Uwe Naumann
Verführung zum Lesen Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten
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Uwe Naumann
Verführung zum Lesen Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten
scanned by unknown corrected by wneumeier In diesem Band berichten prominente Zeitgenossen über ein Leseerlebnis, das für ihr Leben besonders wichtig war. Jeder Beitrag stellt also ein Buch vor (oder auch mehrere Texte) und gibt zugleich ein kleines Stück Autobiographie preis. Dabei geht es nicht um einen offiziellen oder offiziösen Kanon, sondern um sehr subjektive Erfahrungen: welches Buch hat für jemanden in einer bestimmten Situation oder Zeit eine besondere Rolle gespielt, hat vielleicht ein ganzes Leben geprägt? Und warum war das so? Das wichtigste und schönste Ziel der Anthologie ist es, andere Menschen zum Lesen zu 'verführen'. ISBN: 3 498 04682 9 Verlag: Rowohlt Erscheinungsjahr: 2003
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Buch Wer kennt es nicht, das Gesellschaftsspiel: «Wenn Sie auf eine einsame Insel verbannt würden, welche drei Bücher würden Sie dann mitnehmen?» Bücher, das ist eine Binsenweisheit, können zur Entspannung und Unterhaltung beitragen, können ein pures Vergnügen sein – aber sie können auch weit mehr. Bücher können zum ‹Lebensmittel› werden oder zum Wegweiser, zum Denkanstoß oder Stolperstein, zum Auslöser vielleicht für wichtige Entscheidungen. In diesem Band berichten zweiundfünfzig prominente Zeitgenossen über Leseerlebnisse, die für ihr eigenes Leben besonders wichtig waren. Jeder Beitrag stellt also ein Buch vor (oder auch mehrere Texte) und gibt zugleich ein kleines Stück Autobiographie preis. Dabei geht es nicht um einen offiziellen oder heimlichen Kanon, sondern um sehr subjektive Erfahrungen und Erinnerungen: Welches Buch hat für jemanden in einer bestimmten Situation oder Zeit eine besondere Rolle gespielt, hat vielleicht ein ganzes Leben geprägt? Und warum war das so? Das wichtigste und schönste Ziel dieser Anthologie ist es, andere Menschen zum Lesen zu ‹verführen›. In einer Zeit,. da in der Öffentlichkeit gern der Niedergang der Lesekultur beklagt wird, möchten wir ein unmissverständliches Zeichen setzen. Lassen Sie sich verführen! Gehen Sie mit unseren zweiundfünfzig Prominenten auf Entdeckungsreise – in deren eigenes Leben, und in die aufregende, wunderbare, von keinem Horizont begrenzte Welt der Bücher.
Autor
Der Herausgeber Uwe Naumann, geboren 1951 in Hamburg, ist Programmleiter Sachbuch im Rowohlt Verlag. Er edierte unter anderem die Werke von Heinar Kipphardt sowie Klaus und Erika Mann. 1999 gab er zusammen mit Barbara Hoffmeister den Band heraus: «Was die Republik bewegte. Fünfzig Zeitgenossen erinnern sich». Ebenfalls 1999 erschien sein von der Stiftung Buchkunst preisgekrönter Bildband «‹Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluß›. Klaus Mann (1906 -1949)».
Inhalt Vorbemerkung ........................................................................ 8 GABI BAUER Siegfried Lenz – «Deutschstunde» ................................. 10 THORSTEN BECKER Das Pferd ohne Kopf ........................................................... 14 REINHOLD BECKMANN Jack Kerouac – «Unterwegs» ........................................... 18 KLAUS BEDNARZ Großvaters Buch................................................................... 24 FRÉDÉRIC BEIGBEDER Marcel Proust – «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» ......................................................................................... 27 HEINZ BERGGRUEN Deutschland, Heine und Thomas Mann ........................ 31 NORBERT BLÜM Mein Lieblingsbuch............................................................. 35 FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS Elf Freunde und ein Grüner Heinrich............................. 37 GERHARD DELLING Ein kleiner Schatz ................................................................ 41 JOHN VON DÜFFEL Verliebt in Lady Macbeth .................................................. 46 AMELIE FRIED Lichtjahre, Wendepunkte................................................... 52 HEINZ FRIEDRICH Die ganze Welt ist Buch .................................................... 58 ERNST FUCHS
Ein Gruß vom Alten Meister ............................................ 62 ROBERT GERNHARDT Ein Verbündeter ................................................................... 66 PETRA GERSTER «… auch wenn ich nur eine Gans bin» Tony Buddenbrook und ich............................................... 70 MAX VON DER GRÜN Meine Sternstunde ............................................................... 76 ULLA HAHN Hätte sie nur lesen und schreiben können! ................... 79 PETRA HAMMESFAHR Karl May und die Menschenrechte ................................. 85 KLAUS HARPPRECHT Glück des Wiedererkennens «Der Mann ohne Eigenschaften» .................................... 89 FELICITAS HOPPE Il Milione – Die Wunder der Weit .................................. 97 WALTER JENS «Buddenbrooks» oder Die eiserne Ration .................. 100 MICHAEL JÜRGS Magische Momente ........................................................... 104 JÖRG KACHELMANN Im Sinne der Verkehrssicherheit ................................... 109 MARGOT KÄSSMANN Ein Buch, das mein Leben verändert hat .................... 111 EPHRAIM KISHON Verwandte Seelen .............................................................. 116 RUTH KLÜGER Kein Tag ohne Lyrik ......................................................... 119 UWE KOLBE
Deutschland. Ein Wintermärchen ................................. 124 HELMUT KRAUSSER Meine erste Zweitwelt ...................................................... 129 HARDY KRÜGER Felix Jud und seine Bücherstube ................................... 132 DIETER KÜRTEN Das Buch der Bücher ........................................................ 143 ULLA LACHAUER Der neugierige Affe Ein Held aus Kindertagen kehrt zurück....................... 146 SIGRID LÖFFLER Kein Buch – ein Kontinent Shakespeares Königsdramen .......................................... 152 ERICH LOEST Begleiter ein Leben lang .................................................. 156 ELISABETH MANN BORGESE Goliath – Der Marsch des Fascismus ........................... 160 JULIAN NIDA-RÜMELIN Doktor Schiwago................................................................ 164 JAN PHILIPP REEMTSMA Der Große Brockhaus ....................................................... 167 NINA RUGE Kuller, Purzel, Platsch oder: Am Anfang war Erziehung ............................................................................. 169 KATHARINA RUTSCHKY Mädchen zur Sonne und Freiheit! Über den Einfluss eines Kunstlexikons auf mein Leben ........................... 175 OLIVER SACKS Heilige Neugier .................................................................. 182 SAID das schweigen des meeres ............................................... 188
HANS JOACHIM SCHÄDLICH «Unterst Stuf von menschliche Geschlecht» Über Georg Büchners «Woyzeck» .......................................... 192 WOLFGANG SCHMIDBAUER Tolle lege .............................................................................. 195 FRIEDRICH SCHORLEMMER Denken zwischen den Fronten ....................................... 200 HERMANN SCHREIBER Helden wie wir .................................................................... 206 ANTONIO SKÁRMETA In Nerudas tiefer Schuld .................................................. 217 SMUDO Motorsport als Gleichnis .................................................. 222 PETER SODANN Bibliothek gegen das Vergessen .................................... 225 DOROTHEE SOLLE Falls ich Brecht im Himmel treffe ................................ 229 UWE TIMM Lese-Lust .............................................................................. 237 GYULA TREBITSCH Lesen ist ein Lebens-Mittel ............................................. 238 KLAUS WAGENBACH Schätz mal! .......................................................................... 242 ULRICH WICKERT Nie ganz geschlagen Über Philip Marlowe und andere .................................. 246 Die Autorinnen und Autoren .......................................... 249
Vorbemerkung «Wie Proust Ihr Leben verändern kann» – so nannte der aus der Schweiz stammende Schriftsteller Alain de Botton sein 1997 erschienenes Buch, das in literarischen Kreisen für Gesprächsstoff sorgte. Bücher, das ist eine Binsenweisheit, können zur Entspannung und Unterhaltung beitragen, können ein pures Vergnügen sein – aber sie können auch weit mehr. Bücher können zum ‹Lebensmittel› werden oder zum Wegweiser, zum Denkanstoß oder Stolperstein, zum Auslöser vielleicht für wichtige Entscheidungen. In diesem Band berichten 52 prominente Zeitgenossen über Leseerlebnisse, die für ihr eigenes Leben besonders wichtig waren. Jeder Beitrag stellt also ein Buch vor (oder auch mehrere Texte) und gibt zugleich ein kleines Stück Autobiographie preis. Dabei geht es nicht um einen offiziellen oder heimlichen Kanon, sondern um sehr subjektive Erfahrungen und Erinnerungen: welches Buch hat für jemanden in einer bestimmten Situation oder Zeit eine besondere Rolle gespielt, hat vielleicht ein ganzes Leben geprägt? Und warum war das so? Das wichtigste und schönste Ziel dieser Anthologie ist es, andere Menschen zum Lesen zu ‹verführen›. In einer Zeit, da – angesichts der Expansion der neuen Medien – gern der Niedergang der Lesekultur beklagt wird, möchten wir ein unmissverständliches Zeichen setzen. Die Bereitschaft, an dem Buch mitzuarbeiten, war groß – und allen Autorinnen und Autoren sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Die Anthologie enthält manche Überraschungen, und gerade darin liegt ein besonderer Reiz. Oder hätten Sie zum Beispiel erwartet, 8
dass der Sportjournalist Dieter Kürten die Bibel zum Buch seines Lebens erklärt, dass Petra Hammesfahr durch die Lektüre von Karl-May-Romanen geprägt wurde? Dass Reinhold Beckmann ein begeisterter Jack-Kerouac-Leser war, während Nina Ruge sich von Alice Miller faszinieren ließ? Eine unserer Autorinnen hat das Erscheinen der Anthologie nicht mehr erlebt: Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter von Katia und Thomas Mann. Sie starb am 8. Februar 2002, wenige Tage vorher hatte sie mir per E-Mail den Aufsatz geschickt, der im vorliegenden Buch abgedruckt ist – es ist wohl der letzte größere Text, den sie geschrieben hat. Durch Heinrich Breloers Fernsehfilm «Die Manns. Ein Jahrhundertroman», in dem sie als Kronzeugin die Geschichte ihrer Familie kommentierte, wird Elisabeth Mann Borgese uns allen im Gedächtnis bleiben. Das vorliegende Buch erscheint in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen, deren Schirmherr Bundespräsident Johannes Rau ist. Der Stiftung und ihrem Vorstandsvorsitzenden Georg Ruppelt sei für ihre Unterstützung nachdrücklich gedankt. Und nun lassen Sie sich verführen! Gehen Sie mit unseren 52 Prominenten auf Entdeckungsreise – in deren eigenes Leben, und in die aufregende, wunderbare, von keinem Horizont begrenzte Welt der Bücher! Dezember 2002 Uwe Naumann
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GABI BAUER Siegfried Lenz – «Deutschstunde» Vielleicht war ich siebzehn, vielleicht auch neunzehn Jahre alt. Vielleicht war es eines dieser gebundenen Bücher, die sich in der Hand so sinnlich anfühlen, wie sie auf die Seele wirken, wahrscheinlich war es eher ein dtvTaschenbuch. Mit Sicherheit lag es aber auf meinen hoch gestellten Knien, weil ich keine Hand frei hatte. Damals, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war Stricken noch populärer als Siegfried Lenz, also las ich, Buch auf den Knien, während meine Hände vor sich hin werkelten. Im Sinne dieser Anthologie wäre jetzt wohl am passendsten der Satz: Und dieses Buch von Siegfried Lenz zog mich derart in seinen Bann, dass der zugehörige Pullover am Ende der letzten Seite zwei Meter fünfzig lang war. Stimmt aber nicht. Frauen können ja, wie neuerdings sogar wissenschaftlich nachgewiesen ist, auf mehreren Handlungsebenen parallel funktionieren, also hoch entwickelten Alltagsarbeiten nachgehen und gleichzeitig in düstere norddeutsche Tiefebene der menschlichen Seele abtauchen. Ich las «Deutschstunde». Zum ersten Mal. Später habe ich den Roman in unterschiedlichen Stimmungen noch zweimal gelesen. Einmal, weil mich der literarische Aufbau fasziniert, die klug verwobenen Erzählstränge. Da ist der junge Mann, der in einer Strafarbeit seine Jugend während der letzten Kriegsjahre hinterm Deich auf- und soweit möglich 10
verarbeitet. Aus dieser Deutschstunde im Jugendgefängnis wird ein Jahr des Schreibens, die Rahmenhandlung des Romans. Da ist der Konflikt, der diese Jugend geprägt hat, die Auseinandersetzung zwischen dem «entarteten» Maler Max Ludwig Nansen und dem Vater, der als «nördlichster Polizeiposten Deutschlands» nur seine Pflicht tut und das von den Nazis erteilte Malverbot überwacht. Beschrieben aus der Innensicht des Sohnes, der zwischen den Fronten zermürbt wird, zwischen dem Mitläufer und dem Querdenker, zwischen Pflicht und Widerstand. Beschrieben auch aus der Außensicht eines PsychologieStudenten, der den jungen Mann im Gefängnis zum Gegenstand seiner Doktorarbeit macht. Ich habe diesen Roman nicht ausgewählt, weil er mir – das ist sein Hauptanliegen – die Augen geöffnet hätte für die Tatsache, dass gedankenlose Pflichterfüllung gedankenlos grausam sein kann. Das hatten uns die Lehrer in den Jahren nach ’68 schon in der Schule deutlich genug gemacht. Dennoch ist das Buch auch für seine gesellschaftlichen Aussagen nach wie vor lesenswert. Die Fragen der Schuld, der Pflicht, der Kunst im Verhältnis zur Politik, auch der Verstrickung jedes Menschen in seine eigenen Zwänge. Geprägt aber hat mich an Lenz’ Roman etwas anderes. Das Norddeutsche. Und die Farben. War damals irgendjemand heimatverbunden? Internationalisten waren wir. Urlaub in Frankreich. Reisen durch die ganze Welt, politisches Interesse an Lateinamerika, romantische Sehnsucht nach Afrika. «Mit wie vielen Überraschungen konnte allein die Nordsee aufwarten …» – hat das irgendwen interessiert? Die Nordsee, «die bei der Hinfahrt noch breit, fast verschlafen 11
den Strand leckte, auf der Rückfahrt dann taumelige Wellen aus grünblauer Tinte gegen die Buhnen schleuderte. ( … ) Oder der Wind: einmal pfiff er durch die Speichen und war vergnügt und wollte sich totlachen, wenn man ins Schleudern kam, dann warf er einem wütend den Regenumhang ins Gesicht oder ließ den Umhang flattern und schlagen oder schubste einen vom Deich. Wie oft alles wechselt hier …» Manche Kritiker haben Lenz’ langsamen, detailverliebten Schreibstil als «behäbige Beschreibungsprosa» kritisiert. Ich gebe zu: Auch ich habe einige Absätze in Lenz’ Werken überflogen. Die meisten habe ich ausgiebig genossen. Lenz lässt sich Zeit, Bilder zu entwerfen, die Zeit brauchen, Menschenbilder wie Landschaftsbilder. Das ist wie slow food, wenn die Worte langsam auf der Zunge zergehen und Geschmack entwickeln. Seit der pflichtversessene Dorfpolizist zum ersten Mal vor meinen Augen sein Fahrrad bestieg, genau so, wie er es immer tat, sitzt sein Bild fest in meinem Kopf. Habe ich ein gebrochenes, aber intensives Verhältnis zu dem Mann, dem Deich, auf dem er entlang segelt, und dem Nordseewind. Ein Verhältnis, das inzwischen schon zwei Jahrzehnte überdauert hat: «Er packte das Fahrrad mit einer Hand an der Hinterkante des Sattels, mit der anderen an der Lenkstange und drehte es herum. Dann schob er es zum Ziegelweg hinab, hielt unter dem spitzen, auf unser Rotsteinhaus zielenden Schild ‹Polizeiposten Rugbüll›, brachte das linke Pedal in günstige Ausgangsstellung, saß auf und fuhr mit straff geblähtem Umhang, der zwischen den Beinen mit einer Klammer zusammengefaßt war, Richtung Bleekenwarf, ( … ) immer auf dem Kamm des Deiches entlang, ( … ) die Stöße des Windes parierend, die blauen Augen gesenkt, ( … ) ohne Dringlichkeit, nur mühselig …» 12
Lenz lässt mich die See riechen, den Nordwest spüren und den Radler in der Landschaft sehen wie auf einem Gemälde von Emil Nolde. Oder Ernst Ludwig Kirchner. Oder Max Beckmann. Oder eben Max Ludwig Nansen, wie Lenz seinen Maler aus Bleekenwarf nennt. Emil Nolde hieß übrigens mit bürgerlichem Namen Hansen. Und entwarf während des NS-Malverbots heimlich viele Dutzend kleiner Aquarelle, die er «ungemalte Bilder» nannte. Der Maler Nansen trägt eine extrem verdächtige Mappe mit weißen Blättern bei sich – ungemalte Bilder. Lenz selbst malt mir seine Landschaft in expressionistischen Tönen. Da geben sich die Wiesen im Herbst noch als grün aus, haben aber schon gelbbraunen Schimmer, neben schattigen bleifarbenen Gräben drängt sich immer wieder Ziegelrot ins Bild, und wer der grobknochigen Hilke nachschaut, sieht, wie sie sich langsam entfernt, Blau vor Grün, Blau vor Sandbraun … Das ich diesen Norden und diesen Expressionisten Emil Nolde entdeckt habe, und zwar in jungen Jahren, das verdanke ich dem Expressionisten Lenz und seiner «Deutschstunde». Und wenn ein Roman es fertig bringt, einen Teenager für Malerei zu interessieren, dann muss an dem bildhaften, ausufernden, farb-, nuancen-, detailverliebten Stil des Schriftstellers doch etwas dran sein. Oder?
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THORSTEN BECKER Das Pferd ohne Kopf Es war eine dieser Krankheiten, von denen wir in unseren Kinderjahren heimgesucht werden. Welches ihr Name, ob Masern, Windpocken, Mumps oder sonst etwas, das weiß ich nicht mehr, und es ist auch nicht erheblich, wohingegen dem von ihr erzeugten Fieber und der durch sie erzwungenen Fesselung an das Bett über mehrere Tage und Nächte hervorragende Bedeutung zukommen für das Prägende bei jenem Erlebnis an der, genauer: in der Literatur. Das Buch selbst, welches mir unvermutet zum Vehikel wurde und mich entführte in eine neue Sphäre, war mit Wahrscheinlichkeit eine Hervorbringung von sehr geringfügigem Werte; da es aber an mir das entscheidende Wunder bewirkte, habe ich von ihm nicht anders als mit Dankbarkeit und Hochachtung zu sprechen. Leider kann ich dies nicht mit Ausführlichkeit tun, denn es ist davon kaum etwas in der Erinnerung verblieben. «Das Pferd ohne Kopf» hieß der Titel, und die Tatsache, daß dem Band der Rücken fehlte, daß er auch sonst recht mitgenommen erschien, mag bezeugen, daß schon mein großer Bruder, von dem ich es hatte, aufs heftigste darin involviert gewesen sein mußte. Nicht, daß die Zerlesenheit des Exemplars es mir sonderlich empfohlen hätte, im Gegenteil mußte ich einen Widerwillen in der Nähe des Ekels überwinden, um es der Lektüre würdig finden zu können, wovon Reste sich in mir erhalten haben bis auf den Tag. Sieben Jahre muß ich alt 14
gewesen sein, höchstens acht, und es war meiner Leselust bis dahin ganz ausschließlich Jungfräuliches zum Opfer geworden. Hätte damals schon die buchhändlerische Unsitte geherrscht, der Kundschaft das Objekt der Begierde in Cellophan eingeschweißt darzubieten, ich glaube, es wäre meiner Neigung stark entgegengekommen. Den Versuchen meiner großen Schwester, mich in der städtischen Leihbücherei für die Bestände der Kinderabteilung zu interessieren, hatte ich blasiert und nötigenfalls auch vehement zu widerstehen gewußt. Für mich und für sonst niemanden auf der Welt sollte der Stoff bestimmt sein, mit dem ich mich amalgamierte im Leseprozeß, und die verlangte Reinheit des Gewünschten konnte ich hier wie schon bei der Milch nur von meiner Mutter bekommen. Sie war Mitglied einer Buchgemeinschaft und vergaß mich nie, wenn sie auf der letzten Seite des Quartalsprogramms den Bestellbogen ausfüllte. Nach welchen Kriterien ich meine Entscheidungen traf, kann ich nicht genau rekonstruieren, jedoch zeigt die Art meiner Wahl, daß das Terrain, welches die Literatur nach und nach okkupieren sollte in meinem Bewußtsein, vom Fernsehen bereits stark kontaminiert war. «Der kleine dicke Ritter», «Der Löwe ist los», «Jim Knopf und die wilde 13», «Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer», «Bill Bo und seine Bande» hießen nach den Serien der Augsburger Puppenkiste die ersten Bücher, die einzogen in mein Regal, und hätte es damals schon Videorecorder gegeben, wäre vielleicht nie ein Leser aus mir geworden, denn ursprünglich beschäftigte ich mich mit dem Gedruckten nur, um mir das auf der Glotze Entflimmerte wiederzuholen. Daneben existierte aber noch eine andere Reihe, die sich mit jedem Quartal verlängerte um einen Band und der ich 15
verfallen war ganz ohne Beeinflussung durch Television. «Blitz, der Schwarze Hengst und …» stand auf den Rücken, und die Einkäufer jenes Buchclubs durften sich verlassen auf mich, denn jede Neuerscheinung dieses menschenfreundlichen Ausnahmepferdes wurde von mir mit Ungeduld erwartet und druckfrisch verschlungen. Indessen ist mir heute nicht ein Detail mehr präsent von dem, was ich da dutzendweise hineinlas in mich. Anzunehmen, daß es Zufälle waren, die mich veranlassen konnten, meine Zuflucht bei einem vom Bruder verschlissenen und abgelegten Buche zu suchen. Mag sein, daß mich die Krankheit ganz am Ende eines Quartales befiel, weswegen meine eigenen Vorräte restlos aufgebraucht waren. Gewiß hat auch das Pferd im Titel seine anziehende Rolle gespielt. Dabei stellte sich schon auf den ersten Seiten heraus, daß es sich beim Helden gar nicht um ein lebendiges Wesen handelte, aus Fleisch und Blut und mit den Eigenschaften des guten Charakters begabt. Doch war es an diesem Punkt schon zu spät, ich vermochte mich nicht mehr zu lösen aus den Fängen dieses Romans. Was mir dort im Fieber der Kinderkrankheit geschah, hat sich später während der Studentenzeit – auf anderem Niveau freilich – wiederholt, als ich von dem berühmten Franzosen auf die Suche nach seiner verlorenen Zeit geschickt wurde. Ich will vermuten, daß in beiden Fällen die Magie des Stils dafür verantwortlich war, daß ich mit wehender Fahne überlief aus der Gefangenschaft des Bettes und der Krankheit in die der Imagination eines Fremden. Gleich Proust war auch der Autor von «Le Cheval sans Tete» ein Sohn der Großen Nation, ich hielt, ohne ahnen zu können, daß es so etwas gab, eine Übersetzung in meinen Kinderhänden. Das Fieber, das mir die Gegenstände meiner Umgebung ins Unwirkliche rückte, formte gleichzeitig, was ich mir 16
lesend vorstellte, plastisch, präzis und real. Das Pferd ohne Kopf steht in dieser Sekunde in einer Deutlichkeit vor mir wie nur sehr weniges von dem, was meine Kinderaugen tatsächlich erblickten. Es ist ein Spielzeugpferd, von der Größe eines ausgewachsenen Schäferhundes etwa, auf einem Fahrgestell mit Rädern. Sein Fell ist aus einem abgeschabten, samtartigen Stoff, wie bei einem Apfelschimmel gefleckt, der Schwanz hängt in langen grauen Strähnen, aber es fehlt ihm der Kopf. Aus dem offenen Hals quillt das Stroh hervor, mit dem es gestopft ist. Natürlich haben wir, das sind meine Spielkameraden und ich – wir tragen sämtlich französische Namen –, als wir es in einem Schuppen nahe der Rue Soundso entdeckten, sogleich mit einer genauen Inspektion seines Innenlebens begonnen. Da zeigte sich dann, daß beinahe der ganze Rumpf mit Franc-Scheinen angefüllt war … Auf welchen Betrag sich das Geld summte, nachdem wir es durchgezählt hatten, das weiß ich nicht mehr. Fest steht jedenfalls, wir wären, hätten wir es, wie einer der Jungens vorschlug, geteilt unter uns, reiche Männer geworden, Selbstverständlich stammte das Geld aus einem Bankraub, selbstverständlich haben wir die Täter überführt, selbstverständlich haben wir sie anschließend mitsamt der Beute an die Polizei ausgeliefert. Dann wurde ich wieder gesund und arm. Und doch wurde ich nie wieder der, welcher ich vor dieser Krankheit gewesen. Es hatte gedämmert, und es wurde von Buch zu Buch klarer, daß nichts so ist, wie es scheint, kein Ding und kein Mensch. Nur die Tiere und die Pflanzen sind so, wie sie scheinen, deshalb hat Gott sie zwischen uns und die Dinge gestellt, damit wir begreifen.
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REINHOLD BECKMANN Jack Kerouac – «Unterwegs» Es gibt Lebensabschnitte, die sich in der Erinnerung so einprägen, als wären sie gestern gewesen. Bei mir gehört dazu das Jahr 1976. Ich war gerade zwanzig, der Vietnamkrieg seit einem Jahr zu Ende und Jack Kerouac bereits sieben Jahre tot. Als mir sein Buch «On the road» in die Hände fiel, war für mich schnell klar: Hier schreibt einer für dich. Kerouacs Roman, da gab es keinen Zweifel, mochte Literatur sein, für mich wurde er zum Handbuch eines Lebensgefühls. Was Enzensberger mit seiner Zeile «Lies keine Oden mein Sohn, Lies die Fahrpläne» auch immer gemeint hatte, ich glaubte es verstanden zu haben. Kerouac war Kompass und Reiselektüre in einem. Mit diesem Buch konnte für mich das wirklich werden, was bisher nur eine heimliche Sehnsucht war, mein Amerika zu entdecken. Der Autor hatte einen Reiseroman ganz anderer Art geschrieben, eine Art Taugenichts der Beatgeneration, der bald zur Hippiebibel werden sollte. Ich hatte nach dem Abitur nicht vor, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Erst recht wollte ich nicht sofort mit dem Studium beginnen. Meine Interessen gingen in eine andere Richtung. Ich wollte an der Welt teilnehmen, eine Art zu leben ausprobieren, die den Blick öffnete, die keine Grenze kannte. Dazu gehörte die Faszination des Reisens als eine ideale Existenzform, bei der ständige Bewegung, ungewohnte Erfahrungen und überraschende Begegnungen das eigentliche Ziel waren. Unterwegs sein, nicht ankommen, einfach die Weite des Raumes genießen. Jahre vor mir hatte Kerouac genau diese Empfindungen zu 18
einem Roman werden lassen, in dem es keine Helden gab. Es wirkte so, als habe er diese Rolle für mich als idealen Leser freigehalten. Und ich war entschlossen, sie auszufüllen. Meine Vorbereitung für die Staaten war der Fotoband von Jacob Holdt «Bilder aus Amerika». Ein ehrliches Fotoalbum, das eine magische Wirkung auf mich hatte. Es blieb mir also gar nichts übrig, als aufzubrechen und in die endlose Weite des amerikanischen Kontinentes einzutauchen. Von dort kam meine Musik, dort glaubte ich die Antwort auf alle Fragen zu finden, die mich antrieben und die ich doch nicht klar formulieren konnte. Ich wollte nicht warten, bis ich mir diesen Trip wirklich leisten konnte. Nicht reden oder nur träumen, sondern machen. «Do it» war ein Slogan der Beatgeneration, und ich nahm ihn für mich in Anspruch. Ich war beflügelt von einem reichlich verschwommenen Traum einer liberalen Gesellschaft, frei von den Zwängen des Elternhauses, unbelastet von einem fremd gewordenen Ordnungssystem. Auch da wusste ich Jack Kerouac an meiner Seite. Das war beruhigend. Wer in bester Gesellschaft reist, ist zu beneiden. Mit mir waren Iron Butterfly, Greatful Dead und Jefferson Airplane unterwegs, jedenfalls ihre Musik und damit die Gewissheit, mit dem richtigen Rhythmus auch die richtige Reiseroute einzuschlagen. Ich hatte ein Jahr gearbeitet und ein bisschen Geld gespart. Mit einem Freund wollte ich den ganzen nordamerikanischen Kontinent durchqueren und bis nach Mexiko fahren. Ausgangspunkt war New York, hier beginnt auch Kerouacs Roman. Nicht nur für uns die Stadt der Städte, also wollten wir hier unsere Reise starten. Wir, das waren Ulli und ich. Beide aus Twistringen, beide vom Land. 35000 km lagen vor uns, die Flugkilometer nicht eingerechnet. Wir suchten in New York auf dem 19
Gebrauchtmarkt einen Wagen, den wir zur Not selbst reparieren konnten. Nicht einen der großen Straßenkreuzer, die Benzin schlucken wie ein Lkw. Wir fanden für 550 US$ einen VW Cabrio pink metallic. Ein Bonbonauto in der bunten Welt des Westens. Es trug ein gelbes Nummernschild mit der Autonummer DKA 444 und den Namenszug von New York, denn dort war es angemeldet. Das sollte uns einige Monate später in Mexiko große Probleme bereiten. Die erste Station machten wir unfreiwillig in der Bronx. Reifenpanne. Gerade mal zehn Meilen gefahren, und schon spielte uns der Wagen den ersten Streich. Das Abenteuer sollte früher beginnen als geplant. Warum nicht in Manhattan, in Queens, zur Not in Brooklyn, warum in der Bronx? Wir waren die einzigen Weißen weit und breit und hatten jede Menge Horrorgeschichten im Kopf, aber es passierte nichts. Wir konnten sogar in dieser gottverlassenen Gegend an einem Samstagabend einen neuen Reifen besorgen. In einer filmreifen Szene rollte ich den platten durch die Bronx und wurde milde belächelt. Das gab’s offenbar nicht alle Tage: «Schaut her, dem weißen Mann geht’s nicht gut. Er hat tatsächlich ein Problem.» Unversehens war ich mitten in Jack Kerouacs Amerika geraten, und ich gestehe: mit gemischten Gefühlen. Ein Tankwart durchwühlte sein Lager, bis er einen passenden Reifen fand, und ich rollte den Weg zurück. Mit dem Gedanken an Kerouac, dass am Ende alles gut gehen wird, wechselten wir den Reifen und wurden dabei lediglich mitleidsvoll angesehen. Zurück blieb für Tage die Furcht, dass wir doch mit Zitronen gehandelt haben könnten und den Wagen auf den Schrott fahren müssten. Ventile konnten wir nachstellen, Bremsbeläge wechseln, auch den Motor austauschen. Wir wollten einmal Mexiko 20
und zurück, das heißt zweimal quer durch die USA. Das erste Hindernis war gemeistert, aber vielleicht würde es ja noch schlimmer kommen. Wir waren auf vier Monate eingerichtet, knapp bei Kasse und nächtigten in Motels oder kleineren Absteigen. Im Auftrag von Kerouac unterwegs, fanden wir YMCA-Herbergen definitiv uncool. Für alle Fälle hatten wir auch ein Zelt in New York gekauft. Wir lebten sparsam, was im Land des Fastfood nicht schwierig war, und planten, falls das Geld ausgehen sollte, uns nach Arbeit umzusehen. Allmählich wurden wir immer mehr selbst zum Personal des Romans, empfanden wie die Jungs, die Kerouac durch die Staaten ziehen ließ. Sie trampten, nahmen den Bus, benutzten Pick-ups, und Dean und Jack waren ständig abgebrannt. 1976 feierte die USA ihre Unabhängigkeit zum 200. Mal. Ulli und ich hatten den Plan, zu der Zeit in Texas zu sein, und kamen tatsächlich am 4. Juli dort an. Bis zu dieser Zwischenstation hatte ich Amerika unpolitischer erlebt, als ich es vermutete. Nichts war zu spüren vom gerade beendeten Vietnamkrieg. Das Trauma wurde schweigend übergangen, man wollte sich selbst feiern und kein Wort über die Schmach verlieren. Im ganzen Land gab es Paraden. Auch in Texas. Aber dann kam der große Regen nach Austin, und der Aufmarsch fiel buchstäblich ins Wasser. Die Melancholie eines Regentages legte sich über die Feiern, als hätte Jack Kerouac Regie geführt. Wir ließen uns weiter durch die Staaten treiben. Machten einen Abstecher nach Kanada, tauchten in die Tiefen des Grand Canyon, durchquerten das ländliche Wyoming, waren am Mississippi in Georgia, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Amerikanische Mädchen waren Weltmeister im Flirten. Sie gurrten und freuten sich, einen Deutschen zu treffen, aber die puritanische Erziehung stand jedem näheren Kontakt im Wege. Das war eine 21
bittere Erkenntnis, Mädchen mit Angst vor körperlicher Berührung. Also verliebten wir uns in die wunderbare Sängerin Grace Slick von Jefferson Airplane, die wir in San Francisco bei einem riesigen Freiluftkonzert erlebten. Nach nun mittlerweile gut zwei Monaten erreichten wir die mexikanische Grenze, die mir etwas gruselig in Erinnerung geblieben ist. Wir wurden regelrecht in einer Menschenmenge hinübergespült. Es regnete in Strömen, und die Straßen waren durch Geröllmassen nahezu unpassierbar. Wir wollten die Sierra Madre von Ost nach West überqueren. Gewaltige Berge, die wir aus dem Kino kannten. Eine naive Vorstellung – um diese Jahreszeit mit dieser Ausrüstung, ein Abenteuer, das nur ohne das Bewusstsein der wirklichen Gefahren gewagt werden konnte. Endlich am Golf von Mexiko, umringten uns die geisterhaften Gestalten der Yucca-Palmen und Orgelpfeifenkakteen. In den kleinen Restaurants in Mazatlan direkt am Pazifik saßen mexikanische Hippies mit Strohhüten auf Hockern und verschlangen unförmige Tortillas, Bohnen und Tacos. Das Bier war billig. Barfüßige Frauen beobachteten uns. Scharen von Menschen waren zu Fuß unterwegs. Wir zwei unrasierten, hippiemäßig gekleideten Deutschen waren im Gegensatz zu den gepflegten Touristen äußerst interessant. Jack Kerouac hatte es vorausgesehen, aber die Mädchen aus seinem Roman warteten auch hier nicht auf uns. In irgendeinem mexikanischen Kaff hielten uns ein paar junge Typen an, die sich als Polizisten in Zivil entpuppten. Sie stellten uns an die Wand, durchwühlten unser Auto und unser Gepäck. Am Ende nahmen sie mir meinen holländischen Zigarettentabak weg. Wir rätselten, warum sie nun gerade uns herauspickten. Es lag am New Yorker Nummernschild, daher hielten sie uns für Yankees. Grund 22
genug, uns sofort eine deutsche Flagge zu besorgen. Wir wollten keine Gringos sein, sondern Alemanos. Mexikaner sind fußballverrückt, und so kamen wir uns näher in der gemeinsamen Erinnerung an die Fußball-WM in Mexico City und den Hinterkopf von Uwe Seeler, mit dem er ein unvergessenes Tor gezaubert hatte. Da war sie wieder, diese zweite, für Wochen verdrängte Identität der beiden jungen Europäer, die für eine Weile ein Stück Literatur für sich gelebt hatten. Wir waren noch immer unterwegs und hatten auf dieser Reise von Jack Kerouac mehr entdeckt, als ich nach dem zehnten Lesen hätte herausfinden können. Die Straßen flirrten und führten alle irgendwie der Sonne entgegen. Die Begegnung mit Kerouac mochte zufällig gewesen sein, aber sie geschah genau zu dem Augenblick, in dem ich Reisen als eine Daseinsmetapher für mein Leben gefunden hatte. Über einige Jahre bestimmten die Erfahrungen von «On the road» meine Blickrichtung, schwangen mit in meinem Lebensrhythmus, und noch heute sind mir die Musik und die Bilder dieser Zeit ganz nah.
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KLAUS BEDNARZ Großvaters Buch Es war eine schlimme Zeit, dunkel und kalt. Hunger herrschte, und der Krieg, der gerade vorbei war, bedrückte die Menschen noch immer. Viele der jungen Männer waren nicht zurückgekehrt, eine Generation ohne Väter wuchs heran. Um Feuerholz zu beschaffen, zog der Großvater mit einem kleinen Handwägelchen in den Wald und grub Baumstümpfe aus. Aus Schuhcreme und Bindfäden bastelte er Kerzen, die flackerndes Licht verbreiteten und Ruß, der sich klebrig auf die Kleider legte. Seine Pfeife stopfte der Großvater mit bläulich qualmendem, stinkendem Knaster, den er Tabak nannte – mannshohes Gestrüpp, das er im Garten angepflanzt, auf dem Dachboden getrocknet und dann mit Großmutters Wiegemesser gehäckselt hatte. Zwei Höhepunkte gab es am Tag. Wenn die Mutter den kleinen Bruder gefüttert hatte und ich den restlichen Brei aus seinem Gesicht lecken durfte. Und wenn der Großvater am Abend ein Buch aus dem riesigen Regal zog und ich mich unter seinem Schreibtisch in meine Höhle verkriechen konnte. Dort war es heimelig und warm, und nur eine sonore Stimme mit leicht thüringischem Akzent war zu vernehmen. Großvater las immer aus demselben Buch vor, einer dicken, großformatigen und in braunen Karton gebundenen Ausgabe der Grimm’schen Märchen. Hänsel und Gretel, Schneeweißchen und Rosenrot, Frau Holle und Der gestiefelte Kater, Rumpelstilzchen, Dornröschen, 24
Hans im Glück, Daumesdick, Rotkäppchen und der Froschkönig waren mir bald vertrauter als unsere Nachbarskinder. Ich bewunderte das tapfere Schneiderlein, amüsierte mich über den Knüppel aus dem Sack, litt mit Aschenputtel, gruselte mich vor dem Teufel mit den drei (goldenen) Haaren, ärgerte mich über Rumpelstilzchen, drückte den Bremer Stadtmusikanten die Daumen und konnte überhaupt nicht verstehen, warum die Frau des Fischers so dumm und habgierig war, dass sie nicht nur Papst, sondern der liebe Gott werden wollte. Manche dieser Märchen lassen mir noch immer keine Ruhe, beschäftigen mich auch heute noch. Schneewittchen etwa. Welch eine Frau! Eitel und putzsüchtig, lässt sich schon vom Anblick eines Kamms und einem Schnürriemen aus bunter Seide verführen! Die Geschichte mit dem Apfel sei ihr nachgesehen, die hat ja schließlich eine lange Tradition. Doch nicht nur der Not gehorchend, will sie den Haushalt der sieben Zwerge versehen, «kochen, betten, waschen, nähen, stricken und alles ordentlich und reinlich halten», sondern sogar «von Herzen gern»! Mit «großer Pracht und Herrlichkeit» will sie ihre Hochzeit feiern und ist dabei auch noch undankbar. Oder warum wurden die sieben Zwerge, die ihr immerhin zweimal das Leben gerettet haben, nicht eingeladen – zumindest ist nichts bekannt darüber. Und über Folter und Todesstrafe müsste man auch einmal dringend mit Schneewittchen reden – von wegen der eisernen, rot glühenden Pantoffeln, in denen die böse Stiefmutter tanzen musste, bis sie «tot zur Erde fiel». Ich weiß, ich sollte mich eigentlich an die Herren Jacob und Wilhelm Grimm wenden. Aber denen bin ich – wie meinem Großvater – ganz einfach dankbar. Sie haben mich in einer schlimmen, kalten und dunklen Zeit für ein paar Stunden die reale Welt vergessen lassen. Und mir 25
Figuren geschenkt, die noch heute zu meinem Leben gehören. Mit denen ich rede und streite, über die ich mich ärgere und freue. Von denen ich gelernt habe, dass Märchen Leben sein können. Und umgekehrt. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich heute vor dem Einschlafen lieber das hässliche junge Entlein, den standhaften Zinnsoldaten oder das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern treffe. Doch das ist schon eine andere Geschichte.
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FRÉDÉRIC BEIGBEDER Marcel Proust – «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» Über Marcel Prousts Meisterwerk ist alles, mitunter bis zum Exzess, gesagt, geschrieben, glossiert worden, und nun wollen Sie, dass ich Ihnen dieses dreitausend Seiten dicke Monstrum in wenigen Zeilen zusammenfasse? Nicht Proust, ich bin jetzt auf der Suche nach der verlorenen Zeit! Der Titel spricht übrigens Bände: Die Suche nach der verlorenen Zeit hätte um ein Haar «Das intermittierende Herz», «Die Dolchstichtauben» oder «Die Stalaktiten der Vergangenheit» geheißen, aber der gewählte Titel fasst das gesamte 20. Jahrhundert letztlich am besten zusammen. Im Grunde ist es gerade das 20. Jahrhundert, das die Zeit beschleunigt hat, in dem alles zum Instantprodukt geworden ist, und Proust hat, wie die meisten Genies, ungewollt die richtige Intuition gehabt. Heute besteht die Pflicht eines jeden Schriftstellers darin, uns bei der Suche nach der Zeit, die das Jahrhundert zerstört hat, zu helfen, denn «die wahren Paradiese sind Paradiese, die man verloren hat». Proust hat sein Kartenhaus aus sieben Bänden geschrieben, um uns schlichtweg zu sagen: Die Literatur dient dazu, die Zeit wiederzufinden … zum Lesen! Natürlich könnte ich Ihnen eine Zusammenfassung seines zugleich impressionistischen und kubistischen, autobiographischen und fiktiven Romans liefern, indem ich mich auf ein paar Eckpunkte stützte: Ja, es ist der Roman der Liebe, die sich durch die Eifersucht in 27
Wahnsinn verkehrt, die Liebe von Swann zu Odette, die des Erzählers zu Albertine; natürlich ist es die Geschichte von Marcel, einem extravaganten Karrieristen, der gerne von der Prinzessin von Guermantes eingeladen werden möchte, da das aber nicht klappt, ein menschenfeindlicher Schriftsteller wird; sicher, es ist das Coming-out eines heimlichen Homosexuellen, der die Dekadenten seiner Epoche, den Baron de Charlus und seinen Freund Jupien, beschreibt, um sich davon reinzuwaschen, dass er genauso ist wie sie; gut, es ist das Gemälde eines künstlichen aristokratischen Milieus vor und während des Ersten Weltkriegs; ohne Zweifel ist es auch das Abenteuer eines jungen Mannes, der erzählt, wie er Schriftsteller geworden ist, indem er über Pflastersteine stolperte, statt sie auf Polizisten zu werfen … Das würde jedoch bedeuten, die Augen vor dem eigentlichen Mittelpunkt des Buches zu verschließen, nämlich der wiedergefundenen Zeit. Sie kann mit allem Möglichen angefüllt sein, die wiedergefundene Zeit: mit der wehmütigen Erinnerung an die eigene Kindheit, wenn man eine Madeleine isst; mit dem Tod, wenn man alt gewordene Snobs wieder sieht; mit der Abnutzung der leidenschaftlichen Liebe, oder wie man den Schmerz in Langeweile verwandelt; mit der unwillkürlichen Erinnerung, einer echten Zeiterforschungsmaschine, die man durch das Schreiben besiegen kann, während man eine Sonate von Vinteuil oder die Kirchenglocken von Martinville hört: «Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! Wie die Jahre.» Sagen wir es rundheraus: Proust schreibt oft sehr lange Sätze, in die viele Leute sich nur mit Mühe hineinfinden. Kein Grund für Schuldzuweisungen; es ist ein Rhythmus, 28
an den man sich gewöhnen muss. Ich persönlich habe diese Schwierigkeit überwunden, indem ich mir Folgendes gesagt habe: Diese unendlich langen, bis ins Letzte ausgefeilten Sätze passen sich den Bewegungen des menschlichen Gehirns an. Wie kann man Proust vorwerfen, lange Sätze zu schreiben, wenn Sie in Ihrem Kopf viel längere (und deutlich weniger interessante, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage) Sätze bilden? Proust wollte nicht sterben, also hat er sich eingeschlossen, hat nachts gelebt und tagsüber geschlafen, wie ein Vampir das Blut des Faubourg Saint-Germain gesaugt und sich von 1906 bis an sein Ende 1922 zu Tode geschuftet, und er hat gewonnen, er ist ewig, denn: «Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur.» Von Gide bei Gallimard abgelehnt, kam In Swanns Welt 1913 auf Kosten des Autors bei Grasset heraus; der nächste Band, Im Schatten junger Mädchenblüte, wurde bei Gallimard verlegt und 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet; danach erlebte Proust noch die Veröffentlichung von Die Welt der Guermantes (1921) und Sodom und Gomorrha (1922), während die drei letzten Bände, Die Gefangene, Die Entflohene und Die wiedergefundene Zeit erst postum, und von seinem Bruder Robert ordentlich durchgeknetet, 1923, 1925 und 1927 erschienen. Und 1927 ist das Jahrhundert zu Ende. Fünf Jahre später gibt es noch Céline, es gibt die achtundvierzig anderen Bücher unserer Hitparade, dazu alle die, die nicht darin auftauchen, aber im Großen und Ganzen sind die Würfel gefallen. Niemand wird JE wieder so schreiben können wie vorher. Niemand wird je wieder so LEBEN können wie vorher. Fortan ist jedes Mal, wenn ein Bild, eine Empfindung, ein Geräusch, ein Geruch Sie an etwas 29
erinnert – vielleicht denken Sie ja sogar gerade jetzt, wo Sie mich lesen, an ein Gefühl, eine Erinnerung, einen Französischlehrer, der Sie in der Oberstufe bis zum Erbrechen mit Proust getriezt hat – jedes Mal also, wenn Sie einen solchen Flashback haben, ist das wiedergefundene Zeit. Das ist dann Proust. Das ist schöner als alle DVDs und packender als jede Playstation. Wissen Sie warum? Weil Proust uns lehrt, dass die Zeit nicht existiert. Das wir bis zu unserem Tod jedes Alter unseres Leben haben. Und das es nur an uns liegt, uns die Minute auszusuchen, die uns am besten gefällt.
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HEINZ BERGGRUEN Deutschland, Heine und Thomas Mann Im Berliner Rundfunk, in den frühen dreißiger Jahren, gab es eine Jugendsendung, in der regelmäßig zweimal in der Woche Bücher für junge Menschen vorgestellt wurden. Bei diesen Buchbesprechungen durfte ich mitmachen, und das erfüllte mich mit Stolz. Ich war 18 oder 19 Jahre alt, und es war meine erste, wenn auch recht bescheidene öffentliche Tätigkeit. Eines der Bücher, das ich rezensieren sollte, hieß Wir durchstreifen Bulgarien, verfasst von einem mir unbekannten Autor, der Hans Huffzky hieß. Ich war begeistert von diesem Reisebericht, er war so lebendig, keine mit banalen Adjektiven angereicherte Aufzählung verschiedenster Orte, die dem Leser als romantisch oder kulturell wertvoll vermittelt werden sollten. Drei Tage später bekam ich einen Anruf aus Dresden, vom Verfasser des Buches, der mir dankte und schrieb, wir sollten uns kennen lernen, er käme demnächst nach Berlin. So lernte ich Huffzky kennen. Es war meine erste Begegnung mit jemandem, der Bücher schrieb, und das fand ich aufregend. Es war mein Einstieg in eine Welt, die mich faszinierte, so wie andere junge Menschen vom Theater träumen oder vom Ballett. Huffzky und ich wurden enge Freunde, aber wir mussten uns trennen und trafen uns erst viele Jahre später wieder. Hitler war dazwischengekommen, ich durfte auch keine Jugendbücher mehr besprechen. 31
1936 wanderte ich nach Kalifornien aus. Die Presse berichtet immer wieder, ich sei geflohen oder die Nazis hätten mich verjagt. Beides stimmt nicht, ich ging aus freien Stücken, allerdings war es, wie sich später zeigte, keine unkluge Entscheidung. Als ich also, wie gesagt, Berlin verließ und ins ferne Ausland reiste, war ich erfüllt von Lyrik: Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal, Georg Trakl und Gottfried Benn, weniger Stefan George. Bald jedoch spürte ich, dass die deutschen Dichter im pragmatischen Amerika, das nun meine zweite Heimat werden sollte, keinen großen Stellenwert hatten. Meine zweite Heimat wurde Amerika nicht, obgleich ich mich sehr um Integration bemühte. Ich versuchte, mich in der amerikanischen Literatur zurechtzufinden, ich befasste mich mit John Steinbeck (Früchte des Zorns), mit William Saroyan und Norman Mailer, aber auch mit deutscher Exilliteratur. Dann kam der Krieg, und als Soldat der amerikanischen Armee kehrte ich nach Europa zurück. Nach Ende des Krieges blieb ich in München, als Mitherausgeber einer Wochenschrift, die wir Heute nannten. In ihrer Herstellung folgte sie dem Vorbild der berühmten amerikanischen Revue Life und hatte zur Hauptaufgabe, die Deutschen zu «entnazifizieren», wie es damals hieß. Ich schrieb regelmäßig eine Glosse – im Rowohlt Verlag wurde eine Auswahl davon unter dem Titel Angekreidet veröffentlicht. Das war Anfang 1947, damit eine der ersten Publikationen der Nachkriegszeit. (Inzwischen ist dieses Buch, mit leichten Veränderungen, unter dem Titel Abendstunden in Demokratie bei Rowohlt neu herausgebracht worden.) Ich näherte mich wieder der deutschen Literatur, und zwar der klassischen. Angeregt von Marcel Reich-Ranicki und vor allem später von Klaus Harpprechts Mammutwerk über Thomas Mann, las ich von neuem die Buddenbrooks, 32
die ich als Gymnasiast geradezu verschlungen hatte. Ich ging, offen gesagt, zögernd an die Lektüre. Veraltet? Verstaubt? Nichts davon. Taufrisch, perlend wie eine Mozartoper, ein einziger Genuss. Wie kann ein junger Mensch – Thomas Mann war 25 Jahre alt, als er die Buddenbrooks vollendete – die Lebensweisheit, die Reife haben, ein so großartiges Werk zu schaffen? Thomas Mann war in der Tat der «Zauberer», wie man ihn in der Familie nannte. Nach meiner Auffassung war er eindeutig der große Dichter des 20. Jahrhunderts. So viel Schreckliches, so viel Beschämendes war in Deutschland geschehen, als Thomas Mann ins Exil gehen musste, dass ich mich zu jener Zeit oft und verzweifelt fragte: Was ist das für ein Land? Ist es das Land Thomas Manns oder ist es das Adolf Hitlers und seiner braunen «Bataillone»? Kann man, ohne tiefe Sorge, damit zurechtkommen, dass immer wieder Horden von Rechtsextremisten in der ihnen eigenen Rohheit und Brutalität Unruhe und Destruktion verursachen? Allerdings ist es kein geringer Trost, dass, anders als am Ende der von Friedrich Ebert repräsentierten Republik, die große Mehrheit der Deutschen und vor allem das gebildete Bürgertum eindeutig in der demokratischen Tradition verankert ist, die in der Märzrevolution von 1848 und im Weimarer Humanismus ihre Wurzeln hat. Dennoch – das berühmte Zitat aus den Nachtgedanken von Heine, das mit den Worten «Denk ich an Deutschland in der Nacht …» beginnt, macht mir mehr zu schaffen, als ich lange annahm. Wenngleich das Gedicht seine politische Dimension wohl zum Hauptteil aus dem Geschehen nach 1933 empfing, scheint es erneut an Aktualität gewonnen zu haben. Wie sehr wünschte ich, ich könnte dieses Zitat verdrängen. Wie sehr wünschte ich, voller Freude in 33
diesem Land leben zu können, das Heinrich Heine einst um den Schlaf gebracht hat. Deutschland, scheint mir, ist ein arg komplexes Thema, und das deutet Heine in der subtilsten Weise an.
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NORBERT BLÜM Mein Lieblingsbuch «Sie werden lachen, die Bibel», soll Bert Brecht auf die Frage geantwortet haben, welches Buch er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Ich auch! Die Bibel ist mein Lieblingsbuch. Sie bietet alles. Kriminalromane, Reiseberichte, Königsdramen, Familientragödien, Kriegsberichterstattungen, Ratschläge, philosophische Essays, Märchen und im «Hohen Lied Salomos» heißeste der heißen Liebeslyrik: «Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm. Wie schön ist das Spiel deiner Liebe, meine Braut … Honig und Milch sind unter deiner Zunge.» Die Geschichte von Jonas ist das schönste und tiefsinnigste aller Märchen der Bibel. Der kleine, ängstliche Jonas soll den Mächtigen, den Huren, Betrügern und Dieben in Ninive Buße und Untergang predigen. Er läuft davon. Bis ans Ende der Welt will er. Aber er entkommt Gott nicht. Das Happy End, das jedes gute Märchen schließt, bietet auch die Jonas-Geschichte: Ninive wird nicht vernichtet, denn Gottes Strafe ist langsam, seine Gnade aber schneller. Der biblische Knochen allerdings, an dem ich heute noch nage, ist die Geschichte von Hiob. «Im Lande Hiob lebte ein Mann mit Namen Hiob! Dieser Mann war untadelig und rechtschaffen.» Alles verlor er. Sein Volk, seine Kinder … alles. Warum straft Gott Gerechte? Warum müssen auch heutzutage noch unschuldige Kinder verhungern? Das ist die uralte 35
Gottesfrage. Ist Gott ein lieber Gott? Hiob streitet mit Gott. Härter als alle Atheisten zusammen klagt er Gott an. Die Atheisten lösen das Problem, indem sie Gott verneinen. Sie flüchten. Hiob aber bleibt tapfer. Er streitet mit Gott. Er widerspricht. Welchen Sinn haben Leiden und Niederlagen? Das ist der Stoff, aus dem alle Tragödien gewebt sind. Sind die Erfolgreichen, Sieger, Triumphatoren das Maß aller Menschen? Die Bibel ist kein Kochbuch der Patentrezepte. Sie beantwortet nicht alle Fragen und lässt uns deshalb Zeit, auch jenseits der Lektüre noch weiterzudenken. Wo Brecht Recht hat, hat er Recht: das alte Schlitzohr, der ansonsten die Lauge seines Sarkasmus über alles ausgoss, was nach Religion roch.
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FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS Elf Freunde und ein Grüner Heinrich Erinnerungen verschwimmen, verschieben, beschönigen, aber unter all den als Kind gelesenen Büchern sind mir zwei mit klarster Sicherheit im Gedächtnis, die gegensätzlicher nicht sein können. Gottfried Kellers «Grüner Heinrich» und Sammy Drechsel «Elf Freunde müßt ihr sein». Dreizehn Jahre muss ich gewesen sein, als ich in einem trüben Winter drei oder vier Wochen lang krank lag und auf der Suche nach Lektüre ins Bücherregal des Vaters griff. Was den kleinen ängstlichen und unsicheren Jungen bewogen hat, sich überhaupt den alten Erwachsenenbüchern zu nähern, die von den früh gestorbenen Eltern des Vaters stammten, ist heute schwer zu beantworten. Romane gab es nicht viele darunter, neben einigen Titeln der gehobenen Trivialliteratur der Kaiserzeit wie Gustav Freytag standen da leicht angestaubt Wilhelm Raabe, Schiller, Goethe, Eichendorff und eben Keller. Nicht einmal die Frakturbuchstaben schreckten ab, die Jugendstil-Einbände, die endlos vielen Seiten. Wahrscheinlich lockten in den Büchern der Erwachsenen tiefere Abenteuer, größere Liebesgeschichten, spannendere Konflikte. Vielleicht war es auch sportlicher Ehrgeiz, sich erst einmal durch solche Anfänge hindurchkämpfen zu müssen: «Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von den Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort 37
in die Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht verschwunden, machte ein Lehenmann den Dorfnamen …» Nach der Bewältigung solcher Absätze, Seiten und Kapitel konnte sich ein lesehungriger Knabe ein wenig erwachsen fühlen. Aber die Lektüre hätte ich wohl nicht bis zum Ende der vier Bände mit fast 1000 Seiten durchgehalten, wenn ich in der Geschichte des Einzelgängers und Künstlers Heinrich nicht etwas gefunden oder geahnt hätte, was meine Geschichte noch nicht war, aber vielleicht werden könnte: eine lockende Aussicht auf eine mir völlig unbekannte Zukunft. Mehr noch als die meisten Kinder fühlte ich mich elend, unterdrückt und nichtswürdig, ich litt an meiner Rolle als Schweiger und Stotterer, in «Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde» ist das beschrieben. Wie jedes Kind brauchte ich Träume und Tagträume, Bücher liefern das reichste Material dafür. Heinrich wird als Junge mit blühender Phantasie gezeichnet, einer, der sich damit gegen die Wirklichkeit wehrt und seine Erfindungsgabe zu seiner Allzweckwaffe macht. Es muss eine Wohltat für mein Unterbewusstsein gewesen sein, Phantasie nicht als Flucht aus der Wirklichkeit verurteilt zu sehen, sondern als still gefeiertes Mittel für den produktiven Umgang mit der schwierigen, feindlichen, niemals richtig zu fassenden Wirklichkeit. So bin ich von Keller, ohne es zu merken, verführt worden. Auf sanfteste subversive Weise wurde hier der Weg hin zum späteren Phantasieproduzenten geöffnet (was ich erst weitere dreizehn Jahre danach mehr erahnt als begriffen habe, als ich bei den Vorarbeiten für die Dissertation «Der Held und sein Wetter» den «Grünen Heinrich» noch einmal las). Nur wenige Erinnerungen an einzelne Szenen des 38
Buches sind geblieben, aber ich bin sicher: Der feine unbestechliche Blick des Gottfried Keller erklärte mir die Weite der Welt, die harten Kämpfe der Guten, das Schwanken der Illusionen, das Einstecken von Misserfolgen und den langen Weg zum Erfolg offenbar besser als Karl May. Ich erinnere mich, dass ich nach der Gottfried-Keller-Lektüre für Karl May verdorben war, der erschien mir plötzlich unspannend, platt und sprachlich simpel. Keiner meiner Freunde konnte das verstehen, ich konnte es auch nicht erklären, schon gar nicht mit dem «Grünen Heinrich». Aber ich blieb dabei, mehr als zwei oder drei Karl-May-Romane mochte ich nicht lesen. Während ich den Keller verschwieg, warb ich mit missionarischem Eifer für Sammy Drechsel. Nach der Weltmeisterschaft 1954 erblühte die Begeisterung für den Fußball, wir Jungen des Dorfes Wehrda begannen in jeder freien Stunde den Bällen hinterherzurennen. Ich gehörte nie zu den besten Spielern, aber ich hatte es nach langem Sehnen irgendwann geschafft, mit meinem spärlichen Spargeld einen Lederball zu kaufen, also lief kein Spiel ohne mich. Außerdem organisierten ein Freund und ich die Spiele gegen die Schüler der Nachbardörfer. Wir waren nicht besonders gut, nicht besonders schlecht, mir war das nicht genug. Unserer Mannschaft fehlte, so schien es dem eifernden Knaben, die wirkliche Leidenschaft, es fehlte das, was man später «die Einstellung» und noch später «mental» nannte. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf Sammy Drechsel «Elf Freunde müßt ihr sein» aufmerksam wurde, wahrscheinlich durch einen Schulfreund des Gymnasiums Bad Hersfeld. Ich weiß nur, dass ich meine Eltern heftig und lange bearbeitet habe, bis ich endlich hoffen konnte, das Buch auf meinem Geburtstagstisch zu finden. Drechsel erzählt die Geschichte von Berliner Schülern in 39
den späteren dreißiger Jahren, die zuerst Bezirksmeister, dann Berliner Schulmeister werden. Sie lernen, trotz aller Widrigkeiten (Vorurteile gegen Fußball, Armut, schlechte Schulleistungen, Rivalitäten, Abwerbeversuche, Überheblichkeit usw.) zusammenzuhalten und sich nach oben zu kämpfen und in jeder Krise und vor jedem Siegesglück das Motto «Elf Freunde müßt ihr sein» zu beherzigen. Von Nazis ist in dem Buch übrigens nicht die Rede, das fiel in den fünfziger Jahren nicht weiter auf, den Dreizehnjährigen oder Vierzehnjährigen sowieso nicht. Ich las diesen Roman gleich zweimal und gab die Parole aus: Jeder in unserer Schülermannschaft muss dieses Buch lesen! Da ich sofort unsern besten Stürmer dafür gewann, machte dieser «Fußballroman für die Jugend» die Runde als Pflichtlektüre. Auf dem Vorsatzblatt meines Exemplars steht in der ungelenken Schülerschrift: «Alle, die dies Buch gelesen haben». Nach meinem Namen folgen, brav nummeriert, noch sechzehn weitere. Einige lasen es zweimal, den Rekord hielt ich: insgesamt fünfmal gelesen. Wer nicht überdurchschnittlich gut spielt, muss wenigstens Chefideologe werden. Aber mehr als zur mentalen Aufrüstung unserer Mannschaft hat Sammy Drechsel dazu beigetragen, meine sozialen Erfahrungen zu erweitern, gruppendynamische Prozesse besser zu begreifen und mich über Motivations-Management aufzuklären. Der Keller’sche Einzelgänger, schön und gut, aber andere große Ziele erreicht man nur in der Gruppe. «Elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen», an dieses simple Motto glaubte ich insgeheim auch später, in der Gruppe 47, in der Studentenbewegung, bei der Verlagsarbeit, sogar im PEN und anderen intellektuellen Gruppierungen. Ich möchte auch heute noch daran glauben. Die Wirklichkeit sieht anders aus, aber das spricht nicht gegen die aus dem Reichtum der Lektüren gewachsenen Ideale. 40
GERHARD DELLING Ein kleiner Schatz Noch heute sehe ich mich im Hörsaal sitzend, wie ich dieses Buch etwas verstohlen, fast heimlich in der Hand wiege; so als wollte ich an dem gefühlten Gewicht ermessen, was es mir wohl wert sein könnte. Es war in einer Zeit, als sich der Euro noch als Phantasterei unter der gemeinhin unbekannten Bezeichnung «ECU» in den ökonomischen Lehrbüchern verlor und ich deshalb nicht den Euro, aber auch nicht die Mark, sondern von Tag zu Tag buchstäblich den Pfennig umdrehte. Mit anderen Worten: Geld für nicht absolut vorgeschriebene Lehrmittel auszugeben war eigentlich nicht drin. Aber dieses 835 Seiten starke Buch (ich hatte extra nachgeschaut, um mir selbst durch eine günstige PreisSeiten-Relation ein weiteres Kaufsignal einzuimpfen!), dieser ausführlich und eng beschriebene «Schinken» aus einer anderen Welt hatte es mir sofort angetan. Der Typ, der es feilbot, klischeegestylt mit langen, nicht wirklich gepflegten Haaren, mit reichlich, wie es schien, selbst verarbeiteter Wolle am hoch aufgeschossenen, hageren Körper und mit der offenen, ziemlich unaufdringlichen Art wirkte, als könne man mit ihm handeln. Er verlangte 28, - DM, womit deutlich wurde, dass er die Mechanismen des Marktes entweder schon kannte oder in dieser «Kieler Sauna» der Weltwirtschaftstheorie (diesem Hörsaal am 41
Weltwirtschaftsinstitut) mindestens antizipierte. Natürlich habe ich das Buch gekauft, und logischerweise für die psychologisch runde Summe von DM 25, -! Er hat sicher viel daran verdient – aber ich auch, denn es war (und ist!) für mich persönlich viel mehr wert. Es ist ein kleiner Schatz: Auf billigem Papier gedruckt, schon leicht ramponiert und nicht immer wirklich akkurat zusammengebunden, entstammt es einer längst verblichenen Kultur. Erschienen ist es im Verlag «Progress» (das hätte auch als Satire durchgehen können, denn nach Fortschritt sieht das Buch gar nicht aus) in Moskau im Jahre 1981. Es beginnt mit zwei seltenfüllenden Schwarzweiß-Porträts von Karl Marx und Friedrich Engels und einem Aufruf frei stehend auf Seite drei: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Erst danach steht: «K. Marx und F. Engels, Ausgewählte Werke» und «Gedruckt in der UdSSR». Immer wenn ich las in diesem Buch, war ich allein; nicht einsam oder verlassen gar, sondern nach kurzer EinlesePhase völlig versunken in eine Diskussion mit mir selbst über die Realität und Unmöglichkeit der gerade aufgenommenen Argumente. Eine Diskussion, die man in dieser Offenheit und Intensität schwerlich in größerem Kreise hätte führen können, weil die potenziellen Teilnehmer aufgrund der verhärteten Fronten kaum miteinander ins Gespräch gekommen wären, sondern zum Teil gebetsmühlenartig, zum Teil massiv ihre ganz persönliche, vermeintlich einzige Wahrheit an den Mann hätten bringen wollen. Denn damals musste sich auch das kapitalistische Wirtschaftssystem noch und immer wieder beweisen. Es stand in unmittelbarer Konkurrenz zu «einem Gespenst», 42
das allerdings nicht mehr wirklich umging in Europa – «dem Gespenst des Kommunismus», wie Marx und Engels es im «Manifest der Kommunistischen Partei» so ironisch und selbstbewusst beschreiben. Dieses Selbstbewusstsein fasziniert mich noch heute, weil es insbesondere bei Marx so hart und gegen schwerwiegende Widerstände erarbeitet wurde. Ein Mann aus gut situiertem Hause, der Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie studiert, dabei aber seine eigenen Theorien und Philosophien entwickelt und dafür sogar in die vermeintlich schlechter gestellte «Klasse» wechselt, um sie zum Kampf gegen die herrschende Klasse der «industriellen Kapitalisten» aufzurufen. Letzteres hat mich allerdings, der sich tagtäglich mit seinen Freunden und Kommilitonen in einem wortreichen Spannungsfeld zwischen Kernkraft, Friedensbewegung und Fußball-Bundesliga befand, doch arg bestürzt, weil es ein realer Kampf war, den Marx da propagierte. Uns beschäftigten doch eher verbale und größtenteils theoretische Gedankenspiele. Marx aber forderte «despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht». Dazu die «Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat». «Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums.» Das war nicht nur eine Vorstellung, die mir nicht behagte, das war real radikal – und so war ich nie. Ich lebte in einem Umfeld und in einer Zeit, in der überall und ständig diskutiert und wortreich jedes Argument seziert wurde. Jeder noch so einfältige Witz wurde in seine infinitesimalen Bestandteile zerlegt, genauso wie hochgestochene weltpolitische oder 43
gesellschaftliche Themen und Zusammenhänge. Es war die Zeit, in der die Debatte an sich auch schon ein Thema war, wie das eigentliche Thema selbst. Unsere härteste Waffe war beißende Ironie. Und so fanden unsere Auseinandersetzungen zwar ausschließlich verbal statt, wurden aber mit einer martialischen Intensität geführt, die nicht selten ein unübersichtliches Schlachtfeld messerscharfer Worte hinterließ, bei denen Verletzungen zwar nicht immer ausblieben, Narben aber damit nicht verbunden waren. Es war die Zeit, in der man eine Meinung zu haben hatte, und zwar zu allem, was auf dieser Welt und rundherum geschah. Meinung war die Einheitsuniform, in der man tagtäglich aufmarschierte, weil es nie nur einheitliche Meinungen gab. Sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auch vehement gegen andere und das eigene Harmoniebedürfnis zu vertreten war übrigens kein Privileg spezieller Gesellschaftsgruppen; kritisch hinterfragt und diskutiert wurde sowohl an der Universität als auch im Sportverein, am Arbeitsplatz und in der Familie. Aber es war auch die Zeit, in der die gedanklichen Fronten oft ineffizient verhärtet waren, und so diskutierte man solche Bücher wie dieses von Marx und Engels sinnvollerweise erst einmal mit sich selbst oder vielleicht noch im engsten Freundeskreis. Die Auseinandersetzung mit den Marx’schen Theorien und Denkansätzen war (und wie ich finde: ist auch noch) in jedem Fall bewusstseinserweiternd. Da geht es nicht nur um das Postulat des Klassenkampfes oder die radikale Kritik an der bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Bei Marx finden sich unter anderem auch schon Gedanken zu den Gefahren einer 44
zunehmenden Globalisierung, er setzte sich kritisch mit dem Wollen und Wirken von Gewerkschaften auseinander, trat konkret für die «Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder» ein und war maßgeblich beteiligt an der Idee des gesetzlich festzulegenden Normalarbeitstages. Alles Themen, deren Argumentationslinien für uns heutzutage erschreckend vorurteilsvoll klar sind und die doch so viele unterschiedliche Basisgründe implizieren, die wir heute im Detail manchmal gar nicht mehr nachvollziehen – sodass wir auch die besondere Leistung, die hinter der Durchsetzung vieler Forderungen steht, nicht wirklich begreifen. Darum ist das Lesen in diesem Buch für mich noch immer das Signal, neuen und fernen Vorstellungen in meinen Gedanken mehr Platz einzuräumen und unser starres wie selbstverständliches System des gesellschaftlichen Zusammenlebens von einem externen Standpunkt aus zu beobachten und zu hinterfragen. Und immer wenn ich diesen «kleinen Schatz» wieder aus dem Bücherregal hervorgeholt habe, freue ich mich auf die nächste offene, vielseitige und wahrscheinlich auch eher ergebnisunabhängige Diskussion; auf eine verbale Auseinandersetzung, die manchmal schon allein deswegen bereichernd wirkt, weil sie überhaupt stattfindet. Denn solche Momente sind seltener geworden! Und das nicht prätentiöse und vom Ansatz her erst einmal unspektakuläre Eintreten für eine ganz individuelle Meinung, die subjektive Anschauungen nur aufzeigen und sachliche Gegenargumente herausfordern soll, ebenfalls. Trotzdem – oder gerade deshalb – habe ich es schon wieder in der Hand, dieses Buch aus einer mittlerweile noch entlegeneren Welt. 45
JOHN VON DÜFFEL Verliebt in Lady Macbeth Die Verführung zum Lesen war in meinem Fall eine Verführung wider Willen. Gerade in den Jahren, in denen andere die Lieblingsbücher ihres Lebens entdecken, war ich ein richtiger Junge mit nichts als Sport im Sinn und einer natürlichen Abneigung gegen empfohlene Lektüre. Deswegen sind meine ersten und stärksten Lese-Eindrücke keine romantischverträumten Begegnungen mit halb vergessenen Büchern, sie gehen vielmehr auf die Anwendung von Zwang zurück und entsprechen weitgehend dem Lehrplan. «Der Fremde» von Albert Camus Wenn es eine Konstante in meinem Leben gibt, dann besteht sie darin, dass ich ständig umgezogen bin. Vielleicht war das der Grund, warum ich Albert Camus’ «Der Fremde» damals überhaupt las – ich misstraute dem Titel. In Sachen Fremdheit, dachte ich, kann mir so leicht keiner etwas vormachen. Doch vielleicht las ich das Buch auch nur deshalb, weil es vergleichsweise dünn war. Wer schon als Kind vom Land in die Stadt und von der Stadt in ein anderes Land zieht, hat zwei Möglichkeiten: Er kann sich als Fremder und Außenseiter zu erkennen geben oder alles daransetzen, sich jedes Mal aufs Neue anzupassen und seine Fremdheit zum Verschwinden zu bringen. Ich war kein Held, ich wollte dazugehören. Und ich hatte es gerade geschafft, eine gewisse unauffällige 46
Akzeptanz zu erreichen, da nötigten mich meine Hausaufgaben zu diesem Buch. Natürlich war ich außerstande zu begreifen, worum es ging. Ich verstand nur so viel: Der Fremde war ein Mann, der bestimmte Gefühle nicht hatte. Vielleicht hätte er sie haben sollen, jedenfalls erwartete man das von ihm. Aber er hatte sie einfach nicht. Beispielsweise beim Begräbnis seiner Mutter. Er empfand keine Trauer, als die anderen ihre Taschentücher zückten, und während sie weinten, verspürte er keinen Schmerz. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen. Doch er erregte Anstoß und brachte die Hüter der Moral dadurch gegen sich auf, dass er diese Gefühle auch nicht vortäuschte. Er war ein Fremder – wie in einem viel banaleren Sinne ich selbst –, aber im Gegensatz zu mir versteckte er das nicht. Das imponierte mir. Als mich die Lehrerin später nach meiner Meinung fragte, blieb mir nur die Gegenfrage, ob sie eigentlich wisse, wie gefährlich dieses Buch sei. Ich konnte nicht glauben, dass man mich in der Schule dazu ermuntern wollte, meine Tarnung aufzugeben. «Der Fänger im Roggen» von J. D. Salinger Es verging ein weitgehend lektürefreies Halbjahr, bis ich J. D. Salingers «Der Fänger im Roggen» in die Hand gedrückt bekam. Das Buch stellte keine solche Gefahr dar, es war akzeptiert. Die meisten meiner Klassenkameraden zogen sich an den Internatsszenen am Anfang hoch, wo der picklige Zimmergenosse von Holden Caufield beschrieben wurde. Zu allem Überfluss hieß er auch noch Akley, was nach einer Mischung von «Akne» und «eklig» klang. Wir brauchten nicht lange, um den Akley unserer Klasse auszumachen und entsprechend zu demütigen. Und 47
natürlich machte ich mit, weil ich heilfroh war, nicht selber das Opfer zu sein. Die Wirkung von Salingers «Der Fänger im Roggen» war paradox: Natürlich hatte auch ich mich beim Lesen mit dem einsamen, irgendwo zwischen Jugend und Erwachsensein verloren gehenden Helden identifiziert. Doch als ich mich am Ende umschaute, musste ich feststellen, allen ging das so! Alle fühlten sich als große, unverstandene Außenseiter am Rande einer von Lüge und Heuchelei zusammengehaltenen Gesellschaft. Nur wenn wir alle solche großen Außenseiter waren, wer bildete eigentlich die Mitte? Wer gab den Ton an und zwang uns dazu, Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht tun wollten, und dabei gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Ich muss zugeben, nachdem ich gemerkt hatte, dass alle meine Mitschüler Holden Caufield sein wollten, mochte ich ihn nicht mehr besonders. Er, der große Entlarver von Posen und Verlogenheiten, schien mir selbst ziemlich pseudo zu sein. In einem ehrlichen Buch, dachte ich, müssten auch die meisten Leser mit dem AußenseiterHelden nichts zu tun haben wollen. Nur würden sie es dann wahrscheinlich auch nicht lesen. Trotzdem gab es eine Stelle in «Der Fänger im Roggen», der ich mich nicht entziehen konnte. Ich mochte das Spiel, das Holden Caufield spielt, während er durch die Straßen von New York läuft: Er tut, als wäre er angeschossen worden, und simuliert einen Bauchschuss, aber so, dass es niemand bemerkt. Er krümmt sich nicht vor Schmerz oder presst seine Hand auf die blutende Wunde, sondern schaut den Leuten in die Augen, als wäre nichts gewesen, und verhält sich so unauffällig, wie es mit einem Bauchschuss eben geht. Der Sinn dieses Spiels war, dass keiner es sieht. Ich habe das an die tausendmal nachgespielt – mit großem 48
Erfolg. «Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull» von Thomas Mann Ich war im Deutschunterricht bisher weitgehend stumm geblieben. Und dieser Mangel an mündlicher Beteiligung in Verbindung mit einer an Legasthenie grenzenden Rechtschreibfehlerquote gefährdete immer wieder meine Versetzung. Das einzige Buch, das mir kurzzeitig die Zunge löste, war ausgerechnet Thomas Manns «Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull». Zwei Dinge begeisterten mich an diesem Buch. Zum einen die Lüge. Es gefiel mir, dass Felix Krull ein Hochstapler war, und mich beeindruckte die Virtuosität, mit der er log. Er sagte nicht plump die Unwahrheit, sondern verstand es vielmehr, selbst die entlarvendste Wahrheit in seinen Worten so darzustellen, dass sie ihm schon wieder zum Vorteil gereichte. Und das war das zweite, was mich an diesem Buch faszinierte: die Macht der Sprache. Die Worte, die er wählte, waren Felix Krulls Visitenkarte in der Welt. Seiner Sprache verdankte er seinen Aufstieg sowie die traumwandlerische Sicherheit, mit der er sich als Hochstapler über das gesellschaftliche Parkett bewegte. Und sogar seine Lebensbeichte, die er als alter Mann im Gefängnis niederschrieb, war so erlesen formuliert, dass ich vor Anerkennung sämtliche nichtvorhandenen Hüte zog. Sie war so wunderschön gelogen. Gegen jede Gewohnheit las ich das Buch sogar zweimal. Es ging mir nicht darum, es aufsatztauglich zu interpretieren oder noch gründlicher zu verstehen, ich wollte diese Sprache lernen. Ich schaute mir zahllose 49
Formulierungen von Felix Krull ab und übte sie zu Hause vor dem Spiegel. Als es dann im Deutschunterricht an die übliche «Textarbeit» ging und mich die Lehrerin nach der «Intention des Autors» fragte, begann ich meine Ausführungen mit den Worten: «Liebe Frau Professor, lassen Sie mich Ihnen zunächst aufs Herzlichste danken, dass Sie mir die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit zuteil werden lassen …» etc. Meine Deutschlehrerin fühlte sich verständlicherweise auf den Arm genommen, und meine Versetzung war in diesem Jahr so gefährdet wie noch nie. «Macbeth» von William Shakespeare Meine Felix-Krull-Phase währte naturgemäß nicht lange. Es folgte wieder eine Zeit des Schweigens und der Ziellosigkeit. Mittlerweile ging ich bereits mit großen Schritten auf das Abitur zu, ließ aber noch immer keinen besonderen Ehrgeiz erkennen, außer beim Schwimmen, was mir an Land wenig half. Dann lasen wir im Englisch-Unterricht Shakespeares «Macbeth», und ich war berauscht. Nicht, dass ich auch nur ein Viertel seiner gewaltigen Verse verstanden hätte. Aber da war sie wieder, die Macht der Sprache, nur diesmal sehr viel dunkler und geheimnisvoller als bei «Felix Krull» – und um einige Welten weiter entfernt. Macbeth selbst hielt ich für einen ziemlichen Schwächling. Es war Lady Macbeth, die mich interessierte. Sie trieb ihren zögerlichen und in Bedenken verstrickten Mann vorwärts, sie wollte, dass er sie zur Königin machte, und zwar um jeden Preis. Ich war fasziniert davon, wie sie ihn becirct, wie sie ihn verführt und ihm droht und vor nichts zurückschreckt, damit er den in seinem Schloss schlafenden König ermordet und die Krone an sich reißt. Für mich gab es gär keine Frage: Ich 50
hätte alles für sie getan. Ich hätte, ohne zu zögern, den Schlaf gemordet und wäre durch Ströme von Blut gewatet für diese düstere, von so viel Willen getriebene Frau. Ich war verliebt in Lady Macbeth. Und vielleicht ist es ihre Schuld, dass ich kurz darauf den Entschluss fasste, zum Theater zu gehen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich bereits ahnte, ich würde im Laufe meines Theaterlebens immer wieder und wieder umziehen.
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AMELIE FRIED Lichtjahre, Wendepunkte Es gibt eine Menge Bücher, die mein Leben geprägt haben, zum Beispiel das englische Kinderbuch «Harriet – Spionage aller Art»: Es handelt von einem Mädchen, das seine Umgebung ausspioniert und alle Beobachtungen akribisch notiert, weil es Schriftstellerin werden will. In meiner Familie wunderte man sich geraume Zeit über mein eigenartiges Verhalten; ich imitierte Harriet bis hin zu ihrer Vorliebe für englische Senfpickles, die es in meiner schwäbischen Heimatstadt Ulm in den sechziger Jahren leider noch nicht gab; ich musste mit sauren Gürkchen und Silberzwiebeln vorlieb nehmen. Harriet war nur eine von vielen eigenwilligen und aufsässigen Mädchenfiguren, die ich mir zum Vorbild nahm. Da gab es – natürlich – Pippi Langstrumpf, später die Rote Zora; aber auch die russische Märchenhexe Babajaga, die schön und mächtig war und vor der sogar Männer Angst hatten – sie beeindruckte mich ebenso nachhaltig. Die Vorliebe für starke Mädchen und Frauen begleitete mein Erwachsenwerden; irgendwann landete ich dann bei Alice Schwarzer und Susan Sontag, den starken Frauen in der Wirklichkeit. Dort, fand ich, wäre das Thema gut aufgehoben, und so konnte ich mich in der Literatur endlich anderen Themen zuwenden. Der Liebe, zum Beispiel. Erst allmählich begriff ich, dass die Liebe nicht nur etwas war, was mein eigenes Leben durcheinander bringen, erschüttern oder bereichern konnte, sondern das 52
Thema, das in den meisten Büchern, die mich interessierten, eine zentrale Rolle spielte. Unerfüllte, enttäuschte, verflossene, verdrängte, unausgelebte, leidenschaftliche, vorgetäuschte, ewige und manch andere Spielart der Liebe waren der Stoff, aus dem Literatur gewebt war. Mal kunstvoll und filigran, mal grobmaschig und transparent, fast immer spannend und erregend. Warum lesen wir? Weil wir das Andere, das Fremde suchen? Weil wir eine Bestätigung suchen für das, was wir zu wissen glauben? Weil wir uns selbst im Fremden suchen? Ich lese, seit ich sechs Jahre alt bin, und habe mir diese Fragen nie gestellt. Bis ich anfing zu schreiben. Wer schreibt, liest anders. Er verliert seine Unschuld. Er liest – und er vergleicht. Gelesenes miteinander, Gelesenes mit Geschriebenem. Mit Selbstgeschriebenem. Also, das könnte ich doch auch, oder wenigstens fast, denkt der Schriftsteller, wenn er Bücher anderer Schriftsteller liest; manchmal stimmt es, oft ist es anmaßend, müßig ist es allemal. Das Lesen wird zum zweischneidigen Erlebnis, je besser man ein Buch findet, desto fraglicher wird, ob man es selbst so gut gekonnt hätte. Man sucht sich Vorbilder, denen man nacheifert, ohne sie zu imitieren; man strebt nach Fortschritt und Entwicklung, überholt manchen Rivalen auf der Strecke und fällt hinter andere zurück. Man wird beeinflusst, ob man will oder nicht, und alles fließt wiederum – bewusst oder unbewusst – in die eigene Arbeit ein. Während ich selbst im Schreibprozess stecke, lese ich nur Bücher, von denen ich glaube, dass sie etwas taugen, weil ich fürchte, ich könnte mich an einem schlechten Buch infizieren, es könnte meine Sprache oder meinen Stil verunreinigen oder mich dazu verführen, mich mit einfachen Lösungen zufrieden zu geben. Das Lesen soll mich ebenso 53
herausfordern wie das Schreiben, damit ich selbst immer besser werden kann. Und dann liest man irgendwann ein Buch, bei dem man es im Traum nicht wagen würde, einen Vergleich zu ziehen. Weil man jemanden gefunden hat, der einem unmissverständlich die Grenzen der eigenen Begabung aufzeigt, und komischerweise schmerzt das nicht, sondern macht einen geradezu glücklich. Ich las den Roman «Lichtjahre» von James Salter in den Wochen vor meinem vierzigsten Geburtstag, und zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich beim Lesen eines Buches. Ich weinte, weil die Sprache (sogar noch in der Übersetzung) von einer so eigenartigen Schönheit war, dass sie mich im Innersten traf. Leicht und schwebend, dennoch bildhaft und genau, ich hatte so etwas noch nie gelesen und wusste, ich würde so niemals schreiben können, aber das war mir egal. Ihr Leben ist geheimnisvoll, es ist wie ein Wald; von weitem sieht es wie eine Einheit aus, man kann es begreifen, beschreiben, aber wenn man näher kommt, beginnt es sich zu trennen, sich in Licht und Schatten aufzulösen, die Dichte blendet einen. Hier drinnen gibt es keine klaren Formen, nur unendliche Facetten, die sich überallhin ausbreiten: fremdartige Geräusche, einfallendes Sonnenlicht, Laub, umgestürzte Bäume, kleine Tiere, die beim bloßen Geräusch eines knackenden Zweiges flüchten, Insekten, Stille, Blumen. Und all dieses, das voneinander abhängt, das eng verwoben ist, all dies ist trügerisch. Im Grunde gibt es zwei Arten von Leben. Es gibt das, von dem die Leute glauben, daß man es lebt, und es gibt das andere. Es ist dieses andere, das Probleme macht, dasjenige, das wir 54
gerne zu Gesicht bekommen würden. «Lichtjahre» beschreibt die Ehe von Nedra und Viri, einem privilegierten New Yorker Paar mit zwei Töchtern, wie sie über die Jahre rissig wird und irgendwann zerbricht. Wahrhaftig nichts Neues, aber auf eine Weise erzählt, die einem den Atem nimmt, durch die scheinbare Beiläufigkeit, die in Wahrheit nichts anderes ist als schmerzhafte Präzision. Salter erfindet Bilder, die auf den ersten Blick skandalös, auf den zweiten verwirrend erscheinen; wenn man sich ihnen hingibt, entwickeln sie einen magischen Sog. Sie ist achtundzwanzig. Ihre Träume hängen noch an ihr, schmücken sie; sie ist selbstsicher, ruhig, man denkt bei ihr an langhälsige Tiere, an Wiederkäuer, vergessene Heilige. Sie ist vorsichtig, es ist schwer, sich ihr zu nähern. Das Buch handelt von der Vergänglichkeit; der Vergänglichkeit jedes einzelnen Augenblicks, der Vergänglichkeit unserer Existenz. Vielleicht eine etwas riskante Lektüre für die Wochen vor dem vierzigsten Geburtstag, vielleicht aber auch genau die richtige, denn sie zwingt zum Innehalten, zu einer Bestandsaufnahme. Lebe ich das Leben, das ich mir gewünscht habe? Wie wird meine Bilanz aussehen? Was wird sein, wenn ich einmal nicht mehr bin? Ich war in dieser Zeit gepeitscht von solchen Fragen, spürte so vieles zu Ende gehen. Meine Jugend, meine physische Attraktivität, meine seelische Unversehrtheit, meine Fruchtbarkeit, alles schien mir zu entgleiten. Der vierzigste Geburtstag schien der Tag X zu sein, an dem ich erwachen und mich in einen alten, faltigen und resignierten Menschen verwandelt haben würde, in dessen Leben Liebe und Erotik keine Rolle mehr spielen würden, 55
der auf der anderen Seite angekommen war, der Seite des endgültigen Niedergangs. Eine Geschichte zu lesen, die den schleichenden Verfall von Menschen und ihren Beziehungen beschreibt, tat deshalb weh und war tröstlich zugleich, weil das ewige Werden und Vergehen in seiner Zwangsläufigkeit auch etwas Besänftigendes hat. Kinder sind unsere Ernte, unsere Felder, unsere Erde. Sie sind in die Dunkelheit entlassene Vögel. Sie sind erneuerte Irrtümer. Und doch sind sie die einzige Quelle, aus der ein Leben geschöpft werden kann, das erfolgreicher, das wissender ist als unser eigenes. Vielleicht werden sie etwas tun, einen Schritt weiter gehen, den Gipfel erblicken. Wir glauben daran, an den Glanz, der aus der Zukunft strömt, aus Tagen, die wir nicht erleben werden. Nedra und Viri leben ein angenehmes Leben mit vielen Freunden, Einladungen und liebevoll inszenierten Feiertagen für die Kinder. Es scheint ihnen an nichts zu fehlen, sie lieben sich, und doch betrügen sie sich, als läge darin etwas Unausweichliches. Die ersten Risse zeigen sich, die Erosion beginnt, schleichend, undramatisch. «Es gibt Dinge, die liebe ich an der Ehe. Ich liebe die Vertrautheit», sagte Nedra. «Sie ist wie eine Tätowierung. Du hast sie damals gewollt, du kriegst sie, sie wird dir in die Haut geritzt, du wirst sie nie mehr los. Du denkst nicht einmal mehr an sie.» Wir erleben, wie zwei Menschen ihr Glück zerstören oder doch in Kauf nehmen, dass es zu Ende geht, weil sie den Moment verpassen, in dem sie mit dem Spielen hätten aufhören und sich entschließen müssen, erwachsen zu werden. Auch darin scheint eine Zwangsläufigkeit zu liegen, die den Schmerz lindert. Die Figuren scheinen Teil 56
eines größeren Planes zu sein, der nicht danach fragt, welche Pläne sie selbst verfolgen. Das ist schön und traurig, erfunden und trotzdem wahr, es ist hinreißend geschrieben, in einer eleganten Sprache, von der die meisten Autoren Lichtjahre entfernt sind, leider auch ich, ich sagte es schon, aber manche Schönheit will einfach bewundert werden, nicht mehr. Inzwischen habe ich die vierzig deutlich überschritten (bin übrigens damals weder alt noch faltig oder resigniert erwacht), habe viele andere Bücher gelesen, die mir gefallen haben und bei deren Lektüre ich etwas gelernt habe, aber «Lichtjahre» markiert für mich in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt: Die ungefähre Mitte meines Lebens – wenn ich Glück habe. Die erfreuliche Erkenntnis, dass mein Leben nicht so weit entfernt ist von meinen Lebensentwürfen. Das Erkennen meiner eigenen Grenzen – was ja auch ein Stück Freiheit bedeutet. Ich liebe dieses Buch und bin froh, dass es geschrieben wurde. Dass es von einem Mann ist, nehme ich als Bestätigung dafür, dass es sich für uns Frauen gelohnt hat, stark werden zu wollen.
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HEINZ FRIEDRICH Die ganze Welt ist Buch Haben Bücher mein Leben «geprägt»? In früheren Jahren wäre mir die Antwort leichter gefallen. Freiheraus hätte ich gesagt: Selbstverständlich gibt es Bücher, die mein Leben prägten. Von Nietzsches «Zarathustra» zum Beispiel bis zum «Geist als Widersacher der Seele» von Klages, von Shakespeares Theaterstücken bis zu Benns Essays und Gedichten, von Stendhals «Rot und Schwarz» bis zu Thomas Manns «Zauberberg» und von der Bibel bis zum Ameisenbuch von Hölldobler und Wilson reicht die Kette meiner «Lebensbücher». Aber heute stock ich schon, wenn ich mich in solchem Lese-Zusammenhang zu dem Wörtchen «geprägt» bekennen soll. Haben mich Bücher und Autoren wie die gerade genannten «geprägt» – das heißt: haben sie meinem Leben einen Stempel aufgedrückt und vor mir einen Wegweiser aufgestellt mit der fast unabweisbaren Forderung: Hier geht’s lang? Wie ich die Frage auch drehe und wende vor dem Spiegel der Erinnerung – sie verunsichert mich und macht mir das Antworten schwer. Gewiss: Zeit meines Lebens suchte ich nach Existenz-Auskünften, nach Wegweisern in den Büchern, die ich las. Oft ließen mich die Auskünfte kalt, gelegentlich lösten sie zeitverzögerte Wirkungen aus. Nicht selten aber trafen sie mich auch wie ein Blitz, der 58
ganze Lebenslandschaften in grelles Licht tauchte. Manche Auskünfte verloren mit der Zeit ihren Reiz und Wert; sie welkten langsam dahin. Stempel-Eindrücke hinterließen die Bücher keine, auch keine WeltbildTätowierungen, aber Orientierungshilfen für alle Lebensstationen, die boten sie immer, im Lese-Für und im Lese-Wider … «Orientierungshilfen» – das halte ich für ein besseres Stichwort im Hinblick auf Bücher, die halfen (und helfen), sich selbst zu entdecken und auszubilden und sich im Leben zurechtzufinden. In diesem Sinn führte ich mein Leben lang den Dialog mit den Büchern, die ich las und lese. Oder die ich auch nur um mich versammle, denn zum Bücher-Dialog gehören auch die ungelesenen oder nur angelesenen Bücher. Irgendwie kennt man sie doch; manchmal genügt eine erschnupperte Seite, um zu wissen, woran man ist – oder woran man sein könnte, falls man das Buch doch einmal in einem thematischen Zusammenhang brauchen sollte … Also kein Stempel, keine Prägung, aber Orientierung. In frühen (Pubertäts-)Jahren war es Nietzsches «Zarathustra», der mich ergriff. Hier wurden mir erstmals die Dissonanzen des Jahrhunderts, in das ich hineingeboren war, bewusst. Die Vision des «neuen Menschen» faszinierte mich angesichts morscher Menschen-Strukturen, deren Zukunftsfähigkeit in Frage stand. Nach dem Krieg die Begegnung mit Gottfried Benn. Das «gezeichnete Ich», das sich durch Form vor dem Nihilismus behauptet, faszinierte mich. Es war zwar nicht der von Zarathustra beschworene «neue Mensch», der hier auftauchte – aber: «dennoch die Schwerter halten» – das kam aus gleichem Geist. Später folgte die Lektüre von Klages: «Der Geist als Widersacher der Seele». Hier 59
untersuchte einer das Dilemma des Jahrhunderts an der Wurzel und diagnostizierte es als Dissonanz zwischen geistiger und seelischer Welterkenntnis. Die spätere Beschäftigung mit den Naturwissenschaften allerdings, insbesondere mit der von Konrad Lorenz mitbegründeten Verhaltensforschung, führte mich zu der Einsicht, dass die von Klages weltanschaulich-polemisch geführte Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt (und dessen wirtschaftlich-kapitalistischen Folgen) an sachlicher Widerstandskraft in dem Maß verlor, in dem sie sich in den Dualismus Geist und Seele verbiss und weltanschaulich eifernde Züge gewann. Von Lorenz erfuhr ich, dass der Geist (biologisch gesehen) nicht eine Macht ist, die von außen in den Homo sapiens eindringt, sondern sich aus den hirnlichen Fähigkeiten der menschlichen Individuen und deren Kommunikation untereinander aufbaut. Aus diesem anthropologischen Blickpunkt ergeben sich nicht nur höchst aufregende Perspektiven hin zu den Geisteswissenschaften und zu den Fragen der Kunst (Ästhetik), sondern zum anthropologischen Zentralwert der Kultur (und damit der «Bildung des Menschen») schlechthin. Benn nennt diese Perspektiven «das Gegenglück des Geistes». Apropos: Bildung des Menschen. Die beiden literarischen Meisterwerke «Rot und Schwarz» und «Zauberberg» sind jeweils Jahrhundert-Bücher, die über die aufregenden Verwerfungen von menschlichen Bildungsprozessen Auskunft geben – und zwar im Kontext zu den sozialen und geschichtlichen Vorbeben einer Epoche. Schließlich Shakespeare. Wer könnte dessen MenschenKosmos in drei Sätzen beschreiben? Ein Komödiant in allen Facetten des Menschlichen und AllzumenschlichUnmenschlichen hält dem Homo sapiens den 60
Narrenspiegel seines Daseins vor. Kein Tiefsinn, alles Theater, universales Menschen-Theater. Hier ist in der Tat die ganze Welt Bühne, und die Bühne wird wieder zur Welt. Was die Bibel angeht (vor allem das Alte Testament), so halte ich dieses Buch für eine der aufregendsten Auskunfteien über die menschliche Existenz zwischen Himmel und Hölle der göttlichen Schöpfung. Und Hölldobler/Wilson? Nun: die beiden Professoren untersuchten akribisch, wie’s im Ameisenstaat zugeht – und wie weit wir Menschen trotz unserer enormen geistigen Fähigkeiten noch davon entfernt sind, einen so optimal praktizierten Staat zu entwerfen, wie ihn die Natur den Ameisen vorgibt – und zwar ohne die Individuen dieses Staates zu Sklaven zu erniedrigen. Nun: damit genug – oder auch nicht genug. Denn ein trigonometrischer Lese-Punkt fehlt noch in diesem eher zufälligen Stichwort-Katalog: Goethe. Immer wieder Goethe. Er ist der Lebenspraktiker par excellence, der alle Lebens-Zweifel in realistischen Lebens-Mut («tätiges Leben») poetisch und philosophisch umzusetzen versteht. Ob «Wilhelm Meister» oder «Faust» – was er schreibt, läuft letztlich immer auf die lebenspraktische Formel hinaus, dass sich «Freiheit wie das Leben» nur der verdient, der «täglich sie erobern muß». Dieser täglichen individuellen Daseins-Eroberung führt der Dialog mit den Büchern geistige und seelische Energie zu – Energie, die dafür sorgt, dass «geprägte Form lebend sich entwickelt». Nur in diesem Zusammenhang ergibt «Prägung» Sinn – und in diesem Sinn füge ich mich schließlich doch noch der eingangs gestellten Frage …
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ERNST FUCHS Ein Gruß vom Alten Meister Paris, 1958: Ich war in Gedanken bei meinem Lehrer, den ich so viele Jahre kaum beachtet hatte. Was sage ich Lehrer? Meinem Meister, dem Alten Meister Albert Paris von Gütersloh. So manches seiner Worte bewahrte ich wie scheinbar unfruchtbare Samenkörner in meinem Gedächtnis, und nach und nach entspross ihnen eine Frucht, wie ich sie mir als Sechzehn- bis Dreißigjähriger nicht hätte vorstellen können. Und just in einem solchen Augenblick bewegten Gemütes in Erinnerung an den Alten Meister sah ich seinen Roman Der Lügner unter den Bürgern bei einem Bouquinisten auf der Quaimauer der Seine. Dazu muss ich sagen, dass das Stöbern in diesen an der Quaimauer befestigten kleinen Läden eine mir lieb gewordene Angewohnheit war und ich so manchen alten Stich, so manches herrliche Pergament zum Bemalen entdeckt und erstanden hatte. Und nun ereilte mich hier in Paris unerwartet eine Botschaft – sein Buch. Deutsche Sprache. Seine, wie kein anderer sie zu beherrschen wusste. Zufall? Nein! Ich jubelte, kaufte das Buch und wurde sofort wieder sein Schüler, aufmerksamer denn je. Ich las den Roman, von dem ich zwar gehört, den ich aber noch nicht gelesen hatte. Ja, ich verschlang ihn. Der Lügner unter den Bürgern ist die Geschichte des Einbruchs eines Luftikus in das kleinbürgerliche Leben braver Leute, wo der Vater zweier Töchter seine Frau mit «Mutter», «die Mutter», 62
«die Mama» anredet und damit ungewollt seine einsetzende, ja etablierte Entmachtung und Impotenz demonstriert. Ich erkannte etwas Neues an Gütersloh, in den Facetten seines Geistes: Seine unbeugsame Katholizität. Ich erkannte den Thomas von Aquin in ihm und seine Rechtfertigung der Flucht aus dem Leben der Bürger, die er liebte, ja liebevoll beobachtete. Nach dieser Lektüre schrieb ich ihm einige Briefe. Da hat er sicher erkannt: Nun fällt der Groschen. Nach seinen Reden zu meinen Ausstellungen von 1950 und 1958 wird ihn das neue Leben seines Schülers wohl nicht sonderlich überrascht haben. Ich fühlte dies und wunderte mich darüber, dass ich es nach meiner Heimkehr aus Amerika 1957 nicht auch sogleich erkannt hatte. Es kam einer Wiederentdeckung gleich, wie ich sie in meiner Ballade Der Juwelier des König Lear beschrieben habe. Mein Alter Meister hatte mich so manches gelehrt, das mir erst jetzt wie der sprichwörtliche Knopf aufgegangen war. Einige seiner Bücher (wie Die tanzende Törin oder Sonne und Mond) hatte ich schon gelesen, und so manches von dem kannte ich, das in der Zeitschrift Der Plan auszugsweise veröffentlicht war. Aber wusste er, dass ich ihn verstand? Was heißt, ihn verstehen, den Meister, der auch Heimito von Doderers Meister war? (Auch er selbst hatte einen Meister gehabt: Franz Blei.) Der Stand von Güterslohs Bildung und Belesenheit blieb mir dabei ein fernes, vielleicht unerreichbares Ziel. Von ihm hatte ich auf die Frage, welches Buch bei ihm einen besonderen Eindruck hinterlassen hätte, sofort die Antwort bekommen: Tristram Shandy von Laurence Sterne. «Lesen Sie das!» 63
Mehr hatte mein Meister nicht zu sagen. – Aber wie das? Was beim jugendlichen raschlebigen dahinschlampenden Adepten ankommt, ist eine verschattete Sache. Sterne? Nie gehört! Wohl in englischer Sprache geschrieben. Solch einem Hinweis folgt kein leichtes Anbahnen einer Bekanntschaft. Und so vergingen Jahre. Ich war über dreißig, als ich schließlich das Büchlein in Händen hielt und ein Leseerlebnis meine Vorstellungen von Doppelbödigkeit und kabbalistischer Komik dermaßen erhellte, dass es auch ein Licht auf Güterslohs Kunstcharakter warf und ihn mir von einer anderen Seite zeigte. Es waren also nicht allein Güte und Höflichkeit, die ihn im Malsaal vor belangloser Stümperei zu Gefallensäußerungen hinrissen, sondern er trug Gipfel ab und ebnete dabei tiefe Täler. So relativierte er das stets fragwürdige Streben und Tun des Menschen. Sternes Alltagsmetaphern waren ein Signal! Das Banalste hat seine Tiefe. Und ein Merksatz Güterslohs lautete: «Die Tiefe ist außen.» In seinen Augen gab es nichts Unbedeutendes, wenngleich er auf die Frage, wie er diese oder jene Stümperei loben konnte, humorig antwortete: «Völlig unbegabt!» Aber solche Antwort auf meine Frage, die ich als Sechzehnjähriger an ihn stellte, konnte ich nach der Lektüre des Tristram Shandy nun nicht mehr als Wurstigkeit oder Gleichgültigkeit interpretieren. Das Geringste war da dem Allerhöchsten gleich, wie nach der Propheten Wort: Die Letzten werden die Ersten sein. Verworfene zum Eckstein gemacht. Der Christus wurde sichtbar in meinem Meister. Sein Meister erschien: Jesus von Nazareth. Diese Buchempfehlung, die auf den ersten Blick nichts dergleichen bedeuten konnte, war ein 64
entscheidender Hinweis auf den Dichter, Maler, den Geheimkatholiken, der nach außen hin jovial, gravitätisch, nah und unnahbar, als ein Graf von Saint-Germain sein heilsames Unwesen trieb. Ein lebendiges Enigma. Albert Paris von Gütersloh. Er hätte ja ebenso gut Ephraim den Syrer vorschlagen können oder Dionysius Areopagytha. Sie waren mir, wie Sterne, unbekannt. Mein Lieblingsbuch, die Apokalypse, zu empfehlen, das wusste mein Meister, war überflüssig – was Tiefe in der Tiefe suchen, welch ein Irrweg. Nein! Tristram kam auf einem Fensterbrett zur Welt. Beinahe wäre sein erster Atemzug auch sein letzter gewesen. Denn schon damals hatten die Fenster in London keine Flügel. Sie sind ein Schafott. Wie bedrohlich ist das! Und da kam der Tristram – was für ein Name! – zur Welt. Über dieses Buch denke ich immer wieder nach und verfalle in eine Tiefe, die kaum ein anderes Buch mir im Labyrinth der Banalitäten des Alltags je eröffnet hat. Merci, cher maître! Vous m’avez donné un bon conseil. In jenen Tagen von 1958, da ich in Paris die Ankunft von Eva, meiner zukünftigen Frau, erwartete, um meinen ersten Schritt zum Erfolg auf meinem banalitätenreichen Weg zu beschreiten, fand ich durch den Alten Meister zu diesem Buch. Gewiss, da sind andere, die er mir nicht nannte: Nerval, Melville, Baudelaire, Rimbaud, Huysmans, Oscar Wilde und Jean Paul. Aber der Meister hatte mir ein Buch erwähnt und mir dabei fest ins Auge geblickt: Tristram Shandy.
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ROBERT GERNHARDT Ein Verbündeter Ich lernte Wilhelm Buschs Bildergeschichte «Die fromme Helene» im Alter von acht Jahren kennen, und es war Liebe auf den ersten Blick. Wir schreiben das Jahr 1945, ein Jahr, in dem ich weit herumgekommen bin: Im Januar die Flucht aus Posen, dem heutigen Poznan, zusammen mit der Mutter und zwei jüngeren Brüdern; der Zwischenaufenthalt im thüringischen Bad Blankenburg; erneuter Aufbruch, als deutlich wird, dass die Amerikaner den Russen weichen werden; glückliche, ganz und gar schwerelose Sommertage im Walde bei Hannover – im Wilhelm-Busch-Land, wie ich heute weiß –, dann der Sturz: Da es den Anschein hatte, als seien dort Erziehung und Ernährung gesicherter als auf dem platten Lande, kam ich in ein Kinderheim der Kleinstadt Bückeburg, das von überwiegend bigotten und lieblosen Schwestern geleitet wurde – dem typischen Wilhelm-Busch-Personal, wie ich es heute einschätzen würde. Graue Wintertage, ein Weihnachtsfest fern der Familie, das der Gipfel der Tristesse zu werden drohte, als unversehens ein heller Lichtstrahl sichtbar wurde: Mein in Bückeburg wohnender Vetter Arne schenkte mir Wilhelm Buschs «Fromme Helene», und auf einmal wichen die Mauern des Heims zurück, weitete sich der Blick, überschaute ich gleichzeitig ferne Zeiten, fabelhafte Orte und verwunderliche Schicksale. Rätselhaft und verlockend bereits der Beginn:
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Wie der Wind in Trauerweiden Tönt des frommen Sängers Lied, Wenn er auf die Lasterfreuden in den großen Städten sieht. Offenbach ist im Thalia, Hier sind Bälle, da Konzerts. Annchen, Hannchen und Maria Hüpft vor Freuden schon das Herz. «Offenbach ist im Thalia» – ich begriff kein Wort, und da war auch niemand, den ich um eine Erklärung hätte bitten können, schon gar nicht die Schwestern, die mir das auf den ersten Blick harmlos erscheinende Bilderbuch nach gründlicherer Prüfung vermutlich rigoros entzogen hätten. So las ich denn alleine weiter, mit roten Ohren, heißem Herzen und wachem Verstande. Las davon, wie Lenchen, anders als ich, aus der sündigen Stadt aufs platte Land zu Onkel und Tante verschickt wurde, erfuhr, wie sie dort den Vetter Franz kennen und lieben lernte, während sie zugleich die reife Verwandtschaft mit Streichen piesackte, verfolgte, wie sie in kühler Berechnung den dicken, reichen Schmöck und Companie heiratete, bestaunte ihre Wandlung zur frommen Helene, die mit dem «heiligen» Vetter Franz auf zweifelhafte Wallfahrt ging, und belachte schließlich ihre trotz aller Frömmigkeit unausweichlich gewordene Höllenfahrt: «Hinein mit ihr, / Huhu, Haha, / Der heilige Franz / Ist auch schon da!» Da, wo ich auch die Schwestern des Kinderheims gerne gesehen hätte, Quälgeister, die uns Kinder sonntags in stundenlangen Gottesdiensten schmoren ließen, bevor wir gerädert von Langeweile und halb verhungert Essen fassen durften, und welche noch dazu die Stirn besaßen, uns von den abgezählten drei Bonbons Nachtisch eines wieder abzuverlangen, für Kinder, die es angeblich noch 67
schlechter hatten als wir. In Busch, das spürte ich, hatte ich einen Verbündeten. Bei ihm gab es etwas zu lachen, und das war in Zeiten rar, als die spärlichen Kinderbücher moralisierten und Unterhaltungskanäle wie Radio und Fernsehen ganz fehlten. Und bei Busch gab es etwas zu lernen, auch und gerade dann, wenn die behandelten Themen die Kenntnisse und das Vorstellungsvermögen des Kindes und auch noch des Knaben überforderten. Die hohen Gefilde der Liebe, Ehe, Erziehung, Religion und der sonstigen Werte – Busch hat sie alle mit solch gnadenloser Heiterkeit beackert, dass bereits das Kind begreifen konnte, wie sich da zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein jene klaffenden Widersprüche auftaten, die seit jeher den besten Nährboden für Komik abgegeben haben. Das Älterwerden hat seine Nach- und Vorteile. Heute birgt der Zauberspruch meiner Kindheit für mich keinerlei magische Mysterien mehr. Des Rätsels Lösung fand ich in Friedrich Bohnes vierbändiger Ausgabe der Werke Wilhelm Buschs. Der Vater der «Frommen Helene» habe in das Buch Frankfurter Lokalkolorit einfließen lassen, schreibt er und fügt hinzu: ‹«Offenbach ist im Thalia› – damals dirigierte der berühmte Operettenkomponist im Thalia-Theater u. a. seine ‹Schöne Helena›.» Ob wohl der Name der «schönen» auch auf die «fromme» Helene abgefärbt hat? Dafür lernte ich im Laufe der Jahre das zu genießen, was das lachlustige und Lust suchende Kind achtlos verschlungen hatte: Wilhelm Buschs große Kunst, in Bildern ebenso begeisternd und erheiternd zu erzählen wie in Worten. Ein Lernprozess, der vermutlich kein Ende finden wird – unlängst kam die dreibändige, historischkritische Wilhelm-Busch-Ausgabe ins Haus, und schon 68
wieder fand ich ungezählte Anlässe, zu bestaunen und – denn auch das Kapitel ist gottlob noch nicht abgeschlossen – zu belachen.
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PETRA GERSTER «… auch wenn ich nur eine Gans bin» Tony Buddenbrook und ich Ich glaube, es war mein schwierigstes Jahr überhaupt. Ich war zwölf, kein Kind mehr, noch kein Teenager. Ich hatte alle Enid-Blyton-Bände und Quo Vadis ausgelesen und begann mich nach dem siebten Karl May mit der ewigen Männerwelt des Wilden Westens zu langweilen. Außerdem fühlte ich mich ziemlich allein: Meine Eltern lebten ihr kompliziertes und aufwendiges Leben zwischen Arztpraxis, Eheproblemen, Gruppen- und Einzeltherapien und den Urlaubsreisen ohne ihre Kinder. Sie gingen ins Theater, ins Konzert, gaben Gesellschaften oder waren eingeladen. Wenn sie miteinander Stress hatten, litt ich ebenfalls darunter, war im größten Notfall auch mal Gesprächspartnerin für den jeweils Unglücklicheren von ihnen, aber eigentlich stand ich doch außerhalb ihrer Beziehung. Meine drei älteren Geschwister waren schon aus dem Haus. Die Schwestern studierten, der Bruder lebte im Internat. Blieb meine Großmutter. Sie war mein Anker und mein Zufluchtspunkt – meine ganze Kindheit schon. Immer wenn meine Eltern unterwegs waren – und das war oft –, durfte ich bei ihr übernachten. Sie kochte Spaghetti (das einzige Gericht, das sie beherrschte), sie erzählte mir Geschichten, las mir vor, als ich noch nicht lesen konnte. Später legten wir Patiencen zusammen oder spielten Malefiz. Und wenn es Samstag war, sahen wir Einer wird 70
gewinnen mit Kuli. Kinderglück. Unnötig zu sagen, dass diese Großmutter den größten Einfluss auf mich hatte. Als sie mich nun eines Nachmittags verloren und missmutig im Wohnzimmer meiner Eltern herumhängen sah, fragte sie, ob ich nicht der Meinung sei, dass ich jetzt mal anfangen könnte, was Gescheites zu lesen. Der Meinung war ich durchaus. Ich wusste nur nicht, was. Nun hatte meine Großmutter zwei Lieblingsschriftsteller: Thomas Mann («Der Fotograf des Lebens!») und Theodor Fontäne. Ihre beiden Lieblingsromane hießen Buddenbrooks und Der Stechlin. Die alte Generation und die neue Zeit – das war ihr Thema. Und gleich danach kam Effi Briest. Meine Großmutter meinte, dass die Buddenbrooks am geeignetsten seien, um damit anzufangen, «was Gescheites» zu lesen. Sie nahm es aber nicht bei sich oder meinen Eltern aus dem Regal, sondern kaufte mir ein nagelneues Taschenbuch. Das imponierte mir sehr. So war Thomas Manns Familienepos also das erste Stück Weltliteratur, das ich in die Finger bekam. Mein erstes Erwachsenenbuch! Ich fing sofort, am selben Nachmittag, zu lesen an. Schon der Untertitel faszinierte mich: Verfall einer Familie. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich es in diesem Buch mit wirklichen Menschen zu tun bekam, so wie ich sie aus meiner Familie kannte: Menschen mit merkwürdigen Eigenheiten und Redensarten, Menschen, die höchst individuell und interessant waren und dennoch ganz und gar in den Konventionen ihrer Zeit gefangen blieben. Ich lebte nun wochenlang in dieser Familie, die mir so eigenartig bekannt vorkam: mit der alten Konsulin, dem 71
genialen, aber hypochondrischen Christian, der so amüsant und liebenswert ist und sich doch so schwer tut mit dem Leben, seinem weniger originellen, aber geradlinigen Bruder Thomas, der sein Leben – scheinbar – nach allen Tüchtigkeitskriterien dieser Welt meistert. Tony Buddenbrook («auch wenn ich nur eine Gans bin») liebte ich, so wie sie war, und sah sie voller Verzweiflung schutzlos den falschen Männern ausgeliefert, weil die richtigen – wie Morten, mit dem sie «auf den Steinen» sitzt – nicht standesgemäß waren. Und sie, die beiden Fehlgriffe der Tony Buddenbrook, der spießige Hochstapler Grünlich und sein primitivbayrischer Nachfolger Permaneder, die traf ich sozusagen als alte, schreckliche Bekannte wieder, denn als geflügelte Worte tauchten sie regelmäßig in den Reden meiner Familie auf. Und erst jetzt erschloss sich mir die Ironie, mit der meine Mutter im Grünlich-Duktus – «Das putzt ganz ungemein!» – gerne Geschenke lobte. Auch Tonys Schreckensausruf «Das Wort! Das Wort!» kehrte immer wieder in den Erzählungen, beliebt auch in seiner entschlüsselten Form, des Permaneder’schen «Sauluder dreckats!». Zu meiner Überraschung und Freude fand ich all die Aussprüche wieder, mit denen ich aufgewachsen war: «Äußerlich, mein gutes Kind, bist du glatt und geleckt, aber innerlich, da bist du schwarz!» wurde – halb im Spaß, halb im Ernst – zu mir gesagt und Sesemi Weichbrodts «Ich würde die ganze Zuckerbüchse nehmen, mein Kind!»! Auch die anderen, die mir nicht so am Herzen lagen wie die drei Geschwister Tom, Christian und Tony, begleiten mich bis heute durchs Leben: Thomas’ Ehefrau Gerda mit den seltsamen bläulichen Schatten um die Augen etwa, die sich aus ihrer profanen Ehe in die Musik und zu dem entsprechenden Lehrer flüchtet, mit dem sie Stunden 72
hinter verschlossenen Türen zubringt – und meine zwölfjährige Phantasie mindestens so strapazierte wie die des irritiert in den Hausflur hineinlauschenden Ehemanns. Der arme kleine Hanno, mit dem ich so litt, als er vor der Großfamilie zu irgendeinem Jubiläum etwas aufsagen muss und ihn die Angst vor dem Auftritt würgt. Die verständnislose Enttäuschung des Vaters über das Versagen des Kindes stach mir direkt ins Herz. Und wie er schließlich – «mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt» – stirbt, nachdem er selbst in der Familienchronik hinter seinem Namen einen Punkt gemacht hat, das hat mich tief bewegt. Kein anderer Familienroman und keine andere Familie hat mich je wieder so unmittelbar berührt, denn ich konnte mich in fast jedes Familienmitglied hineindenken. Irgendwie waren sie einem alle sympathisch und nah und vertraut, und vielleicht kam das auch daher, dass wir einfach alle die Buddenbrooks gelesen hatten. So viele Romane gibt es ja nicht, die jeder in der Familie kannte. Es war, als lebten sie mit uns oder wir mit ihnen – wenn auch über ganz verschiedene Epochen hinweg. Sie waren mir nah wie meine eigene Familie – obwohl es überhaupt keine Parallelen gibt. Weder waren wir Kaufleute noch norddeutsch, noch wohlhabend. Nur auch ein wenig skurril und ebenso «dekadent» fand mein Bruder unsere Familie im Vergleich und meinte, mit uns werde es ebenso bergab gehen wie mit den Buddenbrooks – vielleicht weil mein Vater sich wie Thomas B. mehrmals am Tag umzog. Dass wir auch nicht leistungsfähig seien, weil uns (vor allem den Eltern) der Ehrgeiz fehle. Von Ruhm und Reichtum wolle er gar nicht reden, aber meine Eltern zeigten ja nicht mal die Lust, normale bürgerliche Verhältnisse vorzuzeigen – wenigstens ein ganz klein wenig zu repräsentieren. Nein, wir waren keine 73
erfolgreiche Familie in seinen Augen: eher etwas altmodisch schöngeistig und lebensuntüchtig – so sein Verdikt. Mich amüsierte das. Ich hatte nichts gegen Schöngeister (schon das Wort faszinierte mich), und materielle «Erfolglosigkeit» sah ich wie meine Eltern eher positiv («Wir sind keine Koofmichs!»). Ich fand meine Familie «im Prinzip» in Ordnung, auch wenn sie mir alle ständig auf die Nerven gingen, denn natürlich lag ich – pubertätsbedingt – permanent mit ihnen im Clinch. Ich fand meine Eltern und Geschwister ausgesprochen anstrengend, vor allem, wenn alle zusammenkamen. Wie in einer italienischen Großfamilie bei Fellini ging’s dann zu, jeder redete auf jeden ein, niemand hörte zu, man diskutierte, politisierte, wertete und stritt. Das fand ich unnormal. Bei meinen Freunden ging es jedenfalls anders zu. Ruhiger, normaler eben. Aber bei uns war alles immer anders als bei anderen. Schon das war Programm: Die anderen mögen es so machen, sagten Mutter und Großmutter unisono auf von mir geäußerte Wünsche oder Hinweise auf allgemeinen Usus, wir machen es eben so. Insofern war meine Familie in Wahrheit in allen Punkten das genaue Gegenteil der Lübecker Kaufmannsdynastie. Doch Aufstieg und Verfall der Familie Buddenbrook ließ mich meine eigene Familie mit ihren Macken und Absonderlichkeiten plötzlich aus größerer Distanz sehen – sub specie aeternitatis sozusagen; die erzählerische Ironie vermittelte mir zum ersten Mal das Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein, sondern das Ganze auch von außen betrachten zu können – einschließlich meiner eigenen Person. Zum ersten Mal sah ich mich als Teil eines höchst lebendigen und hochkomplizierten sozialen Systems, dessen Sonderbarkeiten mir ja auch etwas gaben, das in 74
diesem Alter eine entscheidende Erfahrung ist: Individualität. Ein Gefühl, das übrigens keineswegs beglückend ist, denn es wird hart erarbeitet: mit Einsamkeit, Fremdheit, Nicht-wissen-wohin-man-gehört und Ich-hasse-alle-um-mich-herum. Die Ironie von Thomas Mann hat mir also – auch wenn mir das damals sicher nicht so bewusst war – eine Art Schutzschild vermittelt. Doch ja, so habe ich das empfunden: ein Schutzschild gegen all die Zumutungen, die eine große, laute, selbstbewusste und fordernde Familie für ein eher introvertiertes jüngstes Kind wie mich darstellte. Und sie hat mich zumindest ahnen lassen, dass der übermächtigen, geliebt-gehassten Familie gegenüber noch eine andere Haltung möglich war als die des emotionalen Ausgeliefertseins: sie einfach nicht ganz ernst zu nehmen.
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MAX VON DER GRÜN Meine Sternstunde Gelesen habe ich immer, kein Buch in der Stadtbücherei war vor mir sicher. Aber was? Abenteuerbücher, Seefahrerromantik und vor allem Karl May. Hätte es hundert Bände von Winnetou gegeben, ich hätte hundert gelesen. Natürlich Schullektüre. Wir nannten sie einfach: Langweilerschwarten. Dazu gehörten auch Goethe und Schiller. Ich war vierzehn Jahre alt, 1940, da ging eines Tages mein Deutschlehrer nach dem Unterricht mit mir nach Hause, weil wir in der gleichen Straße wohnten. Am Gartenzaun vor unserer Wohnung gab er mir verstohlen ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen und sagte in einem fast verschwörerischen Ton, ich dürfe es niemandem zeigen und mit niemandem darüber sprechen. Ich war aufgeregt, rannte in mein Zimmer und wickelte es aus. Ich war enttäuscht, es war ein Buch. Ich hatte etwas Sensationelles erwartet. Es war ein schmales Buch. Warum durfte ich mit niemandem darüber sprechen, es niemandem zeigen? Das erfuhr ich viel später. Der Autor des Buches hieß Stefan Zweig, und der Titel des Buches lautete «Sternstunden der Menschheit». Ich setzte mich auf die Bettkante und begann zu lesen. Ich habe bestimmt nicht alles verstanden, aber eins begriff ich sofort, dass nämlich zwischen Karl May und diesem Autor Zweig ein Ozean lag und nicht ein Bach. Ich habe das Büchlein mehrmals hintereinander gelesen und war, wie man so sagt, hingerissen. Eine neue Welt tat sich vor 76
mir auf, das Buch war meine Sternstunde. Ich bekam später von meinem Deutschlehrer noch mehr Bücher zu lesen, die es in der Stadtbücherei nicht gab, es waren verbotene Bücher. Mein Deutschlehrer hatte seine Bücher nicht zum Scheiterhaufen gebracht, er hatte sie nicht abgegeben, diesen Schmutz und Schund, wie die Nazis sagten, im Keller hinter den Stößen des Winterholzes hatte er sie versteckt. Mein Deutschlehrer hat damals Kopf und Kragen riskiert, denn verbotene Literatur weiterzugeben, das wurde mit KZ bestraft, verbotene Literatur an Schüler, an «Anempfohlene», das war ein gefährliches Unterfangen. Auf meinem Zimmer konnte ich damals das Buch nicht lassen, meine Mutter stöberte in allen Ecken nach Staub und Schmutz, auch unter der Matratze konnte ich es nicht verstecken, denn die drehte meine Mutter jeden Morgen um. Hundert Meter von unserem Haus hatten wir einen großen Garten, da hielten wir Gänse und in einem Stall Ziegen, die uns Milch lieferten, über dem Ziegenstall war der Heuboden. Dorthin ging ich jeden Tag nach der Schule, denn im Schuppen stöberte meine Mutter nicht. Wenn es dunkel wurde, holte ich aus einem Verschlag die alte Karbidlampe meines Vaters, die sonst am Fahrrad hing, und zündete sie an. Die Familie bewunderte mich, weil ich plötzlich ein hilfsbereiter Mensch geworden war. Ich versorgte die Ziegen, die Gänse, ich jätete Unkraut – und die Familie rätselte, woher plötzlich meine Liebe zum Garten und zu den Haustieren kam. Aber ich hatte meine Ruhe, ich wurde nicht gestört, ich konnte in Ruhe lesen, mich in eine andere Welt versetzen lassen und dabei die Erkenntnis 77
gewinnen, dass nicht nur die Deutschen großartige Menschen waren, auch andere. Und etwas anderes hatte ich durch diese Lektüren gelernt: Der Geschichtsunterricht in der Schule war eine einzige Lüge, auf national getrimmte Lobhudelei. Stefan Zweig hat mich zur Literatur gebracht. Ich habe ihm viel zu verdanken. Ein Buch ist eben kein Ziegelstein, nein, es öffnet Türen.
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ULLA HAHN Hätte sie nur lesen und schreiben können! In meinem ersten Schuljahr hatte das Christkind nicht bei Botts Unterwäsche Halt gemacht, sondern war zwei Häuser weiter geflogen. Zwischen Socken und Lammfellsohlen, Winterstiefeln, in die ich noch hineinwachsen musste, lag das dicke Märchenbuch aus Kaisers Schaufenster. Ich schlug das Buch nicht auf, herrschte den Bruder an, als der mit seinen ungeschickten Händen zwischen die Seiten fahren wollte. Streichelte den Einband wie ein Schoßtier, viel fehlte nicht, ich hätte ihm Koseworte zugemurmelt. Bis zum nächsten Tag schleppte ich das Buch mit mir herum, ohne es einmal zu öffnen. Als ginge mit dem Geöffnetwerden sein Zauber verloren, als tropfe sein Inhalt heraus wie Goldstücke aus einem geschlitzten Sack, als wäre das erste Aufblättern wie der erste Biss in ein Stück Brot, das, einmal angerührt, auch schon aufgezehrt ist. Erst als am zweiten Weihnachtstag nach einer ausgiebigen Mahlzeit alles schlief, wusch ich mir am Spülstein die Hände und schlich mit dem Buch aus der warmen Küche vor die Speichertreppe. Stellte mich gerade hin, hielt das Buch auf beiden Handtellern, beugte mich darüber und küsste es wie der Pastor das Messbuch am Altar. Dann schlug ich es auf. Und war verärgert. Mein Blick fiel auf einen Vierfarbdruck, goldlockig Dornröschen, rosa im rot-weißen Dornengehege, soeben 79
erwachend, vor ihr auf den Knien der hellblaue Prinz. Ich mochte Bilder in Büchern nicht. Meine Schneewittchen, Rotkäppchen, Hexen und Feen, Zwerge und Riesen sahen alle anders aus. Bilder nahmen den Buchstaben bloß den Platz weg. Ich schlug den Band zu, fuhr mit den Fingern zwischen die Seiten wie der Katze durchs Fell, schlug ihn ganz vorn wieder auf. An diesem Tag las ich nur das Inhaltsverzeichnis, las es wieder und wieder. Mit der gleichen ruhigen Lust, mit der der Bauer die gefüllte Scheuer, der König seinen Schatz, die Hausfrau die Vorratskammer betrachtet, musterte ich die Versammlung der Überschriften. Berauschte mich an den Verheißungen der Titel wie der Hungrige am Duft der Speisen, über die er sich jederzeit hermachen kann. Einige Titel lockten mit Versprechungen, andere nickten mir zu wie alte Freunde oder flüchtige Bekannte, Rotkäppchen und Schneewittchen, Aschenputtel und Dornröschen, der Froschkönig, König Drosselbart, Schneeweißchen und Rosenrot, Hansel und Gretel, Das tapfere Schneiderlein, Frau Holle, Rumpelstilzchen. Ich geriet aus dem Häuschen, als ich merkte, wen alles ich hier wieder entdeckte; alle, von denen ich bislang nur gehört hatte, konnte ich nun, wann immer ich wollte, mit den Augen besuchen; konnte mir aussuchen, zu wem es mich gerade hinzog, zur armen Müllerstochter oder zur Königin, zu den Riesen oder den Zwergen, zu Menschen, Hexen oder Feen. Am nächsten Tag wählte ich dann ein Märchen aus, nicht ohne mir vorher wieder die Hände zu waschen, als ginge es zu Besuch bei der Frau Bürgermeister. «Brüderchen und Schwesterchen» schlug ich auf, eines der letzten, die uns Aniana, die Kinderschwester im Kindergarten, vorgelesen hatte. Ich hatte es nur dieses eine Mal gehört, aber die traurigen Verse der Märchenmutter 80
klangen mir noch im Ohr. «Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr.» Tagelang hatte ich diese Zeilen vor mich hin gemurmelt, besonders das Wort ‹nimmermehr› hatte es mir angetan; jedes Mal zog sich mein Herz bei dem schneidenden ‹nimmer› scharf zusammen, um sich im ‹mehr› dann wieder in einer vagen Hoffnung zu weiten. Nun las ich das ganze Märchen Wort für Wort, leckte es Silbe für Silbe von den Seiten, es schmeckte süß und bitter, so wie der Hasenbraten, den wir einmal im Jahr mit Kompott aus Schwarzen Johannisbeeren aßen. Mit dem Hasen wurde die Mutter vom Bauer Karrenbroich für die Pflege des Grabes seiner Eltern bezahlt. Manchmal biss man auf eine Schrotkugel, dann sagte der Vater ‹Verdammisch›, der Großvater ‹Waidmannsheil› und die Großmutter ‹Jelobt sei Jesus Christus›. Abends erzählte ich das Märchen dem Bruder, und am nächsten Morgen spielten wir es; wie brach mir das Schwesterherz, wenn ich an Bertrams Bett schlich, ihm übers Gesicht strich und meine Nimmermehr-Sprüche murmelte; wie verbläuten wir das böse Stiefmutterkopfkissen, bis das Rehlein wieder ein Bruder war. Wir spielten sie alle; waren abwechselnd wütend und traurig, grausam und milde, wir küssten und wurden geküsst, köpften und wurden geköpft, sprachen und hörten zu, starben und wurden wieder geboren. Auf die Märchen konnte man sich verlassen wie auf die Grammatik. Dort gab es Falsch und Richtig, hier gab es Gut und Böse. Gut wurde belohnt, Böse bestraft. Vorübergehend schienen die Bösen kraft ihrer Tücke zu obsiegen. Das machte die Märchen spannend. Doch am 81
Ende zogen die Schlechten immer den Kürzeren, wurden bestraft – ohne Erbarmen, aber gerecht. Besonders gefiel mir, wenn sich die Bösewichte ahnungslos ihr Urteil selbst sprachen, sich die böse Stiefmutter selbst zum Tod in einem mit Nägeln gespickten Fass verurteilte. Am liebsten waren mir Geschichten, in denen das richtige oder falsche Wort Schicksale entschied. Da hatte ein Geiziger drei Wünsche frei; fluchte sein Pferd auf staubiger Landstraße zu Tode; schleppte sich alsdann mit dessen Sattel ab und wünschte seine Frau darauf; kommt nach Hause und muss sie vom Sattel hinunterwünschen. Drei Wünsche mit eins vertan. Wörter waren unauslöschlich, sie an die Luft zu setzen, musste man vorsichtig sein. Zauberworte musste man wissen, damit Felsen sich öffneten, Steine zu Menschen wurden, Schwäne zu Brüdern; Schlaftränke wurden heimlich gereicht, damit das rechte Wort nicht ans rechte Ohr drang; Worte verhexten und erlösten, banden und befreiten. Welch eine Macht hatte ein einziges Wort, Macht über Leben und Tod. Besonders Namen. Weihnachten war längst vorüber, als mich eine Nachbarin beiseite nahm und mir ein Buch zusteckte, abgegriffen, besonders an den Ecken, nicht sehr dick, dunkelblau: «Die kleine Meerjungfrau» stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag. Der klein gedruckte Männername interessierte mich nicht. Bücher waren wie Äpfel und Birnen. Dass sie gemacht, geschrieben wurden, kam mir nicht in den Sinn. Es gab sie einfach. In meinem dicken Buch waren die Märchen kurz, höchstens zwei, drei Seiten lang. «Die kleine Meerjungfrau» nahm gar kein Ende. Ich grunzte vor Behagen. Auch fiel die Geschichte nicht gleich mit der Tür ins Haus wie die anderen Märchen, sondern ließ es 82
langsam angehen, mit Pflanzen, die unter Wasser wuchsen, so biegsam, dass sie sich bei jeder Bewegung des Wassers rührten, als wären sie lebendig. Dann endlich tauchte die kleine Meerjungfrau auf, schweigsam und gedankenversunken, und ich war ihr sofort verfallen, wie keiner Märchengestalt jemals zuvor. Das Reich tief in der See, das sie mit ihren fünf Schwestern teilte, bot Geborgenheit, Reichtum, Schönheit, doch sie wollte auf die Erde, ans Licht, verzehrte sich nach der Sonne, die nur als purpurnes Glühen zu ihr drang. Und sie verlangte nach Menschen, die sie von weit unten auf bunt beleuchteten Schiffen in all ihrem Glanz erahnte. Dann, als das Meermädchen, namenlos wie seine Schwestern, an seinem fünfzehnten Geburtstag zum ersten Mal aus dem Wasser auf die Erde schauen darf, rettet sie einen jungen Prinzen vorm Ertrinken. Danach hat sie nur noch einen Wunsch: Sie möchte Beine haben, um den geliebten Prinzen zu gewinnen. Doch als Preis für die Beine verliert sie ihre Stimme, die schönste Stimme auf See und auf Erden. Die Meerhexe schneidet ihr die Zunge ab. Derlei schreckliche Dinge war ich aus Märtyrergeschichten und Märchen gewohnt. Ich genoss jede grässliche auch als köstliche Überraschung: Wusste ich doch, dass alles zu einem guten Ende führte. Hier aber wollte sich das Schicksal seltenlang nicht zum Guten wenden. Die Meerjungfrau wird die liebste Gefährtin des Prinzen, aber sie zu seiner Königin zu machen, kommt ihm nicht in den Sinn. Sie hingegen hat keine Möglichkeit, ihm zu erzählen, dass sie es war, die ihn aus dem Schiffswrack gerettet hat. Stattdessen liebt er das Mädchen, das ihn am Strand gefunden hat und das er für seine Retterin hält. Dieses Mädchen, für immer in einen Tempel eingeschlossen, scheint keine Gefahr, das gute Ende immer noch möglich. Da erfährt die Meerjungfrau von der bevorstehenden Hochzeit mit eben 83
diesem Mädchen. Sie, als liebste Freundin des Prinzen, soll bei der Hochzeit zugleich mit der Braut an seiner Seite sein. Jetzt, jetzt endlich musste das Blatt sich doch wenden. Aber kein Wassermann hob sein Haupt aus den Wellen und brachte der Meerjungfrau die Zunge, die Stimme zurück. Keine Möwe kreischte, kein Sturmwind blies dem Prinzen die wahre Geschichte ins Ohr. Ich litt. Ich fasste es nicht. Bis mich die rettende Idee von meinem Fußbänkchen hinterm Stall hochjagte. Schreiben!, schrie ich, dass die Hühner auseinander stoben. Schreiben musste das Meermädchen! Ja, sie musste Lesen und Schreiben lernen, ihrem Prinzen einen Brief schreiben, in dem sie alles erklären, die Geschichte entwirren und für ihrer beider glückliche Zukunft sorgen konnte. Doch hatte ich in einem Märchen jemals von Lesen und Schreiben gehört? Sprechen, ja, sprechen konnten alle, Stein und Blatt, Maus und Vogel, Löwen und Drachen, Blutstropfen und Pferdekopf, Fisch und Schlange. Aber lesen und schreiben? Die Meerjungfrau war verloren. In der Tat heiratet der Prinz am andern Tag die andere, und das Meermädchen zerfällt zu Schaum auf den Wellen. Was ihr blieb, war die Aussicht auf eine unsterbliche Seele, da sie so viel gelitten hatte. Wie im Heiligenbuch. Es tröstete mich nicht. Einen Prinzen und ein Königreich konnte ich mir vorstellen. Was aber war eine unsterbliche Seele? Und vor allem: Wozu war sie nutze ohne die Möglichkeit, sie auszudrücken? Die Leidenschaft zum Lesen und Schreiben, Namengeben; die Wirklichkeit zur Sprache zu bringen und sie mit Worten zu verwandeln: haben mich das die Märchen gelehrt? Vor allem eines haben sie bekräftigt, den Mut und das Vertrauen des Kindes, dem Fremden und Geheimnisvollen furchtlos zu begegnen, eine Haltung fürs Leben. 84
PETRA HAMMESFAHR Karl May und die Menschenrechte Nächtelang habe ich damals um Winnetou und sein Volk geweint und glaubte an der Welt zu verzweifeln, weil die Guten plötzlich die Bösen waren. Zwölf Jahre alt war ich und geschichtlich bereits dahingehend informiert, dass die Amerikaner mit Nylonstrümpfen, Schokolade und Zigaretten das deutsche Volk vor dem Hungertod bewahrten, nachdem sie es zuvor aus der Tyrannei befreit hatten. Meine Mutter erzählte es so und fand, dass wir persönlich den Amerikanern zu besonders großem Dank verpflichtet waren, weil ein amerikanischer Konzern die bankrotte Weberei kaufte, in der mein Vater beschäftigt gewesen war. Sie machten daraus eine Aluminiumgießerei, gaben meinem Vater neue Arbeit, bezahlten ihn sogar besser, wodurch es überhaupt erst möglich wurde, nicht nur neue Gardinen für unser Haus, sondern mir auch dieses Buch zu kaufen, mit dem das Elend begann – für meine Mutter. Winnetou, Band eins. Vierhundert klein bedruckte Seiten stark, weshalb ich es unbedingt haben wollte. Wenn man nur selten ein Buch bekommt, muss es für eine Weile reichen. Zu der Zeit beschränkte meine literarische Vorbildung sich auf die dünnen Bändchen, die meine Tante mir geschenkt hatte – aus Opposition meiner Mutter gegenüber, die es für Zeitverschwendung hielt, ein Buch in die Hand zu nehmen. Bücher kosteten schließlich – Geld, das wir für lebenswichtige Dinge wie Ernährung brauchten. Vom Lesen wurde niemand satt, man zerbrach sich am Ende nur den Kopf über Dinge, die kein Mensch 85
mehr ändern konnte. Die man um des persönlichen Friedens willen besser auch nicht hinterfragen sollte. Bis dahin hatte ich nichts hinterfragt. Meine Tante liebte Herz-Schmerz- und Heile-Welt-Geschichten, in denen es durchaus auch einmal traurig zugehen durfte, aber nur in der Mitte. Am Ende musste sich alles in Wohlgefallen auflösen. Entsprechend sah meine Lektüre aus. «Jutta fährt Lambretta», «Das Mädel Peter» in vier Bänden. Wie die anderen hießen, weiß ich heute beim besten Willen nicht mehr. Sie waren unterhaltsam, nett zu lesen und entsprachen in keiner Weise der Wirklichkeit. Jedenfalls hätte ich mir damals nicht vorstellen können, dass ein junges Mädchen auf einem Motorroller alleine nach Italien fährt. Oder dass eine komplette Familie mit Freunden Urlaub in Seewind und Sonne macht. Karl May schrieb anders, machte mir schon mit dem ersten Absatz seiner Einleitung klar, dass ich ein bitterernstes Buch voller geschichtlicher Fakten in der Hand hielt. «Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein. Das hat, so sonderbar es scheinen mag, doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden auch noch so wenig Vergleichsmöglichkeiten geben, sie sind einander dennoch in gewissem Sinne ähnlich, in dem einen Punkt nämlich, dass die Weltmeinung mit ihnen so gut wie abgeschlossen hat, wenn auch mit dem einen weniger stark als mit dem anderen. Man spricht von dem Türken kaum anders als vom ‹kranken Mann›, während jeder, der die Verhältnisse kennt, den Indianer als ‹Sterbenden Mann› bezeichnen muss.» Der Tosa Verlag, Wien, fühlte sich verpflichtet, in einer Fußnote darauf hinzuweisen, dass Karl May diese Sätze 1892 geschrieben hatte und die Verhältnisse sich inzwischen geändert hätten, ganz bestimmt für die Türken, 86
aber auch die Indianer hätten inzwischen ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Und dann las ich von Landvermessern, die niemandem etwas Böses wollten. Nur das Land wollten sie, und keiner fragte, wem sie es wegnahmen. Und neben all denen, die in scheinbar harmloser Absicht kamen und durchaus zu einem friedfertigen Miteinander bereit waren, siehe Old Shatterhand, kam eine Menge Abschaum in die Prärie. All diese Banditen, die sich bereichern wollten am Gold oder am Öl, die sich einen Spaß daraus machten, ganze Büffelherden abzuknallen, und den ursprünglichen Besitzern des Landes die Lebensgrundlage entzogen. Mein Vater kaufte binnen weniger Wochen Band zwei und drei, heimlich. Ich las ihm jedes Mal, wenn wir ungestört waren, einige Seiten vor. Er war ebenso begierig wie ich zu erfahren, wie es weiterging. Im Gegensatz zu mir wusste er natürlich, dass Winnetou der Phantasie eines Autors entsprungen war wie Jutta mit ihrer Lambretta und das Mädel Peter. Für mich dagegen war der Häuptling der Apachen ein realer Mensch – gewesen; dass er noch lebte, zog ich mit Blick auf das Jahr 1892 nicht in Betracht. Ich hoffte nicht einmal auf ein glückliches Ende, weil Karl May in seiner Einleitung vorweggenommen hatte, wie es für die Indianer ausgegangen war. Immer wieder aufs Neue belogen, betrogen, in Reservate gepfercht und wieder daraus vertrieben, niedergemetzelt, wenn sie aufbegehrten oder auch nicht. Manchmal wurden sie nur umgebracht, weil sie im Weg waren. Und die Nachfahren ihrer Mörder gaben meinem Vater nun eine gut bezahlte Arbeit, hatten meiner Mutter in jungen Jahren das Leben mit Schokolade und Zigaretten erleichtert. Wie soll man damit umgehen, wenn man zwölf Jahre alt ist und die spanische Königin, die Christoph 87
Kolumbus drei Schiffe zur Verfügung stellte, nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann? Ich las erst einmal weiter, versuchte zu verstehen, nervte Lehrer und andere gebildete Persönlichkeiten, bettelte darum, in ihren Bücherregalen stöbern und mal das eine oder andere ausleihen zu dürfen, um so viel wie nur eben möglich über geschichtliche Hintergründe und die Natur des Menschen zu erfahren. Ich lernte, dass nicht nur die Indianer Nordamerikas größtenteils ausgerottet worden waren. In Südamerika, Afrika, Indien, Australien, überall in der Welt hatten Europäer geplündert, versklavt oder getötet, Besitzansprüche angemeldet, sich ausgebreitet, vom lieben Gott gepredigt und Menschenrechte mit Füßen getreten. Wie habe ich mich geschämt, eine Weiße zu sein, in Europa geboren, noch dazu in Deutschland mit seinem Dritten Reich. Ich fand damals, dass die Bibel zumindest in einem Punkt Recht hatte und wir alle mit der Erbsünde geboren waren. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte mein Bündel geschnürt und wäre ausgezogen, um all den Unterdrückten beizustehen. Aber mit zwölf und einer Erziehung, die sich am Machbaren orientierte, da blieben nur die guten Vorsätze und Bücher. Und nach Karl May empfand ich «Jutta fährt Lambretta», «Das Mädel Peter» und ähnliche Geschichten als Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ich wollte die Wahrheit, mich nicht für dumm verkaufen lassen und niemanden für dumm verkaufen.
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KLAUS HARPPRECHT Glück des Wiedererkennens «Der Mann ohne Eigenschaften» Es ist zwei Menschenalter her (wie man einst gerechnet hätte), in den Ruinen wucherte das Unkraut, manchmal auch ein Bäumchen, das nicht lange lebte, denn alles Holz endete rasch in den Öfen, die Kälte biss, in den Bäckereien gab’s, wenn man Marken und Glück hatte, fremdartiges Maisbrot, das mir selber prächtig schmeckte, obschon es der Bizonen-Wirtschaftsdirektor Semler (zeitweilig Gatte der genialen Kabarettistin Ursula Herking) als Hühnerfutter geschmäht hatte und dafür von den beleidigten Amis prompt vor die Tür gesetzt worden war. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, lernten wir, aber ohne Brot kann er auch nicht leben. Zu essen gab’s wenig, doch zu lesen dies und das, von dem wir, isoliert hinter unserem großdeutschen Drahtverhau, nichts gewusst, nichts geahnt hatten. Die Bücher waren auf graues Papier gedruckt, schlecht geleimt und sofort ausverkauft, außerdem wurden die eindrucksvollsten und wunderlichsten Zeitschriften angeboten, die sich nach der Währungsreform nahezu allesamt in ferne Gerüchte auflösten. In einem dieser Hefte, wie immer es heißen mochte, irgendetwas mit W oder K, vielleicht «Weltschau» oder «Kadenz», stieß ich bei der ersten Lektüre in der Straßenbahn (stehend natürlich und von allen Seiten durch ungut riechende Mitfahrer bedrängt) auf Sätze von einer geradezu unirdischen Eleganz, einer verwirrenden Präzision (falls 89
das Paradox erlaubt ist), von einer geradezu federnden Intellektualität, ironisch und auf eine spröde Weise sensuell: ein modernes Sprachwunder, wie ich es niemals und nirgendwo gekannt hatte. Ich las über meine Haltestelle hinweg und schreckte erst bei der übernächsten auf, lief einen halben Kilometer zurück, las die Seiten in meiner kalten Bude, ein Maisbrot kauend, noch einmal und suchte jetzt erst nach dem Namen des Autors, der mir nicht das Geringste sagte: Robert Musil. Es handle sich, stand in einem kleinen Vermerk, um ein Kapitel aus dem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften». Das Wunder setzte sich fort. Nicht lange danach fand ich bei einem Antiquar den ersten Band des Werkes in der ersten Ausgabe, erschienen bei Rowohlt im Jahre 1930. Ich las es, wie ich zuvor noch niemals eine Erzählung, sondern vielleicht einen Schultext oder gelehrte Schriften aus der Bibliothek meines Vaters gelesen hatte: mit dem Bleistift, einzelne Formulierungen und ganze Passagen unterstreichend, um hernach die brillantesten Aphorismen leichter wiederzufinden, um durch die Markierung mein Vergnügen am Scharfsinn mancher Reflexionen optisch zu akzentuieren, um die Sensibilität mancher Impressionen ins Licht zu heben, um überhaupt meine Lust am Raffinement des Stiles zu demonstrieren, das dem des «Zauberberg» nicht nachstand: ebenso wortreich, das gewiss, doch mit den Satzgirlanden machte Musil nicht gar so viele Umstände, er ließ die schwere Seide nicht ganz so kokett knistern, auch schwelgte er nicht gar so üppig im matten Glänze des Samtes dahin. Später las ich «Die Verwirrungen des Zöglings Törless», die «Drei Frauen», einige Geschichten. Es versteht sich, dass ich die Gesamtausgabe des «Mannes ohne Eigenschaften» in der Edition von Adolf Frisé sofort erstand, aber ich gestehe auch, dass ich das gesamte 90
Fragment von der ersten bis zur letzten Zeile erst vor zwei Jahrzehnten in einem langen südfranzösischen Sommer im Zusammenhang las: nicht wie eine Pflichtübung, die ich dem Autor oder mir selber schuldig zu sein glaubte, sondern weil ich zuvor nie die Muße gefunden hatte, die das Werk verlangte, vielleicht auch weil ich erst jetzt das Alter erreicht hatte, das die Lektüre voraussetzte, denn jegliches hat seine Zeit. In solchen Sommern konnte ich die Goethe-Romane, den «Grünen Heinrich», fast alles von Gide, von Faulkner, von Joseph Roth, von Arthur Schnitzler, von Jean Giono und anderes in gelassener Konzentration in mich aufnehmen, ganz in den Welten der Erzähler zuhaus, ihr Leben und das ihrer Geschöpfe nachlebend, ohne Ungeduld, ohne ein Pensum, recht eigentlich ohne Ziel und Ende. Nur Lesen, keine Zeile über das Gelesene schreiben, Ferien, die den Namen verdienten. Solche Freiheit macht es mir leichter, wie ich heute begreife, bei der Lektüre von Musils Roman die Notwendigkeit des Fragmentarischen zu erfahren. Fragment hätte das Unternehmen bleiben müssen, auch wenn dem bettelarmen und so hochmütigen Edlen von Musil nicht schon im Alter von zweiundsechzig Jahren der Griffel aus der Hand gefallen wäre. Kurz vor seinem Tode notierte er, es könne sein, dass seine geistige Kraft nachlasse, «aber eher ist es wahr, dass die Problemstellung über sie hinausgeht»: die Summierung eines Zeitalters in der «Parallelaktion», mit der das siebzigjährige Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Joseph zeitgleich zum dreißigjährigen Jubiläum der Herrschaft Wilhelms II. gefeiert werden sollte – das war ein utopisches Abenteuer, von dem wir von Beginn an wissen, dass es zu keinem Finale gelangen wird – und der Autor wusste es wohl auch, obschon er Schlussworte skizziert hat, an die er 91
nicht so recht zu glauben schien. Der Roman würde in sich zusammenfallen, bliebe nicht alles in der Schwebe, auch die Beziehung zwischen Geist und Geschehen, die beide ineinander verschmolzen sind, weil es das eine nicht ohne das andere gibt: denn «wenn der Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann?». Eines fließt schwebend ins andere (und zurück): die Geschwisterliebe von Ulrich und Agathe zum Beispiel, eine Art Leitmotiv, jene Liebe, die der Autor «eine Reise an den Rand des Möglichen» genannt hat, eine Reise, die «an den Gefahren des Unmöglichen vorbei, und vielleicht nicht immer vorbeiführt», eine Reise «ins Tausendjährige Reich» – nein, nicht das der braunen Vorstadtbarbaren oder der nationalen Mystiker in Schwabing und anderswo, sondern das der Erfüllung des Menschengeschicks, der Erlösung, des Paradieses. «Er betrachtete, während sie sprach, noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr ähnlich dem seinen vor; aber vielleicht irrte er, es mochte ihm ähnlich sein wie ein Pastell einem Holzschnitt, so dass man über der Verschiedenheit des Materials das Übereinstimmende der Linien- und Flächenführung übersah.» Natürlich zog mich, beim ersten Lesen, dieser geheimnisvolle und so diskret angedeutete Eros in seinen Bann. Hernach kümmerte mich die Handlung wenig, und ich sah keine Veranlassung, die diversen, in der Tat oft kaum übersichtlichen Entwicklungsstränge miteinander zu verknüpfen. Der «Roman-Essay», von dem Thomas Mann (auch mit dem Blick auf den «Zauberberg») gesprochen hat, verfährt mit den Menschengeschicken noch beliebiger, als es ohnedies das Recht und die Gewohnheit der allmächtigen Autoren ist (siehe eben jenen «Zauberberg» und sein pathetisch-verkitschtes Ende, das sich des Krieges als des denkbar billigsten und 92
schrecklichsten deus ex machina bedient). Mich interessierte die Konstruktion nur am Rande. Und ich konnte mich ohne Gram damit abfinden, dass die Geschichte wohl einen Anfang, aber wenig klar markierte Etappen und erst recht kein Ende hat, ja vielleicht gar keine Geschichte war. Mich faszinierten die Wort- und Denkmelodien mit den raschen Wechseln der Tempi, der Reichtum von Haupt- und Seitenthemen, die Variationen der Persönlichkeiten und Charaktere – wie Dr. Arnheim, der «Großschriftsteller», der zugleich ein Großorganisator der Wirtschaft, ein Großdompteur aller Phänomene des modernen Daseins ist: «Er war ein Mann großen Formats. Seine Tätigkeit breitete sich über alle Kontinente der Erde wie des Wissens aus. Er kannte alles: die Philosophen, die Wirtschaft, die Musik, die Welt, den Sport. Er drückte sich geläufig in fünf Sprachen aus. Die berühmtesten Künstler der Welt waren seine Freunde, und die Kunst von morgen kaufte er auf dem Halm, zu noch nicht heraufgesetzten Preisen. Er verkehrte am kaiserlichen Hof und unterhielt sich mit Arbeitern. Er besaß eine Villa in modernstem Stil, die in allen Zeitschriften für zeitgenössische Baukunst abgebildet wurde, und ein wackliges altes Schloss irgendwo in der kärgsten adeligen Mark, das geradezu wie die Wiege des preußischen Gedankens aussah.» Sich selber beobachtet dieser kühne Kopf scharfen Auges und mit einem Anflug von Ironie: «Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich … in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in den Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.» Lässt sich eine homoerotische Neigung keuscher und 93
geistreicher umschreiben? Ein geniales (nur sacht karikierendes) Porträt des Großbürgers Walter Rathenau. Sein k.u.k. Partner, der General Stumm von Bordwehr, von dem gesagt wird, wenn er sich «akustisch immer weiter verbreitet» habe, dann mochte sich das anhören «wie der beruhigende Marschtritt geordneter Bataillone». Ulrichs Gang durch eine fremde Stadt (viele Seiten später): «Er staunte die Selbstverständlichkeiten, die unzähligen niedlichen Habseligkeiten des Wohllebens an, als sähe er sie zum ersten Mal. Welch reizendes Wort: habselig! fühlte er. Und welch ein Glück, dieses ungeheure Übereinkommen des Zusammenlebens!» Dieses Zitat will ich mir für den nächsten Markttag im benachbarten Flecken merken: denn das «ungeheure Übereinkommen des Zusammenlebens» ist in der Tat ein Mirakel: das tägliche Wunder unserer Zivilisation, für das wir – von den «Wonnen der Gewöhnlichkeit» umschmeichelt – in der Regel blind sind (solange sie funktioniert). Wer so schreibt, über Jahre und Jahrzehnte, über einen Weltkrieg und die Elendsjahre des Exils, über die Bitterkeit des Verkanntseins, über zweitausend Seiten fort und fort, dem missrät die eine oder andere Passage, dem verwackelt manches Bild, der hält sich stilistisch nicht immer auf der Höhe seiner selbst. Der Abiturienten-Scherz mit den anonymen Passagen, die an die Lektoren kleiner und großer Verlagshäuser verschickt werden und allesamt auf Ablehnung, blanken Hohn oder schiere Nichtachtung stoßen, fiel nicht erst im Jahre 1968 der Redaktion von «Pardon» zur Bloßstellung Robert Musils ein: solchen Schabernack leistete man sich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, lange davor mit Goethe, mit Kafka, mit Jünger, ja selbst mit Thomas Mann. Der Ulk beweist überhaupt nichts außer den völlig natürlichen 94
Niveauschwankungen auch der großen Autoren und der Betriebsblindheit so genannter Literaturexperten, die zuschauen müssen, wie sie die Manuskripte loswerden, die sich auf ihren Schreibtischen türmen. Überdies sagte Lichtenberg, dass Bücher wie Spiegel seien: «Wenn ein Affe hineinschaut, kann kein Apostel herausgucken». Wie oft ist nicht jeder von uns zum Affen eines Buches geworden. Unser so hoch verehrter Haupt- und Staatskritiker M. R.R. bemühte den albernen Einfall der «Pardon»Redakteure, um den «Mann ohne Eigenschaften» – der seinem literarischen Ideal so ganz und gar nicht gemäß ist: zu lang, zu essayistisch, womöglich auch erotisch zu flau – mit mächtigem Anlauf von der Säule zu stürzen, die den Werken seiner Hausgötter vorbehalten ist. Mahnend schwingt er den Zeigefinger: «Es stellt sich heraus», rief er, «dass die Zahl der Bewunderer des Musil’schen Romans um ein Vielfaches die Zahl seiner Leser übersteigt.» So ist es gewiss. Aber das lässt sich von manchen anderen Werken der Weltliteratur sagen: von Goethes Wilhelm-Meister-Romanen, die nur noch zur akademischen Lektüre zu taugen scheinen, von Grimmelshausens Simplicissimus, von Novalis’ «Heinrich von Ofterdingen», selbst von den Epen Homers. Zum hundertsten Geburtstag Musils (im Jahre 1980) schlug der Chefdirigent unserer Nationallektüre vor, man möge das Gesamtwerk auf einen Band von vier- bis fünfhundert Seiten zusammenstreichen, um den Roman lesbar und genießbar zu machen. – Aber verfiele ein Bruder, eine Schwester im Geiste allen Ernstes auf die Idee, einen Digest der Wilhelm-Meister-Bände zu fertigen? Nicht alle Kapitel jenes Werkes, die wir voller Mühsal hinter uns bringen, demonstrieren jene «himmlischen Längen», die manchen Schubert-Sonaten 95
nachgesagt werden: sie sind langweilig und sonst nichts. Doch vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken, dass auch die große Literatur die Qual der Abschweifung, der entnervenden Geschwätzigkeit, die Heimsuchung der Langeweile braucht wie der Baum das alte Laub, aus dem sich die Wurzeln nähren. Eines hat der majestätische Raunzer und Generalvorstand der deutschen Literatur GmbH zuwege gebracht: ich holte den Musil aus dem Regal und las mich fest, las aus schierem Entzücken weiter und weiter, las nicht das gesamte monströse und wundersame Werk, dies versteht sich, aber da und dort eine Seite, vom Glück des Wiedererkennens selig gefangen.
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FELICITAS HOPPE Il Milione – Die Wunder der Welt «Kaiser, Könige und Fürsten, Ritter und Bürger – und ihr alle, ihr Wißbegierigen, die ihr die verschiedenen Rassen und die Mannigfaltigkeit der Länder dieser Welt kennenlernen wollt –, nehmt dies Buch und laßt es euch vorlesen.» So beginnt Marco Polos Bericht über die Wunder der Welt und die Abenteuer des Reisens. Das Buch eines Mannes, der alles andere war als ein Phantast, sondern ein in Edelsteinen reisender Kaufmann von robuster Kondition und klarer Auffassungsgabe. Mehr erfahren wir zu seiner Person nicht aus dem Text, den ich mir Jahrhunderte später aus Ermangelung an Gesellschaft auf einer Schiffsreise unterwegs von Hamburg nach Hamburg allerdings selbst vorlesen musste. Und je mehr und je lauter ich las, desto mehr wuchs das Buch mir ans Herz und desto mehr fürchtete ich mich davor, die Länder, von denen es spricht, mit eigenen Augen zu sehen. Ich meine damit nicht Angst, sondern die Furcht im eigentlichen Sinn dieses Wortes, die Sorge nämlich um die Frische und Schönheit von Geschichten und Bildern, die sich nur noch lesend vorstellen lassen und an denen sich die Wirklichkeit längst nicht mehr messen kann. Das hat drei Gründe: Erstens das Alter und die Unüberprüfbarkeit des Textes, der Gesehenes, Gehörtes und Erfundenes, Wahrheit, Legende und Fabel aufs Schönste vermischt. Zweitens die daraus resultierende Märchenhaftigkeit und drittens seine unklare, durch unzählige Abschriften vernebelte Urheberschaft. Die 97
große Anziehungskraft des Textes beruht aber auf der Unbeschwertheit dessen, der hier zu uns spricht und in erster Linie genauer Beobachter und selbstbewusster Erzähler, nicht aber ehrgeiziger Schreiber sein will. Glaubt man der Überlieferung, dann haben sich in diesem Buch gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts in genuesischer Gefangenschaft auf glückliche Weise zwei Männer gefunden: der reisefreudige Kaufmann Polo und der schreibfreudige Aufschreiber Rustichello, der, was der erste erzählt, für die zu Hause gebliebene hungrige Mitwelt notiert. Fernab von der Idee der Kunst, eines Werkes oder der persönlichen Meisterschaft befreit das Buch den Leser auf wundersame Weise von der erdrückenden Last persönlicher Autorschaft, die das Reisen, Schreiben und Lesen heute so gut wie unmöglich macht. Kein empfindsam erlebendes Ich schiebt sich in den Vordergrund des Textes, und der Vergnügungs- und Unterhaltungswert ist beträchtlich: «Stellt euch vor: ein mächtiger Löwe wird vor den Großkhan geführt. Sobald der Löwe den Kaiser erblickt, fällt er vor ihm nieder, macht Zeichen der Verehrung und Hochachtung, derart, wie wenn er ihn als Herrscher und Herrn anerkennen würde. Ohne Ketten verharrt er vor dem Kaiser. Ist das nicht höchst erstaunlich?» Unmöglich, an einen solchen Ort des Erzählens zurückzukehren. Der heute reisende Schreiber verstellt sich mit sich selbst den Blick und geht unter seiner breiten Krempe aus Wissen und Information, aus tausendfach reflektiertem Vorurteil durch die Welt und fühlt sich an jeder Kreuzung der Rechenschaft schuldig. Er muss immer und überall Zeuge sein, muss Urteile fällen und Meinungen haben, während Polo, der freie reisende Kaufmann, der Erzählung sein eigenes Tempo gibt, 98
skrupellos auslässt und fröhlich manipuliert: «Laßt uns jetzt das Thema wechseln», verfügt er, denn «wir wollen nicht länger in dieser Stadt verweilen. ( … ) Abgelegene Orte und Gegenden habe ich ausgelassen; die Aufzählung wäre langweilig gewesen.» In anderen Worten: «Genug davon, wir wollen weiter.» Ich las also weiter, bis «Il Milione» innerhalb weniger Tage den ersten Platz auf meiner Favoritenliste einnahm. Falls ich jemals eine solche Liste geführt haben sollte, denn ich begegne den Büchern mit demselben Misstrauen wie der Matrose, der eines Nachts an Deck meine Lektüre unterbrach und ein schweres süßes Getränk über den schmalen Einband goss. Seither sieht man meinem Polo an, dass er gereist ist. Der Einband ist verbogen, der Umschlag zerknittert und fleckig, aber niemals werde ich mich von meinem getauften Exemplar trennen. Es ist Schutz- und Trostbuch in einem. Mit Polo im Gepäck bin ich an jedem Ort der Welt sicher.
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WALTER JENS «Buddenbrooks» oder Die eiserne Ration «Jetzt kannst du das Buch lesen», sagte meine Mutter, als ich sechzehn war, «immer nur Schiller, das wird auf die Dauer langweilig.» Das Buch: ein Roman Thomas Manns, der sich im Familienkreis eines besonderen Interesses erfreute, weil er in Lübeck spielte. Hier hatte mein Vater, von der schleswig-holsteinischen Westküste, Neufeld bei Marne («ick bün ut Maan»), zur Ostküste wechselnd, bei der Dresdner Bank seine Lehrzeit absolviert, hier wohnten die Verwandten, die beim Bombenangriff auf Lübeck ein erbärmliches Ende fanden. «Alle tot», sagte meine Mutter, «das Haus in der Hüxstraße ist hin.» Die Hüxstraße, nahe beim Rathaus, nur ein paar hundert Meter von Sankt Marien und der Mengstraße entfernt, wo die Buddenbrooks residierten. Walter Jens senior, im Gegensatz zu seiner Frau an Literatur wenig interessiert, liebte es, zumindest in einem Fall, poetische Realität und erlebte Wirklichkeit miteinander zu vergleichen: «Am Marienkirchhof bin ich als Stift oft vorbeigegangen», sagte mein Vater und erstaunte uns durch die perfekte Wiedergabe der plattdeutschen Sätze des Familienoberhaupts Monsieur Johann Buddenbrook, die er auswendig konnte: «Je, den Düwel ook», «’n Aap is hei» und «Da sall doch gliek de Donner inslahn». Platt war, in seiner Kindheit, Vaters erste Sprache gewesen; als er, in Kattrepel eingeschult, den Plural von ‹Schränk› bilden sollte, schrieb er: «de Schäppe». 100
Lübeck war nah bei uns in Eimsbüttel und Eppendorf, der Roman «Buddenbrooks» ein Hausbuch, fast so zerlesen wie die Bibel oder Schillers gesammelte Werke (Goethe: wenig benutzt; Kleist: nicht vorhanden). «Buddenbrooks» und, später, «Der Zauberberg»: Das war, in finsteren Zeiten, die eiserne Ration des Abiturienten Jens, dem der Makler Sigismund Gösch und, natürlich, Hans Castorp näher standen als Tante Elsa und Onkel Max. Kein Wunder: Wer, wie ich, wegen eines frühen Asthmaleidens viele Monate im Kindersanatorium Schwester Frieda Klimsch (Königsfeld, badischer Schwarzwald) verbrachte, hatte im gleichfalls von Hamburg aus in südliche (freilich pompösere) Zonen verschlagenen H. C. einen Partner, von dem sich lernen ließ, wie man den Aufenthalt in der Horizontalen (vier Stunden Liegekur pro Tag war in Königsfeld die Norm) ertragreich nutzen konnte. «Buddenbrooks» und «Zauberberg» waren für mich so etwas wie Altes und Neues Testament; Thomas Mann: ein leibhaftiger Hermes, über den ich meine erste germanistische Studie schrieb: «Der Gott der Diebe und sein Dichter». Publiziert ungefähr fünf Jahre nach jenem 13. Juli 1944, an dem ich mich, im Kreis der Freiburger Studentengemeinschaft «Friedrich Ludwig Jahn», einer Sozietät, die zum Akademischen Turnerbund gehörte, in schwärmerischer Rede über meinen Heros ausließ, den es «frei von genormter Einheitssicht, hingegeben mutvollem Bejahen» zu würdigen gelte. Schwärmerisch? Eher schwögig und hochpathetisch, durch langatmige Inhaltsangaben strukturiert, die offenbar keinen der anwesenden Kommilitonen langweilten: Wer kannte 1944 schon «Buddenbrooks»? Die Begeisterung riss mich hin, mitten im letzten Kriegsjahr: «Noch stehen wir Thomas Mann zu nahe, aber ich glaube, daß spätere Zeiten 101
vielleicht einmal den ‹Wilhelm Meister›, den ‹Grünen Heinrich› und den ‹Zauberberg› in einem Atem nennen werden.» Und dann die Apotheose am Schluss: «Verlieren wir in unserer Zeit, wo wir dem ‹Eingepreßtwerden› auf allen Gebieten ganz zu verfallen drohen, nicht den Blick auf die Vielfalt der Erscheinungen, versinken wir nicht in Glücklosigkeit … Thomas Mann, der große Dichter, auf Wiedersehen!» Starker Tobak, in der Tat, parfümiert dazu und aus der Distanz von sechzig Jahren nicht leicht zu ertragen. Was mögen die Verbindungsbrüder gedacht haben, Dietrich Katzenstein, später den höchsten Richtern in Karlsruhe angehörend, oder Ernst Nolte, der Historiker, seinerzeit ein Heidegger-Schüler? Ich konnte unbesorgt sein, glaube ich; man war unter sich im Rheinischen Hof am Freiburger Münsterplatz. Leichtfertig gedacht, wie der auf braunem Schreibpapier erhaltene Brief eines Gastes an Dietrich Katzenstein beweist. Was hatte Peka (mein Spitzname: Propaganda-Kompanie, zuerkannt wegen der gekonnten Persiflage Goebbels’scher Sätze: «Keiner soll hungern, ohne zu frieren. Führer befiehl, wir tragen die Folgen.») … was hatte Peka da angestellt? Einen Dichter verherrlicht, dessen Haus in Nidden einst «Treffpunkt deutschfeindlicher Juden und Litauer war»! Dreister Peka: «Das weitverbreitetste Urteil der Ablehnung dieser dekadenten und von der Zerfallensluft durchzogenen Werke wurde als nicht gerechtfertigt abgelehnt.» Und das im Hinblick auf einen ausgebürgerten Pazifisten, der eine «von unserer Staatsführung abgelehnte Persönlichkeit» sei. Befremdlich, dass Peka, im Bann eines dekadenten Artisten, offenbar so überzeugend geredet hatte, dass am Schluss ein Lied angestimmt wurde, das der Briefschreiber als «wenig angebracht» bezeichnete: «Die Gedanken sind frei.» 102
Nun, der juvenile Thomas-Mann-Fan im so genannten Dritten Reich hatte Glück: Sein Widersacher, der dafür plädierte, dass Studenten «akademische Künder unserer Weltanschauung» zu sein hatten, wollte, das ehrte ihn, eine kritische Diskussion meiner Thesen; Denunziation lag ihm fern. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich mich für das «auf Wiedersehen, Thomas Mann» hätte öffentlich rechtfertigen müssen. Ich denke oft an den 13. Juli 1944, lese das Hausbuch der Familie Jens, «Buddenbrooks», in Dankbarkeit wieder und wieder: mit dem gleichen Entzücken wie vor langer Zeit, aber gottlob nüchterner – einem Schriftsteller akklamierend, der es wagte, sein Riesenepos mit den vermeintlich simplen, in Wahrheit aber doppelsinnigen Worten «Was ist das» zu beginnen.
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MICHAEL JÜRGS Magische Momente Es war Joseph von Eichendorffs Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts», nach deren Lektüre mich, falls ich mich recht erinnere, wahrscheinlich zum ersten Mal ein ganz bestimmtes Verlangen packte. Das Verlangen, mehr wissen zu wollen. Ich könnte dies stolz als Beginn jener Neugier bezeichnen, die später eine der Essentials meines Berufs wurde, ich könnte es verschämt im Folgenden aber auch Sehnsucht nennen. Das klingt höher und viel versprechender. Eine Sehnsucht, die mich bis heute nicht losgelassen hat, die Sehnsucht, das Geheimnis Frau zu enträtseln und was wohl nach der Liebe kommt, wenn die Sehnsucht nach ihr am Ziel angekommen ist. Dass es unmöglich ist, solche Geheimnisse zu lüften, dass es bei manchen Frauen, bei vielen (bei den meisten?) auch gar keines gibt, das zu erfahren lohne, und ich überhaupt der erste Mann wäre, dem dies gelingen würde, ahnte ich damals natürlich nicht, weiß ich inzwischen, durch Erfahrung allerdings nur selten klüger. Solche Erkenntnis ist, wie Hochverrat, eine Frage des Datums, und damals war ich fünfzehn, und dieses ‹damals› ist mehr als vierzig Jahre her. Grundsätzlich gilt: Männer sind in der einzig interessanten Intelligenz, der emotionalen, sogar durchschnittlichen Frauen hoffnungslos unterlegen. Selbstverständlich hätte ich auf die Frage, welches Buch mein normales Leben verändert hat oder welches Buch mein journalistisches, andere nennen dürfen. Bei «Manhattan Transfer» von John Dos Passos hat mich der 104
Rhythmus der Sprache fasziniert, in dem er seine Geschichte erzählte. Diese Kunst wollte ich wenigstens einmal erreichen, doch blieb es beim Ziel. Später hieß mein John Dos Passos für den Alltag Henri Nannen, der den Roman womöglich nicht kannte, aber seine stetige Mahnung, Kinder, erzählt Geschichten, die in einer Nußschale spielen und von Menschen handeln, und nicht alles über die Welt, in der durch Zufall auch Menschen agieren, wurde zum Prinzip. Auch den «SS-Staat» von Eugen Kogon hätte ich als Beispiel nehmen können, weil nach dem Buch über die Verbrechen der Vätergeneration ein moralischer Standort gefunden war. Journalistisches Ethos, ein altmodisches Fremdwort, bedeutete ja nicht nur ‹… und nichts als die Wahrheit› etc., sondern auch, nie mehr sprachlos hinzunehmen, dass die Welt so sein muss, wie sie nun mal ist. Weiter in meinem Text: Eric Ambler war wichtig wie John le Carré und Heinrich Mann wie Günter Grass und Uwe Johnson wie Thomas Pynchon und Laurence Sterne wie James Joyce und Arno Schmidt wie Theodor Fontäne und John Irving wie Ernest Hemingway. Hemingway … und als ich so weit war und noch viele hätte aus dem Kopf nehmen müssen, hielt ich die Frage, welches Buch mein Leben verändert habe, für eine nicht erfüllbare Zumutung. Also blieb ich bei Joseph von Eichendorff und der so früh erlesenen Vorstellung, wie reizvoll es sein müsse, ein selbstbestimmtes Leben als Taugenichts zu führen. Die erdichteten Tagträume des Geige spielenden, singenden, faulenzenden Zolleinnehmers, der eine ihm unerreichbare schöne Gräfin liebt und sie sucht in fernen schönen Landschaften und am Ende liegt die Gute doch so nah, ist sie, Gott sei Dank, keine Gräfin, was andernfalls eine Verbindung mit dem schmachtenden Müllerburschen selbst in einer Novelle unmöglich gemacht hätte, sondern 105
sie ist nur schön, und sie himmelt ihn endlich mal aus der Nähe so an wie er sie aus der Ferne, und alles wird gut, sind so gemein verdichtet erzählt nicht mehr als allgemein spätromantischer Kitsch des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Die typischen so genannten ewigen Gemütswerte wie Heimat, Wald, Volksseele, Wanderlust, Gesang – sie alle tümeln so betrachtet ganz schön deutsch-idealistisch daher. Und dass deutscher Idealismus nichts taugt, sondern die Ursache vielen, wenn nicht allen Übels ist, weiß ich inzwischen auch. Wohin sich endlösend im Geiste deutscher Wandervogelromantik eine verführte Jugend gläubig bewegte, marschierend statt troubadierend, hat Eugen Kogon schließlich präzise beschrieben. Aber für einen Fünfzehnjährigen, der schon im Morgengrauen mit Catos Reden im Original gequält wurde, statt von denen eines Walt Whitman erhellt zu werden, der lieber was erfahren hätte über die erotischen Spiele in Goethes Wahlverwandtschaften statt über die konservativen Verklemmungen eines Bergengruen, war jener erfundene verliebte Tor wesentlich und wurde zur Inkarnation des Tramps. Später auch Hobo genannt, aber das ist eine andere Geschichte und hat mit ganz anderer Musik zu tun. Die frühe Faszination lässt sich aber einkreisen. Diesseits der Schwarzen Berge von Harburg, denn dort habe ich ihn gelesen, mittlerweile als Ort der Schläfer in die Weltgeschichte eingegangen, lag als Verheißung allenfalls träge die Elbe. Italien, das Land, in dem die Zitronen blühten, war unerreichbar fern. Schon das nahe Alte Land war weit weg. Eichendorffs Irrungen und Wirrungen zu lesen war real die einzige irreale Möglichkeit, der grauen Stadt zu entfliehen. Auf die Reise zu gehen. Insofern war das nachgedachte Leben eines 106
Taugenichts anfangs nichts weiter als eine pubertäre Kopfgeburt. Eine Mitfahrgelegenheit, die nichts kostete und für die ich keine elterliche Erlaubnis brauchte. Da aber Heimat in Wirklichkeit nur ein Synonym für die Kindheit ist, die Fremden unerreichbar bleibt, weil da nichts fremd war, richtete sich Eichendorff bei mir eine Heimat ein. Die hielt ich fest. Tief im Herzen begraben, oft kühlen Kopfes verleugnet, überlebte er die Jahre, die kamen, als mein höchst eigener Heimatdichter. Nostalgische Rückblicke: Habe ich der Tanzstundenliebe etwa Eichendorff vorgelesen? Sicher nicht. Habe ich die ersten blitzenden dunklen Augen, von denen ich zu meinen glaubte, der Blick gelte mir und nicht dem hinter mir stehenden viel Größeren, für die einer schönen Gräfin gehalten? Ganz bestimmt nicht. Habe ich beim herzpochenden Waldspaziergang mit, und ich weiß nicht mal mehr ihren Namen, den Taugenichts geben wollen? Hoffentlich nicht. Ich nähere mich der eigentlichen Erklärung, warum ausgerechnet dieses Buch mein Leben verändert haben könnte – könnte, schränke ich ein, könnte, denn ich habe ja nicht aufgeschrieben, am 4. Mai 1960, abends 22.15 Uhr habe ich den Taugenichts gelesen und beschlossen, mein Leben wird sich dadurch ab jetzt ändern – über einen Umweg, der kleine Unterschiede verdeutlicht: Falls zwei Männer den dritten zum Skat suchen oder zehn den elften zum Spiel oder einer den zweiten zum Duell oder drei den vierten zum Doppel, gibt es nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Den zu finden oder eben nicht. Das hat nun wirklich nichts Geheimnisvolles an sich, das ist nur langweilig logisch. Von solcher Logik sind im Kern allen Wortgeklingels jene Szenen in der Novelle bestimmt, die von den männlichen Gefährten beherrscht werden. Nothing to write in books about. 107
Die Sehnsucht, seine Vorstellung vom Geheimnis Frau zu ergründen, ist die eigentliche Motivation des Wandergeigers. Er sieht die eine, die er meint, in vielen, und in vielen vergebens. Er hat ein Bild von ihr vor Augen und rennt diesem Bild hinterher. Als er sie dann im Schlosspark in den Armen hält, ist er ganz sicher, die hat er gesucht, die ist es, die muss es sein. Kluge Frauen, von denen es zwar mehr gibt, als Männer ahnen, aber auch unter sich haben diese Klugen keine Mehrheit, wissen von dieser typischen Art männlicher Blindheit und geben sich entsprechend geheimnisvoll, unberechenbar, unlogisch. Sie sind längst ihrer mädchenhaften Illusion vom Märchenprinzen entkommen. Sie haben formidable Taugenichtse geliebt und sie leidenschaftlich genossen, aber immer gewusst, die taugen leider nichts fürs wahre Leben. Deshalb nahmen sie die Männer, die ihrem eigentlichen Ideal verwegener Taugenichtse, aus der Ferne betrachtet und gegen die Sonne blinzelnd, ein wenig nahe kamen, resigniert seufzend, dieses Seufzen aber geschickt als Erfüllung ihrer Sehnsucht ausgebend, in ihre Arme. Die glaubten beglückt, ein Prinz zu sein, und merken besser nie, dass sie nur der beste Ersatzmann waren. Ich hätte, wie gesagt, zu gern gewusst, wie es mit den beiden Liebenden weitergegangen ist, nach seinem letzten Satz «… und es war alles, alles gut». Ich möchte immer noch wissen, wie Liebe weitergeht. Das ist, am Ende, dann doch noch eine grundsätzliche Antwort auf die Frage, warum Eichendorffs «Aus dem Leben eines Taugenichts» mein Leben verändert hat.
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JÖRG KACHELMANN Im Sinne der Verkehrssicherheit Der Trucker hat’s nicht leicht. Unter Termindruck, gebeutelt von Chefs, denen manchmal die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht so wichtig sind wie die Hoffnung auf kostensparende Warenlieferung im Konkurrenzkampf. Die ihre Fahrer über die Autobahnen jagen und uns mit nervenden Klebern auf dem Hintern des Lkws agitieren wollen, kaum haben wir uns damit abgefunden, dass auch Trucker drauf stehen, einem mitzuteilen, dass ‹er› achtzehn Meter hat und ihr Truck wie ein Mensch sei. In der Tat, er schwankt, und manchmal tötet er auch, weil der Fahrer pennt. Was probieren Vielfahrer nicht alles gegen den Sekundenschlaf während der Fahrt: laute Musik, alle Fenster runter, Praline lesen und mehr, Selbstohrfeigen, Kaffee, Cola, Red Bull, Eis und viele Geheimtipps mehr. Dabei wäre es so einfach. Früher selbst von der Gefahr durch Sekundenschlaf bei langen Autofahrten heimgesucht, habe ich neuerdings kein Problem mehr: Hurra, ich habe das Hörbuch entdeckt! Die tollste Erfindung seit überhaupt! Lenkt beim Fahren nicht ab und macht süchtig. Ob Sachbuch (Humboldt auf den Kanaren) oder Irving (seinen Garp gibt’s auf 19 CDs, SechsfachWechsler ist empfohlen): Ich lese wieder, mehr Bücher denn je, und das auch noch für einen guten Zweck: Ich fordere, im Sinne der Verkehrssicherheit an allen Tanken Hörbücher auszugeben. Wie ich gerade feststellen durfte, 109
ist ein erster Schritt gemacht worden: Es gibt Dieter Bohlens ‹Werk› auch in der CD-Version in gut geführten Autobahnraststätten. Es sollte nicht dabei bleiben. Man sollte Trucker nicht unterschätzen.
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MARGOT KÄSSMANN Ein Buch, das mein Leben verändert hat - wenn ich als Bischöfin nun sagen würde: die Bibel, dann würden Sie stöhnen und sagen: «Das musste ja wohl so sein.» Es war dann allerdings nicht die Bibel selbst, sondern sozusagen Sekundärliteratur. Sie ist heute neu zusammengefasst in einem Buch mit dem Titel «Martin Luther King, Ich habe einen Traum» (Benziger 1999). Es war 1974, ich kam in die USA, ein Mädchen mit gerade sechzehn Jahren aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in Deutschland. Das Stipendium, das ich gewonnen hatte, führte mich in ein Nobelinternat an der Ostküste. Mit den «Reichen und Schönen» konnte ich ganz offensichtlich nicht mithalten und wurde als Stipendiatin in eine bestimmte Ecke platziert. Außer mir waren dort alle von schwarzer Hautfarbe. Wir waren die Stipendiaten: Ausländer und Schwarze. Wahrscheinlich war das der Grund, dass ich für meine Geschichtsarbeit Martin Luther King auswählte. 1974: Der Vietnamkrieg ging zu Ende; das erste Mal begegnete ich Menschen jüdischen Glaubens und musste mich als Deutsche mit dem Holocaust auseinander setzen; und es gab den Rassismus, der greifbar war. Da habe ich mich einsam gefühlt, voller Fragen, die nicht gestellt werden durften. «Hogan’s Heroes» lief im Fernsehen, Sergeant Schulz war ein fetter dämlicher Deutscher, der ein 111
Konzentrationslager dirigierte. In dieser Daily Soap gab es eine Truppe von agilen und adretten jungen Amerikanern, die in diesem Konzentrationslager (historisch völlig absurd, ich weiß) stets den tumben Deutschen zeigten, «was eine Harke ist». Ja, da kann der Mensch ins Zweifeln kommen. Und dann gab es meine Geschichtsarbeit über Martin Luther King. Erzogen war ich durchaus christlich. Kirchgang, Taufe, Kindergottesdienst, Konfirmation, das waren Selbstverständlichkeiten: «Wenn der liebe Gott die ganze Woche für dich Zeit hat, dann wirst du wohl am Sonntagmorgen eine Stunde für den lieben Gott Zeit haben» – das war die Parole meiner Mutter mit Blick auf Verweigerungstendenzen in Sachen Kirchgang. Christentum also grundsätzlich ja, aber doch eher als Tradition, als kulturelle Gegebenheit. Bis ich die Texte von Martin Luther King las. Einige Beispiele nur: «Die meisten Menschen fürchten nichts so sehr, als eine Stellung zu beziehen, die sich klar von der vorherrschenden Meinung unterscheidet. Sie haben das Bestreben, sich eine Ansicht zu bilden, die so umfassend ist, daß sie alles umschließt, und so populär, daß jedermann sie teilt. Zugleich ist eine Art Anbetung des Großen entstanden … Wenn ein Mensch sagt, was er wirklich glaubt, dann läßt uns blinder Konformismus so mißtrauisch werden, daß wir nur zu geneigt sind, seine bürgerlichen Freiheiten anzutasten. Wenn ein Mann, der überzeugt an den Frieden glaubt, närrisch genug ist, um in einer öffentlichen Demonstration ein Spruchband zu tragen, oder wenn ein weißer Amerikaner aus den Südstaaten an den amerikanischen Traum von Würde und Wert des Menschen glaubt und deshalb einen Neger in sein Haus einlädt und sich an seinem Freiheitskampf 112
beteiligt, so muß er damit rechnen, vor den Richter geladen zu werden.» «Zuerst muß betont werden, daß gewaltloser Widerstand keine Methode für Feiglinge ist. Es wird Widerstand geleistet. Wenn jemand diese Methode anwendet, weil er Angst hat oder nur weil ihm die Werkzeuge zur Gewaltanwendung fehlen, so handelt er in Wirklichkeit gar nicht gewaltlos. Aus diesem Grunde hat Gandhi oft gesagt, man solle, wenn man nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt hat, lieber kämpfen. Er wußte, daß es immer noch eine andere Möglichkeit gibt: Weder eine Einzelperson noch eine Gruppe von Menschen braucht sich einem Unrecht zu unterwerfen oder Gewalt anzuwenden, um sich wieder Recht zu verschaffen; denn es gibt den Weg des gewaltlosen Widerstandes. Das ist letzten Endes der Weg des Starken.» • «Als meine Leiden zunahmen, erkannte ich bald, daß es zwei Möglichkeiten gab, mit meiner Lage umzugehen: entweder mit Verbitterung zu reagieren oder zu versuchen, das Leiden in eine schöpferische Kraft umzuwandeln. Ich entschied mich für den letzteren Weg. Die Notwendigkeit des Leidens erkennend, habe ich versucht, daraus eine Tugend zu machen. Schon allein um mich vor Verbitterung zu bewahren, habe ich versucht, mein persönliches Ungemach als Gelegenheit anzusehen, mich selbst zu ändern und den Menschen zu helfen, die von jener tragischen Situation betroffen sind, die jetzt besteht. Ich habe in den letzten Jahren in der Überzeugung gelebt, daß unverdientes Leiden zur Erlösung führt.» Und schließlich der vielleicht meist zitierte Text: •
«Ich habe einen Traum, daß meine vier kleinen 113
Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum … Ich habe einen Traum, daß eines Tages in Alabama, mit seinen bösartigen Rassisten, mit einem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie ‹Intervention› und ‹Annullierung der Rassenintegration› triefen … , daß eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüder und Schwestern.» In Zeitungsarchiven konnte ich, damals noch nicht auf dem Computer, aber doch auf elektronisch abrufbaren Texten, den Weg Martin Luther Kings verfolgen. Plötzlich wurde das Christentum lebendig. Mir wurde deutlich: Hier ist eine prophetische Kraft, wie die eines Jesaja oder auch eines Jeremia. Da bezieht sich einer auf Jesus direkt, auf die Seligpreisung der Sanftmütigen und derer, die nach Gerechtigkeit und Frieden hungern und dürsten. Die Kontrastgesellschaft, die Jesus zeichnet, wird zur Kritik der bestehenden Verhältnisse, wenn wir nur Bibel und Realität aufeinander beziehen. Da ist einer, der im tiefsten Sinne fromm ist und gleichzeitig im radikalen Sinne politisch. Diese Kombination von Frömmigkeit und Welteinmischung, sie hat mich nie mehr losgelassen. Dazu gehört ein persönlicher Mut, der sich nicht aus Eitelkeit oder Ideologie speist, sondern aus tiefstem Glauben. Einem Glauben, der sich angenommen weiß von Gott selbst. Die Worte Martin Luther Kings können mich heute noch zu Tränen rühren und gleichzeitig ermutigen, mich nicht in Konformität zu versenken. Sie sind ein ständiger ‹Pfahl im Fleische›, wie das wohl der Apostel Paulus sagen würde. Sie stacheln an, sich nicht abzufinden mit der 114
Ungerechtigkeit einer Welt, in der 24000 Kinder am Tag verhungern, während andere 38 Schönheitsoperationen finanzieren, um endlich so schön zu sein wie Barbie. Sie finden sich nicht ab mit einer Welt, in der Waffen produziert werden und gleichzeitig humanitäre Organisationen für Minenräumgeräte sammeln. Sie schreien über den Widerspruch zwischen dem Reichtum der einen und dem Elend der Armen. Sie rufen nach ständiger Reformation der Kirche und ihrer Strukturen. Vor allem aber: Martin Luther King gibt den biblischen Texten eine neue Sprachfähigkeit, die mitten in die Fragen der Zeit spricht. In all dieser Zerrissenheit aber ist Hoffnung zur Sprache gebracht, ja spürbar. Und das ist letzten Endes die Hoffnung der Bibel, die Martin Luther King auf so wunderbare Weise im 20. Jahrhundert neu zum Klingen gebracht hat: «Ich träume davon, daß wir im Stande sein werden, den Rat der Hoffnungslosigkeit zu vertagen und neues Licht in die Dunkelkammern des Pessimismus zu bringen.» Ja, die Texte aus diesen Tagen, sie bewegen mich noch heute. Und sie halten an, sich nicht einzufinden im Vorfindlichen und sich nicht zu begnügen mit der Hoffnungslosigkeit. Sie sind von einer Radikalität, die vielleicht erschrecken lässt. Aber von einer Ermutigung, die meines Erachtens den christlichen Glauben immer geprägt hat, manchmal auch gegen seine eigene Verfestigung. Mich hat das Lesen der Texte Martin Luther Kings auf den Weg gebracht, Theologie zu studieren. Es bleibt mir eine Mahnung, die Texte der Bibel stets neu zu lesen und zu hören und zum Klingen zu bringen – mitten hinein in unsere Zeit.
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EPHRAIM KISHON Verwandte Seelen Woher mein schriftstellerisches Talent stammt, ist in meiner Genealogie nicht nachzuvollziehen. Ich bin der Erste in meiner Familie. Vielleicht ist mein humoristisches Können ganz einfach eine Stimme aller Begabungen, die in dem riesigen Potenzial des seligen jüdisch-ungarischen Stammes schlummern. Dieses Erbe ist unverwüstlich und schlägt die überraschendsten Kapriolen. Da ist zum Beispiel mein Verhältnis zu dem bekannten Dramatiker Franz Molnar. Bevor ich zu einem etablierten Schriftsteller geworden war, kannte ich kein einziges Wort von Molnar, und so kann ich auch nicht von ihm abgeschrieben haben. Später aber entdeckte ich, dass ich unwillkürlich in seine Fußstapfen getreten war, dass ich dachte und schrieb wie dieser große Humorist, der zwei Generationen vor mir lebte und wirkte. Der gleiche humoristische Aufbau, manchmal sogar die gleichen Wörter, und vielleicht auch ein ähnliches Schicksal verbinden uns. Die ungarischen Intellektuellen lasen seinerzeit regelmäßig die satirische Kolumne Molnars in der Zeitung «Die Sonne», sie mochten ihn jedoch nicht, besonders, nachdem er in der großen weiten Welt berühmt geworden war. Sie nannten ihn auch abfällig «Ferenc-Pinchas», den Juden-Franz, obwohl er völlig assimiliert und nicht mehr Pinchas war als seine literarischen Feinde. Er hat Ungarn verlassen, nachdem sein weltberühmtes Theaterstück «Liliom» so verrissen worden war, dass es 116
nach der Uraufführung abgesetzt werden musste. Molnar, Ungar mit Leib und Seele, ein Virtuose seiner Muttersprache, hat wortlos die Koffer gepackt und hat Ungarn am nächsten Morgen für immer verlassen. «Ich hoffe, du wirst nie mehr wieder so ein Stück schreiben», beschimpfte ihn seine zweite Ehefrau. Einige Jahre später schrieb Molnar in seinen Memoiren, dass seine Gattin völlig Recht gehabt hätte. Er hat tatsächlich nie mehr ein so brillantes Stück zu schreiben vermocht. Die Geschichten über Molnar sind bleibendes ungarisches Kulturgut. Da gibt es zum Beispiel die köstliche Anekdote über die Zeugen. Molnar war ein eleganter Herr mit Monokel, beleibt, Lebemann vom Scheitel bis zur Sohle. Da er vor allem nachts lebte und arbeitete, pflegte er erst mittags aufzustehen. Eines Tages wurde er als Zeuge zu einem Prozess vorgeladen, hatte um acht Uhr früh bei Gericht zu erscheinen und musste daher in aller Herrgottsfrühe aufstehen. Er hatte übrigens bereits dreimal durch Fehlen geglänzt, und man hatte ihm für ein weiteres Nichterscheinen eine Haftstrafe angedroht. Molnar stellte also nach 30 Jahren tiefen Morgenschlafs erstmals fest, dass die Straßen am frühen Morgen voller Menschen sind. Er blickte um sich, putzte sein Monokel und meinte irritiert: «Ich wusste gar nicht, dass es so viele Zeugen gibt.» Als seine erste, längst von ihm geschiedene Ehefrau und alternde Soubrette nach Molnars überwältigenden Erfolgen in Amerika nach New York eilte und sich als Frau Molnar präsentierte, gab ihr Exmann eine Zeitungsanzeige auf: «Die Dame, die sich in der Gesellschaft als Frau Molnar ausgibt, ist nicht meine Mutter.» Könnte diese Geschichte nicht durchaus mein Copyright 117
tragen? Auch wenn ich daran denke, mit welchem Ausspruch mein großer Meister mit seiner jungen Geliebten angab: «Sie schläft mit allen, für Geld aber nur mit mir», oder wenn ich seine Definition des Durchschnittsungarn lese: «Ein Mensch, der als Letzter eine Drehtür betritt und als Erster wieder herauskommt», dann weiß ich, dass wir Seelenverwandte sind, ja dann möchte ich sogar von Telepathie sprechen. Molnar war ein hervorragender Vertreter seines Stammes, der sich durch skeptische Weltsicht auszeichnet und begabt ist mit einem sicheren Blick für die Absurditäten des Alltags. Er wurde weltbekannt durch «Karussell», die musikalische Version von «Liliom», obwohl er in erster Linie Satiriker und Humorist war. Aber Humor kann man nicht übersetzen, er lebt in der Muttersprache oder wird eben in ihr begraben.
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RUTH KLÜGER Kein Tag ohne Lyrik Ich bin ein unmusikalischer Mensch. Musik verwirrt und langweilt mich, ist eigentlich nur Geräusch in meinen Ohren, wirkt störend im Kino, und in Konzerte gehe ich sowieso nicht. Lieder machen mich ungeduldig und sind nur dann erträglich, wenn die Worte sehr deutlich gesungen werden. Selbst dann geht’s unnötig langsam vorwärts. In der Oper war ich ein einziges Mal im Leben, um sagen zu können, ich hätte dieser Gattung eine Chance gegeben. Aber seit früher Kindheit bin ich lyriksüchtig. Man kann es nicht anders nennen, denn Gedichte lesen, aufsagen oder sich still durch den Kopf gehen zu lassen gehört zu meinen täglichen Gepflogenheiten, wie Waschen, Zähneputzen und Kaffeetrinken. Solange ich zurückdenken kann, hat es in meinem Leben Gedichte gegeben. Erst habe ich sie gehört und mir das Gehörte gemerkt. Sowie ich lesen konnte, habe ich Gereimtes mit Vorbedacht auswendig gelernt und die Erwachsenen nervös gemacht mit Rezitieren. Denn man muss doch welche dabeihaben, sozusagen mit sich führen, wenn gerade kein Buch vorhanden ist. Würde ich auf die sprichwörtliche Insel verschlagen, so könnte ich mir aus dem Gedächtnis eine stattliche Anthologie von deutschen und englischen Gedichten zusammenschreiben (ja, gewiss, hier und da auch mit Fehlern, aber keinen wesentlichen) und mit diesem Vorrat bis zu meiner Rettung durch ein gut ausgestattetes Bibliotheksschiff eine geraume Zeit ohne Entziehungssymptome haushalten. 119
Meine Freunde wundern sich darüber, dass eine, der so viel an Gedichten liegt, kein Ohr für Musik hat. Lyrik gedeiht an der Grenze der Sprache zur Musik, und begabtere Menschen, als ich es bin, sind in beiden Gebieten zu Hause. Ich komme nur bis an die Grenze, gerade noch dorthin, weiter dringe ich nicht vor, und so übernimmt die Lyrik bei mir den Platz, den die Musik in den Köpfen anderer innehat. Die Gedichte vom Anfang meines literarischen Bewusstseins waren der Normalbestand einer Wiener jüdischen Wohnung, Schiller und Heine und Uhland und Goldschnittlyrik, wie Emanuel Geibel. Richard Tauber schmetterte auf dem kleinen Grammophon, das ich mit Wonne ankurbeln durfte, Heines «Die beiden Grenadiere», und bis heute besteht mein Gedächtnis darauf, dass der Vers «Viel Schwerter klirren und blitzen» zweimal gesagt werden muss, wie er vertont von der Schallplatte durch die Wohnung stürmte. Am eindrucksvollsten jedoch waren Schillers Balladen, die mich damals begeistert haben und denen ich dann langsam und traurig, doch unaufhaltsam entwachsen bin und die ich dennoch bis ans Grab im Kopf herumtragen werde. Dank Krieg und Nazis bin ich nicht in die Schule gegangen und war diesem Bildungsgut daher nicht offiziell ausgesetzt, sondern habe sie mir ganz privat einverleibt. Es ist (oder war) etwas an diesen Versen, das es leicht machte, sich ihnen anzuvertrauen. Dabei sind viele davon moralisch anfechtbar und gar nicht geeignet, Kinder zu erbauen oder Schiller als einen Freiheitsdichter auszuweisen. Im «Kampf mit dem Drachen» sind die Haupttugenden Demut und absoluter Gehorsam, denn «Mut zeiget auch der Mameluck». Am Ende der «Bürgschaft» fragt man sich, wieso dem Revolutionär und seinem Freund, die der Tyrann, einen nach dem anderen, 120
hinrichten wollte, etwas an der Freundschaft eben dieses Tyrannen liegen kann. Am Ende vom «Ring des Polykrates» verlässt einer seinen Freund, weil diesem Unheil droht, und zwar in solch lächerlicher Eile, dass die Verse der letzten Strophe fast zu einer Parodie des geflügelten Wortes geworden sind: «‹Mein Freund kannst du nicht länger sein. / Die Götter wollen dein Verderben – / Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben.› / Und sprachs und schiffte schnell sich ein.» Da haben wir das genaue Gegenteil des treuen Freundes der «Bürgschaft», doch «Der Ring des Polykrates» will keineswegs Treulosigkeit anprangern, sondern die Unerbittlichkeit des Schicksals demonstrieren. Am ärgsten geht es zu in der Eifersuchtsballade «Der Gang nach dem Eisenhammer», aus der die unverzeihlichen Verse stammen: ‹«Wer hebt das Aug zu Kunigonden?› / ‹Nun ja, ich spreche von dem Blonden.»› Da stiftet ein Graf seine Knechte zum Mord an einem unschuldig Verdächtigten an, und als dieser durch Zufall oder die Vorsehung entkommt und der Unsympath und Neidhammel, der ihn verleumdet hat, statt seiner verbrennen muss, werden weder die ausführenden Knechte noch der Graf, der hinterhältige Anstifter des Verbrechens, zur Rechenschaft gezogen. Derselbe Graf darf verkünden, ein Gottesurteil habe stattgefunden, als sei er, trotz seiner gemeingefährlichen Willkür, dazu befugt, über Recht und Unrecht zu urteilen. Zwar erwischt’s die Bösen in «Die Kraniche des Ibykus» («der fromme Dichter wird gerochen»), aber die Moral, wie ich sie damals verstand, war eigentlich nur: Man soll nicht ins Theater gehen, nachdem man einen Mord verübt hat, denn man trifft dort zu viele Leute, teils verkleidet als Rachegöttinnen. Und warum soll einer gleich Kaiser werden, nur weil er einmal der Kirche ein Pferd geschenkt hat, wie im «Graf von Habsburg»? 121
Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, so fand ich die Erzählungen in diesen Balladen zwar merkwürdig, aber auch spannend. Doch vor allem war ihre gebundene Sprache so leicht zu schlucken wie der Schlagobers im Kaffeehaus, wohin meine Eltern mich manchmal mitgenommen hatten. Man musste sich nur mit dem teils unbekannten Wortschatz vertraut machen, dann konnte man sie sich merken und wörtlich abrufen, wann immer man wollte. Wenn ich heute viele, besonders erzählende Gedichte ablehne, die mir als Kind lieb und wert waren, so ist es hauptsächlich wegen ihres seichten und leicht ins Lächerliche abgleitenden Inhalts und weil die allzu gleichförmigen Rhythmen mich ermüden. Nach und nach fand ich, dass ich mehr von Gedichten erwarten durfte, als dass sie hübsch klangen und sich leicht wiederholen ließen. Es gab eben auch Lyrik, die meinem Selbstverständnis entgegenkam und die Welt transparenter machte, Lyrik, die, schlicht ausgedrückt, «etwas zu sagen» hatte und einem nicht gleich auf der Zunge zerging. Und doch ist es nach wie vor der Zauber der aneinander gereihten Worte, der auch die heutige, alt gewordene und weit anspruchsvollere Leserin fesselt. Wie vielen modernen Gedichten verzeihe ich ihre Unverständlichkeit, nur weil eine unvermutete Assonanz, ein originelles Bild, irgendein Hauch von Andersartigkeit, also schlicht das, was die Poesie der Sprache ausmacht, mir nahe geht. Ganz zu schweigen von der Ausgewogenheit lyrischer Strukturen, die die Prosa nicht kennt. Zum Beispiel sind Sonette schon von ihren Regeln her ansprechend, wie etwa die Regeln des Schachspiels. Man kann natürlich schlechte Sonette schreiben, wie man schlecht Schach spielen kann, doch das tut der Tatsache keinen Abbruch, dass die 14zeilige Gesetzlichkeit, sobald wir sie erkennen, wie der 122
vorgeschriebene Tanz der altehrwürdigen Rössel und Damen, uns ästhetisch befriedigt. Gedichte, mit ihren Rhythmen und Reimen und allen anderen erheiternden sprachlichen Tricks, die nur sie sich leisten können, teilen die Zeit ein. Und darin, meine ich, liegt der Trost, den sie spenden. Sie sind der ideale Zeitvertreib für böse Zeiten und helfen uns, die guten zu feiern und festzuhalten.
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UWE KOLBE Deutschland. Ein Wintermärchen Ich muss mich kurz fassen. Dabei muss ich verhältnismäßig oft Ich sagen. Und auf die Zeitumstände verweisen, heftig, auf die historische Situation. Die taugt nicht zu Entschuldigungen, das nicht. Sie taugt nie dazu. Was in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts los war, taugt nicht zu Entschuldigungen. Ich zählte zu den ostdeutschen, verspäteten Hippies. Und in der Schule lasen wir vergleichsweise viel Heine. Wenn das heute der Fall wäre, würde ich sagen: Gute Lehrer. Brave Lehrer. Auf die Umstände damals bezogen, ist es höchst fragwürdig: Heine wurde radikal und undifferenziert als Freund von Marx gelesen, das vor allem. Der späte Heine war en vogue, und es brauchte in der DDR keinen Mut, ihn zu loben. «Das berühmte Vorwort zur ‹Lutetia›», so hieß es, sei das Bekenntnis des Dichters zum Kommunismus. Und so stand es ja auch darin. Zwar mit den bekannten Wenns und Abers, dass in den Zeiten, die dann kämen, «die unnützen Sänger … fortgejagt» würden, «und ach! mein ‹Buch der Lieder› wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft» … , aber das sei Heine ja eben recht gewesen, jawohl, weil in dieser Zukunft alle zu essen hätten. Diese Zukunft aber war in der DDR schon angebrochen. Was Heine ersehnt hatte – und da kommen wir rasch zum Wintermärchen –, nämlich «Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und 124
Zuckererbsen nicht minder» – es galt als realisiert im Realen Sozialismus. Dann noch die Sache mit dem Himmel, den überließ er selbstverständlich gerne «den Engeln und den Spatzen». Diese Sache passte den herrschenden Gottverächtern recht – und wir netten Schüler, angehenden FDJler fanden das auch nur recht, weil wir das Pfäffische ablehnten, das wir … genau genommen gar nicht kannten. Und wenn, dann trat uns das Pfäffische eindeutig dort vor Augen und auf die Füße, wo der staubige Funktionär in seiner steifen, pfäffischen Art uns was beibiegen wollte. Dass das sozialistische Dogma einen Himmel ganz eigner Art errichtet hatte, in dem die Gleicheren unter den Gleichen schon «hienieden» es sich wohl sein lassen durften, das fiel in die ketzerische Lesart. Aber die lag bei Heine so dicht neben der erlaubten. Das war ja das Scharfe, das Frische, das an ihm, was seine Präsenz im Zitatenschatz so notorisch machte. Ein anderes Heine’sches Argument war etwas zu zeitgenössisch, wie so vieles bei Heine. Und so taugte es nicht automatisch für die Schule: Die bürgerliche Partei der Nationalisten verursachte ihm so starke Übelkeit, dass deren Feinde automatisch seine Freunde hießen, ob nun Kommunisten oder sonst etwas. Und ein weiteres war nahezu unangenehm: seine notorische Auflehnung gegen Preußens Glanz und Gloria, seine ununterbrochenen Hiebe gegen deutschen Kleingeist und Philistertum, die Art, wie er «Contrebandes» in seinem Kopfe über Grenzen brachte, deren Reglement er anprangerte. Das passte schlecht, ich meine, das passte schon, und zwar ins ostdeutsche Kabarett. Aber nicht in seiner Konsequenz. Wo er der Freiheit die Lanze brach, seiner französischen, seiner poetischen, seiner göttlichen Muse der Freiheit. Der Heine-Sound ist so universell und so eingängig, dass er einem gar nicht mehr aus dem Kopf geht. Man rannte 125
mit Heine im Kopf durchaus mit demselben gegen die Wand, in meinem Fall will sagen die Mauer. Man fand den sozialistischen Spießer, den allgegenwärtigen, angepassten Kleingärtner ätzend – und wusste sich mit Heine ein Herz und eine Seele. Man war lüstern vom Ballen bis zum strubbeligen Haupthaar inmitten der Prüderie vorn herum, die hinten herum ja ihre Perversion an den strammen Mädels im Blauhemd auslebte – und Heine lieferte die passenden Aperçus dazu. Deutschland. Ein Wintermärchen, vielleicht verstärkt durch die Vermittlung Wolf Biermanns, lag als dauernder Stichwortgeber-Text unter vielen meiner eigenen Verse. Nicht nur die Passagen vom neuen, bessren Lied, nicht nur die Traurigkeit, das deutsche Miserere, gebrochen durch den ironisch-zärtlichen Blick auf allerlei Mädchen, nicht nur die Verballhornung all dessen, was Uniform trug, nicht nur die Rheinromantik (für alle Zeiten überlagert von seinem «Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …», genau dem Gedicht, das die Nazikinder als das eines anonymen deutschen Dichters kennen lernten, weil der ach so deutsche Dichter Heine eine der schillerndsten Figuren der jüdischen Assimilation ist) … Es war auch das ausführliche Gespräch mit Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, die Aktualisierung der Sage von den Rittern, die bereit sind, am Tage X fürs Vaterland einzustehen, in einem Hohelied auf die Hoffnung, das war es auch: «Ich warte, bis die Zahl komplett, / Dann schlag ich los und befreie / Mein Vaterland, mein deutsches Volk, / Das meiner harret mit Treue.» Das Echo in einem schwachen, am Ende sogar ein wenig witzigen Gedicht von mir geht so: «Bald schlagen wir los, solang saufen und fressen wir uns Charakter an, täuschen die Bürger mit dem Schein der Anpassung …» Ich habe, als ich es schrieb, nicht im Kopf gehabt, dass es ein Heine-Echo ist. Erst als ich in den 126
Westen aufbrach zu Zeiten, als der Osten noch eingemauert war, da fand ich Heine urplötzlich und mit allen Facetten im bewussten Handgepäck wieder. Obwohl ihn da niemand bewusst hineingetan hatte. Früher war er einfach von Anfang an da gewesen. Mag er die Muse zur Göttin der Zeitungsschreiber gemacht haben, es stimmt wohl, wofür ihn Karl Kraus gegeißelt hat. Aber er hat einen einfachen Vers so grandios zu Ende geritten, dass der nicht mehr aus dem Ohr geht, die letzte Höhe einer Art, in deutscher Sprache zu dichten, erreicht, die elementar und leicht ist und dennoch alles sagen kann. Er konnte die Töne darin mischen, Pathos neben Witz, Aggression neben Verehrung. In seinen frechen Formen geht, besser: ging alles. Und als auch ich in Hamburg landete, da war’s die Mischung aus Heines Göttin Hammonia und Biermanns Oma Meume, die mir die Stadt erst recht zu einer zweiten Heimat machte. Sehnsucht inklusive: die Biermann’sche Boje, die anzeigt, dass die Wasser wieder nach Hause, flussauf, reisen wollen, sie könnte auch von Heine erfunden sein. Woher hätte sich das Wort «Miasmen» in meinen aktiven Wortschatz schleichen sollen, wenn nicht aus dem Reim auf «Phantasmen» in dem Moment, wo das schwere Weib, das die Stadt Hamburg symbolisiert, den Dichter in die Zukunft seines Vaterlandes schauen lässt – wo sonst hinein als in einen stinkenden Nachttopf unter dem Sitz des zerfledderten Throns, der einst Karl dem Großen gehörte. Heine wurde nicht laut genug zitiert, als es 1989/90 um das Zusammenkommen zweier fremder Deutschländer ging. Dabei gehören seine Verse zu denen, die für mehrere Hymnen Stoff bieten. Man ist auf den nüchterneren, späten Brecht gekommen. Immerhin. Heine ist nicht nur einer für das garstige, das politische Lied. Er ist auch einer für uns, für die Arbeiter am Gedicht 127
und an der sonstigen Literatur, einer, der um das Wesen dessen wusste, was er so unverschämt, auch billig, trieb. Manchmal, so ist es wohl, hart am Privaten entlang, an einer Aktualität mit Verfallsdatum. Nicht hier, nicht im Wintermärchen. Wo ein Erlebnis in Köln angesiedelt ist, das einen wesentlichen Aspekt des papierenen Tuns auf den Punkt bringt: «… wenn ich am Schreibtisch saß / Des Nachts, hab ich gesehen / Zuweilen einen stummen Gast / Unheimlich hinter mir stehen.» Der Gast spricht später selbst und gibt sich zu erkennen: «… ich bin die Tat von deinem Gedanken.» Was tut der Dichter in seinen NachtGedanken? «Und manchmal ist es geschehen, / Daß ich die Haustürpfosten bestrich / Mit dem Blut im Vorübergehen. // Und jedesmal, wenn ich ein Haus / Bezeichnet in solcher Weise, / Ein Sterbeglöckchen erscholl fernher … // Und immer ging hinter mir einher / Mit seinem verborgenen Beile / Die dunkle Gestalt …» Es ist Hybris. Es ist die Anmaßung des Dichters, die hier einmal auf den Punkt gebracht ist. Wir sitzen in dunkler Nacht an unseren Schreibtischen und fliegen hoch hinauf. Es ist die Ursituation des Schreibens. Da können wir die Welt erheben oder in den Abgrund stoßen mit einem Wort. Sie hat ihr Pendant in absoluter Ohnmacht und Wirkungslosigkeit. Heine ruft sich selbst etwas zu, zu dem man ihn in der Pariser Matratzengruft sehen darf, dieses «O König! Ich meine es gut mit dir / Und will einen Rat dir geben: … Beleidge lebendige Dichter nicht, / Sie haben Flammen und Waffen, / Die furchtbarer sind als Jovis Blitz, / Den ja der Poet erschaffen.» Kein anderes Buch geht so dicht unter meiner eigenen Arbeit her, ohne dass es an der Oberfläche nachzuweisen wäre. Keines kann ich so getrost vergessen, ohne es zu verlieren. 128
HELMUT KRAUSSER Meine erste Zweitwelt Bücher gab es, die Spielplätze waren, umzäunt, überschaubar. Und Bücher, die kleinen Dschungeln ähnelten, voll wilder bunter Schlingpflanzen und Baumkronen, in denen man herumtollen konnte. Ich klappte sie zu, wie man Spielzeug weglegt. Dann kam ein Buch, das viel mehr war als die anderen zuvor. Eine Welt. Sie forderte etwas von mir. Sie mutete mir etwas zu. Sie entführte mich, wie ihren jungen Helden. Oliver Twist. Woran ich mich erinnere: Der eitle, gewalttätige Büttel und dessen grausam karikierte Dummheit. Die ausgezehrten Leiber der Bettler, die in verfallenen alten Häusern vor sich hin vegetieren. Bei schummrigem Licht die Leiche einer verhungerten jungen Frau, die man mit einem Stück Brot vielleicht noch hätte retten können. Ihr wahnsinnig gewordener Mann. Oder war es ihre Mutter? Egal. Im Armenhaus, die fiesen, geldgierigen alten Schachteln, die nicht davor zurückschrecken, einer Toten das Letzte buchstäblich vom Hals zu rauben, was ihr geblieben ist, ein Medaillon mit dem Bild ihres Liebsten. Die Kette der tausend unbarmherzigen Ungerechtigkeiten, die einen gutmütigen, engelsgleich unschuldigen Waisenknaben namens Oliver schließlich in die Hände von Dieben und Mördern führen, in finstere Spelunken und zugige Schlupfwinkel, darüber immer der Schatten des Galgens. Die sadistische Konsequenz, mit der ein grausamer Gott Olivers Bahn in die Aussichtslosigkeit lenkt – und hinter 129
dem sichtbaren Bösen, als wäre es damit nicht genug, lauert noch etwas anderes, noch viel Böseres, dessen Beweggründe wir für lange Zeit nicht kennen, das indes alles unternimmt, um Oliver für immer kaltzustellen. Ich erinnere mich an Oliver, der sich auflehnt, flieht, auf den Landstraßen vagabundiert. Oliver als Lehrling des Sargschreiners. Olivers kurze Karriere als Leichenbegleiter. Intrigen, die gegen ihn geschmiedet werden. Verleumdungen. Gewalt. Überall Gewalt und Boshaftigkeit, niederste Instinkte, ein Pandämonium an Niedertracht und Gemeinheit in einer Welt aus Eis, Gier und Blut. Oliver, der Einbrecher wider Willen, durch einen Schuß beinahe tödlich verletzt. Und ich erinnere mich an die atemberaubende Treibjagd auf Bill Sikes – und ein wenig erinnere ich mich an Sikes’ Geliebte, die unergründliche Nancy, die für Oliver ihr Leben opfert, sich von Bill aber nicht loslösen kann. Wenn ich heute drüber nachdenke, ist das die sehr moderne, knappe, fast erklärungslose Schilderung einer sexuellen Obsession – erotisch und brutal –, ohne allerdings ein einziges derbes Wort zu gebrauchen – ein bitter notwendiges Kunststück der prüden viktorianischen Ära. Ich erinnere mich an die facettenreiche Schilderung der kleinen Ganoven, des seltsamen, vom Autor fast respektvoll referierten Ehrenkodex der Diebe, deren Charaktere durchaus nicht alle gleichermaßen verwerflich gezeichnet sind. Dickens hatte sichtlich Freude daran, diese Unterwelt präzise zu beschreiben, ohne Klischees und Talmi. Und dann – das letzte Drittel des Romans – eine geradezu paradiesisch liebevolle Gegenwelt, eine Erlösungsgeschichte an der Grenze zum Vollkitsch. Aber auch das hat mich als achtjähriges Kind bewegt, 130
erschüttert, zu Tränen getrieben. Hat mich viele Jahre an die günstige Wendung, die finale Rettung, das große Happy End im Leben glauben lassen. Na gut, warum nicht? (Hat geholfen.) Und da ist ja noch die gespenstische, luftabklemmende Szene, in der Fagin, der alte Bandenchef, in der Nacht vor seiner Hinrichtung in der Zelle sitzt und wirres Zeug stammelt. Der Autor enthält sich scheinbar jeder Haltung, gönnt sich weder ein Wort des Triumphes noch des Mitleids. Und gerade dadurch gewinnt die Szene eine Todesintensität, die bei aller Antipathie zum Verbrecher doch den Wert jedes Lebens aufzeigt, bzw. was es bedeutet, ein fremdes Leben, selbst mit Zustimmung des Gesetzes, zu beenden. Je länger ich mich in diesen Roman zurückversetze, desto klarer wird mir, dass er mich mehr als jedes andere Buch beeinflußt, ethische und ästhetische Schienen in mir verlegt hat. Wir werden, was wir lesen. Danke, Charles Dickens.
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HARDY KRÜGER Felix Jud und seine Bücherstube Im Oktober 1945 kam er nach Hamburg. Er war siebzehn, der Krieg war vorbei – und er wollte Schauspieler werden. Aber es gab keine Zukunft, Deutschland lag in Trümmern. Er war froh, eine erste Chance als Statist am Theater zu bekommen. In jenem Herbst lernte er Felix Jud kennen. Der Buchhändler wurde sein Lehrer: er lehrte ihn das Lesen. Während der Nazijahre hatte Felix Jud die Bücher, die in Deutschland verboten waren, in eiserne Truhen gepackt und sie irgendwo in Schleswig-Holstein vergraben. Später hatte man ihn verhaftet und ins KZ Neuengamme gebracht. Doch Felix Jud überlebte. Als der Spuk des ‹Tausendjährigen Reiches› vorüber war, grub er die eisernen Truhen wieder aus. Eines Tages in jenem Winter 1945/46, bei einer Tasse bitter schmeckendem Ersatzkaffee, gab er Hardy das erste Buch aus seinen Schatztruhen in die Hand. Felix sagte: «Schloß Gripsholm». Er legte beide Hände auf das Buch. «Tucholsky war Jude. Ein Berliner Original. Deine Berliner Kodderschnauze erinnert mich an ihn. Tucholsky hat die Nazizeit mit seinen Schriften bereits bekämpft, als Hitler noch in stinkigen Münchner Bierkneipen seine gefährlichen Ideen unter die ersten Anhänger brachte.» Felix schlug das Buch auf. «Es ist ein Liebesroman, ein autobiographischer. Die Geschichte ist in einer Ferienreise in Schweden angesiedelt. Schweden hatte es Tucholsky 132
angetan. Als die Nazis die Weimarer Republik zertrampelten, rettete er sich dorthin. Zwei Jahre später brachte er sich um, in Schweden, aus Heimweh, wie ich glaube. Tucholsky muss gedacht haben, dass dieser größenwahnsinnige Österreicher nie mehr aus Deutschland zu vertreiben ist.» Mein Lesenlernen bei Felix Jud hatte begonnen. Er war ein Lehrer, der nicht lehrte. Was ich zu lernen hatte, musste ich mir in den Büchern selber suchen. Im ersten Winter meiner Begegnung mit einer unbekannten Welt gab es keine Biographien über unsere toten Literaten, und die Überlebenden hatten ihre Memoiren noch nicht verfasst. Beim Lesen entstanden in mir viele Fragen. Ist Thomas Mann vertrieben worden? Oder ging er seines Gewissens wegen ins Exil? Warum ist Erich Kästner in Berlin geblieben? In welchem Land hat Lion Feuchtwanger seine Trilogie Der Wartesaal geschrieben? Ich gab die Fragen an Felix weiter. Und lauschte seiner Antwort. Immer wieder. Stundenlang. Und sagte mir, ein Student im Hörsaal der Universität kann kaum das lernen, was ich hier erfahre. Felix hatte nicht nur Belletristik im Holsteinischen vergraben. In den Schatztruhen war auch seine Bibliothek über den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik. Selbst Flugblätter hatte er gesammelt. Manche waren grün verschimmelt. Ich fand ein Dokument über die Abstimmung im Reichstag über Hitlers Ermächtigungsgesetz. Fast alle Konservativen hatten mit Ja gestimmt. Hitlers Sturmabteilungen hatten den Plenarsaal umstellt, und die Abgeordneten fürchteten um ihr Leben. Mit Erregung las ich, wie die Sozialdemokraten Mut bewiesen hatten. Sie sagten nein zu dem Gesetz der Knebelung und gingen ins KZ. Ich las, wie die Führung der deutschen Kommunisten ihre Mitglieder verriet und 133
nach Moskau floh. Ich begann die Verblendung zu verstehen, in der sich 1933 ein Volk in die Arme der Nazis geworfen hatte. In der Büchersammlung des Felix Jud standen die Antworten auf alles, was ich in den Trümmern von Berlin meinen Vater hatte fragen wollen. Die Bücher, damals, in der Bücherstube von Felix Jud in den Hamburger Colonnaden, haben einen Bann um mich gelegt. Vieles hat mich verwirrt. Über manches bin ich froh gewesen. Felix hat gesagt: «Du hast jeden Grund, froh sein. Die ersten siebzehn Jahre deines Lebens waren der sprichwörtliche Gang durchs Feuer. Was jetzt kommt, kann nur besser werden.» Die Nächte verbrachte ich mit Schreiben. In meiner engen Bude. Unter einer Deckenlampe, die fahles Licht auf meine Seiten warf. Einmal hat Felix mir einen chinesischen Gedichtband mitgegeben. Eine Zeile darin hatte es mir besonders angetan: «Beim Scheine meiner kleinen Lampe seid ihr ganz weiß geworden, ihr gelben Chrysanthemen.» Wenn ich eine Geschichte für gut hielt, legte ich sie Felix auf den Tisch. Er gab sich jedes Mal Mühe, mir nicht den Mut zu nehmen: «Du bist ein begabter Erzähler, ganz zweifelsohne.» Oder, ein andermal: «Fingerübungen! Wie ein Pianist es hält! Das ist es, was auch für einen Autor wichtig ist! Es wird sich auszahlen, eines Tages, wenn du weiter übst und übst und übst.» Ich machte weiter Fingerübungen. Im Theater hatte ich wieder eine Sprechrolle bekommen. Das Stück war Katharina Knie. Ein Zirkusstück. Von Carl Zuckmayer. Meine neue Rolle hieß ‹das Berberitzche›. Der Junge war der Zettelkleber für den Zirkus Knie. Eines Abends, als ich dabei war, mir die zerlumpten Sachen des Berberitzche anzuziehen, stürzte Felix 134
aufgeregt in die Statistengarderobe: «Ernst Rowohlt ist aus dem Exil zurück!», rief er: «1938 ist er geflohen. Nach Brasilien. Jetzt aber haben wir ihn wieder. Er macht seinen Verlag von neuem auf, hier in Hamburg. Ernst sagt, dass er zunächst einmal unsere deutschen Autoren druckt, aber unverzüglich danach bringt er die Giganten der Weltliteratur in die Buchhandlungen: Thomas Wolfe, William Faulkner, Ernest Hemingway, Andre Gide, John Steinbeck …» Er legte den Zeigefinger an seine lange Nase. «Wo er wohl das Geld hernimmt, um die Rechte der Giganten zu kaufen?» Er fuhr mit der Hand abwehrend durch die Luft. «Ach was, er wird’s schon richten! Du solltest einmal sehen, was dieser Rowohlt für ein Taschenspieler ist. Ein Magier. Du solltest einmal beim Wein mit ihm zusammensitzen! Wenn die Flasche leer ist und der Wirt sagt, es gibt nichts mehr, denn die Polizeistunde ist schon lange überschritten, dann frisst dieser Rowohlt aus Protest das Glas. Wirklich wahr! Auf Ehre! Erst beißt er den Rand vom Glas, dann den Stängel, kaut mit Genuss, fordert von dem entsetzten Wirt eine neue Pulle und brüllt mit vollem Mund, dass er das Zeug doch nicht so trocken runterschlucken kann!» «Und dann?» «Und dann was?» «Was macht der Wirt?» «Na, was soll er machen? Er bringt eine neue Flasche Wein.» «Und Rowohlt? Was macht der? Mit dem zerkauten Glas in seinem Mund?» «Na, was schon? Runterspülen! Alle Scherben! Und zwar mit Genuss.» An einem Nachmittag im Februar brannte die Sonne ein Loch in die Winterwolken. Ich hatte den Buchhändler ein 135
paar Tage nicht gesehen. Er sei krank gewesen, sagte er, Bronchitis. Wir gingen zur Lombardsbrücke runter. Er suchte das Ufer nach einem Baumstumpf ab. Dann hielt er sein Gesicht in die Sonne. Ich hockte mich vor ihn auf die Ufermauer. Felix hatte ein Buch für mich in seiner Aktentasche. «Virginia Woolf», murmelte er. «Engländerin. Begnadete Dichterin. Litt unter ihrem unscheinbaren Äußeren. Wenn du willst, kannst du sie hässlich nennen. Mit neunundfünfzig Jahren hat sie sich in einem Fluss ertränkt. Was dich interessieren wird, ist die Suche dieser Frau nach dem ‹inneren Monolog›.» Er hielt die Augen geschlossen. Ich döste vor mich hin. Der Ballindamm da drüben, sagte ich mir, der Ballindamm war sicher mal eine Allee mit Bäumen. Dann haben die Leute aus ihnen Feuerholz gemacht. Sicher war das so. Und sicher wird es am Ballindamm mal wieder Bäume geben. Und dann wird das hier wie im Frieden sein. Ich unterbrach den Gedanken. Unsinn! Ich schüttelte den Kopf. Ist doch Frieden. Wenigstens fast. Richtig Friede ist, wenn da draußen Segelboote sind. Auf der Außenalster. Mit Leuten in den Jollen, ganz in Weiß gekleidet. Und mit Mädchen in den Ruderbooten. Und die tragen bunte Blusen und lachen. Und ihr Lachen springt über das Wasser bis hin zum Ballindamm da drüben. Und … Felix zerbrach das Bild vor meinen Augen. «Rowohlt hat einen Sohn», sagte er unvermittelt. Er hielt die Augen immer noch träumerisch geschlossen. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe. «Es muss kurz nach der Jahrhundertwende gewesen sein», sagte er, «als eine erfolgreiche, von Männern umschwärmte Diva sich dem ungestümen Jüngling Rowohlt hingab. Der Name der Schauspielerin war Ledig. 136
An den Vornamen erinnere ich mich nicht.» Felix öffnete jetzt die Augen. «Ach, das Leben erlaubt sich manchmal wundervolle, dreiste Spiele», sagte er mit einem Lächeln. «Der Liebesbeziehung entsprang ein Knabe, und da er unehelich geboren war, hieß er, wie das Fräulein Mutter: ‹Ledig›. Sein voller Name wurde als Heinrich Maria Ledig in das Taufregister eingetragen, und heute, achtunddreißig Jahre später, nennen wir ihn alle Heinz Ledig-Rowohlt. Er ist zu einem zuverlässigen Mann herangewachsen, der Glas schluckende Verleger ist stolz auf ihn, und soll ich dir mal sagen, warum der Alte so froh ist, diesen Sohn im Verlag zu haben? Dieser Heinz Ledig druckt die Giganten auf Zeitungspapier! Auf Rotationsmaschinen! Im Zeitungsformat! Kannst du ahnen, was dahinter steckt?» Ich wusste nicht, was dahinter steckte. Felix erklärte es mir. «Die Engländer geben kein Papier für Bücher frei. Druckpapier geben sie nur für Zeitungen, auf großen Rollen, für den Druck auf Rotation. Also sagt dieses Schlitzohr von einem Sohn zu seinem Schlitzohr von Vater: Wir drucken Die Verliese des Vatikan als eine dicke Zeitung. Und Wem die Stunde schlägt wird genauso in die Buchhandlungen gebracht. Es wird höchste Zeit, dass wir den Wert eines Buches an seinen Texten messen, nicht an Halbleinen oder kartoniert!» Felix sprach noch lange von dem Rowohlt-Sohn. Dreiundzwanzig Jahre später sollten beide, Heinz Ledig und Felix Jud, eine wichtige Veränderung in mein Leben bringen. Dreiundzwanzig Jahre später machten die beiden aus meinem Traum vom Schreiben Wirklichkeit. An jenem Februarnachmittag des Jahres 1946 aber, unter der Lombardsbrücke, haben Felix und ich das nicht ahnen können. Im Spätsommer 1946 ließ ich Hamburg hinter mir. Ein 137
Wandertheater hatte mich engagiert. Als ich das letzte Mal aus der Tür der Bücherstube ging, sagte Felix: «Vor dir liegt ein ganzes Leben. Noch dazu ein Künstlerleben. Mach was Wunderbares draus.» In den nächsten Monaten geriet mein Traum vom Schreiben in Vergessenheit. An Felix hab ich oft gedacht. Einmal schrieb ich eine Postkarte an ihn. «Ich grüße dich aus Uelzen», stand da drauf, «vom Anfang meiner Wanderjahre.» Ich zog von Stadt zu Stadt. Von Jahr zu Jahr. Von Theater zu Theater. Von Film zu Film. Zehn Jahre später ließ ich Deutschland hinter mir. Ich fand in London Arbeit. Drehte Filme in Paris. Und dann begann das Abenteuer Afrika. Ich stand am Anfang eines neuen Lebens. In der schönsten Landschaft unserer Welt. Der Schlüssel zu meinem Weg nach Afrika lag bei Howard Hawks. Seine Filme sind in Hollywood Legende. Wer den Mann sieht, dürr und groß und nach vorn gebeugt, muss an alt gewordene Cowboys denken. Es war Sommer, das Jahr war 1960, und Howard sagte: «Komm nach Tanganjika. Zusammen mit John Wayne. Ihr beide müsst mir wilde Tiere fangen. Vor der Kamera. Ich werd den Film Hatari nennen. Was Suaheli ist und sagen will: Gefahr.» Wir blieben ein halbes Jahr im Busch. Danach wollte ich nur ungern nach Hollywood zurück. Afrika war mir tief unter die Haut gegangen. Ich kaufte eine Farm. Bei Seen, die Momella heißen. Die Farm hatte den gleichen Namen. Vor meinem Fenster stand der Kilimandscharo, der ‹Berg des bösen Geistes›. Morgens war sein Schnee meist gelb. Manchmal rosa. Oder blau. Mittags hüllte er sein Haupt in Wolken ein. Es kam vor, dass ein Büffel sich an der Holzwand unter meinem Fenster rieb. Es kam auch vor, dass Elefanten durch den Gemüsegarten stapften. 138
Mein Traum vom Schreiben fiel mir wieder ein. Ich fuhr quer durch die Amboseli nach Norden. In Nairobi fand ich einen Laden, der Schreibmaschinen im Schaufenster hatte. Auf dem Heimweg, im Landrover, stand neben mir eine Underwood. Vier Jahre später machte ich mich auf den Weg nach Hamburg. Felix war in eine noble Gegend umgezogen. Die Hamburger Bücherstube stand jetzt am Neuen Wall. Hausnummer 13. Als ich durch die Tür kam, warf Felix die Hände in die Luft. Sein Haar war weiß geworden. Abends saßen wir in meinem Zimmer. Im Hotel Atlantic. Wir tranken Whisky und sahen uns die Segelboote auf der Alster an. Ich legte ein Manuskript vor Felix auf den Tisch. «Wenn du in Afrika lebst», sagte ich zu ihm, «dann streckt sich die Zeit vor dir aus, so weit das Auge reicht. Im Busch verlierst du dich in diesem neuen Gefühl für Zeit. Das ist eine wunderbare Sache, nichts ist wunderbarer. Also packst du ein Zelt in deinen Geländewagen und suchst dir einen Platz am Fluss, am See oder bei einem Brunnen der Afrikaner.» «Und schreibst», sagte Felix. «Und schreibst», sagte ich. Felix nahm das Manuskript in die Hand. «Dieses Ostafrika ist voller Mystik», sagte ich, «voller Naturgewalten. Voller Schönheit. Voller Tiere. Voller Menschen. Und voller Ungereimtheiten. Als die Weißen kamen, haben die Afrikaner den Fremden ihr Land überlassen. Im Tausch dafür haben sie Bibeln angenommen. Sie hielten die Bücher in den Händen. Und schwiegen.» Felix legte den Zeigefinger nachdenklich an seine Nase. 139
Ich sagte: «Das Schweigen der Leute war schmerzhaft spürbar. Ich habe in dem Schweigen dieser Leute gelebt. In meinem Kopf ist ein Buch daraus geworden. Eine Chronik.» Felix schlug die erste Seite auf. ‹Momella›. Ich sah, dass die Blätter vorn im Manuskript gelb geworden waren. «Momella?» Die runden Augen sahen mich fragend an. «Es ist die Chronik einer Farm.» «Deiner Farm.» Ich nickte. «Es ist kaum möglich, in einem Buch ein ganzes Leben zu beschreiben.» «Ach so», sagte er. «Wenn ich recht verstehe …» Seine Finger strichen über das vergilbte Titelblatt. «Wenn ich recht verstehe, beschreibst du das Schicksal dieser Farm, und wer die Chronik gelesen hat, beginnt Afrika zu verstehen.» Ich sagte: «Ja, so ist es», und Felix meinte, in drei Tagen werde er es gelesen haben. Er hatte meine Arbeit noch in derselben Nacht gelesen. Am Morgen war er nicht in der Bücherstube. Am Nachmittag begann er mich zu suchen. Im Atlantic gab der Portier mir eine Nachricht: «Komm sofort zu mir. F.» Als ich in den Neuen Wall einbog, stand er in der Tür. «Du schuldest mir einen Drink», sagte er, «und zwei Taxifahrten.» Wir gingen zu Michelsen rüber, lehnten uns an die Theke und Felix sagte: «Falls du Champagner bestellen willst, werde ich dich nicht daran hindern.» Ich fragte den Mann mit der weißen Schürze, ob er offenen Champagner hätte, und Felix sagte: «Greifen Sie nach dem teuersten.» «Du machst die Sache spannend», sagte ich. «Was sind das für Taxifahrten, die ich dir schulde?» 140
«Einmal Reinbek und zurück.» Sein Gesicht leuchtete in dem halben Dunkel vor der Bar. «Ich bin zu Rowohlt rausgefahren. Du weißt, seit wir unseren guten alten Freund Ernst begraben mussten, führt Heinz Ledig den Verlag.» Er hielt mir sein Glas entgegen: «Auf deine Chronik. Du hast ein gutes Buch geschrieben.» Ich atmete tief durch: «Felix, von meinem Herzen hat sich soeben ein Stein gelöst. Seit Tagen habe ich große Furcht vor dem, was du mir sagen wirst.» Wir stießen an. «Du hast ein ausnehmend gutes Buch geschrieben», sagte Felix dann, «und ich habe das Heinz Ledig auch gesagt. Eine Zeit lang habe ich ihn maulen lassen.» «Maulen?» «‹Schauspieler sollten anderer Leute Texte spielen›», hat er vor sich hin gemault. ‹Schauspieler sollten keine eigenen Texte schreiben.› Ich habe ihn gefragt, wie das seiner Meinung nach mit Chirurgen ist? Sollte Peter Bamm sein Skalpell in der Hand halten, aber niemals einen Federhalter?» Felix schluckte den Champagner und ließ den Barmann wissen, dass er nicht gedenke, auf einem Bein zu stehen. «Ich habe Ledig eine Wette angeboten», sagte er, «hundert zu eins, dass er deine Arbeit nimmt.» Felix gewann die Wette. Zwei Tage später fuhr ich zu Heinz Ledig. Sein Zimmer war verqualmt. Er hielt mir einen Scheck entgegen. «Tausendfünfhundert. Plus zehn Prozent von jedem verkauften Exemplar. Mehr gibt’s nicht.» Dann schüttelte ihn ein harter Husten. Als er wieder Luft bekam, brachte er den Satz zu Ende: «Junge Autoren darf ein Verleger nicht verwöhnen.» Er grinste und legte seinen Federhalter auf den Verlagsvertrag. Ich setzte mich hinter Ledigs Schreibtisch. Mit dreizehn 141
hatte ich angefangen, einen Traum zu träumen. Dann hatte ich den Traum vergessen. Jetzt war ich einundvierzig. Der Traum war Wirklichkeit geworden. Ich unterschrieb. Ledig sah mir zu. «Ich habe einen guten Titel für Ihr Buch», sagte er. «Eine Farm in Afrika.» Im Jahr darauf, 1970, stellte Felix Jud die Chronik in das Fenster seiner Bücherstube.
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DIETER KÜRTEN Das Buch der Bücher Immer, wenn ich mitbekomme, wie jemand sagt, «… das kannst du deiner Großmutter erzählen …», denke ich: Der hätte meine Großmutter erleben sollen, die hätte dem was erzählt! Vom Leben und Lieben, vom Essen und Trinken, vom Schuften und Schlemmen, vom Verzichten und Verzeihen, vom Beten und von der Bibel! Eine einfache, fleißige, gütige und kluge Frau, die es verstand, mir von Kindesbeinen an die Bibel nahe zu bringen; ohne Aufhebens, ohne Predigt oder Pathos, ganz beiläufig, so, wie sie auch ihre Glaubensvorstellung weitergab. Mir hat das behagt, sodass ich nicht nur richtig gern mit ihr zur Kirche gegangen bin, sondern auch mit Neugier nach der Bibel gegriffen habe. Die Schilderungen des Alten Testaments erzeugten häufig Furcht und Fassungslosigkeit in mir ob ihrer Tragik und der Gewalttätigkeiten. Doch sie faszinierten auch. Kain und Abel, die Gräueltaten der Philister an König Saul und seinen Söhnen, Abraham und Isaak, unfassbares Geschehen! Welcher Schrecken geht von den frühen Religionsanschauungen aus, die höchste Gabe, die der Mensch Gott zu bieten habe, sei das Opfer der Erstgeburt … Im Lande Kanaan und den umliegenden Ländern war dieser Brauch stark verbreitet. Abraham soll seinen Sohn Isaak zum Brandopfer bringen; und er ist dazu bereit; hält das Schlachtmesser schon bereit, als Gott ihn stoppt. Wie sympathisch hingegen eine andere Begebenheit in Kanaan, wo Jesus als Hochzeitsgast Wasser zu Wein 143
macht. Ich wäre gern dabei gewesen; nicht nur wegen des rauschenden Festes mit – wenn man den Schilderungen glaubt – offensichtlich Köstlichem im Glase, nein, ich habe mir schon oft gewünscht, ich hätte im Gefolge Jesu mitziehen dürfen. Die Gebiete, die Begegnungen, die Erlebnisse, die Schlichtheit der Tagesabläufe mit gleichzeitiger Faszination, die von Jesus ausgegangen sein muss. Die Souveränität und Sanftmut, die Strenge und Liebe zugleich, die Weisheit und Klugheit, die Gabe, komplizierte Zusammenhänge simpel und allgemein verständlich darzulegen, das alles berührt bis heute mein Inneres. Das Geschehen auf dem Ostermarsch der beiden Jünger von Jerusalem nach Emmaus, denen sich der Auferstandene unerkannt anschloss, hundertmal gehört, hundertmal nachgelesen, mit stetig wachsendem Wohlgefühl, ergreift mich ein ums andere Mal! Und macht mich begierig. Ich erlebte Nationalmannschaftsfußball in Tel Aviv, betete in Bethlehem, aß Falafel in den Straßen Jerusalems, doch Emmaus, lediglich die berühmten «sechzig Stadien» von dort entfernt, habe ich leider nicht erreicht. Doch auf dem Leidensweg Jesu bin ich gegangen, begleitet von Erinnerungen an heimatliche Karfreitagsgottesdienste, in denen ich der Bitte nachgekommen war, die Leidensgeschichte vorzutragen, was mir – zu meinem eigenen Erschrecken – jedes Mal passagenweise nur mit tränenerfüllten Augen und verschwimmendem Text gelungen war. Die Analyse meiner Ergriffenheit hat mich zu dem Schluss geführt, dass mich vor allem die Verlassenheit erschütterte, die den Sohn Gottes auf dem Weg ans Kreuz umgeben hat. Verlassenheit nicht, doch einen Hauch von Gelassenheit hätte ich gern verspürt, damals in der schmerzvollen 144
Hektik der Via Dolorosa. «Nicht mehr als ein frommer Wunsch», wird derjenige mitleidig feststellen, der einmal selber dort war!
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ULLA LACHAUER Der neugierige Affe Ein Held aus Kindertagen kehrt zurück Jahrzehntelang hatte ich nicht an ihn gedacht. Dann tauchte er wieder auf – der kleine Affe auf dem verbeulten Rad, und zwar in Litauen, im März 1990, in einem fürchterlich schwarzen Augenblick. Ich saß heulend auf einem Stein an der Chaussee. Der Bus, auf den ich wartete, kam wegen des Hochwassers der Memel nicht durch. Auf einmal war das Äffchen aus meiner Kindheit da. Coco hieß er. Vielleicht war Coco auch eine Sie – wie die Dame Chanel, deren Mode meine Tanten verehrten. Mir war das damals herzlich egal, wichtig war, dass der Affe ein Fahrrad hatte, das blau war und haargenau wie meins. Oder andersherum, Coco hatte so eins wie ich, meins war eher da. Es stand plötzlich im Dezember 1956 auf dem Hof meiner Großeltern, wohin ich ausquartiert wurde, weil meine Mutter mal wieder ein Kind bekam. Ich radelte, erst mit Stützrädern, bald ohne, durchs nasskalte Wetter, stürzte und radelte – ein großartiges Gefühl der Freiheit. Ich war fünfeinhalb, Älteste von nun vier Geschwistern, zum ersten Mal genoss ich, dass alle Aufmerksamkeit den Kleinen galt und ich allein war. Zwei Jahre später, als ich lesen konnte und «Coco fährt Rad» geschenkt bekam, stellte ich verwundert und beglückt fest: Es gab diese Erfahrung schon, das blaue Fahrrad, die Abenteuerlust, die Missgeschicke unterwegs. 146
Zwar war der ewig neugierige Affe ein Waisenkind, von dem «Mann mit dem gelben Hut» aus dem afrikanischen Urwald geholt. Aber war ich das irgendwie nicht auch? In dem Gefühl existenzieller Verlassenheit, das ich erstmals bewusst empfand, tröstete mich ein Buch. Sein Umschlag war leuchtend gelb, pastellfarben die Bilder drinnen, der Text erfrischend knapp. Am liebsten mochte ich die Geschichte, wie Coco mit dem neuen blauen Fahrrad Zeitungen austragen hilft und er, von Übermut gepackt, Schiffchen daraus faltet. Derweil die papierne Flotte den Bach hinunterschwimmt, begleitet er sie am Ufer, stolz wie ein Admiral, und radelt gegen einen dicken Stein. Kopfüber fliegt er aus dem Sattel. Das Vorderrad hat eine Riesenbeule, er weint sich die Augen aus, und da kommt ihm die Erleuchtung: Ich kann doch auf einem Rad fahren! Einem Cowboy gleich, dessen Pferd sich aufbäumt, fährt Coco auf dem Hinterrad weiter. Genau dieses Bild sah ich in jenem grauen litauischen März wieder vor mir. Es war so ein Tag, an dem einem die ganze Welt auf den Kopf zu fallen scheint. So etwas passiert bekanntlich, in diesem Fall gab es dafür sogar Gründe. Zwei Wochen hatte ich alte Memelländer, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Heimat geblieben waren, nach ihrem Leben befragt. An besagtem Tag schon drei, diese Besuche lagen mir auf der Seele – und ebenso schwer im Magen. Denn die traurigen Geschichten begleiteten immer gebratene Stinte. Eine Delikatesse hierzulande, die fetteste Fischart unter der Sonne, die bevorzugt im März gefangen wird, für meinen Geschmack ganz abscheulich. Stinte und danach jedes Mal klebrigsüße Torte, mir war hundeelend. Ich probierte alle Rezepte, die üblicherweise helfen: Vaterunser aufsagen – auf Deutsch, «und erlöse uns … Amen!». Dann auf Lateinisch, was eine tolle Konzentrationsübung ist. 147
Schließlich fünf- bis zehnmal so laut wie möglich den trotzigen Satz von Scarlett O’Hara rufen «Tomorrow is another day!». Vergebens, sogar mein praktischer Verstand ließ mich im Stich, der mir hätte sagen müssen: Los marsch! Auf einer vom Hochwasser abgeschnittenen Landstraße kommt keiner. Such dir ein Bett im nächsten Dorf! Ich saß auf dem Stein an der Bushaltestelle und fror. In meiner Lethargie bemerkte ich das Knattern erst, kurz bevor das Motorrad anhielt. «Ich nehm Sie mit», erbot sich der alte Mann, offenbar ein Kolchosarbeiter. Er wollte in Richtung Westen, meinem Ziel entgegengesetzt, in ein Städtchen direkt am Memelufer. «Keine Bange», lachte er, «auf der Chaussee steht das Wasser nicht mehr als einen halben Meter hoch.» Warum ich aufstieg? Jedenfalls kam mir, während ich, an den Mann geklammert, versuchte, wenigstens meinen Rucksack mit den Tonbändern trocken zu halten, Coco in den Sinn. War es nicht herrlich, so zu fahren? Auf einem klapprigen Motorrad sowjetischen Typs. So weit das Auge reichte, moddrig-braunes, vom Wind gekräuseltes Wasser. Ich war plötzlich neugierig. Wie weit würden wir kommen? Ganz gleich, es würde gut ausgehen. Das war das zweite Bild in der Geschichte von Coco, das mich als Kind beeindruckte: Nach jedem Abenteuer schloss ihn der «Mann mit dem gelben Hut» in die Arme. An die weit ausgebreiteten Arme erinnerte ich mich jetzt, an die Geste, nicht an sein Gesicht. Der März 1990 blieb auch weiterhin aufregend. Litauen hatte am 11. des Monats seine Unabhängigkeit erklärt. Nach Wochen des Herumreisens in der entlegenen Memelregion verbrachte ich noch einige Tage in der Hauptstadt Vilnius, im von sowjetischen Panzern umstellten Parlament. Ein Blutbad schien unmittelbar 148
bevorzustehen. Merkwürdigerweise hatte ich nur wenig Angst. Irgendwie trug mich eine kindliche Abenteuerlust und Zuversicht durch diesen historischen Frühling. Zur Zeit der Wende in Europa, der intensivsten, schönsten und herausforderndsten meiner Journalistenlaufbahn, kam der Affe Coco in mein Leben zurück. Und er blieb. Seither denke ich ab und zu an das erste, mir erinnerliche, selbst gelesene Buch und an die Situation von damals. Mit sieben oder acht, glaube ich, formt sich die Persönlichkeit eines Menschen, und dem Lesen kommt dabei, zumindest in unserer Kultur, eine zentrale Bedeutung zu. Meiner Erinnerung nach erhielten in diesem Alter mein Weltbild, die Selbstverständlichkeiten, in denen ich mich bewegte, erste Risse. Die Religion zum Beispiel, das kann ich genau datieren – es war im Oktober 1958, als Pius XII. starb. Ich kam aus der allwöchentlichen Vorbereitungsstunde für die erste heilige «Kommion» (so sagten wir in Westfalen), und unser Kindermädchen sang beim Abwaschen ein freches Lied: «Der Papst ist tot, der Papst ist tot, alle Katholiken sind in Not.» Sie war evangelisch, was ich bis dahin nicht wusste, und weil ich diese Ella gern hatte, prägte sich mir ein, dass man über unseren Papst verschiedener Meinung sein konnte. Die andere, noch wichtigere Geschichte betraf die Autorität der Schule. In der zweiten oder dritten Klasse, draußen lag viel Schnee, hatte Lehrer Börste angekündigt, anderntags würde der Bernhardinerhund durchgenommen, wir sollten uns schon mal freuen. Vor Aufregung konnte ich nachts kaum schlafen – endlich, endlich würde ich erfahren, worüber ich mir schon lange den Kopf zerbrach, wie nämlich die klugen Hunde den Stöpsel aus dem Schnapsfässchen kriegen. Was der Lehrer erzählte, 149
verblüffte mich maßlos. Der Alkohol sollte für die unter der Lawine Verschütteten sein? Gott sei Dank hatte ich nicht gleich direkt gefragt und mich blamiert. Doch stärker als die Scham über mein Unwissen war der Impuls zur Rebellion. Ich war tief beleidigt, und ich beschloss insgeheim, meiner Frage weiter nachzugehen. Meine Phantasie über die liebenswürdigen Schnaps trinkenden Hunde erschien mir interessanter als die Wirklichkeit. Mit den Bernhardinern begann meine Distanz zur Schule. Sie vergrößerte sich bald – mit der vierten Grundrechenart, die einfach nicht in meinen Kopf wollte. Statt zu rechnen, schätzte ich, multiplizierte zur Probe und gab, wenn es nicht stimmte, ein bisschen ab oder zu. Das klappte meistens. Ich war mir sicher, der Mensch kann ohne Dividieren durchs Leben kommen. Die Kraft zur Eigenständigkeit kam – nicht allein, aber ganz wesentlich – aus dem inneren Raum, den Bücher mir öffneten, in dem ich, die Leserin, schalten und walten, weinen und träumen konnte. Mit Coco, meinem ersten Idol, hatte ich ziemliches Glück. Kann es eine freundlichere Lebensphilosophie geben als: losradeln und, was immer geschehen mag, vertrauen, dass ich ankomme? Sein wie Coco! Womöglich half er mir, den nächsten Helden zu verkraften? Camus’ Sisyphos und den übernächsten, den Schriftsteller Max Frisch, die mich in die schreckliche Vergangenheit einführten, die man damals «die jüngste» nannte, und Themen der Moderne. «Coco fährt Rad», mein erstes Buch, ergab kürzlich eine Umfrage per E-Mail in meiner Familie, ist nicht, wie ich glaubte, verschollen. Sondern weitergewandert nach Frankreich, zu den Zwillingen meines Bruders nach Montpellier. Mittlerweile ist es wieder bei mir, ziemlich zerfleddert, es muffelt, um nicht zu sagen: stinkt! Nach Stockflecken und weiß der Himmel wonach. Ich finde es 150
nach wie vor bezaubernd. Und erst jetzt bemerke ich: Das Buch hat ja einen Autor! Ein Kind interessiert nicht, wer da geschrieben und gemalt hat; hätte mich früher jemand danach gefragt, ich hätte vermutlich geantwortet: «Natürlich Coco.» H. A. Rey heißt der begnadete Illustrator. Winzig klein ist vorn im Buch vermerkt, dass die Originalausgabe 1944 im Verlag Houghton Mifflin Compagny/ Boston erschien, unter dem Titel «Curious George rides a bike». Mein Coco ist also der berühmte, unter Kindern in aller Welt bekannte George. Die Erfindung der Figur des neugierigen Affen, seine publizistische Biographie ist, wie ich weiter herausfand, mit der deutschen Tragödie verbunden, mit der ich mich so oft beschäftigt habe. Das Buch hat nicht nur einen Schöpfer, sondern zwei, ein Ehepaar, wie man in den USA sagt, ein «husband-and-wife-team»: Hans Augusto Rey, geboren 1898 in Hamburg (in Hagenbecks Tierpark lernte er Affen zeichnen), und seine Frau Margret, geborene Waldstein, auch sie eine Hamburgerin. Die beiden heirateten in den dreißiger Jahren in Chile, blieben dann am Ort ihrer Hochzeitsreise, in Paris, ein Weilchen hängen. Am 14. Juni 1940, Stunden bevor die deutsche Wehrmacht Paris eroberte, flohen sie, da sie als Juden um ihr Leben fürchten mussten, Richtung spanische Grenze. Auf Fahrrädern – im Gepäck hatten sie einige Manuskripte, unter anderem die Geschichte über den Affen. In der für Frankreich bestimmten Originalversion hieß er damals noch – und auf der ganzen langen Reise über die Pyrenäen, Lissabon, Brasilien bis nach New York- «Fifi».
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SIGRID LÖFFLER Kein Buch – ein Kontinent Shakespeares Königsdramen Als Teenager, in den fünfziger Jahren, war ich, unter manchen anderen, auch in Laurence Olivier verliebt. Vielleicht aber doch eher in seinen König Heinrich, der sich in der Nacht vor der Schlacht von Agincourt unerkannt wie Harun-al-Raschid zu seinen Soldaten ans Lagerfeuer hockt, um zu hören, wie sie über ihn reden, und um dann, wenn alle schon schlafen, über die Einsamkeit von Königen zu sinnieren. Und natürlich wollte ich zu Heinrichs «Happy Few» gehören. «Henry V», diese blendende und mitreißende Filmgestalt, charismatischer Kriegerkönig und siegesgewisser Liebhaber zugleich, lockte mich in die Texte hinter dem Film. Ich entdeckte Shakespeares Königsdramen. Kurz darauf begegnete ich, am Wiener Burgtheater, der Jugendgeschichte des Siegers von Agincourt. Ich lernte Prinz Heinz kennen, in dem Zweiteiler «Henry IV»: einen knäbischen Wams- und Degenträger mit dem blonden Strubbelkopf des jungen Oskar Werner, der sich aus der kalten Vaterwelt des Königspalastes verdrückte und Zuflucht suchte im gemütlichen Wirtshausmief von Eastcheap, am tröstlichen Wanst des Ersatzvaters Sir John Falstaff. Dieser Heinz war eine sonderbar zwiespältige Gestalt: ein einsames Kind auf der Suche nach wärmender Freundschaft jenseits der Standesregeln, gewiss, doch 152
auch ein gläserner Prinz, hochmütig, reserviert und auf seiner Hut, immer umweht von der Kühle einer hohen Prinzlichkeit und exklusiven Zukunft. Gemein machte er sich nie, bei aller Vertraulichkeit. Dass er später, von seiner Krönung in Westminster kommend, seinem alten Kumpan im Vorbeigehen das Herz brechen würde («Ich kenne dich nicht, alter Mann. Geh beten»), das überraschte nicht. Der Eissplitter hatte von Anfang an im Herzen Heinrichs gesteckt. Diese Vorgeschichte als «Prince Hal» rückte auch den Sieger von Agincourt in ein anderes, zweifelhafteres Licht. Konnte Henrys Charme bei der Brautwerbung um die französische Prinzessin noch so unbedingt entzücken, wenn das Kalkül des berechnenden Politikers nicht mehr zu übersehen war? Hatte nicht Henrys Vater ihm auf dem Totenbett den Rat gegeben, von innerer Schwäche abzulenken durch Anzettelung von Kriegen im Ausland? Und hatte Henry diesen Rat nicht an Frankreich ohne Skrupel durchexerziert? War nicht der Sieger von Agincourt auch der Schlächter von Agincourt? Je besser ich Shakespeares Königsfiguren kennen lernte, desto undurchsichtiger, widersprüchlicher, ambivalenter wurden sie, desto faszinierender aber auch. Ich entdeckte in den Historien eine literarische Welt, die nicht auszulesen war. Nicht auszulesen ist. Ich tauchte ein in einen vielhundertgestaltigen Kosmos, in dem es um nichts anderes ging als um die Krone, um die Macht, und darum, wie man sie erringt, behält oder verliert. Einerseits. Andererseits ging es auch um alles Mögliche sonst, um Zeter und Mordio, um rote und weiße Rosen, um Bürgerkriege, Intrigen und höfische Parteiungen, um schwindelnde Karrieren und fatale Abstürze, um große Ehebrecherinnen und schwache Ehemänner, um unglückliche Väter und ungeliebte Söhne, um grandiose 153
Säufer, liederliche Halunken und dicke Ritter, um Bestialität und Todesangst, Folterungen und Schändungen, sexuelle Gier und die so genannte Ehre, um lustige Wirtshaus-Sitzungen, dumme Streiche und blutige Schlächtereien, um ein fatales Körbchen Erdbeeren, ein Fass mit Malvasierwein und den Schafpreis in der englischen Provinz, um Zoten über Syphilis und Witze über Schotten, Iren und Waliser, um Jeanne d’Arc in merkwürdiger Verzerrung und um einen fabelhaft intelligenten, witzigen und ruchlosen Kerl mit Höcker, der Richard Gloster hieß und eine Visage trug wie Disneys Ede Wolf, hinter dem aber gleichfalls Laurence Olivier steckte. Shakespeare ließ mich begreifen, dass die Geschichte gnadenlos und ohne Telos ist und dass es ein ganz unmoralisches Vergnügen bereiten kann, störende Leute umzubringen. Ich lernte einiges Machavellistisches über Taktiken des Machterwerbs und Strategien des Machterhalts und ahnte beim Sturz des zweiten Richard, eines schlechten Königs, aber eloquenten lyrischen Dichters, erstmals etwas von der Ästhetik des Scheiterns und der narzisstischen Lust an der Selbstzerstörung. Jahre später, in Edinburgh, sollte mir der junge Ian McKellen Richards sakramentale Selbstbesessenheit und Kunst des Zugrunderichtens in höchster Virtuosität vorführen. Ich begeisterte mich für Shakespeares Kunst der Dialoge, für den Humor, den Pragmatismus und die Menschenkenntnis dieses Elisabethaners, die ihresgleichen nicht hatten, am allerwenigsten im deutschen Drama. Durch das Portal der Historien hatte ich den Kontinent Shakespeare betreten, um ihn nie wieder zu verlassen. Mit seinen Geschöpfen habe ich lebenslang Umgang gepflogen. Ich habe sie nie ausgelernt, weil Shakespeare lehrt, dass Gut und Böse nicht eindeutig sind und dass es 154
endgültige Urteile über Menschen nicht geben kann. Der fünfte Heinrich ist hinreißend, aber auch ein Ungeheuer, der dritte Richard ist ein gefährliches Scheusal, aber auch ein betörender Verführer, und Falstaff ist die überlegene Weltweisheit in Person, aber auch das verkörperte Laster. Shakespeares Gestalten öffnen den Mund, die Blankverse strömen heraus und hören nicht mehr auf, im eigenen Inneren nachzuhallen, lebendiger und unvergesslicher als viele Leute, denen man im so genannten Leben so begegnet.
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ERICH LOEST Begleiter ein Leben lang Im sonnengoldenen März 1945 befehligte ich als ReserveOffiziersbewerber im Rang eines Gefreiten ein Dutzend blasse Jungen, die in Pommern beim Arbeitsdienst gewesen und von der Sowjetarmee in panische Flucht geschlagen worden waren. Sie konnten nicht nach Hause, denn dort am Niederrhein war schon der Tommy. «Bei uns daheim gibt’s keinen Fliegeralarm mehr», verkündeten sie glücklich immerzu. Jeden Montag flogen die Amerikaner einen Angriff auf Plauen. Denn in einer Fabrik im Tal wurden Panzer repariert, es war von dort nicht mehr weit zu den beiden Fronten. Aus Splitterschutzgräben sahen wir der Luftparade zu: Späher zuerst, die Rauchzeichen warfen, eine Kette leichter Bomber, dann die Brocken. Das Pladdern der todbringenden Teppiche kann mein inneres Ohr nach so vielen Jahren noch produzieren. Beste Sicht, keine deutschen Jäger, keine Flak, ein Angriff wie aus dem Bilderbuch eines zufriedenen Bombergenerals. Nach der Entwarnung machten wir uns auf in die Stadt, um freizuschaufeln, zu bergen, zu retten. Einmal steckte ich in einem demolierten Friseurgeschäft einen Kamm ein. Auf Plündern stand die Todesstrafe. Eine Sprengbombe hatte ein Haus angeschlagen, der Rest stand mit kleinem erhaltenen Zimmer weit oben unter lädiertem Dach. Alte Leute rangen die Hände: Unsere letzten Möbel! Mein späterer Werwolfkumpel Fritz Gietzelt und ich tönten tapfer: Kein Problem! 156
Über schräge Trümmer kletterten wir hinauf, äußerlich furchtlos. Aus dem Zimmerchen seilten wir ab: Tisch und Stuhl, Lampe und Teppich, Wäschekorb um Wäschekorb voller Bücher und diese und jene Kleinigkeit. Gelegentlich knisterte es im Gebälk. Wir kamen davon und wurden mit Dank überschüttet. Sie könnten uns weder etwas zu essen noch Zigaretten geben, jammerten die Alten, sie hätten ja selbst alles verloren. Ob wir uns ein paar Bücher aussuchen wollten? Ich wählte und nahm mit: «All quiet on the Western Front» von Erich Maria Remarque, translated from the German by A. W. Wheen, erschienen bei G. P. Putnam’s Sons in London, March 1929. Ich hatte von diesem Antikriegsbuch gehört und wusste, dass Remarque Jude war. Ein kleiner tiefbrauner Nazi war ich, doch Antisemitismus bedeutete für mich ein theoretisches Problem; nie hatte ich einen Juden kennen gelernt. Mein Schulenglisch reichte aus, mich ohne Wörterbuch hineinzufinden. Abends auf dem Strohsack las ich vom Krieg meines Vaters, Gefreiter auch er, der an der Westfront verschüttet worden war und erlitten hatte, was Trommelfeuer und Gasangriff hieß. «Himmelstoß turns to him: ‹Tjaden, isn’t it?› Tjaden lifts his head. ‹And do you know what you are?›» Zehn Zeilen weiter: ‹«A dirty hound, that’s what you are.»› Ehe ich in meinen kurzen, lebensgefährlichen Krieg zog, schickte ich das Buch heim nach Mittweida; die Post funktionierte. Als ich aus der Gefangenschaft zurückkehrte, stellte ich es an bevorzugte Stelle ins Regal. Ich las es nun gründlich. In den Jahren darauf, als ich mich mühte, Schriftsteller zu werden, wurde Remarque zu einem meiner Vorbilder. Sein Stil tat es mir ebenso an wie die straffe Handlungsführung und sein politisches Engagement, ich versuchte herauszufinden, wo die Grenze 157
zur Kolportage liegt. Mit Fallada und Hemingway gehört er zu meinen frühen Paten. Während zahlreicher Umzüge war «All quiet on the Western Front» dabei; nach Andree’s Handatlas von 1909, meinem Tor zur Welt in Kindertagen, steht es an zweiter Stelle aller Bücher, die in meine Hände gerieten und in ihnen blieben. Tausende anderer Hände kamen und gingen, nie wurde ich zum bewahrenden Sammler, zu oft gab es Grund zu geringem Gepäck. Die Flucht vor Mielke, Höpcke, Kant und Co. spülte mich nach Osnabrück, in die Geburtsstadt Remarques. Eine Gesellschaft pflegt dort seine Erinnerung. Ich fand Kontakt. Ein Stadtrat war dabei gewesen, als eine Delegation um 1950 dem Sohn der Stadt die Ehrenbürgerwürde im Schweizer Exil zu Füßen legte; der Geehrte hatte sich äußerst reserviert gezeigt. Bisweilen wurde ich gefragt, ob ich aus Gründen der Bewunderung für den großen Kollegen nach Osnabrück gezogen sei; ich ließ es offen. Alles vom Meister las ich im Laufe der Zeit und sah den berühmten Film nach seinem berühmtesten Roman. Die Szene, wie sich die zur Front marschierenden Kameraden umblicken und schwarze Kreuze schemenhaft über ihren Helmen auftauchen, wird mich mein Leben lang begleiten. In Osnabrück erlebte ich die schwierige Pflege eines anderen dort Geborenen; unterdessen hat Libeskind ein hochgepriesenes Museum für Felix Nussbaum geschaffen. Weiter zog ich und weiter, «All quiet on the Western Front» blieb im Gepäck. Als während der endlichen Heimkehr nach Leipzig ein Pkw, am Steuer ein vertrauter Fernsehmann, den Laster mit meinen besten Stücken rammte, blieb der alte Band unversehrt. Beim Schreiben dieses Artikels liegt er neben mir auf dem Schreibtisch. Ich lese wieder einmal: 158
«He fell in October 1918, on a day that was so quiet und still on the whole front, that the army report confined itself to the single sentence: All quiet on the Western Front.»
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ELISABETH MANN BORGESE Goliath – Der Marsch des Fascismus Es ist nicht leicht, ein einzelnes Buch auszugreifen, das den größten Einfluss auf ein Leben gehabt haben soll. Denn ein solches Buch kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern seine Lektüre mag von anderen Büchern angeregt worden sein, und sind es dann nicht die, die den größten Einfluss ausgeübt haben? In meinem Fall aber ist die endgültige Wahl relativ einfach. Es ist das Buch Goliath – Der Marsch des Fascismus von Giuseppe Antonio Borgese, den ich wenige Jahre nach Erscheinen dieses Buches heiratete. Die Sache ist so gegangen. Ich war während meiner Schweizer Schuljahre mit vielen Exilierten aus Deutschland, Italien und Spanien befreundet. Man traf sich im Theater, oder zur späten Nachmittagsstunde im Café Odeon oder Select und plauderte ein wenig. Einer dieser Exilierten war der Italiener Ignazio Silone, den ich besonders gern hatte. Er besuchte mich gelegentlich am Tennisplatz, wo ich mit Emanuel Feuermann und seiner Frau schlecht und recht ein wenig Tennisspielen zu lernen versuchte; Sonntagnachmittags nahm er mich mit zu Fußballkämpfen, denen zuzuschauen seine Lieblingsunterhaltung war; gelegentlich trafen wir uns im Café; und ab und zu kam er zu meinen Eltern zum Abendessen. Ich bewunderte, wie auch mein Vater, Silones Erzählungen, besonders Fontamara und Pane e Vino, die ich in der italienischen Originalfassung studierte. Eines Tages – es muss 1936 gewesen sein – kam Silone 160
zu uns nach Küsnacht, mit einem Buch, das soeben auf Deutsch erschienen war, in der vorzüglichen Übersetzung (aus dem Englischen) von Hans Meisel, der später, in Princeton, der Sekretär meines Vaters wurde. Das Buch war Goliath. Silone pries es als das wichtigste Buch der italienischen Emigration. Er brachte auch eine der ersten Besprechungen mit, von einem anderen italienischen Emigranten, Nicola Chiaromonte, und schlug vor, diese Besprechung in der von meinem Vater mit herausgegebenen Monatszeitschrift Maß und Wert zu veröffentlichen. Ich war damals achtzehn Jahre alt. Ich war neugierig. Ich verschlang das Buch samt der Besprechung. Der Stil beeindruckte mich ebenso wie der Inhalt. Es war ein mächtiger Stil, dessen Kraft, Reichtum und Eleganz Meisels Übersetzung durchdrang. Es war eine Erzählerkraft in diesem Sachbuch, die einen fesseln musste. Borgese hatte die englische Sprache erst spät im Leben erlernt, aber er beherrschte sie besser als die meisten, denen sie Muttersprache war. Später konnte ich beobachten, wie Sekretärinnen, die seine Manuskripte tippten, immer wieder zum großen Oxford eilen mussten, denn nur der enthielt den Wortschatz, den Borgese sich angeeignet hatte, von seinen Meistern, Milton und Shakespeare. Allerdings fiel es ihm dann manchmal schwer, der Putzfrau zu erklären, was sie heute für ihn tun sollte. Das übernahm dann ich. Die Geschichte des Fascismus war im Rahmen der Geschichte Italiens gesehen, vom kaiserlichen durch das päpstliche Rom, Risorgimento, bis zur Neuzeit. Die dunkle Rolle der absolutistischen katholischen Kirche, als Vorbild und Partner des Fascismus, stand im Zentrum. Der David, der den grotesk geblähten Goliath zu Falle bringen sollte, war die Welt-Demokratie, verkörpert zu dem 161
Zeitpunkt in Franklin Delano Roosevelts New Deal. Die Bewunderung dieses amerikanischen Präsidenten übrigens teilte Borgese mit meinem Vater. Kurz nach diesem Besuch Silones und nachdem das Buch einen so starken Eindruck auf mich gemacht hatte, kam ein weiterer Besuch: der von Ferdinand Lion, dem Chefredakteur von Maß und Wert. Er sähe die Veröffentlichung der Chiaromonte-Besprechung nur ungern, meinte er. Was sollen wir uns in die Sachen der italienischen Emigration einmischen, rief er aus. Die Zeitschrift verkauft sich doch in Italien. Wenn wir diese Besprechung bringen, dann ist das aus! Da stieg Empörung in mir auf. Obwohl ich sehr scheu war und eigentlich nie wagte, mich aktiv in die Diskussionen der Erwachsenen zu mischen, konnte ich meine Gefühle und Gedanken nicht zurückhalten. Es war, als ob erst diese Gefährdung mir klar machte, was dieses Buch und sein Autor für mich bedeuteten. Wenn wir an die Demokratie glauben, können wir diesen Glauben nicht opportunistisch kompromittieren, kam es aus mir … Wenn wir den Fascismus bekämpfen wollen, können wir nicht das wichtigste Buch des Antifascismus einfach ignorieren. Es wäre eine Schande, eine öffentliche Blamage, diese Buchbesprechung zurückzuweisen. Maß und Wert ist eine Kulturzeitschrift, und die demokratisch-humanistische Kultur kennt keine Landesgrenzen. Es ist ein Segen, dass wir uns einmal mit italienischer Kultur beschäftigen. Mit der Unterstützung meines Bruders Golo gelang es dann auch, meinen Vater zu überzeugen, nicht auf Lions Rat zu hören, und Chiaromontes Besprechung wurde ohne Verzögerung veröffentlicht. Nicht lange danach reiste meine Schwester Erika hinüber nach Amerika, in antifascistischen Angelegenheiten. Sehr wahrscheinlich würde sie Borgese dort besuchen. Ich legte 162
ihr nahe, ihm anzudeuten, wie sehr ich sein Werk bewunderte. Inzwischen hatte ich auch noch, auf Silones Rat, Borgeses Roman Rubé gelesen – ebenfalls ein starker Eindruck, wie auch sein Profil, das ich auf Bucheinbänden zu sehen bekam und das mich an das Savonarolas erinnerte. Ein starkes Profil. Mussolini soll einmal gesagt haben, er hätte eigentlich nichts gegen Borgese, nur dass er (Borgese!) so ein Gewaltmensch sei! Was er wohl meinte, und da hatte er Recht, war die ungeheuer starke Persönlichkeit Borgeses. Erika muss ihre Aufgabe gut erfüllt haben … Als ich dann im Herbst 1938 Borgese im Haus meiner Eltern in Princeton persönlich kennen lernte, nahmen die Dinge recht schnell ihren Lauf. Heinrich Breloer hat es hübsch und wahrheitsgetreu in seinem Film «Die Manns» erzählt. Unsere Ehe dauerte vierzehn Jahre, bis zu Borgeses Tode in Fiesole, im Dezember 1952. Er war 70 Jahre alt, ich war 34, als er starb. Er hinterließ mir zwei kleine Kinder und den Geist unserer Zusammenarbeit. Dieser Geist hat mich nie verlassen. Meine Lebensarbeit, für eine Neuordnung der Nutzung und des Schutzes der Meere, eine Neuordnung, die ich von Anfang an als Modell und Teil einer Neuordnung der Welt betrachtet habe, beruht letzten Endes auf Borgeses Glauben an eine neue Form von humanistisch-sozialistischer globaler Demokratie, die im Entstehen ist und die der David sein wird, der den Goliath des Weltfascismus, welcher heute die Form eines entgleisten Markt-Kapitalismus angenommen hat, zu Fall bringen wird.
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JULIAN NIDA-RÜMELIN Doktor Schiwago Zu meinem 12. Geburtstag hatte sich mein Vater zwei Überraschungen ausgedacht: Am Nachmittag des 28. November 1966 fragte er mich, ob ich ihn zu einem Spaziergang durch die Isaranlagen begleiten würde. Wir lebten damals in einem Künstlerhaus (dem so genannten Hildebrand-Haus) an der Maria-Theresia-Straße in München. Auf der anderen Straßenseite erstrecken sich die Isaranlagen zwischen Friedensengel und St.-GeorgsKircherl. Das Gespräch drehte sich um Frauen und den Umgang mit ihnen. Mein Vater machte Andeutungen zu seinen eigenen Erfahrungen mit Frauen, die ich nur teilweise verstand. Er schien mich warnen zu wollen – offen blieb lediglich, wovor. Nachfragen verboten allerdings, schließlich behandelte er mich an diesem Tag in auffälliger Weise nicht mehr wie seinen Buben, sondern eher wie seinen Freund, dem man auch etwas anvertrauen kann. Ein Freund versteht aber, um was es geht, und stellt nicht dauernd Fragen, wie es kleine Jungen tun. Es hat Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass dieser lange Spaziergang im November des Jahres 1966, der angesichts der begrenzten Ausmaße der Isaranlagen nur dadurch fortgesetzt werden konnte, dass einige Wege mehrfach gegangen wurden, als «Aufklärungsgespräch» gedacht war. In der Tat war es am Rande auch um Sexualität gegangen, wohl auch, weil mein Vater bemerkt hatte, dass meine deutlich verfrühte körperliche Reife ein solches Gespräch erforderlich machte. 164
Zum Schluss sagte er mir, er habe die Gelegenheit nutzen wollen, jetzt noch mit mir zu sprechen. Schließlich wisse er sehr wohl, dass ich schon bald erwachsen sei. Als wir zurückkamen, war ich kaum klüger als zuvor, hatte aber das Gefühl, dass mit dem heutigen Tag meine Kindheit, ja vielleicht schon meine Jugend vorbei war. Die zweite Überraschung dieses Tages war, dass mein Vater mich ins Kino einlud. Der Film war ab zwölf Jahren freigegeben und trug den Titel «Doktor Schiwago». Er wirkte auf mich wie eine Illustration dessen, was mein Vater mir zuvor zur Rolle von Frauen im Leben eines Mannes möglicherweise hatte mitteilen wollen, und beeindruckte mich ungemein. Noch Jahre später gingen mir die Gesichter dieses Films nicht aus dem Kopf. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir zu Hause aus einer bildungsbürgerlichen Verachtung heraus keinen Fernseher besaßen. Umso stärker wirkten die Farben, die Landschaften, die Gesichter, die Gefühle dieses Films auf mich. Ich bekam einige Zeit später das Buch von Boris Pasternak, auf dem dieser Film beruht, geschenkt, und es wurde zur eindrücklichsten Lektüre meines Lebens. Die Gesichter aus dem Film begleiteten mich durch die um so vieles kompliziertere Geschichte, die Boris Pasternak erzählt. Als Zwölfjähriger erschien mir das Buch wie eine Ausbuchstabierung des Films. Als ich Jahre später den Film erneut sah, kam er mir wie ein verkitschter Ausschnitt einer komplexen Fiktion mit komplexen Figuren vor. Doktor Schiwago, zögerlich und sensibel, integer und schwach, der lavierende Intellektuelle, unfähig, sich zwischen zwei Frauen zu entscheiden, aber auch voller Sorge und in seiner Seele verletzt; Lara, die gefallsüchtige Schöne, leidenschaftlich und getrieben; ihr Geliebter, der mächtige grobe Mann, der sie bedroht, aber 165
auch fasziniert, der sie rettet und verschwinden lässt; Schiwagos Ehefrau als ahnende, nachsichtige und einfühlsame Ehefrau. Ich habe den Roman mindestens fünfmal gelesen. Die Sicht Boris Pasternaks prägte meine Einstellung gegenüber der russischen Revolution bis in die Zeiten meiner eigenen Politisierung viele Jahre später. Die Begeisterung vieler Gleichaltriger für eine ganz andere Gesellschaft und den Weg der Revolution erinnerte mich an die Figur des Verlobten von Lara und späteren Politkommissars. Einige weitere Jahre später stieß ich mich an der Verklärung des vorrevolutionären Russlands, und der Charakter Doktor Schiwagos wurde mir zunehmend unsympathisch. Unterdessen berührt mich der letzte Teil des Buches: Der alternde Doktor Schiwago, sozial abgestiegen, von zwei einfachen Frauen aus dem Volke verehrt, an den Rand der Gesellschaft getrieben, fast ohne Kontakte, aber nach wie vor zaudernd, nachdenklich, sensibel. Im Film sieht er Lara, als er in einer Trambahn sitzt, über die Straße gehen und versucht vergeblich, die Straßenbahn zu verlassen, um zu ihr zu gelangen. Lara geht weiter, und er bricht in der noch fahrenden Trambahn zusammen. Im Buch stirbt er, ohne Lara wiedergesehen zu haben. Erst nach seinem Tod erscheint Lara als eine geheimnisvolle wohlhabende Dame und kümmert sich darum, dass er anständig beerdigt wird. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung, aber es ist lange her, dass ich den Film das letzte Mal gesehen und das Buch das letzte Mal gelesen habe. Ich blieb übrigens als Jugendlicher über Jahre meist bei russischen Autoren: Dostojewski, Turgenjew, Tolstoi. Aber Pasternak blieb der Größte, ausgenommen Homer, aber das ist eine andere Geschichte. 166
JAN PHILIPP REEMTSMA Der Große Brockhaus Wenn ich zurückdenke, sehe ich den Jungen mit einem der schweren, ledernen, schwarz und rot und goldnen Bände in der elterlichen Bibliothek auf dem blauen Teppich sitzen – es ist ein sonnendurchfluteter Sonntagmittag, die Bibliothek ist hell und warm. Diese Erinnerung sagt schon fast alles. Warum Sonntagmittag? Meine Mutter – auf die nur kam es an, mein Vater war schon tot – pflegte ausgiebig Mittagsruhe zu halten, und so war ich ungestört. In der Bibliothek blieb ich, um den Band jederzeit schnell wieder ins Regal stecken zu können. Denn es ging bei der Lektüre um dreierlei. Einmal suchte ich Auskunft darüber, was die Welt an schaurigschönen Geheimnissen bereithielt – also Band 12 MAIMUD, zwischen den Seiten 400 und 401 das Aufklappbild «Modell des Menschen: Brust- und Bauchorgane des Weibes» –, später dann, gerichteter, die Bände GAS-GZ, OSU-POR und (enttäuschend) TOU-WAM – man versteht mich. – Zum Zweiten suchte ich Auskunft darüber, was die Welt an schaurigscheußlichen Geheimnissen bereithielt, und informierte mich über Pest und Cholera. (Die Informationen, die der Text über zeitnähere Bedrohungen bereithielt – es handelte sich um die Ausgabe 1928 bis 1935 –, nahm ich nicht wahr.) Schließlich, und das war das Wichtigste, informierte ich mich über Weiträumigkeit und Erschließbarkeit der Welt. In Hamburg sind die sonnendurchfluteten Nachmittage so häufig nicht, also muss hier die Projektion eines 167
Gemütszustandes nach außen vorliegen: es wurde hell und warm um mich her, und jeder Eintrag bedeutete eine offene Tür in ein Universum, das dem Wissen zugänglich war. – Und zwischendurch aufblicken und auf dem Globus die Weltreise nach Tasmanien antreten. So heißt’s bei Rühmkorf irgendwo: 1234- das ungelernte Ich. Es weiß nicht viel, doch es erkundigt, sich. Mehr ist nicht hinzuzufügen.
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NINA RUGE Kuller, Purzel, Platsch oder: Am Anfang war Erziehung «Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte ich kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinderglücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand.» (Hermann Hesse) Angst. Mit dreizehn hatte ich angefangen, dorthin zu gehen, wo Angst war. Intuitiv, ohne zu reflektieren – einfach, weil sie in mir zu brodeln begann: die Sehnsucht, mich aus der Sklaverei der Angst zu befreien. Mit dreizehn schrieb ich mir an die Wand: «WO DIE ANGST IST, GEHT ES LANG». Wo ich den Spruch aufgeschnappt hatte, ist mir längst entfallen. Als ich mehr als ein Jahrzehnt später den Hesse-Text auf einem Bucheinband las, musste ich das Ding kaufen. Nicht einfach so, nein. Das sollte Reiselektüre sein. Alice Miller. «Das Drama des begabten Kindes» musste auf die Insel mit. 1981 – eines der Schlüsseljahre meines Lebens. Ganz frisch hatte ich mein zweites Staatsexamen in der Tasche. Das fühlte sich gut, aber überhaupt nicht sexy an: 169
Studienassessorin war ich also. Für die Fächer Deutsch und Biologie. Aha. Gut, dass der Stress vorbei war. Anthrazitfarben die Ringe unter meinen Augen. Denn ich war umgezogen, am Tag nach der letzten Prüfung. Mit meiner Freundin in eine Braunschweiger Altbauwohnung. Will heißen: Ich hatte die letzten Wochen während der Prüfungen tagsüber gelernt und Examensunterricht vorbereitet – und nachts die Wohnung renoviert. Und einen Flug gebucht. Nach Teneriffa. Ich wollte ins Mecka der etwas anderen Leute. Auf die glückliche Insel hinter dem Winde, die exotische unter den Kanaren: nach Gomera. Und zwar allein. Weg von dem round the clock Müssen-Sollen-Funktionieren. Mit pinkfarbener Pluderhose und Tiger-Stirnband. Und mit Alice Miller. Als ich das Buch jetzt aufschlug, genau zwanzig Jahre später, rieselte mir schwarzer Sand entgegen. Und die Erinnerung an Stunden auf dem Felsen, vor dem halb fertig gestellten «Apartment»-Bau, in dem ich mit Hilli, einer Bekanntschaft von der Gomera-Fähre, ein spartanisches Betonquadrat teilte. Im Valle Gran Rey. Ja, ich sehe mich dort hocken, das blaue Buch in der Hand – und heulen. Jede Seite fünf Tropfen mehr. Die Brandung toste, Novemberwind blies, die Luft war seidig und ich mindestens so aufgewühlt wie die See. Da las ich von Menschen, die noch nie in ihrem Leben von ihren Eltern für das geliebt wurden, was sie waren: nämlich schlicht und einfach klein, unvollkommen, mit vielen «guten» und mit noch mehr «schlechten» Gefühlen. Die ausschließlich geliebt wurden für das, was sie vorzugeben lernten. Nämlich so zu sein, wie Mama sie gerne haben wollte. Die Konsequenz: sie lernten zugleich, die Schleusen für die Wahrnehmung ureigenster Gefühle luftdicht zu verschließen. Nicht hören, nicht sehen, nicht fühlen – schon gar nicht nach innen. Ich las von 170
Menschen, die es nie lernten, sich selbst zu lieben. Die ihre gesamte Energie auf ein einziges Ziel verwendeten: das große, schwarze Loch zu stopfen, das ständig ganz tief innen gähnte – und wenn sie mutig hinunterspähten, in Düsternis und Schlamm der Angst, dann blubberte dieses fiese Mantra hoch: «Du hast mich nicht lieb, ich hab mich nicht lieb – wer hat mich denn lieb?» Völlig klar: Da war Loch-Stopfen angesagt. Mit Grandiosität oder mit Depression. Oder mit beidem. Soweit der Inhalt – schändlich kurz zusammengefasst. Die Sprache der Alice Miller war trocken, spröde, von Fachbegriffen der Freud’schen Psychoanalyse durchsetzt. Nicht ganz leicht zu lesen – denke ich heute. Doch damals fiel mir das gar nicht auf. Heute hätte der Lektor eine gründliche Textwäsche vorgenommen: Richtung «Wichtige Weisheit – leicht gemacht». Das Drama des begabten Kindes als Soap-Opera. Doch ich war in Übung mit verknarzten Texten. Ein Germanistikstudium härtet ab. Und außerdem kam ich eh aus der 70er-Jahre-Ecke: Selbsterfahrungs-, Frauen-, Bhagwan-, Yoga-, Umweltschutz- und Polit-Gruppen – alles hatte ich ausgetestet und bergeweise knochentrockene Traktate verschlungen. Doch dieses Buch war anders. Zum einen nüchterner, es fehlte das Sendungsbewusstsein. Da sezierte eine Psychologin eine ganze Generation. Ach was, Generation: Sie sezierte Erziehungsmuster über Generationen hinweg! Vielleicht war es die Coolness ihrer Schreibe, die mich ins Mark traf. Mir einzugestehen: Jawohl, ich hatte starke kindliche Gefühle weggeätzt, das machte mich butterweich und sahnetraurig: «Ich lebte in einem Glashaus, in das meine Mutter jederzeit hineinschauen konnte», zitiert Miller eine 171
Patientin, «in einem Glashaus kann man nichts verstecken, ohne sich zu verraten, außer unter dem Boden. Dann sieht man es aber selbst auch nicht.» Bei dieser Passage kullerten sieben Tränen. Ebenfalls entlarvend ätzend, wie Alice die Suche nach Liebe beschreibt. O ja, dachte ich, wie viele hungrige Seelen unter uns die Suche nach Liebe durch Sucht nach Bewunderung ersetzen. Eine Sucht, die niemals wirklich befriedigt werden kann, weil sie schnöder Ersatz ist für – und jetzt kommt Alice: «für das unbewußt gebliebene primäre Bedürfnis nach Achtung, Verständnis, Ernstgenommenwerden». Und wieder Kuller, Purzel, Platsch … Dann, endlich, las ich, wie wir unsere Seelen aus dem «inneren Gefängnis» befreien können. Auf dem langen, steinigen Weg der Psychoanalyse. Erst dann könne sich das Selbst entwickeln, artikulieren, wachsen und Kreativität entfalten, sagt sie. Und erst dann öffne sich der unerwartete Reichtum an Lebendigem. «Es ist nicht eine Heimkehr, denn das Heim hat es nie gegeben. Es ist eine Heimfindung.» Schluchz! Und seltsam – wenn ich heute diese Miller-Zeilen lese, erscheinen sie mir so selbstverständlich, ja, fast naiv. Meine Tränen pathetisch. Ein großer Teil der MillerThesen gehört heute zu meinem ganz normalen Seelengewebe. Und das ließ sich eigentlich sehr preiswert weben – nämlich ohne Psychoanalyse. Was Miller beschreibt, das ist wahr – und jede einigermaßen geglückte Menschwerdung läuft so ab, denke ich heute. Schließlich ist es die natürliche Aufgabe eines jeden, der reifen möchte, Erziehung, Bedingungen, Widersprüche, Hemmnisse der Entwicklung für sich zu wenden. Jeder hat von irgendetwas zu wenig bekommen – meist zu wenig Charakter-Doping-Mittel wie Liebe, Anerkennung, 172
Achtung, Toleranz. Und reifen heißt vor allem: erstens den Mangel zu erkennen und zweitens diese Erkenntnis als Dünger für das persönliche Wachstum zu nutzen … Auf welchen Platitüden bist du seelisch Schlitten gefahren, Nina! Mag sein. Doch erst mal muss da ein Schlitten sein. Und dieser Schlitten war das Gefährt einer – na, sagen wir – mindestens halben Generation. 1981 – da war nix mehr mit Erwachsenwerden umrankt von Flower-Power. Die 68er-Blüten vergammelten längst auf dem Kompost. Politniks waren hoffnungslos in Splittergrüppchen verkopft und verkeilt – der Rest RAF-entgleist. Der Psycho-Boom schwappte gegen eine neue LeistungsDenke an: Wir waren die «geburtenstarke Generation». Karrieregeil war kaum einer, doch jeder hatte das MassenUni-Syndrom: Sei deutlich besser als der Rest der Hundertschaften in den Hörsälen, oder du kannst es gleich vergessen. Love Money and Happiness – das spätere Credo der 80er – kündigte sich erst ganz sachte an. Wir waren Anfang der 80er auf der Suche nach neuen, eigenen Werten und unter hartnäckigem Leistungsdruck, Alice Millers klarer, gnadenloser Blick auf den Nabel der Seele half in diesem Tohuwabohu, diese Werte freizulegen, sie führte den Blick zurück auf das Ego, den Selbstwert – auf Authentizität. Nach sechs Wochen Gomera kam ich verändert zurück. Am 1. Februar 1982 begann ich als Lehrerin an einem Wolfsburger Gymnasium. Ich sehe mich noch auf dem Fußboden des Lehrerzimmers sitzen, mein Fach einräumen und denken: «Willst du das wirklich?» Ich wollte es durchaus. Weil auch dieser Weg dorthin führte, wo die Angst war. Heute kommen böse Mädchen in den Himmel – und werden nach Sachbuchlektüre nicht nur glücklich, sondern 173
reich. Alice Millers ‹Drama› hat mir geholfen, auf meiner privaten Kleinkunstbühne ein paar schwere Vorhänge zu lüften. Innen ein paar Kilo leichter, war der Berufsanfang ganz normal, nämlich zentnerschwer. Zum Glück schwappte wenig später ganz nebenbei die Neue Deutsche Welle drüber. Sting sang bei Police, und Alice Miller sang ganz leise, ganz hinten mit.
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KATHARINA RUTSCHKY Mädchen zur Sonne und Freiheit! Über den Einfluss eines Kunstlexikons auf mein Leben Mich musste niemand zum Lesen verführen. Nachdem ich schnell begriffen hatte, wie es geht, las ich alles, was mir in die Finger fiel. Wählerisch hätte ich sowieso in jenen später als «schlechte Zeit» benannten Jahren nicht sein können. Die fünf Bücher in Familienbesitz, darunter «Knaurs Konversationslexikon» von 1936, hatte ich schnell durch. Die zwei Kinderbücher, «Max und Moritz» und «Der Struwwelpeter», gefielen mir wegen ihres schwarzen Humors und der bunten Bilder ganz ungemein, aber abendfüllend waren sie nicht. Ich las dann, auf den Spuren meiner Mutter, die als Berlinerin auf dem Dorf auch nach Abwechslung lechzte, Gustav Freytags «Ahnen». Und zwar in Fraktur gedruckt – ein Schriftbild, das heute kein Abiturient, geschweige denn ein achtjähriges Mädchen akzeptieren würde. Ich las aber auch die sorgfältig geglätteten Zeitungsblätter, in die der Salat gewickelt war. Die Chancen, meiner Lesesucht ausreichend Stoff zu verschaffen, besserten sich mit dem Umzug aus dem Dorf im Hochschwarzwald nach Kassel, aus meiner Kindersicht damals eine herrliche Metropole. Dort gab es ein Amerika-Haus, dessen Veranstaltungen und Bibliothek jedermann kostenlos zugänglich waren. Ich nutzte es weidlich, manchmal täglich. Geleitet nur von den Bestimmungen des Jugendschutzes und der 175
Bibliotheksordnung, lernte ich gleichwohl, wie mir später klar wurde, große Werke der amerikanischen Literatur kennen. Vor allen anderen tat es mir Thomas Wolfe an … Ich las aber nicht nur Romane, sondern berauschte mich auch an den zahlreichen mit schönsten Fotografien wunderbar ausgestatteten Bänden über moderne Architektur. Dazu kamen die im Lesesälchen ausliegenden Zeitschriften «Life», «Look» und «Seventeen». Wer wäre ich geworden, hätte ich hier nicht Stil, Eleganz und Schönheit oder doch wenigstens das stete Verlangen nach ihnen gelernt? Ich habe etwas weiter ausgeholt, nicht um mich als Musterkind und Streberin zu empfehlen, was ich natürlich auch war, sondern ganz im Gegenteil, weil ich mir der Singularität meiner Entwicklung überdeutlich bewusst bin. Die Zeitumstände waren meiner soziokulturell wertvollen Lesesucht äußerst günstig. Es gab kein Fernsehen, und für schlechte Kinder- und Mädchenbücher sowie fürs Kino fehlte es mir an Geld und Gelegenheit. Für Popmusik war man auf den Sender AFN angewiesen, den man aber nur nachmittags hören konnte, während man Schularbeiten machte. Später bestimmten die Eltern das Programm, das aus dem riesigen, kostbaren Apparat drang. Andererseits haben meine drei Geschwister, in derselben Situation wie ich, das Lesen nicht als Ausweg eingeschlagen. Tüchtig und erfolgreich im Leben, haben sie offenbar das Bedürfnis nach Steigerung, Tiefenschärfe und Prägnanz nicht empfunden, das ich von klein auf in Büchern aller Art befriedigt und in die Wirklichkeit übertragen habe. Man kann es auf Bahnreisen gut beobachten, dass ein Leben ohne Bücher und den Horizont, den Lektüre eröffnet, in einer Langeweile versinkt, die von Depression fast nicht zu unterscheiden ist. Im ICE zwischen Berlin 176
und Frankfurt zum Beispiel ist der echte Leser nie in der peinlichen Lage, die Zeit irgendwie totschlagen zu müssen, vielleicht sogar mit einem schnell noch im Bahnhof erworbenen Bestseller … Selbst wenn er nicht liest, kann er die Gespräche seiner Nachbarn wie Literatur hören, wie einen Text interpretieren; denn er verfügt über Konzepte und Hypothesen, die das dumme, blinde, bestenfalls triviale Leben durchsichtig und unterhaltsam machen. Dass man das Leben am besten aus Büchern lernt, und zwar von Kindesbeinen an, ist also kein Scherz. Andererseits muss man sich vor dem Fehler hüten, die sozialen Nebenwirkungen des Lesens mit moralischer Besserstellung in eins zu setzen. Zu meiner erstklassigen Schulkarriere hat meine Lesesucht natürlich viel, eigentlich alles beigetragen. Ob dieser oder jeder andere wünschenswerte Effekt vom Ende her betrachtet das Lesen von Büchern von vornherein zu funktionalisieren erlaubt, ist mir aber zweifelhaft. Gerade wenn das Lesen so furchtbar wichtig ist, wie die PISA-Studie jüngst wieder bekräftigt hat, darf man es mit pädagogischen Zielsetzungen nicht instrumentalisieren und um das Element der Freiheit betrügen, das ihm seinen eigentlichen Wert verleiht. Wer zum Lesen verführen will, sollte Materialist sein, kein Pädagoge, kein Psychologe. Kindern soll vorgelesen, ihnen sollen Bücher aller Art geschenkt werden, und Bibliotheken jeden Typs sollte man großzügigst subventionieren. Nach dieser erneuten Abschweifung nun endlich zum Thema. Bücher, die mein Leben prägten, gibt es viele, wie bei einer Lesesüchtigen zu erwarten. Nehme ich eines heraus, das die angedeuteten Probleme einer Leserförderung ebenso illustriert wie das Glück der Leserin, die ich damals war. 1955 war ich vierzehn Jahre 177
alt. Ich wurde konfirmiert, wenige Wochen ehe die «documenta I» in Kassel, ausgerechnet in Kassel, wohin es meine Eltern verschlagen hatte, stattfand. Dass die «documenta» und die «klassische Moderne», die sie verspätet dem deutschen Publikum präsentierte, in der Stadt umstritten war, das wäre noch eine Untertreibung. Ich allerdings war Feuer und Flamme und gut vorbereitet nach der Lektüre von «Knaurs Lexikon moderner Kunst», das ich mir, zur Verwunderung meiner Umgebung, ausdrücklich zur Konfirmation hatte schenken lassen. Beeinflusst hatten diesen Wunsch mehrere Leute. Ich hatte mich in Modigliani, seine eleganten Akte und seine Person per Distanz, aber sehr ernsthaft verliebt, nicht weniger als in Thomas Wolfe … Diesmal nicht im Amerika-Haus, sondern bei der Lektüre von «ParisMatch», die mir ein Berliner Onkel in Packen zukommen ließ. Eigentlich nicht mir, sondern der Familie – aber ich las sie und saugte, im Unterschied zu allen anderen, Honig aus dieser Illustrierten mit farbigen Abbildungen, die ich im Fall von Modigliani natürlich ausschnitt und konservierte! Außerdem lernte ich Französisch und begann, mich nach Paris zu sehnen. Auch hatte ich einen Kunstlehrer, der kein Pädagoge war, sondern ein Maler, der aus Geldgründen unterrichtete. Er fertigte in der Schule ein Fresko im Stil der fünfziger Jahre – klassizistisch reduzierte Figuren –, das er mit uns, das heißt mit mir und zwei anderen, zu diskutieren suchte. Dann ließ er mich in seinen Volkshochschulkurs vorladen und Modell sitzen. Außerdem zog er mich heran, um die Ausstellungskästen im Schulflur zu dekorieren, und beobachtete mich mehr, als dass er mich anleitete. Die Devise damals hieß: «Schräg ist modern!» Der Töpferkurs, den ich anderswo besuchte, beförderte diese Überzeugung. Na, und so 178
weiter. Nun studierte ich von der ersten bis zur letzten Seite auch noch «Knaurs Lexikon moderner Kunst». Auch heute noch besitzen Bücher für mich eine klare und eindeutige Autorität, anders als Menschen, an denen ich leichter zweifle, weil sie einen ja immer in vieldeutige Situationen verwickeln, aus denen man schlecht herausfindet. Meine Parteinahme für die «documenta» (dass so viele noch folgen würden, ahnte damals keiner) und gegen die Stadt und die Erwachsenen meiner Umgebung hatte natürlich auch Gründe, die im Pubertätsalter lagen. Bei mir allerdings kein Wahnsinn, nichts, das Erwachsene mit gütiger Herablassung und Verständnis aus der Hinterhand hätten relativieren können. Nein, es ging darum, was man vor Paul Klees Schrank sehen und empfinden konnte. Mit meinem Lexikon-Wissen trotzte ich allen und jedem und lief, sonst ein gelehriges junges Ding, zum Revoluzzertum auf. Was mir, noch vor der «documenta», mein Lexikon so lieb und teuer machte, waren die 321 «meist farbigen Abbildungen». Man kann es sich heute wohl kaum noch vorstellen, welch primitiver, brutaler Bilderhunger einen jungen Menschen damals antrieb. Ein richtiges Kunstbuch hatte ich bis dahin nicht besessen, und schon gar keines mit so vielen bunten Bildern, klein wie eine Briefmarke oft, aber in der Masse und Menge einfach überwältigend! Und dann las ich unter den völlig neuen Namen der Maler, der Kunstrichtungen und Händler Geschichten aus einer Welt, die von der Angestelltenwelt meines Vaters und dem Hausfrauenleben meiner Mutter so herrlich und unendlich weit entfernt waren. Auch von dem praktischen und pragmatischen Denken, das hier favorisiert wurde und das mich, ohne die Hilfe des Lexikons, in die traurige Laufbahn eines Sparkassenlehrlings getrieben hätte. Auch 179
eine Lehre als Substitut im Kaufhaus wurde erörtert … Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich habe gar nichts gegen eine Karriere im Bank- oder Dienstleistungsgewerbe. Aber für diese wie für jede andere Option braucht es einen gewissen Schwung, ein Motiv und nicht bloß Praxis und Pragmatik. Um den ängstlichen Angestelltenhorizont meiner Familie zu transzendieren, musste ich viele Texte wie diesen hier lesen: «José Gutierrez Solana wurde 1885 in Madrid geboren; er starb dort 1945. Einer heruntergekommenen Familie aus Santander entstammend, aus der durch viele Heiraten unter Blutsverwandten eine Reihe von Menschen mit außerordentlicher Sensibilität und exzentrischem Charakter hervorgegangen war, begann Solana ohne Anleitung schon sehr früh zu malen …» Was, so denke ich mich heute als Leserin zurück, ist einem jungen Menschen aus schlechten Verhältnissen alles möglich? Und wie muss ich unordentliche Verhältnisse in meiner Umgebung einschätzen, wenn Exzentrik der Nährboden des Genies sein kann? Viele, ja, eigentlich die meisten Künstler und Kunstschulen, die in «Knaurs Lexikon der modernen Kunst» vorkommen, hat es nach Paris gezogen. Auch Leo und Gertrude Stein, aus Pittsburgh gebürtig, haben ihr richtiges Leben in Paris verbracht: «Nach dem Universitätsstudium kamen sie um 1900 nach Paris und richteten sich in der Rue de Fleurus 27 ein. Dichter, Philosophen und Künstler der Avantgarde wurden bald ihre Freunde …» Aus solchen Erzählungen habe ich vermutlich gelernt, dass man den Spruch «Bleibe im Land und nähre dich redlich» möglichst schnell vergessen soll. Irgendwo gibt es Orte, Städte, Länder, auf die man Hoffnungen projizieren kann. Wer weiter gehen und in Bewegung bleiben will, braucht Erzählungen, wie er sie manchmal im Leben, öfter aber in Büchern findet. Das 180
Lexikon ist auch schuld daran, dass ich meine erste selbständige Reise als Tramp nach Paris gemacht habe. Wohin sonst? Dem Lexikon verdanke ich auch den Aufstand gegen die Erwachsenen. Mein Vater ließ sich von meiner informierten Beredsamkeit gern beeindrucken. Persönlich war er zwar der Meinung, dass viele Bilder auf der «documenta» (die er sogar besucht hatte) wie vom Affen gemalt aussahen. Andererseits wollte er mich, die kleine Vierzehnjährige, mit seiner Autorität nicht erschrecken und fertig machen. Einen harten Kampf hatte ich dagegen mit der Mutter meiner liebsten Freundin Karin zu absolvieren. Heute kommt es mir so vor, als hätten wir nicht um Klee, Arp oder Winter gestritten, sondern um Karin und die Erziehungshoheit, die die Mutter zu Unrecht beanspruchte. Jedenfalls warf ich mich für die moderne Kunst und die «documenta» mit einem Mut ins Zeug, den ich einzig und allein dem Lexikon verdankte. Es hatte mich so schlau gemacht, dass es zu einem schlichten hormongesteuerten Generationskonflikt, den irgendjemand entsprechend relativieren konnte, damals oder heute, nicht kam. Erst jetzt, wo ich «Knaurs Lexikon moderner Kunst» wieder in die Hand genommen und genauer betrachtet habe, fiel mir auf, welche berühmten Leute an ihm mitgewirkt haben. Bei meinem Konfirmationsgeschenk handelt es sich um die Bearbeitung eines französischen Bandes durch Lothar-Günther Buchheim. Zu den Mitarbeitern zählen Seuphor und Soupault, unter anderen! 47 Jahre später zu erfahren, dass ein Buch, dem man vielleicht lebenswichtige Motive verdankt, von honorigen Experten geschrieben wurde, von denen man damals keine Ahnung hatte, das hat was. Blamiert habe ich mich mit diesem Konfirmationsgeschenk jedenfalls nicht. 181
OLIVER SACKS Heilige Neugier Seit jeher neige ich zu einer Art Heldenverehrung – leidenschaftlicher Bewunderung, die gelegentlich eine fast persönliche Färbung annimmt, so wie Darwin von Humboldt sagte: «Einst habe ich ihn bewundert, jetzt verehre ich ihn fast.» Meine Helden sind – und waren stets – Wissenschaftler und Naturforscher. In meiner biologischen Phase teilte ich Darwins Gefühle für Humboldt, doch davor, als meine große Liebe der Chemie gehörte, waren meine Helden Robert Boyle und Humphry Davy, die ich mir leidenschaftlich, impulsiv, ausgelassen und, selbst als Erwachsene noch, jungenhaft vorstellte. Daher finden beide besondere Berücksichtigung in meinem Erinnerungsbuch Onkel Wolfram. Als ich – im jugendlichen Alter – mein Labor einrichtete und eigene Experimente durchzuführen begann, wollte ich mehr über die Geschichte der Chemie wissen, herausfinden, was Chemiker taten, wie sie dachten, wie die Atmosphäre in früheren Jahrhunderten gewesen war. Mich faszinierte seit jeher unsere Familie und der verzweigte Familienstammbaum – die Geschichten der Onkel, die nach Südafrika gegangen waren, oder des Mannes, der sie alle gezeugt hatte. Der erste Vorfahr mütterlicherseits, von dem es Kunde gab, sei ein Rabbi mit alchimistischen Neigungen gewesen, hieß es, ein gewisser Lazar Weiskopf, der im 17. Jahrhundert in Lübeck gelebt habe. Vielleicht gab dies den Anstoß zu 182
einem gründlicheren Geschichtsinteresse, möglicherweise auch zu der Neigung, sie aus familiärem Blickwinkel zu sehen. So wurden die Wissenschaftler, die frühen Chemiker, von denen ich las, in gewissem Sinn zu Vorfahren ehrenhalber, zu Menschen, mit denen ich in einer Art imaginären Verbindung stand. Ich musste verstehen, wie diese frühen Chemiker dachten, um mich in ihre Welt hineinzuphantasieren. Als echte Wissenschaft, so las ich, wurde die Chemie Mitte des 17. Jahrhunderts von Robert Boyle aus der Taufe gehoben. Zwanzig Jahre älter als Newton, wurde Boyle in einer Zeit geboren, die noch von der Alchimie geprägt war, so bewahrte er neben seinen wissenschaftlichen noch eine Vielzahl alchimistischer Überzeugungen und Praktiken. Er glaubte, dass man Gold herstellen könne, ja, dass es ihm sogar schon gelungen sei (Newton, ebenfalls ein Alchimist, riet ihm, nichts darüber verlauten zu lassen). Boyle war ein Mann von maßloser Neugier (von «heiliger Neugier», um mit Einstein zu sprechen), denn alle Wunder der Natur kündeten ihm von der Herrlichkeit Gottes. Es bewog ihn, eine Vielzahl von Erscheinungen zu untersuchen. Er untersuchte Kristalle und ihre Struktur und entdeckte als Erster ihre Spaltungsebenen. Er analysierte Farben und schrieb ein Buch darüber, das Newton beeinflusste. Er entwickelte den ersten chemischen Indikator, ein mit Veilchensirup gesättigtes Papier, das unter Einwirkung einer sauren Lösung rot, einer alkalischen grün wurde. Er schrieb das erste Buch englischer Sprache über Elektrizität. Er gewann Wasserstoff, ohne dass es ihm bewusst wurde, indem er Eisennägel in Schwefelsäure legte. Er beobachtete, dass sich die meisten Flüssigkeiten zusammenzogen, wenn sie gefroren, Wasser hingegen sich ausdehnte. Er demonstrierte eine Gasentwicklung (später 183
stellte sich heraus, dass es Kohlendioxid war), wenn man Essig über zu Pulver zerstoßene Korallen goss, und dass Fliegen in dieser «künstlichen Luft» sterben. Er erforschte die Eigenschaften des Blutes und interessierte sich für die Möglichkeiten der Bluttransfusion. Er experimentierte mit der Wahrnehmung von Geruch und Geschmack. Er beschrieb als Erster semipermeable Membranen. Und er lieferte die erste Fallgeschichte einer erworbenen Achromatopsie, einer totalen Farbenblindheit nach einer Hirninfektion. Alle diese Untersuchungen und noch viele andere mehr beschrieb er in einer sehr schlichten und klaren Sprache, die sich wohltuend von der geheimnisvollen, dunklen Ausdrucksweise der Alchimisten unterschied. Jeder konnte ihn lesen und seine Experimente wiederholen. Er stand für die Offenheit der Wissenschaft, im Gegensatz zur verwehrten, hermetischen Geheimniskrämerei der Alchimisten. Trotz seiner universellen Interessen schien die Chemie einen besonderen Reiz auf ihn auszuüben (schon in seiner Jugend nannte er sein chemisches Labor «eine Art von Elysium»). Vor allem wollte er die Beschaffenheit der Materie verstehen, so schrieb er sein berühmtestes Buch, Der skeptische Chemiker, um die mystische Doktrin von den vier Elementen zu widerlegen und das enorme, jahrhundertealte Wissen der Alchimie und Pharmazeutik mit der neuen aufgeklärten Vernunft seiner Zeit zu vereinigen. Die Alten erklärten die Welt durch vier Grundprinzipien oder Elemente – Erde, Luft, Feuer und Wasser. Ich glaube, als Fünfjähriger hatte ich weitgehend die gleichen Kategorien (obwohl die Metalle eine besondere, fünfte Kategorie für mich bildeten). Weniger leicht fand ich es, mir die drei Prinzipien der Alchimisten vorzustellen: 184
Sulfur (das Brennende), Sal (das Feste), Merkur (das Flüchtige); wobei «Sulfur» und «Merkur» und «Sal» nicht etwa die gewöhnlichen Stoffe Schwefel, Quecksilber und Salz meinten, sondern «philosophisch» zu verstehen waren: Quecksilber verlieh einem Stoff Glanz und Härte, Schwefel Farbe und Entflammbarkeit, Salz Festigkeit und Feuerbeständigkeit. Boyle hoffte, diese alten, mystischen Begriffe der Elemente und Prinzipien durch rationale und empirische ersetzen und die erste moderne Definition eines Elements liefern zu können: «Ich verstehe hier unter Elementen … gewisse primitive und einfache oder vollkommen unvermischte Körper, die nicht aus irgendwelchen anderen oder aus einander zusammengesetzt sind, sondern die die Bestandteile sind, aus denen die so genannten vollkommen gemischten Körper unmittelbar bestehen und in die sie sich letztlich auch wieder zerlegen lassen.» Doch da er keine Beispiele für solche «Elemente» lieferte und nicht beschrieb, wie sich ihre «Unvermischtheit» nachweisen ließ, erschien seine Definition zu abstrakt, um nützlich zu sein. Zwar fand ich den Skeptischen Chemiker unlesbar, großes Vergnügen bereitete mir jedoch Boyles 1660 erschienene Schrift New Experiments. Hier beschrieb er mit großer Lebhaftigkeit und persönlichen Anmerkungen mehr als vierzig Experimente rund um seine «Pneumatische Maschine» (eine Luftpumpe, die sein Assistent Robert Hooke erfunden hatte), mit der er die Luft aus einem geschlossenen Behälter weitgehend abziehen konnte. In diesen Experimenten räumte Boyle gründlich mit der alten Vorstellung auf, die Luft sei ein ätherisches, alles durchdringendes Medium. Er wies nach, dass sie ein materieller Stoff mit eigenen physikalischen und chemischen Eigenschaften war und sich 185
komprimieren, verdünnen und sogar wiegen ließ. Als Boyle die Luft aus einem geschlossenen Gefäß mit einer brennenden Kerze oder einem glühenden Kohlestück abzog, stellte er fest, dass sie zu brennen aufhörten, sobald die Luft dünner wurde, und dass die Kohle wieder zu glühen anfing, wenn abermals Luft ins Gefäß eingelassen wurde – sie war für die Verbrennung also notwendig. Boyle zeigte weiterhin, dass verschiedene Lebewesen – Insekten, Vögel und Mäuse – unter starken Beeinträchtigungen litten oder starben, wenn er den Luftdruck verringerte, manchmal aber auch wieder zu Kräften kamen, wenn er erneut Luft in den Behälter führte. Er war beeindruckt von dieser Ähnlichkeit zwischen Verbrennung und Atmung. Er untersuchte, ob eine Glocke durch ein Vakuum hindurch zu hören wäre (war sie nicht), ob ein Magnet seine Kraft durch ein Vakuum hindurch ausüben könnte (konnte er), ob Insekten in einem Vakuum zu fliegen vermöchten (ließ sich nicht beurteilen, weil die Insekten bei Verringerung des Luftdrucks «in Ohnmacht fielen») und wie sich der verringerte Luftdruck auf das Glühen von Glühwürmchen auswirkte (sie glühten weniger hell). Ich las die Berichte über diese Experimente mit großer Begeisterung und versuchte, einige zu wiederholen – unser Staubsauger war ein guter Ersatz für Boyles Luftpumpe. Mir gefiel auch der spielerische Charakter des ganzen Buchs, der sich grundlegend von den philosophischen Dialogen im Skeptischen Chemiker unterschied. (Tatsächlich war sich Boyle selbst dieses Unterschieds durchaus bewusst: «Ich verschmähe nicht, sogar scheinbar lachhafte Experimente zur Kenntnis zu nehmen, und denke, dass die Spiele von Jungen manchmal das Interesse der Philosophen durchaus verdienen.») Boyles Persönlichkeit sagte mir ebenso zu wie seine 186
unstillbare Neugier, seine Vorliebe für Anekdoten und seine gelegentlichen Wortspiele (etwa wenn er schrieb, er habe lieber mit luziferischen – luciferous – als lukrativen – lucriferous – Dingen gearbeitet). Trotz der drei Jahrhunderte, die zwischen uns lagen, konnte ich ihn mir als Person vorstellen – als eine Person, die ich gemocht hätte.
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SAID das schweigen des meeres im oktober 1995 machte ich eine lesereise durch frankreich, auf einladung vom goethe-institut. letzte Station war lyon. noch bevor der leiter des instituts mich vorstellt, geht die tür auf und pipon tritt ein, mein alter französischer freund, ich habe ihn drei jähre lang nicht gesehen und vermutete ihn in brüssel. denn er hat den militärdienst verweigert und durfte deshalb seit jähren nicht nach frankreich zurückkehren, da ihn sonst eine haftstrafe erwartet hätte. nach der lesung gehen wir in der abendstunde spazieren, pipon erzählt mir, die regierung mitterrands habe eine amnestie für alle militärdienstverweigerer angeordnet, so konnte auch er endlich zurückkehren; nach elf jähren. in der altstadt sind noch einige geschäfte offen, wir kommen an einem antiquariat vorbei, mit einem geschmackvoll eingerichteten Schaufenster, die buchhändlerin zeigt mir die ecke mit deutschen büchern. ich kaufe eine schöne und einfache ausgäbe von Schillers «Jungfrau von Orleans», zweisprachig, dann stoße ich auf die bücher vom verlag éditions de minuit. ich frage, ob pipon «das schweigen des meeres» kenne, von vercors. er kennt das buch nicht, ich erzähle ihm die geschichte dieses buches und meiner liaison mit ihm. vercors, eigentlich jean bruller (1902-1994), hat sich vor dem zweiten weitkrieg als graphiker und buchillustrator einen namen gemacht, nach dem einfall der nazis zieht er sich in die stille zurück und arbeitet als tischlergeselle in einem kleinen dorf. dann schreibt er die novelle «das schweigen des meeres» – unter dem pseudonym vercors, dem namen einer provinz in 188
frankreich. er gründet eigens hierfür in der résistance éditions de minuit, in dem als erste Veröffentlichung seine novelle erscheint, das startkapital beträgt 3000 franken, gedruckt wird dieses werk in einer druckerei, die trauerkarten herstellt. die arbeit geht mit immensen Schwierigkeiten vor sich. das blei zum gießen der lettern wird unter großen gefahren in den kleinen laden gebracht. dort wird jede seite einzeln gesetzt, korrigiert, abgezogen, das blei wird umgegossen, und es geht an die nächste seite. vor dem schaufenster patrouillieren deutsche Soldaten. endlich, am 22. februar 1942, sind alle selten gedruckt. die bogen werden über die Zwischenstation einer gastwirtschaft in die wohnung einer Jugendfreundin von vercors gebracht, dort broschiert und zum versand fertig gemacht. jean bruller hat im laufe dieser zeit so viele Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, sich so viele falsche namen zugelegt (vercors, driew, desvignes … ), dass nicht einmal seine eigene frau weiß, wer vercors ist. «das einzige wirklich bewahrte geheimnis in diesem krieg», schreibt später aragon. es folgen werke von françois mauriac, unter dem pseudonym forez, und louis aragon, unter dem pseudonym françoise la colère – zorn. heute ist éditions de minuit einer der angesehenen französischen verlage. erst nach dem krieg lüftet vercors sein geheimnis. in den fünfziger jähren dreht jean-pierre melville, der bis dahin nur dokumentarfilme machte, nach dieser novelle seinen ersten Spielfilm. ende der fünfziger Jahre, während des algerienkrieges, wirft vercors in einem protestakt seine tapferkeitsmedaille légion d’honneur – die er für seine Verdienste im widerstand bekommen hatte – auf die treppen des élyséepalastes und schreit hinterher: «ich habe nicht gekämpft, damit ihr foltern könnt.» ich lese «das schweigen des meeres» zum ersten mal als vierzehnjähriger, auf persisch – 1961 in teheran. ein halbwüchsiger, der mit einer unausgegorenen 189
Wut auf die diktatur sich aufmacht, die freiheit zu suchen, anfang der sechziger jähre ist es gefährlich, in teheran unter der Schahdiktatur nach freiheit zu suchen, es bleibt die suche nach ihren spuren: nach büchern. die werke der iranischen autoren, die von freiheit schreiben, sind verboten, sie selbst sitzen in den gefängnissen, sofern sie noch leben und nicht emigriert sind, so sucht der halbwüchsige nach büchern europäischer schriftsteller. doch auch die europäer sind von der zensur des diktators nicht verschont geblieben, der vierzehnjährige riskiert, vom geheimdienst beobachtet oder gar festgenommen zu werden, nur der bücher wegen; ohne auch nur zu wissen, was er suchen soll. aber die fliegenden buchhändler vor der Universität von teheran verstehen ihr handwerk und erkennen die durstigen sucher – auch sie riskieren einiges. ihnen verdankt der halbwüchsige seine schätze: «die gerechten» von albert camus, «die mauer» von jean-paul sartre, «rot und schwarz» von Stendhal, «die mutter» von maxim gorki, und natürlich «das schweigen des meeres». das buch ist 1944 in teheran erschienen, der Übersetzer, ein namhafter intellektueller, der während des krieges in frankreich lebt, besorgt sich eine der ausgaben von der résistance und bringt es nach teheran. der halbwüchsige weiß nicht um diese bücher. aber der fliegende buchhändler, der sich nach vielen blickkontakten und einigen kurzen Wortwechseln überzeugt hat, dass ich kein spitzel bin, verkauft sie mir. und der ambulante aufklärer ermahnt mich, das buch gut zu verstecken und nach der lektüre zurückzubringen; er kaufe es mir wieder ab. so rennt der halbwüchsige nach hause, vercors unter dem hemd versteckt, während er den gesamten geheimdienst auf seinen fersen vermutet; kennt er doch einige, die wegen eines dieser bücher bis zu zwei jähren im gefängnis waren. zu hause angelangt, fiebert er der abendstunde entgegen, 190
um dann in den schwülen nächten teherans ins bett zu gehen, mit vercors. dann liest er mit geballter faust seinen europäer. und der halbwüchsige hört nicht auf seinen buchhändler und behält das buch für sich. dieses buch habe ich damals, 1965, als einziges buch mit nach deutschland genommen und besitze es heute noch; das buch ist mein ältester besitz und drei jähre älter als ich. erst 1975, nach zehn jahren aufenthalt in deutschland, bekomme ich eine deutsche ausgabe, antiquarisch. seither habe ich diverse ausgaben und verschiedene Übersetzungen dieses buches gesehen, gekauft, gelesen und verschenkt, die erste deutsche ausgabe übrigens erscheint 1946 in karlsruhe in der französisch besetzten zone – der verantwortliche französische kulturkommissar heißt manès sperber. pipon kennt jetzt meine geschichte, aber nicht das buch. die geschichte jener stillen begegnung zweier französischer patrioten mit einem gebildeten deutschen offizier, der frankreichs kultur verehrt und retten will, bis er einsieht, dass die nazis diese kultur nur vernichten wollen, die buchhändlerin hat keine ausgabe vorrätig, ich verspreche pipon, ihm die deutsche ausgabe zu besorgen, er wehrt ab und sagt, er werde seine mutter fragen, die sehr belesen ist. am 26. dezember 1995 erzählt mir pipon seine geschichte mit vercors. drei tage nach meiner abreise von lyon fragt er seine mutter, ob sie das buch kenne, die mutter bringt aus einem verschlossenen schrank zwei schulhefte aus der kriegszeit und legt sie pipon vor. sie habe im krieg, heimlich, «das schweigen des meeres» in diese hefte abgeschrieben; als vorlage habe die abschrift einer freundin gedient, die wiederum von jemand anderem abgeschrieben habe – dies alles unter den augen des feindes.
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HANS JOACHIM SCHÄDLICH «Unterst Stuf von menschliche Geschlecht» Über Georg Büchners «Woyzeck» Franz Woyzeck ist Soldat und Gelegenheitsarbeiter. Er tut seinen militärischen Dienst, er ist Bursche seines Hauptmanns, und er ist medizinisches Versuchs- und Demonstrationsobjekt des Doktors. Marie ist Woyzecks Geliebte; sie hat ein Kind von Woyzeck. Marie fängt ein Verhältnis mit dem Tambourmajor an. Woyzeck kauft sich ein Messer und ersticht Marie. Woyzeck wird vor Gericht gestellt. Büchner hat 1836/37 an seinem «Woyzeck» gearbeitet. Was verbarg sich für mich Ende der fünfziger Jahre hinter der Geschichte von Franz Woyzeck? Ich hätte mich auf der Suche nach Antwort verschiedener germanistischer Untersuchungen bedienen können. Aber ich wollte nur durch den Text unterrichtet werden. Den nächsten Zugang bot der sprachliche Ausdruck auf der «unterst Stuf». Woyzeck, Marie, Andres (und der Marktschreier, die Handwerksburschen, der Kramhändler etc.) – sie sprechen anders als der Hauptmann und der Doktor. Fast erschien es mir, als äußerten die Unteren nur sprachliche Bruchstücke, geradezu adäquate Ausdrücke gebrochenen Lebens. Dagegen die Oberen: Sie herrschen auf ihre Weise im sprachlichen Ausdrucksgebiet und erweisen auch solcherart ihre Herrschaft über die Unteren. 192
Sprachlicher Ausdruck als Reflex der Lebensumstände, die eine unsagbare Kluft zwischen Woyzeck und seinen Oberen auftun. Woyzeck ist grausam arm; um seinen Sold aufzubessern, verdingt er sich als Versuchsobjekt des Doktors für zwei Groschen pro Tag. Er darf drei Monate lang nur Erbsen essen. Der Doktor untersucht Woyzecks Urin: «Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul», und er macht Woyzeck Vorwürfe, weil der «auf die Straß gepißt» hat, «an die Wand gepißt wie ein Hund. Und doch zwei Groschen täglich.» Woyzeck am Rand der Psychose. In den Worten Maries: «Der Mann! So vergeistert.» Ständig jagt Woyzeck zwischen seinen Beschäftigungen hin und her, kaum einmal findet er Ruhe. Schnelle, kräfteverzehrende Bewegungen im Kreis. Dafür wird er vom Hauptmann noch verhöhnt: «Woyzeck Er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch tut das nicht.» Vor dem Doktor beruft Woyzeck sich auf die «Natur»: «Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt». Der Doktor verweist Woyzeck auf die «Freiheit»: «Den Harn nicht halten können!» «Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit.» Als Leipziger Student in den fünfziger Jahren war ich mit dem «marxistisch-leninistischen Freiheitsbegriff» traktiert worden, der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit bestimmt. Angesichts der offiziell als notwendig erklärten Niederschlagung der Arbeiteraufstände am 17. Juni 1953 in der DDR und im Herbst 1956 in Ungarn wollte es mir nahe liegen, eine Verbindung zu suchen zwischen der Verhöhnung Woyzecks durch den Doktor («… der Mensch ist frei …») 193
und der Verhöhnung der besiegten Aufständischen von 1953 und 1956, deren Freiheit darin bestehen sollte, Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Unfreiheit zu zeigen. Eine andere Verbindungslinie mochte gezogen werden zwischen dem Menschenversuch an Woyzeck in der Praxis des Doktors und dem Menschenversuch an ganzen Bevölkerungen in der Menschenversuchsanstalt «Sozialismus». Was bleibt Woyzeck? Marie. Aber Marie kehrt sich von Woyzeck ab, der so «vergeistert» und «hirnwütig» ist, und wendet sich dem ansehnlichen Tambourmajor zu («Über die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Löw»). So ist Woyzeck das Einzige genommen, das ihm geblieben war, und er redet vor wütender Eifersucht in der Sprache seiner Oberen von der «Sünde», ja von der «Todsünde» Maries. Mit Woyzecks Mord an Marie wird ein anderes Opfer elender Lebensumstände zum Opfer des Opfers Woyzeck. Der Leipziger Student liebte die herzbewegende Radikalität Büchners. Der «Woyzeck» erweckte zugleich Mitleid und Widerstandsgeist. Mitleid mit jenen, die auf der «unterst Stuf von menschliche Geschlecht» stehen; Widerstandsgeist gegen die, denen der Mensch nur Arbeitsvieh und Versuchstier ist.
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WOLFGANG SCHMIDBAUER Tolle lege Das ist Latein, ein doppelter Imperativ, «nimm und lies!», eine himmlische Stimme soll’s dem Augustinus eingegeben haben, ehe er ein heiliger Bischof und Kirchenvater war – dadurch aber ist er’s geworden, er nahm und las, und es war – Engel irren sich nie – genau das richtige Buch, die Heilige Schrift. Der Engel, der mir das Lesen beigebracht hat, war meine Mutter. Dass sie sich nie irrte, kann ich nicht sagen, aber sie hat es vorwiegend gut gemeint und, was das Lesen angeht, auch gut gemacht, ich lese gerne und relativ viel, bis heute. Aber nie hätte ich daran gedacht, dass ich irgendwann vor der Aufgabe stehe, zu beschreiben, welches gelesene Buch mein Leben so verändert hat, dass ich sozusagen vom Leser zum (Ver-)führer werden mag, der andere dazu bringt, ihm Nachlese zu halten. Mir ergeht es angesichts der Aufgabe wie dem Hai, der einen Schwarm Fische verfolgt: den Schwarm erwischt er nicht, weil dieser zu groß ist für seine Kiefer, den einzelnen Fisch, den er schnappen könnte, fasst er nicht, weil der Schwarm seine Orientierung verwirrt. Bücher sind für mich immer viele, die sich widersprechen. Es widerstrebt mir, mich auf eines festzulegen, und ehe ich diesen Widerstand übergehe, analysiere ich ihn lieber, das ist schließlich – neben dem Schreiben – mein zweiter Beruf. «Bücher lesen» ist etwas, das in mir so früh entstanden ist, dass ich mich in diesem Punkt gar nicht mehr an den 195
Analphabeten erinnere, der ich doch auch einmal gewesen sein muss. Ich sehe noch manche Buchstaben aus der Fibel vor mir, die ich 1947 in Stammham erblätterte; damals lernte man noch Buchstabe für Buchstabe, und jeder Buchstabe war ein lustiges Bild, das H beispielsweise ein Reck, an dem jemand turnte. Den Vorgang, in dem die einzelnen Buchstaben zusammengesetzt werden, erfasst meine Erinnerung nicht. Er soll, so lernte ich später, recht kompliziert sein, weshalb man zur Zeit meiner Studien in Pädagogik und Psychologie längst zur Ganzwortmethode übergegangen war. In den Fibeln meiner eigenen Kinder standen von Anfang an ganze Sätze – etwa tra ri ra, der Kasperl der ist da. Über die guten psychologischen Gründe für diese Umstellung habe ich einige Bücher gelesen und vergessen. Mir ist bis heute das Lernen Buchstabe für Buchstabe sympathischer. Plötzlich bildet sich daraus der Sinn des ganzen Wortes, es ist eine Überraschung, eine Entdeckung. So sollte doch auch das Lesen sein. Das Buch lockt uns auf einen Weg. Zu Beginn nutzt es das Vertraute – diese immer gleichen Buchstaben und Wörter –, trügerisch und verheißungsvoll, um uns zum Unvertrauten, zum Neuen, zum Noch-nicht-so-Gedachten zu führen. Ein Buch, das wäre die Bibel, der Koran, oder etwas, das diese heiligen, einzigen «Testamente» ersetzt. «Bücher lesen» ist in meiner Erinnerung viel älter. Ich probiere erst dieses, dann jenes, halte mich an Bildern fest – Wilhelm Busch gab es viel in der Bibliothek meines Großvaters mütterlicherseits, aber auch andere illustrierte Bände, in dem immer ein wenig sadistischen Humor der Simplicissimus-Zeit. Mein Großvater ist ein Büchernarr, Büchersammler, ein fanatischer Leser, schwer traumatisiert durch den Ersten Weltkrieg, ein beamteter Jurist, dessen eigentliches Leben 196
nach Feierabend in der größten Privatbibliothek von Passau beginnt, wo er akribisch katalogisiert, vergleicht, Klassikerzitate prüft, die Reclambändchen eigenhändig in marmorierten Karton mit blauem Leinenrücken bindet. Gegen diese Lese- und Gedankenschwere, diesen Zwang, in dem Bücher keine Gefährten, sondern Kostbarkeiten waren, mobilisierte ich kindlichen Trotz. Die Bibliothek des Opas war mir zu schwer und zu ernst. Sein Abenteuerlichstes, nach einigem Suchen in der zweiten Reihe entdeckt und dem Enkel nur im Zeitungspapiereinband ausgehändigt («mach keine Eselsohren») war Gerstäcker, die Regulatoren von Arkansas. So bevorzugte ich die Pfarr-, Stadt- und schließlich die Leihbücherei im Amerika-Haus. Dort gab es Karl May, den unermüdlichen Hochstapler, der in seinen wirren Alterswerken alle seine schönen Geschichten aus dem Wilden Westen und dem malerischen Orient als Bruchstücke einer großen hochmoralischen Vision von «Ardistan und Dschinnistan» ausgab, im «silbernen Löwen» bleischwer unter seiner Bedeutungslast. In den kleinen Büchereien fand ich bald nichts mehr, was mich interessierte, aber der amerikanische Beitrag zur Umerziehung der Deutschen war schier unerschöpflich. Die später «europäisch» genannte Bibliothek am Innkai in Passau blieb für den Zehn- bis Fünfzehnjährigen, was Alaska für Jack London war und die Schatzinsel für Robert Louis Stevenson. Meine Mutter schenkte mir die Fahrkarte. Sie unterschrieb einen Zettel, wonach sie es befürworte, mir – da ich der Kinder- und Jugendabteilung längst müde war – die (Bücher-)Welt der Erwachsenen zugänglich zu machen. So trug ich zwischen zehn und fünfzehn Jahren jede Woche fünf bis sechs Bände nach Hause, eine bunte Mischung aus Naturkunde und Romanen über die 197
amerikanischen Kolonial- und Bürgerkriege, aus «Erklär mir die Welt der Physik» und Moby Dick, Kosmos und William Faulkner, Jack London und Ernest Thompson Seton. So, nachdem ich mir das von der Seele geschrieben und mich von dem Auftrag befreit habe, das eine, einzige, wichtige Buch zu suchen, kann ich meinem Widerstreben verständig näher treten. Der Auftrag, so scheint es mir, kam in meinem ersten Erleben allzu großväterlich daher. Ich sollte mich für die hohe Qualität, für den bleibenden Wert entscheiden; meine frühesten, stärksten, prägenden Leseerlebnisse waren aber eher von der Suche nach einer Zuflucht, nach Material für Tagträume bestimmt. In der Zeit meines intensivsten Lesens gab es das eine große Buch nicht, zu dem ich pilgerte. Es waren viele verschiedene Bücher, die meisten von ihnen würde ein stolzes deutsches Feuilleton «trivial» nennen. Aber sie haben mich womöglich stärker beeinflusst als die ernsten und tiefen, in meiner bildungsbürgerlichen Umwelt vorzeigbaren Leseerlebnisse, die ich später durchaus zu sammeln wusste. Sie haben mir einen bleibenden Widerwillen gegen alle Autoren eingeimpft, die mir mit geistigem Dünkel entgegentreten und mir Anstrengungen aufzwingen, ihnen zu folgen. Wenn ich einen Satz zweimal lesen muss, um ihn zu verstehen, regt sich eine Art Zorn, und ich prüfe genau, ob sich das Geschriebene nicht nutzerfreundlicher hätte ausdrücken lassen. Ist das der Fall, lege ich das Buch weg. Es gibt gottlob viele Bücher, nicht nur eines, und der Leser ist frei. So ist Lesen für mich vorwiegend ein Vergnügen geblieben. Die dicken Thriller und Liebesromane, welche so manchen Urlaubstag begleiten, sind inzwischen fast alle im englischen oder amerikanischen Original. So bessere 198
ich die Sprachkenntnisse auf, wie seinerzeit durch Karl May das Wissen über Geographie und fremde Völker. Wenn Wissen so spielerisch daherkommt, kann ich ihm selber etwas mehr Ernst und Tiefe geben, ich kann es kritisieren, verwerfen, ergänzen, durchdenken. Wer mir aber gleich mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit begegnet und mich zappeln lässt, bis ich mir seine geistigen Reichtümer erschließe, der muss sich auf die Überlegung gefasst machen, ob der Ertrag die Mühe lohnt.
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FRIEDRICH SCHORLEMMER Denken zwischen den Fronten Seinen eigenen Namen schrieb mein Freund Kurt Jürgen Schmidt in das «Tagebuch 1946-1949» von Max Frisch, bevor er vor 35 Jahren für mich das Taschenbuch durch die Mauer in Berlin hindurchschmuggelte. Wohl kaum ein Buch hat mir so geholfen, meine Nachkriegswelt zu verstehen und mit mir selbst zurechtzukommen, wie diese Tagebuchnotizen. Ein vierseitiges Stichwortverzeichnis habe ich mir angelegt, um wieder und wieder darauf zurückzukommen und wichtige Gedanken jederzeit aufzufinden. Alles, was Frisch später geschrieben hat, die Themen aller seiner Stücke, sind in diesem Tagebuch bereits angelegt, mit analytischer Schärfe und mit prophetischer Kraft. In der Schulzeit war ich konfrontiert mit Bertolt Brecht als einem Propagandisten der kommunistischen Ideologie. Jetzt malte mir Max Frisch ein neues Bild: Brecht als unerschöpflicher Erörterer mit großem Kunstverstand, ein Mensch, der wissenschaftliche Methodik liebt und eine kindliche Gabe des Fragens hat, im Umgang anstrengend ist – wie immer der Umgang mit einem Überlegenen anstrengend ist! –, der einen mit seiner Dialektik stets matt setzen kann, doch: «Man ist geschlagen, aber nicht überzeugt.» Ja, das habe ich mit Marxisten oft erlebt. Brecht war indes ein Neugieriger, ein Mensch, der auf Widerspruch wartete, ein herzlicher und gütiger Mensch. Aber die Verhältnisse sind nicht so, dass das genügen könnte. Da verstehe ich, warum er die Zeile geschrieben hat, dass es anstrengend ist, böse zu sein. 200
Wie hat Frisch ihn erlebt? «Verkrochen und aufmerksam, ein Flüchtling, der schon zahllose Bahnhöfe verlassen hat, zu schüchtern für einen Weltmann, zu erfahren für einen Gelehrten, zu wissend, um nicht ängstlich zu sein, ein Staatenloser, ein Mann mit befristeten Aufenthalten, ein Passant unserer Zeit.» So las ich ferner die Stücke Brechts ganz anders. Und Frisch verschaffte mir Zugang zu seinen Gedichten, zu Gedichten, die nichts Appellatives haben. Frisch lehrte mich das Denken zwischen den Fronten: statt sich den Kampfparolen von dieser Seite oder jener Seite anzuschließen. Frieden lernte ich verstehen als den Frieden mit dem Gegner und nicht das Besiegen des Gegners. Die Propaganda durchschauen, wo das Wort zur glatten Kampflüge wird, sobald jede Seite versichert, dass sie den Frieden will, eben nur nicht mit dem Gegner! Unerbittlich zeigt mir Frisch die Dilemmata unserer Zeit, wo es zur Überlebensbedingung gehört, Kompromisse zu schließen, obwohl man weiß, dass sie Verrat einschließen. «Man kann darauf bedacht sein, das Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht sein, ein guter Mensch zu werden – das ist zweierlei und schließt sich gegenseitig aus. Die meisten wollen gute Menschen sein. Niemand hat größere Freude daran, wenn wir gute Menschen werden, als der Böse. Solange die Menschen, die das Gute wollen, ihrerseits nicht böse werden, hat der Böse es herrlich! ( … ) Wir retten die Welt nicht vor dem Teufel, sondern wir überlassen ihm die Welt, damit wir nicht selber des Teufels werden. Wir räumen einfach das Feld, um sittlich zu sein. Oder wir räumen es nicht; wir lassen uns nicht erschießen, nicht ohne weiteres, nicht ohne selber zu schießen, und das Gemetzel ist da, das Gegenteil dessen, was wir wollen …» Wie kann man für das Gute gegen das Böse kämpfen, 201
ohne sich dem Bösen zu unterwerfen und selber zu werden wie das Gegenbild, das man bekämpft? Wie aktuell sind solche Fragen nach dem 11. September! «Die Unmöglichkeit, sittlich zu sein und zu leben – ihre Zuspitzung in Zeiten des Terrors. Womit arbeitet jeder Terror? Mit unserem Lebenswillen, also mit unserer Todesangst, ja, aber ebenso mit unserem sittlichen Gewissen. Je stärker unser Gewissen ist, um so gewisser ist unser Untergang!» All dies stellt Frisch in den Zusammenhang mit dem Gedicht «An die Nachgeborenen» von 1938. Es sind schon finstere Zeiten, wo man nicht ohne Gewalt auskommen kann und Böses nicht mit Gutem zu vergelten vermag. Finstere Zeiten waren es. Finstere Zeiten sind es wieder. Gibt es je einen Zweck, der unsere Mittel heiligen kann? Wenn es aber das höchste Ziel ist, die Würde des Menschen zu erhalten, dann muss die Freiheit als Teil der Würde akzeptiert werden. Eine Ordnung ist nötig, die niemanden der Wahl beraubt. Wenn ein Staat all sein Streben darauf richtet, dass alle in ganzen Schuhen gehen, aber dem Denken des Einzelnen keine Wahl mehr lässt, ist nichts geschafft. Er hat das Mittel verwirklicht, aber nicht das Ziel. Und die Würde des Menschen ist die Wahl, «nicht die Badewanne, die der Staat ihm liefert, wenn er nicht am Staate zweifelt». Gerechtigkeit kann nicht der Freiheit geopfert werden – so wie nicht die Freiheit der Gerechtigkeit. In Südfrankreich sieht Frisch Städte als Gesicht unseres Menschseins. Immer sitzt man vor dem Rätsel eines Ameisenhaufens. Die Menschen gehen hin und her, weil sie leben. Sie leben einfach. Unser Weg: vom Bedürfnis zum Spiel, in der beseligenden Fülle des Unnötigen, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Tierischen zum Menschlichen. Und überall erblickt er die Spuren der (Selbst-)Zerstörung und spürt die Sehnsucht nach dem 202
Heilen und Ganzen. «Etwas Ganzes möchte ich sehen, nicht Reste oder Teile oder Ansätze eines Ganzen, sondern etwas Ganzes. ( … ) Menschenwelt ohne Schaden oder Zerfall, ohne Verlotterung, ohne Verlumpung, ohne Verwesung, ohne die penetrante Fratze der Vergängnis …» Zugleich treibt ihn das Bewusstsein unserer Sterblichkeit als das höchste Geschenk. Das macht unser Dasein erst menschlich, macht es zum Abenteuer und bewahrt es vor der vollkommenen Langweile der Götter, die Mord und Krieg stiften, um sich damit zu unterhalten. All die, die sich vor Überdruss im Leben langweilen, sind einfach gefährlich – wie die Götter, die Horror zu ihrer Unterhaltung brauchen. Lange bevor Carl Friedrich von Weizsäcker 1963 den «Frieden als die Bedingung des technischen Zeitalters» bezeichnete, schrieb Frisch schon: «Die technische Möglichkeit, eine gesamthafte Vernichtung durchzuführen, hat keine frühere Zeit besessen; der Krieg ist stets ein unvollkommenes Morden gewesen, örtlich beschränkt. Unser Zeitalter kann sich den Krieg nicht mehr leisten, ohne sich selber auszutilgen.» Nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West ist die Welt durchaus nicht sicherer geworden, zumal ein Dutzend Staaten über Massenvernichtungswaffen verfügen und einzig die verbliebene Supermacht sich in dem Irrglauben wähnt, sich einen himmlischen Schirm als Schutz vor jedem Angriff aufspannen zu können, und sich zugleich das Recht herausnimmt, an jedem Ort einzugreifen. Max Frisch sammelt Gedanken, Beobachtungen, Analysen und stellt alles zur Diskussion. Er denkt sich dabei einen Leser, einen sympathischen, nicht unkritischen, einen nicht allzu überlegenen, aber auch 203
nicht unterlegenen, einen Partner, der sich freut, dass wir an ähnlichen Fragen herumwürgen, der nicht blöde ist, nicht unernst und nicht unspielerisch und vor allem nicht rachsüchtig. Den Leser denkt er sich als einen Mitarbeiter, der mit ihm sucht und fragt, ja geradezu den Autor ergänzt. Das ist der Beitrag des Schriftstellers für die Herausbildung einer demokratischen Kultur! Durchgängig in diesem Tagebuch wie im ganzen Werk Frischs ist das Nachbuchstabieren des biblischen Gebots «Du sollst dir kein Bildnis machen». Wer sich ein Bildnis macht, legt den anderen Menschen fest. Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis. Und so werden wir mit Menschen, die wir lieben, nicht fertig. Das, was für Gott gilt, gilt für den Menschen, und was für den einzelnen Menschen gilt, gilt für ganze Völker. Wir sind immer auch Verfasser der anderen. So sind wir auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das die anderen uns zeigen. Wir wünschen, dass die anderen uns gleich werden, wir wünschen es gar ganzen Völkern; aber wir sind nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Und so werden die anderen der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes. Wer sich von einem anderen ein Bildnis macht, legt ihn fest, bis er so wird, wie das Bild von ihm war. Der andorranische Jude wird zum Menetekel unserer weltweiten ethnischen Irrwege. Das Thema der sittlichen Verantwortung im Bereich des Politischen greift Frisch in seinem Stück «Biedermann und die Brandstifter» auf: Es reicht nicht, ein guter und argloser Mensch zu sein; man muss die Brandstifter frühzeitig erkennen, ihnen die Streichhölzer und das Benzin entziehen. Wir müssen uns wehren, wo immer gestohlen oder für die Zerstörung gerüstet wird, also für das Gute kämpfen und nicht nur gut sein wollen! Wir sind und bleiben ungesicherte Wesen, wo selbst die 204
große Kunst sittliche Schizophrenie wird, wenn Heydrich mit Hingabe Mozart spielt. Nicht allein das Talent macht den Menschen aus, sondern seine Verantwortung. Es gibt kaum ein Lebensthema, das Frisch in seinem Tagebuch nicht aufgriffe: Sinnfindung und Nihilismus, Lüge und Verlogenheit, Arbeit als Fron und Selbstverwirklichung, Marxismus und Christentum, Komödie und Tragödie, Schauspielerei und Propaganda, Musik und Architektur, das menschliche Maß und das Tempo unserer Zeit, bis zur Verwechslung von Mut mit Maßlosigkeit bei den Deutschen. Wenn das Christentum, vermerkt Frisch, seine zweitausend Jahre dazu verwandt hätte, auch jene seiner Satzungen ernst zu nehmen, die sich auf das Diesseits beziehen, könne er sich nicht denken, dass der Marxismus eine wirkliche Bedrohung darzustellen vermochte. Diese Bedrohung gibt es nicht mehr, aber die Aufgabe des Christentums ist geblieben – nicht nur des Christentums. Zum Schluss bleibt eine getröstete Erkenntnis. «Dass wir nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennen lernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können.» Mitten durch diese Wirrnis und die heimliche Einheit der Welt führt mich dieses Tagebuch – immer wieder, wenn ich es aufschlage. Und ich bin immer noch dankbar, dass mein Freund mir es durch die irrsinnige Mauer hindurchgeschmuggelt hat. «Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt» – das ist sein letzter Satz.
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HERMANN SCHREIBER Helden wie wir Es gibt wichtigere Bücher als Ernest Hemingways Fiesta, das bestreite ich nicht, und ich habe einige davon mit großem Gewinn gelesen. Aber kein anderes Buch hat so direkt, so drastisch nach meinem Leben gegriffen. Kein Buch hat mir je wieder so klar gemacht, wie man es anstellen soll, das Leben zu bewältigen – und das Schreiben. Es war ein ungeheures Aha-Erlebnis, als Fiesta über mich kam, vor fünfzig Jahren: Da artikulierte ein fremder Autor, der ungefähr so alt war wie mein Vater, mein eigenes Lebensgefühl – ein Lebensgefühl, das zu formulieren ich selber noch gar nicht imstande war, das ich ausdrücken konnte allenfalls in Gesten und in Verweigerungen. Da wusste einer Antwort auf die Kernfrage meiner, aber nicht nur meiner Existenz: Wie man bestehen kann mit leeren Händen. Nach dem Sinn wird nicht gefragt, Transzendenz steht nicht zur Debatte. Die Bemühung allein hat Wert und Würde. Ich fand diese Antwort, fast zur gleichen Zeit, auch bei Albert Camus, in dessen Philosophie des Absurden, besonders im Mythos des Sisyphos: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», wenn er dem immer wieder zu Tal rollenden Felsblock nachgeht, denn er «macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß». Das ist seine Reaktion auf die Niederlage, die ihm die Götter beigebracht haben, daher auch seine 206
klammheimliche Freude: «Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.» Hemingway hingegen philosophierte nicht. Er war für meine Generation der ehemaligen Pimpfe und der demokratisch Umerzogenen nicht zuletzt deshalb eine Entdeckung, weil er etwas literarisch exemplifizierte und obendrein zur Spielregel erhob, das sich bei uns allenfalls in den unteren Etagen des Bewusstseins und im Slang der Clique abspielte: das Misstrauen gegen die großen Worte, die Scheu vor beinah jeder Gefühlsäußerung. Für die Älteren, im Leben und in der Literatur Erfahreneren mochte das ein Stilmittel unter anderen sein, weder neu noch besonders ergiebig; für uns war es einfach notwendig, das einzig Mögliche. Wir hätten nie gesagt: «Wir wollen für immer zusammen bleiben.» Wir zitierten aus Fiesta: «Ganz schön, sich das auszumalen, nicht wahr.» Wer von denen, die 1950 um die zwanzig waren, hätte es denn fertig gebracht, sich solcher Begriffe wie Ehre, Treue, Vaterland zu bedienen ohne reservatio mentalis? Ich kenne keinen. Wir haben Understatement praktiziert, bevor wir wussten, was das ist. Es war unsere Reaktion auf den Zusammenbruch, den wir erlebt hatten, und auf alles, was dazu geführt hatte. Mit Literatur hatte es nichts zu tun. Dass es längst Literatur war, das lasen wir dann bei Hemingway. Ich las es in Hemingways A-Farewell-to-Arms-Roman von der Italien-Front des Ersten Weltkriegs, In einem anderen Land, geschrieben in den Jahren nach Fiesta, aber schon vor Fiesta in deutscher Übersetzung neu aufgelegt, nämlich 1946 als Rowohlt-Rotations-Roman auf Zeitungspapier und im Zeitungsformat. Da stehen, mitten in einem knappen Männer-Dialog, plötzlich lauter Schlüsselsätze: «Mich verwirrten immer Worte wie heilig, 207
ruhmreich und Opfer und der Ausdruck umsonst. Wir hatten sie … auf Proklamationen gelesen, die von Zettelanklebern über andere Proklamationen angeklapst wurden, noch und noch, und ich hatte nichts Heiliges gesehen, und die ruhmreichen Dinge waren ohne Ruhm, und die Blutopfer waren wie die Schlachthöfe in Chicago, wenn das Fleisch zu nichts benutzt, sondern nur begraben wurde. Es gab viele Worte, die man nicht mit anhören konnte, und schließlich hatten nur noch Ortsnamen Würde.» Ich wusste nichts über die Schlachthöfe in Chicago, aber ich wusste etwas über Blutopfer, und ich hatte genug Proklamationen an den Plakatwänden gesehen, um zu wissen, dass viele ruhmreiche Dinge in der Tat ohne Ruhm waren: «Abstrakte Worte wie Ruhm, Ehre, Mut oder heilig waren obszön neben konkreten Namen von Dörfern, Nummern von Straßen, Namen von Flüssen …» So empfunden hatte ich das schon eine Weile, aber erst Hemingway hat es mir bewusst gemacht. Nicht nur mir. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieben in Deutschland die jungen Autoren dutzendweise wie Hemingway, meistens nicht so gut, aber geschadet hat es ihnen auch nicht. «Schreib nur über das, was du kennst», hat Hemingway gesagt, «und schreib ehrlich.» Es gibt schlechtere Empfehlungen für einen jungen Schriftsteller (oder einen jungen Reporter). Exaktheit des Ausdrucks, Verknappung der Adjektive, die Fähigkeit, sinnliche Eindrücke unverziert wiederzugeben, und Dialoge, in denen nicht alles ausgesprochen wird – das sind Stilmittel aus dem Arsenal des Reporters. In der Tat geht Hemingways Ratschlag über das bloß Literarische hinaus. Exaktheit – das ist es, was eine Arbeit gut macht, und zwar jede Arbeit, was ihr Würde gibt und ein wenig Glanz. Was immer es ist, es muss anständig und 208
genau gemacht sein. Alles andere ist Nebensache. Auch der Sinn ist Nebensache. So, nur so konnte man leben – davon hat Hemingway mich damals überzeugt. Das begann, noch bevor ich Fiesta in die Hände bekam; mit A Clean Well-Lighted Place, einer meisterhaften Kurzgeschichte, die ich 1947 oder 1948 in einem Hemingway-Stories-Band des Stuttgarter Amerika-Hauses entdeckte. Die Geschichte faszinierte mich, und ich versuchte, sie so zu übersetzen, dass meine Freunde den Dialog der beiden Kellner szenisch darstellen konnten in dem literarischen Laientheater, das die Betreiber des Amerika-Hauses uns dort aufführen ließen. Der eine Kellner will schließen und nach Hause gehen, wo seine Frau im Bett auf ihn wartet, der andere Kellner will noch bleiben in dem sauberen, gut beleuchteten Café, wo er sich sicher fühlt vor der Dunkelheit, in die er nicht hinaus will, und vor der Schlaflosigkeit, die ihn erwartet. «Es war alles ein Nichts, und der Mensch war auch ein Nichts. Es war nur das, und Licht war alles, was man brauchte und eine gewisse Sauberkeit und Ordnung. Manche lebten darin und fühlten es gar nicht, aber er wußte, es war alles nada y pues nada y pues nada.» Hemingways Helden, von eben diesem Kellner in dem sauberen, gut beleuchteten Café bis zu dem alten, vom Glück verlassenen, grandios scheiternden Fischer Santiago in Der alte Mann und das Meer – sie alle stehen für das eine Thema: die Bewährug vor dem Nichts. Was sie auszeichnet, ist: Haltung in der Niederlage, Ausharren in der Sinnlosigkeit. Sie suchen den abhanden gekommenen (oder nie erkannten) Sinn des Lebens im zuchtvollen Verhalten gegenüber einer aussichtslosen Situation. Sie bewähren sich, indem sie die Vergeblichkeit auf sich nehmen, ungebeugt durch Misserfolge. Was eigentlich hat uns damals an diesen Helden 209
Hemingways so fasziniert? Ich glaube, wir haben sie gebraucht – als Verbündete, als Kronzeugen gegen jenes Heldentum, zu dem man uns hatte erziehen wollen. Das Vaterland war ein Trümmerhaufen. Die Väter, die uns das eingebrockt hatten, verachteten wir, auch weil sie die katastrophale Erkenntnis verdrängten, einem Volk anzugehören, in dessen Namen Millionen Menschen getilgt worden waren wie Ungeziefer. Die Zukunft lag im Dunkeln, Chancen wurden nicht geboten. Dass wir bald die Wirtschaftswunderkinder sein würden, hielten allenfalls erfolgreiche Schwarzhändler für denkbar. Was wir brauchten, war eben dies: Haltung in der Niederlage, ein tapferes Trotzdem, eine (womöglich heroische) Philosophie des Ausharrens in der Vergeblichkeit. «Ich wollte nur wissen, wie man sich das Leben in dieser Welt einrichten sollte», denkt Jake Barnes, der Held in Fiesta. «Schon möglich, daß, wenn man zu leben wußte, man auf den Sinn des Ganzen schließen konnte.» Schon möglich, aber keineswegs sicher – und auch nicht so wichtig. Jake Barnes jedenfalls lebt ganz gut – in Paris. Er, der Amerikaner, hat sich (wie Hemingway) im Ersten Weltkrieg freiwillig nach Europa gemeldet. Er ist (wie Hemingway) bei einem Fronteinsatz in Italien schwer verwundet worden, und er hat (wie Hemingway) im Lazarett eine Engländerin kennen gelernt, die dort als Hilfsschwester Dienst getan hat. Im Roman heißt sie Brett Ashley und ist eine Nymphomanin. Jake Barnes ist durch seine Verwundung impotent geworden. Die beiden lieben sich. «Faß mich nicht an», sagte sie, «bitte, faß mich nicht an.» 210
«Was ist denn?» «Ich kann es nicht aushalten.» «O Brett.» «Du darfst nicht. Du mußt es verstehen. Ich kann’s nicht aushaken, das ist alles. Bitte, versteh’s doch, Liebster.» «Liebst du mich denn nicht?» «Lieben? Wenn du mich anfaßt, komme ich einfach um.» «Kann man denn da nichts machen?» Man kann da nichts machen, es ist aussichtslos. Jake kann nur das eine tun: Haltung bewahren, standhalten. Er ist da, wenn Brett sich Männer einfängt, wenn sie erst mit Robert Cohn, dem schriftstellernden Boxer, nach San Sebastian durchgeht, dann mit Pedro Romero, dem Stierkämpfer, nach Madrid; und er ist da, wenn sie von solchen Eskapaden kaputt zurückkommt. «Mit wem glaubst du, daß ich in San Sebastian war?» «Gratuliere», sagte ich. Wir gingen weiter. «Warum hast du das gesagt?» «Ich weiß nicht. Was möchtest du denn, daß ich dazu sage?» Wir gingen weiter und bogen um eine Ecke. «Er hat sich sehr gut benommen. Er ist ein bißchen langweilig auf die Dauer.» «So?» «Ich dachte, es würde ihm guttun.» «Vielleicht solltest du dich als Sozialhelferin betätigen.» 211
«Sei nicht so ekelhaft.» «Ich werde mir Mühe geben.» Eine unmögliche Liebesgeschichte. Romeo und Julia war für mich damals eine Art Märchen, Tristan und Isolde nur eine ferne Metapher, und die unmöglichen Liebesgeschichten der Zeitgenossen, Vladimir Nabokovs Lolita zum Beispiel und Max Frischs Montauk, entstanden erst. Fiesta aber las ich (häufig mit der Übersetzerin hadernd), als wäre es meine Geschichte. Und ich war nicht die Ausnahme. Meine Freunde und Freundinnen, diese Zwanzigjährigen mit der ungewissen Zukunft und den vagen literarischen Ambitionen, reagierten genauso, nachdem wir alle Fiesta verschlungen hatten: Da wird unsere Sache verhandelt. Die spielen unser Stück. Die reden unseren Text. Es war natürlich umgekehrt. Wir spielten Fiesta. Wir hingen in Cafés herum, allerdings nicht im Sélect oder in der Cioserie des Lilas, sondern im Stuttgarter Bubenbad (einem Lokal, in dem immerhin auch der Maler Willi Baumeister samt Entourage verkehrte). Wir redeten wie die Figuren in Fiesta, sie wurden unsere Rollenmodelle, wir repetierten ihre Dialoge, seitenweise, wir übernahmen ihre Sarkasmen («Vielleicht hab ich’s nicht richtig erzählt»), ihre Insider-Jokes («Zeig Ironie und Mitleid») und vor allem ihre Moral. Wir suchten nach Entsprechungen zwischen unseren rotierenden Partnerproblemen und denen von Brett Ashley und ihrem designierten Ehemann, dem versoffenen Schotten Mike Campbell, oder denen von Robert Cohn und seiner reichen, aber kaltgestellten Freundin Frances Clyne. Und es kümmerte uns nicht, dass wir nicht die Ersten waren, die das taten. In den zwanziger Jahren 212
schon, als Fiesta (1926) erschien, war es «eines der seltenen Bücher», so Anthony Burgess in seinem 1980 erschienenen Hemingway-Porträt, «die die Art der Menschen, sich zu verhalten und zu sprechen, beeinflussen können. Lady Brett wurde in Sprache und Benehmen zum Vorbild einer ganzen Generation von Studentinnen. Der Typ des Hemingway’schen Mannes – hart, vom Leben mitgenommen, stoisch, lakonisch die Verzweiflung zum Stil erhebend – begann in den besseren Bars zu erscheinen.» Das war nach dem Ersten Weltkrieg. Dass wir Luftschutzkellerkinder des Zweiten Weltkriegs 25 Jahre später fast genauso heftig auf dieses Buch reagierten, musste einen anderen Grund haben als den Behaviorismus der Roaring Twenties. Ich glaube, Fiesta war für uns so etwas wie ein Wegweiser auf jenem Egotrip, den die Generation nach uns dann – nicht minder arrogant – Selbstfindung (oder auch Selbstverwirklichung) genannt hat. Wir fühlten uns erkannt und endlich ernst genommen in unserer Orientierungslosigkeit. Der frühe Hemingway vermittelte uns ein neues Selbstverständnis; jedenfalls empfanden wir das so. Wir lasen das Motto seines Buches (das uns nicht galt) wie einen verspäteten Taufspruch: Ihr gehört alle einer verlorenen Generation an. Die «Verlorene Generation», die damals wohl mächtigste Gruppe amerikanischer Autoren – das waren jene weltkriegsverkaterten, zivilisationsmüden, heimatverdrossenen Exil-Amerikaner, die ihr Protagonist F. Scott Fitzgerald einmal «traurige junge Männer» genannt hat. John Dos Passos gehörte dazu und natürlich Ernest Hemingway. Sie lebten in Europa, vornehmlich in Paris, und trafen dort zum Beispiel auf den (deutlich älteren) Ezra Pound, dem Hemingway das Boxen beibrachte und der sich revanchierte, indem er aus dessen 213
Texten gnadenlos die Adjektive herausstrich, und auf die (noch ein bisschen ältere) Gertrude Stein, die den jungen Hemingway über «die abstrakte Beziehung der Worte» (so seine eigene Definition) belehrte. Sie war es auch, die er mit jenem Satz von der verlorenen Generation zitierte. «Das ist es, was ihr seid. Das ist es, was ihr alle seid», sagte Miss Stein. «All ihr jungen Leute, die ihr im Krieg wart. Ihr seid eine verlorene Generation.» «Wirklich?» sagte ich … «Streiten Sie nicht mit mir, Hemingway», sagte Miss Stein. «Das führt zu nichts. Ihr seid alle eine verlorene Generation – genau wie der Garagenbesitzer gesagt hat.» So steht es in Hemingways Pariser Notizen aus den Jahren 1921 bis 1926, die erst drei Jahre nach seinem Freitod veröffentlicht worden sind: A Movable Feast – ein bemerkenswertes Buch (deutsch Paris – ein Fest fürs Leben). Demnach hatte der Patron einer Pariser Autowerkstatt seinen jungen Mechaniker, der Gertrude Steins alten Ford (ein T-Modell) nicht gebührend bevorzugt behandelt hatte, mit dem Satz zurechtgewiesen: «Ihr seid alle eine génération perdue.» Der Satz war also gar nicht von Gertrude Stein, und Hemingway fand ihn eher komisch. «Später», notierte er, «als ich meinen ersten Roman schrieb (nämlich Fiesta, d. A.), versuchte ich, Miss Steins Zitat von dem Garagenbesitzer durch eines aus dem Prediger Salomon auszubalancieren» – und aus diesem Zitat nahm er dann den originalen Titel des Romans: The Sun Also Rises. 214
Schade, dass wir das 1950 nicht gewusst haben, meine Freunde und ich; wir hätten vermutlich weniger Zeit damit vergeudet, Ähnlichkeiten zwischen uns und der verlorenen Generation zu finden. Es gab keine. Meine Generation ist nicht ins Exil gegangen, hat sich nicht in berühmten Pariser Bars, auf der Großwildjagd in Afrika oder beim Stierkampf in Pamplona herumgetrieben. Wir wären auch, wenn das überhaupt zur Debatte gestanden hätte, ganz bestimmt nicht auf alle möglichen Kriegsschauplätze gereist, weil «doch das Erlebnis eines Krieges ein großer Vorteil für einen Schriftsteller ist», wie Hemingway einen seiner Helden sagen lässt. Bedeutendes geschrieben haben wir sowieso nicht. Sondern wir haben schließlich in die Hände gespuckt und das Bruttosozialprodukt gesteigert. Hätten wir gewusst, dass auch Hemingway weiland in Paris gar nicht wie Jake Barnes gelebt hat, sondern «sehr arm und sehr glücklich» mit Frau und Kind (denen Fiesta gewidmet ist), dann hätten wir vielleicht nicht so angestrengt die Wiedergänger der Lost Generation darzustellen versucht. Tatsächlich waren unsere Zweifel am deutschen Vaterland damals erheblich größer als die der «Expatriates» an ihrem Amerika, von wo nicht zuletzt die Prohibition und die hohe Kaufkraft des Dollar sie nach Europa «vertrieben» hatte, keineswegs ein Konflikt, der auch nur annähernd so heillos gewesen wäre wie später die Auseinandersetzung über den Vietnam-Krieg. Wir hingegen mochten an eine friedliche Zukunft in Deutschland nicht glauben und wären gern weggegangen, nach Amerika oder nach Kanada, wenn das möglich gewesen wäre und wenn wir gewusst hätten, wovon wir leben und eine Existenz aufbauen sollten. Ich habe keine Ahnung, ob ich den Existenzkampf dort gewonnen hätte, ob ich gar Amerikaner geworden wäre. Hemingway 215
wiederum war nach dem Ersten Weltkrieg durch das Fronterlebnis in Italien, durch die Liebe zu einer Engländerin, durch Wein und Blut, auch durch die Begegnung mit dem Katholizismus, der älter war als das, was er in der Third Congregational Church in Illinois kennen gelernt hatte, «eine Art von Europäer» geworden (wie Anthony Burgess konstatiert): «Er sollte nie viel über Amerika schreiben, wo sich, wie er sagte, nichts ereignete.» Das ist dann anders geworden. Alles ist anders geworden, fast alles, auch in meinem Leben. Wenn Fiesta für mich dennoch wichtig geblieben ist, wenn ich Hemingway dankbar geblieben bin für dieses Buch, dann nicht nur, weil er mir damals gezeigt hat, wie man mit dem Schreiben umgehen soll. Ich bin ihm dankbar geblieben, weil er mir zu einer Zeit, da sonst keiner half, geholfen hat, so etwas wie Haltung zu bewahren. Er hat mir beigebracht, dass ein Mensch auch dann noch Selbstachtung und Würde besitzen kann, wenn die großen Worte sich als Lügen erweisen und wenn der alte Glaube stirbt. Denn Sauberkeit, Licht und eine gewisse Ordnung sind alles, was man braucht, und eine Tat ist eine gute Tat, wenn man sich hinterher anständig fühlt. Das war so, das ist so. Und das soll so bleiben.
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ANTONIO SKÁRMETA In Nerudas tiefer Schuld Meine Beziehung zu Pablo Neruda, durch den ich zu meinem Roman «Mit brennender Geduld» und dem Film «Il Postino» inspiriert wurde, war so streng pragmatisch, dass mich das Geständnis dessen fast erröten lassen könnte. In meiner Jugend, als ich so um die dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, hatte ich die Angewohnheit, mich alle zwei Tage hoffnungslos und für alle Ewigkeit neu zu verlieben, und zwar immer in Frauen, die älter waren als ich. Diese aber zogen stets die jungen Männer aus dem letzten Schuljahr vor, die Experten darin waren, ihre Lippen synchron zu süßen Balladen von Nat King Cole zu bewegen, Zigaretten in den Schmuseecken auf dem Schulhof rauchten und geschickt die Landschaften unter den Blusen der Schuluniformen meiner platonischen und unerreichbaren Geliebten erkundeten. Sie verstanden sich darauf, sie mit tiefen Stimmen zu umgarnen, ihnen tief in die Augen zu schauen und mit der Präzision eines Uhrmachers Ringe aus Rauch zu blasen, während The Platters ihr Lied «Smoke gets in your eyes» sangen. Wir aus den unteren Klassenstufen begannen schon, nervös unsere Nacken und Pickel zu kratzen, sobald sich uns ein Mädchen näherte. Wenn uns eines von ihnen nach der Uhrzeit fragte, liefen wir tiefrot an, und eine Welle der Verlegenheit trieb uns den kalten Schweiß auf die Stirn. Es gab Gelegenheiten in meinem Leben, wie zum Beispiel bei Zusammentreffen mit meinen Cousinen und 217
deren Freundinnen oder durch reine Großzügigkeit des Lebens selbst, in deren Zuge ich auf die Schönheiten traf, welche ich in tiefer und stiller Leidenschaft liebte. Allein mit einer von ihnen auf dem Sofa im Wohnzimmer, in Abwesenheit der Mutter, die zum Canasta-Spielen aus dem Haus gegangen war, verließ mich der Mut, etwas zu sagen. Wenn ich dann wütend und Steine kickend durch die Straßen von Santiago nach Hause ging, fielen mir die Worte wieder ein. Ich hätte dies oder jenes gesagt, Baby. In der Einsamkeit der eigenen vier Wände schien ich wie ein Blumentopf mit einem Strauß voller Ideen, die meinen Mund mit Worten füllten. Und so vergingen meine Tage. Ich vegetierte in der Stille vor mich hin, während alle anderen ihre Lippen an den heißen Mündern der jungen Mädchen befeuchteten. Eines Tages jedoch fiel mir ein Buch Nerudas mit Liebesgedichten in die Hände, «Veinte Poemas de Amor». Es war mit langbeinigen Nymphen illustriert, die den weiblichen Models aus den Modemagazinen glichen, und ich, der jede einzelne von ihnen liebte, stellte mir vor, dass diese Damen die wirklichen Geliebten des Dichters wären. Nach den Zeichnungen wandte ich mich den Gedichten zu und zögerte nicht, mir Nerudas Worte mit ihm als Bauchredner meiner Seele zu Eigen zu machen. Ah, los vasos del pecho! Ah, los ojos de ausencia! Ah, las rosas del pubis! Ah, tu voz lente y triste! Kinder verlieben sich in eine Kuscheldecke oder in einen anderen Gegenstand, mit dem sie Tag und Nacht schmusen; ich erkor Nerudas Buch zu meinem Blindenhund. Die bittere Einsamkeit traf mich doppelt, denn ich hatte kein Mädchen an meiner Seite, und diese 218
wundervollen Gedichte rieben mir eben diese Abwesenheit unter die Nase. Bis mich eines Nachmittags eine dunkle Schönheit mit unergründlichen Augen, die auf dem Sofa ihres Großvaters saß, fragte, was ich dort für ein Buch hätte. Wir lasen einige Verse, bis es dunkel wurde, und da sie nicht das Licht anmachte, fühlte ich alsbald ihre Zunge über meine Lippen gleiten. Was folgte, war ein köstlicher Taumel mit Details, die zu delikat für eine solch distinguierte Leserschaft sind. Ich denke, dass ich mich in diesem Moment entschied, Neruda eines Tages diese Schuld zu vergelten. Und vielleicht liegt in diesem Stück Lebensgeschichte aus der Provinz die Ursache meiner Berufung zum Schriftsteller. Denn ich hatte einen authentischen Beweis für die Macht der Worte. In einem Notizbuch, das ich in dem Haus meiner Eltern auftat, schrieb ich vor Jahrzehnten mit fiebriger Handschrift die folgenden Zeilen in Anlehnung an meine erste erotische Erfahrung nieder: «Segne meine holprigen Formulierungen und die durch einen Jungen mit zerzaustem Haar geraubten Worte; segne ihren grenzenlosen Ozean und das köstliche Gewitter, in das ich geriet. Denn es war Liebe. Danke, don Pablo.» Es war nicht besonders befremdlich, dass ich mich nach der Publikation meines ersten Buches mit dem Titel «El Entusiasmo» – und Sie werden meinen Optimismus verstehen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich zu dieser Zeit jung und schlank war und Haare hatte – entschloss, zu Pablo Neruda nach Isla Negra zu fahren, um seine Meinung einzuholen und – wer weiß – vielleicht auch ein wenig Fürsprache zu erhalten. Ich peinigte meinen kleinen Citroen und gelangte schließlich, das Buch pulsierend zwischen meinen Fingern gefangen haltend, ans Ziel. Neruda warf einen Blick auf 219
den Einband der Buches, blätterte desinteressiert darin herum und sagte, während er seine Hosen hochzog: «Okay, mein Junge. Ich lasse dich meine Meinung innerhalb der nächsten zwei Monate wissen.» Bereits zwei Wochen später klingelte ich erwartungsvoll an der Tür seines Hauses in Isla Negra. Als der Dichter öffnete, ergab sich folgender Dialog: «Dichter, ich bin’s.» «Das sehe ich.» «Haben Sie es gelesen?» «Ja.» «Und was denken Sie?» Neruda richtet den Blick empor zu einem Schwarm Zugvögel und wünschte sich sicherlich, mit ihnen davonzufliegen. «Gut.» Ich errötete und war voller Stolz. Der Dichter Pablo Neruda fand mein Buch also gut. Mit einem Fuß trat ich auf den anderen, damit ich nicht vor Glück in die Lüfte schweben würde. «Aber», fügte der Dichter unverzüglich hinzu und senkte dabei seinen Blick, um mich anzuschauen, «das bedeutet gar nichts, denn alle Erstlingswerke chilenischer Schriftsteller sind gut.» Jahre später erhielt meine Beziehung zu Neruda weitaus tiefer gehende Züge. Damals, im Jahr 1969, war er einer der Präsidentschaftskandidaten, und ich hatte die Gelegenheit, ihn während einer politischen Veranstaltung in einem äußerst bescheidenen und ausschließlich aus Hütten bestehenden Ort in der Nähe von Santiago zu sehen. Es hatte zuvor geregnet, und fast zweihundert Leute versanken mit den Füßen im Schlamm. Es waren sehr 220
arme Leute, und ihre Situation wird es wohl nicht zugelassen haben, mehr als die ersten Grundschuljahre zu absolvieren. Der Dichter schloss seine Rede mit ziemlicher Gleichgültigkeit und wollte sich von dem hölzernen Podest zurückziehen, als das Publikum ihn davon abhielt, indem es rief: «Gedichte, Gedichte, wir wollen Gedichte.» Neruda ließ sich einen Moment feiern und entnahm sodann ein Buch aus seiner Tasche. Das Bild dieser zweihundert Leute, starr vor Kälte, vielleicht hatten sie nicht einmal gefrühstückt, die nach «Gedichten, Gedichten» riefen, hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck, und ich beschloss, dieses Ereignis niemals zu vergessen. Hier lag vielleicht ein weiterer Grund, der mich dazu brachte, «Il Postino» zu schreiben. Der Dichter starb 1973, nur zehn Tage nach eben dem Putsch, der dem Leben von Salvador Allende und für viele Jahre auch der Demokratie ein Ende setzte. Der Dichter und die Demokratie starben mit erschreckender zeitlicher Übereinstimmung. Das war quasi eine Metapher, die mir von der Geschichte in die Hände gelegt wurde. Ich beschloss, dem mit meiner ganzen Hingabe zu begegnen. Auf den letzten Seiten meines Buches «Il Postino» wird dem Erzähler Zucker für seinen Kaffee angeboten. Er bedeckt die Tasse mit seiner Hand und antwortet: «Danke nein, ich trinke ihn bitter.»
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SMUDO Motorsport als Gleichnis Motorsport. Was für ein weltlicher Zeitvertreib hirnloser Gaspedalcowboys. Was für eine Sünde an der Natur und am echten menschgebundenen Sport. Zeitlebens ein leidenschaftlicher Videospielfan, besitze ich jetzt, als solventer Erwachsener, alle nennenswerten Konsolen, und an meinem PC wird nur aus Alibigründen gearbeitet. Nach ein paar uninspirierten Konsolen-Formel-Eins-Zocks griff ich aus Interesse zu einer PC-Simulation der Saison 1967, der letzten, in der noch kein Sponsoring auf den Autos war, ebenso wenig wie Spoiler oder Sicherheitsgurte. Mangels TV-Übertragung war das lebensgefährliche Rumgefahre ein Playboy-Hobby von Adelssöhnen oder Neureichen, die aus blankem Sportsgeist und Wahnsinn ihr Leben riskierten. Papyrus-Racing, die Hersteller dieser Software, sind die rennsportbegeistertsten Gamedesigner der Welt, die sich zum Ziel gesetzt haben, ausschließlich Simulationen mit hochklassigem Realitätsanspruch zu erstellen. Ihr Glanzstück ist ein Abbild der dramatischsten Vermählung aus Todesmut und Sportsgeist aus einer Zeit, in der der heute komplett taube Jack Brabham seinen Wagen eigenhändig zusammendengelte, um damit Meister zu werden. In einer Zeit, in der jeder dritte Formelfahrer auf der Piste starb. Grand Prix Legends: Ganzzahlige Rechenalgorithmen stellen die Kraftübertragung von Zylindern auf Kurbelwelle und via Getriebe auf die Reifen und den jeweiligen Asphalt in einer Präzision dar, die so verblüffend ist, dass man am virtuellen Volant aus Respekt vor der Kraft vom Gas geht. Alle Videospiele mit 222
Autos wurden angesichts dieser selbst auf gerader Linie extrem schwierig zu beherrschenden Aluzigarren zu nichts weniger als ordinären Telespielen degradiert. Grand Prix Legends ist ein Abbild der Realität; kein Spiel. Es gibt eine kaum befriedigendere Computerbeschäftigung, als nach wochenlangem Training endlich eine Hundertstel zu finden. Derart angefixt, bin ich auf die Suche nach weiterführender Literatur auf das in den USA verlegte «Drive to Win» von Carroll Smith gestoßen. Ein legendäres Handbuch für Rennfahrer, welches neben rein sachlich-mathematisch-physikalischen Aspekten einen Gutteil über Meditation, innere Ruhe und Rennpsychologie im Allgemeinen annonciert. Carroll Smiths Schreibe offenbart Motorsport als Gleichnis, eine hohe Idee, ein Licht. Smith erörtert blumenreich, dass nur innere Ruhe, Ausgeglichenheit, ein Gleichklang der Seele es ermöglichen, ein Auto so schnell wie physikalisch möglich zu steuern, und dass diejenigen, die es tun können, gesegnet sind. Eine Handlung, die sich auf dem Papier ebenso errechnen lässt wie der perfekte Torschuss, aber nun mal doch von einem sündigen Mensch ausgeführt wird, der ein Instrument mit Instinkt bedient und nicht mit Kopfrechnen. Ein Auto am Limit bewegen ist Musik. Man hört das Chassis, die Luft, den Motor, man spürt jede der Myriaden von Erhebungen auf dem Asphalt, man ist eins mit dem Gerät, welches man bedient, es ist sehr heiß und schwül, extrem laut, unbequem. An einem solchen Ort des Stresses hat der Pilot sein Innerstes zu finden und zu betrachten, um mit aller Ruhe meditativ Entscheidungen von unter Umständen lebensbedrohlicher Konsequenz zu überdenken. «Der Preis einer beweglichen Menschheit ist der gelegentliche Unfall», ist eines von zahllosen CarrollSmith-Mantras. Ich bin sein Jünger. Nichts kann mich von seinem Glauben abbringen. Dieses Buch hat mich zu 223
einem Motorsportler gemacht, was zu einem stolzen 11. Gesamtplatz der New-Beetle-Tourenwagensaison 2000 und zu einem sensationellen Klassensieg des legendären 24-h-Rennen am Nürburgring 2001 führte.
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PETER SODANN Bibliothek gegen das Vergessen Ich komme aus einem Leseland. Literatur war eine Enklave für Hoffnungen, Träume, Ideale. In den Büchern fanden die Auseinandersetzungen statt, die im wirklichen Leben gern verhindert wurden. Literatur wollte aufklären, stellte Zusammenhänge her, wo besser keine sein sollten. Bücher beschrieben den Alltag jenseits schönfärbender Ideologie. Die Autoren und Dichter wurden geachtet. Sie erhielten Preise und Auszeichnungen und – Stasiakten, die mitunter mehr Seiten enthielten, als der Dichter je geschrieben hatte. So viel Aufmerksamkeit wurde ihnen gewidmet. Vielleicht zu Recht, denn in den guten Büchern, auch denen sowjetischer Autoren (wie Valentin Rasputin, Tschingis Aitmatow oder Wassili Schukschin), wurde schon gedacht und erzählt, was dann 1989 zur Wende führte. Was einmal gedacht war, ließ sich nicht verbieten, es war in der Welt und blieb in der Welt. Den Gedanken folgten Taten. Dann kam die Wende über Deutschland, das geteilte Vaterland wurde durch den Osten endlich wieder eins. Aber was geschah mit der Literatur des Ostens? In Halle an der Saale gab es ein Clubhaus der Gewerkschaften mit einer großen Bibliothek, es gab ein Haus der Deutschsowjetischen Freundschaft mit Bibliothek, es gab die Zweigstellen der Stadtbibliothek. Wichtig daran waren aber nicht die gesammelten und katalogisierten Bücher, sondern die Immobilien, die begehrt waren und verkauft werden sollten. Die Literatur war keine Lust mehr, sondern wurde zur Last. Lkws fuhren vor, wurden voll 225
geladen mit dem bedruckten und nun auf einmal wertlosen Papier und donnerten zur städtischen Müllkippe. Vorwärts und nicht vergessen? Damals kam mir die Bücherverbrennung der Nazis in den Sinn. Der Vorgang jetzt war allerdings viel unspektakulärer. Wen hat das schon interessiert. Es geschah in aller Stille, ohne Widerstand. Ich habe versucht, diesem Treiben Einhalt zu gebieten, aber es hat niemand auf mich gehört. Deshalb habe ich damals beschlossen, in irgendeiner Zeit und wenn es irgendwie geht, eine Bibliothek aufzubauen, in der alle Bücher stehen, die in der DDR seit dem 8. Mai 1945 bis zu Schabowskis bestem und vernünftigstem Ausspruch: «Die Mauer ist geöffnet» über oder unter den Ladentisch gegangen sind. Inzwischen ist die Sammlung von Literatur aus jener vergangenen Zeit im neuen Theater Halle stetig angewachsen, aber längst noch nicht komplett. Circa 270000 Bände wollen gesammelt sein. Aber lesende Menschen aus Ost und West, aus Nord und Süd rufen uns an, schicken uns ihre Kostbarkeiten per Post oder bringen sie selbst vorbei. Und nicht immer fällt es ihnen leicht, sich davon zu trennen. Ursula Schade aus Altenburg schrieb zum Beispiel: «Jetzt ist der Moment, da die Bücher abgeholt werden. Schon beim Sortieren und Einpacken liefen fast 50 Jahre Zeit- und Lebensgeschichte durch die Gedanken. Es kostet doch einige Überwindung, sich von Büchern zu trennen, an denen liebe Erinnerungen hängen. Umso leichter ist es mir geworden, nachdem ich weiß, dass die Bücher noch eine Zukunft haben.» Oder Ruth Butowski aus Dresden schrieb: «Auf Ihr Schreiben vom 23.03.00 antworte ich erst heute, weil ich die Bücher vor der Abgabe alle noch einmal lesen wollte! Nun sind eine Menge gelagert und 226
türmen sich auf der Liege. Zuschnüren kann ich diese allerdings nicht selbst – ich bin über 85 Jahre alt und habe dazu keine Kraft mehr …» Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringen wird. Welche Katastrophen, welche Erleuchtungen kommen auf uns zu. Aber wir können wissen, was in der Vergangenheit geschah, um Fehler nicht zu wiederholen. Das kann uns helfen zu verstehen. Literatur – und übrigens auch Theater – sind für mich das lebendige Gedächtnis der Menschheit. Es sind weder die Historiker noch die Politiker, die dem Geheimnis des Lebens auf der Spur sind. Historiker wählen aus der Fülle des Materials aus, das Wirklichkeit heißt. Und interpretieren das Ausgewählte aus dem Geist der Zeit, in der sie leben und sich einrichten müssen. Über Politiker schweigen wir hier. Aber gute Literatur, die es zu allen Zeiten gab, auch zu DDR-Zeiten (das wird heute gern vergessen), entdeckt die Schönheit hinter dem geordneten Chaos, das Leben hinter der Ideologie, den Menschen hinter seinen Masken. Ich habe viel gelesen in meinem Leben. Ein Mensch, dem der Krieg den Vater weggeschossen hat, braucht vielleicht Bücher als Ersatz, wenn er verstehen will, was die Welt im Innersten zusammenhält. Karl May, Tarzan, Willi Bredel, Albert Camus zum Beispiel haben mir dabei geholfen. Und ich zitiere gerne einen Satz aus einem Buch, das zwar nicht verboten, aber auch nicht zu bekommen ist – um auch einen sowjetischen Autor mitreden zu lassen, nämlich Nikolai Ostrowski: «Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben, und benutzen soll er es so, daß ihn zwecklos verlebte Jahre nicht bedrücken, daß ihn die Schande einer niederträchtigen und kleinlichen Vergangenheit nicht brennt und daß er, sterbend, sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze 227
Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt, dem Kampf für die Befreiung der Menschheit gewidmet. Ja, man muß sich mit dem Leben beeilen. Denn eine dumme Krankheit oder ein tragischer Zufall kann dem Leben ein Ende bereiten.»
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DOROTHEE SOLLE Falls ich Brecht im Himmel treffe Bertolt Brecht ist einer meiner großen Lehrer, und das ist vielleicht das Wichtigste, was man über einen Menschen sagen kann. Ich verdanke ihm in zweierlei Hinsichten viel, einmal literarisch, aber erstaunlicherweise auch theologisch. Er hat mir die Bibel nahe gebracht – «Sie werden lachen», um ihn zu zitieren! Ich fange mit meiner Suche nach literarischen Sprachformen an. Wie viele junge Mädchen aus dem Bildungsbürgertum habe ich mit dreizehn oder vierzehn angefangen, Gedichte zu schreiben, Eichendorff, Hermann Hesse, früher Rilke waren meine Vorbilder, aber schon als ich beim späten Rilke ankam, endete dieser Weg. Ich studierte dann Germanistik und wusste bald genug, um zu erkennen, dass ich sprachunfähig sei. Brecht holte mich aus diesem Gefängnis heraus, er erlaubte den Alltag, gewöhnliche Wörter, freie Rhythmen, vor allem aber Widersprüche. In «Schlechte Zeit für Lyrik» las ich: «In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers» Diese streitenden Stimmen kannte ich – in der Adenauerepoche des Verschweigens und der Remilitarisierung – allzu genau. Je mehr ich von Brecht las, umso freier wurde ich, selber zu sprechen. Ich zitiere ein Beispiel aus dem Jahr 1969, als mein erstes Bändchen mit «meditationen und gebrauchstexten» erschien. Du bist ihm nötig das ist das ganze ohne dich muss er 229
dranhängen und durch den Schornstein fahren verkauft bleiben an den konditor aufgewertet beim nächsten börsensturz verzehrt und verraucht ein verbrauchter ohne dich Du sollst ihm helfen das ist der glaube er schafft es nicht sein reich damals später und bislang jedenfalls nicht ohne dich ebendies ist seine unbezwingliche Werbung Und ich möchte noch ein zweites Textbeispiel zitieren. Es ist auf meinem Buch «Sympathie» (1978) abgedruckt und versucht den Titel zu erklären. meine junge tochter fragt mich griechisch lernen wozu sym-pathein sage ich eine menschliche Fähigkeit die tieren und maschinen abgeht lerne konjugieren noch ist griechisch nicht verboten Vielleicht wäre als Titel «Frei durch Brecht» noch angemessener! Ich kann mir meine schriftstellerische Existenz ohne sein ermutigendes Vorbild nicht vorstellen. Die Reimlosigkeit und der freie und zugleich dem Sprechen angenäherte Rhythmus, die Mischung von Alltag und sich irgendwie einschleichenden «hohen Tönen», das Miteinander von Spott und Trauer, all diese Elemente haben mir geholfen, eine Sprache zu finden, die ich mit einem vielleicht zu großem Wort «Theo-poesie» nenne. Ein weiteres Beispiel ist der kleine Text «Das fenster der verwundbarkeit», ein Buchtitel von mir (1987) und ein Gedicht, das ohne Brecht nicht denkbar wäre. Das fenster der verwundbarkeit so sagen die militärs um 230
die aufrüstung zu begründen muß geschlossen werden Ein fenster der verwundbarkeit ist meine haut ohne feuchtigkeit und ohne berührung muß ich sterben Das fenster der verwundbarkeit wird zugemauert mein land kann nicht leben Wir brauchen licht um denken zu können wir brauchen luft um atmen zu können wir brauchen ein fenster zum himmel Diese Befreiung zum ausgehaltenen Widerspruch hat ebenfalls mein theologisches Denken geprägt. Ich stamme aus einem postchristlichen Elternhaus, habe zwar Bach und Bibel geerbt, konnte aber nach Auschwitz nicht an den «Herrn, der alles so herrlich regieret» glauben. Mit der Allmacht konnte ich nichts anfangen. Brecht half mir, anders zu glauben. Gott war nicht gerade allmächtig in der Nazizeit, er hatte zu wenig Freunde und Freundinnen in Deutschland. Brecht hat mir mit der stummen Kattrin aus der «Mutter Courage» geholfen, besser zu verstehen, was Gebet wirklich heißt. In der letzten Szene des Dramas, im Januar 1636, versuchen die kaiserlichen Truppen, die evangelische Stadt Halle zu überfallen. Sie zwingen einen jungen Bauern, ihnen mitten in der Nacht den Weg zu zeigen. Vom Terror der Soldaten eingeschüchtert, fängt die Bäuerin an, mit der behinderten Kattrin zu beten. «Bet, armes Tier, bet! Wir können nix machen gegen das Blutvergießen. Wenn du schon nicht reden kannst, kannst doch beten. Er hört dich, wenn dich keiner hört. Ich helf 231
dir. (Alle knien nieder) … Vater unser, hör uns, denn nur du kannst helfen, wir möchten zugrund gehn, warum, wir sind schwach und haben keine Spieß und nix und können uns nix traun und sind in deiner Hand …» Unbemerkt steht Kattrin beim Beten auf, klettert auf das Dach der Scheune und trommelt die Leute in der Stadt wach. Sie wird zusammengeschossen, aber die Stadt ist gewarnt. In dieser Zuspitzung wurde mir der jahrhundertelange Missbrauch der Gebets klar: sich selber als ohnmächtig erklären – und für andere beten. Worte zu einem Höheren anstelle der Taten für die neben uns. In meinem Zorn schrieb ich in einem von Kattrin handelnden Aufsatz über das Gebet 1968 den Satz: «Fragt man Christen, was sie für die Juden während der Verfolgung getan haben, so heißt die verlogenste Antwort: wir haben gebetet.» Das habe ich von Brecht gelernt, eine radikale Diesseitigkeit, die sich nicht auf Vertröstungen einlässt. Aber wenn ich das heute, in einer postchristlichen Welt lebend, überdenke, frage ich mich noch etwas anderes. Hätte Kattrin denn auch getrommelt, wenn die anderen nicht gebetet hätten? Wenn sie nicht Beten gelernt hätte? Wenn sie nicht in einer Welt des Gebets aufgewachsen wäre? Gehört Trommeln und Beten nicht vielleicht zusammen, wie bei Dietrich Bonhoeffer Beten und Tun des Gerechten, und ist dieser Widerspruch gar kein Entweder-oder? Einer meiner Lieblingstexte von Brecht ist die Keunergeschichte «Die Frage, ob es einen Gott gibt». Sie wird zunächst naiv gestellt auf der Ebene, in die sich der konservative Dogmatismus und Feuerbach’sche Religionskritik teilen. Sie lautet dann: ob es einen Gott gibt oder ob er eine bloße Projektionsfigur menschlicher Wünsche und Sehnsüchte sei. Es ist eine Frage, die 232
angeblich theoretisch-objektivierend gelöst werden kann, unter Absehung von den Menschen, die sie stellen. Es ist eine Frage, wie man sie nach einem Ding, einem Stück Natur stellen mag, das unabhängig von einem selber existiert. Die Ebene der Theologie ist in dieser Art zu fragen nicht erreicht – «einen Gott, den es gibt, gibt es nicht», um eine berühmte Formulierung Bonhoeffers zu gebrauchen. Eben das weiß auch Brecht. Im Sinne der Marx’schen Überwindung der Feuerbach’schen Religionskritik formuliert er: «Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde.» Entscheidend ist also, ob dieser Gott gebraucht wird oder nicht, ob ein Bedürfnis nach Gott besteht oder nicht. Die Einführung des Wortes «brauchen» macht den ganzen Unterschied zu der jahrhundertelang falsch gestellten Frage, ob es Gott gibt, ob er beweisbar oder vielleicht fotografierbar ist, und in diesem Brauchen stimme ich mit Brecht überein. Die Bedürfnisse des Menschen sind es auch hier, die Wirklichkeit zu verändern, und insofern ist Feuerbach nicht erledigt, sondern aufgehoben in dem Satz: «Würde sich dein Verhalten ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage: du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.» Die Fortführung des Marx’schen Gedankens, dass nämlich die Veränderung der Lebensbedingungen aller die Bedürfnisse, die sich jetzt noch religiös formulieren, so stillen werde, dass niemand mehr einen Gott brauchen wird, um ein Mensch zu sein, diese Folgerung ist hier nicht ausgesprochen, weil sie didaktisch sinnlos wäre. Nur die Erfahrung könnte den Frager dazu bringen, seine Frage als überflüssig fallen zu lassen, nur das realisierte Glück könnte ihm den Traum von der Seligkeit ausreden. Anders gesagt: Erst in der erreichten klassenlosen Gesellschaft 233
könnte er darauf verzichten, einen Gott zu brauchen. Insofern gibt auch diese Geschichte kein «abschließendes Urteil» her, sondern provoziert neue Fragen. Ich nähere mich einer wichtigen Frage an BB, sie betrifft seinen merkwürdigen Glauben an die Wissenschaft. Brauchen wir nicht noch andere Sprachen als die der Wissenschaft? «Beten ist Wünschen, nur feuriger», sagte Jean Paul. Müssen wir nicht alle wünschen lernen, statt im «wunschlosen Unglück» herumzusitzen? Können wir auf die Sprache der Religion verzichten? Reichen die Sprachen des Geldes und der Wissenschaft, die wir so vorzüglich beherrschen? Ist es nicht Aberglaube, diese Verklärung der Wissenschaft, die keine anderen Wünsche mehr zulässt als die wissenschaftlich erfüllbaren? Was soll denn eigentlich das Wort «Wissenschaftsfrömmigkeit» bedeuten? Steht das bei Brecht? Gegen die darin angebetete Göttin habe ich einige Vorbehalte. Mir ist in den letzten zehn Jahren ein Satz von Martin Luther wieder eingefallen, den ich wahrer als je finde. Er heißt: «Die Vernunft ist eine Hure», sie schläft mit jedem, wenn er zahlt. Siehe Gentech. Mit Brecht teile ich den berühmten Satz von Karl Marx, dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Aber dieser Satz ist doch nicht empirisch zu begründen, der Neoliberalismus mit seiner Radikalisierung der kapitalistischen Barbarei bringt uns doch bei, dass es eben Winner und Loser gibt, im Verhältnis 20 zu 80. Die Gewinner haben das Recht, lang zu leben, gut zu leben, neue Organe zu kaufen, wenn die alten es nicht mehr tun. Und die Verlierer? Nun, am wichtigsten ist es, gegen sie aufzurüsten, sonst werden sie alle Terroristen. Der wunderbare Satz von Karl Marx 234
wurzelt im jüdischen Denken, das der Enkel eines Rabbiners zwar verleugnete – wie Brecht seine fromme Großmutter –, aber nicht loswurde. Leidenschaft für dieses andere Denken entsteht nicht aus wissenschaftlicher Analyse, es kann und soll sie benutzen. Aber die unbeirrbare Wahrheit dieser Annahme der guten Schöpfung für alle braucht etwas mehr. In der Religion nennen wir das «Glauben». Damit ist nicht die Für-wahrHalterei einiger merkwürdiger heilsgeschichtlicher Ereignisse gemeint, wohl aber eine Vorwegnahme des Lebens für alle. Dass die Verhältnisse, in denen der Mensch geschändet wird, «umzuwerfen» sind, wie Marx sagt, ist ein Satz, der ausgreift in das Land des Gelingens, in dem das Recht für alle hergestellt und die Tränen der Menschen getrocknet sind. Dass es so etwas geben soll, ist nicht wissenschaftlich erweisbar. Keine Wissenschaft kann solche Sätze gebären und keine Rationalität sie begründen. Er braucht den Zeugen, den wir in der Sprache der Religion G.O.T.T. nennen. Postreligiöse einfache Menschen sagen manchmal: So kann’s doch nicht gemeint sein … das kann doch nicht alles sein. Das sind hilflose, aber wunderbar fromme Stammeleien. Ich kann nicht übereinstimmen mit Marx, dass der Mensch für den Menschen das höchste Wesen sei. Dass der Weg zu Gott im jüdischen Denken über den Nachbarn geht, den Nächsten, also meine mir auf den Geist gehende Nachbarin, die immer die falsche Musik hört, das ist eins der größten Geschenke des Judentums an die Menschheit. Ich glaube daran, aber doch mit dem Ziel, dass auch meine Nachbarin, die nichts als die Bild-Zeitung liest, sich eines Tages auf den Weg zu Gott macht. Der radikale Humanismus hat seine eigenen Sprachschwierigkeiten. Er kann nicht beten; er kann nicht mehr wünschen, als möglich erscheint. Aber wir alle brauchen das Mehr, das 235
wir Transzendenz nennen. Wir brauchen einen Garanten für das Recht der Armen, der Überflüssigen, der Behinderten, der größer ist als unser Ermessen. In diesem Sinn sind wir alle «unheilbar religiös». Diese Krankheit wird man nicht los im tüchtigen Leben. Falls ich Brecht im Himmel treffe, würde ich ihn gern fragen, ob ihm denn die wissenschaftliche Vernunft wirklich ausreicht, ob er alle behinderten Kinder früherkennen und abtreiben und dafür neue, die schöner und klüger sind, zusammenklonen lassen will. Natürlich geht es mir um eine Versöhnung von Vernunft und Glauben. Aber wenn die gesamte Schöpfung auf dem Spiel steht, muss sich auch die Vernunft befragen lassen. Es ist mir klar, dass sie die Fähigkeit hat, den Glauben zu reinigen, er hat sich so oft bekleckert, verschmiert, missbraucht. Heute gehören kritische Theologen zu den unerbittlichsten Kritikern des Glaubens. Aber neben den Satz, dass die Vernunft «reinigt» wie ein gutes Putzmittel, möchte ich einen zweiten ebenso notwendigen stellen: Der Glaube heilt die Vernunft, sie ist zur Zeit schwer erkrankt – ein Blick auf Gentech genügt! Reinigen und Heilen schließen sich nicht aus. Eine Wissenschaft, die sich selber völlig unverwundbar macht, ist so tödlich wie der gegenwärtige Zustand. Transzendenz macht uns verwundbar – und das ist das einzige Fenster zum Himmel, das wir haben.
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UWE TIMM Lese-Lust Die Anfänge des Lesens – Qual, Demütigungen, Spott. Allerdings war das eine Zeit, 1946, in der sich der pädagogische Eros noch durch Kopfnüsse bemerkbar machte. Heute sind Tätlichkeiten verboten, aber was bleibt, meistens jedenfalls, ist der Zwang: Schulpflicht eben. Kein Wunder, dass viele der so Alphabetisierten mit Verweigerung kontern und später kaum noch lesen. Andere wiederum reagieren durch Überanpassung, studieren Literaturwissenschaft oder Linguistik. Ich gehörte zunächst zu den Verweigerern, las, zum Kummer meiner Eltern, nicht, bis ich, ich war wohl zwölf, plötzlich nur noch las, was die Eltern auch wieder beunruhigte. Was war geschehen? Ein wohlwollender Lehrer hatte mir für einen Lesewettbewerb die Stelle aus «Kon-Tiki» ausgesucht, in der Heyerdahls Papagei über Bord gespült wird. Ich übte, las und – sonderbar – während ich laut lesen übte, bekamen die Wörter, die sonst nur widerspenstige Zeichen waren und abgetrennt von den Dingen mühsam ihre Bedeutung hinter sich herschleppten, ihren Klang, also ihren Körper. Durch diese Verbindung von Klang und Verstehen stellte sich plötzlich Lust ein. Eine Woche später saß ich auf dem Podium, gewann auch einen Preis, das Buch «Kon-Tiki», las es neugierig geworden durch und von da an alles, was mir in die Finger kam, regelrecht süchtig, Triviales wie Literarisches, auch heimlich, nachts, ein Laster, die Lust der Rebellion, die Lust, sich abzusondern, für sich und doch in der Welt zu sein. 237
GYULA TREBITSCH Lesen ist ein Lebens-Mittel «An Zerstreuung läßt es uns die Welt nicht fehlen … wenn ich lese, will ich mich sammeln.» Wenn Goethe zu seiner Zeit schon solche Empfindungen hatte, wie sehr trifft das wohl für viele Menschen der heutigen Situationen mit ihren Mega-Multi-Attributen zu! Goethe bewegte sich noch in seinen überschaubaren Lebenswelten und erfuhr vergleichsweise gemäßigt vom Weltgeschehen. Wir sind heutzutage umgeben von Bildern, Ereignissen und Meinungen, denen schwer auszuweichen ist, sind verstrickt in diverse Beziehungen, Interaktionen und Tätigkeiten – wie können wir da noch zur Ruhe kommen, uns sammeln? Lesen kann eine große Hilfe sein. Lesen heißt, sich auf die eigene Persönlichkeit zu besinnen, dass diese sich dadurch entwickeln lässt und den genannten Strapazen eine Kraft entgegensetzen kann. Über all die Jahre meiner Tätigkeit als Filmproduzent war mir der Wert des Lesens von Büchern bewusst. Im November 1914 wurde ich in Budapest geboren. Im August desselben Jahres war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und es folgte eine belastende und unruhige Zeit. Mein Vater hatte sich freiwillig zur Front gemeldet. Er wurde mehrmals schwer verwundet und hoch ausgezeichnet. Ich bin in einer sehr traditionsbewussten Familie aufgewachsen, wo auch das Bücherlesen gepflegt wurde. Meine Schulzeit hatte ich an der Budapester Handelsakademie beendet. Es war ein glücklicher 238
Umstand, dass mein damaliger Klassenlehrer eigentlich ein Literaturprofessor war, und so gehörte es zu unserer Ausbildung, auch Klassiker zu lesen und zu analysieren. Die Theater in Budapest haben damals Nachmittagsvorstellungen für die Schulen gegeben. Da habe ich zum ersten Mal den «Faust» (1. Teil) gesehen. Leider hatten die Schauspieler sehr schnell gesprochen, weil abends schon die nächste Vorstellung stattfand. Deshalb war der Text schwer verständlich. Aber in der Deutschstunde lasen wir kleine Ausschnitte. Seither hat mich der «Faust» fasziniert, seine Sprache und der Rhythmus der Verse. Die Inhalte mit oft verschlüsselten Deutungen. Deshalb gab es stets über etwas Neues nachzudenken. Eine Fülle von Bildern entstand in meinem Kopf. 1932 begann meine Lehrzeit bei der Ufa in Budapest, und ich wurde in allen Sektoren der Filmproduktion ausgebildet und habe unter anderem gelernt, Drehbücher kritisch zu lesen. Ich bekam auch die Möglichkeit, für eigene Filmproduktionen tätig zu sein. Aber schon bald verhinderten die antijüdischen Gesetze meine Aktivitäten. Ich wurde zum ungarisch-jüdischen Arbeitsdienst einberufen und in den verschiedensten Ländern und Lagern inhaftiert, bis zur Befreiung 1945 in Wöbbelin bei Ludwigslust durch die 82. US-Luftlandedivision Die Befreiung bedeutete auch, dass ich wieder lesen durfte. Während dieser schrecklichen Jahre hatte man uns keine Möglichkeit zum Lesen gegeben, was für mich in dieser würdelosen Zeit eine zusätzliche Erniedrigung war. Durch eine Lizenz der britischen Militärregierung konnte ich wieder im Filmtheater arbeiten und ab 1947 dann Filmproduktionen durchführen. Viele interessante Gespräche mit Autoren haben uns die reale Basis für unsere Filmproduktionen gegeben. Selbstverständlich war 239
nicht nur das Lesen von Drehbüchern eine tägliche und erfreuliche Beschäftigung. Ich las überhaupt sehr viel, schon aus beruflichen Gründen war das erforderlich, und seit meiner Schulzeit hat mich auch immer wieder der «Faust» begleitet, der übrigens einer der meistgedruckten Literaturstoffe ist. Gustaf Gründgens hat auf meine Anregung hin seine Theaterinszenierung von 1957 in unseren Ateliers in Hamburg 1960 filmisch aufnehmen lassen. Diese Inszenierung vom Schauspielhaus, festgehalten im Film, ist bis heute die erfolgreichste «Faust»-Darstellung. Bei den Gesprächen mit Gründgens haben wir einen Plan entwickelt, den «Faust» auch an Originalschauplätzen neu zu drehen. Leider hat sein Tod die Realisierung dieser Idee verhindert. Im Jahr 1986 schließlich haben wir mit August Everding geplant, Gründgens’ Idee zu verwirklichen. Wir hatten ein Drehbuch erarbeitet, doch die Realisierung scheiterte, weil keine Fernsehsendeanstalt das Projekt übernommen hat. Für mich war der «Faust» immer wieder ein Leseerlebnis mit jeweils neuen Einblicken. So habe ich auch andere Bücher des Öfteren ein zweites Mal gelesen, wobei man die wertvolle Erfahrung macht, dass sich meistens dadurch auch neue Perspektiven eröffnen. Diesem Phänomen des erweiterten Verständnisses entspricht wohl, was Goethe mit eigener Erfahrung des Lesens meinte: «Die guten Leutchen wissen nicht, was es einen für Zeit und Mühe gekostet hat, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziel wäre.» Das ist meiner Meinung nach eine sehr weise Einsicht. Nur durch Lesen, durch eigene Arbeit am Stoff der Worte und Inhalte, an der Entwicklung von Denken und Phantasie kommen wir zu eigenen Erkenntnissen. Wir bilden eigene 240
Aussagekräfte heraus und können eine besonnene und kritische Haltung gegenüber den Geschehnissen in unserem Leben entwickeln. Und das bleibt immer im Offenen – damit werden wir nie zu einem Abschluss kommen, das wäre gleichbedeutend mit dem Ende des Lebenssinns. Eine erfreuliche Begleiterscheinung ist, dass das Lesen im Allgemeinen auch eine hohe Flexibilität im Alter bewahrt, es hält lebendig im Denken und erzeugt immer wieder Neugier auf das vielfältig sich fortbewegende Leben. Man soll dabei jedoch die Literaturauswahl bedenken: Das Schlechte kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen. Überhaupt ist die Literaturbildung an Schulen sehr wichtig, denn nur so kann man das Interesse an Büchern fördern. Unsere Jugend ist den Einflüssen von Medien und Konsum überdimensional ausgesetzt, sie hat kaum Zeit, sich selbst zu finden, nachzudenken, sich zu sammeln. Ich hoffe und wünsche es mir, dass auch der «Faust» in den Schulen eine feste Lektüre bleibt. Unsere Phantasie ist überall schon «kanalisiert», nur beim Lesen entwickelt man seine eigenen Bilder und Gedanken und damit unter anderem selbständiges Tun. Dies ermöglicht im Weiteren, Unterscheidungen zu treffen, und bildet uns zu mündigen Bürgern unserer Gesellschaft heran. Erst durch Lesen lernt man, wie viel man ungelesen lassen kann, und es hilft uns, die wesentlichen Dinge des Lebens zu behandeln.
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KLAUS WAGENBACH Schätz mal! Endlich war ich Lehrling. Januar 1950, in einem Verlag mit dem seltsamen Namen «Suhrkamp vorm. S. Fischer». Damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig, wovon ich noch weit entfernt war, weswegen mein Vater den Lehrvertrag unterschreiben musste, ungern, und nur unter der Bedingung, dass ich nach der Verlagsbuchhändlerlehre (die er offenbar für etwas Unseriöses hielt) dann gleich etwas Ordentliches studiere. Ich versprach es ihm und fing auch schon während der Lehre damit an (Abendstudium, das war damals durchaus üblich), um es schnell hinter mich zu bringen und aus der Welt der Sekundärliteratur wieder in die der Primärliteratur zurückzukehren. Denn die hatte mich ja in die Lehre gelockt mit Texten von Saroyan, Hemingway, Steinbeck, Faulkner, Weisenborn, Plivier, Seghers, in großen Auflagen mit Rotationsmaschinen auf Zeitungspapier gedruckt und so billig, dass sie auch für einen Schüler erschwinglich waren. Das, dachte ich mir, muss ein wunderbarer Beruf sein: die Demokratisierung von wichtigen Inhalten und Formen (denke ich noch heute). Zu meinem großen Glück kam ich zuerst in die Herstellung und damit in die Hände eines wunderbaren Lehrers, Fritz Hirschmann, der mir beibrachte, dass Bücher nicht nur billig, sondern auch schön zu sein hätten. Inzwischen, im Sommer 1950, stellte sich heraus, dass meine beiden Verleger, Peter Suhrkamp auf der einen, das Ehepaar Brigitte und Gottfried Bermann Fischer auf der 242
anderen Seite, nicht zusammenarbeiten konnten. Das sah sogar ein Lehrling: Hier der ungeheuer magere (er hatte eine längere KZ-Haft knapp überlebt), sehr deutsche, sehr protestantische, überzeugungsstarke Pädagoge Suhrkamp, dort ein liberales jüdisches Ehepaar mit der Erfahrung des Exils, aber auch mit internationalem Flair – das konnte nicht gut gehn. So also kam es zur Trennung in zwei Verlage, Rechtsnachfolger war der S. Fischer Verlag, und so blieb ich bei meinem Lehrer Hirschmann, der mir kurz darauf ein braunes, schäbig gedrucktes Buch für eine Umfangschätzung in die Hand gab und sagte: «Bub, schätz das mal!» Ich begann also, Buchstaben für Buchstaben, die Zeilen zu zählen, und stutzte. Die erste Zeile, die ich da gezählt hatte, lautete: «Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Ich hatte so etwas noch nie gelesen. Vom Autor Kafka hatte ich schon gehört, auch, dass es zwischen den Verlagen S. Fischer und Suhrkamp eine Konkurrenz um die Rechte gegeben habe, weil es sich zwar um einen in Deutschland unbekannten, in der Welt aber berühmten Autor handele. In der folgenden Nacht las ich den «Prozeß», in den folgenden Tagen und Wochen alle anderen Bücher dieses Autors: Handelsreisende als Käfer, Affen als Menschen, ratlose Landvermesser, Väter im Nachthemd, unersättliche Trapezartisten und Hungerkünstler, sich selbst zerstörende Apparate, singende Mäuse, nie ankommende Botschaften und ein Amerika, das immer weiter und größer wurde. Eine phantastische und doch ganz reale Welt, mit wirklichen Autos und Telefonen, mit Angestellten und Vorgesetzten, mit Hotels, Brücken, Gerichtsgebäuden, Schiffen, eiligen Städtern und begriffsstutzigen Männern vom Land. Und mit unvergesslichen Bildern der Macht: 243
unerkennbare Gesetze, unerreichbare Richter, unerklärliche Urteile. Alles in einer eher wortarmen, klaren, einfachen, fast schlichten Prosa, die ganz und gar unzeitgemäß war in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, als Hans Carossa, Ernst Wiechert, Gertrud von Le Fort, Stefan Andres oder Werner Bergengruen die Schullesebücher füllten, ein ziemlich wortreicher Epigonen-Verein. Zu meiner Verblüffung wurde dann Kafka im Deutschland der fünfziger Jahre doch noch ein sehr zeitgemäßer Autor, praktikabel für allerlei mystisches Gesülze vom Numinosen, für Vereinnahmungen als Heiliger oder Prophet. Freilich, für deutsche Leser und Rezensenten war es am einfachsten, sich eine von Deutschen beschädigte Welt als «kafkaesk» zurechtzulegen, als unerklärlich und rätselhaft. Und ich war Zeuge im S. Fischer Verlag, als die Werbeabteilung das letzte Passfoto Kafkas – das Porträt eines kranken Mannes – so zurechtspritzte, dass den Betrachter die glühenden Augen eines Propheten anstarrten. Die Germanisten entwickelten noch eine besondere Variante dieser rauchfreien Realitätsverbrennung: die so genannte «werkimmanente Interpretation». Die Zeit zählt nicht, der Autor nicht, die Umstände nicht – nur der Text, der sozusagen als Komet durchs akademische Weltall fliegt, schlackenlos und frei von allen Gesetzen der Gravitation. Das war auch politisch eine feine Lösung in der braunen Biographie mancher dieser Germanisten – je brauner, desto werkimmanenter. Mich aber interessierten gerade die Lebensumstände (wie immer, wenn man sich in jemanden verliebt) dieses seltsamen Heiligen, und da gab mir die damals einzige Biographie von Max Brod (der ja seinen Freund Franz auch als eine Art Heiligen betrachtete) wenig Auskunft, 244
besonders nicht über seine tägliche Arbeit im Büro der «Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag». So fing es an. Daraus wurde ein erstes Buch, «Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend», 1957, eine kleine Rowohlt-Monographie (1964), zwei Leseausgaben der «Strafkolonie» und des «Landarzt» (den ich auch einmal auf einer CD gelesen habe), ein riesiger, immer wieder erweiterter Bildband und ein Reiselesebuch «Kafkas Prag»; jüngst eine Ausstellung für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, «Kafkas Fabriken». Es kann nicht anders enden als mit einem Kafka-Zitat, gesprochen von jenem Affen Rotpeter, der zum Mensch geworden ist und einigen akademischen Herrn vorhält: «Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.»
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ULRICH WICKERT Nie ganz geschlagen Über Philip Marlowe und andere Ich war so hohl und leer wie die Räume zwischen den Sternen. Als ich heimkam, mixte ich mir einen Streifen und trat damit ans Wohnzimmerfenster … , so spricht Philip Marlowe in seiner deutschen Fassung. Aber mit der Übersetzung verliert er schon einen Teil seines Charakters. Als ich Anfang der sechziger Jahre in den USA studierte, entdeckte ich in Raymond Chandler einen modernen Literaten, dessen Hauptfigur und Negativ-Held Marlowe mich faszinierte. In den folgenden Jahrzehnten habe ich die verschiedenen Erlebnisse dieses Detektivs immer wieder gelesen, mal auf Deutsch, wenn ich gerade unterwegs war, mal auf Französisch, weil es dort, wo ich reiste, gerade kein amerikanisches Exemplar gab. Aber Chandler wirkte nur echt auf Amerikanisch. Was heißt schon, ich mixte mir einen Streifen? Oder wenn da anstatt hey Doc jemand alors toubib sagt, dann verliert die Geschichte ihren Geruch. Jeder hat so seine Vorstellung von der Wirklichkeit, die ein Roman beschreibt. Aber auch alle Filme, in denen Marlowe dargestellt wird, von Humphrey Bogart, Robert Mitchum, James Garner oder Elliot Gould, treffen diese literarische Figur nicht wirklich. Zu ihr gehört vielleicht noch ein Tupfer James Bond, ein wenig Sean Connery. Mit Raymond Chandlers Geschichte aus Los Angeles und seinem Marlowe begegnete ich Texten, die mir sehr viel näher waren als alles, was mir Dostojewski oder 246
Tolstoi, die Manns oder Kafka, Hemingway oder Sinclair Lewis erzählt hatten. Chandler gelang es, eine Welt herzustellen, in der sich der banale, einfache Leser selbst vorstellen konnte oder in der er vielleicht hausen wollte. Ein Kunststück, das später J. D. Salinger mit Catcher in the Rye noch einmal gelingen sollte, aber nur für ein Buch. Im Unterschied zu Sinclair Lewis und seiner Figur Babbitt, die den Durchschnittsamerikaner in seiner Main Street in der ein wenig spießigen Welt darstellt, bewegt sich Marlowe in einer Phantasiewelt, die für die Bewohner von Hollywood zwar Alltag sein mag, für den Leser aber doch ein exotisches Gemisch darstellt. Die Bösen sind nicht immer hundertprozentig böse, wie später im Los Angeles von James Ellroy. Und in dieser erfundenen Welt, in die sich der Leser hineinprojizieren kann, erlebt er eine Hauptfigur, die ein alltäglicher kleiner Versager ist, aber doch geprägt von Humor, von Menschlichkeit, und am Ende eigentlich doch immer der Sieger, wenn auch fürchterlich verprügelt. Natürlich würde man heute nicht mehr so schreiben wie Raymond Chandler. Aber er liest sich noch gut. Heute würde man schreiben wie Raymond Carver, dessen Kurzgeschichten ich für die besten dieser Zeit halte. Auch hier geht es um Versager. Allerdings ohne tröstlichen Schluss. Aber auch bei Carver kann der Leser sich vorstellen, dass er mitten in der Geschichte lebt. Das halte ich für die große Kunst. Dennoch schafft Raymond Chandler mehr. Mit der Figur von Marlowe berührt er Leser (und Filmgänger) emotional. Na ja, manchmal überkommt Marlowe der Weltschmerz, aber wem geht’s nicht auch so? Dass er schließlich – auch 247
erst am Ende von Playback – eine Millionärin heiratet, wirkt ein bisschen sentimental. Aber da finden wir eine Parallele zu James Bond, den Ian Fleming auch an den Traualtar führt. Natürlich ist sie nicht nur schön, sondern auch Tochter eines fürchterlich reichen Menschen. Aber auch da reicht die Sentimentalität nicht lang: noch auf der Hochzeitsreise wird Frau Bond erschossen. Bei Marlowe wissen wir nicht, was aus der Ehe eigentlich wurde. Gedauert hat sie nicht. Und sein Erfinder, Raymond Chandler, hat über Marlowe geschrieben: Ich sehe ihn eigentlich immer auf einer einsamen Straße, in einsamen Räumen, ratlos, doch nie ganz geschlagen. So ist er. Und diese Figur hat mir immer wieder Trost gegeben. Wir mögen einsam sein, ratlos – doch nie ganz geschlagen.
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Die Autorinnen und Autoren Gabi Bauer, geb. 1962 in Celle, Journalistin, lebt in Hamburg. Moderatorin der ARD-Sendung «Tagesthemen» 1997-2001, leitet seit November 2001 die Talksendung «Gabi Bauer» in der ARD. Thorsten Becker, geb. 1958 in Oberlahnstein, Schriftsteller und Weltenbummler, lebt manchmal in Berlin. Im Frühjahr 2003 erscheint sein Roman «Die Besänftigung». Reinhold Beckmann, geb. 1956 in Twistringen bei Bremen, Journalist und TV-Moderator, lebt in Hamburg. Entwickelte u. a. die Sportsendungen «ran» und «ranissimo». Moderiert seit Januar 1999 die wöchentliche Talkshow «Beckmann» in der ARD. Klaus Bednarz, geb. 1942 in Berlin, Fernsehjournalist und Buchautor, Chefreporter des WDR, lebt in Köln. Zuletzt erschien sein Buch «Östlich der Sonne. Vom Baikalsee nach Alaska». Frédéric Beigbeder, geb. 1965 in Neuilly sur Seine, lebt als Kritiker und Schriftsteller in Paris. Sein Roman «Neununddreißig neunzig» wurde ein internationaler Bestseller. Der hier abgedruckte Text entstammt dem Buch «Letzte Inventur vor dem Ausverkauf». Aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller. Heinz Berggruen, geb. 1914 in Berlin, Kunstsammler und Autor, emigrierte 1936 nach Kalifornien. Lebt seit einigen Jahren wieder in seiner Geburtsstadt, wo seine Sammlung «Picasso und seine Zeit» im Stülerbau gezeigt wird. Norbert Blüm, geb. 1935 in Rüsselsheim, Politiker und 249
Autor, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1982-98, langjähriges Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Friedrich Christian Delius, geb. 1943 in Rom, aufgewachsen in Wehrda, lebt als Schriftsteller in Berlin. Anfang 2003 erschien: «Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer». Gerhard Delling, geb. 1959 in Rendsburg Journalist, lebt in Hamburg. Moderiert Sportsendungen der ARD, bei Fußballübertragungen meist gemeinsam mit Günter Netzer. John von Düffel, geb. 1966 in Göttingen, Theaterdramaturg und Autor, gegenwärtig engagiert am Thalia Theater in Hamburg. Zuletzt erschien sein Essayband «Wasser und andere Welten». Amelie Fried, geb. 1958 in Ulm Journalistin und Buchautorin, lebt in Dietramszell bei München. Moderiert die Talkshow «3nach9», schrieb den Bestseller «Traumfrau mit Nebenwirkungen». Heinz Friedrich, geb. 1922 in Roßdorf bei Darmstadt, Verleger und Autor, lebt in München. Leitete viele Jahre den Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) in München. Ernst Fuchs, geb. 1930 in Wien, Maler und Dichter, Mitbegründer des Phantastischen Realismus, lebt in Wien und Monaco. Seine Erinnerungen erschienen unter dem Titel «Phantastisches Leben». Robert Gernhardt, geb. 1937 in Reval / Estland, Dichter und Zeichner, lebt in Frankfurt. Mitbegründer der Zeitschrift «Titanic». Zuletzt erschien der Gedichtband «Im Glück und anderswo». Petra Gerster, geb. 1955 in Worms, Journalistin, Moderatorin der Sendung «heute» im ZDF, lebt in Mainz. Veröffentlichte mit Christian Nürnberger den Bestseller 250
«Der Erziehungsnotstand». Max von der Grün, geb. 1926 in Bayreuth, lebt als freier Schriftsteller in Dortmund. Bekannteste Werke: der Roman «Irrlicht und Feuer» und das Jugendbuch «Vorstadtkrokodile». Ulla Hahn, geb. 1946 in Brachthausen/Sauerland, Schriftstellerin, lebt in Hamburg. Veröffentlichte u. a. zahlreiche Lyrikbände, zuletzt den Roman «Das verborgene Wort». Petra Hammesfahr, geb. 1951 in Immerath, Schriftstellerin, lebt in der Nähe von Köln. Die erfolgreichste Krimi-Autorin deutscher Sprache, Gesamtauflage über zwei Millionen Bücher. Klaus Harpprecht, geb. 1927 in Stuttgart, Journalist und Buchautor. Lebt seit 1982 in Südfrankreich. Zuletzt erschien «Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt». Felicitas Hoppe, geb. 1960 in Hameln, Schriftstellerin, lebt in Berlin. Veröffentlichte u.a. «Picknick der Friseure» und «Pigafetta», Anfang 2003 erschien: «Paradiese, Übersee». Walter Jens, geb. 1922 in Hamburg, emeritierter Professor für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik, lebt in Tübingen. Im Frühjahr 2003 erscheint die zusammen mit seiner Frau Inge Jens geschriebene Biographie «Frau Katia Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim». Michael Jürgs, geb. 1945 in Ellwangen, Journalist und Buchautor, war u. a. Chefredakteur der Zeitschriften «Stern» und «Tempo», lebt in Hamburg. Veröffentlichte zuletzt: «Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters». Jörg Kachelmann, geb. 1958 in Lörrach, Meteorologe 251
und Journalist, lebt in der Schweiz. Produzent und Moderator von populären Wettersendungen, Herausgeber des Buches «Die große Flut». Margot Käßmann, geb. 1958 in Marburg/Lahn, Theologin, lebt in Hannover, seit September 1999 Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover. Ephraim Kishon, geb. 1924 in Budapest, gilt als der erfolgreichste satirische Schriftsteller der Welt, lebt in Israel. Der hier abgedruckte Text ist die überarbeitete Fassung einer Passage seiner Autobiographie «Nichts zu lachen». Ruth Klüger, geb. 1931 in Wien, wurde als Zwölfjährige ins KZ verschleppt, emigrierte 1947 in die USA. Lehrt heute als Germanistin in Irvine/Kalifornien und in Göttingen. Ihre Autobiographie «weiter leben» ist ein internationaler Bestseller. Uwe Kolbe, geb. 1957 in Berlin/DDR, Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Tübingen und Berlin, leitet das Tübinger «Studio Literatur und Theater». Zuletzt erschien sein Prosaband «Der Tote von Belintasch». Helmut Krausser, geb. 1964 in Esslingen, freier Schriftsteller, lebt in München und Berlin. Veröffentlichte u. a. «Der große Bagarozy». Sein Roman «UC» erscheint im Frühjahr 2003. Hardy Krüger, geb. 1928 in Berlin. Schauspieler, Schriftsteller, Weltenbummler. Lebt in Hamburg und in Kalifornien. Der hier abgedruckte Text ist die erweiterte Fassung einer Passage aus dem Buch «Wanderjahre. Begegnungen eines jungen Schauspielers». ©1998 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach. Dieter Kürten, geb. 1935 in Duisburg, Sportjournalist, 252
lebt in Wiesbaden. Moderierte u. a. viele Jahre das «Aktuelle Sportstudio» im ZDF. Im Sommer 2003 erscheinen seine Erinnerungen «Drei unten, drei oben». Ulla Lachauer, geb. 1951 in Ahlen/Westfalen, Autorin und Dokumentarfilmerin. lebt in Mannheim. Zuletzt erschien: «Ritas Leute. Eine deutsch-russische Familiengeschichte». Sigrid Löffler, geb. 1942 in Aussig/Elbe, Publizistin und Literaturkritikerin, lebt in Berlin. Viele Jahre Mitwirkende des «Literarischen Quartetts» im ZDF, jetzt verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift «Literaturen». Erich Loest, geb. 1926 in Mittweida, Schriftsteller, 1957 in der DDR wegen «konterrevolutionärer Gruppenbildung» zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, lebt in Leipzig. Elisabeth Mann Borgese, geb. 1918 in München als jüngste Tochter von Katia und Thomas Mann, starb im Februar 2002. Lebte zuletzt als Professorin der Dalhousie University in Halifax/Kanada. Julian Nida-Rümelin, geb. 1954 in München, Philosoph und Kulturpolitiker, lebt in München und Göttingen. 2001/02 Kulturstaatsminister der Bundesrepublik Deutschland. Jan Philipp Reemtsma, geb. 1952 in Bonn, Wissenschaftler und Publizist, lebt in Hamburg. Vorstand des 1984 von ihm gegründeten Hamburger Instituts für Sozialforschung. Nina Ruge, geb. 1956 in München, Journalistin, lebt in München. Moderierte u. a. 1994-97 das ZDFNachrichtenmagazin «Heute nacht», leitet seither die Sendung «Leute heute». Katharina Rutschky, geb. 1941 in Berlin, Publizistin, lebt in Berlin. Zuletzt erschien ihr Buch: «Der Stadthund. 253
Von Menschen an der Leine». Oliver Sacks, geb. 1933 in London, lebt als Professor für Klinische Neurologie in New York. Seine Fallstudien machten ihn weltweit berühmt. Der hier abgedruckte Text ist eine vom Autor für diese Anthologie erweiterte Fassung einer Passage aus dem Erinnerungsbuch «Onkel Wolfram». Aus dem Englischen von Hainer Kober. SAID (Pseudonym, bedeutet: der Glückliche), geb. 1947 in Teheran, kam 1965 als Student nach Deutschland. Lebt als Schriftsteller in München. Veröffentlichte zuletzt den Gedichtband «Sei Nacht zu mir». Hans Joachim Schädlich, geb. 1935 in Reichenbach/Vogtland, Schriftsteller, lebt in Berlin. Im Herbst 2003 erscheint sein Roman «Anders». Wolfgang Schmidbauer, geb. 1941 in München, Psychotherapeut und Schriftsteller, lebt in München. Im Herbst 2003 erscheint: «Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus». Friedrich Schorlemmer, geb. 1944 in Wittenberge, Theologe, Studienleiter an der Evangelischen Akademie in der Lutherstadt Wittenberg. Veröffentlichte zuletzt: «Nicht vom Brot allein». Hermann Schreiber, geb. 1929 in Ludwigshafen. Journalist, Autor, Moderator. Lebt in Hamburg. Im Herbst 2003 erscheint sein Buch über die letzten Tage der Kanzlerschaft von Willy Brandt. Antonio Skármeta, geb. 1940 in Antofagasta/Chile, Schriftsteller, von Mai 2000 bis Februar 2003 Botschafter der Republik Chile in der Bundesrepublik Deutschland, lebt jetzt wieder in Santiago. Sein bekanntestes Buch ist der Roman «Mit brennender Geduld», verfilmt unter dem Titel «Der Postmann». Smudo, eigentlich Michael B. Schmidt, geb. 1968 in 254
Offenbach, Musiker und Autor, lebt in Hamburg. Mitglied der Gruppe «Die Fantastischen Vier». Peter Sodann, geb. 1936 in Meißen, Schauspieler und Regisseur, bekannt u. a. als Kommissar Ehrlicher aus der Reihe «Tatort» der ARD, Intendant des neuen theaters Halle. Seine ‹Bibliothek gegen das Vergessen› ist erreichbar über das neue Theater Halle, Große Ulrichstr. 51, 06108 Halle. Dorothee Solle, geb. 1929 in Köln, Theologin und Schriftstellerin, lebt in Hamburg. Veröffentlichte zuletzt eine Jesus-Biographie und den Gedichtband «Loben ohne zu lügen». Uwe Timm, geb. 1940 in Hamburg, Schriftsteller, lebt in München. Zuletzt erschienen von ihm das Filmskript «Eine Hand voll Gras» und der Roman «Rot». Gyula Trebitsch, geb. 1914 in Budapest, Film- und Fernsehproduzent, lebt in Hamburg. Langjähriger Geschäftsführer von Studio Hamburg. Klaus Wagenbach, geb. 1930 in Berlin, gründete nach Buchhandelslehre und Studium 1964 den Verlag Klaus Wagenbach, lebt in Berlin. Zahlreiche Publikationen, vor allem über Franz Kafka. Ulrich Wickert, geb. 1942 in Tokio, Journalist und Buchautor, langjähriger ARD-Korrespondent in New York und Paris, seit 1991 Moderator der «Tagesthemen». Lebt in Hamburg.
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