Touristen verbreitert, und auf dem Gelände gibt es heute einen Schießplatz, auf dem US-Besucher den ganzen Rambo- und Platoon-Spaß noch einmal durchleben können. Man hat die Wahl zwischen einer US-amerikanischen M-16 und einer vietnamesischen AK-47, und wer ins Schwarze trifft, gewinnt ein echtes schwarzweiß kariertes Vietcongtuch. Die Leute stehen hier Schlange. In der ehemaligen US-Botschaft in Saigon drängten sich keine Touristen, als ich, auf den Tag genau 20 Jahre, nachdem die letzten US-Amerikaner evakuiert worden waren, hierher zurückkehrte. Das sechsstöckige Gebäude hatte die meiste Zeit leer gestanden, als musealer Widerhall eines untergegangenen Reichs. Eine einsame Neonröhre verbreitete flackerndes Licht, ein Zeitschalter tickte vor sich hin, und das Wasser einer defekten Klospülung lief und lief. Die Tür zum Schutzkeller der Botschaft stand offen, und ein Schild wies sie als »Sicherheitstür der Klasse 5 nach US-Norm aus. Bei Strahlenangriffen schließt sich die Tür automatisch für die Dauer von 20 Mannstunden.« Im Treppenhaus, das zum Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach führt, hatte jemand »Fresst Scheiße!« an die Wand gekritzelt. Von hier oben kann man eine riesige vietnamesische Flagge sehen, rot mit 248
Immer noch eine gerechte Sache
einem gelben Stern, und wenn man hinunterschaut, entdeckt man eine weitere neben dem mit einer trüben, seit 20 Jahren nicht erneuerten Brühe gefüllten Becken, das einmal der Swimmingpool der Botschaft war. *** 29. April 1975: Gerade war wieder ein »grüner Riese« auf dem Dach gelandet, und das rhythmische Dröhnen und Heulen seiner Rotorblätter weckten in mir das Gefühl einer drohenden Gefahr, das ich für immer mit Hubschraubern verbinden werde. Vom Hof aus konnte ich ihn im aufquellenden Rauch eines Verbrennungsofens, der von hin und her huschenden, mit Säcken beladenen Gestalten gefüttert wurde, schemenhaft erkennen. An jenem letzten Tag des längsten Krieges dieses Jahrhunderts wurde das Surreale zur Wirklichkeit. Auf einmal regnete es Geld. Vom Sog der Rotorblätter aufgewirbelt, segelten Dollarnoten wie Schneeflocken herunter: Zehner, Zwanziger, Fünfziger, Hunderter. Generäle und ehemalige Minister der im Zerfall begriffenen US-hörigen Regierung Südvietnams, auf deren Konto einmal mehr als die Hälfte aller von Amnesty International aufgelisteten Fälle staatlicher Folterung gegangen waren, rafften auf allen Vieren das Abfindungsgeld zusammen, das vom Himmel regnete, oder sie schickten Kinder hin, die Scheine für sie einzusammeln. Ein Botschaftsangehöriger flüsterte: »Wir haben jeden Safe ausgeräumt und wieder verschlossen, da werden die Schlitzaugen dumm aus der Wäsche gucken, wenn wir weg sind.« Es ging das Gerücht, US-Botschafter Graham Martin wolle versuchen, die Evakuierung hinauszögern und Zeit zu gewinnen, indem er den vorrückenden Nordvietnamesen Geld anbot, wenn sie sich zu einer Gefechtspause bereit erklärten. Angeblich hoffte er, den letzten Vertretern des alten Regimes so den Einzug 249
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in eine Übergangsregierung zu ermöglichen und Washington doch noch zu dem »Frieden in Ehren« verhelfen zu können, den Richard Nixon und sein Rasputin Henry Kissinger zwei Jahre zuvor so vollmundig verheißen hatten. Seit dem frühen Morgen stand ein Marineinfanterist mit einer Liste am Tor. »He, ich bin's, lass mich rein. … Vielen Dank.« Die schrille Stimme aus der Menschenmenge, die das Botschaftsgebäude am 29. April belagerte, gehörte General Dang Van Quang, dessen Reichtum sprichwörtlich war. Seine amerikanischen Berater, die ihn nicht ausstehen konnten, nannten ihn »Kichererbse« oder »General Fettsack«. Da sein Name auf der Liste stand, half ihm der Soldat, erst sich selbst und dann seine drei SamsoniteKoffer durchs Tor zu zwängen. Froh, dass er es geschafft hatte, marschierte der General davon und ließ seinen Sohn in der Menge der Wartenden zurück. Als zwei Bündel Dollarscheine aus seiner Brusttasche zu rutschen drohten, stopfte er sie zurück und verkündete lachend, in seinen Koffern habe er noch mehr von der Sorte. In Graham Martins schallisoliertem, mahagonigetäfeltem Büro im fünften Stockwerk des Gebäudes, wo sich der Botschafter oft allein mit seinem Pudel Nitnoy aufhielt, war von dem dramatischen Schlussakt, der sich draußen abspielte, offenbar nicht viel zu merken. Ob die Bestechungsgeschichte nun wahr oder eine böswillige Erfindung war, fest steht, dass der Rückzug der Vereinigten Staaten aus Indochina für ihn eine unerträgliche Schande war. Er hatte noch wenige Tage zuvor auf eigenen Wunsch eine denkwürdige Ansprache im Saigoner Fernsehen gehalten. »Ich, der US-amerikanische Botschafter«, hatte er mit würdevoller Miene verkündet, »werde mich nicht bei Nacht und Nebel davonmachen. Kommen Sie ruhig zu mir nach Hause und überzeugen Sie sich, dass ich nicht auf gepackten Koffern sitze. … Ich gebe Ihnen mein Wort.« Darauf folgte ein Kameraschwenk auf 250
Immer noch eine gerechte Sache
einen erkennbar leeren Koffer, der neben ihm stand. Der letzte US-Botschafter in Saigon war ein introvertierter, eigensinniger und komplizierter Mensch. Der Blickfang auf seinem Schreibtisch war ein Foto seines neun Jahre zuvor im Krieg getöteten Sohnes in Uniform. Nach einer gerade überstandenen, langwierigen Lungenentzündung war er totenbleich. Er war Kettenraucher, und Gespräche mit ihm wurden immer wieder durch Hustenanfälle unterbrochen. Seit Monaten versuchte er Washington davon zu überzeugen, dass der Satellitenstaat noch zu retten sei, wenn man einen »eisernen Ring« aus von B-52-Staffeln abgeworfenen Bomben um Saigon legte. Noch gab er den Krieg nicht verloren. Graham Martin war der Fleisch gewordene Inbegriff der USamerikanischen Mission in Vietnam. Er gehörte, wie der Politologe Gabriel Kolko in seinem Standardwerk Anatomy of a War schreibt, zu denen, deren »Schwäche für Illusionen und für Symbolik sie zu den einzig wahren Ideologen des Krieges machte«.1 Martins Symbol war, als das Ende nahte, ein Baum: eine große Tamarinde, die vor dem Botschaftsgebäude ihre Schatten warf. Wenn die Transporthubschrauber, die auf Flugzeugträgern im Südchineschen Meer stationiert waren, hier landen und eine groß angelegte Evakuierung durchfuhren sollten, mußte der Baum gefällt werden. Der Botschafter hatte unmissverständlich erklärt, dass mit dem Baum auch »das Ansehen der Vereinigten Staaten fallen« würde. In den frühen Morgenstunden des 29. April kam es in seinem Büro zu einem heftigen Wortwechsel mit Tom Polgar, dem CIA-Chef vor Ort, der für eine geordnete Evakuierung plädierte. Sie trennten sich, ohne in der Baumfrage zu einer Einigung gekommen zu sein, und es machte sich allmählich der Eindruck breit, dass der Botschafter entschlossen war, mit Rom unterzugehen. Halb sieben kam, vermutlich von Polgar, die Anwei251
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sung, den Baum zu fällen. Eine halbe Stunde später kam in American Forces Radio das vereinbarte Signal zur Evakuierung: »I'm dreaming of a white Christmas« von Bing Crosby. (Die Betroffenen hatten zuvor schriftliche Anweisungen erhalten: »Bringen Sie zwei Garnituren Wechselkleidung, einen Regenmantel, Nähzeug, einen Regenschirm, einen Dosenöffner, Insektenschutzmittel, Ihre Heiratsurkunde, eine Vollmacht und Ihr Testament mit. … Ihr Auto müssen Sie leider zurücklassen.«) Bei der nun folgenden Evakuierungsaktion wurden in weniger als 18 Stunden rund 7000 Menschen aus dem belagerten Saigon ausgeflogen. Am 30. April um 14.30 Uhr erreichte Graham Martin ein Anruf von Henry Kissinger, der den Botschafter anwies, das Gebäude bis 15.45 Uhr zu verlassen. Eine halbe Stunde später trat Martin, die US-Flagge zusammengefaltet in einer Tragetasche, aus seinem Büro. Er fuhr mit dem Aufzug zum Dach und stieg die Eisentreppe zum Hubschrauberlandeplatz hinauf. »Lady Ace 09 mit Code Two in der Luft«, knatterte es über den Marinefunk. Code Two war das Kennwort für den US-Botschafter. Als der Hubschrauber über dem Highway One abschwenkte, konnte Martin schattenhaft die Panzer und Lastwagen der vietnamesischen Volksarmee erkennen, die auf seinen Abzug warteten. Der Krieg war vorbei. *** Dreißig Jahre lang kämpfte die von Ho Chi Minh gegründete Vietminh: erst gegen die Franzosen, deren hemmungslose und grausame Ausplünderung des Landes sich hinter der Fassade prachtvoller Alleen und Villen und fröhlich bunter Reihenhäuser verbarg; dann gegen die Japaner, mit denen die französischen Kolonisten kollaborierten und die 1944 zwei Millionen Vietnamesen verhungern ließen, damit ihre Truppen genug zu essen 252
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hatten; dann gegen die Amerikaner, mit denen Ho Chi Minh mehrfach vergeblich versuchte, eine Allianz gegen die Chinesen zu schmieden; dann gegen Pol Pots Rote Khmer, die aus dem Westen angriffen; dann gegen die Chinesen, die im Norden einmarschierten. Sie alle wurden unter unermesslichen Verlusten zurückgeschlagen. Die Geschichte von Thai Thi Tinh ist nicht untypisch. Sie ist eine kleine, weißhaarige Frau in den Achtzigern und lebt in einem Viertel Hanois, das aus dem Mittelalter stammen könnte. In einigen Straßen werden Silber, Messing und Leder bearbeitet, in anderen haben Blechschmiede, Sargschreiner, Hutmacher und Kräuterhändler ihre Werkstätten und Geschäfte. Dieses Viertel, nicht das von den Franzosen großzügig angelegte Zentrum der Stadt, war Ziel der B-52-Geschwader, die Nixon und Kissinger 1972 zu den so genannten Weihnachtsbombardements losschickten. Das Haus von Thai Thi Tinh wurde nicht zerstört. Sie erinnert sich nur an das »laute Dröhnen« am Himmel und an den Spalt, der, »wie von einem Erdbeben in die Decke des Schutzbunkers gerissen«, plötzlich über ihr geklafft hatte. In ihrem Leben bilden sich die Leiden und Opfer des vietnamesischen Volkes im 20. Jahrhundert ab. Sie hat fünf ihrer acht Kinder verloren. Zwei starben während einer Meningitisepidemie, weil es keine Medikamente gegen die Krankheit gab. Ihr ältester Sohn Lom fiel 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu, mit der das Ende der französischen Herrschaft in Indochina eingeleitet wurde. Ihr Zweitältester Sohn Khan kam wenig später bei der Befreiung Hanois ums Leben. Ihr Mann, der als Arzt bei Ho Chi Minhs Befreiungstruppen arbeitete, wurde bei der Evakuierung von Verwundeten aus Hanoi getötet. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Thai Thi Tinh noch nicht, dass Amerika »der nächste Feind« sein würde. Ihr jüngster Sohn Luong war 19 Jahre alt, als er 1967 einberu253
Rückkehr nach Vietnam
fen wurde. »Er wollte Ingenieur werden«, erzählt Thai und drückt das Schwarzweißfoto eines gut aussehenden, lächelnden jungen Mannes an die Brust. »An dem Tag, an dem er sich verabschiedete, war seine einzige Sorge, ich könnte bei einem amerikanischen Luftangriff nicht vorsichtig genug sein. ›Geh immer in den Bunker‹, mahnte er mich. Er hat mich so sehr geliebt. Beim Abschied am Bahnhof wusste ich nicht, was ich tun sollte; ich konnte seine Hand nicht loslassen. Ich drängte ihm ein Päckchen Ingwerbonbons auf, weil sie gut gegen Erkältungen sind. Ich bekam nur zwei Briefe von ihm; im ersten berichtete er, dass es seine Aufgabe war, Bomben zu entschärfen, die nicht explodiert waren. Im zweiten schrieb er, dass er an Malaria erkrankt war und demnächst zum Chu-Chi-Tunnelsystem aufbrechen würde. Danach hörte ich nichts mehr von ihm. Die Aufzeichnungen sind vernichtet. Er gilt als vermisst.«
Zwanzig Jahre später fuhr Thai Thi Tinh nach Chu Chi, wo sie einen dinh, einen kleinen Altar, errichtete und für Luong, seine Brüder und seinen Vater betete, deren sämtliche Orden sie angelegt hatte. Als sie mich an einem Sonntagmorgen begrüßte, trug sie einen oi dai, das traditionelle vietnamesische Gewand, aus leuchtend roter Seide. Ihr einziger noch lebender Sohn Loc und dessen Frau Tran Thi Ngok hielten sich ständig in ihrer Nähe auf. Nach dem Tee gingen wir zum städtischen Friedhof, wo ihr ältester Sohn Lom begraben war. Thai nahm einen kleinen Plastikbeutel voll Wasser für die Rosen auf dem Grab mit und ein Bündel symbolischer Geldscheine als Opfergabe, die, wie sie sagte, »seinem Geist ein bisschen Reichtum schenken« sollte. Sie trägt ihr Schicksal mit Würde, wie Tausende ihrer Leidensgenossinnen, von denen manche gelegentlich im vietnamesischen Fernsehen auftreten und um Hinweise auf den Verbleib der sterblichen Reste ihrer Söhne bitten: Mehr als 300 000 vietnamesische Soldaten gelten bis heute als vermisst. Wie unange254
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messen erscheint da die von Ronald Reagan initiierte und von Hollywood bereitwillig aufgegriffene Kampagne, die das Schicksal einer vergleichsweise kleinen Zahl in Vietnam vermisster USSoldaten, vorwiegend Piloten im Kampfeinsatz, die mit ihren Flugzeugen abgeschossen wurden, mythologisierend verklärt.2 Auch meine Freundin Thien Thi Tao strahlt diese Würde aus. Ich lernte sie kurz nach Kriegsende in Saigon kennen. Sie war damals 28 Jahre alt und trug die schwarze Uniform der Nationalen Befreiungsfront, und obwohl sie wegen einer schmerzhaften Verletzung hinkte, strahlte sie über das ganze Gesicht. Auf meine Frage nach ihren Gefühlen in dem Moment, als sie gehört hatte, dass alles vorbei war, antwortete sie: »Mein Herz fliegt.« Sie hatte einen großen Teil ihrer Jugend in den Folteranstalten der südvietnamesischen Geheimpolizei zugebracht, einer Terrororganisation, die von Spezialisten der CIA und der Universität von Michigan ins Leben gerufen und trainiert worden war. Man hatte sie im Alter von 17 Jahren auf dem Heimweg von der Schule zum ersten Mal verhaftet und in ein Haus der Geheimpolizei gebracht, wo sie beschuldigt wurde, Kommunistin und Mitglied der Nationalen Befreiungsfront zu sein. Sie sagte: »Ich war keines von beidem. Aber wie die meisten Schüler war ich gegen die US-gestützte Regierung, vor allem, weil sie eine fremde Armee ins Land geholt hatte. Es stimmt, dass ich für die NFL gearbeitet habe, und auch bereit war, für sie zu kämpfen. Wir hatten großen Respekt vor den Leuten von der NFL. Die Polizei wollte Namen von mir hören, und als ich mich weigerte, hängten sie mich an den Füßen auf, quälten mich mit Stromschlägen und tauchten meinen Kopf in einen Eimer Wasser. Später wurde ich auf die [Strafkolonie-] Insel Con Son gebracht und in einen der so genannten Tigerkäfige gesperrt, in denen man nicht aufrecht stehen kann. Ich musste Fußfesseln tragen und wurde jeden Tag mit ungelöschtem Kalk überschüttet. Es gab auch einen kleinen Raum voller Rin255
Rückkehr nach Vietnam der- und Schweinekot. Diesen Raum nannten sie den Sarg.«
1988 heiratete Tao einen NFL-Funktionär, der schon vor 20 Jahren um sie geworben hatte. Sie hatten sich während des Kriegs aus den Augen verloren und jeweils vom anderen angenommen, er sei tot. »Ich wusste ohnehin nicht recht, was ich von ihm halten sollte; schließlich war er Kommunist«, sagte sie trocken. »Als Kindern hatte man uns gesagt, wir sollten weglaufen, wenn wir einen Kommunisten sehen.« Ihre Nieren waren durch die jahrelangen Folterungen so stark geschädigt, dass sie fast gestorben wäre, als sie schwanger wurde. Ihr Sohn Huynh wurde zu früh und mit einer Blutkrankheit geboren; die Ärzte attestierten ihm eine »Überlebenschance von einem Prozent«. Als ich Thien Thi Tao 1995 auf einer belebten Straße in Saigon wiedersah, brachte sie gerade einen Jungen in den Kindergarten, der für seine vier Jahre ausgesprochen kräftig war. »Sein Name bedeutet ›goldener Frühling‹«, erklärte sie. Im Vietnamkrieg haben mindestens drei Millionen Menschen, vorwiegend Zivilisten, ihr Leben verloren. Ich selbst lernte diesen Krieg gegen die Zivilbevölkerung des Landes erstmals 1967 im Krankenhaus von Can Tho im Mekongdelta kennen. Die ganze Woche über hatten US-Geschwader »Vietcong-Stellungen« bombardiert. Gemeint waren die nahe gelegenen Dörfer mit Hütten aus Blech und Stroh. »Er dürfte ungefähr zehn Jahre alt sein«, sagte der junge amerikanische Arzt, ein freiwilliger Helfer. Das Kind vor uns hatte keine Nase und kein Kinn mehr, es konnte die Augen offensichtlich nicht mehr schließen, und seine einst braune Haut war jetzt rot und schwarz und pergamenten wie dünn gewordener Stoff. »Es ist mir ein Rätsel, wie die Kinder die Hölle da draußen überleben. Dieser Junge hier wurde mit Napalm-B verbrannt. Das ist dieses Gemisch aus Benzol, Polystyrol und Benzin. Das Zeug 256
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klebt am Körper, man kriegt es nicht ab. Das Opfer verbrennt entweder oder es erstickt, weil das Napalm den ganzen Sauerstoff verbraucht.« Sieben Jahre später besuchte ich das Dorf My Lai, das damals in einem Niemandsland zwischen den Linien der NFL und der südvietnamesischen Regierungstruppen aus Saigon lag. Die Dorfbewohner hatten immer noch Angst, wenn sie einem Menschen gegenüberstanden, der aussah wie Leutnant William Calley und seine Mörderbande. Calleys Einheit, die »Charlie Company«, hatte am 16. März 1968 mehr als 500 Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet. Bis alle tot waren, dauerte es vier Stunden einschließlich der Mittagspause, in der sich die Männer ihren Imbiss neben einem Berg von Leichen – vorwiegend Frauen und Kleinkinder – schmecken ließen. Auf Seiten der Amerikaner gab es nur einen Verwundeten: Sergeant Herbert Carter, der sich absichtlich selbst in den Fuß geschossen hatte, um an dem Morden nicht teilhaben zu müssen. Bei diesem ersten Besuch in My Lai war mir noch nicht bewusst, dass die Amerikaner fast die gesamte Provinz Quang Ngai zur »feuerfreien Zone« erklärt hatten, in der die Soldaten angewiesen waren, auf alles zu schießen, was sich bewegte, und dass 70 Prozent der Siedlungen und Dörfer in diesem Gebiet dem Erdboden gleich gemacht worden waren. Zur Zeit des Massakers in My Lai wurden jährlich 50 000 Zivilisten getötet. Man nannte das »Kollateralschäden«. Es ist bedauerlich, dass nur wenige ausländische Touristen die beschwerliche Fahrt über unbefestigte Wege nach My Lai auf sich nehmen, denn dort könnten sie einiges lernen. Auch hier ist die Würde der Menschen unübersehbar. Man findet das Kenotaph einer Frau und eines Kindes und ein Wandrelief, auf dem die Amerikaner nicht als Bestien dargestellt sind. In dem kleinen Museum werden weder Zippo-Feuerzeuge noch die allgegen257
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wärtigen Hubschrauber aus Coladosen verkauft. Auf großen, unscharfen Fotos erkennt man Colonel Henderson, der mit seiner Brille aussieht wie ein Versicherungsvertreter. Henderson war Kommandeur der 11. Brigade, die den Auftrag hatte, die Gegend »zu durchsuchen und alles zu zerstören«. Und da ist auch Captain Medina, der den Befehl zur Zerstörung des Dorfes gab. Hier an der Wand wischt er sich eine Träne weg. Und schließlich das berühmt gewordene, fast plastisch wirkende Foto (aufgenommen von einem Armeefotografen, der die Charlie Company begleitete), das Berge von Toten in einem Bewässerungsgraben zeigt. Wenn man sich das Bild genau ansieht, erkennt man auf der linken Seite einen Schatten im Gras. Es ist Truong Thi Le, die unter den Leichen ihrer Mutter, ihrer Tochter und ihres Enkels überlebte. Mittlerweile über 70, hält sie mir tapfer das Foto hin und zeigt mir die Toten im Graben, die zu ihrer Familie gehört haben: ihr Bruder, ihr Neffe, vier Jahre alt, vier Nichten, die alle unter zehn waren, neun Personen insgesamt. Und sie erzählt: »Es war sechs Uhr morgens. Plötzlich kreiste ein Hubschrauber über dem Haus, dann sahen wir die Soldaten, die vom Feld her kamen. Sie forderten alle Dorfbewohner auf, ihre Häuser zu verlassen und zum Bewässerungsgraben zu gehen. Diejenigen, die zu langsam waren, stießen sie mit Gewehren voran. Wir mussten uns an einer Stelle sammeln und standen dicht gedrängt. Dann fingen sie an, uns der Reihe nach zu erschießen. Ich sah ein kleines Boot und versteckte meinen Sohn darunter, während die Toten über mich fielen. Ich redete auf meinen Sohn ein: ›Bitte weine nicht, sonst werden sie uns hören.‹ Als die Amerikaner weg waren, wartete ich noch ein Weilchen, dann stand ich mit meinem Jungen auf; es war, als würde ich in der Luft laufen, ich fühlte absolut nichts. Ich war voller Blut und Gehirnmasse, es roch schrecklich. Auf dem Rückweg mussten wir über das Feld gehen, weil so viele Leichen auf dem Weg lagen. Ich sah 258
Immer noch eine gerechte Sache Mütter sterben und Kinder, sogar die Ochsen und die Büffel hatten sie getötet. Als wir unser Haus erreichten, war es niedergebrannt. Erst jetzt bemerkte ich, dass eine Kugel durch meinen Körper hindurchgegangen war, aber ich lebte noch; ich war am Leben.«
1970, knapp zwei Jahre nach dem Massaker von My Lai, interviewte ich in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Armeeangehörigen, die an anderen Kriegsverbrechen in Vietnam beteiligt gewesen waren. Sieben von ihnen waren nicht einmal unter Anklage gestellt worden, und sie behaupteten übereinstimmend, ihr Befehl habe gelautet, »alle und alles zu töten«. »In den Dörfern durften wir uns so richtig austoben«, sagte einer meiner Gesprächspartner. Einer, der vor Gericht gestellt und auch verurteilt wurde, war Michael Schwarz, der aus einer armen Bergbauregion in West Virginia stammte und sich mit 16 Jahren zum Militär gemeldet hatte. Wenn während seiner Grundausbildung der Offizier »töten, töten, töten« gebrüllt hatte, mussten die Rekruten im Chor antworten: »töten, töten, töten.« Der Gefreite Schwarz gehörte zu einer Gruppe von fünf Soldaten, die am Abend des 19. Februar 1969 mit dem Auftrag »Aufspüren und Vernichten« in das Dorf Son Thang im Mekongdelta eindrangen und elf Frauen und fünf Kinder erschossen. Außergewöhnlich an diesem Ereignis war die Tatsache, dass alle Beteiligten wegen Mordes vor ein Kriegsgericht gestellt wurden: ein Nebeneffekt des öffentlichen Aufruhrs, den das Massaker von My Lai mit einiger Verspätung doch noch ausgelöst hatte. Der Ankläger im Fall Schwarz nannte einen Soldaten ein »vernunftbegabtes Wesen, das die Pflicht hat, sich beim Befolgen von Befehlen sein Urteilsvermögen zu bewahren …« Auf den Einwand des Verteidigers, der dem Gericht den martialischen Drill mit der Devise »töten, töten, töten« in Erinnerung rief, entgegnete der Anklagevertreter: »Das ist doch nur eine Re259
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densart.« Schwarz wurde zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe mit Zwangsarbeit verurteilt. Aber nachdem ein Rechtshilfefonds für Schwarz eingerichtet worden war und mehr als 750 000 Menschen in West Virginia und Pennsylvania ein Gnadengesuch unterzeichnet hatten, wurde die Strafe auf ein Jahr reduziert, und er war schon bald wieder auf freiem Fuß. Auf meine Frage, wieso er auf Zivilisten geschossen habe, intonierte er theatralisch und mit hoch gerecktem Kinn so etwas wie: »Mit Herz und Hand fürs Vaterland«, als hätte er die Zeile gerade erfunden, und dann fügte er hinzu: »Ich wünschte nur, sie würden mir meine Marineauszeichnung und das Verwundetenabzeichen wiedergeben.« Tatsache ist, dass Vietnam von Amerikas Schattenseite überrollt worden ist. Das Mittel der Kriegführung war Mord, nicht etwa eine militärische Strategie. Die neunte Infanteriedivision beispielsweise, auch die »glorreiche neunte« genannt, galt als »berüchtigt«. Aber sie führte ja nur die Befehle aus, die aus der »Kommandozentrale Dodge City« in Saigon kamen: Befehle von hohen Offizieren, die ihre Kollegen in Joseph Hellers Catch-22 manchmal wie reale Figuren in einem Sachbuch hätten aussehen lassen. Das US-Oberkommando in Saigon bestätigte der »glorreichen Neunten« für das Jahr 1971 eine Quote von 11 000 Feindtreffern im Rahmen einer »Säuberungsaktion« mit dem Kodenamen Operation »Speedy Express«. Die Sache hatte allerdings einen kleinen Schönheitsfehler, denn bei den getöteten Feinden waren nur 700 Waffen gefunden worden. Später räumte die USRegierung ein, dass 5000 »Nonkombattanten« getötet worden waren. Das Ganze war ein stillschweigend gebilligtes und von offizieller Seite gedecktes Massenmorden. Die Story lag sechs Monate in der Redaktion der Zeitschrift Newsweek auf Eis, dann wurde sie mit dem Argument abgelehnt, sie sei ein »unnötiger 260
Immer noch eine gerechte Sache
Angriff« gegen Präsident Nixon. Als der Bericht vier Jahre später doch noch veröffentlicht wurde, hatte er mit der ursprünglichen Geschichte nur noch wenig Ähnlichkeit.3 Ein solches Zurückhalten von Informationen gehörte zum journalistischen Alltag. In vielen Nachrichtenbüros in Saigon hingen damals Fotos an den Wänden, auf denen verstümmelte Leichen zu sehen waren: GIs, die abgeschnittene Ohren oder Hoden in die Kamera hielten, und Folterer bei der Arbeit. Im Büro der US-Nachrichtenagentur Associated Press hatte jemand auf eines dieser Fotos geschrieben: »Das passiert, wenn du mit der Presse sprichst.« Wenn man die Leute fragte, warum diese Bilder nicht verschickt wurden, bekam man immer das Gleiche zu hören: Die internationalen Agenturen (die meisten von ihnen USamerikanisch) gaben sie deshalb nicht weiter, weil sie in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stießen und daher ohnehin in keiner amerikanischen Zeitung abgedruckt werden würden. Und doch galt der Vietnamkrieg als der erste »Medienkrieg«, in dem es angeblich keine Zensur gab, in dem den wachen Augen der Reporter nichts entging und den Fernsehkameras nichts verborgen blieb. Zur Zeit des Massakers von My Lai hielten sich mehr als 600 Reporter in Vietnam auf. Keiner von ihnen berichtete über das Geschehen, obwohl die Sache weithin bekannt war. Ein Soldat, der von der Geschichte gehört hatte, bemühte sich ein Jahr lang vergebens, Newsweek oder eine andere Zeitung dafür zu interessieren. Am Ende machte der junge Reporter Seymour Hersh, der die Nachricht von der Ermordung von Zivilisten durch Soldaten seines Landes für eine sensationelle Enthüllung hielt, die Geschichte in den Vereinigten Staaten publik. Unter der Überschrift »My Lai: eine amerikanische Tragödie« schaffte es die Story schließlich doch noch auf die Titelseite der Newsweek. Die Überschrift warb um Verständnis und Mitgefühl 261
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für Amerika und lenkte von der Wahrheit ab: dass das Massaker vor allem eine vietnamesische Tragödie war; dass es sich nicht etwa um eine verwerfliche »Ausnahme« handelte, wie es die Armeeleitung zu nennen beliebte, sondern um das nackte Gesicht eines verbrecherischen und rassistischen Krieges. Das wurde nirgendwo klar ausgesprochen. Nach der in den Medien damals wie heute bevorzugten Sichtweise war dieser Krieg eine Aufeinanderfolge von »Fehlern und Irrtümern« oder gar ein »Sumpf«, in den sich Politiker und Generäle in ihrer Naivität »hineinziehen« oder »hineintreiben« ließen. In einer Sonderausgabe des Observer zum 20. Jahrestag des Kriegsendes schrieb der frühere Auslandskorrespondent Mark Frankland: »Die Vereinigten Staaten haben ihre Lektion aus dem Krieg gelernt, sie werden sich nie wieder in einen langen Krieg hineinziehen lassen.«4 Dieser Mythos hält sich genauso zäh wie die absurde Behauptung, die Journalisten seien durch ihre Kritik am Militäreinsatz mit verantwortlich dafür, dass die Amerikaner diesen Krieg verloren haben. Meines Wissens hatten die meisten Journalisten keine Einwände gegen den »heldenhaften Kreuzzug« an sich, sie zweifelten lediglich an der Klugheit strategischer Entscheidungen und an der Kompetenz der Befehlshaber. Fast nirgendwo konnte man lesen oder hören, dass die Vereinigten Staaten einen totalen Krieg gegen das gesamte vietnamesische Volk führten, der Kommunisten und Nichtkommunisten, Nord- und Südvietnamesen unterschiedslos traf. Denn das wäre die Wahrheit gewesen. Statt dessen wurde der Krieg als Gladiatorenwettkampf zwischen »guten« und »bösen« Mannschaften hingestellt. Die Amerikaner waren auf der Seite der »Guten«, der Südvietnamesen nämlich, die sich gegen mehrere Mannschaften der kommunistischen »Bösen« zu verteidigen hatten. In dieser Lesart blieb, wen wundert es, die Tatsache unerwähnt, dass die Amerikaner Zehntausende ihrer südvietnamesischen »Verbündeten« getötet, 262
Immer noch eine gerechte Sache
die Hälfte ihrer Wälder vernichtet, ihre Erde vergiftet und Millionen von Menschen zum Verlassen ihrer Häuser gezwungen hatten. In dieser Lesart der Ereignisse wurde auch niemals richtig klar, wer die »Kommunisten« eigentlich waren. Wenn bei den Vietcong und in der Nationalen Befreiungsfront auch Südvietnamesen kämpften, konnten sie dann, wie Präsident Kennedy behauptete, in ihr eigenes Land »einmarschiert« sein? Um das glaubhaft zu vermitteln, musste man die richtigen Worte finden. Also wurden sie zu »Aufständischen«, zu »inneren Feinden«. Aber auch mit den »Nordvietnamesen«, die angeblich den Süden angriffen, war es eine vertrackte Sache. Bis zur Genfer Konferenz im Jahr 1954, in deren Folge das Land bis zu den zwei Jahre später vorgesehenen gesamtvietnamesischen Wahlen »vorübergehend« geteilt wurde, hatte es kein Nord- und Südvietnam gegeben. Heute weiß man, dass die Amerikaner, heimlich angestachelt von den Chinesen, die ein starkes, selbstbewusstes Vietnam fürchteten, die geplanten Wahlen hintertrieben, weil sie genau wussten, dass Ho Chi Minh diese mit links gewinnen und das Land vereinigen würde.5 In seinen Memoiren bemerkt der frühere Präsident Eisenhower: »Ich kenne keinen Indochinaexperten, der nicht der Meinung ist, dass damals mindestens 80 Prozent der Bevölkerung für Ho Chi Minh gestimmt hätten.«6 1968, im Jahr des Massakers von My Lai, machte sich Hollywood die »gerechte Sache« des Vietnamkrieges ebenso als Filmstoff zu Eigen wie schon andere kollektive Heldentaten – das Gemetzel unter den nordamerikanischen Ureinwohnern beispielsweise. Am Anfang stand ein Brief, der an den USPräsidenten Lyndon B. Johnson gerichtet war. »Sehr geehrter Herr Präsident«, stand darin. »Als ich klein war, hat mein Vater immer zu mir gesagt, wenn ich etwas erreichen will, muss ich mich an den Boss wenden – also schreibe ich Ihnen diesen Brief.«7 263
Rückkehr nach Vietnam
Absender war der Schauspieler John Wayne, der die Idee zu einem »patriotischen« Film über den US-Einsatz in Vietnam hatte. Der Film mit ihm in der Hauptrolle kam dann unter dem Titel Die grünen Teufel in die Kinos. Produzent war John Waynes Sohn Michael, der später einräumte, dass das Drehbuch »nach den Vorgaben des Pentagon« umgeschrieben worden war.8 Ich sah mir den Film zusammen mit einem in der Bürgerrechtsbewegung engagierten Freund 1968 in einem Kino in Montgomery, Alabama, an. Wir waren sprachlos über diesen verqueren Versuch, vom mörderischen Charakter der amerikanischen Invasion abzulenken, Journalisten als naiv hinzustellen und Kommunisten als Kindermörder. In einer Szene wird ein Reporter von einem Marineinfanteristen (dem üblichen Alibineger) belehrt: »Als Soldaten wissen wir, dass wir Feinde töten müssen. Aber der vorsätzliche Mord und die Gräueltaten an unschuldigen Frauen und Kindern durch die Kommunisten … Ich sage dir, diese Leute brauchen uns, sie brauchen unsere Hilfe.« Der Film endet damit, dass die Sonne im Südchinesischen Meer untergeht, demzufolge also im Osten, was einiges über die Glaubwürdigkeit des gesamten Machwerks sagt. Wir lachten uns schief, mein Freund und ich, bis er mir plötzlich leise zuflüsterte, wir sollten lieber möglichst schnell verschwinden. Im Zuschauerraum saßen fast ausschließlich Weiße, junge Männer, die bei jeder Absurdität und jeder Szene, in der ein Schlitzauge ins Gras beißen musste, Beifall geklatscht hatten. Jetzt drehten sie die Köpfe zu uns um. Wir nahmen die Beine in die Hand und rannten in unser Hotel zurück, dicht gefolgt von einer lechzenden Meute. Es war uns eine heilsame Lektion über die Zelluloidmacht der sittlichen Werte eines John Wayne, der seinen Patriotismus im Zweiten Weltkrieg unter Beweis gestellt hatte, indem er sich erfolgreich vor dem Militärdienst drückte. Die grünen Teufel wurden zwar von der Kritik verrissen, aber 264
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der Film spielte immerhin mehr als acht Millionen Dollar ein, was damals eine Menge Geld war. Der Einfluss, den John Wayne in 30 Jahren Filmgeschichte, also auf eine ganze Generation ausgeübt hat, fiel ins Gewicht. Die vielen Filme, in denen der »Gute« den »Bösen« besiegt hat, bevor das Fernsehen noch Fuß fassen konnte, die vielen »Heldentaten« zu Pferd oder ohne Pferd und immer im Namen der »Freiheit« und des amerikanischen Vaterlands, dieser ganze Amerikanismus als einzig wahre Ideologie – all das hat seine Spuren hinterlassen. Ich hatte in Vietnam zu viele amerikanische Soldaten gesehen, die John Wayne spielten, um das nicht begriffen zu haben. Michael Schwarz, der an der Ermordung von 16 Menschen beteiligt war, war einer von ihnen. »Wie Big John«, erklärte er mir. »Ich hab mich immer gern mit anderen geprügelt, ihnen gezeigt, wer der Boss ist, wissen Sie.« In seinem Buch Firing Line beschreibt Richard Holmes, was der Filmregisseur Delbert Mann 1960 zu hören bekam, als er einigen Marinesoldaten die Frage stellte, warum sie sich zur Marineinfanterie gemeldet hatten. »Die Hälfte der Leute gaben die John-Wayne-Filme, die sie gesehen hatten, als Grund an. In dem Film Todeskommando spielt John Wayne den Sergeanten John M. Stryker, einen harten, aber gerechten Soldaten, der zum Archetypus des Marineoffiziers der darauf folgenden 20 Jahre wurde. … Wer Ende der 60er Jahre als Infanterieoffizier mit mittlerem Dienstgrad in Vietnam war, muss zu der Zeit, als Todeskommando in die Kinos kam, ein Teenager gewesen sein. Daher ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass der Film einen so nachhaltigen Eindruck hinterließ.« Der frühere Marinesoldat John Parrish kann diese Einschätzung nur bestätigen. »Ich war John Wayne«, beschreibt er das Gefühl, das er hatte, als er unter feindlichem Beschuss Verwundeten in die rettenden Hubschrauber half. »Ich deckte die Rückzüge von den Stränden des Zweiten Weltkrieges. Ich war der Held der Kriegscomics.«9 265
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Nach dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam wurden in Hollywood Filme gedreht, die das Thema der »amerikanischen Tragödie« aufgriffen und in einer wirkungsvollen Mischung aus Rambo und Angst um Mitleid mit den Invasoren warben: manchmal primitiv (Rambo) und manchmal subtil (Platoon). Alle diese Filme haben eines gemein: Die Vietnamesen, die darin vorkommen, bleiben weitgehend gesichtslos. Sie sind entweder asiatische Dummköpfe und Barbaren (Die durch die Hölle gehen, ein Film, der fälschlicherweise als Antikriegsepos bezeichnet wurde) oder Opfer (Sie kehren heim und Platoon), oder sie werden ins Rührselig-Kitschige überzeichnet (Good Morning Vietnam). Die wenigen Filme, in denen Vietnamesen nicht als Klischee, sondern als Menschen wahrgenommen werden, haben der üblicherweise verzerrten Darstellung bloß Glaubwürdigkeit verschafft. Die Sendungen, die zur Erinnerung an den Vietnamkrieg an bestimmten Jahrestagen ausgestrahlt werden, belegen nur die Langlebigkeit dieser Mythen. Die BBC hat ihre umfangreichen Archive geöffnet und sich selbst stolz eine »unparteiischere« Kriegsberichterstattung bescheinigt als den US-amerikanischen Medien. Von der schwarzen Liste, auf die beispielsweise die Reportage des Kameramannes Malcolm Aird und des Journalisten James Cameron über die Bombardierung ziviler Ziele in Nordvietnam – eines der wenigen filmischen Dokumente der längsten Luftangriffe aller Zeiten – gesetzt wurde, erfährt man allerdings nichts. Die übliche Verallgemeinerung, mit der »die Kommunisten« in eine Schublade geworfen werden, verbannt diejenigen in den Schatten, die wie Thai Thi Tinhs Söhne nicht als die Preußen Asiens in blindem Eifer gekämpft haben und gestorben sind, sondern als Menschen, die ihren Traditionen verbunden waren und für die Unabhängigkeit ihres Landes eintraten, deren Erfindungsreichtum und Ausdauer bis an die Grenzen des Men266
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schenmöglichen gingen, die ihre Kultur im Bombenhagel bewahrten und unterirdische Schulen und Krankenhäuser errichteten. Vor ein paar Jahren hat ein Mann eine ziemlich scheinheilige Wiedergutmachung geleistet. Der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara wählte den 20. Jahrestag des Kriegsendes, um ein »umfassendes öffentliches Bekenntnis« abzulegen.10 Etwas ließ er allerdings aus: dass nämlich er es war, der kraft seines Amtes die Verantwortung für die Bombardierungen der ersten Kriegsjahre trug und der gern quer durch Vietnam einen Elektrozaun gezogen hätte. Heute ist er der Auffassung, »nicht in Bezug auf die Werte und Ziele« habe er sich »geirrt«, sondern in seiner »Einschätzung der Möglichkeiten«. Es wäre zum Lachen, wenn nicht die Sprache der westlichen Macht, die vor allem der Negierung von Schuld und Verantwortung dient, so perfide wäre. Die Frage, die mir ein BBC-Reporter einmal in einem Radiointerview stellte, hätte auch aus dem Munde McNamaras stammen können: »Wie kann eine fremde Macht Ruhe und Ordnung in ein Land bringen, das diese nicht haben will?« Haben die USA ihren verheerenden Krieg in Asien wirklich »verloren«? Ich bin nicht so sicher. Für die amerikanischen Regierungen von Truman bis Ford war das, was in Vietnam vorging, immer eine Bedrohung auf lange Sicht: als Entwicklungsmodell, dem andere Staaten in der Region und anderswo in der Welt hätten nacheifern können. Nein, die USA haben in Südostasien keine dauerhafte Niederlage erlitten, sie haben Vietnam zugrunde gerichtet, den Wiederaufbau durch ihr Embargo erschwert und das Land mitsamt dem »Virus«, von dem es befallen ist, isoliert. Heute dient fast jede Regierung in der Region auf die eine oder andere Weise US-amerikanischen Interessen. Nicht einmal in Hollywood scheint man die gewaltige Dimension dieser Leistung begriffen zu haben. 267
Die letzte Schlacht
Wir dürfen niemals vergessen, dass die Menschen an erster Stelle stehen. Ho Chi Minh
I
m Winter 1995 sah ich Vietnam wieder. Hanoi war ein seltsam hybrides Gebilde. An den Arkaden des Odeon, den Alleen, den Villen und der Nachbildung der Pariser Oper, in der sich die französischen Kolonisten mit Berlioz und Bizet vergnügt hatten, war der Verfall kaum fortgeschritten. Auch im überfüllten Altstadtviertel hatte sich wenig verändert; die Atmosphäre erinnerte an das Bild, das wir von Städten im viktorianischen England haben: Unter schiefergrauem Himmel drängten sich die winzigen Häuschen in verwinkelten Gassen mit oberirdischen Abwasserrinnen, und die Luft war erfüllt vom süßlich duftenden Rauch der Holzkohlebecken. In kleinen Teestuben wimmelte es von Menschen, die in Tücher eingehüllt waren und sich aus großen blumengemusterten Thermoskannen grünen Tee einschenkten. Von den Wänden blickten aus ovalen Bilderrahmen vergilbte Gestalten im Mandaringewand herunter, und nirgendwo fehlte die Sammlung militärischer Orden und das Foto eines im Krieg getöteten Freundes oder Verwandten. Hier ist der Alltag von Lachen erfüllt, es herrscht ein fröhlicher Trubel. Gelächter war es auch, das mich veranlasste, vor einem Haus stehen zu bleiben, in dem gerade eine Hochzeit gefeiert wurde. Thuan, der 28-jährige Bräutigam, und seine 24269
Rückkehr nach Vietnam
jährige Braut Hong baten mich hinein. Er verkauft Hundefleisch, sie ist ein »Blumenmädchen«: Das heißt, sie verdient sich das Nötigste zum Leben, indem sie Blumen einzeln auf der Straße verkauft. Die Hochzeitsgesellschaft, die in dem kleinen Hof unter einem Baldachin aus amerikanischer Fallschirmseide versammelt war, hätte man fast für wohlhabend halten können. Es gab Schüsseln mit dampfenden Nudeln, Süßigkeiten und Betelnüsse; und die Brautjungfern trugen grelles Rosa. Der Bräutigam kicherte, die Braut weinte, und wir wurden alle ins Haus gebeten, um das Ehebett zu begutachten. Ein paar Häuser weiter hockte der ehrwürdige Maler Nguyen The Khan wie ein alter Kauz in seiner unglaublich vollgestopften Dachkammer und arbeitete, die Zigarette im Mundwinkel, an einer Serie von Lacktafeln, die Hanoi zeigen, wie es Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat, bevor die Franzosen die alten Wahrzeichen – den Prinzessin-Huyen-Tran-Tempel, die Jadeberg-Pagode und den Gezähmte-Wellen-Pavillon – niederrissen und auf den Trümmern ihr Miniaturparis errichteten. »Welche Arbeit würden Sie vor Ihrem Tod gern noch vollenden?«, fragte ich ihn. »Etwas, das den wahren Frieden verkündet«, antwortete er. »Ein friedliches Leben …, das ist alles. Wir haben immer noch keinen Frieden; wir stehen heute vor einem Dilemma.« Die Symbole dieses Dilemmas ragten vor uns in den Himmel: Hochhäuser, die zu den absolut hässlichsten der Welt gehören: Gebilde wie riesige Wäscheklammern aus schwarzem Glas und Beton, offensichtlich inspiriert von derselben thailändischen Architekturschule, deren monströse Produkte die Hochspannungsleitungen in einer Wüste, an deren Stelle früher einmal Teakwälder wuchsen, miteinander verbinden. Nguyen The Khan und andere Bewohner des Altstadtviertels hatten im Rathaus gegen den Bau der Hochhäuser und gegen die 270
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korrupten Beamten protestiert, die in vielen Fällen den Weg für die Baugenehmigung frei gemacht hatten. Die Hochhäuser sind die Kommandozentralen der Großkonzerne aus Japan, Korea, Hongkong, Singapur, den Vereinigten Staaten, Australien und Großbritannien, die im Begriff sind, Vietnam grundlegend zu verändern. »Der Zirkus ist wieder in der Stadt« – so hat es ein US-amerikanischer Banker formuliert. Für diejenigen, die Vietnam während des Krieges kennen gelernt haben, ist es fast unheimlich, wie altvertraut der Zirkus ist. In einer Bar an der Ecke der Straße »Duong Chien Thang B-52« (Allee des Sieges über die B-52) saß Joe, ein ehemaliger Hubschrauberpilot, der jetzt eine Flotte von Businessjets unterhält, mit denen US-amerikanische Geschäftsleute von Firmen, die zum großen Teil viel Geld am Krieg verdient haben, eingeflogen werden. Ganz in der Nähe hat eine der Säulen des Krieges, die Bank of America, ihre neuen Büros. Als dort eines Abends die Alarmsirene schrillte, liefen die Leute staunend zusammen und wollten wissen, was los sei. Sie wussten es nicht, weil in Hanoi niemand eine Bank ausraubt. Noch nicht. Die Teestube auf der anderen Straßenseite ist in »No Noodles Sandwich Bar« umbenannt worden. Die Wände sind mit Marlboro-Postern tapeziert, die alte Frau, die durch den Perlenvorhang hin und her eilt, trägt eine rote Marlboro-Kappe, und ihr T-Shirt zierte ein Bild des Marlboro-Mannes. Sie hat praktisch über Nacht ihre Würde verloren: ein mahnendes Symbol für ihr Land. Marlboro und Dunhill haben ein Land erobert, in dem die Mehrheit der Bevölkerung zu rauchen scheint. Ausländische Tabakfirmen gehörten zu den Ersten, die zurückgekehrt sind, und sie vertreiben hier Zigaretten mit hohem Teergehalt. Die Marlboro-Werbung konzentriert sich auf das »Macho-Image« der Marke, das im Westen schon lange in Verruf geraten ist. An Stelle des Cowboys mit der Zigarette im Mundwinkel, dessen Darstel271
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ler an Lungenkrebs gestorben ist, sieht man nun muskelbepackte, von Frauen umschwärmte Jünglinge, während die realen jungen Männer des Landes mit mageren Armen und verfaulten Zähnen und roten Kappen, die ihnen zu groß sind, auf Leihmopeds herumfahren und mit Zigaretten dafür bezahlt werden, daß sie den Teestuben Marlboros verkaufen. So sieht die Wirklichkeit dessen aus, die man hier als »Erneuerung« bezeichnet. *** Die Politik der »Erneuerung« oder Doi Moi entstand aus einer Situation der Ausweglosigkeit heraus. Hatte der Krieg selbst schon verheerende Schäden im Land angerichtet, so sollte sich die Lage in den Jahren nach dem 1973 in Paris unterzeichneten Waffenstillstand, der den Worten Henry Kissingers zufolge einen »Frieden in Ehren« herbeiführen würde, noch verschlimmern. Zu den Eckpunkten des Waffenstillstandsabkommens gehörten Reparationszahlungen von 3,25 Milliarden Dollar, die Pham Van Dong, dem Ministerpräsidenten der Demokratischen Republik Vietnam (Nordvietnam), in einem geheimen Schreiben von Präsident Nixons zugesagt wurden. Von der Existenz dieses am 1. Februar 1973 unterzeichneten Dokuments wurde erst zwei Jahre später etwas bekannt, als es einer Gruppe USamerikanischer Kongressabgeordneter präsentiert wurde, die nach dem offiziellen Kriegsende Vietnam besuchten. Das Außenministerium bestätigte seine Echtheit. Auf acht eng beschriebenen Seiten waren die Einzelheiten der amerikanischen »Hilfe zum Wiederaufbau« festgelegt. Der größte Teil des Geldes sollte US-Firmen zufließen, die sich am Bau von Industrieanlagen und am Wiederaufbau von zerbombten Brücken, Eisenbahnlinien, Dämmen und Hafenanlagen beteiligten. Ein hoher Beamter in Hanoi sagte mir: »Uns war klar, dass wir ohne dieses Minimalkapital nie in der Lage gewesen wären, das Land wieder 272
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aufzubauen und uns unsere Unabhängigkeit zu bewahren.« Kein Cent des versprochenen Geldes wurde bezahlt. Am 30. April 1975, dem letzten Tag des Krieges, fror die US-Bundesbank vietnamesische Guthaben im Wert von 70 Millionen US-Dollar ein. Zwei Wochen später stufte das Handelsministerium Vietnam als Land der »Kategorie Z« ein, so dass von nun an alle Exporte vom Außenministerium genehmigt werden mussten. Das galt auch für die Tochterunternehmen amerikanischer Firmen im Ausland. Die Weltbank gab klein bei und verzichtete auf die Finanzierung einer Bewässerungsanlage, mit deren Hilfe die Nahrungsmittelproduktion hätte gesteigert werden können. Von 1981 an durften Hilfsorganisationen unter Berufung auf den »Trading with the Enemy Act«, ein aus Zeiten des Ersten Weltkriegs stammendes Gesetz, kein Land Indochinas mehr mit Hilfsgütern beliefern, weder Vietnam noch Kambodscha oder Laos. Zu den ersten vom Verbot betroffenen Hilfsprogrammen gehörten zwei Projekte, die der US-amerikanische Zweig von Oxfam für die Menschen in Vietnam in die Wege geleitet hatte: eine bescheidene Ausrüstung zur Verarbeitung und Lagerung von Saatgut für eine landwirtschaftliche Kooperative sowie der Aufbau einer kleinen Bienenzüchterkooperative, die Honig als Nahrungsergänzung für Vorschulkinder produzieren sollte. Vergeltung war das Motto einer Politik, der sich Washingtons Verbündete bald anschlossen. 1979 machte Margaret Thatcher, gerade frisch ins Amt gewählt, ihren Einfluss in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geltend und erreichte, dass die bis dahin regelmäßig erfolgten Milchlieferungen für vietnamesische Kinder eingestellt wurden. Daraufhin stieg in Vietnam der Preis für ein Kilo Milchpulver auf das Zehnfache dessen, was ein Kilo Fleisch kostete. Schon 1975 und 1978 hatte ich sowohl in den Städten als auch auf dem Land Kinder mit streichholzdürren Armen und Beinen und aufgeblähten Hungerbäuchen gesehen. 273
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Nach dem Milchembargo verschlechterte sich die Lage so dramatisch, dass nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren unter Entwicklungsstörungen litten und unverhältnismäßig viele Kleinkinder wegen Vitamin A-Mangels zu erblinden drohten.11 In Hongai, der kleinen Bergwerksstadt im Golf von Tonking, von der hier schon einmal die Rede war und die für sich die zweifelhafte Ehre in Anspruch nehmen kann, die meistbombardierte Stadt Vietnams zu sein, erfuhr ich von der Kinderärztin Luu Van Hoat, dass zehn Prozent der Kinder taub sind. »Sie verloren während der Luftangriffe das Gehör«, sagte sie, »aber sie haben immerhin überlebt. Das war ein Zeichen der Hoffnung für uns. Jetzt stirbt die nächste Generation an Unterernährung. Es ist ganz einfach: Kinder brauchen Milch zum Leben, und wir haben keine.« Gegen keinen ihrer Erzfeinde hat die US-Regierung ein so weit reichendes Embargo verhängt, nicht einmal gegen Kuba. »Wir haben das Land in Stücke geschlagen«, schreibt Telford Taylor, der US-Chefankläger der Nürnberger Prozesse, »und machen uns nicht einmal die Mühe, das Blut und die Trümmer zu beseitigen. Irgendwie haben wir die Lektion, die wir in Nürnberg erteilen wollten, selbst nicht gelernt.«12 1978 schien es, als zeichne sich ein Hoffnungsstreifen am Horizont ab. Die vietnamesische Regierung bemühte sich bei Präsident Carter um eine »Normalisierung« der Beziehungen. Sie knüpfte keinerlei Bedingungen daran und erwähnte auch die von Nixon in Aussicht gestellten 3,25 Milliarden Dollar Aufbauhilfe nicht. Der damalige Außenminister Nguyen Co Thach, ein freundlicher und umgänglicher Mann, reiste nach New York und wartete in seinem Zimmer im Holiday Inn an der 42. Straße eine Woche lang auf den versprochenen Anruf von Staatssekretär Richard Holbrooke. 274
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»Er hatte mir eine ›historische Versöhnung‹ angekündigt«, erfuhr ich in einem Gespräch mit Thach. »Das waren seine Worte. Aber nichts tat sich. Ich habe vergeblich auf seinen Anruf gewartet. Andere Entwicklungen traten in den Vordergrund. In diesem Sommer galt China das ganze Interesse Washingtons. Deng Xiaoping hatte die Vereinigten Staaten besucht und sich einen Cowboyhut aufgesetzt. Keiner schien sich daran zu stören, dass China Pol Pots Regime in Kambodscha unterstützte, dessen Truppen unser Land seit mehr als einem Jahr tyrannisierten. Im Gegenteil, als wir Weihnachten 1978 zum Gegenschlag ausholten und die Roten Khmer nach Thailand zurückdrängten, waren wir für die neuen Verbündeten China und Amerika plötzlich die Parias.« Im Januar 1979 überschritten chinesische Truppen die Nordgrenze Vietnams. An diesem massiven Angriff waren 600 000 Soldaten beteiligt – mehr als die Vereinigten Staaten im ganzen Vietnamkrieg aufgeboten hatten. China, so verkündete Radio Peking, »erteilt Vietnam eine Lektion«. Bevor die Invasoren wieder aus dem Land vertrieben werden konnten, hatten sie Deiche und Kanäle zerstört, die den amerikanischen Luftangriffen getrotzt hatten, und fast die gesamten Reisvorräte des Landes vernichtet. Je tiefer das Land in die Isolation geriet, umso stärker machte sich bei der kommunistischen Parteiführung in Hanoi das Gefühl breit, sich im Belagerungszustand zu befinden. Die USRegierung unter Ronald Reagan tat, indem sie Vietnam zum Aggressor erklärte, ihr Möglichstes, die »gerechte Sache« in Indochina nachträglich zu rechtfertigen. Auf Betreiben der Vereinigten Staaten, ihrer westlichen Verbündeten und Chinas verhängten die Vereinten Nationen ein Embargo gegen Kambodscha, nachdem vietnamesische Truppen die Hauptstadt eingenommen und Pol Pot mit seinen Roten Khmer vertrieben hatten. Vor den 275
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Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation traten Pol Pots Leute nach wie vor als Repräsentanten ihrer eigenen Opfer auf. Die Amerikaner Linda Mason und Roger Brown, die als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation an der thailändischen Grenze eingesetzt waren, bemerkten dazu: »Die US-Regierung verlangte, dass die Roten Khmer Nahrungsmittel erhielten. … Sie sollten durch die Glaubwürdigkeit eines international anerkannten Hilfsprogramms Rückendeckung für ihre Operationen erhalten.«13 So lieferte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen auf Drängen der USA Nahrungsmittel im Wert von zwölf Millionen Dollar an die thailändische Armee, die diese an die Roten Khmer weiterleiten sollte. Nach Aussage Holbrookes kamen »20 000 bis 40 000 Leute der Pol-Pot-Guerilla« in den Genuss dieser Hilfeleistung.14 Je länger die Anwesenheit der vietnamesischen Truppen in Kambodscha vonnöten war, um eine Rückkehr Pol Pots zur Macht zu verhindern, umso unerträglicher wurde der Druck auf die vom Krieg ausgezehrte Wirtschaft Vietnams. Für viele Vietnamesen war dies wieder eine bittere Zeit des Hungerns, der Unterdrückung und Entbehrungen. Zwar konnten Hunderttausende von Kriegsflüchtlingen in ihre wieder aufgebauten Dörfer zurückkehren, aber gleichzeitig füllten sich die harten »Umerziehungslager« nicht nur mit den ehemaligen Soldaten und Beamten der Saigoner Regierung, sondern auch mit Menschen, die für keine der beiden Seiten einen Fahneneid geleistet hatten. Gemeinsam fanden sie sich im vietnamesischen Gulag wieder. Die persönliche Freiheit des Einzelnen war jetzt von seiner Stellung in der Kommunistischen Partei abhängig. Die Enteigneten flüchteten zu Tausenden in Booten über das Meer, viele von ihnen Vietnamesen chinesischer Herkunft, die nach der chinesischen Invasion Angst vor Verfolgung hatten. Ihnen folgten ver276
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armte Bauern aus dem Norden. Die Regierung in Hanoi hatte zwar einem Programm der geordneten Auswanderung zugestimmt, aber das war ohne Unterstützung der Vereinigten Staaten kaum zu bewerkstelligen. Innerparteiliche Kritik und öffentliche Proteste gegen Versorgungsmängel und steigende Preise führten 1986 dazu, dass die alte Garde im Politbüro ihre Machtstellung, die sie 40 Jahre lang innegehabt hatte, aufgab und einer relativ jungen Führungsschicht Platz machte. Neuer Generalsekretär der KPV wurde der ehemalige Befehlshaber der Nationalen Befreiungsfront Nguyen Van Linh, der zu den Reformkräften seiner Partei zählte und auch als »vietnamesischer Gorbatschow« bezeichnet wird. Linh, der wenige Jahre zuvor noch aus dem Politbüro abgewählt worden war, weil er sich gegen eine schnelle »Sozialisierung« des Südens ausgesprochen hatte, betrachtete sich selbst als »Pragmatiker«. Im Dezember 1986 kündigte die neue Parteispitze auf dem 6. Parteitag der KPV unter dem Namen Doi Moi, also »Erneuerung«, radikale wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen an. Das Bekenntnis zur »freien Marktwirtschaft« wurde als Schlüssel zur Beendigung des westlichen Embargos angesehen. Nunmehr sahen die Parteirichtlinien vor, dass »alle Bürger des Landes und alle Parteimitglieder danach streben sollen, Wohlstand für sich und ihr Land zu erarbeiten und so zum wirtschaftlichen Wachstum beizutragen«. Das aber, so der besorgte Zusatz, werde »möglicherweise zu einer Kluft zwischen Arm und Reich führen«, die dazu angetan sei, »den sozialen Frieden des Landes zu gefährden«, wenn sie nicht in Schranken gehalten würde.15 Innerhalb von zwei Jahren eröffneten die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Asian Development Bank Büros in Hanoi. Investoren aus Europa, Japan, Korea, Singapur und 277
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anderen südostasiatischen Staaten folgten ihrem Beispiel. Allzu verlockend war die »Beute«, wie Richard Nixon die südostasiatischen Länder gern zu bezeichnen pflegte: die im Überfluss vorhandenen natürlichen Ressourcen an Kohle, Öl, Gas und Holz. Amerikanische Finnen, die per Gesetz noch immer keine Handelsbeziehungen zu Vietnam aufnehmen durften, übten so lange Druck auf das Weiße Haus aus, bis Präsident Clinton 1994 das Embargo aufhob. Drei Jahre später trat der erste US-Botschafter seit Kriegsende sein Amt in Hanoi an. »Die Vereinigten Staaten«, so verkündete er, »werden das ihre dazu beitragen, dass der Staat Vietnam ein voll integriertes Mitglied dieser dynamischen Region wird.«16 *** Alfonso L. DeMatteis aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn ist der Gründer der US-amerikanischen Handelskammer in Hanoi. Als ich mich mit ihm traf, ließ er sich, vor einer eingerollten USFlagge sitzend, über die Frage aus, warum in Vietnam niemand einen Groll gegen ihn zu hegen schien. Er erinnerte mich an den alten Hollywood-Komiker Jerry Lewis, nur hatte seine gutmütige Einfalt ihre Grenzen. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein Brief an irgendein Ministerium, in dem er gegen den geplanten Bau eines Museums zum Gedenken an die amerikanischen Luftangriffe gegen Hanoi protestierte. DeMatteis hatte vor allem in Saudi-Arabien ein Vermögen in der Bauindustrie verdient und sein Betätigungsfeld nun nach Vietnam verlegt. Nach einer sehr herzlichen Begrüßung war es ihm ein Anliegen, über Mutter Teresa zu sprechen. »Sie war kürzlich in der Stadt«, schwärmte er, »und hat mich sogar hier in meinem Büro besucht. Wir haben uns zusammen vor der [amerikanischen] Flagge fotografieren lassen.« Er zeigte mir eine Pressemitteilung, die über die Einzelheiten des Besuchs von Mutter 278
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Teresa informierte und auch nicht zu erwähnen vergaß, welche Gastfreundschaft ihre Ordensschwestern durch seine Firma erfahren hatten. Danach erzählte er mir von seinen Plänen für den Bau eines 15-stöckigen Hochhauses am Ho-Tay-See im Westen Hanois. Am malerischen Ufer dieses Sees, der auch Nebelsee genannt wird, standen früher einmal herrliche Pagoden und Pavillons. Um den See ranken sich zahlreiche Legenden, vom Drachenkönig beispielsweise und von einer Glocke, deren Klang, wenn sie geläutet wird, bis nach China zu hören ist. Ein paar Pagoden ragen auch heute noch inmitten von Mönchsgräbern aus dem 12. Jahrhundert aus dem Nebel. Hierher kommen die Leute abends und an den Wochenenden auf ihren Fahrrädern und nehmen dazu den langen Weg über die holprigen Straßen in Kauf, die sich an den Deichen des Roten Flusses entlangziehen. An Sonntagen rudern sie in einem der alten Klinkerboote, die hier vermietet werden, auf den See hinaus und suchen sich da, wo demnächst DeMatteis' Hochhaus und andere Privatgebäude stehen werden, ein lauschiges Plätzchen zum Picknicken. »Wir werden da auch einen Fitnessclub und eine Joggingstrecke haben«, erklärte mir DeMatteis. »Zum Glück haben wir frühzeitig zugeschlagen. Mittlerweile sind die besten Bauplätze vergeben.« »Ist das dann auch alles für die Vietnamesen selber?« »In Anbetracht der Tatsache, dass die Mieten nicht gerade niedrig sind – eher nicht, John.« »Ist es nicht ein Witz«, warf ich ein, »dass die Fremden, gegen die sich Vietnam ein Jahrhundert lang erfolgreich zur Wehr gesetzt hat, die Franzosen, die Japaner und die Amerikaner, jetzt mit anderen Mitteln das gewinnen, was sie durch Kriege nicht erreichen konnten?« 279
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»Ich verstehe nicht ganz.« »Na ja, ihr seid alle wieder da …« »Das sind wir allerdings!« »Und es könnte gut sein, dass euch bald alles hier gehört.« »Wissen Sie, so habe ich es nie betrachtet. Danke, John.« Peter Purcell ist das australische Pendant von DeMatteis. Als wir miteinander sprachen, baute er gerade den Hanoi-Club, dessen Mitgliedsbeitrag bei 6500 bis 15 000 US-Dollar jährlich liegt, und der, wie er erläuterte, »nur erfolgreich sein kann, wenn er exklusiv ist«. »Ich hasse den Kommunismus«, erklärte er, »aber der Sozialismus, wie wir ihn hier haben, ist genau das Richtige.« Zur Veranschaulichung seiner Worte erläuterte er mir, wie er aus einem Startkapital von 14 Millionen US-Dollar schon jetzt 50 Millionen gemacht hatte, und er besaß immer noch einen freien Bauplatz. Dann erzählte er mir die Geschichte eines hohen vietnamesischen Regierungsbeamten, der ihn im Vertrauen gebeten hatte, ihm den Aktienmarkt zu erklären, und setzte hinzu: »Sie sind im Begriff, sich abzocken zu lassen, aber das gehört zu dem unumgänglichen Lernprozess, der sie zur schönen Welt des Kapitalismus hinführt.« Ein Wirtschaftsexperte der Weltbank namens David Dollar sah Vietnam auf dem besten Wege, sich zum nächsten »Tigerstaat« zu mausern. »Sie haben mit den notwendigen Reformen einen guten Start hingelegt«, schrieb er.17 Die Parameter dieser »notwendigen Reformen« wurden 1993 auf einer Gläubigerkonferenz des Pariser Clubs festgelegt, dem die reichsten westlichen Länder und Japan angehören, die ausbeutungsfähigen Staaten ihre »Hilfe« gewähren. Unter der Voraussetzung, dass sich das Land »dem freien Markt öffnen« würde, stellte der Club den Vietnamesen insgesamt 1,8 Milliarden Pfund an »Zuschüssen« und Krediten in Aussicht. Allerdings müssten sie dann die Staatswirtschaft »zu280
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rückschrauben« und ihre staatlichen Unternehmen schließen oder in Jointventures mit ausländischen Firmen umwandeln. Das würde für Zehntausende, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, den Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeuten. Für den vorbildlichen Gesundheitsdienst und das für die Dritte Welt beispielhafte Bildungssystem wäre kein Platz mehr. An ihre Stelle sollten »soziale Sicherungssysteme« treten, deren Leistungsfähigkeit allein vom »makroökonomischen Wachstum« abhängen würde. Ausländischen Investoren müssten fünf Jahre Steuerfreiheit und »wettbewerbsfähige« (billige) Arbeitskräfte in Aussicht gestellt werden. Und bevor all das in die Tat umgesetzt werden könnte, sollte Hanoi die Schulden des zusammengebrochenen Saigoner Regimes begleichen, also im Klartext die vom Feind aufgenommenen Kredite abbezahlen, die zur Finanzierung des US-Krieges herangezogen worden waren. So bot man den Vietnamesen schließlich die Mitgliedschaft in der »internationalen Gemeinschaft« an, sofern sie nur bereit waren, ein Gesellschaftssystem zu etablieren, das auf der Kluft zwischen Arm und Reich und auf der Ausbeutung der Arbeitskraft beruhte und in dem soziale Errungenschaften nichts mehr galten: genau das fremdbestimmte System also, das abzuschütteln sie so viele Opfer gekostet hatte. Es sieht so aus, schrieb Gabriel Kolko in seinem Standardwerk Vietnam: Anatomy of a War, als habe der Vietnamkrieg nur ein Ergebnis gehabt: »die Niederlage aller, die in ihm gekämpft haben – und eine der größten Tragödien der heutigen Zeit«.18 Kolko war einer der wenigen, die Alarm geschlagen haben. In Vietnam: Anatomy of a Peace, seinem nächsten Buch, wies er daraufhin, daß die Reformpolitik innerhalb weniger Jahre das hohe Maß an sozialer Gerechtigkeit, das in Vietnam bei Kriegsende erreicht war, zunichte gemacht und eine Klassengesellschaft hervorgebracht hat, in der sich der Besitz stärker auf eini281
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ge wenige konzentriert als in Indien, den Vereinigten Staaten und Großbritannien unter Thatcher.19 1994 schrieb der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Michel Chossudovsky, der sich mit den Problemen der Dritten Welt bestens auskennt: »Die hart erkämpften Errungenschaften und Hoffnungen einer ganzen Nation werden zerschlagen und zunichte gemacht. … Nicht durch Agent Orange, Splitterbomben, Napalm und giftige Chemikalien: Wir sind in eine neue Phase der wirtschaftlichen und sozialen (nicht der physischen) Zerstörung eingetreten. Die scheinbar neutralen und wissenschaftlichen Instrumente der Makroökonomie sind ein gewaltfreies Mittel zur Kolonialisierung und Ausbeutung.«20 Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Asian Development Bank wachen gemeinsam darüber, dass die »Reformen« auch verwirklicht werden. Als Erstes setzte die Weltbank eine Reform der Landgesetze durch, wovon zwei Drittel der vietnamesischen Bevölkerung betroffen waren. Die Subsistenzwirtschaft, die den Eigenbedarf der Menschen einigermaßen deckte, wird im Zuge der »Integration Vietnams in die dynamische Region« zunehmend vom kommerziellen und exportorientierten Anbau verdrängt. Den ländlichen Kooperativen, die auch für Schulen, Schwangerenvorsorge und die Lagerung von Notvorräten in ihrem Bezirk zuständig sind, geht allmählich die Luft aus, für sie ist in dem neuen Wirtschaftssystem kein Platz mehr. Aus Gründen der »Wettbewerbsfähigkeit« ist Reis, das Grundnahrungsmittel für mehr als 70 Millionen Menschen, heute dem ausbeuterischen Diktat des Weltmarkts unterworfen und wird unterhalb des Weltmarktpreises verkauft. Wenn die Weltbank den »Reisüberschuss« lobt, den Vietnam für den Export produziert, verbirgt sich dahinter auch ein stillschweigendes Inkaufnehmen der Tatsache, dass die Menschen im Land wieder Hunger leiden. 282
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Konnten die Bauern früher zinslose Darlehen vom Staat in Anspruch nehmen, wenn sie in Not gerieten, so müssen sie sich nun an private Geldverleiher wenden, die einst bei der Landbevölkerung so gefürchteten Wucherer. Das System hatten die Franzosen eingeführt und die Menschen damit in eine Abhängigkeit getrieben, die an Leibeigenschaft grenzte. In ihrem Bericht Viet Nam: Transition to the Market begrüßte die Weltbank diese Entwicklung mit der Begründung, sie werde zu den gewünschten Effekten einer »größeren Konzentration von Landbesitz bei gleichzeitigem Mangel an frei verfügbarem Land« (also zu freigesetzten Arbeitskräften) führen.21 Zu den Reformen, die folgten, gehört die Abschaffung des staatlichen Rentensystems und der sozialen Absicherung von Kranken, Behinderten, Witwen, Waisen und Kriegsveteranen. Nach sieben Jahren »Restrukturierung« hat die Armut im Land selbst nach Schätzungen der Weltbank beträchtlich zugenommen: Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung leben in »absoluter Armut«. 50 Prozent der Erwachsenen nehmen täglich deutlich weniger als 2100 Kalorien zu sich, und 50 Prozent aller Kinder sind schwer unterernährt.22 Mindestens eine Million Menschen, viele von ihnen im Gesundheitswesen Beschäftigte, haben ihre Arbeit verloren. Die Weltbank wußte Abhilfe für das Problem: Man sollte sie ebenso wie die von ihrem Land vertriebenen Bauern als »ungelernte Arbeiter zu Niedriglöhnen« einstellen. (Im Entwurf dieses Berichts, den ich in den Büros der Weltbank in Hanoi einsehen konnte, hatte jemand mit Bleistift am Rand vermerkt, die von den Beratern des Weltentwicklungsprogramms vorgeschlagene Entlohnung sei »so niedrig, dass man nur von Sklavenarbeit sprechen« könne.)23 Seit Inkrafttreten der »Reformen«, so der Bericht der Weltbank, gibt es »proportional mehr Kinder, die an Untergewicht und Wachstumsstörungen leiden, als in jedem anderen Land 283
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Süd- und Südostasiens mit Ausnahme von Bangladesch. … Das Ausmaß der Wachstumsstörungen und Mangelerscheinungen bei Kindern hat offenbar gravierend zugenommen.« Bedauerlicherweise »wird sich das Problem des Nahrungsmittelmangels in den unterversorgten Gebieten nicht über Nacht auflösen, weil die Verbraucher dort nicht über die Kaufkraft verfügen, um den Preis zu bezahlen, den die Produzenten in den Überschussregionen für ihr Getreide erzielen. Für sie ist es in der Tat finanziell lohnender, den Reis ins Ausland zu verkaufen, als ihn in den unterversorgten Gebieten im eigenen Land anzubieten. Zugegebenermaßen kann sich die Nahrungsmittelversorgung in den Mangelgebieten durch die Expansion des privaten Getreidehandels anfangs verschlechtern, ehe eine positive Entwicklung einsetzt.« Die »Konsumenten, die über keine Kaufkraft verfugen«, müssen, mit anderen Worten, leider hungern.24 In den Büros der Weltbank in Hanoi traf ich den Wirtschaftsexperten und Asienkenner Bradley Babson, der sich, auf das Problem angesprochen, sehr anerkennend über die »geistige Unabhängigkeit« äußerte, mit der die Vietnamesen ihre »echten sozialen Errungenschaften« verteidigten. Er war im Übrigen auch ausgesprochen freimütig: »Man muss wohl gerechterweise zugeben, dass es in Vietnam früher ein höheres Maß an Gleichberechtigung gab als in vielen anderen Ländern und dass die für das wirtschaftliche Wachstum notwendigen Reformen eine größere Ungleichheit mit sich bringen werden.« Michel Chossudovsky zufolge »sind die Reformen mit der verborgenen Absicht verbunden, das industrielle Fundament Vietnams zu destabilisieren: Eisen-, Öl-, Gas-, Erzindustrie und Bergbau, Zement- und Stahlproduktion sollen unter der Federführung japanischer Großkonzerne umstrukturiert und von ausländischem Kapital übernommen werden. … Ziel ist die Wiedereingliederung Vietnams in die japanische Einflusssphäre, ein 284
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Plan, der an die Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnert, als Vietnam Teil des mit dem Namen ›Greater East Asia Co-Prosperity Sphere‹ verbrämten Herrschaftsbereichs der Japaner war.«25 Achtzig Prozent der Kredite für Investitionsprojekte und Infrastruktur werden von japanischem Kapital gehalten, und der US-Dollar hat den Dong ersetzte, so dass die US-Notenbank praktisch den Geldfluss kontrolliert. Singapur zieht die Fäden auf dem Immobilienmarkt, Taiwan und Korea teilen sich das Geschäft mit den »steuerfreien Produkten« ausbeuterischer Handwerksbetriebe. Und auch Franzosen und Australier kommen, dicht gefolgt von den Briten, ganz gut auf ihre Kosten. 1995 tauchte der damalige britische Finanzminister Kenneth Clark mit einem Gefolge britischer Geschäftsleute in Hanoi auf, im Gepäck eine Expertise des Ministeriums für Wirtschaft und Handel, in der geradezu ekstatisch das Loblied der billigen Arbeitskräfte gesungen wurde. »Die Arbeitslöhne liegen teilweise nicht höher als bei 35 Dollar im Monat«, hieß es da und weiter: »Die Vietnamesen könnten eine neue Heimat für kränkelnde britische Industrieprodukte bieten. Denken Sie zukunftsorientiert, machen Sie sich Vietnams Schwächen zunutze. In Vietnam stehen Ihnen alle Türen offen, nutzen Sie die Vorteile des niedrigen Lebensstandards und der niedrigen Löhne.«26 Als ich das Papier Nguyen Xuan Oanh, Wirtschaftsberater der Regierung Vo Van Kiet, vorlegte, erklärte er: »Wir haben keine billigen, sondern preiswerte Arbeitskräfte, so würde ich es nennen. Das macht uns auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähig.« Dann ließ er sich wortreich über Wachstumsraten, Steuerbefreiungen, Abbau der Sozialausgaben und die anderen Götzen des IWF aus. Der Mann blickt auf eine interessante Karriere zurück: Nicht nur war er der Architekt des vietnamesischen »Marktsozialismus«, wie er es nannte, sondern er hatte auch schon der alten 285
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Saigoner Regierung als stellvertretender Ministerpräsident gedient. Als er bei Kriegsende verhaftet wurde, prophezeite er den Kommunisten, dass sie ihn eines Tages noch brauchen würden, und tatsächlich erwies er sich, biegsam wie ein Schilfhalm im Wind, als wahrer Überlebenskünstler. In den 90er Jahren bot er ausländischen Geschäftsleuten in seinem Saigoner Büro, elegant ausgestattet mit schwarzen Ledersesseln und fernbedienter Klimaanlage, seine persönlichen Beraterdienste für ihren Eintritt ins »Paradies der Investoren« an. »Das Regime, dem Sie früher gedient haben, war ziemlich korrupt, nicht wahr?«, fragte ich ihn. »Wir hatten einen schlechten Verwaltungsapparat«, entgegnete er. »Es verdiente am Schwarzmarkt, an Drogen, Prostitution und am Krieg.« »Er war nicht gut …« »Sie waren die Nummer Zwei …« »Ich habe mein Bestes getan, konnte aber wenig ausrichten.« »Sind Sie nicht im Begriff, wieder das gleiche Regierungssystem aufzubauen?« »Nein, wir schaffen eine harmonische Verbindung aus Sozialismus und Kapitalismus. Wenn man die Tür öffnet, um frischen Wind hereinzulassen, wird zwangsläufig auch der Staub mit hereingewirbelt.« »Ist das ein altes vietnamesisches Sprichwort?« Gelächter. »Ich habe gehört, dass Margaret Thatcher ein großes Vorbild für Sie war.« »Wir haben einiges von ihr gelernt, aber der Weg, den wir einschlagen, ist eindeutig vietnamesisch.« »Die Vietnamesen haben die Franzosen zum Teufel gejagt, weil sie die Menschen hier zwangen, für einen Hungerlohn in 286
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ausländischen Fabriken zu arbeiten. Passiert nicht zur Zeit das Gleiche wieder?« »Ich sagte Ihnen doch, dass die Arbeitskräfte bei uns lediglich preiswert sind…« Menschen wie Nguyen Xuan Oanh, David Dollar und Bradley Babson präsentieren der Welt Vietnam als nächsten Tigerstaat, aber Tatsache ist, dass sich die derzeitigen Tigerstaaten Südkorea, Hongkong, Singapur und Malaysia, denen allmählich die Luft ausgeht, weil ihre Aktienmärkte zusammenbrechen und ihre Währungskurse verfallen, alles andere wünschen als einen Konkurrenten von der Größe Vietnams. So wird es darauf hinauslaufen, dass Vietnam allenfalls als Wirtschaftskolonie Japans und der westlichen Industrienationen in die Riege der Tigerstaaten aufgenommen wird. Besonders drastisch zeigt sich dies in den so genannten Exporthandelszonen (EPZ). Eine dieser Zonen nennt sich »Saigon Süd – eine Schöne Neue Welt«. Sie liegt am gerodeten Ufer des Saigon-Flusses und ist im Besitz eines taiwanesischen Konzerns. Als ich die Produktionsstätten besichtigte, stellte ich erschüttert fest, wie sehr das Bild, das sich mir dort bot, an alte Fotografien aus den Baumwollspinnereien in Lancashire erinnerte. An antiquierten, aus China importierten Webstühlen, an denen Handtücher für den Export produziert werden, arbeiten vorwiegend jüngere Frauen, die bei einer Arbeitszeit von täglich zwölf Stunden etwas mehr als 20 Dollar im Monat verdienen. Wer sein Soll nicht erfüllt, wird entlassen. Das Soll bestimmt der taiwanesische Verwalter, der auch heimlich die Fäden in den Maschinen markiert. Eine Person bedient jeweils vier Maschinen. »In Taiwan«, erzählte mir der Verwalter, »werden sechs, manchmal sogar acht Maschinen von einer Person bedient. Aber die Vietnamesen machen das nicht mit, sie wehren sich.« Die Luft war abgestanden und von Baumwollstaub erfüllt, es 287
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herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, und Lockenwickler schienen die einzige Schutzkleidung zu sein, die man hier kannte. Während meines Besuchs wurde eine der Arbeiterinnen am Auge verletzt. »Für so etwas haben wir eine Krankenstation«, sagte der Verwalter, von dem ich wusste, dass er an einer kalifornischen Universität Betriebswirtschaft studiert hatte. Nach vietnamesischen Gesetzen hätte eine Fabrik dieser Größenordnung einen Betriebsrat haben müssen. »So etwas gibt es hier noch nicht«, erfuhr ich von meinem Gesprächspartner. Mit ihren 100 000 Beschäftigten, von denen viele in Wohnheimen auf dem Gelände leben, ist die Exporthandelszone Saigon Süd, die über eine eigene Börse, eine Polizei und ein Zollamt verfügt, eine Art Stadtstaat. »Wir rechnen damit«, meinte der Verwalter, »dass die vietnamesischen Städte im Laufe der nächsten 100 Jahre alle so aussehen werden wie diese EPZ.« Le Thi Quy leitet das Zentrum für Frauen- und Familienforschung in Saigon. Neuerdings beschäftigt sie sich vorrangig mit den Arbeitsbedingungen in den Exporthandelszonen, denen sie gelegentlich unangekündigte Besuche abstattet. In einem von der Regierung in Auftrag gegebenen Bericht bezeichnete sie es als den Normalfall, dass Frauen an manchen Tagen von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends arbeiten. »Sie dürfen keine Pausen machen«, schrieb sie, »und haben eine Stechkarte, mit der überwacht wird, dass sie nicht mehr als dreimal täglich für jeweils fünf Minuten die Toiletten besuchen. Einem solchen Druck waren die Leute bisher nicht einmal in Kriegszeiten ausgesetzt. Das Ganze hat System.« Le Thi Quy schloss ihren erschütternden Bericht mit einer allgemeinen Feststellung und einem glühenden Appell: »Ich muss darauf hinweisen, dass sich unsere Gesellschaft gegenwärtig besorgniserregend verändert. Die Profitwirtschaft hat ihre Fallen ausgelegt. Während im öffentlichen Dienst massenhaft Stel288
Die letzte Schlacht len gestrichen werden, wird die Familie immer stärker kommerzialisiert. … Prostitution ist legalisiert worden und nimmt stetig zu. … In der Marktwirtschaft geht es um Mechanismen. Mir liegt das Wohl der Menschen am Herzen. Wenn wir Fortschritt nur erzielen können, indem wir sittliche Werte über Bord werfen, die für die Menschheit so lange Gültigkeit hatten und mit denen wir die Hoffnung auf Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung verbinden, dann zerstören wir die Grundlage dessen, was uns zu einer menschlichen Gemeinschaft macht. Wer behauptet, dass der Mensch nur materielle Bedürfnisse habe und der wirtschaftliche Fortschritt darum um jeden Preis notwendig sei, beleidigt die menschliche Natur selbst. Es reicht nicht, am Leben zu sein. Der Mensch muss nach vielem streben, um seinem Leben Sinn zu geben.«27
Würde der Fortschritt nicht am Bruttosozialprodukt gemessen, sondern daran, in welchem Maße eine Gesellschaft die Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder erfüllt, Vietnam wäre ein Musterbeispiel gewesen. Und das ist auch der wahre Grund, warum das Land als Bedrohung empfunden wurde. Nach dem entscheidenden Sieg über die Franzosen bei Dien Bien Phu 1954 versiebenfachte sich im Norden des Landes die Anzahl der Schüler in Grund- und weiterführenden Schulen bis zum Jahr 1972 von 700 000 auf fast fünf Millionen. 1980 lag die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nach Schätzungen der UNESCO bei 90 Prozent, und der Anteil der Kinder, die eine Schule besuchten, war höher als in irgendeinem anderen Land Asiens oder der Dritten Welt.28 Nachdem Bildung und Erziehung nun in Bedarfsgüter umgewandelt wurden, müssen, so heißt es in der Amtsprache des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, »die Konsumenten der Bildungsangebote höhere Beträge entrichten, damit sich die Institutionen schließlich selbst tragen, und die Privatisierung des Bildungs- und Ausbildungssektors muss, wo immer dies sinnvoll erscheint, durch finanzielle Anreize 289
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dies sinnvoll erscheint, durch finanzielle Anreize gefördert werden«.29 Lehrer, sofern sie nicht in »Sozialprojekte« wie die Betreuung von Jugendbanden zwangsversetzt wurden, mussten mit einer Gehaltskürzung auf weniger als zehn Dollar pro Monat vorlieb nehmen. Die meisten Schulen wurden privatisiert, und die Erhebung von Schulgebühren ist jetzt in der Verfassung festgeschrieben. Bis 1992 fielen schätzungsweise 750 000 Kinder aus dem Bildungssystem heraus, obwohl die Anzahl der Kinder im Schul-alter angestiegen war.30 In einem Dorf im Mekongdelta sitzt eine Frau mit ihrer zwölfjährigen Tochter im Schatten. Die beiden flechten Strandmatten aus Stroh für den Export. Ein Zwischenhändler zahlt ihnen dafür insgesamt einen Dollar täglich. Sie arbeiten von fünf Uhr morgens bis fünf Uhr abends. Vor zehn Jahren gab es im Dorf eine Kooperative, die eine Grundschule unterhielt. Jetzt, da die Kooperativen abgeschafft sind, muss das Mädchen diese Fronarbeit leisten, um auch nur das Geld für ein paar Unterrichtsstunden in der nahe gelegenen Schule zu verdienen. Vietnam war früher einmal für sein vorbildliches Gesundheitssystem bekannt. Durch die medizinische Grundversorgung in der Nähe der Wohn- und Arbeitsstätten war die Lebenserwartung der Vietnamesen höher als in jedem anderen Entwicklungsland. Impfprogramme sorgten dafür, dass die Epidemien zurückgingen, und im Gegensatz zu den meisten Ländern der Dritten Welt funktionierte auch der Schutz vor Krankheiten, die sich präventiv behandeln lassen. Die Sterblichkeit der Kinder in der kritischen Phase zwischen Geburt und drittem Lebensjahr lag niedriger als in den meisten anderen südostasiatischen Ländern.31 Dem Diktat der ausländischen »Gebergemeinschaft« folgend, hat die vietnamesische Regierung die direkte Bezuschussung medizinischer Einrichtungen eingestellt. Medikamente gibt es nur noch für diejenigen, die sie sich auf dem »freien Markt« 290
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kaufen können. Tödliche Krankheiten wie Malaria, Denguefieber und Cholera sind wieder auf dem Vormarsch. Die Weltbank kommentiert diese »Kehrseite der Reformen« auf ihre eigene unnachahmliche Weise. »Trotz beeindruckender Erfolge in der Vergangenheit«, heißt es in dem Bericht, der sich mit dem Übergang Vietnams zur Marktwirtschaft befasst, »machen sich im vietnamesischen Gesundheitssektor derzeit gravierende Probleme bemerkbar. … Bei Medikamenten und medizinischem Gerät herrscht ein gravierender Versorgungsmangel. … Die Finanzierungssituation ist so kritisch, dass nicht absehbar ist, woher in Zukunft die Mittel für die Aufrechterhaltung der Grundversorgung kommen sollen.«32 Während der Weihnachtsbombardements auf Hanoi im Jahr 1972 war das Bach-Mai-Krankenhaus im Stadtzentrum zu einer Art Widerstandssymbol geworden. Eine Bombe hatte einen Flügel des Gebäudesamt Krankenstationen und Laboreinrichtungen zerstört; viele Patienten, Arzte und Angehörige des Pflegepersonals waren ums Leben gekommen. Einer, der den Angriff überlebt hatte, war Professor Nguyen Van Xang, ein schmalschultriger Mann, der Ho Chi Minhs Bruder hätte sein können. In seinem Büro fällt als erstes eine vergrößerte Fotografie ins Auge, die denselben Raum als Trümmerlandschaft zeigt. »Als ich das Heulen der Bomben hörte, das immer näher kam«, erzählte er, »schnappte ich mir die nächsten Patienten und brachte sie dort drüben unter der Treppe in Sicherheit. Um uns herum schien alles in sich zusammenzustürzen.« Mitten in unserer Unterhaltung fiel der Strom aus; der altersschwache Generator des Krankenhauses versagte wieder einmal den Dienst, und im gelblichen Dämmerlicht des frühen Abends zeichnete sich der schmächtige Mann vor mir mit seinem dünnen Bart wie eine schemenhafte Gestalt in einem Gruselfilm ab. Die Situation mutete mich wie ein erschütterndes Sinnbild für ein 291
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Land an, das am Ende seiner Kräfte war. Von Professor Xang erfuhr ich, dass ein Patient nach der Privatisierung der Krankenhäuser bei seiner Aufnahme 7000 Dong (sechs Dollar) Kaution hinterlegen und ein Bettentagegeld von vier Dollar aus eigener Tasche zahlen muss. Das ist mehr, als sich die meisten Leute leisten konnten, und so hatte sich der Professor entschlossen, seine sozialistischen Theorien in die Praxis umzusetzen, indem er jeden Sonntag in einer Pagode kostenlos Medikamente an Arme verteilte. »Die Lage ist so ernst«, erklärte er, »dass wir uns keine neuen Filter für unser einziges Dialysegerät leisten können. Ein Filter kostet 22 Dollar. Wir verwenden die Filter also mehrere Male, was man eigentlich nicht tun sollte, weil es gefährlich ist. … Wenn ein Patient mit Nierenversagen nicht in der Lage ist, ein Viertel der Behandlungskosten selbst aufzubringen, müssen wir konventionelle Therapien anwenden, und er stirbt.« In Saigon stattete ich dem Tu-Du-Krankenhaus für Gynäkologie und Geburtshilfe einen Besuch ab. Von den Franzosen in den 50er Jahren erbaut und von den Amerikanern erweitert, zählt es zu den modernsten Einrichtungen des Landes, was unter den gegebenen Umständen von Nachteil ist, weil fast die gesamte medizinisch-technische Ausstattung aus den Vereinigten Staaten stammt und seit 1975 keine Ersatzteile mehr geliefert wurden. Das letzte Beatmungsgerät für Kinder war ein Jahr zuvor kaputt gegangen. In einem früheren Operationssaal, den die Leute hinter vorgehaltener Hand auch als Gruselkabinett bezeichnen, wird heute die »Sammlung« aufbewahrt. Hier reihen sich auf den Regalen große Gläser mit grotesk missgebildeten Föten. In den späten 60er Jahren hatten die Amerikaner über weiten Teilen Südvietnams – des Landes also, als dessen Retter sie gekommen waren – Entlaubungsmittel versprüht. Die Aktion, die unter dem Deck292
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namen »Operation Hades« und später unter der weniger finsteren Bezeichnung »Operation Ranch Hand (Ranchhelfer)« durchgeführt wurde, diente dem Zweck, das dichte Laub zu zerstören, das den Truppen der Nationalen Befreiungsfront Deckung bot. Eines der Entlaubungsmittel war Agent Orange, das mit hochgiftigem Dioxin verunreinigt war. Dioxin kann zum Absterben von Feten, zu Fehlgeburten, Genschädigungen, Geburtsfehlern und Krebserkrankungen fuhren. Ab 1970 war in den Vereinigten Staaten die Verwendung von Dioxin in der Landwirtschaft per Gesetz verboten, aber es wurde weiterhin in Vietnam versprüht, wo sich bestimmte Missbildungen zu häufen begannen: Kinder, die ohne Augen, mit Herzfehler, verkümmertem Gehirn oder rudimentären Gliedmaßen geboren wurden. Ich habe einige dieser Kinder in den Dörfern des Mekongdeltas gesehen; und immer, wenn ich Fragen nach der Ursache stellte, deuteten die Leute zum Himmel. Ein Mann zeichnete das ziemlich gut erkennbare Bild einer bulligen C-130Maschine im Sprüheinsatz in die lockere Erde. In einem Bericht an den US-Senat wies Senator Gaylord Nelson im August desselben Jahres darauf hin, dass sich »die Menge der giftigen Chemikalien, die die USA [in Südvietnam] abgeworfen haben, umgerechnet auf sechs Pfund pro Kopf der Gesamtbevölkerung einschließlich Kinder und Frauen« belief.33 Als Douglas Peterson, der erste US-Botschafter in Vietnam seit Kriegsende, behauptete, man wisse »nichts Genaues über die Auswirkungen von Agent Orange«, widersprach ihm der Leiter der Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen Vu Trong Huong: »Wir haben mehr als 50 000 Kinder, die mit schwersten Missbildungen geboren wurden; die Verbindung liegt auf der Hand.«34 Im Tu-Du-Krankenhaus zeigte mir Pham Viet Thanh Säuglinge, die in Brutkästen lagen. Sie alle wiesen Missbildungen auf, 293
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wie man sie auch bei Contergan-Geschädigten beobachtet hat. »Diese Agent-Orange-Kinder gehören bei uns zum Alltag«, erklärte der Arzt. »Von Zeit zu Zeit häuft sich die Anzahl der Fehlgeburten oder mit schweren Missbildungen geborenen Kinder aber so sehr, dass uns die Situation, wie ich leider einräumen muss, über den Kopf wächst.« In der gynäkologischen Abteilung lagen zu dieser Zeit zwei Frauen mit Chorionkarzinom, einer krebsartigen Wucherung von Zellen des ungeborenen Kindes, die im Westen sehr selten vorkommt. »Wir haben nicht die Ausbildung, um diese Krankheit behandeln zu können«, meinte Pham Viet Than. »Wir haben uns um Stipendien in Japan, Deutschland, den Vereinigten Staaten und Großbritannien bemüht, aber nur ablehnende Bescheide oder gar keine Antwort bekommen.« Es drängt sich die Frage auf, warum die vietnamesische Regierung zulässt, dass die Zukunft ihres Landes wieder einmal fremdbestimmt wird. Ein Grund ist sicherlich, dass die Kommunistische Partei Vietnams schon immer weniger ideologisch motiviert war, als es den Anschein hatte. Ihre Ziele waren ursprünglich in erster Linie nationalistischer Natur; die Kommunisten waren anfangs die Einzigen, die sich gegen die französischen Kolonialherren zur Wehr setzten. Als sie 1954 im Norden die Macht übernahmen, traten viele Menschen aus opportunistischen Gründen in die Partei ein. Eine ähnliche Entwicklung fand nach 1975 in Südvietnam statt, wo sich die Bürger von einer Parteimitgliedschaft ebenfalls mehr Ansehen und Privilegien versprachen. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass die Partei mit ihren streng hierarchischen und wenig demokratischen inneren Strukturen, wie sie eben kennzeichnend sind für kommunistische Parteiorganisationen, zwar bestens gerüstet war, sich in einem langwierigen Krieg zu behaupten, nicht aber, eine Gesellschaft in Friedenszeiten zu führen und vor Schaden zu bewahren. 294
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Dennoch erfreute sich die Partei beim vietnamesischen Volk anfangs einer ausgesprochen großen Zustimmung. Die Massen, die hinter ihr standen, »waren ihre Stärke und zwangen sie nicht selten zu Schritten, die ihre Popularität beim Volk noch steigerten, das seinerseits bereit war, kolossale Opfer zu bringen«, schrieb Gabriel Kolko. »So elitär die Führungsmannschaft auch gewesen sein mag, lag ihr Erfolg als Volkspartei doch in der Tatsache, dass sie den Bedürfnissen der Bauern Rechnung trug.« Und das, so Kolko, ist auch die Wurzel des heutigen Verrats, der »diesen Krieg zu einer monumentalen Tragödie macht, weil die Opfer, die die Bauern, Kriegsveteranen und wahren Idealisten gebracht haben, letzten Endes sinnlos waren«.35 Ich kann die Ernüchterung Kolkos verstehen. Andererseits glaube ich, dass die Entbehrungen, die das vietnamesische Volk in 30 Kriegsjahren und 20 Jahren Isolation gelitten haben, zwangsläufig dazu führen mussten, dass in diesem wirtschaftlich ruinierten Land Idealismus und Grundüberzeugungen in den Hintergrund treten und die Korruption um sich greift. Begünstigt wird dieser Prozess durch einen Verwaltungsapparat, der hauptsächlich die Interessen der Parteikader vertritt. Viele Parteifunktionäre waren mit sozialistischen Theorien wenig vertraut und wollten im Grunde auch nichts davon wissen. Sie waren, wie die Transformationsgewinnler in Boris Jelzins postsowjetischem Russland, die ersten und hemmungslosesten Protagonisten der neuen städtischen Konsumgesellschaft. Aber auch diejenigen, die ihren Prinzipien in Ho Chi Minhs Sinne treu bleiben wollten, standen vor einem Dilemma, weil sie die verzweifelte Notwendigkeit sahen, ihr Land aus der Isolation zu führen, um ein Gegengewicht zur Macht des alten Erzfeindes China zu schaffen, und es aus der Abhängigkeit von der in Auflösung begriffenen Sowjetunion zu befreien. Die gnädigste Erklärung dafür, dass sie dem Laissez-faire-Kapitalismus Tür und Tor 295
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öffneten, wäre die, dass sie sich verführen ließen und dass diese Verführung mit jeder neuen sozialfeindlichen Reform mehr den Charakter einer Vergewaltigung annahm. In gewissem Sinne ist das, was in Vietnam geschieht, das typische Beispiel eines armen Landes, dem es verwehrt wird, für seine wirtschaftliche Entwicklung einen eigenen Weg zu finden, und dessen handlungsunfähiger Regierung mehr am Wohlwollen der ausländischen Geldgeber als am Wohl des eigenen Volkes gelegen ist. Der Kampf gegen diese Entwicklung könnte die letzte und schwerste Schlacht für das vietnamesische Volk sein. Der Kommunistischen Partei drohen die Fäden aus der Hand zu gleiten, sie wird zur Gefangenen des ausländischen Diktats, dem sie sich unterworfen hat; darin liegt die große Gefahr, vor der das Land gegenwärtig steht. Denn es wird unweigerlich dazu führen, dass die Bauern der Partei die Gefolgschaft aufkündigen. Durch die Auflösung dieses in der Welt einmaligen Bündnisses entsteht ein Vakuum, das soziale Unruhen zur Folge haben wird. Die Zeichen mehren sich. Täglich werden Obdachlose und kriegsversehrte Veteranen im Stadtzentrum von Saigon eingesammelt und in Internierungslager abgeschoben, und regierungskritische Buddhisten werden – wie schon in den 60er Jahren, als ihre Glaubensgenossen zum Sturz von US-gestützten Regierungen beigetragen hatten – ihrer religiösen Überzeugung wegen inhaftiert. Die vietnamesische Armee hat das Blut, den Schweiß und die Tränen der Nation vergossen und das System der ländlichen Kooperativen aufgebaut, und weil sie die Erinnerungen und das Vermächtnis der Geschichte bewahren will, hat sie in ihren eigenen Zeitschriften Kritik an ihren politischen Leitfiguren geübt und aus Tran Van Tra, dem unkonventionellen General, der die siegreichen Truppen in Südvietnam anführte und später den Club der Widerstandskämpfer, eine namhafte 296
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Dissidentengruppe, mit begründete, einen subversiven Helden gemacht. Ein anderer nordvietnamesischer Kriegsheld, Oberst Bui Tin, der nach Frankreich ins Exil gegangen ist, erklärte in einem Interview: »Ich wünsche mir einen humanen, modernen und pluralistischen Sozialismus für mein Land.«36 Anders als in China ist Gefolgstreue in Vietnam nicht ohne einen breiten Konsens zu haben. In seiner Biografie Giap schrieb Peter MacDonald: »Während es in den meisten anderen Ländern Tausende von Familiennamen gibt, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und durch Einwanderer noch vermehrt haben, finden sich in ganz Vietnam weniger als 100 Namen, die auf Stammesgruppen wie die Ngo und die Nguyen zurückgehen. Die Menschen sind hier Teil einer großen Familie.«37 HondaMotorräder, Pepsi Cola und Handys können kein Ersatz sein, wenn diese Familienbande zerrissen werden. Das »System landwirtschaftlicher Lohnarbeit«, für das sich die neuen ausländischen Verwalter und Kreditgeber stark machen, vertreibt die Bauern gewaltsam aus ihren Dörfern und überantwortet sie als »flexible« Wanderarbeiter dem »freien« Arbeitsmarkt. Dabei wird völlig übersehen, welche soziale Kraft in der dörflichen Gemeinschaft mit ihren Gemeinderäten, den Einrichtungen der Nachbarschaftshilfe, den Handwerksgenossenschaften und den Nothilfeangeboten liegt. Dieses Modell eines gewachsenen Sozialismus, wie man es nennen könnte, hat seit 2 500 Jahren Bestand. Anstatt es zu zerschlagen, müßten alle Reformen auf diesen Grundlagen aufbauen und mit den Mitteln, die zur Bekämpfung der Armut zur Verfügung stehen, eine moderne, dynamische, landwirtschaftlich orientierte Wirtschaft begründen, die den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit Rechnung trägt. Die entscheidende letzte Schlacht hat begonnen. Die von koreanischen Unternehmen geführten Exporthandelszonen bei Sai297
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gon haben die größte Streikwelle seit dem Krieg erlebt. Es ging dabei um Hungerlöhne, viel zu lange Arbeitszeiten und das brutale Vorgehen der Verwalter. Die Streikenden finden in Saigon breite Unterstützung, auch wenn dies in der Presse nicht erwähnt wird. Es vergeht kaum eine Woche ohne »wilde« Streiks, die zum Teil mit solcher Vehemenz geführt werden, dass es staatliche Stellen vorziehen, sich herauszuhalten: ein eindeutiges Zeichen dafür, wie ernst die Lage eingeschätzt wird. 1997 erschütterte eine Reihe von Streiks die Werke des USamerikanischen Sportschuhherstellers Nike, der in Vietnam 35 000 vorwiegend weibliche Angestellte beschäftigt. Als es vor den Toren der Nike-Subunternehmen zu nicht genehmigten Demonstrationen kam, sah die herbeigerufene Polizei tatenlos zu. Aus einer Studie der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Vietnam Labour Watch geht hervor, daß der Durchschnittslohn für einen Achtstundentag bei 1,60 Dollar liegt, während Nike die in Vietnam produzierten Schuhe in den Vereinigten Staaten für bis zu 149 Dollar das Paar verkauft. Im Bericht des vietnamesischen Koautors der Studie heißt es: »Die Frauen werden von den Vorarbeitern gedemütigt. Man zwingt sie, in der Sonne zu knien oder zu stehen, es geht zu wie in einem militärischen Ausbildungslager. In einer der Fabriken durften die Arbeiterinnen während einer Schicht nur einmal die Toilette besuchen und lediglich zwei Glas Wasser trinken. In einem taiwanesischen Subunternehmen wurden 56 Frauen gezwungen, als Strafe für das Tragen ›vorschriftswidrigen‹ Schuhwerks bei glühender Hitze mehrmals um das Fabrikgebäude zu rennen. Zwölf Frauen mussten anschließend mit einem Hitzeschock in Krankenhäuser eingeliefert werden. Am Tag darauf wurde die Fabrik von den Bewohnern der Gegend angegriffen.«38
Auf dem Land hat die Privatisierung von Grundbesitz zu weitgehender Verbitterung und zu einem Verwaltungschaos geführt. 298
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In der offiziellen Presse war von »schwelenden Krisenherden«, von »angespannter Lage« und »offenen Feindseligkeiten« die Rede.39 In der Provinz Thai Binh südlich von Hanoi wurden Regierungsbüros geplündert, und Beamte mussten um ihr Leben laufen. »Militär und Polizei ist es nicht gelungen, Herr der Lage zu werden«, heißt es in einem Bericht.40 Der größte ausländische Investor in Vietnam, der koreanische Multi Daewoo, plant in der Nähe von Hanoi die Anlage einer 150 Millionen Doller teuren Exporthandelszone mit 18-LochGolfplatz für leitende Angestellte und Kunden. Für den Golfplatz sollen die Reisfelder von Tho Da weichen, die für die Dorfbewohner die einzige Lebensgrundlage sind. Die Regierung hat eine Entschädigung von 190 Dollar pro Familie angeboten. Diese haben das Angebot abgelehnt, Barrikaden errichtet und ein Schild aufgestellt, auf dem über einem Totenkopf mit gekreuzten Knochen die Warnung steht: »Gefährliches Gebiet. Nicht betreten«. Zweimal rückte die Polizei an und wurde beide Male zurückgedrängt; eine Frau kam dabei ums Leben. Der Vorstandsvorsitzende der Firma Daewoo reiste aus Seoul ein, um eilends zu versichern, dass der Golfplatz »nicht nur für Golfspieler« sei. Ein heftiger Streit entspann sich zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Volkskomitee in Hanoi einerseits und der koreanischen Regierung andererseits. Derweil blieben die Barrikaden, wo sie waren – Symbol eines neuen Widerstands, der sich seine eigenen Leitfiguren sucht und mit jeder Konfrontation an Selbstbewusstsein gewinnt. Nicht nur hat die Regierung eingeräumt, dass die »Gefahr und die Unruhe in der Bevölkerung immer vielschichtiger und ernster« werden, sondern mit Nguyen Van Linh hat auch einer der Väter der Reformen gemahnt, »das Problem der Klassenunterschiede« müsse »umgehend gelöst« werden.41 In Saigon bewohnte ich dasselbe Zimmer im Hotel Caravelle, 299
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das schon 30 Jahre zuvor meine vorübergehende Bleibe gewesen war. Vom selben Balkon aus, von dem man den Lam-Som-Platz und das angrenzende französische Theater überblickt, hatte ich die Menschenmassen gesehen, die mit unglaublichem Mut gegen die wechselnden, vom Ausland unterstützten Regierungen demonstrierten. Und hier hatte ich mich gestanden, als an jenem letzten Apriltag im Jahr 1975, dem letzten Tag des längsten Krieges im 20. Jahrhundert, der von Leuchtspurmunition erhellte Morgen heraufdämmerte. Der damalige Kassierer des Hotels, ein eingefleischter Pessimist, hatte angekündigt, sich noch am gleichen Abend zu erschießen, sich dann aber eines Besseren besonnen. Heute lebt er von seiner Rente. Der Türsteher, ein wortkarger Mann aus Bombay, tat noch bis vor kurzem seinen Dienst. »Ich habe Sieger herein- und Besiegte hinausgelassen«, pflegte er zu sagen. »Zum Glück sind sie immer so in Eile, daß sie mich gar nicht bemerken. Das ist das Gute an meinem Job.« Bei meinem jetzigen Besuch begegnete ich Nguyen Thi Oanh in der Eingangshalle. Sie hat in den 50er Jahren in den Vereinigten Staaten Soziologie studiert. »Ich war nie Kommunistin«, sagte die freundliche, immer zum Spott aufgelegte Frau, »aber ich habe mit ihnen sympathisiert, weil sie für das Land gekämpft haben, das ich liebe, und sie hatten viel Mut. Das Problem mit der heutigen Entwicklung liegt darin, dass sie mit unseren Traditionen bricht, auf die wir stolz sind und für die wir bereit sind, viele Entbehrungen auf uns zu nehmen. Es besteht die große Gefahr, dass wir unsere Seele verkaufen und es erst merken, wenn es zu spät ist.« Als ich ihr von dem Versuch des Kultusministeriums erzählte, den Dokumentarfilm zu zensieren, den ich mit Kollegen über My Lai gedreht hatte, weil man meinte, er könne die Amerikaner beleidigen und daher schlecht fürs Geschäft sein, schüttelte sie 300
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den Kopf und sagte: »Sie wissen, dass die Amerikaner nicht vergessen können.« »Warum«, fragte ich, »können die Vietnamesen vergessen?« »Weil wir nicht verloren haben. Wir haben gewonnen. Wir haben aus materieller Sicht verloren, aber moralisch sind wir die Sieger. Im Moment verlieren wir einige Schlachten, aber am Ende werden wir wieder gewinnen.« Abgesehen vom Stolz seiner Bewohner sind es zwei Dinge, die mich an Vietnam faszinieren. Das ist zum einen die Tatsache, dass die Leitsätze Ho Chi Minhs, die ein Volk zum massiven Widerstand inspiriert haben, von diesem noch immer als weise gerühmt und befolgt werden. Als in den 60er Jahren die ersten Bombenangriffe stattfanden, unternahm Ho eine Reise über die Nationalstraße Eins, damals bei den amerikanischen Piloten, die sie in Überraschungsangriffen bombardierten, und den Vietnamesen, die sie für ihre Konvois benutzten, als »Straße ohne Freude« bekannt. Unterwegs hielt er Ansprachen, in denen er den Menschen Mut machte und erklärte: »Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir unser Land noch tausendmal schöner machen.« Ich habe mich mit einem Mann unterhalten, der diesen Geist verkörpert. Professor Vo Quy, ein ruheloser 70-Jähriger, vor dessen Büro in der Universität von Hanoi ein altes Elefantenskelett Wache hält. Er hat eine der dramatischsten Umweltaktionen in der Geschichte organisiert. Der Krieg war noch nicht zu Ende, als er 1974 in den Süden des Landes reiste und die Natur so nachhaltig geschädigt fand, dass er bei seiner Rückkehr verkündete, Vietnam werde in 20 Jahren wie eine Mondlandschaft aussehen, wenn nichts dagegen unternommen werde. »Das Ökosystem war nahezu zerstört«, erzählte er mir. »Die Mangroven waren durch Bomben und Herbizide größtenteils vernichtet, die Fauna ausgelöscht. Die Tiger, die dem Lärm des Gewehrfeuers gefolgt waren, waren ausgerottet. Es gab keine Wasservögel mehr.« 301
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Die Wiederaufforstung war ein gigantisches Unternehmen. In Gebieten, in denen der Boden mit Agent Orange getränkt war, stand kein einziger Baum mehr. Die Erde schien wie erstarrt und ohne Leben. Quy rief eine Aktion ins Leben, in die buchstäblich jedermann einbezogen war. Im Laufe der folgenden fünf Jahre wurden Millionen Hektar verseuchten Bodens wieder aufgeforstet. Jedes Dorf pflanzte einen Wald, jedes Kind einen Baum. Heute hört man in vielen Gegenden zum ersten Mal seit zwei Generationen wieder Vogelgezwitscher und Tiere, die im Unterholz rascheln. »Wir dachten, der Storch, der Ibis und bestimmte Kranicharten seien ausgestorben«, erklärte Professor Quy. »Aber als sich mit jedem neuen Baum wieder tropische Lebensformen regten und die Mangroven wieder wuchsen, konnten wir erstaunliche Dinge beobachten. Wir entdeckten Großvögel, die wir für immer verloren geglaubt hatten: 25 Kraniche und ein Exemplar des seltenen Milchstorchs. Ich sah auf der laotischen Seite der Grenze mit eigenen Augen einen Ibis. Was für ein Anblick! Ich habe dafür gesorgt, dass die Region umgehend als Naturschutzgebiet gekennzeichnet wurde!« Eine Fasanenart, die wieder auftauchte, wurde nach ihm »Vo Quy« benannt. Die andere unvergleichliche Besonderheit Vietnams ist die Bereitschaft seiner Menschen zur Versöhnung. Im Rahmen eines von der Europäischen Union finanzierten Programms wurden vietnamesische Bootsflüchtlinge, die in Lagern in ganz Asien verstreut lebten, gefragt, ob sie in ihre Heimat zurückkehren wollten. Zehntausende wollten wieder nach Hause, aber viele hatten Angst. Auf Band aufgenommene Gespräche mit Verwandten und Freunden in der Heimat machten ihnen dann aber doch Mut. Seither sind so viele Menschen zurückgekehrt, dass es einer kleinen Nation gleichkommt. Bei ihrer Ankunft erhalten sie einen Kredit, der einen Neuanfang möglich macht; zudem wird ihre Heimatgemeinde finanziell unterstützt, damit nicht der Ein302
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druck einer Günstlingswirtschaft entsteht. Ich lernte Mac Thi Nhan kennen, einen Fischer, der mit seiner Familie nach Hongkong geflüchtet war und der jetzt wieder in seinem Dorf in der Ha-Long-Bucht wohnt und ein neues Boot besitzt. »Zuerst hatte ich Angst, aber alle waren uns gegenüber sehr rücksichtsvoll«, erzählte er. Seine Frau nickte zustimmend. Michael Culligan, der das EU-Programm in Haiphong leitet, erklärte: »Ich bin im ganzen Land herumgereist und habe mit Tausenden von Rückkehrern gesprochen, aber mir ist kein einziger Fall von Diskriminierung zu Ohren gekommen. Die Vietnamesen sind ein sehr freundliches Volk. Sie sind den Bootsflüchtlingen mit großem Mitgefühl begegnet und haben alles Menschenmögliche getan, um zu verhindern, dass sie ihr Gesicht verlieren. Das verstehe ich unter einer zivilisierten Gesellschaft.«
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A
ls die Maschine aus Hanoi in Danang zur Landung ansetzte, wurde Bobby sehr still. Das letzte Mal hatte er diesen Flughafen mit seinen Truppenunterkünften, den bombensicheren Hangars, den Wachtürmen und Flaggen 1968 gesehen. »Andere Flaggen«, sagte er mit leiser Stimme. Es war sein erster und einziger Einsatz in Vietnam gewesen. Leutnant Robert O. Muller, damals 21 Jahre alt, gehörte zu den Eiltesoldaten unter den Marines. »1967 war ich der Beste meines Jahrgangs; ich hätte jeden Job haben können«, erzählte er, »und ich habe mich für die Infanterie entschieden. Die Leute haben vergessen, was für eine Stimmung damals herrschte. Die meisten Amerikaner gingen noch nicht auf die Straße, um zu demonstrieren. Amerika schrie Hurra, und es wurde von dir erwartet, dass du zum Militär gehst.« »Wie war das«, fragte ich ihn, »zu einem echten Soldaten ausgebildet zu werden, nicht zu einem dieser Hollywood-Marines«? »Ist das ein Unterschied?«, fragte er zurück. »Erinnerst du dich an den Anfang des Films Full Metal Jacket? Genau so war es. Sie zeigen dir sogar die blutigen Szenen des Krieges! Und jetzt kommt der Witz an der Sache. Ich habe Betriebswirtschaft studiert, und alle meine Professoren haben mir geraten, nach Vietnam zu gehen, weil das an der Wall Street gut ankommen 305
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würde. Ein Jahr Kriegsdienst würde sich im Lebenslauf eines Börsenmaklers sehr gut machen.« »Hast du wirklich geglaubt, als du damals hier gelandet bist, dass du auf der Seite der Guten gegen den Kommunismus kämpfst?« »Absolut. Aber an dem Tag, an dem ich ankam, rannten überall auf dem Flughafen Leute in schwarzen Pyjamas herum, und ich dachte: ›Moment mal, die in den schwarzen Pyjamas sind doch Vietcong-Soldaten, der Feind. Was zum Teufel machen die hier auf dem Flughafen?‹ Ernsthaft. Man muss einfach wissen, dass Vietnam eine Lüge war. Vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges war es eine Lüge, und so, wie es heute in den Geschichtsbüchern steht, ist es immer noch eine Lüge. Drei Millionen amerikanische Soldaten sind hier auf ihre ganz persönliche Weise mit der Lüge konfrontiert worden. Das war die Tragödie.« Insgesamt wurden 58 022 US-Amerikaner in Vietnam getötet, die meisten von ihnen Freiwillige. Bobby Muller zufolge haben sich bis heute noch einmal ebenso viele Vietnamteilnehmer nach dem Krieg das Leben genommen. Am 29. April 1969 wurde Leutnant Muller in die entmilitarisierte Zone (EMZ) geschickt. Dieses Gebiet, das sich entlang des 17. Breitengrades erstreckte und das Land willkürlich in Nordund Südvietnam aufteilte, war alles andere als entmilitarisiert. Fünf Jahre lang kämpften und starben hier Tausende von Soldaten im Staub und Schlamm ihrer »Feuerstützpunkte«, die heute aussehen wie erloschene Miniaturvulkane. Bobby stürmte seinem Trupp bei einem Angriff auf eine wolkenverhangene Hügelkuppe voran, als ihn eine Kugel in die Brust traf. »Ich kann mich an jede Sekunde erinnern«, erzählte er, »ich fühlte, wie das Leben aus mir entwich, wie die Luft aus einem Ballon. Ich dachte: ›O Scheiße, jetzt werde ich hier in diesem Dreck und Regen sterben.‹« Er wurde nur gerettet, weil zufällig 306
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ein Hospitalschiff vor Danang lag. Die Kugel hatte seine Wirbelsäule durchschlagen, und er ist seither an den Beinen gelähmt. Ich bin seit 18 Jahren mit Bobby Muller befreundet. Als wir uns persönlich kennen lernten, erinnerte ich mich, ihn schon 1972 auf einem Parteitag der Republikaner in Miami Beach gesehen zu haben. Damals waren er und ein anderer Kriegsveteran, der ebenfalls im Rollstuhl saß, aus dem Saal geworfen worden, weil sie Richard Nixon während seiner Rede als Präsidentschaftskandidat seiner Partei ausgebuht hatten. Der zweite Mann war Ron Kovic, dessen Autobiografie Geboren am 4. Juli von Oliver Stone verfilmt wurde. Fünf Jahre später sah ich Bobby wieder, diesmal auf den Stufen des Rathauses von New York. Es war der Memorial Day, an dem die Amerikaner ihrer »Kriege im Ausland« gedenken. Wohin man blickte, sah man Medaillen, Flaggen und Honoratioren. Dann griff der ehemalige Leutnant Muller in seinem Rollstuhl zum Mikrofon, und als er zu reden anfing, verfielen selbst die Arbeiter einer Baustelle auf der anderen Seite des Platzes in gespanntes Schweigen. »Allein in New York City gibt es 280 000 Vietnamveteranen«, begann er, »ein Drittel von ihnen finden keine Arbeit. 60 Prozent der schwarzen Veteranen in Amerika sind arbeitslos. Viele Veteranen sterben in diesem Augenblick an den Chemikalien, die wir über Vietnam abgeworfen haben …« In diesem Ton fuhr er unter dem zunehmenden Unbehagen seiner Zuhörer fort; und er beendete seine Rede mit der Erinnerung daran, dass nur die Veteranen wussten, was in diesem Krieg wirklich passiert war, dass nur sie begriffen hatten, wie verbrecherisch er gewesen war. Später suchte ich ihn in dem schäbigen Gebäude am heruntergekommenen Ende der Fifth Avenue auf, in dem der von ihm und ein paar gleichermaßen leidgeprüften Freunden gegründete Verein Vietnam Veterans of America sein spärlich möbliertes 307
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Büro hatte. Bobby ist ein schmaler, manchmal aschfahler Mann, dessen äußere Erscheinung in krassem Gegensatz zu seinen lautstarken, wortgewaltigen und auch beißend ironischen Ausbrüchen steht, die immer wieder von dröhnendem Gelächter unterbrochen werden. »Lies das mal!« Mit diesen Worten hielt er mir eine Zeitschrift unter die Nase, in der über die Ergebnisse einer Meinungsumfrage berichtet wurde. »Zwei Drittel der US-Bürger sind der Meinung, dass die Vietnamveteranen Jammerlappen seien«, hieß es in dem Artikel. Und nun, 18 Jahre später, fuhren wir von Danang aus zum Südchinesischen Meer. Undeutlich konnte man durch den Hitzeschleier kleine symmetrische Hügel in der Landschaft erkennen. Das waren die Überreste der »Feuerstützpunkte«, die nach demselben Prinzip gebaut worden waren wie die kreisförmigen Wagenburgen der Siedlertrecks im Wilden Westen. VietcongSoldaten war im US-Truppenjargon »Indianer«. Vietnamesische Zivilisten wurden als »Schlitzaugen«, »Kümmerlinge« oder »Plattfüße« bezeichnet. Wir fuhren an einem Feld mit Kriegsgräbern vorbei – keine amerikanischen Gräber, die gibt es nicht in Vietnam, nicht einmal namenlose Grabstätten. Nach dem Ende des Krieges unternahm die Regierung in Hanoi eine kosmetische Operation, die in ihrer Zielsetzung und Größenordnung wohl einmalig ist. Über den Süden des Landes verteilt findet man heute Hunderte von solchen Soldatenfriedhöfe, die es 1975 noch nicht gab. Die Grabsteine wurden im Norden hergestellt und zu den ehemaligen Schlachtfeldern im Süden transportiert, auf denen die vietnamesische Volksarmee gekämpft und schwere Verluste erlitten hatte. Auf jedem Grabstein steht der Name eines Soldaten, so dass der Eindruck entsteht, dieser sei hier begraben, obwohl das Grab selbst leer ist: ein Symbol der Trauer und der trotzigen Herausforderung. Einer der Friedhöfe, an denen wir 308
China Beach
vorbeikamen, war auf einem eingeebneten ehemaligen Stützpunkt der Amerikaner angelegt worden, der jetzt so aussah wie ein Volleyballplatz. Ich schob Bobby in seinem Rollstuhl hinunter zum Meer und über die Strandpromenade von China Beach, wo Gras aus den Rissen im Asphalt wuchs. Banyanbäume, die ihre Zweige schräg in den Himmel reckten, spendeten Schatten, und Palmen raschelten in der leichten Brise, die vom Meer her wehte. In der Ferne konnte man, eingerahmt zwischen Bäumen und Horizont, eine kleine Gestalt erkennen. Die einzigen Menschen am Strand waren Fischer und ein paar französische Touristen. »Hier hat alles angefangen«, bemerkte Bobby leise, »an diesem wunderschönen Ort.« Hier waren am 6. März 1965 die ersten US-Soldaten gelandet. Eine Delegation der Handelskammer von Danang und natürlich die Medien hatten zu ihrem Empfang bereitgestanden. Wenige Wochen zuvor hatte die US-Regierung dem Kongress »schlüssige Beweise« für die Kriegsvorbereitungen in Hanoi präsentiert – eine mit Waffen beladene nordvietnamesische Dschunke, die man vor der Küste von China Beach im Meer treibend entdeckt hatte. Als ich mich 1983 mit Ralph McGehee, einem ehemaligen CIA-Spezialisten für »schwarze Propaganda«, unterhielt, erzählte er mir, dass die ganze Geschichte ein »gigantisches Täuschungsmanöver« gewesen war. »Die CIA«, erklärte er, »hat die Dschunke mit nordvietnamesischen Waffen beladen, sie aufs Meer hinaustreiben lassen und ihre ›Entdeckung‹ dann der internationalen Presse verkauft. Wir hatten die Schlagzeilen, die wir wollten, und dann kamen die Marines.«42 Die Lügen, die zur Rechtfertigung des amerikanischen Kriegs dienten, haben bei der US-Bevölkerung einen kollektiven Gedächtnisschwund ausgelöst und ihr Geschichtsbild verzerrt. Noch Anfang der 80er Jahre wurde Bobby, wenn er einen Vor309
Rückkehr nach Vietnam
trag vor Studenten hielt, unweigerlich gefragt: »Auf welcher Seite hast du eigentlich gekämpft?« Selbst in den unvoreingenommensten Geschichtsseminaren, in denen die Vermittlung der historischen Wahrheit groß geschrieben wird, steht Amerika als Opfer da, als Gegenstand eines offenbar grenzenlosen Sinnierens über einen »gescheiterten Kreuzzug«. Die Erkenntnis dagegen, dass die patriotischen Kräfte Vietnams einen heroischen und ehrenvollen Sieg errungen haben, wurde und wird unter den Tisch gekehrt. Im Gegensatz zu manchen anderen Kriegsveteranen, die einfach nur eine Parade und öffentliche Anerkennung haben wollten, haben sich Bobby und seine Mitstreiter von den Vietnam Veterans of America vorgenommen, den Leuten die Augen zu öffnen über die Wahrheit des Kriegs und zu zeigen, dass er weniger eine amerikanische als vielmehr eine vietnamesische Tragödie war. Das Material, das sie zusammengetragen haben, dient heute an Schulen und Universitäten als Unterrichtsstoff. Bobby erklärte: »Vor uns liegt noch ein gutes Stück Arbeit. In den 80er Jahren hatten wir Präsident Reagan, der den Krieg als gerechte Sache hinstellte, der sich alle Mühe gab, im Bewusstsein der Bürger wieder ein Gefühl zu wecken, dass der US-Einsatz in Vietnam richtig war, und der die Vietnamveteranen wieder zu Helden im Kampf gegen den Kommunismus machte. Es war ein absurdes Trugbild, aber es beeinflusste entschieden die nationale Selbstwahrnehmung, und Hollywood zog selbstverständlich mit und räumte auf der Leinwand auf. Es entstanden die Kriegsfilme, die jeglichen Wahrheitsgehalts entbehrten, in denen alle Vietnamesen böse und grausam waren und unsere Jungs in Bambuskäfigen gefangen hielten. Das waren die emotionalen Register, die mit großem Erfolg gezogen wurden. Wenn heute von Vietnam die Rede ist, assoziieren die Leute sofort einen Mythos: Vietnam ist ein emotionales Bild, kein Land, in dem 72 Millionen Menschen leben.« 310
China Beach
Die Vietnam Veterans of America finanzieren bemerkenswerte Projekte in Indochina. In Vietnam beispielsweise betreibt die Organisation mit großem Erfolg eine Klinik, die dem Kinderkrankenhaus in Hanoi angegliedert ist. In Kambodscha haben sie ein Prothetikzentrum eingerichtet, das in einer mit Landminen gespickten Region den »Jaipur-Fuß« eingeführt hat, eine einfache Beinprothese aus Aluminium mit Latexfuß, die auf alle Hightech-Komponenten verzichtet. Jeden Monat werden 150 dieser Prothesen angepasst. Die meisten Veteranen, die hier arbeiten, haben wie Bobby physisch unter den Folgen des Indochinakriegs zu leiden, manche sind selbst zu Minenopfern geworden. Die Kriegskorrespondentin Martha Gellhorn beschreibt sie als »Menschen mit wachem Gewissen, US-Bürger, wie sie sein sollten…. Man kann sich auf sie verlassen, sie sind immer da.«43 Manchmal ist die Arbeit der Vietnam Veterans of America von ganz eigenen Anfechtungen bedroht. »Ich sprach einmal mit dem Leiter eines staatlichen Betriebs über die Möglichkeit, medizinische Geräte für unsere Klinik bekommen«, erzählte Bobby. »Als ich aber gleich zu Beginn unseres Gesprächs sagte, dass wir als gemeinnützige Hilfsorganisation nicht auf Profit aus sind, unterbrach mich der Mann: Entschuldigen Sie, wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht hier sind, um Geld zu verdienen?‹ Ich bejahte seine Frage, worauf er mir die Tür mit einer Bemerkung wies, die sinngemäß auf ›kein Gewinn, kein Geschäft‹ hinauslief. Als ich Freunden in Washington erzählte, dass man mich im vietnamesischen Hanoi hinausgeworfen hatte, weil ich kein Kapitalist war, wollten sie mir nicht glauben.« In der Abenddämmerung fuhr ich mit Bobby zurück nach Danang. Die Wolken, die einen frühen Monsun ankündigten, hatten sich wie Perücken auf die Bergkuppen gelegt. »Es ist lange her, dass ich das gesehen habe«, meinte Bobby. »Woran erinnert es dich?« 311
Rückkehr nach Vietnam
»Es erinnert mich an den Tag, an dem mich die Kugel traf, daran, wie kalt und einsam es da oben ist und wie kalt und aufgeweicht der Boden ist, wenn man fällt und dort in seiner Scheiße und seinem Blut liegt.«
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DIE TERRORISTEN
Willkommene Feinde
Ich setze sehr viel Geld ein. Und ich setze auch Schusswaffen ein. Die Idioten, die mir unbedingt in die Quere kommen müssen, wissen, mit wem sie sich da einlassen. Im Rathaus weiß man, wovon ich rede. Das will ich jedenfalls hoffen. Al Capone, amerikanischer Mafiaboss Ein Wort genügt, und ich mache einen Parkplatz aus dieser kleinen Scheißinsel. Al Haig, amerikanischer Außenminister
D
iego Garcia ist eine britische Kolonie im Indischen Ozean, etwa 900 Kilometer südlich der Malediven, von der aus USamerikanische Bomber zu Aufklärungsflügen über die Golfregion und Zentralasien starten. Für US-Militärplaner gibt es kaum ein wichtigeres Fleckchen Erde als diese Auftankbasis zwischen zwei Kontinenten. Wer lebt dort? 1996, als Präsident Clinton die Angriffe auf den Irak befahl, bezeichnete ein BBC-Kommentator die Insel als »unbewohnt« und erwähnte ihre Vergangenheit mit keinem Wort. Das war nur zu verständlich, denn die wahre Geschichte von Diego Garcia könnte uns einiges lehren über vergangene Tage und über die Zeiten, in denen wir heute leben. Diego Garcia gehört zum Chagosarchipel, das die Briten 1965 zusammen mit Mauritius eigentlich in die Unabhängigkeit hätten entlassen wollen. Auf Drängen der Vereinigten Staaten hin erklärte die Regierung Harold Wilson den Mauritiern jedoch, 315
Die Terroristen
dass sie ihre Freiheit nur erhalten würden, wenn sie auf die Insel verzichteten. Unter Missachtung einer an ihre Adresse gerichteten Resolution der Vereinten Nationen, »nichts zu unternehmen, wodurch das Staatsgebiet von Mauritius zersplittert und seine territoriale Integrität verletzt« würde, tat die britische Regierung genau das und gründete mit dem British Indian Ocean Territory eine neue Kolonie. Welche geheimen Pläne dahinter steckten, wurde nur allzu bald deutlich.1 Das britische Außenministerium verpachtete die Insel unter strengster Geheimhaltung für 50 Jahre an Washington, mit der Option, die Pacht um weitere 25 Jahre zu verlängern.2 Die Briten leugnen dies inzwischen gern ab und sprechen lieber von einer »gemeinsamen Verteidigungsmaßnahme«.3 Das ist Wortklauberei; heute dient Diego Garcia den Amerikanern als Auftankstation und Endlager für Atomwaffen. 1991 nutzte Präsident Bush die Insel als Basis für das Flächenbombardement des Irak. Im gleichen Jahr teilte das britische Außenministerium einer empörten mauritischen Regierung mit, die Frage der Inselsouveränität stehe »nicht mehr zur Debatte«.4 Bis 1965 waren die Ilois auf Diego Garcia beheimatet. Mit der Militarisierung der Insel erhielten sie einen Status, der dem der australischen Aborigines im 19. Jahrhundert glich: Man leugnete ihre Existenz. Zwischen 1965 und 1973 wurden sie aus ihren Häusern »herausgeholt«, auf Schiffe und in Flugzeuge verfrachtet und auf Mauritius abgesetzt. 1972 erklärte das USVerteidigungsministerium vor dem Kongress, die Insel sei »praktisch unbewohnt, sodass die Errichtung einer Militärbasis keine bevölkerungspolitischen Probleme mit sich bringen« werde. Auf die Frage nach dem Verbleib der einheimischen Bevölkerung log ein Vertreter des britischen Verteidigungsministeriums: »In unseren Akten findet sich kein Hinweis auf eine einheimische Bevölkerung oder deren Vertreibung.«5 316
Willkommene Feinde
Aus einer Studie der Menschenrechtsorganisation Minority Rights Group, die bei ihrer Veröffentlichung 1985 kaum Beachtung fand, geht hervor, dass Großbritannien die Einheimischen »ohne durchführbaren Wiederansiedelungsplan vertrieb, sie der Armut überließ, ihnen nur minimale Entschädigungen zahlte und erst später mehr Geld bot, sofern sie auf das Recht verzichteten, je wieder in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen«. Die Ilois durften an persönlichem Besitz nur mitnehmen, was in eine kleine Kiste passte. Die meisten landeten in den Elendsvierteln der mauritischen Hauptstadt, wo sie ein trostloses, entwurzeltes Leben führten; wie viele seither an Hunger und Krankheiten gestorben sind, ist nicht bekannt.6 Dieser Gewaltakt verstieß gegen Artikel 9 und 13 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, in denen es heißt, daß »niemand willkürlich des Landes verwiesen werden« darf und daß »jeder Mensch das Recht hat, in sein Land zurückzukehren«.7 Der Labour-Außenminister Michael Stewart warnte seinen US-amerikanischen Amtskollegen Dean Rusk: »Die Frage der Abtrennung kleinerer Gebiete von Kolonien, die der Selbstverwaltung entgegenstreben, muss mit äußerster Diskretion behandelt werden.« Später erklärte er einem Kabinettskollegen gegenüber stolz: »Ich glaube, wir haben viel zu gewinnen, wenn wir das Projekt gemeinsam mit den Amerikanern vorantreiben.«8 Niemand regte sich auf. Die Inselbewohner hatten kein Mitspracherecht in London. »Die Behandlung der Ilois durch die Briten«, schreibt John Madeley, der Autor des Berichts der Minority Rights Group, »steht in einem krassen, viel sagenden Gegensatz zu der Art und Weise, in der 1982 mit den Bewohnern der Falklandinseln umgegangen wurde. Der erbitterte Kampf britischer Truppen gegen die Invasion der 14 000 Kilometer entfernten Falklandinseln kostete mehr als eine Milliarde Pfund und forderte zahlreiche Opfer unter Briten wie Argentiniern. Die In317
Die Terroristen
sel Diego Garcia wurde ohne ihre Bewohner übergeben, die niemand nach ihrer Meinung gefragt, geschweige denn verteidigt hatte, bevor man sie vertrieb.«9 Während die Medien das Unrecht der Briten an den Bewohnern von Diego Garcia totschwiegen, wurden sie nicht müde, die Besetzung der Falklandinseln durch die Argentinier lautstark zu verurteilen. Beide Inseln waren britische Kronkolonien, nur war die eine von einem dunkelhäutigen indigenen Volk, die andere von weißen Siedlern bewohnt. In der Financial Times wurde die argentinische Besetzung der Falklandinseln als »unrechtmäßiger und unmoralischer Akt zur Durchsetzung territorialer Ansprüche« bezeichnet, als ein »Verbrechen an den Bewohnern der Falklandinseln«, deren Wünsche nicht übergangen werden dürften.10 Im Daily Telegraph hieß es, ganz im Sinne von Premierministerin Thatcher, »die Wünsche der Bevölkerung« der Falklandinseln seien vorrangig, man dürfe »die Inselbewohner nicht im Stich lassen«, und es sei eine Frage des Prinzips, dass die britische und die amerikanische Regierung keinesfalls »die Fremdherrschaft über ein Volk, das diese nicht wünscht, gleichgültig mit ansehen können«.11 Diego Garcia ist ein Mikrokosmos des Imperialismus und des Kalten Krieges, früher wie heute. Am leidvollen Schicksal der Ilois, deren Geschichte von Journalisten und namhaften Historikern bedenkenlos dem Vergessen anheim gegeben wurde, zeigt sich beispielhaft, daß sich der imperialistische Kreuzzug des Westens in den 500 Jahren seiner Geschichte nicht gewandelt hat. Meines Wissens hat, mit der löblichen Ausnahme von Mark Curtis, niemand die erschütternde Wahrheit dokumentiert.12 Das ist kaum verwunderlich, da die etablierte Wissenschaft des Westens den Humanismus aus dem Studium der Staatenwelt herausgenommen, ihn in Fachjargon eingefroren und auf ein esoterisches Etwas namens »internationale Beziehungen« reduziert hat – nur 318
Willkommene Feinde
ein anderer Begriff für das Schachspiel der westlichen Macht. Diese Orthodoxie, bemerkt Richard Falk, Professor für internationales Recht an der Universität Princeton und entschiedener Nonkonformist, »die in Politologenkreisen so anerkannt ist, dass sie in wissenschaftlichen Zeitschriften kaum angegriffen werden kann, geht davon aus, dass Recht und Moral in der Definition einer rationalen Politik keine Rolle spielen«. So vollzieht sich die Gestaltung der westlichen Außenpolitik weitestgehend durch den »selbstgerechten Filter einer einseitig moralisch-rechtlichen Sicht der positiven westlichen Werte und ihrer bedrohten Unschuld, die einen Feldzug uneingeschränkter politischer Gewalt rechtfertigt«.13 In der Geschichtsschreibung der Gegenwart gilt die gleiche Sichtweise. Im seriösen Journalismus ist der »selbstgerechte Filter einer einseitigen Moral« schon so lange Tradition, daß die wichtigsten Terroristen nur selten wahrgenommen werden. Manchmal fällt es selbst dem orthodoxen Lager schwer, die Einheit von Ehrbarkeit und Gewalt zu feiern. »Wir müssen uns darüber im Klaren sein«, schreibt Michael Stohl in Current Perspectives on International Terrorism, »dass üblicherweise – und eben nur im Sinne einer Übereinkunft – großer Machtanspruch mitsamt der Androhung von Gewaltanwendung als diplomatischer Zwang und nicht als eine Form des Terrorismus definiert wird, obwohl damit die Androhung und nicht selten auch der Einsatz von Gewalt aus Motiven verbunden ist, die man als terroristisch bezeichnen müsste, wären es nicht große Mächte, die sich eben dieser Methoden bedienen.« (Mit »großer Macht« meinte er ausschließlich westliche Macht.)14 »Von Machiavelli bis hin zu Niebuhr, Morgenthau und Kissinger«, schreibt Falk, »hat sich im öffentlichen Bewusstsein ein Ethos der Gewalt eingenistet, die, wenn überhaupt, lediglich durch Effektivitätserwägungen eingedämmt wird. Eine Waffe oder eine Taktik ist dann ak319
Die Terroristen
zeptabel und wird normalerweise nicht hinterfragt, wenn sie den gewünschten Erfolg zeitigt und den Staat der Verwirklichung seiner Ziele näher bringt. … Die Frage nach Unschuld, menschlichem Leid und den Grenzen, die der Verfolgung staatlicher Politik gesetzt sind, wird verächtlich als irrelevant abgetan.«15 Mit anderen Worten: Die Kissingers haben Oberwasser. Die »Kunst der Staatsführung«, die Henry Kissinger in den 70er Jahren personifizierte, wird in Kreisen »postmoderner Fachleute« hoch geschätzt. Präsidenten und Regierungen holen seinen Rat ein. Als Douglas Hurd britischer Außenminister war, sorgte er dafür, dass Kissinger zum Ehrenritter geschlagen wurde. Die BBC zahlt ihm 3000 Dollar für eine knappe Minute seiner Weisheit. Dass er heimlich und widerrechtlich ein neutrales Land, Kambodscha, bombardieren ließ und damit zigtausend Menschen den Tod brachte, ist unwesentlich. Dass er den Sturz der gewählten Regierung in Chile betrieb, spielt keine Rolle. Dass er den Kongress hintergangen und den indonesischen Diktatoren die Waffen für den Völkermord in Osttimor geliefert hat, bleibt ohne Folgen. Dass er die Kurden ermutigte, für einen eigenen Staat zu kämpfen, und sie dann im Stich ließ, ist nebensächlich.16 Selbsttäuschung ist alles. Abgesehen von einigen eingestandenen »Fehlern« ist der westliche Kolonialismus ein Segen, der Kalte Krieg war rational. Andere Länder werden vor Aufständischen »geschützt«, die der ehemalige US-Außenminister George Shultz einmal als »die verwerflichen Feinde der Zivilisation selbst«17 bezeichnet hat. Der Westen dagegen ist nie terroristisch. Dass er Angriffskriege geführt, Land und Bodenschätze gestohlen, Kulturen zerstört, dass er alteingesessene Völker gequält und versklavt hat, hat nichts mit Terrorismus zu tun: Es war Gottes Werk. Das ängstliche Misstrauen, mit dem Zivilisationen in aller Welt dem Kolonialismus begegnen, lässt sich leicht erklären. Dem Außenministerium zufolge ist es »oftmals absolut 320
Willkommene Feinde
krankhaft«, weil die kolonialisierten Völker »praktisch kein gesellschaftliches Bewusstsein haben«.18 Für unser Verständnis des gegenwärtigen Weltgeschehens ist es entscheidend, wie wir die imperialistischen Machenschaften der jüngeren Vergangenheit sehen. Malaya ist dafür ein gutes Fallbeispiel. Für den viel gerühmten Historiker Lord Hailey war Malaya den Briten von den »örtlichen Sultanen übereignet« worden und hatte »aus freien Stücken um Protektion gebeten«19. Es gab keinen Eroberungskrieg; die Menschen wurden nicht unterjocht. Auch als britische Armeeverbände zwischen 1948 und 1960 in Malaya kämpften, hielt sich diese verklärende Sicht der Dinge. Es handelte sich nicht etwa um einen Angriff; die britischen Truppen »verteidigten« Malaya gegen einen »konterrevolutionären Angriff«. Zu dieser Zeit befand sich ein Großteil der malaiischen »Trophäe«, wie der frühere Gouverneur Lord Milverton die natürlichen Schätze des Landes, vor allem seine reichen Kautschuk- und Zinnvorkommen, zu nennen beliebte, fest in der Hand britischer Firmen.20 Malaya wurde nie von außen bedroht; die »Krisensituation« war eine rein innenpolitische Angelegenheit. Der offiziellen Lesart des Westens zufolge verteidigte die »freie Welt« Malaya jedoch gegen eine von der Sowjetunion und China gesteuerte Aggression: ein Thema, das in akademischen wie in journalistischen Kreisen auf reges Interesse stieß. In Malaya wurde ein »guter Krieg« geführt. Nur in geheimen Dokumenten des britischen Außenministeriums war davon die Rede, dass der Krieg »vorwiegend dem Schutz der Kautschukindustrie« dient.21 Das Vorgehen der Briten in Malaya unterschied sich nicht wesentlich von der Strategie der Amerikaner in Vietnam, für die es offensichtlich als Vorbild diente. Kollektiv Bestrafung war die Maxime der Politik: Dörfer, denen man vorwarf, »Rebellen« Unterschlupf zu gewähren, wurden von der Nahrungsmittelzufuhr 321
Die Terroristen
abgeschnitten; andere Dörfer wurden in Konzentrationslager umfunktioniert und mehr als eine halbe Million Menschen wurden zwangsenteignet. Diese »Umsiedlung« wurde von der Kolonialverwaltung in London als ein »großes Stück sozialen Aufbaus« bezeichnet. Bevor die Amerikaner ihre chemischen Waffen in Vietnam zum Einsatz brachten und damit die Hälfte aller Wälder zerstörten und gravierende Erbschäden verursachten, hatten die Briten schon Anfang der 50er Jahre heimlich Chemikalien zur Entlaubung der Wälder und Vernichtung der Ernten über Malaya abgeworfen. Für die Kolonialverwaltung in London war dies »ein lohnendes Experimentierfeld«.22 Das gleiche Muster finden wir in Kenia, wo ebenfalls ein »guter Krieg« gegen skrupellose »Rebellen« geführt wurde. Die offizielle Lesart, die in zahlreiche Romane und Filme Eingang gefunden hat, wird in den Medien noch heute hochgehalten. Tatsächlich ist sie eine geschickt vermarktete Lüge. »Wir haben es uns zum Ziel gesetzt«, erklärte der Gouverneur von Kenia 1955, »eine Menge Menschen zu zivilisieren, deren moralische und soziale Entwicklung noch in einem ausgesprochen primitiven Stadium steckt.« In Wahrheit handelte es sich um eine Form von Kolonialfaschismus. Die Ermordung Tausender Nationalisten gehörte zur politischen Linie der britischen Regierung. Es war die in Irland praktizierte Politik des »gezielten Todesschusses« – nur in größerem Maßstab. Ein toter »Aufständischer« brachte seinem Mörder fünf Pfund ein. Ein erfahrener Kämpfer der britischen Armee erzählte später: »Auf dem Weg tauchten drei Afrikaner auf, die uns entgegen kamen: ein perfektes Ziel. Leider waren es Polizisten.« Der Mythos, der den Aufstand in Kenia begleitete, besagte, dass die Mau-Mau Angst und Schrecken unter den heldenhaften weißen Siedlern verbreiteten. Den 32 Europäern, die von den Mau-Mau ermordet wurden, stehen schätzungsweise 10 000 Afrikaner ge322
Willkommene Feinde
genüber, die auf Geheiß der britischen Kolonialverwaltung getötet wurden.23 Die Briten unterhielten in Kenia Konzentrationslager, in denen die Lebensbedingungen so hart waren, dass innerhalb eines einzigen Monats, im Juni 1954, 402 Insassen starben. Folter, Auspeitschen, Zwangsarbeit, Essensentzug und die Misshandlung von Frauen und Kindern waren an der Tagesordnung. »Die Sondergefängnisse«, schreibt der britische Historiker V.G. Kieman, »waren vermutlich keinen Deut besser als vergleichbare Einrichtungen der Nazis oder der Japaner.« Ein ehemaliger Sanitätsoffizier berichtete von »japanischen Foltermethoden«, die unter einem britischen Lagerkommandanten angewendet wurden. Dieser Terror war gedeckt durch Kolonialgesetze, die nach dem Ende der Kolonialherrschaft unter Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi in ihrer Doppelrolle als Gegner einer Volksdemokratie und »Freunde des Westens« aufrechterhalten und strengstens ausgelegt wurden. Die Registrierungspflicht für Einheimische, die den infamen Passgesetzen der Apartheidregierung in Südafrika entsprach, wurde verschärft. Aus der Masters-and-ServantsVerordnung wurde das Masters-and-Servants-Gesetz; aus der drakonischen Verordnung zur Anwendung außerordentlicher Maßnahmen wurde das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Heute ist Kenia von politischen Unruhen beherrscht, weil die demokratische Bewegung des Landes im Grunde immer noch gegen den Kolonialismus ankämpft. Postkoloniale Regierungen, die sich politisch in die falsche Richtung entwickelten, konnten sich in der Regel nicht lange halten. Offizielle Dokumente aus dem Jahr 1953 belegen, dass britische Geheimdienste und die CIA den Sturz der gewählten sozialistischen Regierung in Britisch-Guayana durch Terrorakte herbeiführten, um den Nachschub an billigem Zucker und Bauxit auf lange Sicht zu gewährleisten. Überhaupt war 1953 ein ge323
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schäftiges Jahr. Der gewählten Regierung der Nationalisten im Iran war das gleiche Schicksal beschieden, nachdem sie die Dreistigkeit besessen hatte, Eigentumsansprüche auf die Ölvorkommen im eigenen Land zu erheben.24 Unterdrückung und Morde in Uganda, Chile und Südafrika wurden von britischen Regierungen aktiv gefördert. In den 60er Jahren kämpften ohne Zustimmung und Wissen des Parlaments SAS-Truppen der britischen Armee in Vietnam Seite an Seite mit amerikanischen »Spezialeinheiten«. Der Labour-Premierminister Harold Wilson befürwortete den amerikanischen Angriff gegen Vietnam ebenso, wie er und seine Nachfolger den Völkermord guthießen, der, geschürt von den USA, in Indonesien stattfand, nachdem General Suharto Mitte der 60er Jahre die Macht übernommen hatte. Die Zustimmung der Briten zu den Morden in Indonesien, denen bis 1965 eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, kommt in einem Geheimdokument des Außenministeriums zum Ausdruck, in dem es heißt: »Solange die Lage derartig verworren ist, können wir kaum einen Fehler machen, wenn wir den Generälen stillschweigend den Rücken decken.«25 Der Übergang von einer britischen zu einer amerikanischen Welt führte im Außenministerium, wo man offensichtlich jeden Sinn für Ironie verloren hatte, zu Klagen über den »amerikanischen Imperialismus …, der die Zukunft Asiens bestimmen will«.26 Aber im Großen und Ganzen handelte es sich, wie das Beispiel von Diego Garcia zeigt, um eine glatte Übergabe. Und in der Folge stand Großbritannien unerschütterlich hinter der neuen Ordnung. Außenminister Geoffrey Howe sicherte den USA in den 80er Jahren die »uneingeschränkte Unterstützung« für ihre »Ziele« in Mittelamerika zu. Als ich Anfang der 80er Jahre aus dieser Region berichtete, konnte ich mit ansehen, wie diese Ziele verfolgt wurden. Von 324
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1981 bis 1985 wurden 3346 nicaraguanische Kinder und Jugendliche von den Contras, einer amerikanischen Terrortruppe, die von der CIA ins Leben gerufen, ausgebildet und bewaffnet worden war, ermordet, 6236 Kinder verloren einen oder beide Elternteile.27 Am selben Tag, an dem ich in El Regadio, einer Stadt an der Grenze zu Honduras, ankam, hatte eine Todesschwadron unter amerikanischer Führung Celestina Ugarto entführt und ihr die Kehle durchgeschnitten. Ihr Schicksal war kein Einzelfall; als über 50-Jährige zur Hebamme ausgebildet, hatte sie sich Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben angeeignet und war in ihrer Heimatgemeinde beliebt und hoch geachtet. Sie war die fünfte Hebamme, die in dem Tal von den Contras ermordet wurde. In seiner Aussage vor dem Internationalen Gerichtshof beschrieb der ehemalige CIA-Analyst David MacMichael die amerikanischen Ziele, für deren Unterstützung sich Geoffrey Howe stark gemacht hatte. Der amerikanische Terror, so sagte er, sollte erstens »grenzüberschreitende Angriffe der nicaraguanischen Truppen provozieren und so bewirken, dass die aggressive Haltung Nicaraguas deutlich wurde«, und zweitens die nicaraguanische Regierung zwingen, »die bürgerlichen Freiheiten im eigenen Land zu beschneiden, Oppositionelle zu inhaftieren und ihr angeblich totalitäres Wesen zu offenbaren, sodass der Widerstand innerhalb der Bevölkerung wuchs«. Ziel war es, die Wirtschaft Nicaraguas zu zerschlagen.28 1986 wurden die USA wegen »rechtswidriger Gewaltanwendung und eines unzulässigen Wirtschaftskrieges« gegen Nicaragua vom Internationalen Gerichtshof verurteilt. Dennoch legten die amerikanischen Vertreter im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unbeirrt ihr Veto gegen eine Resolution ein, mit der alle Regierungen verpflichtet werden sollten, internationales Recht zu beachten.29 Der »diplomatische Zwang« und die »terroristischen Motive«, von denen Michael Stohl spricht, waren die Spezialität der USA 325
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in Lateinamerika. 1996 gelangten Aktivisten in den Besitz geheimer Dokumente aus dem Pentagon, aus denen hervorgeht, dass die Ausbildungsstätte der US-Armee für lateinamerikanische Militär- und Polizeioffiziere, die School of the Americas in Fort Bennings, Georgia, das Foltern von Dissidenten, Drohungen, Bestechung und Erpressung »empfahl«. Handbücher in spanischer Sprache plädierten für »Motivation durch Angst, Prämien für tote Feinde, Scheinverhaftungen, Exekutionen und die Verwendung von Wahrheitsdrogen«.30 In den 80er Jahren freundete ich mich in El Salvador mit zwei Jesuitenmönchen an, die dann 1989 zusammen mit vier ihrer Ordensbrüder, ihrer Köchin und deren minderjähriger Tochter von Armeeoffizieren ermordet wurden; 19 der 27 Mörder hatten ihre Ausbildung in der School of the Americas erhalten. Zu deren Absolventen gehörten unter anderem General Galtieri, Anführer der argentinischen Junta, unter deren Regime 30 000 Menschen »verschwanden«, der frühere bolivianische Präsident Suarez, dessen paramilitärische Truppen die Arbeiter in den Zinnbergwerken des Landes mit brutaler Gewalt unterdrückten, über 100 der 246 kolumbianischen Offiziere, die 1993 bei einem internationalen Menschenrechtstribunal als Kriegsverbrecher genannt wurden, Manuel Callejas, in den 70er und 80er Jahren Chef des guatemaltekischen Geheimdienstes, der selbst für dortige Begriffe eine ausgesprochen verrufene Institution war, sowie Roberto d'Aubuisson, dem die salvadorianischen Todesschwadrone unterstanden und der 1980 Bischof Romero ermorden ließ – kurz nachdem dieser an Washington appelliert hatte, den Mördern seines Volkes keine Unterstützung mehr zu gewähren.31 Der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zufolge wurden in El Salvador innerhalb von 15 Monaten mehr als 20 000 Zivilisten von Todesschwadronen ermordet, die zu den in den USA ausgebildeten und mit 523 Millionen Dollar subventio326
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nierten »Sicherheitskräften« des Landes gehörten oder mit diesen in Verbindung standen.32 Während ich nach Bischof Romeros Ermordung aus El Salvador berichtete, unterhielt ich mich mit vielen der 600 verängstigten Menschen, die auf dem Gelände der bischöflichen Residenz Zuflucht gesucht hatten. Sie waren unbewaffnet, und alles, was sie von den schwarz behelmten und schwarz gestiefelten Soldaten der in den USA ausgebildeten Nationalgarde trennte, waren zwei wacklige Wellblechtore. Diese Ungewissheit über den Moment des Angriffs gehörte zu den vertrauten Erscheinungsformen des Terrors. Von Domingo Garcia, einem zwölfjährigen Jungen, dessen Aufgabe es war, die Tore rasch zu öffnen und zu schließen, erfuhr ich, dass Gardesoldaten seinen Vater ermordet hatten, weil er Mitglied einer Landarbeitergewerkschaft gewesen war. »Sie haben meine drei Brüder umgebracht und dachten, ich wäre auch tot«, erzählte er. Sein Kopf, seine Schultern und seine Arme waren mit Narben überzogen, die von einer Machete herrührten. Romeros Nachfolger, Bischof Rivera y Damas, beschrieb den von den USA angefachten Terror als »gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung gerichteten Vernichtungskrieg und Völkermord«.33 Als Gore Vidal den Kalten Krieg mit der Sowjetunion als »eine amerikanische Erfindung« bezeichnete, war das vielleicht eine Übertreibung, aber gewiss keine maßlose. Aus westlicher Sicht war es ein Zermürbungskrieg zwischen der stalinistischen Sowjetunion und dem demokratischen Westen, während in Wirklichkeit eine weit gehende Übereinstimmung über strategische Grenzen und »Einflusssphären« zwischen den beiden Supermächten bestand. Die Vereinigten Staaten hatten nicht die Absicht, den Ungarn zu Hilfe zu eilen, als 1956 sowjetische Panzer in Budapest einrollten, oder einzugreifen, als die Sowjets 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten. Die Sowjetunion machte ihrerseits keine Anstalten, die Vietnamesen im Kampf gegen die 327
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amerikanischen Angreifer zu unterstützen oder den Guerillakämpfern in Lateinamerika zur Seite zu stehen. Perioden der Spannung zwischen den beiden Supermächten kamen und gingen, aber im Großen und Ganzen war der »Krieg« zwischen ihnen bloß rhetorisches Theater. Sehr deutlich geht dies aus geheimen britischen Planungspapieren hervor, in denen die »sowjetische Bedrohung« in weiten Teilen der Dritten Welt und selbst im Nahen Osten, einem »Krisenzentrum« im Kalten Krieg, als nicht existent bezeichnet wird. Dennoch spielte sich der eigentliche Kalte Krieg der Westmächte an Schauplätzen der Dritten Welt ab – ausgefochten nicht gegen Russen, sondern gegen verzichtbare braun- und schwarzhäutige Menschen und oft in Regionen, in denen bittere Armut herrschte. Es war weniger ein Krieg zwischen Ost und West als zwischen Nord und Süd, zwischen Reich und Arm, zwischen Groß und Klein. Tatsächlich galt die Bedrohung als umso größer, je kleiner der Gegner war, denn ein Sieg der Schwachen hätte ein Zeichen gesetzt, das andere zur Nachahmung hätte hinreißen können – »die Gefahr eines guten Beispiels«, wie es von Oxfam einmal genannt wurde.34 Die wahren Feinde waren also die Schwachen, und sie sind es noch immer. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion fielen die wichtigsten Schranken, die dem westlichen Terrorismus gesetzt waren. Der nicaraguanische Soziologe und Politiker Alejandro Bendaña schrieb: »Nie zuvor in der Geschichte hatte ein Staat so viel Macht über so viele Menschen in so vielen Lebensbereichen wie die Vereinigten Staaten heute. Für uns Mittelamerikaner ist das ein alter Hut; hier sind die Vereinigten Staaten seit 150 Jahren die beherrschende Macht. Nun können wir vielleicht von einer Mittelamerikanisierung der Welt sprechen, denn was wir derzeit erleben, ist der Versuch der Vereinigten Staaten, das globale politische und wirtschaftliche 328
Willkommene Feinde System mit allen Mitteln neu zu gestalten … Tür und Tor zu öffnen für ihre Güter, ihre Dienstleistungen und ihr Kapital.«35
Kurz nachdem er 1989 – dem Jahr also, in dem die alte Weltordnung zerfiel – den Befehl zum Einmarsch in Panama gegeben hatte, verkündete George Bush senior eine »neue Weltordnung«, in der die »Friedensdividende« des überwundenen Kalten Krieges reiche Früchte tragen sollte. Seine Mitläufer und Sympathisanten bekamen fast poetische Anwandlungen. »Wie König Lear«, schrieb Adrian Hamilton im Observer, »scheinen die Vereinigten Staaten gewillt, die Welt in einem Schwung großmütiger Gesten aufzuteilen. … Niemand sollte sich über dieses Bemühen beklagen oder an der Aufrichtigkeit der Gesten zweifeln. Washington hat offensichtlich die Absicht, in Angola und Äthiopien ebenso wie im Nahen Osten, in der Golfregion und sogar in Vietnam und in Kambodscha den Schauplatz früherer Auseinandersetzungen zu räumen und eine neue Ordnung einzuläuten, die es den Vereinigten Staaten erlaubt, sich sorglos in den Ruhestand zu begeben.« Im Übrigen, so Hamilton weiter, solle man den guten alten Rentner in Ruhe lassen und sich »darüber freuen, dass die USA allem Anschein nach nicht mehr länger Weltpolizei spielen möchten, zumindest nicht mit ihren eigenen Truppen« (Hervorhebung von mir).36 Eine so edelmütige Vorstellung kam selbst unter Einsatz des üblichen Propagandanetzes nicht sonderlich gut an, denn es war für jedermann offensichtlich, dass die neue »Ordnung« gewalttätiger war als die alte. »Die Zahl der Konflikte in aller Welt«, war in World Military and Social Expenditures zu lesen, »stieg von 1991 bis 1992 rapide an. … Seit 17 Jahren hat es nicht mehr so viele Kriegstote gegeben.«37 Die meisten dieser Toten waren zu beklagen, als die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Großbritannien und ihren anderen Verbündeten den Irak im Januar 1991 angriffen. Die verlässlichste Schätzung geht davon 329 aus, dass eine Viertelmillion Menschen starben.«38
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Viertelmillion Menschen starben.«38 Als die amerikanischen Truppen im Folgejahr in Somalia einmarschierten, kamen weitere 6000 Menschen ums Leben.39 In der gleichen Zeit nahmen die Waffenverkäufe der USA um 64 Prozent zu – die größte Steigerungsrate, die es je gab –, und das Kriegsbudget des Pentagon wurde entsprechend aufgestockt. In Großbritannien war 1994 jeder zehnte Arbeiter in der wiederbelebten Rüstungsindustrie beschäftigt, die 20 Prozent des Weltmarktes abdeckte.40 Nachdem ihm die »sowjetische Gefahr« abhanden gekommen war, musste sich der Westen zwangsläufig auf die Suche nach einer logischen Erklärung für den neuerlichen Kriegszustand machen, die geeignet war, die Öffentlichkeit zufrieden zu stellen. Es folgte eine Phase intensiver Marktforschung, dann wurde der »Antidrogenkrieg« erfunden und ein neuer Feind ausgemacht: die »Narcoguerilla«. Über Kolumbien ergoss sich ein Segen amerikanischer »Militärhilfe«, wie ihn kein anderes Land der Welt je erlebt hat. Washington warf Drogenhändler und nationale Guerilla in einen Topf und entsandte unter dem Vorwand, die einen bekämpfen und die anderen inhaftieren zu wollen, Spezialeinheiten nach Kolumbien. (Großbritannien griff den Vereinigten Staaten heimlich mit ein paar SAS-Einheiten unter die Arme.) Drogen, schrieb Gabriel García Márquez, waren »ein überaus willkommener Teufel für die Vereinigten Staaten«, der ihnen einen Grund lieferte, im Namen der nationalen Sicherheit wieder einmal in Lateinamerika einzumarschieren.41 Mit den US-Amerikanern kam das Altbekannte – Geld, »Marktchancen«, Korruption und schließlich Krieg. Nach wie vor waren die Vereinigten Staaten mit etwa 20 Millionen Abhängigen der weltweit größte Konsument illegaler Drogen, ohne dass es im eigenen Land eine angemessene Kampagne gegen 330
Willkommene Feinde
korrupte Behörden und die Aktivitäten führender Drogenbosse gegeben hätte.42 Der Antidrogenkrieg nahm absurde Züge an, die Orwell’sche Fantasien in den Schatten stellten. Während Präsidentengattin Nancy Reagan für eine Kampagne unter dem Motto: »Sag einfach nein zu Drogen« warb, sagten die Geheimdienste der Regierung ihres Mannes »ja«. Wie Alfred McCoy in seiner richtungweisenden Untersuchung zeigt, gehörte der Drogenhandel seit vielen Jahren zu den geheimen Strategien der amerikanischen Geheimdienste, worin Menschen, die in der Drogen- und AIDSHilfe arbeiten, eine perfide und besonders effektive Form des Terrorismus sehen.43 »Unter dem Deckmantel des Antikommunismus«, schrieb Clarence Lusane vom US Center for Drug Abuse Research, »hat bisher jede US-Regierung von Truman bis Bush verdeckte Operationen in aller Welt gerechtfertigt, die direkt zur Öffnung und Erweiterung von Handelswegen für illegale Rauschmittel geführt haben. Von US-Geheimdiensten getragene Aktivitäten … haben den Drogenfluss gefördert, der unweigerlich darauf folgte.«44 Während der Indochinakriege war die CIA tief in Drogengeschäfte verstrickt: Ihre »Geheimarmee« in Laos wurde von General Vang Pao, dem berühmten Drogenfürsten, befehligt, der seine Mittel ausschließlich aus dem Drogenhandel bezog. In den 80er Jahren finanzierte die CIA ihren »Geheimkrieg« gegen die Sandinisten in Mittelamerika im Wesentlichen mit Drogen, nachdem der Kongress die Mittel dafür verweigert hatte. Bei der Kongressanhörung mit dem von Senator John Kerry geleiteten Unterausschuss Terrorismus, Drogen und internationale Beziehungen wurde festgestellt: »Aufgrund der Beweislage steht fest, dass die Contras wissentlich finanzielle und materielle Unterstützung von Drogenhändlern angenommen haben. … In allen Fällen verfugte die eine oder andere US-Bundesbehörde über 331
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entsprechende Informationen…. Tatsächlich hatten die politischen Entscheidungsträger der Vereinigten Staaten ein durchaus offenes Ohr für den Vorschlag, Drogengelder könnten die perfekte Lösung zur Finanzierung der Contras sein.«45 1997 enthüllte Le Monde Diplomatique, dass die CIA nach dem Militärschlag in Bolivien im Jahr 1980 »dank des Kokains, das in einem geheimen Labor in Huanchaca [Bolivien] hergestellt wurde, über die Mittel verfügte, ihre Operationen in Mittelamerika zu finanzieren. … Die US-amerikanische Drogenfahndungsbehörde (DEA) wusste von der Drogenfabrik, schwieg sich aber aus. Ein bolivianischer Kongressabgeordneter, der für eine Ausweisung der DEA-Beamten aus Bolivien eintrat, fiel, kurz nachdem er seine Anschuldigungen vorgebracht hatte, einem Attentat zum Opfer.«46 Nach jahrelangem Studium der Geheimakten kam Jack Blum, der Chefermittler des Kerry-Ausschusses, zu einem eindeutigen Ergebnis. »Wenn Sie mich fragen: Haben Personen, die mit der US-Regierung in Verbindung stehen, im Verlauf des Krieges gegen die Sandinisten Kanäle geöffnet, über die Drogen in die Vereinigten Staaten gebracht werden konnten, wussten sie über die Aktivitäten der Drogenhändler Bescheid und haben sie diese vor Verfolgung durch die Strafbehörden geschützt?, dann muss ich alle diese Fragen mit Ja beantworten.«47 Dem Krieg gegen Drogen folgte der Krieg gegen Dämonen. Dämonen sind diejenigen, die der »offenbaren Bestimmung Amerikas«, wie sie im 19. Jahrhundert definiert wurde, im Wege stehen. Ein Dämon kann eine ganze Religionsgemeinschaft sein wie der Islam oder ein Staat wie der Iran oder auch eine Einzelperson wie Fidel Castro, Saddam Hussein und Oberst Moamar al-Gaddhafi. Um einen weniger bedeutenden Dämon zu entführen, nämlich General Noriega, einen alten Freund von George Bush senior 332
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aus dessen Zeit als Leiter der CIA, war eine Invasion in Panama notwendig, die 2000 Bürger des Landes das Leben kostete. Noriega wurde als Drogenhändler und Sammler kinderpornografischer Machwerke gebührend verteufelt. Seine Ausbildung an der School of the Americas und seine langjährige Verbindung zur CIA und zu Bush senior wurden dagegen für unwesentlich erachtet. Dass in der Folge, gesichert durch verlässlichere Noriegas, Panama und der Kanal wieder dem unangefochtenen Einfluss der USA unterstellt wurden, was der eigentliche Grund der Invasion war, stieß auf geringes Interesse. Der erfolgreichste Dämon von allen, Saddam Hussein, war ebenfalls ein alter Bekannter von George Bush senior und gern gesehen in Kreisen der amerikanischen und britischen Rüstungsindustrie, die ihn in den 80er Jahren für seinen Krieg gegen das frühe Modell eines Superdämons, nämlich die iranischen Mullahs, ausgestattet hatten. Etwa eine Million Menschen starben in dem zehn Jahre währenden, vom Westen finanzierten Gemetzel. Als Saddam 1990 übermütig wurde und im Streit um den Besitz von Ölfeldern in Kuweit einfiel, bezeichnete ihn sein früherer Freund als »einen neuen Adolf Hitler«. Innerhalb weniger Monate verloren wiederum eine Viertelmillion Menschen ihr Leben in dem Blutbad, das die USA im Irak anrichteten. Ein Dämon, der nie seinen Wert verloren hat, ist der kambodschanische Massenmörder Pol Pot. In den letzten Jahren wurde Pol Pot wieder einmal als das Ungeheuer ohnegleichen verkauft, das im Alleingang unsägliches Leid über sein Volk brachte. Unerwähnt bleiben dabei die Faustischen Gegenspieler des Ungeheuers im Westen, ohne die der Tyrann niemals an die Macht gekommen wäre und die ihm später im Exil zugunsten ihrer eigenen imperialistischen Ziele wieder den Rücken stärkten. Nach westlicher Lesart begann der kambodschanische Albtraum 1975, im »Jahr Null«, als die Roten Khmer die Macht 333
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übernahmen. In Wirklichkeit war 1969 dieses »Jahr Null«, als Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger die heimliche und rechtswidrige Bombardierung des neutralen kambodschanischen Staates veranlassten, bei der zur Verschleierung des Verbrechens die Bordbücher der amerikanischen Piloten gefälscht wurden. Zwischen 1969 und 1973 töteten amerikanische Bomber eine Dreiviertelmillion kambodschanischer Bauern bei dem Versuch, nordvietnamesische Nachschubbasen zu zerstören, von denen es viele gar nicht gab. 1973 warfen B-52Maschinen in einem Zeitraum von sechs Monaten mehr Bomben auf eine kambodschanische Bevölkerung ab, die zum größten Teil in Strohhütten lebte, als im gesamten Zweiten Weltkrieg auf Japan herunterregneten: den Gegenwert von fünf Hiroshimas. Der Inhalt von amtlichen US-Dokumenten, deren Geheimstatus 1987 aufgehoben wurde, lässt wenig Zweifel daran, dass der amerikanische Terror der Katalysator für eine Revolution war, die bis zu diesem Zeitpunkt keine breite Basis in der kambodschanischen Bevölkerung hatte. »Sie benutzen [die Bombardierung] als Hauptargument ihrer Propaganda«, berichtete der Leiter der CIA-Operation am 2. Mai 1973. »Dieses Vorgehen hat zur erfolgreichen Rekrutierung vieler junger Männer geführt, und die Propaganda hat besonders nachhaltig bei den Flüchtlingen gewirkt, die einem B-52-Bombardement ausgesetzt waren.«48 Was Nixon und Kissinger begonnen hatten, brachte Pol Pot zu Ende. Und als die Vietnamesen am Weihnachtstag des Jahres 1978 die Roten Khmer über die Grenze nach Thailand trieben, wurden sie dort in Auffanglagern von amerikanischen Geheimdienstleuten in Empfang genommen, zu denen auch der Oberst des militärischen Geheimdienstes gehörte, der die geheime Bombardierung geplant hatte, durch die sie letztlich an die Macht gelangt waren. Sogleich machte sich die Kampuchea Emergency Group, die ihr Hauptquartier in der US-Botschaft in 334
Willkommene Feinde
Bangkok hatte, daran, den Roten Khmer als »Widerstandsgruppe« gegen die von Vietnam unterstützte Regierung in Phnom Penh wieder zur Geltung zu verhelfen.49 Linda Mason und Roger Brown, beide Mitarbeiter einer US-amerikanischen Hilfsorganisation, schrieben später: »Die US-Regierung bestand darauf, dass die Roten Khmer Nahrungsmittel von uns erhielten … Die Vereinigten Staaten wollten, dass die Hilfe für die Roten Khmer von der Glaubwürdigkeit einer international bekannten Hilfsorganisation profitierte.«50 Auf Drängen der USA stellte das Welternährungsprogramm der thailändischen Armee Nahrungsmittel im Wert von 12 Millionen Dollar zur Verfügung, die an die Roten Khmer weitergeleitet werden sollten. Nach Aussage des früheren außenpolitischen Beraters Richard Holbrooke kamen 20 000 bis 40 000 von Pol Pots Guerillakämpfern in den Genuss solcher Hilfslieferungen.51 1980 begleitete ich einen UN-Hilfskonvoi aus 40 Lkw, von denen 17 mit Nahrungsmitteln, 17 mit Saatgut und die restlichen sechs mit Dingen beladen waren, die von den UN-Helfern als »Leckerbissen« bezeichnet wurden. Unser Ziel war Phnom Chat, ein Stützpunkt der Roten Khmer in einem an der Grenze zu Thailand gelegenen Waldgebiet, das mit Landminen gespickt war. Irgendwann bemerkte die UN-Mitarbeiterin, die den Konvoi leitete, eine Amerikanerin namens Phyllis Gestrin: »Ich weiß nicht, was diese Hilfslieferung soll, aber ich traue diesen Schwarzhemden nicht über den Weg.« Nachdem die »Leckerbissen« abgeladen worden waren, ließ sie sich von einem Mann, der die Aktion von einem strohgedeckten Unterstand aus in belustigtem Schweigen beobachtet hatte, eine Unterschrift geben. »Naja«, sagte sie, »was ich hier habe, ist vermutlich eine Empfangsquittung. Nicht schlecht, von einem Schlächter wie dem da.« Der militärische Deckname des »Schlächters« war Nam Phann, auch bekannt als »Pol Pots Himmler«, ein Mann, der wegen tausend335
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fachen Mordes in der Provinz Siem Reap gesucht wurde. Fünf Monate später stattete Ray Cline, früherer stellvertretender Leiter der CIA und außenpolitischer Berater des designierten Präsidenten Ronald Reagan, den Roten Khmer insgeheim einen Besuch in einer nahe gelegenen Operationsbasis ab, wo er Gespräche mit deren führenden Vertretern führte. Spionagesatelliten und Geld folgten ihm auf dem Fuße. 1983 gesellte sich ein Kontingent des britischen SAS zu den amerikanischen Verbündeten Pol Pots. Die Leute dieser Spezialeinheit machten die »Widerstandskämpfer« der Roten Khmer mit der Technik der Landminen vertraut und zeigten ihnen, wie man sie auslegt. Als die Briten acht Jahre später als Mitglieder einer UN»Friedenstruppe« nach Kambodscha zurückkehrten, wurden sie von Pol Pots Generälen als alte Kameraden begrüßt.52
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ie ist es möglich, dass westliche Regierungen die Wahrheit ihrer Macht und ihres Terrorismus der Öffentlichkeit gegenüber ins Gegenteil verkehren können? Die Antwort ist einfach: weil es in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten als Sakrileg gilt, eine westliche Demokratie als Terrorstaat zu bezeichnen. Diese Ehre bleibt Staaten wie Libyen und dem Iran vorbehalten, kleinen Fischen auf der Bühne des Terrorismus natürlich. Klischees wie der »muslimische Fanatiker« werden oft und gerne bemüht. In Wirklichkeit sind Muslime nur für einen Bruchteil der Terrorismusopfer in aller Welt verantwortlich, und sie sind überdies diejenigen, die am schwersten unter staatlichem Terrorismus zu leiden hatten: in Palästina, im Irak, in Bosnien, Tschetschenien und Somalia. Heerscharen westlicher Denker und Wissenschaftler, Kriegsberichterstatter und Kulturschaffender sorgen dafür, dass die Verbannung dieser Wahrheiten aus der öffentlichen Diskussion gerechtfertigt scheint. In dem erfolgreichen Kinofilm True Lies tötet Arnold Schwarzenegger 80 Terroristen, ausnahmslos arabische Muslime. »Zu Terroristen«, schreibt der Historiker Frank Furedi, »werden alle x-beliebigen Ausländer, gegen die man etwas hat. Darüber hinaus wird Terrorismus neu definiert als allgemeingültige Metapher für eine Dritte Welt, die nach konzertierter Aktion des 337
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Westens verlangt.«53 Aus einein Bericht der Trilateralen Kommission zitierend, stellt er fest, dass die internationale Migration und die damit zusammenhängenden Umwelt-, Drogen- und Terrorismusprobleme »eine neue Realität des nationalen und internationalen Lebens sind, die in vielerlei Hinsicht ein Zusammengehen aller Staaten erforderlich macht«. Dadurch, daß demografische Fragen so sehr in den Vordergrund treten, »entsteht eine Situation, in der die westlichen Staaten nicht mehr die aggressiven Eroberer der Dritten Welt sind, sondern zum Ziel fremder Eindringlinge werden«.54 Der bekannte britische Terrorismusexperte Paul Wilkinson schrieb einmal – und er tat dies vermutlich, ohne mit der Wimper zu zucken –, der Terrorismus stelle »für die politische Führung der Vereinigten Staaten und andere machtlose westliche Regierungen eine Gefahr« dar.55 Das Malthus'sche Gespenst geht wieder einmal um. In einer führenden US-amerikanischen Militärzeitschrift wird der neue Feind benannt: »das brodelnde Giftgemisch aus Fanatikern, Verrückten, Drogenhändlern und Terroristen«.56 Nicht nur die Vereinigten Staaten seien bedroht, schreibt ein Autor in der Zeitschrift International Affairs, sondern auch Europa sehe sich »zunehmend mit … AIDS, Drogen, Umweltverschmutzung und der Verbreitung chemischer und biologischer Waffen in der Dritten Welt konfrontiert«.57 Viele ernst zu nehmende Publikationen befassen sich mit diesem Albtraum und der Frage, wie ihm beizukommen ist. Die größte Berühmtheit erlangte ein Werk des Politologen Samuel Huntington, der das Institut für Strategische Studien an der Harvard-Universität leitet. Der Kampf der Kulturen, wie er sein Buch genannt hat, wurde als Beitrag der 90er Jahre von ebensolchem Rang gerühmt wie George F. Kennans historische Abhandlung zur Eindämmungspolitik, mit der dieser die theoretische Grundlage für die Hegemonialansprüche der Vereinigten Staaten nach 338
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dem Zweiten Weltkrieg lieferte. Huntington behauptet darin, die westliche Kultur müsse sich gegen den Rest der Welt abgrenzen, um in »eine dritte, euroamerikanische Phase des wirtschaftlichen Wohlstands« eintreten zu können. »Die Regierenden der westlichen Staaten«, schreibt er, »haben untereinander Normen des Vertrauens und der Kooperation geschaffen, die sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit den Regierenden aus anderen Kulturkreisen nicht haben.« Die NATO bezeichnet er als »die Sicherheitsorganisation des westlichen Kulturkreises, deren oberstes Ziel es ist, diesen zu schützen und zu bewahren«. Die NATO-Mitgliedschaft sollte in seinen Augen denjenigen Staaten verwehrt bleiben, die im Laufe ihrer Geschichte vorwiegend muslimisch oder orthodox oder in irgendeiner Weise in ihrer Kultur und Religion nichtwestlich waren. Huntington greift in seiner Sprache auf rassistische Klischees und auf einen verschleierten Sozialdarwinismus zurück, die dem Faschismus schon immer als Nährboden gedient haben. Was ihm vorschwebt, ist eine globale Apartheid. Und selbstverständlich fällt die Aufgabe, in dieser westlichen Wagenburg für Ordnung zu sorgen, »uneingeschränkt dem mächtigsten Staat des Westens, den Vereinigten Staaten, zu«. Wenn Huntington diesen neuen göttlichen Auftrag beschwört, spricht er Henry Kissinger aus der Seele, für den das »die wichtigste Mission seit dem Kalten Krieg« ist.58 Im globalen Apartheidsystem weiß jeder, wohin er gehört. Die Europäische Union hat gezeigt, wie es geht. Gesetze, die sich gegen Flüchtlinge und Asylsuchende richten, sorgen dafür, dass Menschen in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihnen Gefängnis oder gar der Tod droht. 1997 ertranken albanische Flüchtlinge, nachdem ihr Boot absichtlich von einem Schiff der italienischen Marine gerammt worden war. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen beschleunigte die Blair-Regierung die Ab339
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schiebung abgewiesener Asylsuchender und löste so, wie verlautete, einen »Rückstau« von 50 000 Menschen auf.59 Und während die Zugbrücken hochgekurbelt und die Flüchtlinge in die Wüste geschickt werden, offenbart sich dem Westen die atomare Bedrohung aus der Dritten Welt. Da gibt es die »Atomajatollahs« im Iran; auch Saddam wurde lange verdächtigt, Atomwaffen zu entwickeln. Ersteres wurde von der Internationalen Atomenergiekommission als Unsinn entlarvt, und das international anerkannte Institut für Konflikt- und Terrorismusforschung in Stockholm stellte – schon lange vor dem amerikanischen Überfall – fest, dass Letzteres durch nichts zu belegen war, aber darauf kommt es gar nicht an. Wie die »Drogenbarone« in Lateinamerika zwingen die »Atomterroristen« den zivilisierten Westen zum Handeln. Einer der vielen Vorschläge sieht ein Atomexpeditionskorps vor, das »vorrangig gegen Ziele in der Dritten Welt eingesetzt werden« soll.60 1997 wurde die US-Luftwaffe um sechs Tarnkappenbomber verstärkt, die als Träger für die B61-11, einen neu entwickelten, auch als »Bunker-Buster« bekannten Bombentyp, dienen sollen. Diese »Mini-Nukes«, die so konzipiert sind, dass sie sich tief in die Erde bohren, bevor sie explodieren, und deren Druckwellen imstande sind, »Befehlsbunker« in tausend Metern Tiefe zu zerstören, können auch in Kampfflugzeugen des Typs F16 transportiert werden.61 Überhaupt kein Wirbel wird dagegen um die einzige wirkliche Atommacht im Nahen Osten gemacht, deren mörderische Angriffe auf ein Nachbarland gegen mindestens sechs UNResolutionen verstießen und von der UN-Vollversammlung mit überwältigender Mehrheit verurteilt wurden, was jedoch keinerlei Sanktionen nach sich zog. Die Rede ist vom Staat Israel, dessen Terrorismus, als »Selbstverteidigung« beschönigt, von den Vereinigten Staaten gesponsort wird. 1982 drangen israelische 340
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Truppen in den Libanon ein und brachten etwa 20 000 Menschen um. Israelische Kampfflugzeuge bombardierten Flüchtlingslager; Todesschwadrone des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth entführten und ermordeten Personen nach eigenem Gutdünken. Das geheime Ziel dieses barbarischen Vorgehens war es, wie Noam Chomsky schreibt, »der drohenden PLO-Diplomatie zuvorzukommen«.62 1996 richteten die Israelis in einem Posten der UNFriedenstruppen im südlibanesischen Kana ein Blutbad unter Flüchtlingen an, dem 102 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, zum Opfer fielen. Der Beschuss habe einem nahe gelegenen Hisbollah-Stützpunkt gegolten, hieß es – eine Behauptung, die von UN-Beobachtern sehr schnell widerlegt wurde. Die Berichterstattung in Großbritannien und den Vereinigten Staaten war allerdings aufschlussreich. Die Schlagzeile in der Times lautete: »Clinton mahnt zum Frieden nach Tod von 97 Menschen«, und die Unterüberschrift: »Angriffe gegen den Libanon gehen weiter, bis Hisbollah Gewaltverzicht erklärt«. Der Daily Telegraph rückte neben die Schlagzeile »Israelische Bomben töten 94 Flüchtlinge« ein fett gedrucktes Zitat des israelischen Ministerpräsidenten Schimon Peres ein: »Uns blieb nichts anderes übrig, als unser Volk und unsere Soldaten zu verteidigen.« In der Newsweek hieß es, die Opfer seien »im Kreuzfeuer« gestorben.63 Wie überall in der Welt sind es auch in Palästina die Opfer, nicht die Unterdrücker, die als Terroristen gelten: eine Sicht, die Richard Falk zufolge weit verbreitet ist, weil »das Bild über der Wahrheit steht, indem es diese in unserer Wirklichkeitswahrnehmung zu formen und zu verschleiern vermag. … Selbst linke Kritiker sehen zuerst den vorfabrizierten Zusammenhang zwischen Terrorismus und der Strategie der Besitzlosen und versuchen, von diesem Standpunkt aus zu erklären, warum sich bestimmte Muster der Gewalt entwickelt haben …‹‹64 Dass sich mit 341
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wenigen Ausnahmen sämtliche Mitglieder der UN-Vollversammlung Jahr für Jahr für eine Resolution aussprechen, in der Israel aufgefordert wird, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, spielt keine Rolle. Es kommt einzig und allein darauf an, daß Israel die Macht des Westens und vornehmlich der Vereinigten Staaten repräsentiert. Was die Amerikaner heute als Friedensprozess preisen, ist dessen genaues Gegenteil. Es ist ein Kriegsprozess, in dem die Palästinenser in die Zange genommen werden von israelischem Militär und fremden Besatzern, so genannten »Siedlern«, die von der israelischen Regierung bewaffnet und von den Vereinigten Staaten finanziert werden. So ist es zwar erschütternd, aber ganz logisch, wenn die belagerten drei Prozent des Westjordanlandes, die der »Friedensprozess« den Palästinensern in ihrem eigenen Land zugestanden hat, den Armenvierteln der Bantustans oder »Homelands« in der Zeit der Apartheid in Südafrika gleichen. Und zugleich müssen sich die Palästinenser damit abfinden, dass einerseits Klischees über den islamischen Terrorismus verbreitet werden, während andererseits kaum jemand ein Wort über den unmenschlichen und demütigenden Terror des jüdischen und westlichen Fundamentalismus verliert. Der »Friedensprozess« hat zwar sein Idealziel, die einheimische Bevölkerung zu befrieden, nicht erreicht, aber sie sind durch ihn wie versteinert, ihre Hoffnungen und Träume sind erstickt, während sich die Westmächte anschicken, eine Region auszuschlachten, die von den Vereinigten Staaten lange Zeit als »unvergleichliche Basis strategischer Macht und eine der größten materiellen Trophäen in der Geschichte« gepriesen wurde.65 Einer der verblüffendsten Aspekte des neuen Kalten Kriegs ist die Wiederbelebung der imperialistischen Weltsicht. Wie schon der britische Premierminister Harold Macmillan in den 50er Jahren beklagen die Huntingtons von heute den »Prestigeverlust der 342
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Weißen«, die sich im Imperialismus ihres Renommees noch sicher sein konnten.66 »Man vergisst leicht«, schreibt Frank Furedi in The New Ideology of Imperialism, »dass die moralischen Ansprüche des Imperialismus bis in die 30er Jahre hinein im Westen selten in Frage gestellt wurden. Imperialismus und globale Expansion der Westmächte wurden unter ausschließlich positiven Vorzeichen als ein wichtiger Beitrag zur Zivilisierung der Menschheit dargestellt. … Eine imperialistische Weltsicht galt als achtbare politische Haltung.«67 Der spätere Premierminister Harold Wilson, der sich selbst als Sozialisten bezeichnete, verkündete 1949, keine Partei könne oder solle »für sich allein in Anspruch nehmen, imperialistisch im besten Sinne des Wortes zu sein«.68 Als, einem verbreiteten Glaubenssatz zufolge, die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrem »Zeitalter der Unschuld« herauswuchsen – wobei so nebensächliche Dinge wie der Völkermord an den indianischen Ureinwohnern, die Sklaverei, der Raub des texanischen Gebiets von Mexiko, die Unterdrückung Mittelamerikas, Kubas und der Philippinen sowie die Monroedoktrin unter den Teppich gekehrt werden –, wurde der Begriff »Imperialismus« aus den US-amerikanischen Geschichtsbüchern gestrichen und zum Problem der Europäer erklärt. Überzeugte Imperialisten sahen sich in der Nachkriegsperiode mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass der Faschismus unter Hitler mit seinen Theorien der rassischen und kulturellen Überlegenheit ein Erbe hinterlassen hatte, mit dem man sich nicht in Verbindung bringen konnte, ohne selbst schuldig zu werden. »Dass der Imperialismus moralisch verwerflich sein sollte«, schreibt Furedi, »war eine Erkenntnis, die sich nur langsam in den Köpfen der Leute festsetzte und die britische Oberschicht zutiefst erschütterte.«69 Es folgte eine ernst gemeinte, wenn auch 343
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absurde Kampagne mit dem Ziel, das Wort aus dem Sprachgebrauch zu streichen, »weil es der Außenpolitik des Westens fälschlicherweise unmoralische Motive zuschrieb«. Der Begriff wurde einfach als »irrelevant« abgetan. Wer darauf beharrte, ihn im negativen Sinne zu verwenden, galt als »unseriös« und »verdächtig«. Die Betreffenden waren, schreibt ein US-amerikanischer Historiker, »vom Kommunismus indoktriniert, oder es waren schwarze Intellektuelle, die ihre eigenen Ressentiments gegen den weißen Kapitalismus pflegten«.70 In bester stalinistischer Tradition hörte der Imperialismus einfach auf zu existieren. Was folgte, war ein historischer Taschenspielertrick. »Indem die intellektuellen Vordenker des Kalten Krieges die imperialistische Prägung der westlichen Gesellschaft leugneten«, schreibt Furedi, »leugneten sie ihre eigene Vergangenheit. Sie bestritten nicht, dass der Imperialismus etwas war, dessen man sich schämen musste, sondern sie stritten schlichtweg ab, je etwas damit zu tun gehabt zu haben.«71 Mit dem Ende des Kalten Krieges öffnete sich eine ganz neue Perspektive. Plötzlich konnten die wirtschaftlichen und politischen Krisen in der Dritten Welt als Rechtfertigung für den Imperialismus herangezogen werden. Auch wenn der Begriff als solcher weiterhin tabu war, hatte der Imperialismus doch den Rückweg in die Ehrbarkeit angetreten. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wurde die Vergangenheit wieder öffentlich gefeiert. Im Wall Street Journal wurde der Widerstand der Amerikaner gegen den französisch-britischen Einsatz am Suezkanal als der »vielleicht größte strategische Fehler in der Nachkriegsära« bezeichnet.72 Kurz vor dem US-Angriff gegen den Irak im Jahr 1991 verkündete der rechtskonservative CambridgeAbsolvent John Casey, es stehe nun den Westmächten frei, in der Dritten Welt »zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt«.73 Und er lag ganz richtig damit. Angesichts der NATO344
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Erweiterung, der amerikanischen Billigung der ethnischen Säuberung auf dem Balkan, der Eindämmungspolitik im Nahen Osten und des wieder erstarkten Einflusses der USA in ganz Afrika und im mittelamerikanischen »Hinterhof« kann der Rentner Douglas Hurd völlig zu Recht erleichtert aufatmen, wenn er konstatiert, dass »wir allmählich die geschichtliche Phase hinter uns lassen, in der die westliche Welt kein legitimes Interesse an den Entwicklungsländern äußern konnte, ohne sogleich neokolonialistischer Absichten bezichtigt zu werden«.74 Neue Produktbezeichnungen tauchen auf und verschwinden: »präventive Diplomatie« und »humanitäre Intervention«, Letztere als Veteranin des blutigen Golfkriegs. Zwar erfüllen sie bereits das Kriterium, jederzeit und überall das tun zu können, was man will und was in der eigenen Macht liegt, aber sie müssen noch ins öffentliche Vorstellungsvermögen Eingang finden. Derzeit stehen »UN-Friedenssicherung« und »Friedensoperationen« hoch im Kurs. »Wie schon im Golfkrieg«, schreibt Phyllis Bennis 1996 in einer Studie zur Lage der Vereinten Nationen, »beschränkt sich die Rolle der Vereinten Nationen seither zunehmend darauf, die einseitigen Interventionsstrategien ihrer einflussreichsten Mitglieder – insbesondere der USA – abzusegnen und zu erleichtern, während sie, was ihre eigene Macht betrifft, auf die armseligen Brokken angewiesen sind, die ihnen von Washington hingeworfen oder vorenthalten werden.«75 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen debattierte an jenem 16. Januar 1991 noch darüber, ob er dem Angriff gegen den Irak zustimmen solle, als ein Reporter in den Sitzungssaal trat und verkündete: »Sie bombardieren Bagdad. CNN bringt es gerade in den Nachrichten.«76 Seit 1996 sind »Friedenseinsätze« stillschweigend von den Vereinten Nationen auf die NATO übergegangen, die von Washington ursprünglich als Bollwerk gegen die Sowjetunion ins 345
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Leben gerufen worden war. Das Bosnien-Mandat, das letztlich eine »ethnische Säuberung« auf dem Balkan legitimierte, wurde den NATO-Truppen übertragen und gilt als beispielhaft für die Befriedung der Welt. In Vorbereitung auf diese neue Rolle wurde die NATO umstrukturiert und durch »Kriseneingreiftruppen« verstärkt, die an jedem beliebigen Ort zum Einsatz kommen können. Das Konzept der »alliierten Streitkräftekommandos« sieht vor, dass NATO-Waffen und Geheimdienstinformationen ohne vorherige Konsultation von Mitgliedern, die »kein ausreichendes Interesse an der Region haben«, in Anspruch genommen werden können. Selbstverständlich behalten sich die Vereinigten Staaten ein Vetorecht vor. Diejenigen, die voraussagten, dass die NATO nach dem Fall der Berliner Mauer ihre Funktion verlieren würde, haben sich geirrt. Die NATO hat im Gegenteil eine rasche Erweiterung nach Osteuropa erfahren, die bis an die Grenzen Russlands reicht. Die Reaktion der Russen hat sich nicht gerade wie ein Lauffeuer in den Nachrichten verbreitet, sie ist vielmehr im Westen kaum bekannt. »Das Verteidigungsministerium in Moskau«, schreibt Andreas Zumach, freier Journalist am UNO-Sitz in Genf und Korrespondent für die taz in Berlin sowie für Rundfunkanstalten, BBC Deutschland und weitere deutschsprachige Zeitungen, »hat bereits Pläne angekündigt, an den westlichen Grenzen Russlands neue Atomwaffen zu stationieren. Der Nationale Sicherheitsrat in Moskau denkt auch darüber nach, sich vom lange gültigen Grundsatz der Ablehnung von atomaren ›Erstschlagwaffen‹ zu verabschieden. Das Vorrücken [der NATO] an die Grenzen Russlands hat in Moskau zu klaustrophobischen Reaktionen geführt und den Einfluss der nationalistischen Kräfte im russischen Parlament gestärkt, das nun den zweiten Vertrag über den Abbau strategischer Waffen mit den Vereinigten Staaten nicht unterzeichnen wird … Statt für ›mehr Stabilität und Sicherheit in Eu346
Globale Apartheid
ropa‹ zu sorgen, wie es ihre Befürworter versprechen, wird die Erweiterung der NATO nach Osten in den kommenden Jahren ein möglicher Auslöser für offene Konflikte auf dem eurasischen Kontinent sein.«77 Seit der Wiedereroberung Russlands durch die Kräfte der Globalisierung ist die Wirtschaft des Landes auf die Hälfte zusammengeschrumpft und das Bruttoinlandsprodukt auf das Niveau der Niederlande gesunken. Für die Menschen ist es wieder schwierig geworden, sich mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen, und die Arbeitslosenquote ist so hoch wie seit 60 Jahren nicht mehr. Die Lebenserwartung der Männer, die Ende der 50er Jahre 69 Jahre betrug, liegt nur noch bei 58 Jahren.78 Eine so rasante Abnahme der Lebenserwartung wurde noch in keinem Land der Welt je beobachtet. »Hinter der Maske einer liberalen Demokratie«, schreibt Michel Chossudovsky, »überlebte der totalitäre Staat völlig unbeeinträchtigt: eine genau abgewogene Mischung aus Stalinismus und ›freier‹ Marktwirtschaft, wobei der IWF und die anderen Instrumente des triumphierenden Imperialismus ihre Kräfte darauf konzentrieren, den früheren Feind auszuschalten und die Entwicklung Russlands zu einer kapitalistischen Großmacht 79 voranzutreiben.« Die britische und amerikanische Berichterstattung über Russland entwirft ein völlig anderes Bild. Es findet keine öffentliche Diskussion über aufziehende Gefahren statt, so gut wie niemand weiß, was mit der früheren sowjetischen Gesellschaft geschehen ist. Auch wenn der Imperialismus wieder salonfähig wird, so werden doch seine Folgen nach wie vor totgeschwiegen. Menschen in aller Welt werden im Fernsehen immer noch als Opfer ihrer eigenen unglücklichen Umstände vorgeführt, auch wenn die Ursache ihrer Not, wie beispielsweise in Ruanda, in der kolonialen Vergangenheit, in wechselnden Bündnissen der Kolonialmächte und der Verschiebung von »Einflusssphären« zu su347
Die Terroristen
chen ist. Wenn die Kameras weiter schwenken – was sie, so sicher wie das Amen in der Kirche, irgendwann einmal tun –, hören die Menschen auf zu existieren. Kambodscha ist ein anschauliches Beispiel. Als die Westmächte 1992 in das Land zurückkehrten, kamen sie unter der Flagge der Vereinten Nationen. Diesmal brachten sie einen »Friedensplan« mit, den sich der amerikanische Kongressabgeordnete Stephen Solarz, eine der führenden Figuren des Kalten Krieges, ausgedacht hatte. Diesem Plan zufolge sollte Kambodscha sich dem Weltmarkt öffnen und verschulden, und es sollte dem Einfluss seiner vietnamesischen Befreier entzogen werden. Um die von Vietnam gestützte Regierung Hun Sen zu unterminieren, verhalfen die Vereinten Nationen den im Exil lebenden Politikern und Generälen der »Koalitionsregierung des demokratischen Kampuchea«, die eine Erfindung der USA und fest in der Hand der Roten Khmer war, zur Rückkehr nach Phnom Penh. Pol Pots Guerillaeinheiten erhielten ein Viertel der ländlichen Regionen Kambodschas, wo sie, entgegen der propagandistischen Behauptung, sie seien endgültig zerschlagen, weiterhin zu Tausenden ungestraft agierten.80 1992 erfuhr ich von Eric Falt, dem damaligen UN-Sprecher in Phnom Penh, um was es in Wirklichkeit ging: »Der Friedensprozess soll den Roten Khmer die Möglichkeit geben, sich zu rehabilitieren.«81 Dank der »Friedensoperation« der Vereinten Nationen mit ihren Nebenprodukten Korruption und AIDS sah sich Kambodscha mit einer Regierung konfrontiert, die zwischen dem Khmer-Gegner Hun Sen und dem Khmer-Verbündeten Prinz Norodom Ranariddh hoffnungslos gespalten war. Der Eifer, mit dem Ranariddh Vertretern der Roten Khmer den Weg in die Regierung ebnete, um seine eigene Macht zu stärken, führte letztendlich zu Hun Sens Putsch im Jahr 1997 und zum darauf folgenden Schauprozess gegen Pol Pot, den die Roten Khmer für 348
Globale Apartheid
die westlichen Medien inszenierten. So war es ihnen möglich, sich wieder in den Schatten zurückzuziehen. Wieder waren Prinz Ranariddhs Royalisten ihre Verbündeten. Anstatt in Kambodscha die Voraussetzungen für einen echten Frieden zu schaffen, bewirkte die »erfolgreichste UN-Friedensoperation der Geschichte« nichts weiter, als den Status quo zu untermauern. Den Vereinten Nationen dicht auf den Fersen im Wettstreit um die größten Erfolge dieser Art war George Bush mit seiner »humanitären Intervention« in Somalia während des Wahlkampfs 1992, in dem er sich zum zweiten Mal um das Präsidentenamt bewarb. Damals herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die US-Truppen, wie Bush es ausdrückte, »Gottes Werk« taten und »Tausende von Unschuldigen retteten«. Es war dies die »Operation neue Hoffnung«, die, ebenso wie der Angriff gegen den Irak im Jahr zuvor, mit dem Segen der Vereinten Nationen durchgeführt wurde. Amerikanische Fernsehteams standen bereit, als die US-Truppen im Morgengrauen eines herrlichen Tages auf afrikanischem Boden landeten: Hauptsendezeit daheim. Auf somalischer Seite herrschte ewige Finsternis: »Chaos«, »Stammesfehden« und »Kriegsherren«. Als die amerikanischen Kriegsherren ihr Abenteuer in Somalia zu Ende gebracht und die Medien mit nach Hause genommen hatten, war die Story gestorben, wie es so schön heißt. Zurück blieben 7000 bis 10 000 Tote. Das hatte keinen Nachrichtenwert.82 Henry Kissinger schrieb im Guardian: »In Somalia ging es um hehre Ziele. Tatsächlich waren ausnahmslos alle amerikanischen Kriege dieses Jahrhunderts von moralischen Erwägungen geleitet … Der neue Ansatz [in Somalia] nimmt eine Erweiterung des Moralbegriffs für sich in Anspruch … Die humanitäre Intervention geht von der Prämisse aus, dass moralische und humanitäre Belange so untrennbar zum amerikanischen Leben gehören, dass nicht nur materielle Werte, sondern auch Menschenle349
Die Terroristen ben aufs Spiel gesetzt werden müssen, um sie zu verteidigen; ohne sie würde die amerikanische Realität etwas von ihrem Sinn einbüßen. Keine Nation hat jemals einen solchen gedanklichen Rahmen gesteckt.«83
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DIE WELT AUS DER SICHT VON DIMBAZA
Nichts spricht dafür, das gegenwärtige finanzpolitische Modell, das sich als vorteilhaft für das Land erwiesen hat, zu ändern oder aufzugeben. Chris Stals, Gouverneur der südafrikanischen Zentralbank während des Apartheidregimes, und von der ANC-Regierung im Amt bestätigt
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er Frühling ist noch jung, und die Sonne scheint warm durch die Windschutzscheibe, während draußen der Wind über die trockene Steppe fegt. Die Klimaunterschiede zwischen dem Flachland und den höher gelegenen Teilen des Landes sind dramatisch; es gibt fruchtbare Täler mit Flüssen, die ganzjährig Wasser führen, und nur wenige Kilometer davon entfernt Trokkengebiete, in denen man sich in eine andere Welt versetzt fühlt. Das Ostkap erinnert mich irgendwie an Palästina: landschaftliche Schönheit auf der einen Seite, und wenn man sich umdreht, ein Slum. Unter der unglaublichen Weite des afrikanischen Himmels sieht man die Silhouetten von Frauen, die wie aufgereiht über eine Hügelkuppe ziehen, um Wasser aus einem Brunnen zu holen, an dem auch das Vieh trinkt und seinen Kot hinterlässt. Den Menschen in ländlichen Gebieten bleibt meist nichts anderes übrig, als fast einen Kilometer weit bis zur nächsten Wasserstelle zu laufen. Sie haben oft keine sanitären Anlagen, keinen Strom, kein Telefon und keine Arbeit. Zu Schatten abgemagerte Kinder und 353
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ihre Mütter laufen, in ihr Schicksal ergeben, mit ihren Lasten die Straßen entlang.1 Die Art und Weise, wie man fast eine Million Menschen hierher verfrachtet hat, erinnert an Stalins Verbannung ganzer Völker nach Sibirien und Zentralasien. Im offiziellen Sprachgebrauch waren sie »Überzählige«, für die man »keine Verwendung« hatte, die weder in den Minen und Steinbrüchen noch in den Fabriken ausländischer Unternehmen eingesetzt werden konnten; und Straßenkehrer, Gärtner und Kinderfrauen gab es ohnehin schon mehr als genug. Also wurden die Frauen und Kinder, die Alten, Kranken und Behinderten mit Lastwagen in Gegenden deportiert, in denen es nichts gab; manche wurden einfach in der Wüste ausgesetzt. Diese Bantustans oder »Homelands«, riesige Konzentrationslager weit abseits der Städte, waren das geistige Produkt des in den Niederlanden geborenen Faschisten Hendrik Verwoerd. »Ich war elf Jahre alt«, erzählt Stanley Mbalala, »und gehörte im Winter 1968 zum zweiten Kindertransport. Ein Lastwagen kam mitten in der Nacht, um mich, meine Mutter und meine Brüder abzuholen. Wir mussten unser Haus in der Nähe von Kapstadt verlassen und haben es nie wieder gesehen. Den größten Teil der Fahrt über war es dunkel; ich war in eine dünne Decke gewickelt und kann mich noch heute erinnern, wie kalt es war. Wir wussten nicht, wohin wir gebracht wurden. Die Lastwagen fuhren mit ihrer Ladung zusammengepferchter Menschen in einer langen Kolonne; es war wie ein Viehtransport.« Die beiden »Homelands« am Ostkap waren Transkei und Ciskei. Die »Republik Ciskei« war das ärmere der beiden, aber der Unterschied war nicht wahrnehmbar. Wie alle Konstrukte des Apartheidstaats waren auch diese beiden künstlichen Gebilde absurd und grotesk. Als Hauptstadt von Ciskei wurde Bisho mit einem Kostenaufwand von 60 Millionen Pfund aus dem Boden 354
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gestampft. Mit einem Parlamentsgebäude, einem »Unabhängigkeitsstadion«, Regierungsbüros, einem Präsidentenpalast und einem Spielcasino sollten weiße Besucher von »außerhalb« angelockt werden. Die Regierenden in Pretoria wußten um die Bedeutung einer schwarzen Führungsschicht. »Präsident auf Lebenszeit« in Ciskei war ein Operettendiktator namens Lennox Sebe, bekannt für seinen opportunistischen Hofstaat, seine Spione und seine Marmortreppen. Heute ist die Auffahrt zu seinem Palast mit Unkraut überwuchert, und im Swimmingpool hat sich ein schleimig-grüner Belag gebildet. In einem der Wachtürme hat sich eine obdachlose Familie häuslich eingerichtet; ihre Wäsche hängt zum Trocknen auf dem Elektrozaun. Nicht weit entfernt liegt die Stadt Dimbaza, die symbolhaft für Ciskei und das bitterarme Ostkap steht. Sie wurde 1967 »besiedelt« (in dem Jahr, in dem ich das letzte Mal in Südafrika war; ich erhielt in der Folge Einreiseverbot, weil meine Reportagen als »Staatsbeleidigung« eingestuft wurden). Damals setzte man 70 Familien an einem wasserlosen, windgepeitschten Berghang ab. Stanley erinnert sich an ein Wäldchen, das im ersten Winter zu Brennholz gemacht wurde. Die Menschen lebten in Zelten und in Holzhütten mit Blechdach und Lehmboden. Später erhielten Neuankömmlinge Kästen aus Asbestbeton ohne regelrechte Dächer und Böden, in denen es im Sommer so heiß und im Winter so kalt und feucht war, dass die Jüngsten und die Ältesten darin umkamen. »Wenn es regnete, weichte unser Fußboden auf«, erzählt Stanley. Er gehörte zu einer »Zuwanderungswelle« von 2897 Personen, darunter 2041 Kinder: »Apartheidwaisen«. Ein Regierungsbeamter erklärte die Maßnahmen so: »Wir siedeln [in Dimbaza] Arbeitslose an. Sie konnten im städtischen Umfeld keine produktiven Dienste anbieten. Die Regierung wird die Kinder mit einer sättigenden Mahlzeit am Tag versorgen … «2 Stanley kann sich an keine sättigende Mahlzeit erinnern. »In 355
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der Hütte neben uns lebte eine Frau mit 13 Kindern«, erzählt er. »Sie waren alle unterernährt. Ich bin abends fast immer hungrig eingeschlafen; man gewöhnt sich an das Gefühl, aber irgendwann wird man krank; und die Jüngsten sind daran gestorben.« Bis heute ist Dimbaza das geheime Herz Südafrikas. Schon die äußere Erscheinung fällt aus dem Rahmen. Während sich andere Ortschaften um einen Marktplatz, das Rathaus und Geschäfte gruppieren, befindet sich im Zentrum von Dimbaza ein Kinderfriedhof. In den meisten Gräbern sind Tote bestattet, die noch nicht einmal zwei Jahre alt geworden sind. Es gibt keine Grabsteine. Zwischen Unkraut verstreut liegen Plastikspielsachen und die Scherben zerbrochener Blumenvasen herum; hier sieht man ausgemergelte Kühe grasen. Gelegentlich stolpert man über ein Stück Aluminiumrohr, das aus einem Betonbrocken ragt. Das waren die einzigen Grabsteine, die sich die Leute leisten konnten. In einen dieser Brocken hat jemand geritzt: »Geliebter Jack, sechs Monate alt, schmerzlich vermisst, gestorben am 12. August 1976«, und auf einem anderen steht: »Rosie, Gott segne sie, zehn Monate alt …« Die Kinder waren Opfer der Lebensbedingungen, die an Orten wie Dimbaza herrschten. Sie starben an Tuberkulose, Masern und anderen vermeidbaren Krankheiten, weil ihnen absichtlich und systematisch das Notwendigste zum Leben vorenthalten wurde. In den »Homelands« fanden so Tausende den Tod: viele von ihnen als Folge von Diarrhöe und Unterernährung. So viele waren es, dass in allen verfügbaren Quellen davon die Rede ist, dass die Särge knapp wurden. In seinem Buch The Discarded People, das zum Klassiker wurde, schreibt Cosmas Desmond, dass allein im Jahr 1967 in Transkei 40 000 Kleinkinder verhungerten, in Ciskei dürfte die Zahl noch höher gelegen haben.3 Auf dem Friedhof von Dimbaza sind mindestens 500 Kinder begraben. Genauer: Sie waren es. Von Stanley erfahre ich, dass 356
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1970 zahlreiche kleine Skelette am Fuß des Berghangs auftauchten, nachdem schwere Regenfälle das Erdreich weggeschwemmt hatten. Die Leute sahen es mit Trauer und Entsetzen, und einige bargen das, was sie für die sterblichen Überreste ihrer eigenen Kinder hielten. »Die meisten Familien hatten nicht genug Geld, um sie ordentlich zu begraben«, erzählt Stanley. »Ich weiß nicht, warum man nichts an dem Friedhof gemacht hat; er sollte für uns ein Ort der Erinnerung sein.« Nicht zuletzt, weil als Reaktion auf Cosmas Desmonds Buch und auf eine britische Dokumentation ein Aufschrei um die Welt ging, wurden Dimbaza und einige andere Müllhalden des Apartheidstaats in den 70er Jahren »industrialisiert«. Das heißt, sie wurden zur Quelle billiger, subventionierter Arbeitskräfte für die ausländischen Unternehmen erkoren, deren Kapital die Regierung in Pretoria dringend zur Belebung ihrer krankenden Wirtschaft benötigte. Dass die Briten als Erste da waren, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass sie es waren, die lange vor den Buren die wirtschaftliche Basis für die Apartheid geschaffen haben. Cecil Rhodes schaffte es als Premierminister der Kapkolonie, die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung in Arbeiterreservate zu treiben. Als die südafrikanische Polizei 1960 in Sharpeville 69 schwarze Demonstranten erschoss, war sie mit britischen Waffen ausgerüstet. Das Massaker signalisierte der britischen Wirtschaft unmissverständlich, dass die südafrikanische Bevölkerung in Zaum gehalten und jegliche Opposition zerschlagen werden würde. Folgerichtig strömte Kapital ins Land, und die Investitionssumme verdoppelte sich bis 1970. »Sämtliche wichtigen Industriezweige Großbritanniens«, schreibt der Südafrikaspezialist Geoff Berridge, »waren mit substanziellen Beiträgen an den Investitionen beteiligt.«4 Während der Apartheidstaat seinen Terror auf den größten Teil des afrikanischen Südens ausweitete, entwickelte sich Groß357
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britannien zum größten Investor, gefolgt von den Amerikanern, die eine Kapitalrendite von 17 Prozent, mehr als irgendwo sonst auf der Welt, erzielten. Im Jahr 1975, als das südafrikanische Militär gegen Angola in einen Krieg zog, der mehr als eine halbe Million Menschen das Leben kosten sollte, erhielt der Apartheidstaat mehr Gelder aus Mitteln des Internationalen Währungsfonds als der gesamte restliche Kontinent.5 Zweiundzwanzig »Unternehmen« siedelten sich in Dimbaza an, und im offiziellen Sprachgebrauch war nun nicht mehr von »Überzähligen« die Rede, für die es »keine Verwendung« gab; das ländliche Konzentrationslager wurde zum »Paradebeispiel der Investitionsmöglichkeiten«. In die neuen, aus Fertigteilen hochgezogenen Fabriken, die wie eine gigantische Zuschauertribüne auf den Kinderfriedhof hinunterblickten, zogen taiwanesische und israelische Firmen ein. Die Arbeiter in diesen Fabriken verdienten gerade genug, um ihre Familien am Leben zu erhalten. Die Bevölkerung wuchs; Geschäfte und eine Post wurden gebaut, schließlich sogar eine Schule. Hier standen die Menschen im April 1994 Schlange, um die erste schwarze Mehrheitsregierung Südafrikas zu wählen. »Endlich«, erklärte Nelson Mandela, »sehen die Menschen die Erfüllung ihrer Hoffnungen und Träume greifbar vor sich.« Heute gehört das Ostkap zu den Regionen der Welt, in denen nach offizieller Lesart »absolute Armut« herrscht. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat kein vernünftiges Dach über dem Kopf. Lehrer und Angestellte des öffentlichen Dienstes warten oft Monate lang auf ihr Gehalt, vor den Ämtern stehen die Alten für eine Rente an, die niemals kommt. In den weißen Enklaven der Städte findet der eine oder andere gelegentlich Arbeit, während sich den meisten keine erkennbare Gelegenheit bietet, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mittlerweile haben die meisten Fabriken in Dimbaza ihre Tore 358
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geschlossen, und die Arbeitslosenquote liegt bei 70 Prozent oder höher. Stanley Mbalala, der Überlebenskünstler, hat seinen Job vor einem Jahr verloren. Er führt mich durch die verlassenen Straßen und zeigt mir die Fabriken, die bis auf einen Wachmann menschenleer sind. Von ihm erfahre ich das Muster, nach dem eine Fabrik nach der anderen dicht gemacht hat, um dann den Betrieb in Butterworth wieder aufzunehmen, einer Stadt, die so arm ist, dass ihre Bewohner das Metall von Schrottautos in kleinen Kohlebecken einschmelzen, um zu überleben. In der Abenddämmerung sieht es hier aus wie in Dantes Inferno. »Auf diese Art«, erklärt Stanley, »drücken die ausländischen Firmen die Löhne in beiden Orten. Die Arbeiter können sich glücklich schätzen, wenn sie 200 Rand [ungefähr 45 Euro] im Monat verdienen.« Eine dieser Firmen, T.W. Garments, ist in malaysischer Hand und ein Musterbeispiel der Globalisierung. In der Fabrik werden T-Shirts und andere Freizeitkleidung für die Designermarken Gap, Fila und Daniel Hechter hergestellt. Die Lage des Gebäudes hat etwas Symbolisches. Es grenzt direkt an den Kinderfriedhof, der daran erinnert, welchen Preis die schwächsten Mitglieder der südafrikanischen Gesellschaft auf der langen Reise in das »neue« globalisierte Südafrika bezahlt haben. Um den Friedhof herum zieht sich ein schmaler brauner Grasstreifen, auf dem Menschen sitzen, die darauf hoffen, für ein paar Stunden Arbeit zu bekommen. *** In der St. David's Road 50 in Upper Houghton glänzt der gepflegte Rasen dagegen üppig grün im Sprühnebel der Sprinkleranlage. Houghton ist der reichste Vorort von Johannesburg und eines der reichsten Stadtviertel der Welt. Die Häuser sind Festungen hinter Mauern mit Stacheldraht, an denen Piktogramme 359
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von Hunden mit gefletschten Zähnen prangen und Schilder mit der Aufschrift: »Sie wurden gewarnt: 24 Stunden schussbereit.« Die einzigen Personen auf der Straße gehören zur unsichtbaren Bevölkerung; es sind schwarze Haus-angestellte auf dem Weg von oder zu ihren Behausungen in einer anderen Welt. Oberhalb der Häuser liegt die St. John's School, eine Privatschule nach britischem Vorbild; hinter einem hohen Zaun spielen ein paar Jungen Rugby. In der St. David's Road herrschte an dem Abend, als ich dort war, Hochbetrieb. Von Chauffeuren gesteuerte Mercedes- und BMW-Limousinen fuhren vor der Nummer 50 vor, wo eine größere Gartenparty im Gang war. Die Gäste, vorwiegend wohlhabend aussehende Geschäftsmänner, waren unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Sie kannten sich offensichtlich untereinander, und die alten Rassenunterschiede wurden mit gehemmter Jovialität überspielt. Eingeladen hatte eine Organisation namens BusinessMap, die ihrer Broschüre zufolge »Beratungen zur … ökonomischen Besserstellung der Schwarzen« anbietet und ein »Forum für die Globalisierung der südafrikanischen Wirtschaft« bilden will. Der Ehrengast war Cyril Ramaphosa, ein bekannter schwarzer Geschäftsmann, der Mitte der 80er Jahre Generalsekretär der Minenarbeitergewerkschaft war und die zähen Verhandlungen des ANC mit der De-Klerk-Regierung geführt hatte. Es war im Wesentlichen seinen Bemühungen zu verdanken, dass es zu den Wahlen und zu dem »historischen Kompromiss« gekommen war, der einer weißen Unternehmerelite den Erhalt der wirtschaftlichen Macht sicherte. Fünf Gesellschaften, angeführt von der weit verzweigten Anglo-American Corporation, hielten damals drei Viertel des an der Johannesburger Börse notierten Aktienkapitals, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Geändert hat sich nur insofern etwas, als ein paar wenige 360
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Schwarze in die exklusive Freimaurerloge aufgenommen wurden – eine Entwicklung, die schon in den »reformerischen« Jahren der Apartheidregierung eingeleitet worden war. Sie lief darauf hinaus, dass sich ausländische und südafrikanische Konzerne einen Vorzeigeschwarzen suchten, mit dessen Hilfe sie sich Zugang zur neuen politischen Führung verschafften. Bei einer Ausschreibung oder einer angekündigten Übernahme ist es oft ein schwarzer Manager, der scheinbar die Verhandlungen führt. »Es ist beeindruckend zu sehen, dass mittlerweile 18 Firmen, deren Inhaber Schwarze sind, [an der Johannesburger Börse] notiert sind«, schrieb eine Wirtschaftsjournalistin in der Cape Times. »Das bedeutet aber nicht, dass auch die Mehrheit der stimmberechtigten Aktien in den Händen von Schwarzen sind.«6 So sieht die »ökonomische Besserstellung der Schwarzen« aus, deren Verkörperung Cyril Ramaphosa ist. Er gehört zum Vorstand mehrerer führender Unternehmen und ist ein enger Vertrauter des Präsidenten Thabo Mbeki. Beide haben Margaret Thatcher mit ihrem »Engagement für die freie Marktwirtschaft« beeindruckt. Ramaphosa, der ehemalige Gewerkschaftsführer, dessen Kampf gegen die Apartheid Thatcher mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln hintertrieben hat, preist heute die »Integrität und Menschlichkeit« von Geschäftspartnern, die wie die frühere britische Regierungschefin gegen alles opponiert haben, was ihm einmal wichtig war. Was ihm jetzt am Herzen liegt, ist die Notwendigkeit, »fruchtbare Beziehungen aufzubauen und eine Situation zu schaffen, von der beide Seiten profitieren«.7 Als Erstes erklärte Ramaphosa, passend zu seiner wundersamen Wandlung vom Gewerkschaftsführer zum millionenschweren Geschäftsmann, die »ökonomische Besserstellung der Schwarzen« zur Philosophie des »neuen« Südafrika. Die Mehrheit der Bevölkerung werde durch den Sickereffekt profitieren, wenn schwarze Aktiengesellschaften reich würden, lautete die 361
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Botschaft, die sich im Wesentlichen mit dem deckte, was Thatcher sagte. Im Jahr 1997 musste Ramaphosa dann einräumen, dass »alle Geschäfte letztendlich kaum etwas zur Besserstellung beigetragen haben«. Heute spricht er, wie auch seine früheren ANC-Kollegen, die mittlerweile ihre eigene »Besserstellung« in den Vorstandsetagen anstreben, lieber von der »ökonomischen Entwicklung der Schwarzen«.8 An der Oberfläche hat sich in Südafrika tatsächlich vieles verändert. So müssen etwa Rassisten aufpassen, was sie sagen. An dem Tag, an dem ich in Johannesburg ankam, stand der in Südafrika lebende britische Geschäftsmann David Cox vor Gericht, weil der den Gewerkschaftsführer Sam Shilowa in einem anonymen Fax als »Kaffer, Arschloch und Abschaum« bezeichnet hatte. Er erhielt eine Geldstrafe und einen Verweis: ein normaler Akt der Rechtsprechung in einem zivilisierten Land, aber doch vor kurzer Zeit in Südafrika noch undenkbar.9 Die Schwarzen haben ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Die Weißen, die der Apartheid kritisch gegenüberstanden, sind aufrichtig dankbar, dass sich die Veränderungen friedlich vollzogen haben, während sich vermutlich die weiße Mehrheit »nach wie vor dem kollektiven Wahn hingibt, es sei genug damit getan, dass sie eine Mehrheitsregierung ›zugelassen‹ haben«.10 Sie geben sich bemüht höflich gegenüber der Bevölkerungsmehrheit, wenn beide Gruppen in der Öffentlichkeit aufeinander treffen. (Das gilt nicht für die jungen Leute, die keine Erinnerung an alte Zeiten haben.) Gelegentlich versucht ein Weißer, sich in einer Warteschlange vor die Schwarzen zu drängen, aber im Allgemeinen zeigen sie ihr Missfallen an der neuen Ordnung nicht. Die Klügeren unter ihnen haben die Situation abgewogen und erkannt, dass nicht die Schwarzen, sondern sie selbst die eigentlichen Nutznießer des »Mandela-Faktors« sind. Sie können nun, da sie nicht mehr international geächtet sind, überall in der Welt 362
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umher reisen, an großen Sportereignissen teilnehmen und Geschäfte machen, wo immer es ihnen gefällt. Der erste schwarze Präsident und seine Partei haben nicht an ihre Privilegien gerührt, und so leben die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit unter dem Deckmantel der politischen »Versöhnung« fort. Über die »Kriminalität« wird gern und häufig geklagt, wobei »Kriminalität« für das Überschreiten der alten Grenzen zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß durch arbeitslose Schwarze steht. Das Problem nutzt denen, die heute wie zu Zeiten der Apartheid in der Wirtschaft des Landes das Sagen haben, denn es hält die schwarze Regierung dazu an, die ob der Aussichtslosigkeit ihrer Lage zunehmend frustrierte Bevölkerung in ihre Schranken zu weisen. Tatsächlich gehört es zu den eindrucksvollsten Leistungen der ANC-Regierung, dass sie die Schwarzen davon abbringen konnte, gegen das Fortbestehen der sozialen Ungerechtigkeiten aus der Zeit der Apartheid zu demonstrieren. Seit Südafrika eine Demokratie ist, sind die Ausgaben des Staats für Polizeiapparat und Gefängnisse um ein Viertel gestiegen, und das in einem Land, das auch vorher schon über eines der weltweit umfangreichsten Systeme zur Überwachung der inneren Sicherheit verfügte. Seit 1995 hat sich die Zahl der Todesfälle im Polizeigewahrsam verdoppelt.11 Hinter der oftmals theatralischen Fassade der »Versöhnung« zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, der großzügigen Absolution durch Desmond Tutu und der Idealisierung Nelson Mandelas verschwanden die Hoffnungen und Ziele nicht nur der Menschen in Dimbaza, sondern all jener, die mit ihrer couragierten Menschlichkeit die Veränderungen herbeigeführt und die Apartheid in die Knie gezwungen haben. Der ANC hat sich vom Umbau- und Entwicklungsprogramm (RDP), das bescheidene Reformen im Wohnungsbau und in der Arbeitspolitik sowie die Umverteilung von Landbesitz vorsah, still und leise verabschie363
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det. Wenn die schöne liberale Verfassung des Landes beschworen wird, kommt selten zur Sprache, dass sie den weißen Grundbesitzern weiterhin die Eigentumsrechte garantiert, die im Landgesetz von 1913 festgeschrieben sind, dem perfiden Gesetzeswerk, das mehr als alles andere die Voraussetzungen für die Entstehung einer versklavten Arbeiterklasse schuf und das Apartheidsystem de facto begründete. Das heißt, dass auch heute 85 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche von weißen Farmern bewirtschaftet wird. Als ich mich in Kapstadt mit Präsident Mandela unterhielt, sprach ich ihn auf das Thema an. »Wir haben etwas Revolutionäres getan«, erklärte er, »und haben dafür überhaupt keine Anerkennung erhalten. In keinem Land der Welt genießen Landarbeiter eine so große Sicherheit wie bei uns …, keiner kann von seinem Arbeitgeber einfach entlassen werden.« Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich habe mit einer Reihe von Landarbeitern gesprochen, denen willkürlich gekündigt worden war, als hätte sich nichts geändert. Von freiwilligen Hilfsorganisationen wie dem Border Relief Committee erfährt man, dass die meisten Kündigungen nicht gemeldet werden. Einer Quelle zufolge sind sie sogar noch häufiger geworden als zu Zeiten der Apartheid.12 Ich habe am Ostkap einen weißen Farmer interviewt, der kurz zuvor fünf seiner Arbeiter samt Familien hinausgeworfen hatte. Einer der Männer hatte 30 Jahre für die Familie des Farmers gearbeitet und zuletzt umgerechnet 45 Euro im Monat verdient. »Im Grunde ist es heute einfacher, [Leute zu entlassen]«, erklärte der Farmer. »Wenn man einen guten Anwalt hat, bekommt man normalerweise keine Probleme.« Was sich für die schwarze Mehrheit wirklich radikal verändert hat, ist das Gesundheitswesen. In den ländlichen Gebieten, die vorher ohne ärztliche Versorgung waren, wurden Krankenhäuser gebaut, in denen junge Ärzte nach Abschluss ihres Studi364
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ums ein Pflichtjahr absolvieren müssen. Es gibt kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere und Kinder unter sechs Jahren; und die Gesundheitsministerin Nkosazana Zuma hat den multinationalen Pharmakonzernen kämpferisch die Stirn geboten, um die Preise für Arzneimittel so zu senken, daß auch einfache Leute sie sich leisten können. 1996 wurden auf ihr Betreiben hin Abtreibungen legalisiert, und in den ersten sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes waren es bereits 45 000 Frauen, denen es erspart blieb, wie in der Zeit der Apartheid unter den Händen irgendeines Hinterhofpfuschers ihr Leben aufs Spiel zu setzen und ihre Würde zu opfern. In einer Gesellschaft, in der es um den Gesundheitszustand von 87 Prozent aller Kinder schlecht bestellt ist, kann dies nur ein Anfang sein. Leider gibt es in der Regierung nur wenige, die wie Nkosazana Zuma das Offensichtliche beim Namen nennen: dass sich ohne den politischen Willen zur Umverteilung der Ressourcen eines reichen Landes nichts verändern wird. »Eine humane Gesellschaft«, sagte sie, »entsteht nicht durch ein Wunder.« In den »Townships«, wie die schwarzen »Satellitensiedlungen« heißen, aus denen die weiße Stadtbevölkerung ihre Arbeitskräfte rekrutiert, hat sich das Leben nicht wesentlich verändert. Von den Millionen Häusern, die der ANC bei seinem Regierungsantritt versprochen hat, wurde nur ein Bruchteil gebaut. Die 15 000 Rand (etwa 2800 Euro), die die Regierung als Zuschuss gewährt, reichen gerade für einen Raum, eine Toilette und ein Wellblechdach, aber die Kosten für die Außenwände sind damit nicht gedeckt. In Ivory Park bei Johannesburg nennt man diese Behausungen »Hundehütten«. Im Zeichen der »freien Marktwirtschaft« erhalten die meisten Menschen, die dringend ein Dach über dem Kopf brauchen, keinen Kredit von der Bank. Sie könnten zudem die Zinsen von 2 5 Prozent gar nicht aufbringen. 365
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Die Regierung nimmt für sich in Anspruch, mehr als eine Million Menschen an die Wasserversorgung angeschlossen zu haben, und sie rechnet sich dies zu Recht als Verdienst an. Solange es jedoch kein vernünftiges und finanziell gesichertes Umbauprogramm gibt, kann sich die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung glücklich schätzen, wenn sie einen Wasserhahn in erreichbarer Nähe findet – während es Weiße gibt, die 1500 Liter Wasser pro Tag für die Pflege ihrer Gärten und ihrer Swimmingpools verbrauchen. Und nun soll zu allem Übel die Wasserversorgung unter der Federführung des multinationalen britischen Konzerns Biwater, in dessen Vorstand Maggie Thatcher sitzt, auch noch privatisiert werden. Das ist nicht das, was der ANC seinen Anhängern versprochen hat. Als sich Nelson Mandela 1994 an eine erwartungsvolle Menschenmenge wandte, rief er nicht aus, was er mir später anvertraute: »Sie können natürlich sagen, wir betreiben hier eine Politik des Thatcherismus, aber die Regierung dieses Landes baut nun einmal auf die Privatisierung.« Er sprach damals auch nicht wie der konservative Wirtschaftsexperte, der er zu sein schien, als er in meiner Gegenwart statistische Angaben zur Inflationsrate, zum Staatsdefizit und zum »Wachstum« herunterbetete, während er sich zum Verlust von jährlich 100 000 Arbeitsplätzen seit seiner Regierungsübernahme und zum Stellenabbau im dringend benötigten staatlichen Dienstleistungssystem beharrlich ausschwieg.13 Und auch davon, dass die »Besserstellung der Schwarzen« und die »Konsenspolitik« die Kluft zwischen Arm und Reich in ihrem Land noch vergrößern würde, sagte er den Leuten damals nichts. In seiner Abschiedsrede vor dem ANC-Kongress im Dezember 1997 machte Mandela vage Anspielungen auf die »Feinde der Veränderung«, ohne diejenigen in seiner eigenen Regierungsmannschaft zu benennen. »Wir mussten beträchtliche Kompromisse schließen, um den 366
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Regierungswechsel mit friedlichen Mitteln zu erreichen«, erklärte mir Mandelas Amtsnachfolger Thabo Mbeki in einem persönlichen Gespräch. Allerdings konnten nur wenige Südafrikaner den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung überprüfen, weil kaum jemand erfuhr, was da in ihrem Namen ausgehandelt wurde. Der folgenreichste »historische Kompromiss« wurde nicht mit dem Apartheidregime geschlossen, sondern mit dem westlichen und dem weißen südafrikanischen Kapital, das von Pieter W. Botha zu Nelson Mandela umschwenkte und an diesen Kurswechsel ein paar Forderungen knüpfte: Die »Belebung« der südafrikanischen Wirtschaft durch multinationale Konzerne dürfe nicht behindert werden, und der ANC solle doch bitte schön die Sache mit der Gleichberechtigung und den Bodenschätzen des Landes, die »allen gehören«, aus ihrer Friedenscharta streichen. Ramaphosa, Mandela und Mbeki ließen sich also auf Spielregeln ein, die eine steuerfreie Rückführung von Dividenden und Gewinnen möglich machten, und sie bestätigten in diesem Sinne den überzeugten Monetaristen Chris Stals in seinem Amt als Chef der südafrikanischen Zentralbank, das ihn wie schon zu Apartheidzeiten zum wichtigsten Entscheidungsträger der Wirtschaftspolitik des Landes machte. Angesichts einer so strengen Orthodoxie könnte man meinen, der ANC habe das Erbe des konservativen Flügels der Buren, der Verkramptes (»Verkrampften«), angetreten. An den lukrativen Möglichkeiten des Landes zweifelte jedenfalls niemand. Seit das Verbot des ANC aufgehoben und Nelson Mandela aus der Haft entlassen wurde, hat sich das Investitionskapital, das aus dem Ausland, vor allem aus den Vereinigten Staaten, nach Südafrika fließt, auf 11,7 Milliarden Dollar verdreifacht.14 In seiner Eigenschaft als Handelsminister der USA rührte William Daley eifrig die Werbetrommel für Investitionen im Staat Südafrika, den er 1997 als den »Ausgangspunkt für die Er367
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schließung der anderen afrikanischen Märkte« bezeichnete.15 Was jedoch als Investitionen beschönigt wurde, waren in Wirklichkeit Hamsterkäufe, wie man sie aus den Ländern der Dritten Welt mittlerweile kennt. Ein Drittel der Anteile an der staatlichen Telefongesellschaft Telkom, um die sich zuvor sieben multinationale Konzerne gestritten hatten, ging an das in Texas ansässige Unternehmen SBC Communications. Ausländische Gesellschaften, die unter Missachtung internationaler Sanktionen Geschäfte mit dem Apartheidregime gemacht hatten – Coca-Cola beispielsweise oder Siemens und Mercedes-Benz (als Lieferant für Militärfahrzeuge) –, hatten jetzt gute Karten, während Firmen wie Volvo, die sich an das Embargo gehalten hatten, ihre Marktstellung verloren. »Wir hoffen ein Wirtschaftsklima zu schaffen«, wie der südafrikanische Finanzminister Trevor Manuel zu sagen beliebte, »das Gewinner hervorbringt.«16 *** Südafrika steht heute beispielhaft für den Daseinskampf der Menschen, der in diesem Buch beschrieben wird. Auf dem Kontinent, der die Ärmsten der Welt beherbergt, ist der lange Marsch aus der Sklaverei noch nicht beendet. Mehr als 600 Millionen Menschen sind unterernährt und leben ohne medizinische Grundversorgung und ohne Bildungschancen, weil das Geld, das dafür zur Verfügung stehen sollte, verwendet wird, um für die Zinsen der Verschuldung bei westlichen Geldinstituten aufzukommen.17 Es ist, wie der Autor und überzeugte Anarchist Colin Ward schreibt, »keine Tragödie sui generis, sondern die Folge einer globalen Logik, der sich kein Land der Welt entziehen kann. Es ist die Logik des Kapitalismus, die alle Bande zwischen den Menschen zerreißt.«18 Bei meiner Rückkehr nach Südafrika stellte ich zu meiner Freude und Überraschung fest, dass die Apartheid diese Bande 368
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nicht zerrissen hat: dass selbst in Dimbaza, wo das soziale Gefüge gezielt zerstört wurde, die afrikanische Zivilisation im Sinne von ubuntu überlebt hat – jener humanen Geisteshaltung, die sich in der spezifisch afrikanischen Überzeugung ausdrückt, dass der Mensch erst durch andere Menschen zum Menschen wird. Trotz aller Unzulänglich- und Brüchigkeiten scheint doch diese Haltung vorerst unverwüstlich zu sein. Wer nach einem hoffnungsvollen Zeichen für den Lebensmut der Menschen sucht, braucht seinen Blick nur auf das schwarze Südafrika zu richten. »Wie wunderbar sie aus ihrem Albtraum aufgetaucht sind«, sagte Martha Gellhorn, als wir uns nach ihrem ersten Besuch in Südafrika unterhielten, und sie hat Recht. So lange als Untermenschen behandelt, haben sie sich doch eine Großzügigkeit des Herzens und des Geistes, eine selbstverständliche Würde und Gewandtheit bewahrt, an die ihre Unterdrücker nie heranreichen werden. Diese Eigenschaften werden manchmal mit Passivität verwechselt. Ende der 80er Jahre stand Südafrika an der Schwelle zur Revolution. Kurz vor Ostern 1993, am Tag nach der Ermordung von Chris Hani, der das Gewissen der Befreiungsbewegung gewesen war, gingen etwa zwei Millionen Menschen auf die Straße, um ihrem Zorn Ausdruck zu geben, und ein Generalstreik brachte die Industrieproduktion weitgehend zum Erliegen. Diese Menschen fangen – ähnlich wie die britischen Chartisten vor 150 Jahren – allmählich an, sich zu fragen, was ihnen das Wahlrecht nützt, wenn sich an ihrem Leben nichts verändert. Sie fragen sich, ob die Arbeiter der Goldminen vielleicht dafür gestimmt haben, ihr Leben weiterhin für einen Hungerlohn zu riskieren, oder ob Frauen etwa dafür gestimmt haben, in »Hundehütten« zu wohnen, während sie in Herrenhäusern dienen. Sie fragen sich, ob Südafrika 1994 wirklich nur deshalb in einen solchen Freudentaumel verfallen ist, um sich später nahtlos in ein 369
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von außen aufgezwungenes Wirtschaftssystem einzufügen. Viele weigern sich, für eine Wasser- und Stromversorgung zu bezahlen, die nur sporadisch oder gar nicht funktioniert und ohnehin zu teuer für sie ist. Wieder geht ein von Weißen dominierter, fast militärisch organisierter Polizeiapparat gegen sie vor, und wie schon in der Vergangenheit festigt das nur ihren Widerstand. Wenn man der Apartheid überhaupt einen positiven Aspekt abgewinnen kann, dann ist es sicher die Tatsache, dass die Bevölkerung in keinem anderen Land politisch so wach und aktiv ist wie hier; und in dem neu erwachten Bewusstsein und der Kampfbereitschaft dieser Menschen, vor allem der Jugend, ruht die Hoffnung Südafrikas. Nelson Mandela hat 1993, vor seiner Wahl zum Präsidenten, gesagt: »Wie oft haben die Freiheitsbewegungen Seite an Seite mit dem Volk gekämpft und es dann doch im Augenblick des Sieges betrogen? Die Welt kennt hierfür viele Beispiele. Wenn die Menschen nicht mehr wachsam sind, werden sie feststellen, dass ihre Opfer vergebens waren. Wenn der ANC seine Versprechen nicht hält, müssen die Leute das mit ihm machen, was der ANC mit dem Apartheidregime gemacht hat.«19 Für das »wirtschaftliche Wachstum«, das Nelson Mandela jetzt beschwört, hat Joseph Schumpeter, der Doyen der HarvardÖkonomen, einst den Begriff der »kreativen Zerstörung« geprägt. Als der Konzernriese General Electric in den Vereinigten Staaten Dutzende von Fabriken stilllegte und Zigtausende von Mitarbeitern entließ, verzeichnete das Unternehmen ein nie dagewesenes »Wachstum«. »Wir werden«, so sagte damals der Vorstandsvorsitzende Jack Welch, »in allen wichtigen Märkten radikale darwinistische Verdrängungsprozesse erleben, und es wird keine Trostpreise für die Firmen und Länder auf der Verliererseite geben.«20 Es hat sich herausgestellt, dass die Musterschüler der Globali370
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sierung, die Tigerstaaten Asiens, auf einem Nährboden von Schulden und Korruption gewachsen sind. Ihre »radikale darwinistische Verdrängung« ist bereits im Gange. Wir anderen, vor allem diejenigen, denen die Kraft der Erinnerung gegeben ist, sollten uns vor Augen führen, was uns die Weimarer Republik lehrt. Waren die kapitalistischen Umwälzungen und der Aufstieg des Faschismus das weltbewegende Thema der 30er Jahre, so könnte die Weltwirtschaftskrise das Problem sein, das die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts beherrscht. Während Arbeitskraft immer billiger oder ganz und gar überflüssig wird; während Sozialgesetze außer Kraft gesetzt und ganze Staaten in eine einzige große Plantage, eine einzige große Minenstadt, eine einzige große »Freihandelszone« verwandelt und ihrer Rechte, ihrer Selbstbestimmung und ihrer Reichtümer beraubt werden; während der technische Fortschritt das Arbeitstempo verschärft und Arbeitskräfte entbehrlich macht und so die Klassenunterschiede vertieft, anstatt sie aus der Welt zu schaffen; während die Glaubenswächter dieses Systems die »freie Meinungsäußerung« zu mystischem Gefasel degradieren, erreichen uns plötzlich warnende Worte aus dem inneren Zirkel der neuen Ordnung selbst. »Hütet euch vor dem Donnergrollen da draußen«, mahnt der Chef der US-Zentralbank. »Die Leute leiden unter einer gefährlichen Globophobie«, diagnostiziert ein führender New Yorker Aktienhändler. »Die Weltwirtschaft hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges so dramatisch verändert«, schreibt der bekannte US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler David Hale, »dass sich ein neues politisches Phänomen bemerkbar macht. … Wähler betrachten Handelsfragen heute unter dem Aspekt des Klassenkampfs im eigenen Land«.21 In seinem Buch Has Gobalisation Gone Too Far schreibt der ebenfalls in Harvard lehrende Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik: »Die internationale Verflech371
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tung der Märkte für Güter, Dienstleistungen und Kapital zwingt Gesellschaften, ihre gewohnten Lebensweisen so grundlegend zu ändern, dass weite Teile dieser Gesellschaften bereit sind, den Kampf dagegen aufzunehmen.«22 Der Kampf hat gerade erst begonnen.
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Angaben aus dem Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen, zitiert nach The Guardian, 22. Oktober 2001 Kiko Adatta, Picture Perfect, zitiert nach Sharon Bender in: Global Spin: The Corporate Assault an Environmentalism, Green Books, Dartington 1997, S. 208 Third World and Environmental Broadcasting Project, Watching the World (c/o UNICEF), London 1997 Independent, 1. März 1991 Food and Agricultural Organisation (FAO) der Vereinten Nationen, Evaluation of the Food and Nutrition Situation in lraq, Rom 1995 UNICEF, State of the World's Children, London 1989, S. 1 Sydney Morning Herald, 29. Dezember 2001 The Guardian, 21. September 2001 Independent, 1. November 1998; David Holmes und Norm Dixon, Behind the US War in Afghanistan, Resistance Books, Sydney 2001, S. 47-52 John K. Cooley, Unholy Wars: Afghanistan, America and International Terrorism, Pluto Press, London 2001 Observer, 27. Oktober 2002 Interview mit dem Autor, New York, Dezember 1999 Unites States Space Command, Vision for 2020, Planungsdirektorium, Petersen Air Base, Colorado Springs; www.spacecom.af .mil/usspace. George Orwell, »The Prevention of Literature«, in: Essays, Penguin Books, London 1994, S. 336 Vandana Shiva in: Resurgence, Nr. 12 375
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Lou Dematteis (Hrsg.), Nicaragua: A Decade of Revolution, New York 1991, zitiert nach: New Statesman and Society, 11. Oktober 1991
Das große Spiel 1 2 3 4 5 6
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Independent on Sunday, 10. Februar 1991 Press Association, 2. November 2001 BBC News, 19. November 2001 Independent, 19. November 2001 The Guardian, 29. November 2001 Independent, 19. September 2001; Financial Times, 20. September 2001; Daily Telegraph, 3. und 4. Oktober 2001; The Times, 8. Oktober 2001 Human Rights Watch, New York, 6. Oktober 2001 »The worst is yet to come«, Socialist Review, November 2002 Sydney Morning Herald, 11. Februar 2002 The Guardian, 15. November 2001 BBC World Service, 18. und 22. September 2001 Zitiert nach Rock River Times, Rockford, Illinois, 31. Oktober-6. November 2001 John Rees, »Imperialism: Globalisation, the State and War«, in: International Socialist Journal, Nr. 93, S. 13 US News and World Report, 29. September 1997 International Herald Tribüne, 9. November 1998 Daily Telegraph, 11. Oktober 1996 Zitiert nach Lance Selfa, International Socialist Review, Nr. 20, Nov./Dezember 2001 The Guardian, 23. Oktober 2001 Ebd. Zitiert nach Rock River Times, 24.-30. Oktober 2001 Wall Street Journal und Judicial Watch: www.aztlan.net/judwatch.htm
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The Guardian, 5. November 2001 Frank Furedi, The New Ideology of Imperialism, Pluto Press, London 1994, S. 44 Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives, HarperCollins, New York 1997, S. xiii (deutsch: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Quadriga, Berlin 1997) Ebd., S. 53 Ebd., S. 73 Ebd., S. 40 New York Times, 19. Oktober 2001 The Guardian, 3. Juni 2002 www.unansweredquestions.net/timeline/2001/bakerreport0401.html George Monbiot, »Why Blair is an appeaser«, in: The Guardian, 5. November 2002 Zitiert nach New Statesman, 22. Dezember 2000-3. Januar 2001 New Statesman, 22. Oktober 2001 Boris Kagarlitsky, »Facing the Crisis«, in Links, Nr. 19, SeptemberDezember 2001 New Statesman, 26. November 2001 Rees, »Imperialism, Globalisation, the State and War«, in International Socialism, S.23 f. (siehe Anm. 13) Weltbank, World Development Indicators, April 2001 (siehewww.developmentgoals.org) Jeremy Rifkin, The End of Work: The Decline of the Global Labour Force and the Dawn of the Post-Market Era, Tarcher/Putnam, New York 1995 (dt. Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Fischer, Frankfurt/M. 2001), S. 205 ff. Zitiert nach Waiden Bello, Shea Cunningham und Bill Rau, Dark Victory: The United States, Structural Adjustment and Global Poverty, Pluto Press, London 1994, S. 51; United Nations Development Programm, Human Development Report 1996, Oxford Universtity Press, Oxford, S. 19 Michael McKinley, Triage, a Survey of the »New Inequality« As Combat Zone, Vortrag auf der 42. Jahreskonferenz der Internationalen Stud377
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ies Association, Chicago, Februar 2001 New York Times, 3. September 1995 Green Left Weekly, 17. Oktober 2001 Aus einem im November 2001 geführten Gespräch mit dem Autor George Monbiot, The Guardian, 6. November 2001 Siehe Pressemitteilungen des britischen Ministeriums für Entwicklungshilfe vom 11. Dezember 2000; 19. März 2001 und 7. November 2001 Christian Aid, Trading in White Gold: who decides Ghanas waterpolicy?, London, Oktober 2001 Unites States Space Command, Vision for 2020, Planungsdirektorium, Petersen Air Base, Colorado Springs. Dank an Karl Grossmann für seine gründlichen Recherchen. Mittlerweile sind drei weitere Kriege hinzugekommen, an denen die USA beteiligt waren oder die sie herbeiführten: die Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien, der Überfall auf Afghanistan im Oktober 2001 und der auf den Irak im März 2 00 3. Aus einem persönlichen Gespräch mit dem Autor Time, 28. Dezember 1992 »CIA-Beamte räumen inoffiziell ein, dass US-Soldaten zwischen 7000 und 10 000 Somalier getötet haben könnten.« Zitiert nach Noam Chomsky, Z magazine, Sommer 1995 The Guardian, 15. November 2001 BBC Shortwave Broadcasts Summary, Juni 2000 The Guardian, 26. Oktober 2001 BBC-Berichterstattung über den Golfkrieg, 18. Januar 1991 International Herald Tribune, 23./24. Februar 1991; New York Times, 15. Januar 1991 Newsday, 12. September 1991 BBC, The Late Show, 6. Juni 1991 Ramsey Clark, The Tire This Time: Us War Crimes in the Gulf, Thunder's Mouth Press, New York 1992, S. 42 New York Times, 26. Januar 1992 Wall Street Journal, 22. März 1991 Ian Lee, Continuing Health Cost of the Gulf War, Medical Education
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Trust, London 1991 The Times und Le Nouvel Observateur, 3. März 1991 Clark, The Fire This Time, S.110 Observer, 28. Oktober 2001 John Pilger, Hidden Agendas, Vintage, London 1998, S. 115-52 Breakfast with Frost, BBC Fernsehen, 30. September 2001 Neil Mackay, »UK sells chemical weapons to the world«, Sunday Herald, Glasgow, 9. Juni 2002 The Guardian, 27. Oktober 2001; Gespräche des Autors mit Firmenvertretern im Hauptsitz der Firma, Bethesda, Maryland, November 2001 Guardian Weekly, 20.-26. Dezember 2001 BBC Radio 4, 6. November 2001 Richard Falk, »The Terrorist Foundations of Recent US Policy«, in: Western State Terrorism, Macmillan, London 1998, zitiert nach Noam Chomsky in: Alexander George, (Hrsg.), Western State Terrorism, Polity Press, Cambridge 1991, S. 12 New York Times, 22. September 1998; Associated Press, 20. September 2001 Associated Press, 16. Juli 1997, zitiert nach William Blum in: Rogue State, Zed Books, London 2001, S. 80 Ebd. Ebd., S. 80f. Ebd., S. 81 George Monbiot in: The Guardian, 30. Oktober 2001 Ebd. Robert Cooper, zitiert nach Tariq Ali in »Our Heroes«, New Left Review, September/Oktober 2000 The Guardian, 2. Oktober 2001. Dank an Noam Chomsky für die Informationen. Vgl. sein Buch 9-11, Seven Stories Press, New York 2001 Jonathan Belke im Boston Globe, 22. August 1999 Werner Daum, »Universalism and die West« in: Harvard International Review, Sommer 2001 Christopher Hitchens, Spectator, 29. September 2001 379
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Health Development Information and Policy Institute, www.hdip.org/reports; The Union of Palestine Relief Committees, Juni 2001 Observer, 15. Oktober 2001 Hansard, 14. November 2001 Amnesty International, News Review, November/Dezember 2000. Siehe auch Neil Sammonds, British Culpability and the Shadow of Canary Wharf, 2001, www.palestine-campaign.org; Hansard, 17. November 2000 und 8. November 2001 Jane's Foreign Report, Mai und Juni 2001. Siehe auch Akiva Eldar, »Big Pines II -Rumors are rife of an invasion plan«, in: Ha'aretz, Tel Aviv, 10. Juli 2001 Zitiert nach Alexander Cockburn, »The war they wanted«, Creators Syndicate, Znet, www.zmag.org The Guardian, 4. November 2002 Yugoslavia: the Avoidable War, ein Dokumentarfilm von George Bogdanich und Martin Lettmayer, siehe www.avoidablewar.com Ebd. New Statesman, 4. September 2000 und andere; John Pilger, Distant Voices, Vintage, London 1994, S. 213-19; Michel Chossudovsky, The Gobalisation of Poverty: lmpacts of IMF and World Bank Reforms, Pluto Press, London 1997, S. 243-64 (deutsch: Gobal Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg, Zweitausendeins, Frankfurt 2002) Zitiert nach New Statesman, 12. November 2001 Channel 4 News, 2. November 2001; New York Times, 4. Dezember 2001 Observer, 11. November 2001 The Guardian, 10. Oktober 2001 The Guardian, 19. September 2001; Independent, The Times und Financial Times, 20. September 2001 New York Times, 6. Mai 1978 Wall Street Journal, 6. Januar 1979 Washington Post, 1. Juni 1979 Observer, 30. September 2001 Zitiert nach David Holmes und Norm Dixon, Bebind the US War in
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Afghanistan, Resistance Books, Sydney, 2001, S. 27 Le Nouvel Observateur, 15.-21. Januar 1998. Holmes and Dixon, Behind the US War, S. 29 (siehe Anm. 104) Independent, 1. November 1998; Ahmed Rashid, Korrespondent des Far Eastern Economic Review, zitiert nach Holmes und Dixon, Behind the US War, S. 49 (Dank an Holmes und Dixon für ihre Recherchen) Mit besonderem Dank an Gore Vidal fiir sein Bravourstück »The Enemy Within«, Observer, 27. Oktober 2002; siehe auch Washington Post, 3. Oktober 2001; Agence France Presse, 4. November 2001; BBC-Newsnight, 6. November 2001 The Guardian, 31. Oktober 2001 Chomsky, 9-11, S. 15 (siehe Anm. 81) Observer, 10. Januar 1993 The Guardian, 4. Oktober 2001 Timothy Dunne, »Liberalism«, in: John Bayliss und Steve Smith (Hrsg.), The Globalisation of World Politics: an Introduction to International Relations, Oxford University Press, Oxford 1997, S. 147-63 David Edwards, »Arms, Climate Change and the Grand Media Deception«, www. medialens.org, Februar 2002
Das Medienzeitalter 1
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Lordrichter Taylor, The Hillsborough Stadium Disaster 15. April 1989: Abschlussbericht, britischer Staatsverlag, 1990 Sun, 19. April 1989 Peter Chippendale und Chris Horrie, Stick It Up Your Punter: The Rise and Fall ofthe Sun, Heinemann, London 1990, S. 283 f., 288 The World This Weekend, BBC Radio 4, 30. Juli 1989 Midweek, BBC Radio 4, 16. Oktober 1996 Sun, 14. September 1994 Ebd., 9. und 26. September 1994 Ebd., 18. September 1994 381
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The Press and the People, 35. Jahresbericht des Presserats, London 1988, S. 150 ff. Chippendale und Horrie, Stick It Up Your Punter, S. 166 ff. Sun, 1. März 1984 Dimity Torbett, »Rupert Murdoch in his own and in other words«, News-Unlimited-Konferenz, Sydney, Februar 1989 Richard Neville, Hippie Hippie Shake, Bloomsbury, London 1995, S. 37 Aus einem Gespräch des Autors mit Neville Breaking the Mirror: The Murdoch Effect, Carlton UK Television, ITV 18. Februar 1997 Thomas Kiernan, Citizen Murdoch, Dodd, Mead & Co., New York 1986 Chippendale und Horrie, Stick It Up Your Punter, S. 84 Literary Review, Dezember 1995 Richard Belfield, Christopher Hird und Sharon Kelly, Murdoch: The Great Escape, Warner Books, London 1994, S. 87 Ebd., S. 79 ff. Michael Leapman, Treacherous Estate, Hodder & Stoughton, London 1992, S. 73 Panorama, BBC Television, 1981, zitiert aus Belfield, Hird und Kelly, Murdoch, S. 78 Guardian, 8. März 1991 Notiz von Rosie Waterhouse an Robin Morgan, Mai 1988, zitiert aus Roger Bolton, Death on the Rock and Other Stories, W. H. Allen, London 1990, S. 29 Political Quarterly, Oktober 1984, S. 385 Ebd., S. 386 f. Sunday Times, 23. Februar und 2. März 1997 Dank an Nick Cohen für die Erinnerung: Observer, 30. März 1997 Tonbandaufzeichnung einer Ansprache Kelvin McKenzies an die Mitarbeiter der Sun, 23. Januar 1994 Brief Tony Issacs an Tony Britton, 12. Januar 1986 Brief G. W. Richards von Farrar & Co. an Bruce Mathews, 20. Dezember 1995
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Belfield, Hird und Kelly, Murdoch, S. 95 Ebd., S. 100 Interview Mary Goldring, BBC TV, 15. Oktober 1989 Aus einem Interview mit dem Autor New Statesman and Society, 28. Juli 1995 Breaking the Mirror: The Murdoch Effect Ebd. Sun, 21. Juli 1995 Zitiert aus Hansard, 16. April 1996. Interview mit Lewis Moonie aus Breaking the Mirror: The Murdoch Effect Andrew Neil, Füll Disclosure. Dieses Zitat stammt aus der Einleitung zur Taschenbuchausgabe, Pan Books, 1997 Der Originalbericht über das Treffen erschien in der Journalistenzeitung Clarion und wurde seitdem vom Autor mit Hilfe von News-Limited-Quellen untermauert. Siehe auch Gavin Souter, Heralds and Angels, zitiert nach Brian Toohey, Sun-Herald, 24. Februar 1991 David Bowman, The Captive Press, Penguin, Sydney 1988, S. 173 Sydney Morning Herald, 17. Dezember 1986 BriefvonIanMacPheeandenAutor, 31. Oktober 1988. Siehe auch Hansard (Sitzungsprotokolle des australischen Parlaments), 21. Dezember 1989 Australian Financial Review, 1. Juli 1996 Independent, 27. November 1995 Four Corners, ABC Television, 13. März 1989 Breaking the Mirror: The Murdoch Effect Sun, 11. September 1995 Independent, 30. November 1995 Guardian, 1. Februar 1997 Broadcast, 18. Februar 1994. Das Schweigen der Medien über die Gefährdung des digitalen Fernsehens durch Murdoch wurde von Polly Toynbee im Independent gebrochen, 15. September 1995, 25. Juni 1997 Bob Franklin, Newszak and the News Media, Arnold, Großbritannien 1997 383
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Norman Abjoresen, »Turning On, Tuning Out«, Canberra Times, 4. August 1996 Franklin, Newszak and tbe News Media UKPress Gazette, 20. September 1996 Franklin, Newszak and the News Media Guardian, 23. Oktober 1996 Observer, 23. Februar 1997 William Shawcross, Murdoch, Pan Books, London 1993, S. 591 Matthew Engel, Tickle tbe Public: One Hundred Years of the Populär Press, Victor Gol-lancz, London 1996, S. 271-80 Belfield, Hird und Kelly, Murdoch, S. 50 f. Adelaide Review, Februar 1996 Ebd., November 1996 Sydney Morning Herald, 21. Dezember 1996 Bowman, The Captive Press, S. 226 f. British Journalism Review, Jg. 1, Nr. 2, Winter 1990 UK Press Gazette, 29. April 1985 Times Literary Supplement, 1. September, 1972, Nachdruck in: Farm der Tiere, in der Ausgabe der Everyman's Library David Bowman, Adelaide Review, Februar 1996 BBC World Service, 16. August 1996 Mark Curtis, UK-Indonesia 1965 article, 15. Oktober 1996 Third World and Environment Broadcasting Project, Watching the World: British Tele-vision and Audience Engagement with Developing Countries, 1996 Dank an Sharon Beder Independent, 22. September 1977 Patrick Renshaw, The General Strike, Eyre Methuen, London 1975, S. 207 Phillip Knightley, The First Casualty: From the Crimea to the Falklands; the War Correspondent as Hero, Propagandist and Myth Maker, Pan Books, London 1989, S. 97. Ich schätze Knightleys Arbeit als eine durchgängig wertvolle Quelle. Ebd., S. 109 Ebd., S. 97
Anmerkungen 81 82 83 84
85 86 87
88
89
90 91
92
93 94 95
96
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102
Ebd., S. 354 Sunday Times, 22. September 1985 Ebd., 28. August 1983 ITN, 29. Juni 1983, zitiert nach Greg Philo in: War and Peace News, Open University Press, Milton Keynes 1985, S. 138 BBC TV, 27. Juni 1982 Daily Express, 9. Mai 1985 NCCI, Civil Liberties and the Miners' Dispute, zitiert nach New Statesman and Society, 19. April 1985 Seamus Milne, The Enemy Within: M15, Maxwell and the Scargill Affair, Verso, London 1995 Lyn Smith, »Covert British Propaganda: the Information Research Department, 1974-7«, in: Millenium: Journal of International Studies, Jg. 9, Nr. 1 (Dank an Robin Ramsey) Observer, 18. August 1985 »The Irish Embassy Honors the Project in Washington«, BritishAmerican Project Newsletter, ]\ua/Ju\i 1997 Tom Easton, »The British-American Project and the Successor Generation«, in: Lobster, Sommer 1997 Guardian, 5. Juli 1997 Independent, 26. März 1992 Sandy Gall, News from the Front: A Televisicm Reporters Life, Heinemann, London, 1994, S. 122-59. Notiz der Task Force on Greater CIA Openness an den Leiter der CIA, 18. November 1991 John Ranelagh, CIA: A History, BBC Books, 1992, S. 228 CIA. A Forgotten History, Zed Books, London 1986, S. 334 Independent Television News, 26. Juli 1994, BBC Kurzwellensender, Oktober 1994 Noam Chomsky, Year SOI: The Conquest Continues, South End Press, Boston 1993, S. 204, 207 Mark Curtis, The Ambiguities of Power: British Foreign Policy Since 1945, Zed Books, London 1995, S. 166-67, 172 Lawrence Freedmanund Efraim Karsh, The Gulf Conflict, 1990-1, Diplomacy and War in the New World Order, Faber & Faber, London 385
Verdeckte Ziele
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104 105 106 107 108
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386
1993. Zitiert nach Curtis, The Ambiguities of Power, S. 203. Als Professor für Kriegsstudien am King's College in London leitete Freedman 1997 einen Sommerkurs, an dem zehn hochrangige indonesische Offiziere teilnahmen, denen der Kurs »neue Horizonte öffnen« sollte. Observer, 15. Juni 1997 Charles William Maynes, Herausgeber der Zeitschrift Foreign Policy, schreibt: »In Insiderkreisen der CIA wird geschätzt, dass das US-Militär zwischen 7000 und 10 000 Somalier getötet haben könnte.« Zitiert nach: Noam Chomsky, Z Magazine, Sommer 1995 Newsnight, BBC Television, 7. September 1992 Chomsky, Year 501, S. 249 New Statesman and Society, 24. März 1996 Ebd. British Social Attitudes, Bericht Nr. 13, Dartmouth Press, UK, 1997; General Household Survey, zitiert nach: Observer, 26. Januar 1997 Quellen, aus denen hier zitiert wurde: Guardian, 7., 13., 24., 26., 28., 30. Mai, 3., 17. Juni, 26., 28. Juli 1997; Observer, 4., 11. Mai, 1. Juni 1997; Independent, 23., 24., 28. Mai, 3. Juni, 3. Juli 1997; BBC Radio, 3. Juni 1997; Newsnight, BBC TV; 9., 24. Mai 1997. Und Hugh MacPherson sei Dank, Tribüne, 30. Mai 1997 Independent, 16. und 17. September 1997 Zitiert nach Hillary Land, Red Pepper, Oktober 1997 Karen Gardin, Bridges from Benefit to Work: A Review, Joseph Rowntree Foundation, 1997 Siehe Anm. 41 Ebd. Ebd. Ebd. Als ich Emma Forrest fragte, ob ihr Artikel als Parodie gemeint sei, sagte sie, nein, aber sie habe ihn witzig schreiben wollen. Ebd. Guardian, 1. Oktober 1997 Independent ort Sunday, 16. November 1997 Observer, 11. August 1996 Brief von Lord Normanbrook an Sir Burke Trend, 7. September 1965, zitiert aus einem Briefwechsel mit Michael Tracey. Siehe auch
Anmerkungen
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125
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141 142 143 144
Michael Tracey, Decline and Fall of Public Service Broadcasting, Clarendon Press, Oxford 1997; Sanity Broadsheet, Nr. 6, 1980; Guardian, Artikel und Leserzuschriften, 1., 3. und 6. September 1980 Aus Hugh Greens Rede »The Conscience of die Programme Director« an die International Catholic Association for Radio and Television, Rom, Februar 1965 Peter Watkins, Cine-Tracts, Bd. 3, Nr. 1, Winter 1980 Liz Curtiz, Ireland, The Propaganda War: The British Media and the »Battle for Hearts and Minds«, Pluto Press, London 1984, S. 279-90 David Miller, Don't Mention the War: Northern Ireland, Propaganda and the Media, Pluto Press, London 1994, S. 63 ITN, 18. Oktober 1988 Miller, Don't Mention the War, S. 277 Red Pepper, Januar 1997 Independent, 30. Mai 1996; Guardian, 4. April 1996; Morning Star, 24. Juni, 12. Dezember 1996; Irish Post, 21. Dezember 1996. Ebd. Miller, Don't Mention the War, S. 64 Frank Kitson, 7?« Vorfeld des Krieges. Abwehr von Subversion und Aufruhr, Seewald Verlag, Stuttgart 1974 Observer, 9. Januar 1997 Mitteilungen an den Autor aus Quellen in Derry Zitiert nach New Statesman and Society, 1. März 1996 Morning Star, 26. November 1996 Observer, 12. Januar 1997; Guardian, 4. Januar 1997 Observer, 12. Januar 1997 Nine O'Clock News, BBC TV, 28. November 1996 TV 2, Die Meinungsumfrage des französischen Fernsehens am 25. November 1996 zeigte, dass 74 Prozent der Befragten die Fernfahrer unterstützten und 87 Prozent deren Forderungen gerechtfertigt fanden. PM, BBC Radio 4, 29. November 1996 Guardian, 30. November 1996 BBC-Radio, September 1994 Guardian, 19. Oktober 1996 387
Verdeckte Ziele 145 146 147 148 149
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Guardian, 20. September 1997 Mark Leonard, Britain TM, Demos, 1997, S. 46 Guardian, 18. September 1997 Ebd., 3. September 1997 Edwin P. Bayley, Joe McCarthy and the Press, University of Wisconsin Press, Madison 1981 George Orwell, Brief an Sir Richard Rees, 28. Juli 1949, Collections and Essays, Bd. 4, Secker & Warburg, 1968, S. 505 Guardian, 8. März 1997 T. D. Allman, »Eulogy to Wilfred Burchett«, aus der Predigt eines Gedächtnisgottesdienstes in New York, 31. März 1984 New Yorker, 13. November 1995 Zitiert nach Carol Tonge aus ihrer Rede »Gatekeepers of our Society«, Guardian/ Fabian-Konferenz, »Multi-Media Europe: Ownership and Control«, London, 2. Dezember 1995 Rede Rupert Murdochs vor Werbekunden, London, 1. Januar 1993, zitiert nach Independent, 30. Januar 1997 New Yorker, 14. November 1995 Die Information verdanke ich Stephen Vines und Theresa Poole vom Independent. New Yorker, 14. November 1995 BBC/News International, Quelle des Autors Third World Resurgence, Nr. 12, »Manufacturing Truth: The Western Media and the Third World«, herausgegeben vom Third World Network, Penang, Malaysia Ebd. Guardian, 4. März 1996 The Telelvision Show, Design Centre, London, 14. März 1997 RedPepper, März 1997 Observer, 1. Dezember 1996 Bob Franklin, Newszak and the New Media, Arnold, UK, 1997 Marshall McLuhan, Understanding Media: the Extensions of Man, McGraw-Hill, New York 1984, zitiert nach New Internationalist, Dezember 1996. Diese Ausgabe enthält eine der wenigen substanziellen Kritiken der modernen Informationstechnik.
Anmerkungen 168
169 170 171
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Norbert Wiener, The Human Use of Human Beings: Cybernetics and Society, Houghton-Mifflin, Boston 1950, zitiert nach New Internationalist Vandana Shiva, Monocultures ofthe Mind, Zed Books, London 1993 RedPepper, März 1997 Guardian, 27. Dezember 1996. Julian Petley, Leiter der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Brunei University of West London, hat eine Reihe medienkritischer Schriften verfasst, darunter eine Analyse des modernen Journalismus. »Real Women ofthe Real World«, Guardian, 19. April 1997 Aus Mike Phipps' Rezension zu Timothy Bewes, Cynism and Postmodernity, Verso, London 1997, in: Labour Left Briefing Observer, 17. März 1996 Tommy Sheridan und Joan McAlpine, A Time to Rage, Polygon, Edinburgh 1994 Third World Resurgence, Nr. 8, April 1991 Alex Carey, Taking the Risk Out of Democracy, University of New South Wales, Sydney 1995, zitiert nach Noam Chomsky, Covert Action, Herbst 1995 Ebd. Sharon Beder, Global Spin: The Corporate Assault on Environmentalism, Green Books, UK 1997, S. 20-21. Tom Baistow, Fourth Rate Estate, Comedia, London 1985 Guardian, 13. Mai 1996 Ebd. Beder, Global Spin, S. 15 Zitiert nach ebd., S. 16 Dank an David Bowman für diese Informationen 24Hours, Sydney, April 1996 Manchester Guardian, 5. August 1919, zitiert nach David Ayerst, Guardian: Biography of a Newspaper, Collins, London 1971, S. 432 Ebd., 25. November 1996 Reportage, Sydney, Sommer 1996
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Verdeckte Ziele
Rückkehr nach Vietnam 1
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Gabriel Kolko, Anatomy of a War: Vietnam, the United States and the Modern Historical Experience, New Press, New York 1994, S. 551 2477 US-Amerikaner wurden in Vietnam offiziell als »im Einsatz vermisst« gemeldet, weniger als in jedem anderen Krieg dieses Jahrhunderts. Bis heute gelten 78.751 US-Amerikaner aus dem Zweiten Weltkrieg und 8177 aus dem Koreakrieg als vermisst (Library of Congress, 1985). Philip Knightley, The First Casualty: From the Crimea to the Falklands; the War Correspondent as Hero, Propagandist and Myth Maker, Pan Books, London 1989, S. 400 Life, Observer, 2. April 1995 Alexander Haig, Caveat, Weidenfeld & Nicholson, London 1984, S. 202 Dwight D. Eisenhower, The White House Years: Mandate for Change, 1953-6, Double-day, New York 1963, S. 372 Philip Taylor, »The Green Berets«, The Historical Journal of Film, Radio and Television, März 1995 Ebd. Richard Holmes, Firing Line, Jonathan Cape, London 1985, S. 68 Guardian, 10. April 1995 Schätzung von Duong Quynh Hoa, Arzt am Kinderkrankenhaus Nr. 2 in Saigon Telford Taylor, Nuremberg and Vietnam, zitiert nach Alex Carey in: Sun-Herald, Sydney, 30. Juni 1985 Linda Mason und Roger Brown, Rice, Rivalry and Politics: Managing Cambodian Relief, University of Notre Dame Press, Indiana 1983, S. 135, 159 William Shawcross, The Quality of Mercy: Cambodia, Holocaust and Modern Conscience, Andre Deutsch, London 1984, S. 289, 345, 395 Nhan Dan, offizielle Tageszeitung der KPV, 1. März 1996; Tap Chi Cong San, programmatische Monatszeitschrift der Partei, 15. März 1996, zitiert nach Gabriel Kolko, Vietnam: Anatomy of a Peace, Routledge, London & New York 1997, S. 102
Anmerkungen 16 17 18 19 20 21
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24 25 26
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30 31
32 33
34 35 36 37
38
Viet Nam News, Hanoi, 5. Mai 1997 Indo China Digest, 17. Februar 1995 Kolko, Anatomy of a War, S. 602 Kolko, Anatomy of a Peace, S. 102 Third World Resurgence, Nr. 47, Januar 1994 Weltbank, Ostasien und Pazifikregion, Viet Nam: Transition to the Market, Washington DC, September 1993 Indo China Digest, 17. Februar 1995 Weltbank, Ostasien und Pazifikregion, Viet Nam: Poverty Assessment and Strategy, Washington DC, Januar 1995. Armutsbericht 1995 Zitiert nach Chossudovsky in: Third World Resurgence Ebd. Abteilung für Überseehandel des Ministeriums für Wirtschaft und Handel, Vietnam. General Information, London, Januar 1995 Le Thi Quy, Some Remarks on the Situation of Women Workers in Foreign-invested Enterprises in Ho Chi Minh City, 1994, siehe auch Gender: The Relations between Research and Policy-making in Vietnam, Asian and Pacific Development Centre (APDC), Sommeruniversität, Kuala Lumpur, Mai-Juni 1994 Chossudovsky in: Third World Resurgence Zitiert nach National Project Education Sector Review and Human Resources Sector Analysis, Band 1, Hanoi 1992, S. 39 Chossudovsky in: Third World Resurgence Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, Report on the Economy of Vietnam, New York, S. 183 Weltbank, Viet Nam, S. 145 Senator Gaylord Nelson, Rede vor dem Kongress, 25. August 1970. Quelle: Bibliothek des US-Senats Vietnam Investment Review, 16.-22. Juni 1997 Kolko, Anatomy of a War, S. 590 BBC-Fernsehen, Summary of World Broadcasts, 8. Februar 1991 Peter MacDonald, Giap: The Victor in Vietnam, Warner Books, London 1993, S. 42 Associated Press, zitiert nach Sydney Morning Herald, 29. März 1997 391
Verdeckte Ziele 39 40 41
42
43
Tap Chi Cong San, zitiert nach Kolko, Anatomy of a War, S. 93 Reuters, 26. Juli 1997 Kolko, Anatomy of a War, S. 94, Saigon Giai Phong (Tageszeitung der Kommunistischen Partei in Ho-Chi-Minh-Stadt), 17. Juli 1997 Ralph McGehee und andere frühere CIA-Offiziere haben seither bestätigt, dass der Vorwand für die »Operation rollender Donner«, die Bombardierung des Nordens, die die Dimension der Bombardierung Dresdens erreichte, ebenfalls vorgetäuscht war. Es handelte sich um den »Zwischenfall im Golf von Tonking«, bei dem angeblich im August 1964 nordvietnamesische Kanonenboote den US-Zerstörer Maddox angegriffen hatten. Auf der Basis einschlägiger »Geheimdienstberichte« erteilte der Kongress Präsident Johnson nahezu uneingeschränkte Vollmacht zur Führung eines unerklärten Krieges. In Wahrheit hatten Vertreter des Weißen Hauses die »Golf-von-Tongking-Resolution« bereits zwei Monate vor dem angeblichen Angriff auf die Maddox verfasst. Martha Gellhorn, The Face of the War, Virago, London 1986 (deutsch: Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937-1987, München/Hamburg 1989), S. 254
Die Terroristen 1
2 3 4
5 6 7
392
John Madeley, Diego Garcia: A Contrast to the Falklands, Bericht Nr. 54 der Minority Rights Group, London 1985 Ebd. Independant, 8. September 1996 Africa Research Bulletin, Bd. 28, Nr. 11, 1. November 1991. Siehe Mark Curtis, TheAmbiguities of Power: British Foreign Policy Since 1945, Zed Books, London 1995, S. 116-119 Guardian, 10. September 1975 Madeley, Diego Garcia Ebd.
Anmerkungen 8
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Protokolle des britischen Regierungskabinetts 1965, zitiert aus: Guardian, 1. Januar 1996 Madeley, Diego Garcia Financial Times, 5. April 1982 Daily Telegraph, 19. April 1982 Curtis, Ambiguities of Power, S. 116-119 Richard Falk, »The Terrorist Foundations of Recent US Policy«, in: Western State Terrorism, hrsg. von Alexander George, Polity Press, London 1991, S. 107 f. Robert O. Slater und Michael Stohl, Current Perspectives on International Terrorism, Macmillan, London 1988, von Noam Chomsky zitiert in: Western State Terrorism, S. 12. Dank an Noam Chomsky für den Nachtrag zur westlichen Macht. Falk in: Western State Terrorism, S. 104 Siehe William Shawcross, Sideshow: Kissinger, Nixon and the Destruction of Cambodia, Andre Deutsch, London 1979; Mark Hertsgaard, »The Secret Life of Henry Kissinger« in: Nation, New York, 29. November 1990; William Blum, The CIA, a Forgotten History, Zed Books, London 1986, S. 275-278 Zitiert von Chomsky, »International Terrorism: Image and Reality«, in: Western State Terrorism, S. 13 »East Africa Political Intelligence Report«, Juli-September 1948, zitiert von Frank Furedi in: The New Ideokgy of Tmperialism, Pluto Press, London 1994, S. 44; der persönliche Referent des Botschafters in Teheran an die Nahostabteilung im Außenministerium, 16. Juni 1952, zitiert ebd., S. 53 Lord Hailey, 1943, zitiert ebd., S. 87 Zitiert von Curtis in: Ambiguities of Power, S. 57 Telegrafische Nachricht des Außenministeriums an Washington, 26. Oktober 1950, zitiert ebd., S. 57 f. Telegramm von A. Humphrey, Malaiischer Bund, an J. Higham, Kolonialverwaltung London, 19. Januar 1953, zitiert ebd., S. 64 Ebd., S. 65-74 Siehe Blum, The CIA, S. 117-23 Außenministerium an die britische Botschaft in Jakarta, 16. Okto393
Verdeckte Ziele
26 27
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ber 1965, zitiert von Mark Curtis in: Ecologist, Jg. 26, Nr. 5, September/Oktober 1996 Curtis, Ambiguities of Power, S. 16-24 Diana Melrose, Nicaragua: The Threat o fa Good Example, Oxfam, Oxford 1985, S. 26 Zitiert in: Chomsky, Western State Terrorism, S. 19 »Ebd., S. 16 Guardian, 22. September 1996 Jenny Pearce, Under the Eagle: US Intervention in Central America and the Caribbean, Latin America Bureau, London 1981, S. 58f. und 230f. Protokoll des Center for Policy Aid, Washington, April 1981. Siehe New York Times, 1. April 1981 Rivera y Damas, zitiert in: Ray Bonner, Weakness and Deceit, Times Books, New York 1984, S. 207 Links, Nr. 6, Januar-April 1966 Melrose, Nicaragua Observer, 3. Juni 1991 World Military and Social Expenditures, World Priorities Inc., Washington 1993, S. 20 38Ian Lee, Continuing Health Costs of the Gulf War, Medical Educational Trust, London 1991 Schätzung von Mohamed Sahnoun, UN-Vertreter in Somalia, New Internationalist, Dezember 1994 Guardian, 16. Mai 1994 Red Pepper, Juli 1994 «Ebd. Alfred W. McCoy, Die CIA und das Heroin. Weltpolitik und Drogenhandel, Zweitausendeins, Frankfurt 2003 (amerikanische Originalausgabe 1991) Covert Action, Winter 1996-97 Bericht des Ausschusses für internationale Beziehungen, Unterausschuss Terrorismus, Drogen und internationale Operationen, USSenat, Drugs, Law Enforcement and Foreign Policy, Dezember 1988, S. 36 Übersetzung von Weekly News Update, Green Leaf Weekly, 27. August 1997 Washington Post, 6. Dezember 1996 Efforts of Khmer Insurgents to Exploit for Propaganda Purposes
Anmerkungen
49 50
51
52 53 54 55 56 57 58
59 60 61
62 63
64 65
66
67 68 69 70
Damage Done by Airstrikes in Kandal Province, geheimdienstliches Telegramm vom 2. Mai 1973, Geheimhaltung von der CIA aufgehoben am 19. Februar 1987 John Pilger, Distant Voices, Vintage, London 1992, S. 411, 413, 439f. Linda Mason und Roger Brown, Rice, Rivalry and Politics: Managing Cambodian Relief, University of Notre Dame Press, Indiana 1983, S. 135, 159 William Shawcross, The Quality of Mercy: Cambodia, Holocaust and Modern Conscience, Andre Deutsch, London 1984, S. 289, 345, 395 Pilger, Distant Voices, S. 414-17, 419, 421-24, 437f., 444-50, 469ff. Furedi, New Ideology of Imperialism, S. 116 Ebd., S. 117 Observer, 21. Juli 1996 Zitiert von Paul Rogers in: Observer, 28. Juni 1992 S. Zielonka in: International Affairs, Jg. 67, Nr. 1, S. 131 Foreign Affairs, abgedruckt im Guardian, 23. November 1996. Huntingtons Buch Der Kampf der Kulturen erschien auf Deutsch 1996 im Siedler Verlag, München. Guardian, 17. Juni 1997 Ebd., 2. Juli 1992 Greenpeace und die Studiengruppe Los Alamos, zitiert in: Green Left Weekly, Sydney, 23. April 1997 Chomsky, Western State Terrorism, S. 35 Dank für diese Medienuntersuchung an Daya Kishan Thussu, Economic and Political Weekly, 8. Februar 1997 Falk, »The Terrorist Foundation of Recent US Policy«, S. 109-10 Noam Chomsky, »Israel, Lebanon and the Peace Process«, Informationsschrift vom 23. April 1996 Brief von Harold Macmillan an Robert Menzies, 9. Februar 1952, zitiert in: Furedi, New Ideology of lmperialism, S. 79 Ebd. Daily Express, 21. Oktober 1949 Furedi, New Ideology of Imperialism, S. 81 M. Perham, »African Facts and American Criticism«, in: Foreign Affairs, Jg. 22, April 1944, S. 449, zitiert in: Furedi, New Ideology of 395
Verdeckte Ziele 71 72 73 74 75
76 77 78 79 80 81
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Imperialism, S. 88 Ebd. Ebd., S. 73 Evening Standard, 20. August 1990 Financial Times, 1. November 1990 Phyllis Bennis, Calling the Shots: How Washington Dominates Today's UN, Olive Branch Press, New York 1996, S. XV Ebd., S. XII Covert Action Quarterly, Sommer 1997 Dank an R. Seymour, Guardian, 11. November 1997 Third World Resurgence, Nr. 80, 1997 Tagesbericht des US-Außenministeriums, 10. Juli 1997 Das Interview mit Eric Falt wurde im März 1993 im Rahmen der Dokumentation Return to Year Zero für Central Television aufgezeichnet. Der Herausgeber von Foreign Policy, Charles William Maynes, schrieb: »CIA-Vertreter räumen inoffiziell ein, dass US-Truppen möglicherweise zwischen 7000 und 10 000 Somalis getötet haben«; zitiert von Noam Chomsky in der Zeitschrift Z, Sommer 1995 Guardian, 29. Dezember 1992
Die Welt aus der Sicht von Dimbaza 1
2 3
4
5
396
Eastern Cape Socio-Economic Consultative Council, A Statistical Snapshot, 1997 Daily Dispatch, East London, 16. Januar 1969 Cosmas Desmond, The Discarded People, Penguin, Harmondsworth 1971, S. 79 Geoff Berridge, Economic Power in Anglo-South African Diplomacy: Simonstown, Sharpeville and After, Macmillan, London 1981, S. 34 f. William Minter, King Solomons Mines Revisited: Western Interests and the Burdened History of South Africa, Basic Books, New York 1986, S.
Anmerkungen 6
7
8 9 10 11 12 13
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18 19
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22
279. Dank an Mark Curtis. Miranda Strydom, »Black Empowerment: Is There More to It Than Equity?«, in: Cape Times, 10. Oktober 1997 Hugh Murray, »The Privatization of Cyril Ramaphosa«, in: Leadership, Juli 1997 Strydom, »Black Empowerment« Star, Johannesburg, 3. Oktober 1997 David Beresford im Observer, 21. Dezember 1997 Mail & Guardian, Johannesburg, 23. Mai 1997 R.W.Johnson, London Review of Books, 17. Oktober 1996 Obwohl es in Südafrika Statistiken im Überfluss gibt, handelt es sich meist um Schätzungen. Aus Studien der statistischen Abteilung der Notenbank und von Professor Laurence Schlemmer wird ersichtlich, dass die Zahl der im staatlichen wie im nichtstaatlichen Bereich angebotenen Arbeitsplätze jährlich um 100 000 zurückgeht. Zahlen der Weltbank zitiert nach Green Left Weekly, 3. Dezember 1997 Ebd. Mail & Guardian, 15.-2 5. Juli 1995 Schätzung von Kardinal Basil Hume, zitiert nach Observer, 21. Dezember 1997 Weekend Guardian, 15. Februar 1997 Rede auf dem Kongress der südafrikanischen Gewerkschaften (COSATU), September 1993 Zitiert nach Independent an Sunday, 7. Dezember 1997; Dank an John Cassidy für den Artikel »The Next Big Thinker«. Zitiert nach Colleen Ryan, »US in Grip of Surging Protectionism«, in: Australian Financial Review, 15.-16. November 1997 Independent on Sunday, 7. Dezember 1997
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Dank
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olgenden Personen, die direkt oder indirekt zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben, möchte ich meinen Dank aussprechen: Steve Anderson, Anthony Arnove, Joe Bentley, William Blum, Carmel Budiardjo, Scott Burchill, Gabriel Carlysle, Robert Cavanagh, Noam Chomsky, Michel Chossudovsky, Preston Clothier, Barry Coates, Gilly Coote, Mark Curtis, Norm Dixon, Oliver Doward, David Edwards, Susan George, Karl Grossman, Sean Healy, Eric Herring, Pip Hinman, Lynn Hodgkinson, Mike Holderness, Dave Holmes, Laurelle Keough, Max Lane, Alan Lowery, Michael McKinley, Emily Mann, Michael Mansell, Chris Martin, Arthur und Leila Murray, Richard Murray, Lorraine Nelson, David O'Shea, Milan Rai, Grant Roberts, Vicki Robinson, Peter Schumpeter, Bradley Simpson, Colin Tatz, Peter Wilby, Jeffrey Winters. Besonderen Dank schulde ich Jacqueline Korn und Tariq Ali für ihre Inspiration, Jane Hindle und Gavin Everall von Verso, Jill Chisholm vom New Statesman, Helen Oldfield vom Guardian und meiner wunderbaren Lektorin und Partnerin Jane Hill.
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Nachbemerkungen
I
m September 2002 – ein gutes Jahr nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, ein knappes halbes Jahr vor dem Überfall der selbst ernannten Antiterrorkoalition auf den Irak – wurde John Pilger vollends zur öffentlichen Figur. Als investigativer Journalist, als Korrespondent aus allen möglichen Krisenregionen, als Buchautor und als Dokumentarfilmer hat er in Großbritannien schon seit Jahrzehnten ein Millionenpublikum. Aber jetzt, am 28. September, trat er bei einer der größten Friedenskundgebungen, die London je erlebt hat, vor etwa 300 000 Demonstranten im Hydepark als Redner auf, Seite an Seite etwa mit dem früheren UN-Waffeninspektor Scott Ritter und dem Londoner Bürgermeister Ken Livingston. Seine Botschaft an die unübersehbare Menschenmenge: »Wir sind die Gemäßigten. Bush und Blair sind die Extremisten. Die Gefahr, die uns alle bedroht, geht nicht von Bagdad, sondern von Washington aus.« Ein Jahr später – da hatten Bush und Blair längst den Sieg im Irakkrieg verkündet, während sie im Wüstensand vergebens nach den behaupteten Waffenverstecken buddeln ließen und täglich neue Opfer zu beklagen waren – lieferte Pilger den Beweis für seine öffentlich vorgetragene Behauptung. Am 23. September 2003 lief im britischen Fernsehsender ITV sein Film Breaking the Silence: Truth and Lies in the War on Terror. Darin präsentierte er Dokumentaraufnahmen aus dem Frühjahr 2001, 401
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in denen sich Colin Powell und Condoleezza Rice darüber ausließen, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen habe und daher keine Bedrohung mehr sei. Die Kriegsvorbereitungen, so Pilger weiter, begannen mit dem 17. September 2001, als George W. Bush eine Anweisung an das Pentagon unterschrieb, die militärischen Optionen für einen Angriff auf den Irak zu prüfen. Der Krieg gegen den internationalen Terrorismus brauchte ein handfestes Ziel, um endlich die neue Weltordnung durchzusetzen, die der Vater einst auf demselben Amtssessel proklamiert hatte. Pilgers Auftritt als Redner bei einer Massenkundgebung und die ungeschminkten Erkenntnisse seines Films belegen gleichermaßen seinen Ausnahmestatus in der britischen Medienlandschaft. Und was für die englischen Verhältnisse gilt, gilt erst recht für die hiesigen. In der Bundesrepublik gibt es niemanden, der sich mit ihm vergleichen könnte. Die wenigen Zeitungsschreiber, die sich hierzulande durch investigativen Mut auszeichnen, koexistieren friedlich und ohne weitere Berührungspunkte mit den ebenfalls nicht üppig gesäten Meistern der großen (Auslands-)Reportage und den kulturkritischen Essayisten – und allen dreien ist gemein, dass sie nicht mit der Videokamera umgehen können, geschweige denn mit der versteckten. Pilger bewegt sich, was die Grenzen unseres Mediensystems anbelangt, derart im Abseits, dass ihn alle großen deutschen Zeitungen und Sendeanstalten notorisch übersehen. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf ihn – und einen ebenso bezeichnenden Schatten auf sie. Das Besondere an John Pilger ist gar nicht, dass es ihm gelungen ist, trotz seines durchaus demonstrativen Dissidententums in seinem Land ein begehrter Mitarbeiter und eine ernst zu nehmende Stimme zu werden. Wenn einer voller Behagen das Verdikt kolportiert, ein »neoidealistischer Linker« zu sein, und zwei Atemzüge weiter das »Blair-Regime« als rechte Regierung 402
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brandmarkt, dann ahnt man, dass er sich durchaus komfortabel in der Differenz zu den herrschenden Verhältnissen eingerichtet hat. Eher zeichnet es Pilger aus, dass er als Radikaler, der sich angesichts der Radikalität dieser Verhältnisse als »Gemäßigten« sieht, durch die harte Schule des Boulevardjournalismus gegangen ist. Für britische Begriffe ist ein tabloid nicht zwingend durch den dumpfbackigen und desinformierenden Populismus einer Bild-Zeitung charakterisiert. Das Massenblatt Daily Mirror, dessen Redaktion Pilger lange Jahre angehörte, kann auf eine aufgeklärte Labour-Tradition zurückblicken. Erst als Rupert Murdoch mit seiner Sun diesen schrillen Tonfall in die Presselandschaft einführte, neben dem die Bild fast blass wirkt, ließ sich sein Rivale Robert Maxwell mit dem Mirror auf einen Überbietungswettlauf ein, den er nicht gewinnen konnte und der die Zeitung fast um die Existenz gebracht hätte. Pilger jedenfalls entspricht nicht unseren Edelfedern, die hochsubtil über die Komplexität der Welt und die vermeintlichen Sachzwänge politischen Handelns räsonieren und dabei doch bloß die roten Teppiche ins Visier nehmen, auf denen Staatsoberhäupter und Regierungschefs, Aufsichtsrats- und Vorstandsvorsitzende, Banker und Analysten paradieren. Er hat gelernt, sich klar und einfach auszudrücken, und deshalb geht es ihm immer auch darum, hinter der ganzen verwirrenden Bedeutungsschwere, aus der Akteure wie Interpreten gleichermaßen ihre höheren Weihen beziehen, einfache Wahrheiten zu identifizieren. Die vielbeschworene Globalisierung unserer Tage ist für ihn nichts weiter als der – horrible dictu! – alte Imperialismus in neuem Gewand und ohne den klassischen missionarischen Eifer, mit dem er ehedem als zivilisierender Kreuzzug verkündet worden ist. Die Globalisierung ist also keine Fatalität, kein Selbstlauf, keine alternativlose Entwicklung, sondern ein teils 403
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gewaltsam durchgesetztes Projekt, das im Interesse westlicher Hegemonie liegt. Und weil es Pilger immer wieder aus der warmen Redaktionsstube hinauszieht, er also im besten angelsächsischen Sinne weltläufig ist und aus den reichen Erfahrungen eigenen Augenscheins schöpfen kann, bringt er in seinen Reportagen auch eine einfache Prämisse zur Geltung: Was vor allem zählt, das sind die Opfer – die Opfer diktatorischer Regime, die Opfer entfesselter Märkte, die Opfer der Kriege. Der neue-alte Imperialismus, der ebenso sachlich wie martialisch daherkommt, wäre mit ganz anderen Widerständen konfrontiert, wenn wir tatsächlich in einer Informationsgesellschaft leben würden. Wir leben aber in einer Mediengesellschaft. Für Pilger ist das nicht bloß ein anderer Begriff, sondern ein Unterschied ums Ganze. Mediengesellschaft heißt zum Beispiel, dass von den mehr als 200 Kriegen und bewaffneten Konflikten, die es rings um den Globus gibt, nur die wenigsten in den Nachrichten auftauchen; dass nur ein verschwindender Bruchteil aller von den großen Agenturen verbreiteten Meldungen mit Afrika zu tun hat; dass unsere Weltwahrnehmung also systematisch gereinigt und verengt wird. Corporate media: Das ist für Pilger kaum etwas anderes als eine privatwirtschaftliche Variante von Orwells Ministerium der Wahrheit. Von seiner eigenen Zunft hält er also wenig. Journalisten sind in seinen Augen überwiegend Sprachrohr und Echoverstärker der Parolen, die von den großen staatlichen und ökonomischen Agenturen ausgegeben werden. Unter dem Anschein der Ausgewogenheit und Objektivität produzieren sie mit diesen Parolen eine herrschende Sichtweise, die die Vorstellbarkeit eines anderen Weltenzustandes gar nicht erst aufkommen lässt. Wie Recht er damit hat, belegte in aller Klarheit der 11. März 2004. Der eigentliche Skandal nach den furchtbaren Anschlägen in Madrid war gar nicht, dass die Regierung Aznar versucht hat, 404
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sich über die Wahlen zu retten, indem sie drei Tage lang die ETA als den Tatverdächtigen behauptete und entsprechende Sprachregelungen lancierte. Der eigentliche Skandal war vielmehr, dass Presse, Funk und Fernsehen dieses Ablenkungsmanöver zwei Tage lang mitgemacht haben. Von Pilger können wir lernen, dass wir in einer anderen Welt leben als in der, die uns tagtäglich vorgesetzt wird. Unsere vermeintlichen Gewissheiten sind keine Wahrheiten, sondern medial vermittelte Orientierungskoordinaten, die durch Wiederholung beglaubigt werden. Wir können von ihm lernen, dass wir einem Gehäuse vermachteter Öffentlichkeit ausgesetzt sind – und dass wir uns dem entziehen können: durch ein Misstrauen gegen alle offiziellen Verlautbarungen und durch Empathie für alle diejenigen, von denen darin kaum je die Rede ist.
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Über den Autor
Pilger, Jahrgang 1939, ist – in der angelsächsischen Welt – John einer der angesehensten Journalisten. Seine ersten Sporen als Reporter verdiente er sich in seiner Heimatstadt Sydney, bevor er 1962 nach London kam und – nach einem kurzen Zwischenspiel bei der Nachrichtenagentur Reuters – beim Daily Mirror anheuerte, der damals größten und der Labour-Partei nahe stehenden Boulevardzeitung. Beim Mirror stieg er rasch zum Leiter der Auslandsredaktion auf. In den fast 25 Jahren, die er für das Blatt arbeitete, war er akkreditierter (Kriegs-)Korrespondent u.a. in Vietnam, Kambodscha, Ägypten, Indien, Bangladesch und Biafra. Als der Medienzar Robert Maxwell 1984 die Mirror Group übernahm, der Zeitung eine andere Generallinie verordnete und sie damit später fast zugrunde richtete, focht Pilger heftige Sträuße mit dem neuen Verleger aus, was ihn schließlich seinen Job kostete. 1987 gründete er eine eigene Zeitschrift, die News on Sunday, die allerdings schon nach einem halben Jahr ihr Erscheinen wieder einstellen musste. Seitdem ist Pilger freier Journalist. Regelmäßig schreibt er für den Guardian und den New Statesman, gelegentlich auch für die New York Times sowie für australische, französische, italienische oder japanische Blätter. Bloß deutsche Zeitungen ignorieren ihn völlig. Seit 1969 hat er zudem etwa 50 Dokumentarfilme gedreht, die früher zumeist von der BBC ausgestrahlt wurden, heute eher bei 407
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ITV laufen. Besonders folgenreich waren seine Filme Paying the Price: Killing the Children of lraq und Palestine is still the Issue. Mit seinen Enthüllungen über das barbarische Besatzungsregime in Osttimor, Death of a Nation: The Timor Conspiracy, kam er sogar in die Kinos. Achtmal hat Pilger seine besten Reportagen in Buchform veröffentlicht. Seine klassische Publikation ist Heroes (1986), in der er seine »Helden« vorstellt: einfache Leute aus aller Herren Ländern, die sich – ganz unspektakulär, aber alltagspraktisch – den widrigen Verhältnissen, mit denen sie konfrontiert sind, widersetzen. Aus den Artikeln seiner beiden letzten Bücher, Hidden Agendas (1998) und The New Rulers of the World (2002), haben wir unsere Ausgabe zusammengestellt. Pilger hat so ziemlich alle Preise gewonnen, die man als Journalist und Dokumentarfilmer gewinnen kann. Schon in jungen Jahren wurde er erst als Descriptive Writer (1966), dann als Reporter (1967) und schließlich als International Reporter of the Year (1970) ausgezeichnet. Später kamen unter anderem hinzu zwei UN Media Peace Prizes (1980, 1981), der Reporters Sans Frontières Award (1990), ein Emmy (1991), der International de Télévision Genève Award (1995), der Manismanien Prize (Schweden, 2001), der Sophie Prize for Human Rights (Norwegen, 2003) und eine Auszeichnung als Media Personality of die Year (2003). Außerdem wurden ihm mehrere Ehrendoktorhüte verliehen.
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Bücher zu Politik und Zeitgeschehen. Nur bei Zweitausendeins.
Mathias Bröckers
Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9. »Der moderne Klassiker politischer Aufklärungsliteratur schlechthin« Tip
Der Bestseller des Unbehagens« (Der Spiegel): Als am 11.9.2001 wie aus heiterem Himmel Flugzeuge das World Trade Center und das Pentagon angriffen, waren Amerika und die Welt entsetzt über die Heimtücke dieses Anschlags. Und sofort standen die Täter und der Feind fest: Osama Bin Laden und seine islamistische Al Qaida. George W Bush verkündete den Weltkrieg gegen den »internationalen Terrorismus«, für den es vorher kaum Unterstützung gegeben hätte. Inzwischen mehren sich die Indizien: Die US-Regierung war über den Angriff vorinformiert. Der 11.9. ist nicht nur Datum eines entsetzlichen Anschlags, sondern auch Kristallisationspunkt bizarrer Ungereimtheiten, verschwiegener Hintergründe und strategischer Geheimdienstoperationen. Mathias Bröckers zeigt mit diesem Buch: Die allgemein akzeptierte Tatversion vom 11.9. ist eine mit Bedacht inszenierte Verschwörungstheorie, die falsche Spuren legt. Originalausgabe. 371 Seiten. Broschur. 12,75 €. Nummer 18434.
Mathias Bröckers und Andreas Hauß
Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9. Das zweite, neue Buch über die Ungereimtheiten der offiziellen USVersion Mit jedem Tag wird deutlicher, dass die US-Regierung über die Terroristen vor dem 11.9. sehr viel mehr wusste als sie jemals zugegeben hat.« Das sagte, so berichtete jetzt die New York Times, Ex-Senator Max Cleland. Er ist Mitglied der Kean-Kommission, des zweiten Untersuchungsausschusses, der die Hintergründe des 11.9. klären soll.
Cleland bestätigt damit eine zentrale These des neuen Buches von Bröckers & Hauß. »Exzellent recherchiert« (Westdeutsche Allgemeine). Bröckeis und Ko-Autor Hauß ermittelten die öffentlich zugänglichen Quellen. Sic werfen »Fragen auf, die offensichtlich auch der Bevölkerung unter den Nägeln brennen« (Buchreport). Es sind weitgehend auch die Fragen, deren Untersuchung Hinterbliebene der Opfer immer lauter einfordern. Dem Buch liegt eine Super-Video-CD mit unerwünschten Zeugenaussagen bei: Daniel Hopsickers 61-minütiger Dokumentarfilm »Mohamed Atta & the Venice Flying Circus« über die Flugschulen der Terroristen, die CIA und die Mafia. Originalausgabe. 34 Bilder. 352 Seiten. Broschur. Buch & SuperVideo-CD (SVCD, FSK ab 6). 14,90 €. Nummer 18477
Daniel Hopsicker
Welcome to Terrorland Attas Helfer in den USA Mohammed Atta war länger in den USA, als die US-Regierung zu-. gibt. Atta hatte Helfer in Amerika. Zu diesem Ergebnis kommt Daniel Hopsicker nach zwei Jahren Recherche am bedeutendsten Tatort des 11.9., der nicht in Schutt und Asche gelegt wurde: in Venice, Florida. Hopsicker, US-Bürger und investigativer Journalist, hat unangemeldet an Türen geklingelt, mit Zeugen gesprochen, Firmenregister gewälzt und detektivische Kleinarbeit geleistet. Seine Untersuchungen und die von ihm befragten Zeugen belegen: Atta tauchte nicht aus heiterem Himmel und einer afghanischen Höhle auf, um New York und den Rest der Welt in Schrecken zu versetzen. Er war vernetzt in eine globale Struktur, deren Fäden in Washington, Virginia und Florida zusammenlaufen. Atta war offensichtlich ein Elite-Zögling des Westens. Keine bärtigen Turbanträger standen ihm bei seinen Vorbereitungen in Florida zur Seite, sondern smarte Amerikaner, auch Holländer und Deutsche. Deutsche Erstausgabe. Deutsch von Karl Heinz Siber. Nachwort von Mathias Bröckers. 40 Bilder. 432 Seiten. Broschur. 13,90€. Nr. 18503.
Robert B. Stinnett
Pearl Harbor Wie die US-Regierung den Angriff provozierte, im voraus Bescheid wusste und 2.476 US-Bürger sterben ließ
Dieses lückenlos dokumentierte Buch bringt die letzten angeblichen Tatsachen über Pearl Harbor ins Wanken« (N.Y. Times). Der Angriff am 11.9. hat viele an Pearl Harbor erinnert, an den vermeintlich heimtückischen Angriff der Japaner auf ein ahnungsloses Amerika. In den USA rührten sich aber schon kurze Zeit nach Pearl Harbor die Stimmen, die sagten, die US-Regierung hätte von dem Angriff gewusst und ihn nicht verhindert, ja, ihn sogar provoziert. Der US-Journalist Robert Stinnett, hochdekorierter WK II-Teilnehmer, Experte zu Fragen des Pazifikkrieges und intimer Kenner der Geheimdienstszene, hat 17 Jahre nach der Wahrheit über Pearl Harbor geforscht. Er beweist: Präsident Roosevelt wusste von dem bevorstehenden Angriff. In einem Interview beruhigte Stinnet Leute, die sich darüber empörten: Vor Roosevelt »und nach ihm machten andere das gleiche. Das gilt schon seit Cäsars Zeiten.« »Faszinierend geschrieben, exzellent dargestellt« (Wall Street Journal). »Die Geschichte des 2. Weltkriegs muss neu geschrieben werden« (Kirkus Review). »Akribisch recherchiert, minutiös konstruiert« (Tagesspiegel, Berlin). Deutsche Erstausgabe. Deutsch von Karl Heinz Siber. 566 Seiten. Broschur. 14,90 €. Nummer 18473.
Alfred W. McCoy
Die CIA und das Heroin Warum die US-Regierung offiziell Drogenkonsum bekämpft und heimlich Drogenringe unterstützt
Es gibt wohl keinen Staat, der durch Regierungsbehörden den internationalen Rauschgiftkonsum ebenso versteckt wie massiv unterstützt und gefördert hat wie die USA. Die CIA macht/e mit Heroin Politik,
indem sie ihren Einfluss auf den internationalen Drogenhandel zur Durchsetzung amerikanischer Interessen in aller Welt einsetzt: Je nach Opportunität produziert sie ökonomische Abhängigkeiten und ist mit Drogenpolitik und/oder Drogenprofiten an der Destabilisierung von Ländern, an Bürger- wie regulären Kriegen beteiligt. Alfred W. McCoy, Professor an der University of Wisconsin, gilt in den USA als der Experte zur geheimen Drogenpolitik. Er recherchiert – bisweilen unter Lebensgefahr – seit über 30 Jahren zu diesem Thema. Er wurde von der Association for Asian Studies mit dem GrantGoodman-Preis ausgezeichtnet, er hat sein »Standardwerk« (Freitag) für unsere deutsche Ausgabe überarbeitet und aktualisiert. Der San Francisco Chronicle: »Das Buch deckt die Rolle von Regierungsbehörden und ihren Beitrag zu der Drogenepidemie auf, die unser Land überwältigt.« Und fast die ganze Welt. Die New York Times: »Das Buch schildert, wie CIA und US-Außenministerium Drogenbosse unterstützen, Beweise unterdrücken und sogar direkt in den Drogenhandel verwickelt sind.« Deutsche Erstausgabe. Deutsch von Andreas Simon. 24 Bilder. 840 Seiten. Broschur. 19,90 €. Nummer 18497.
Michel Chossudovsky
Global brutal Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg
Dieses Buch wird bei vielen Lesern Bestürzung und Fassungslosigkeit auslösen« (Nürnberger Nachrichten). Prof. Michel Chossudovsky gelingt es, den aggressiven, antidemokratischen Geist der Globalisierung so deutlich ans Licht zu zerren, wie es bislang noch kaum jemandem gelungen ist. Die Allianz der Reichen – unter Führung der USA – forciert die Globalisierung der Armut, der Umweltzerstörung, der sozialen Apartheid, des Rassismus und der ethnischen Zwietracht. IWF und Weltbank untergraben systematisch alle Bereiche der städtischen und bäuerlichen Wirtschaft in den armen Ländern, die nicht direkt den Interessen des globalen Marktsystems der Multis dienen.
Das Buch zeigt, wie eklatant die WHO in nationale Gesetze und die Verfassungen der Mitgliedsstaaten eingreift, während sie globalen Banken und multinationalen Konzernen ausgedehnte Rechte verleiht. Deutsche Erstausgabe. Deutsch von Andreas Simon. 477 Seiten. Broschur. 12,75 EUR. Nummer 18420.
Joe Sacco
Palästina Die preisgekrönte Comic-Reportage Joe Sacco schildert das Leben in Palästina und Israel aus der Sicht eines jungen US-Amerikaners, der eine fremde, unbekannte Welt betritt, in der die Menschen traumatisiert sind von Terror und militärischer Besatzung, in der Verhaftungen und Demütigungen, Zerstörung und Enteignung zum Alltag gehören. Er hört den Opfern von brutalen Folterungen (»gemäßigter physischer Druck«) zu, besucht die Basare und Flüchtlingslager im Westjordanland, sieht die Klagemauer in Jerusalem und diskutiert mit jungen Israelis in Tel Aviv über besetztes Land (»Es gab einen Krieg, wir haben ihn gewonnen, also gehört das Land uns«), Gewalt, Misstrauen und die Hoffnung auf Frieden. Für seine Arbeit wurde Sacco mit dem American Book Award ausgezeichnet. Edward W Said, nennt »Palästina« ein »Werk von großer künstlerischer und politischer Bedeutung und außergewöhnlicher Kreativität, das sich von der langen, oft hoffnungslos verfahrenen und emotional überfrachteten Kontroverse zwischen Palästinensern, Israelis und ihren jeweiligen Fürsprechern wohltuend abhebt.« Deutsche Erstausgabe. Deutsch von W. Götting. 285 Seiten. Format 18x27 cm. Fadenheftung. Fester Einband. 17,90 €. Nummer 18498.
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