Verliebt in dich und Amsterdam Betty Neels
Romana 1324
14/1 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
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Verliebt in dich und Amsterdam Betty Neels
Romana 1324
14/1 2000
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
1. KAPITEL Es war ein stürmischer Oktobernachmittag. Der dunkle Himmel verlieh dem Meer ein stumpfes Grau, düstere Wellen brachen sich am verlassenen Strand. Ein einziger Mensch war unterwegs, eine junge Frau, die ab und zu stehen blieb, um über das Wasser zu bücken oder einen Stein aufzuheben und in die tosende Flut zu werfen. Sie fühlte sich einsam und verloren in der trüben Landschaft und gab sich keine Mühe, ihre Tränen wegzuwischen. Warum sollte sie nicht weinen, wenn es keiner sah? Weinen erleichterte das Herz. Danach, so redete sie sich ein, würde es ihr besser gehen. Sie würde der Welt wieder ein heiteres Gesicht zeigen, und niemand würde etwas anderes dahinter vermuten. Als sie ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen hatte, kehrte sie um. Sie stieg die Treppe zur Uferpromenade hinauf, winkte dem Portier des gegenüberliegenden "Grand Hotels" zu und bog in die schmale, steil nach oben führende High Street ein. Die Saison war fast vorüber, und die kleine Stadt bereitete sich langsam auf den Winterschlaf vor. Man konnte wieder friedlich durch die Straßen spazieren, ungestört mit den Ladenbesitzern plaudern, und wenn ein Auto vorbeikam, gehörte es einem Bauern oder Villenbesitzer aus der Umgebung. Die junge Frau bog in die Heather Lane, eine der noch schmaleren Nebenstraßen, ein, deren alte Cottages zu kleinen
Geschäften und Cafes umgebaut worden waren. Etwa auf der Hälfte der Straße lag ein etwas größeres Geschäft, über dessen Schaufenster zu lesen war: "Thomas Gillard. Antiquitäten". Eine altmodische Glocke bimmelte, als die Frau das Geschäft betrat. "Ich bin's ... Daisy!" rief sie und nahm das Kopftuch ab, mit dem sie ihr dichtes nussbraunes Haar geschützt hatte. Sie war mittelgroß und rundlich, an ihrem Durchschnittsgesicht fielen nur die großen braunen Augen mit den dichten Wimpern auf. Der Tweedrock und die Steppjacke, die sie trug, passten gut in die Jahresze it, hatten mit Mode aber nichts zu tun. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch eichene Klapptische, viktorianische Sekretäre, Glasvitrinen, Kommoden, Fußschemel und Stühle unterschiedlichsten Alters. Auf jeder freien Fläche standen Porzellanfiguren, Kristallkaraffen, Riechfläschchen, Silbergerät und Keramiken - alles längst vertraute und sorgsam gehegte Gegenstände. Ganz hinten führte eine Tür in einen kleinen Nebenraum, den Mr. Gillard als Büro benutzte. Hinter einer zweiten Tür lag die Treppe, über die man in den ersten Stock gelangte. Daisy drückte ihrem Vater im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn und ging ins Wohnzimmer hinauf, wo ihre Mutter vor dem Gasofen saß und einen bestickten Kissenbezug ausbesserte. Mrs. Gillard sah kurz auf und lächelte. "Es ist fast Teezeit, Daisy. Wenn du den Kessel aufsetzt, kann ich dies noch beenden. Wie war dein Spaziergang?" "Wunderbar, obwohl es schon recht kalt ist. Zum Glück gehört Salcombe wieder uns. Die letzten Touristen sind abgereist." "Geht Desmond heute Abend mit dir aus, Darling?" "Wir haben noch nichts abgemacht. Er war mit jemandem verabredet und wusste nicht, wie lange er brauchen würde." "Weit weg?" "In Plymouth." "Oh, dann wird er sicher bald zurück sein."
Daisy nickte. "Ich mache jetzt den Tee." Sie war ziemlich sicher, dass Desmond nicht kommen würde. Sie waren erst gestern Abend ausgegangen und hatten in einem der beiden besseren Restaurants von Salcombe gegessen. Dort war Desmond Freunden begegnet, die Daisy wenig gefallen hatten. Vielleicht machte ihre Liebe sie Desmond gegenüber blind, aber das schloss seine Freunde nicht ein. Sie hatte sich geweigert, nach Totnes in einen Nachtclub zu fahren, und war dafür als altmodisch und prüde gescholten worden. "Werde endlich erwachsen", hatte Desmond sie wütend angefahren und dann schweigend nach Hause gebracht. Sobald sie ausgestiegen war, hatte er wieder Gas gegeben, um schnell zu seinen Freunden zurückzukommen. Sie selbst war bedrückt in ihr Zimmer gegangen und hatte die halbe Nacht wach gelegen. Daisy hatte sich auf den ersten Blick in Desmond verliebt, als er in den Laden gekommen war, um Weingläser zu kaufen. Sein raffinierter Charme, sein gutes Aussehen und seine geschliffenen Manieren hatten sie geblendet, denn sie steckte trotz ihrer vierundzwanzig Jahre voller romantischer Ideen. Gewiss, er war nur wenige Zentimeter größer als sie, und er trug sein Haar zu lang, aber das sagte sie ihm nicht. Dazu war sie viel zu verliebt. Desmond war auch eitel, und diese Eitelkeit hatte ihn bewogen, Daisy zum Essen einzuladen, worauf weitere Begegnungen folgten. Desmond war fremd in dem kleinen Küstenort. Seine Londoner Firma hatte ihn hergeschickt, um irgendwelche Erkundigungen einzuziehen. Genaueres erfuhr Daisy nicht, aber für sie gehörte er zu den Topmanagern, und sie gab sich große Mühe, ihm den Aufenthalt zu versüßen. Sie besuchte mit ihm das Museum und die Kirchen, zeigte ihm die alten Straßen, die zum Hafen hinunterführten, und erzählte von ihrer Geschichte.
Desmond empfand bei all dem nur Langeweile, aber Daisys Wunsch, ihn zu unterhalten, schmeichelte seinem Selbstgefühl. Er fand auch Daisy langweilig, aber sie bot ihm in dem verschlafenen Nest etwas Abwechslung. Unter der Hand konnte er sich ungestört nach einer neuen Freundin umsehen, die hübscher war und me hr Geld besaß. Und natürlich eine bessere Garderobe. Daisy trug nur preiswerte Kaufhausmode, worüber er insgeheim lächelte. Wie Daisy vermutet hatte, kam Desmond an diesem Abend nicht. Sie überwand ihre Enttäuschung und verbrachte die Stunden bis zum Schla fengehen damit, das alte Silberbesteck zu putzen, das ihr Vater neu erworben hatte. Daisy stellte sich vor, wie angenehm es sein musste, mit solchem Besteck zu essen. Als sie fertig war, wickelte sie das Besteck in ein Samttuch und legte es in den Wandschrank, in dem die kleineren Silbersachen unter Verschluss gehalten wurden. Nachdem sie noch die Ladentür verriegelt und die Alarmanlage eingeschaltet hatte, ging sie wieder nach oben. Sie bereitete in der Küche gerade den üblichen Schlaftrunk zu, als das Telefon klingelte. Es war Desmond. Er befand sich in bester Laune und schien den Streit vom Vorabend vergessen zu haben. "Ich habe eine Überraschung für dich", verkündete er. "Samstagabend findet im ,Grand Hotel' ein festliches Dinner mit anschließendem Tanz statt. Ich bin eingeladen und darf eine Partnerin mitbringen." Desmond setzte seinen ganzen Charme ein. "Du begleitest mich doch, Darling? Die Sache ist sehr wichtig für mich, denn es werden Leute da sein, die ich unbedingt kennen lernen muss. Zieh dich hübsch an, damit man sich nach uns umdreht. Rot wäre gut. Rot kann man nicht übersehen." Daisy verbarg ihre Freude und sagte ruhig: "Ich komme gern mit, Desmond. Wird es spät werden?"
"Kaum später als Mitternacht. Ich verspreche, dich sicher nach Hause zu bringen. Leider habe ich in dieser Woche viel zu tun, aber wir sehen uns am Samstag. Sei um acht Uhr fertig." Nachdem Desmond eingehängt hatte, stand Daisy eine Weile da und dachte träumerisch an das Kleid, das sie sich kaufen würde. Ihr Vater bezahlte sie für ihre Mitarbeit im Laden, und sie hatte fast alles gespart. Glücklich ging sie zu ihrer Mutter, um ihr die Neuigkeit zu erzählen. Da Mr. Gillard kein Auto besaß und der Busverkehr nach Saisonschluss stark eingeschränkt war, kamen weder Totnes noch Plymouth zum Einkaufen in Frage. Daisy durchstöberte alle Boutiquen in der High Street und fand zu ihrer Erleichterung das richtige Kleid - rot und, wie sie zugeben musste, durchaus nicht ihr Stil. Aber Desmond wollte Rot... Sie ging nach Hause und probierte das Kleid noch einmal an. Es war noch kürzer, als sie im Laden wahrgenommen hatte, und ziemlich freizügig geschnitten. Ein solches Kleid hatte Daisy noch nie getragen. Sie zeigte es ihrer Mutter und merkte, dass diese ähnlich dachte. Doch Mrs. Gülard liebte ihre Tochter und wollte, das" sie glücklich war. Sie erklärte, dass das Kleid für diese besondere Gelegenheit gerade richtig sei, und flehte stumm zum Himmel, dass Desmond, den sie nicht mochte, von seiner Firma in das nördlichste Schottland versetzt werden möge. Der Samstagabend kam. Daisy zog erwartungsvoll das neue Kleid an, schminkte sich besonders sorgfältig und steckte das Haar hoch, was etwas zu seriös wirkte und daher nicht zu dem roten Kleid passte. Desmond kam zehn Minuten zu spät, ohne sich dafür zu entschuldigen. Mr. und Mrs. Gülard begrüßten ihn höflich und wünschten einmal mehr, ihre Tochter hätte sich in einen anderen Mann verliebt.
"Sehr nett", meinte er, nachdem er das Kleid umständlich betrachtet hatte. "Die Frisur passt leider nicht dazu, aber es ist zu spät, um das zu ändern. Wir müssen uns beeilen." Die Gäste drängten sich bereits in der Hotelhalle und warteten darauf, in den Speisesaal gebeten zu werden. Einige kannten Desmond und begrüßten ihn. Als Desmond Daisy vorstellte, nickten sie flüchtig und kümmerten sich nicht weiter um sie. Doch das störte sie nicht. Sie stand still da und lauschte Desmonds Worten. Er konnte gut reden und wusste das Interesse seiner Zuhörer geschickt wach zu halten. Beim Essen saßen sie mit sechs anderen Gästen an einem Tisch. Desmond beherrschte weiter das Gespräch und gab sich keine Mühe, Daisy daran teilnehmen zu lassen. Ihr linker Tischherr war ein jüngerer Mann, der sich nach einer Weile laut erkundigte: "Und wer sind Sie? Vermutlich Desmonds Partnerin und ganz und gar nicht sein Typ, wenn ich das sagen darf. Der schlaue Fuchs will den Ehrengast auf sich aufmerksam machen - einen alten Knacker mit viel Einfluss, der immer predigt, dass alle jungen Männer heiraten und mit einer netten kleinen Frau Kinder haben sollten." Er lachte. "Wie die Frau aussieht, ist dabei nicht wichtig. Je unscheinbarer, desto besser. Ich fürchte, Sie dienen dem guten Des nur als Aushängeschild." Daisy bedachte ihren Nachbarn mit einem eisigen Blick und unterdrückte den Wunsch, ihm eine schallende Ohrfeige zu geben. Hätte Desmond nicht neben ihr gesessen, wäre sie aufgestanden und hinausgegangen, aber wie hätte sie ihm einen Abend verderben können, der so wichtig für ihn war? Sie ließ das weitere Dinner über sich ergehen, ignorierte ihren linken Nachbarn und wünschte, Desmond würde auch mit ihr sprechen. Doch sein Interesse galt ausschließlich seiner rechten Tischdame, einer eleganten Frau, die ihm aufmerksam zuhörte. Manchmal wandte er sich an die ganze Tischrunde,
aber auch dann blieb Daisy ausgeschlossen. Vielleicht würde es beim Tanzen besser werden ... Daisys Hoffnung erfüllte sich nicht. Desmond forderte sie zwar zum ersten Tanz auf und wirbelte angeberisch mit ihr herum, aber schon vor der nächsten Nummer entschuldigte er sich. "Ich muss mit einigen Leuten sprechen, Darling. Es wird nicht lange dauern. Du wirst genug andere Partner finden, denn du tanzt recht gut. Nur um eins bitte ich dich ... mach, um Himmels willen, ein anderes Gesicht! Ich weiß, das hier ist einige Nummern zu groß für dich, aber deswegen könntest du doch ab und zu lächeln." Er winkte jemandem am anderen Ende des Saals zu. "Ich muss gehen. Bis gleich, Darling." Daisy blieb allein zurück, eingezwängt zwischen einer Statue, die eine Lampe trug, und einem üppigen Blumenarrangement. Durch die gegenüberliegende Tür konnte sie auf den Flur hinaussehen, wo zwei Männer standen und sich unterhielten. Nach einer Weile verabschiedeten sie sich voneinander. Der ältere Mann ging weiter, und der jüngere blieb stehen, um den Tänzern zuzuschauen. Er bemerkte Daisy ebenfalls und betrachtete sie unauffällig. Sie schien nicht hierher zu passen und das rote Kleid... Ein vager Wunsch, ihr zu helfen, trieb ihn näher. Er konnte jetzt erkennen, dass sie kaum durchschnittlich aussah und verschüchtert wirkte, als passte sie nicht in diese lärmende Menge. Er blieb vor ihr stehen und fragte freundlich: "Geht es Ihnen wie mir? Sind Sie auch fremd hier?" Daisy erkannte erst jetzt, wie groß und kräftig der Mann war. Er hatte ein angenehmes Gesicht und kurzes graues Haar. Die ausgeprägte Nase verriet Charakter, die Lippen waren schmal, aber ihr Lächeln erweckte Vertrauen. "Eigentlich ja", gestand Daisy, "obwohl ich nicht allein gekommen bin. Ich kenne niemanden ..."
Julian der Huizma verstand es gut, anderen die Befangenheit zu nehmen. Er begann ein zwangloses Gespräch über allgemeine Dinge und merkte, dass Daisy sich entspannte. Eine sympathische junge Frau, dachte er. Wie kommt sie nur zu dem unmöglichen Kleid? Er leistete Daisy Gesellschaft, bis er Desmond kommen sah. Als Desmond sie erreichte, nickte er freundlich und ging weiter. "Wer war das?" fragte Desmond scharf. "Ein anderer Gast", antwortete Daisy. "Ich kenne ihn nicht." Etwas gereizt setzte sie hinzu: "Es war nett, sich mit jemandem zu unterhalten." Desmond lenkte sofort ein. " Oh Darling, es tut mir ja so Leid." Er lächelte, und Daisys Herz setzte einen Schlag aus. "Ich werde alles wieder gutmachen. Einige Bekannte fahren noch zu einem Nachtclub in Plymouth. Du kannst mitkommen. Einer mehr spielt keine Rolle." "Plymouth? Aber Desmond, es ist beinahe Mitternacht. Du hast versprochen, mich rechtzeitig nach Hause zu bringen. Außerdem bin ich nicht persönlich eingeladen worden." "Wen stört das? Du würdest niemandem auffallen. Mein Güte, Daisy, kannst du nicht einmal aus deiner Reserve ..." Er unterbrach sich, denn eine hübsche, ganz nach der Mode gekleidete Blondine näherte sich. Sie balancierte auf zehn Zentimeter hohen Absätzen, schwenkte ein Paillettentäschchen und schüttelte dazu den Lockenkopf. "Oh Des, da bist du ja! Wir warten auf dich." Sie fixierte Daisy, worauf Desmond schnell erklärte: "Das ist Daisy. Sie begleitet mich heute Abend. Daisy, das ist Tessa." Tessa zuckte die Schultern. "Von mir aus kann sie mitkommen. In einem der Autos wird noch genug Platz sein." "Vielen Dank", antwortete Daisy. "Ich habe versprochen, um Mitternacht zu Hause zu sein."
Tessa machte große Augen und begann zu lachen. "Also ein echtes Aschenputtel, aber leider im falschen Kleid. Sie sind zu unscheinbar, um Rot zu tragen." Sie wandte sich an Desmond. "Bring Aschenputtel nach Hause, Des. Ich warte hier auf dich. Die anderen können meinetwegen vorfahren." Sie drehte sich um und trippelte auf ihren Absätzen davon. Daisy wartete. Sie hoffte, Desmond würde nicht mit Tessa fahren, aber er sagte nur ungeduldig: "Also gut, ich bringe dich nach Hause, aber trödele nicht mit deinem Mantel. Ich warte am Eingang." Gereizt fügte er hinzu: "Du schaffst es noch, mir den Abend zu verderben." "Und mein Abend?" fragte Daisy leise, aber Desmond war schon fort und hatte die Worte wahrscheinlich nicht gehört. Sie brauchte nur zwei Minuten, um in der Garderobe ihren Mantel zu finden. Während sie ihn anzog, hörte sie, wie sich zwei Männer hinter einer Säule unterhielten. "Es tut mir Leid, dass du auf mich warten musstest, Julian. Wollen wir an die Bar gehen? Wir haben uns nach der langen Zeit viel zu erzählen, und ich wünschte, wir hätten uns an einem stilleren Ort getroffen. So ein Ball ist nichts für dich. Konntest du dich wenigstens mit jemandem unterhalten?" "Ich fand tatsächlich jemanden." Daisy erkannte die Stimme des Mannes, der so freundlich zu ihr gewesen war. "Ein unscheinbares Geschöpf in einem unmöglichen roten Kleid. Sie passte nicht hierher..." Die Stimmen entfernten sich, und Daisy ging wie betäubt zum Eingang, wo Desmond sie erwartete. Er fuhr sie schweigend nach Hause. Als sie ausstieg, sagte er giftig: "Du wirkst albern in dem roten Kleid." Seltsamerweise schmerzten Desmonds Worte weniger als die des fremden Mannes. Das Haus war still und dunkel. Daisy benutzte die Seitentür, durchquerte das Büro ihres Vaters und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Es war klein und mit Möbeln aus dem Laden
eingerichtet. Sie hatte die einzelnen Stücke selbst ausgesucht. Keins passte zum anderen, aber der Gesamteindruck war trotzdem harmonisch. Daisy zog das rote Kleid aus und packte es für den nächsten Basar ein. Sie würde es nie wieder tragen. Am liebsten hätte sie es in tausend Fetzen zerrissen, aber das wäre lächerlich gewesen. Irgendwo musste es eine Frau geben, zu der das Kleid passen würde. Die Kirchturmuhr schlug eins, als Daisy endlich im Bett lag, doch sie fand keinen Schlaf. Der Abend war eine Katastrophe gewesen, aber sie liebte Desmond immer noch, da war sie ganz sicher. Liebende stritten sich eben, und Desmond war enttäuscht gewesen. Sie hatte seinen Erwartungen nicht entsprochen, und vieles von dem, was er gesagt hatte, würde ihm später Leid tun. So vernünftig Daisy sonst war - die Liebe machte sie blind und geneigt, Desmo nd alles nachzusehen. Sie schloss die Augen und versuchte, endlich zu schlafen. Morgen früh würde alles anders aussehen. Tatsächlich sah nichts anders aus, und Daisy fragte sich im Lauf des Tages mehrmals, was sie eigentlich erwartet hatte. Einen Anruf? Einen kurzen Besuch? So viel Zeit hatte Desmond sonst immer gehabt. War er etwa noch verstimmt, weil sie nicht in den Nachtclub hatte mitkommen wollen? Während sie eine Auswahl von Coalport-Porzellan neu arrangierte, wurde ihr klar, wie wenig sie über Desmond und seine Arbeit wusste. Wenn er abends mit ihr ausging, beantwortete er ihre Fragen mit lockeren Bemerkungen, denen sie nichts entnehmen konnte. Trotzdem war sie bereit, die Enttäuschung und Demütigung des gestrigen Abend zu vergessen und seine Entschuldigung anzunehmen. Wenn er es geschickt anstellte, würde sie am Ende selbst über das rote Kleid lachen.
Desmond rief nicht an und kam auch nicht vorbei. Als Daisy ihm einige Tage später zufällig auf der High Street begegnete, ging er wortlos an ihr vorbei, als hätten sie sich nie gekannt. Daisy kehrte ernüchtert nach Hause zurück und verbrachte den Rest des Tages damit, die alten Weingläser einzupacken, die ein Liebhaber gekauft hatte. Das war eine langwierige und umständliche Arbeit, bei der sie gut nachdenken konnte. Eins war klar: Desmond liebte sie nicht und hatte sie nie geliebt. Er hatte sie geküsst, sie seinen Darling und seine Traumfrau genannt, doch das waren nur Worte gewesen. Sie hatte ihm geglaubt, weil sie ihm glauben wollte. Desmond hatte alle ihre romantischen Träume erfüllt, aber sie hatte allein geträumt. Sie legte das letzte Glas vorsichtig in die Vertiefung aus weichem Papier und schloss den Deckel des Kartons. So schließe ich auch das Kapitel Desmond, dachte sie dabei. Die romantischen Träume sind ein für alle Mal ausgeträumt.
2. KAPITEL Die nächsten Wochen waren nicht leicht für Daisy. Es war angenehm und bequem gewesen, regelmäßig mit Desmond auszugehen, und es fiel ihr schwer, plötzlich darauf zu verzichten. Sie versuchte die Situation in den Griff zu bekommen, indem sie ins Kino ging oder sich mit Freundinnen zum Tee traf, aber die meisten hatten Freunde oder Verlobte und wunderten sich, dass Daisy immer allein war. Sie stellten diskrete Fragen, die Daisy heiter und unverbindlich beantwortete, bis sie auch dazu die Lust verlor. Sie nahm immer mehr ab und verbrachte so viel überflüssige Zeit im Laden, dass ihre Mutter sie ermahnen musste. "Das Geschäft ist zur Zeit eher ruhig", sagte sie. "Warum gehst du nicht häufiger spazieren? Es wird bald zu kalt und zu dunkel sein, und später kommt die Weihnachtskundschaft." Also ging Daisy wieder regelmäßig spazieren, warm eingepackt gegen Wind und Regen. Sie wählte meist den Strandweg, wo sie andere mutige Spaziergänger traf Einheimische, die mit ihren Hunden unterwegs waren und die sie vom Sehen kannte. Sie riefen Daisy im Vorbeigehen einen Gruß zu, und Daisy rief zurück, bis ihre Stimme im Wind verhallte. In der letzten Novemberwoche begegnete Daisy zufällig dem Mann, der im Hotel mit ihr gesprochen und sie später ein unscheinbares Geschöpf genannt hatte. Julian der Huizma
verbrachte wieder einige Tage bei seinen Freunden, die außerhalb von Salcombe ein hübsches Landhaus bewohnten. Er brauchte diese Tage, um sich vom Londoner Stress zu erholen, und er liebte das Meer, weil es ihn an seine Heimat erinnerte. Mr. der Huizma erkannte Daisy sofort. Sie kämpfte sich tapfer gegen den eisigen Wind voran, und auch der Nieselregen schien ihr nichts auszumachen. Um sie nicht zu erschrecken, beschleunigte er seine Schritte und pfiff gleichzeitig nach Trigger, dem Hund seiner Freunde. Das würde Daisy auf ihn aufmerksam machen und sie zum Stehenbleiben bewegen. Er hatte sich nicht geirrt. Daisy drehte sich um und ließ den fröhlich bellenden Trigger und seinen Begleiter herankommen. Während sie Triggers Kopf streichelte, sagte sie reserviert: "Guten Tag, Mr ..." "Der Huizma ... Julian der Huizma. Wie nett, jemandem zu begegnen, der Wind und Wetter nicht scheut." Daisy erinnerte sich gut an das freundliche Lächeln und beschloss, Mr. der Huizma seine Worte zu vergeben. Schließlich war sie unscheinbar und würde es ihr Leben lang bleiben. "Daisy Gillard. Sind Sie Holländer?" Er nickte, und sie gingen gemeinsam weiter. Da es zu windig war, um ein richtiges Gespräch zu führen, kehrten sie nach einer Weile in stillschweigendem Einverständnis um. Sie stiegen die Treppe zur Uferpromenade hinauf und bogen in die High Street ein. An der Ecke Heather Lane blieb Daisy stehen. "Hier wohne ich", sagte sie. "Mein Vater hat ein Antiquitätengeschäft, und ich arbeite für ihn." Mr. der Huizma merkte, dass er nicht länger erwünscht war. "Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, dort ein bisschen herumzustöbern. Ich liebe altes Silber." "Wie mein Vater. Man hält ihn auf diesem Gebiet für einen Experten." Daisy streckte die Hand aus. "Danke für Ihre Begleitung."
"Ich bedanke mich ebenfalls. Vielleicht begegnen wir uns wieder." "Ja, vielleicht." Daisy ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Schade, dass mir keine originelleren Abschiedsworte eingefallen sind, dachte sie. Vielleicht hätte er dann den Wunsch gehabt, mich wieder zu sehen. Dabei fiel ihr Desmond ein. Hatte sie ihre Lektion immer noch nicht gelernt? Julian der Huizma war zwar nicht Desmond, aber welchem Mann ließ sic h schon trauen? Während der nächsten Tage vermied Daisy bei ihren Spaziergängen den Strand, aber das hätte sie sich schenken können. Julian der Huizma war bereits nach London zurückgekehrt. Etwa eine Woche später erschien er unerwartet im Geschäft in der Heather Lane. Daisy bediente gerade den Pfarrer, der sich nicht entscheiden konnte, welche von zwei Viktorianischen Broschen er seiner Frau zu Weihnachten schenken sollte. Sie forderte ihn höflich auf, sich ja Zeit zu lassen, und ging zu Mr. der Huizma, der sich über eine Glasvitrine mit silbernen Anhängern beugte. "Guten Tag, Miss Gillard", begrüßte er sie. "Ich suche etwas für meine Patentochter. Diese Anhänger sind reizend. Vielleicht an einem Silberarmband ..." Daisy öffnete eine Schublade der großen, vorne gewölbten Kommode und nahm ein samtbezogenes Tablett heraus. "Diese Armbänder stammen alle aus der Zeit der Jahrhundertwende. Wie alt ist Ihre Patentochter?" "Sie wird fünfzehn." Mr. der Huizma lächelte. "Und sie ist sehr modebewusst." Daisy hielt eins der Armbänder hoch, die Glieder waren schlank und locker gefügt. "Wie wäre es hiermit? Dad könnte Ihnen einen oder auch mehrere Anhänger daran befestigen." Sie wählte ein zweites Armband aus. "Oder dies? Bitte überlegen
Sie in Ruhe. Natürlich müssen Sie nichts kaufen. Die meisten Besucher sehen sich nur um." Daisy lächelte und kehrte zu dem Pfarrer zurück, der immer noch schwankte, welche Brosche er nehmen sollte. Als er sich endlich entschieden hatte, war Mr. der Huizma gegangen. "Hat er etwas gekauft?" fragte sie ihren Vater, der aus seinem Büro gekommen war. "Oh ja", versicherte Mr. Gillard. "Ein kenntnisreicher Kunde, das muss ich sagen. Er will vor Weihnachten wiederkommen ... wegen der Jugendstillöffel." Zwei Tage später erschien Desmond in Begleitung der schönen Tessa. Sie trug einen karmesinroten Ledermantel, weiße Lackstiefel mit gefährlich hohen Absätzen und eine weiße Angorakappe, die kess auf dem kunstvoll zerzausten Haar saß. Daisy musterte sie und kam sich in ihrem schlichten farblosen Kleid wie eine graue Maus vor. Sie trug das Kleid ihrem Vater zuliebe, der fürchtete, dass buntere Kleidung die Kunden von seinen Schätzen ablenken könnte. Am liebsten wäre Daisy ohne ein Wort nach hinten gegangen, aber das hätte feige gewirkt. Sie erwiderte Desmonds lässigen Gruß mit eisiger Höflichkeit und ließ ihn wichtigtuerisch erklären, dass er nur gekommen sei, um sich umzusehen. "Vielleicht finden wir etwas, das sich als Weihnachtsgeschenk eignet", fügte er noch hinzu. "Etwas aus Silber oder Gold?" fragte Daisy. "Wir haben auch preiswerte Porzellansachen, wenn du nicht so viel ausgeben willst." Das war alles andere als höflich, aber Daisy konnte die Bemerkung nicht unterdrücken. Desmonds Ärger tat ihr wohl, obgleich sie insgeheim wünschte, er würde sie ansehen - richtig ansehen - und feststellen, dass er sie und nicht die blonde Tessa liebte. Ein ebenso verlockender wie verrückter Gedanke, denn sie hatte ihn ja auch nicht geliebt. Er hatte sie verraten und ihren
Stolz verletzt, das war alles. Und er hatte in ihrem Leben eine Lücke hinterlassen, die sie immer noch spürte. Desmond sah sich eine Weile um und ging dann, ohne etwas zu kaufen. Beim Verlassen des Ladens sagte er überlaut zu Tessa: "Wie ich schon vermutet habe, Darling ... man muss nach Plymouth fahren, wenn man etwas Hübsches finden will." Mehr war nicht nötig, um auch die allerletzten Gefühle für Desmond aus Daisys Herz zu vertreiben. Sie fasste den festen Entschluss, sich nie wieder in einen Mann zu verlieben. Viel Gelegenheit würde sie ohnehin nicht dazu haben, denn es fehlte ihr einfach an äußerem Reiz. Sie war nicht hübsch, hatte keine schlanke Figur wie die Topmodels in den schicken Magazinen, und sie konnte sich nicht geistreich genug unterhalten. Über ihre Zukunft war nie viel geredet worden. Sie war zwischen Antiquitäten groß geworden. Sie liebte schöne alte Dinge und hatte von ihrem Vater die Gabe geerbt, sie zu entdecken. Als ihr das klar geworden war, hatte sie angefangen, Fachbücher zu lesen, Auktionen zu besuchen und in düsteren Trödelläden nach verborgenen Schätzen zu suchen. Ihre Eltern hatten sie nicht dazu gezwungen, aber sie taten auch nichts, um sie zu einem eigenen Leben zu ermuntern. Es war ihnen recht, dass sie zu Hause blieb, im Geschäft mitarbeitete und gelegentlich zu einem Herrenhaus fuhr, dessen Eigentümer gezwungen war, seinen Besitz zu verkaufen. Ein einziges Mal war die Frage aufgekommen, ob Daisy nicht die Universität besuchen und Kunstgeschichte studieren sollte. Ihr Vater hätte dann einen Mitarbeiter einstellen müssen, und dazu konnte er sich nicht entschließen. Die Gillards lebten zwar in angenehmen Umständen, aber die Einnahmen waren weithin vom Zufall abhängig. Also hatte Daisy alle weiterführenden Pläne aufgegeben und sich den Notwendigkeiten des Alltags gefügt. Zu den Besonderheiten von "Gillard's Antiquitäten" gehörte ein viktorianisches Puppenhaus, das Daisy in einem Trödelladen
in Plymouth entdeckt hatte. Es war in einem erbärmlichen Zustand gewesen, aber sie hatte es liebevoll wieder hergerichtet, und jetzt stand es vollständig möbliert auf einem Ehrenplatz flankiert von einer Miniaturfleischerei und einem Kaufmannsladen aus der deutschen Kaiserzeit. Alle drei Modelle waren sehr teuer, aber vor Weihnachten ließen sich manchmal Liebhaber antiken Spielzeugs blicken. Mr. der Huizma schien so ein Liebhaber zu sein. Bei seinem nächsten Besuch, etwa Mitte Dezember, verhandelte er erst mit Mr. Gillard über die Jugendstillöffel und kam dann zu Daisy, die gerade ein repariertes Zinnkarussell aufstellte. Dabei fiel sein Blick auf das Puppenhaus. "Reizend, nicht wahr?" fragte Daisy. "Der Traum eines jeden Mädchens ..." "Tatsächlich?" "Oh ja, aber es müsste ein achtsames Mädchen sein, das gern mit Puppen spielt." "Dann kaufe ich es", entschied Mr. der Huizma. "Ich kenne so ein Mädchen." "Der Preis ist ziemlich hoch ..." "Das Mädchen, an das ich denke, verdient nur das Beste." Daisy hätte gern gewusst, wen er meinte, aber sein Ton mahnte zur Vorsicht. "Soll ich das Puppenhaus einpacken?" fragte sie. "Das würde allerdings, eine Weile dauern. Ich könnte es auch versandfertig machen." Mr. der Huizma schüttelte den Kopf. "Das ist nicht nötig, ich nehme es im Auto mit. Könnte ich es in drei Tagen abholen?" "Ja." "Ich fahre damit ins Ausland." "Dann werde ich es besonders sorgfältig verpacken und einen Begleitschein dazulegen, falls der Zoll neugierig wird." Mr. der Huizma lächelte Daisy an. "Wie umsichtig Sie sind, Miss Gillard! Sie ahnen nicht, wie sehr ich mich über das
Puppenhaus freue. Geschenke für kleine Kinder sind immer ein Problem. "Haben Sie mehrere Kinder?" fragte Daisy. Mr. der Huizma lächelte noch mehr. "Wir sind eine große Familie", antwortete er, und damit müsste sich Daisy zufrieden geben. Sie brauchte einen ganzen Tag, um das Puppenhaus einzupacken. Jedes winzige Möbelstück, jeder Teller und jede Tasse mussten gesondert eingewickelt und geschützt werden. Das gab Daisy reichlich Gelegenheit, über Mr. der Huizma nachzudenken. Wer war er? Offensichtlich ein Mann mit Vermögen, der sich ein solches Weihnachtsgeschenk leisten konnte. Und ein Mann des Müßiggangs, denn er hatte nie einen Beruf erwähnt. Lebte er in England, oder besuchte er es nur von Zeit zu Zeit? Was trieb ihn in diesen kleinen Ort an der Südküste von Devon, und wo wohnte er sonst? Mr. der Huizma ahnte nichts von Daisys Überlegungen, und sie wären ihm auch gleichgültig gewesen. Während sie ihn sich als reichen Müßiggänger vorstellte, hielt er in der Kinderstation eines Londoner Krankenhauses Visite. Dabei hielt er einen kleinen Jungen auf dem Arm, der so herzzerreißend geschluchzt hatte, dass der Doktor keine andere Möglichkeit gesehen hatte, ihn zu beruhigen. "Er wird Ihren Anzug ruinieren, Sir", warnte die Oberschwester, eine früh ergraute, spindeldürre Frau mit engelhafter Seele und wunderschönen dunkelblauen Augen. "Was sollen wir bloß mit ihm anfangen? Er macht nicht die geringsten Fortschritte." Dr. der Huizma blieb stehen und wurde sofort von dem Tross der ihn begleitenden Ärzte umringt. Die Schwester, die die Krankenberichte trug, zückte den Bleistift. "Es gibt nur noch eine Möglichkeit", sagte er und sah seinen Assistenten an. "Sprechen Sie mit der OP-Schwester. Ich
brauche morgen den frühestmöglichen Termin. Setzen Sie sich auch mit den Eltern in Verbindung. Wenn sie herkommen wollen, spreche ich heute Abend mit ihnen." Der Doktor ging langsam weiter. Er setzte sich an die Betten der kleinen Patienten, untersuchte sie, sprach mit ihnen und gab zwischendurch leise Anweisungen. Das alles geschah ohne Hast und in betont lockerer Atmosphäre. Nach der Visite gab es im Büro der Oberschwester Kaffee. Man sprach über Weihnachten und machte Pläne für die Station: Ein Tannenbaum und angemessen gefüllte Strümpfe an den Betten ... vielleicht einige bunte Papierschlangen und natürlich Tee für die Eltern ... Dr. der Huizma sagte wenig dazu. Er würde am Morgen des ersten Weihnachtstags mit seinem Privatflugzeug von Holland herüberfliegen, seine Patienten besuchen und nachmittags zurückfliegen. Das tat er, seit er hier Chefarzt der Kinderstation geworden war. Am zweiten Weihnachtstag würde er in Amsterdam sein, um auch dort mit seinen Patienten zu feiern. Hoffentlich kam die Familie nicht wieder zu kurz .... Einige Tage vor Weihnachten erschien Dr. der Huizma in der Heather Lane, um das Puppenhaus abzuholen. Daisy war gerade dabei, ein völlig verschmutztes Smaragdhalsband zu reinigen, das jemand beim Aufräumen gefunden und hocherfreut an Mr. Willard verkauft hatte. Sie legte das Halsband hin und zeigte auf das eingepackte Puppenhaus. "Alles ist sorgfältig verpackt, aber gehen Sie bitte vorsichtig damit um. Es wäre schade, wenn etwas zerbrechen würde." Der Doktor wünschte ihr einen guten Abend und versprach, vorsichtig zu sein. "Wir werden das Puppenhaus auspacken und alles überprüfen, bevor Janthe es zu sehen bekommt." "Janthe? Was für ein hübscher Name! Sie wird begeistert sein, das weiß ich. Wie alt ist sie?" Der Doktor antwortete nicht gleich, und Daisy wünschte, sie hätte nicht gefragt. "Fünf Jahre", sagte er schließlich.
Daisy hätte ihn gern nach seinen anderen Kindern gefragt, aber sie wollte sich keine Zurechtweisung holen. "Ich rufe Dad", sagte sie stattdessen. "Steht Ihr Auto vor der Tür?" Der Doktor nickte. "Fahren Sie nach Holland zurück? Darüber wird sich Ihre Familie freuen." "Das hoffe ich", antwortete er ernst. "Weihnachten ist ein Familienfest. Sie feiern doch auch im Kreis der Familie?" "Ich? Oh nein." Leichte Röte stieg in Daisys Wangen. "Ich meine, da ist keine Familie ... nur Dad, Mum und ich ..." Nach einer Pause setzte sie fast trotzig hinzu: "Wir feiern immer ein schönes Weihnachtsfest." Der Doktor dachte an die zahlreiche Familie, die sich in seinem Haus versammeln würde, und fühlte leises Mitleid mit Daisy. Sicher sehnte sie sich nicht nach der großen Welt, aber das Fest nur mit den Eltern zu verbringen, noch dazu in der kleinen Wohnung über dem Laden ... Doch wozu sich Gedanken machen? Sie waren sich nur zufällig begegnet und würden sich kaum wieder sehen. Inzwischen hatte Daisy ihren Vater aus dem Büro geholt. Er half Dr. der Huizma, das Puppenhaus hinauszutragen und vorsichtig auf den Rücksitz des Autos zu stellen. Bevor der Doktor abfuhr, kam er noch einmal zurück. Er dankte Daisy für ihre Mühe, wünschte ihr ein schönes Weihnachtsfest und verabschiedete sich. Wie endgültig das klingt, dachte Daisy traurig. Nein, ich werde ihn wohl nicht wieder sehen. Bis Heiligabend gab es viel im Laden zu tun, und der erste Weihnachtstag verlief, wie er immer verlaufen war. Nach dem Frühstück wurden die Geschenke ausgepackt, dann folgte der Gottesdienst, und am frühen Abend gab es das traditionelle Festessen. Der zweite Feiertag war nicht so streng geregelt. Daisy besuchte Freunde in der Stadt und ließ sich überreden, abends an
einer Party teilzunehmen. Trotzdem fand sie noch genug Zeit, an Julian der Huizma zu denken. Nach dem Fest war der Laden natürlich wieder geöffnet. Daisy wunderte sich auch in diesem Jahr, wie viele Silberbecher, Sherrygläser und Porzellanfiguren schnell wieder zu Geld gemacht wurden. Danach flaute das Geschäft ab. Jeder musste sparen, und Besucher waren selten. Daisy nutzte die freie Zeit für Reparaturen und Instandsetzungen, während ihr Vater nach Schottland fuhr, um an einer Auktion teilzunehmen. Mr. Gillard kam äußerst zufrieden zurück. Neben silbernen Teedosen aus der späten Rokokozeit und zwei silbernen Saucieren im Empirestil hatte er einen holländischen Stellschirm aus dem achtzehnten Jahrhundert ersteigert, der ausgezeichnet erhalten war, wenn man von den üblichen Verschmutzungen und kleinen Beschädigungen absah. Der vergoldete und mit Chinoiserien bemalte Schirm war auf einem Dachboden entdeckt worden und hatte wenig Interesse erregt. Der Preis war trotzdem hoch gewesen, und es blieb abzuwarten, ob ein so seltenes Stück einen Käufer finden würde. "Ich konnte einfach nicht widerstehen", gestand Mr. Gillard, "obwohl ich mir vielleicht totes Kapital eingehandelt habe. Ein echtes Liebhaberstück, mein Kind." Wie immer fiel es Daisy zu, den Schirm zu reinigen und an den notwendigen Stellen auszubessern. Das war eine langwierige Arbeit, bei der sie viel Zeit zum Nachdenken hatte. Manchmal tauchte auch Julian der Huizma in ihren Gedanken auf, was eher überflüssig war. Sie würde ihn nicht wieder sehen. Warum also an ihn denken? Ende Januar, als das Geschäft wieder lebhafter wurde, kamen zwei würdige ältere Herren in den Laden. Sie grüßten Daisy höflich und baten, sich etwas umsehen zu dürfen. Danach ließen sie sich Zeit. Sie betrachteten bald dieses und bald jenes Stück und tauschten dabei leise Bemerkungen aus. Daisy konnte hören, dass sie sich in einer fremden Sprache unterhielten, aber
ihr Englisch war gut genug, um ein Gespräch mit Mr. Gillard anzuknüpfen, der aus seinem Büro gekommen war, um sie persönlich herumzuführen. Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen. Sie hatten den holländischen Stellschirm entdeckt, der seit seiner Restaurierung im hinteren Teil des Ladens stand, und zeigten ein ungewöhnlich lebhaftes Interesse an ihm. Mr. Gillard wollte ihnen die näheren Umstände erklären, aber wie sich herausstellte, wussten sie mehr über den Schirm als er. Sie untersuchten ihn sorgfältig, fragten nach dem Preis und erboten sich sofort, einen Scheck auszustellen. "Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig", sagte der eine, und Daisy trat näher, um jedes Wort mitzubekommen. "Wie ich höre, haben Sie diesen Schirm auf dem Landsitz der McGillivrays ersteigert. Eine Vorfahrin von uns heiratete im achtzehnten Jahrhundert ein Mitglied dieser Familie und brachte den Stellschirm als Teil ihrer Mitgift mit in die Ehe. Er war speziell für sie angefertigt worden. Sehen Sie hier die Initialen ... es sind ihre. Wir haben auf früheren Englandreisen immer wieder nach dem Schirm geforscht, aber es hieß, er sei bei einem Schlossbrand vernichtet worden. Sicher können Sie verstehen, wie entzückt wir sind. Den Schirm in so gutem Zustand wieder zu finden ..." "Dafür müssen Sie meiner Tochter danken", meinte Mr. Gillard lächelnd. "Als ich den Schirm kaufte, war er von einer grauen Staub- und Schmutzschicht überzogen." Daisy hatte aufmerksam zugehört. Die Geschichte des Schirms faszinierte sie, und es kam selten vor, dass man ein antikes Stück bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen konnte. "Der Schirm ist wunderschön, doch sehr empfindlich", sagte sie. "Ich weiß nicht, wo Sie wohnen, aber Sie müssen bei dem Transport sehr vorsichtig sein."
"Der Schirm gehört wieder nach Holland - in unser Haus nahe Amsterdam. Ich versichere Ihnen, junge Dame, dass wir ihn sehr behutsam transportieren werden." "Gut verpackt in einem kleinen Lastwagen." "Selbstverständlich, und nur in Begleitung eines Kuriers. Wie wäre es, wenn Sie diese Rolle übernehmen würden? Da Sie den Schirm restauriert haben, wissen Sie am besten, wie mit ihm umzugehen ist." "Ich?" Daisy zögerte. "Natürlich wäre ich gern bereit dazu, obwohl ich weder gelernte Restauratorin noch Kunsthistorikerin bin." "Aber Sie würden es tun, wenn wir Sie bitten?" Daisy sah ihren Vater unschlüssig an, worauf dieser meinte: "Ich halte es für eine gute Idee, mein Kind, und du bist der Sache durchaus gewachsen. Du würdest drei Tage brauche n ... zwei für die Hin- und Rückreise und einen für das Auspacken und Aufstellen des Schirms." Daisy kam zu einem raschen Entschluss. "Einverstanden", erklärte sie. "Aber Sie müssen mir Zeit lassen, den Schirm gut zu verpacken." Der ältere der beiden Herren, der die Verhandlung geführt hatte, reichte Daisy die Hand. "Vielen Dank. Dürfen wir morgen früh wiederkommen und die Einzelheiten besprechen. Ich bin Mijnheer van der Breek." "Daisy Gillard. Es freut mich, dass Sie den Schirm gefunden haben." Die Herren verabschiedeten sich und verließen den Laden. Als sie draußen waren, meinte Daisy zweifelnd: "Ob ich wirklich die Richtige bin, Dad? Ich spreche kein Wort Holländisch." "Das macht nichts, mein Kind, du wirst es schon schaffen. Dabei fällt mir ein ... Wenn du schon in Amsterdam bist, könntest du zu Mijnheer Friske gehen, der mir neulich den barocken Weinkühler angeboten hat. Colonel Gibbs sucht einen.
Du könntest dir den Weinkühler ansehen und ihn kaufen, wenn du ihn für echt hältst." "Wo werde ich wohnen?" fragte Daisy, die nie die praktischen Dinge vergaß. "In irgendeinem kleinen Hotel, mein Kind. Mijnheer van der Breek wird dir bestimmt eins besorgen."
3. KAPITEL Die Dinge entwickelten sich verblüffend schnell. Bereits eine Woche später war Daisy in einem kleinen Lastwagen unterwegs nach Holland - mit dem Schirm im Gepäck. Sie sollte bei Mijnheer van der Breek wohnen, um das Auspacken und Aufstellen des Schirms zu überwachen, und anschließend nach Amsterdam fahren, wo man ganz in der Nähe von Mij nheer Friskes Antiquitätengeschäft ein Hotelzimmer für sie bestellt hatte. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, konnte Daisy die Reise nach Herzenslust genießen. Der Fahrer neben ihr war nett und umgänglich und freute sich, Gesellschaft zu haben. Mit jedem Kilometer erfuhr Daisy mehr über seine Familie. "Zuerst wollte ich den Auftrag ablehnen, Miss", erzählte er unter anderem, "denn meine älteste Tochter hat heute Geburtstag. An so einem Tag ist man gern zu Hause ... na, Sie wissen ja, wie das ist. Dafür musste ich versprechen, ihr etwas Tolles aus Amsterdam mitzubringen. Ein Auftrag wie dieser bringt mir eine hübsche Summe ein. Da konnte ich natürlich nicht Nein sagen." Sie nahmen die Nachtfähre von Harwich nach Hoek van Holland. Da Mijnheer van der Breek die Reise persönlich vorbereitet hatte, verlief alles ohne Zwischenfall. Es regnete, als sie die Fähre in Hoek verließen. Daisy hatte bisher keine rechte Vorstellung von Holland gehabt, aber so
flach, nass und grau hatte sie es sich nicht vorgestellt. Nach einer Weile brach blasses Sonnenlicht durch die Wolken und gab der trostlosen Landschaft etwas Leben. "Unser Ziel ist Loenen aan de Vecht", sagte der Fahrer, während sie kurz hinter Leiden in einer Raststätte Kaffee tranken. "Es liegt zwischen Amsterdam und Utrecht. Da wir auf der Autobahn bleiben und Amsterdam vermeiden, ist es nicht mehr weit." Daisy fand immer mehr Gefallen an der Landschaft. Als sie die Autobahn verlassen hatten und auf eine ruhige Landstraße kamen, studierte sie die Karte. "Das muss die Vecht sein", sagte sie und zeigte auf den Fluss, neben dem die Straße entlanglief. "Wie hübsch es hier ist." Die Straße war von Bäumen gesäumt und führte an kleineren, hinter Büschen versteckten Wohnhäusern vorbei. Auf der anderen Flussseite la gen größere Häuser, elegante Herrensitze, deren Gärten bis ans Wasser reichten. Nach einer Weile überquerten sie eine Brücke. "Ist dies Loenen?" fragte Daisy. "Wie prächtig, geradezu hochherrschaftlich...!" Sie bogen durch ein schmiedeeisernes Tor in eine breite Auffahrt ein und hielten vor einem burgartig anmutenden Gebäude mit breitem Treppenaufgang und hohem Giebeldach. Daisy stieg aus und sah sich sachkundig um. Siebzehntes Jahrhundert, dachte sie, vielleicht noch etwas früher. Der Fahrer stieg ebenfalls aus und zog an der schweren Klingel, die durch das ganze Haus schallte. Ein stämmiger Mann öffnete die Tür, und Daisy übergab ihm den Brief, den Mijnheer van der Breek ihr in Salcombe ausgehändigt hatte. Sie wurde hereingebeten und durch einen düsteren Flur in ein fast genauso düsteres Zimmer geführt, wo Mijnheer van der Breek in einem Sessel saß. Er stand auf und reichte Daisy die Hand. "Willkommen Miss Gillard. Haben Sie den Schirm mitgebracht? Ausgezeichnet.
Mein Bruder fühlt sich leider nicht wohl, sonst hätte er es sich nicht nehmen lassen, Sie ebenfalls zu begrüßen." "Der Schirm ist draußen im Lastwagen", erklärte Daisy. "Welche Stelle haben Sie für ihn vorgesehen? Der Fahrer und ich werden ..." "Nein, nein, Miss Gillard", unterbrach Mijnheer van der Breek sie. "Cor wird dem Fahrer helfen. Sie dürfen die beiden nur nicht aus den Augen lassen. Der Schirm soll im Salon aufgestellt werden. Ich zeige Ihnen später die genaue Stelle." Daisy hätte sich gern einige Minuten ausgeruht und mit einer Tasse Tee gestärkt, aber das schien nicht vorgesehen zu sein. Also ging sie mit Cor hinaus und sah aufmerksam zu, wie die beiden Männer den Schirm vom Wagen hoben. Und in den Salon trugen - einen großen, hohen Raum mit schmalen Fenstern, deren dunkelrote Samtvorhänge halb geschlossen waren. Die dunklen, wuchtigen Möbel entsprachen nicht Daisys Geschmack, aber sie musste zugeben, dass sie einen guten Hintergrund für den Schirm bildeten. Der Schirm wurde vorsichtig hin und her geschoben, und es dauerte eine Weile, bis der Hausherr endgültig zufrieden war. Er forderte Daisy auf, mit dem Auspacken bis nach dem Lunch zu warten, und ließ die Haushälterin bitten, Daisy ihr Zimmer zu zeigen. Daisy verabschiedete sich von dem Fahrer, bat ihn, zu Hause ihre sichere Ankunft zu me lden, und folgte der Haushälterin die kunstvoll geschnitzte Treppe hinauf. Oben wurde sie einen niedrigen, ziemlich dunklen Korridor entlanggeführt, von dem mehrere Stufen zu einem zweiten Korridor hinunterführten, an dessen Ende ein hohes Eckzimmer lag. Es wurde von einem Himmelbett und einem Konsoltisch mit Marmorplatte beherrscht, auf dem ein holländischer Intarsienspiegel und zwei scheußliche, aber wertvolle Cloisonnevasen standen. Eine Schatzkammer, dachte Daisy, aber ich möchte nichts daraus geschenkt haben.
Das angrenzende Badezimmer war mehr nach ihrem Geschmack. Sie ordnete ihr Haar, machte sich frisch und ging wieder hinunter, um ihren Gastgeber nicht warten zu lassen. Das Esszimmer war etwas kleiner als die anderen Räume, aber ebenso imponierend eingerichtet. Eine schwere Damastdecke lag auf dem Tisch, und das kostbare Silber und Porzellan ließen eine Mahlzeit erwarten, die leider ausblieb. "Mittags essen wir nur leicht", erklärte Mijnheer van der Breek, und Daisy musste ihm Recht geben. Eine winzige Tasse klare Brühe, eine hauchdünne Scheibe kalter Braten und eine Käseplatte, die den Namen nicht verdiente, reichten kaum aus, ihren äußersten Hunger zu stillen, zumal sie Mijnheers Beispiel folgte und nur ein halbes Brötchen aus dem mäßig gefüllten Brotkorb nahm. Dafür schmeckte der anschließende Kaffee umso besser. Den Nachmittag verbrachte Daisy damit, den Schirm auszupacken und einer letzten Prüfung zu unterziehen. Sie kontrollierte jeden Zentimeter, entfernte Reste von Staub und überzeugte sich, dass die Vergoldung nicht gelitten hatte. Nach dem Tee, der ihr hereingebracht wurde, arbeitete sie weiter, bis Cor kam und für sieben Uhr das Dinner ankündigte. Daisy hatte gerade noch Zeit, in ihr Zimmer hinaufzugehen und das braune Jerseykleid anzuziehen, das sie nicht hübscher machte, aber den Vorzug hatte, nicht zu knittern. Zum Dinner erschienen beide Herren. Sie stellten Daisy so viele Fragen, dass sie mit den Antworten kaum hinterherkam. Zum Glück wurde diesmal herzhafter gegessen. Die gebratenen Schweinekoteletts mit Dampfkartoffeln, Roter Beete und Chicoree waren ganz nach Daisys Geschmack, ebenso der Grießflammeri mit Fruchtsoße. Alles gute Hausmannskost. Entweder hatten die Brüder van der Breek eine schlechte Köchin, oder sie legten auf feinere Küc he keinen Wert. Beim Kaffee, der wieder köstlich schmeckte, wurde Daisys Abreise besprochen.
"Wir dachten an morgen Nachmittag", meinte der ältere Mijnheer van der Breek, und sein Bruder nickte dazu. "Sie werden mit dem Auto nach Amsterdam gebracht. Wie wir gehört haben, sollen Sie dort etwas für Ihren Vater erledigen. Es wäre nett gewesen, Sie länger hier zu behalten, aber Sie möchten sicher so rasch wie möglich nach Hause." Daisy lächelte höflich, sagte aber nichts. Sosehr sie ihr Zuhause liebte, es war aufregend, allein in einem fremden Land zu sein. Sie würde sich in Amsterdam so viel wie möglich ansehen und ihren Vater notfalls telefonisch bitten, noch einen Tag länger bleiben zu dürfen. Am nächsten Nachmittag wurde Daisy von Cor in einem gut erhaltenen Daimler älteren Jahrgangs nach Amsterdam gefahren. Das Hotel, das Mijnheer van der Breek für sie ausgesucht hatte, lag in einer schmalen, von mehreren Kanälen durchschnittenen Seitenstraße und war klein und gemütlich. Der Besitzer sprach Englisch und zeigte Daisy selbst ihr Zimmer, das im ersten Stock zur Straße hinaus lag. Bevor er wieder hinunterging, erinnerte er sie daran, dass um sechs Uhr zu Abend gegessen würde. Es war ein trüber Nachmittag gewesen, und jetzt dämmerte es bereits. Für einen Besuch bei Mijnheer Friske war es zu spät, daher packte Daisy in Ruhe ihre Reisetasche aus und setzte sich dann in den tief gepolsterten Sessel am Fenster, um den Stadtplan von Amsterdam zu studieren. Es dauerte eine Weile, bis sie den kleinen Platz entdeckt hatte, an dem Mijnheer Friskes Antiquitätengeschäft lag. Sie würde sich morgen Zeit lassen, denn ihr Vater hatte ihr einen zweiten Tag bewilligt, und sie musste erst übermorgen die Nachtfähre nehmen. Da der Weinkühler schwierig zu transportieren war, hatte er ihr außerdem versprochen, sie in Harwich abzuholen. Das kleine Esszimmer im Erdgeschoss war bereits gut besucht, als sie kurz nach sechs Uhr hinunterging. Die Gäste waren ausschließlich Holländer, aber sie wurde freundlich
begrüßt und aß mit gutem Appetit. Nach der einfachen Hausmannskost bei den Van der Breeks kamen ihr Currysuppe und gedünsteter Hecht mit Spinat und Kartoffelkroketten wie ein Luxusmenü vor. Auch die Birnencreme mit bitterer Borkenschokolade schmeckte köstlich, dafür ließ der Kaffee sehr zu wünschen übrig. Daisy schlief gut und ließ sich am Morgen das Frühstück schmecken. Im Hotel wurde kein Mittagessen serviert, und da sie sich in der Stadt nicht auskannte, wollte sie lieber Vorsorgen. Trotz des Stadtplans verirrte sie sich mehrmals auf dem Weg zu Mijnheer Friske, aber endlich stand sie vor dem Geschäft, dessen kleines Schaufenster mit antiken Kostbarkeiten überladen war. Sie nahm sich einige Minuten Zeit, um die Auslagen genauer zu betrachten, und betrat dann den Laden, der nur schwach erleuchtet war und sich nach hinten in völliger Dunkelheit verlor. Etwa in der Mitte stand ein Schreibtisch, an dem ein alter Mann saß und eine silberne Kaffeekanne putzte. Daisy bahnte sich einen Weg durch das Gewirr von Antiquitäten und blieb vor dem Schreibtisch stehen. "Guten Morgen", sagte sie und streckte die Hand aus. Mijnheer Friske schien nicht sehr redefreudig zu sein, denn er blickte nur kurz auf und ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. "Ich bin Daisy Gillard", fuhr Daisy fort. "Sie haben meinem Vater einen barocken Weinkühler angeboten. Kann ich ihn sehen?" Diesmal reagierte Mijnheer Friske. "Wollen Sie ihn kaufen?" fragte er mit schwerem holländischem Akzent. "Verstehen Sie etwas davon?" "Mein Vater verlässt sich auf mich." Mijnheer Friske stand mühsam auf und führte Daisy weiter nach hinten, wo der Weinkühler auf einem massiven Eichentisch stand. Während er abwartend stehen blieb, begutachtete Daisy den Weinkühler. Er war kunstvoll gearbeitet, gut erhalten und zweifellos echt.
"Wie viel?" fragte sie. Der Preis war zu hoch, aber das hatte Daisy erwartet. Nach einer halben Stunde und mehreren Tassen Kaffee einigten sie sich auf eine Summe, die beide Seiten zufrieden stellte. Daisy füllte einen Scheck aus und sagte, dass sie morgen auf dem Weg zum Bahnhof vorbeikommen würde, um das unhandliche Objekt abzuholen. Zufrieden mit dem abgeschlossenen Geschäft und voller Erwartung auf den vor ihr liegenden Tag, verabschiedete sie sich von Mijnheer Friske. Als sie am späten Nachmittag in das Hotel zurückkam, war sie erschöpft und erfüllt von Erlebnissen. Sie hatte das Reichsmuseum, die Alte und Neue Kirche und das Anne-FrankHaus besucht und sogar noch Zeit für die große Grachtenrundfahrt gehabt. Beim Abendessen erzählte sie ihren Tischnachbarn davon und erntete allgemeine Zustimmung. Für den Abend riet man ihr zu einen Bummel über den Leidesplein, der mit seinen hell erleuchteten Cafes und Hotels ein allgemeiner Anziehungspunkt sei. Daisys Tag war so glücklich verlaufen, dass sie den Rat übermütig befolgte. Es war ein frostiger Abend, aber der Mond schien, und viele Menschen drängten sich durch die erleuchteten Straßen. Bis zum Leidesplein war es nicht weit. Daisy spazierte einmal um den Platz herum, trank an einem Straßenstand eine Tasse Kaffee und machte sich auf den Rückweg zum Hotel. Obwohl sie sich alle Straßen genau gemerkt hatte, verirrte sie sich und blieb schließlich ratlos stehen. Wo war sie? Sie blickte sieh um, machte einige Schritte rückwärts und stürzte in einen Kanal. Als sie aus dem eiskalten Wasser auftauchte, war ihr erster Gedanke, dass sie zum Glück nichts Wertvolles bei sich trug. Dann setzte Panik ein. Das Wasser war nicht nur kalt, es stank fürchterlich und und schmeckte auch so. Wahrscheinlich gab es Ratten ...
Daisy versuchte den Kopf über Wasser zu halten und schrie laut um Hilfe. Ihre Kleidung behinderte sie beim Schwimmen, und die gemauerte Uferböschung war so glatt, dass sie keinen Halt daran fand. Aber es gab noch Wunder. Eine Hand packte sie an der Schulter, eine zweite ergriff ihren Arm, dann wurde sie mit einem kräftigen Ruck aus dem Wasser gezogen. "Sind Sie verletzt?" fragte ihr Retter. Daisy kniete auf dem Pflaster und erbrach sich. Dadurch wurde sie das Wasser los, das sie geschluckt hatte. "Also nur nass", fuhr der Mann fort, dessen Stimme sie jetzt erkannte. "Nass und ... übel riechend." Er richtete sie vorsichtig auf. "Kommen Sie mit. Das kriegen wir schnell wieder hin." "Mr. der Huizma", sagte Daisy wütend. "Natürlich, ausgerechnet Sie!" Es war angenehm, gerettet zu werden, aber warum nicht von einem Fremden? Warum von einem Mann, der sie - wenn überhaupt - als still und wohlerzogen in Erinnerung hatte, als eine Frau, die sich mit Antiquitäten auskannte und gern am Strand spazieren ging? Jetzt war sie nur noch eine dumme, unvorsichtige Gans für ihn. "Ja, ich bin es." Er nahm ihren Arm. "Hinter dieser Brücke liegt das Krankenhaus, in dem ich arbeite. Dort wird man Sie trocknen und Ihre Sachen säubern. Haben Sie etwas im Wasser verloren?" "Nein, ich hatte nur wenige Gulden bei mir. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wo ich war ..." "Gewiss", bestätigte der Doktor freundlich. "Das hätte jeder getan. Hier entlang, bitte." Das Krankenhaus lag wirklich nah. In der Notaufnahme wurde Daisy einer großen, hageren Schwester übergeben, ehe sie Dr. der Huizma danken konnte. Man zog ihr die nasse Kleidung aus, stellte sie unter die Dusche, wusch ihr das Haar und gab ihr mehrere Injektionen. "Wegen der Ratten", erklärte Schwester Malwina, die leidlich Englisch sprach,
In ein viel zu großes Nachthemd und eine Wolldecke gehüllt, musste Daisy sich in einen Ruheraum setzen und heißen Kaffee trinken. Sie fühlte sich schon wieder ganz wohl, nur in ihrem Kopf ging alles durcheinander. Sie hatte nichts anzuziehen. Selbst wenn sie ihre Sachen gewaschen zurückbekam, würden sie zu nass sein, um sie anzuziehen. Und wie sollte sie ins Hotel kommen? Darüber hatte bisher niemand mit ihr gesprochen. Die Vorhänge des kleinen Ruheraums wurden auseinander gezogen, und Schwester Malwina kam herein - gefolgt von Dr. der Huizma. Daisy blickte aus ihrer Wolldeckenhülle zu ihnen auf und fragte: "Meine Kleidung? Könnte ich vielleicht..." "Dr. der Huizma wird Sie in Ihr Hotel zurückbringen und die Umstände erklären", unterbrach die Schwester sie. "Würden Sie so nett sein und das Nachthemd, die Hausschuhe und die Wolldecke morgen zurückbringen?" "Oh ja, natürlich. Vielen Dank. Ich mache Ihnen so viel unnötige Mühe. Soll ich meine Sachen mitnehmen?" "Nein, nein. Sie werden gewaschen und desinfiziert. Morgen früh ist alles fertig." Daisy vermied es, den Doktor anzusehen. "Ich bin Ihnen sehr dankbar, Schwester. All diese Umstände ..." "Es kommt häufiger vor, dass Passanten in die Kanäle stürzen." Schwester Malwina lächelte. "Ich glaube, Sie haben das Abenteuer unversehrt überstanden." "Können wir gehen, Miss Gillard?" fragte Dr. der Huizma. Behindert von den übergroßen Hausschuhen und der Wolldecke, trottete Daisy neben dem Doktor zum Ausgang, wo sie in einen dunkelgrauen Rolls-Royce verfrachtet wurde. Die Fahrt dauerte nicht lange, und da der Doktor schwieg, schwieg Daisy ebenfalls. Im Hotel sorgte ihr Erscheinen für einiges Aufsehen, aber der Doktor gab eine kurze Erklärung ab, von der sie kein Wort verstand, und sagte dann zu ihr: "Ich hoffe, dass Ihnen das unfreiwillige Bad nicht geschadet hat,
Miss Gillard. Genießen Sie Ihren restlichen Aufenthalt in Amsterdam, und grüßen Sie Ihren Vater. Auf Wiedersehen." Daisy dankte ihm und machte umständlich eine Hand frei. Der Doktor nahm sie zwischen seine großen, kühlen Hände und hielt sie einen Moment fest. Es war wie ein stummer Trost. Am nächsten Morgen zog sich Daisy besonders sorgfältig an und fuhr mit dem Taxi zum Krankenhaus, wo sie Nachthemd, Hausschuhe und Wolldecke abgab und ihre eigenen Sachen in Empfang nahm. Sie dankte Schwester Malwina noch einmal und wurde mit guten Wünschen und der Warnung, ja vorsichtig zu sein, entlassen. Dr. der Huizma hatte sich nicht blicken lassen, aber warum auch? Er gehörte offensichtlich zum oberen Ärztestab und erschien nur in der Notaufnahme, wenn ein dringender Fall es erforderte. Daisy kehrte ins Hotel zurück, bezahlte die Rechnung und fuhr mit ihrem Gepäck zu Mijnheer Friske, der den Weinkühler inzwischen verpackt hatte. Sie bat ihn, ihr Gepäck bis zum Abend im Laden abstellen zu dürfen, nahm nur ihre Handtasche mit Fahrkarte, Pass und Geld mit und brach zu ihrer zweiten Besichtigungstour auf. Sie erfüllte wieder ein umfangreiches Programm. Vom Dom mit dem Königlichen Schloss wanderte sie zu dem ehrwürdigen Beginenhof und weiter zum Rembrandthaus. Nach einer kurzen Mittagspause besichtigte sie noch die Sünderkirche und das Rathaus, ehe sie das bekannte Kaufhaus "Bijnenkorf" aufsuchte, um sich ein bisschen umzusehen und ein Geschenk für ihre Eltern zu kaufen. Am späten Nachmittag machte sie sich auf den Rückweg zu Mijnheer Friske. Während sie durch die engen Straßen ging, ließ sie die letzten beiden Tage noch einmal an sich vorüberziehen. Es waren schöne, genussreiche Tage gewesen, trotz des kleinen Unfalls, der sie wieder mit Mr. der Huizma zusammengeführt hatte. Dr. der Huizma. Andere Umstände wären ihr freilich
lieber gewesen. Jemand, der ohnehin nicht hübsch war, wurde durch ein Bad im schmutzigen Kanalwasser nicht hübscher, und eine Wolldecke war, modisch gesehen, auch nicht der letzte Schrei. Kurz vor Mijnheer Friskes Geschäft kam Daisy durch eine besonders enge und dunkle Straße, in der kein Mensch zu sehen war. Ein leises Kribbeln warnte sie vor drohender Gefahr, aber es war schon zu spät. Jemand riss ihr die Handtasche weg, und als sie danach greifen wollte, wurde sie von einem anderen niedergeschlagen. Sie fiel mit dem Kopf hart auf das Pflaster, fühlte einen stechenden Schmerz und verlor das Bewusstsein. Die beiden Räuber verschwanden so schnell und lautlos, wie sie gekommen waren. Es dauerte zehn Minuten, bis ein Radfahrer Daisy entdeckte, und weitere zehn Minuten, bis eine Ambulanz eintraf, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Als Dr. der Huizma am nächsten Morgen das Krankenhaus nach einer Notoperation verließ, traf er in der Eingangshalle mit Schwester Malwina zusammen, die gerade Dienstschluss hatte. Da er die Schwester seit längerer Zeit kannte, erkundigte er sich nach dem Verlauf der Nacht. "Oh, wir hatten zu tun, Doktor, genau wie Sie. Ach, da fällt mir ein ... die Engländerin ist wieder da." Der Doktor blieb abrupt stehen. "Sie wollte mit der Nachtfähre nach Hause fahren. Was ist passiert?" "Ein Überfall. Sie wurde gegen sechs Uhr abends mit Gehirnerschütterung eingeliefert. Keine Ausweispapiere ... die Räuber haben alles mitgenommen. An Hand der Aufnahmeliste konnten wir nur den Namen ermitteln und das Hotel benachrichtigen. Dort wusste man auch nicht viel. Miss Gillard hatte ihre Rechnung bezahlt und wollte abends abreisen." Dr. der Huizma machte seufzend kehrt. "Vielleicht kann ich behilflich sein. Ich kenne den Vater, er muss sofort benachrichtigt werden. Vielen Dank, Schwester."
Der Doktor erkundigte sich, auf welche Station Daisy gebracht worden war, und traf die Oberschwester in ihrem Büro an. "Miss Gillard? Gewiss, Doktor. Sie ist immer noch bewusstlos. Wir haben inzwischen ihre Adresse herausgefunden, aber am Telefon meldet sich niemand. Möchten Sie sie sehen? Dr. Brem ist gerade bei ihr." Daisy lag friedlich in ihrem Bett. Man hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten und ihre Arme locker auf die Bettdecke gelegt. Sie war sehr blass und runzelte ab und zu die Stirn. Dr. der Huizma trat zu seinem Kollegen. "Kein Schädelbruch? Kein Gehirnschaden?" "Nicht, soweit wir bisher feststellen konnten", antwortete Dr. Brem. "Die Gehirnerschütterung scheint schwer zu sein, aber alle Reflexe sind normal." Dr. der Huizma beugte sich über das Bett. "Daisy! Daisy, können Sie mich hören?" Daisy verzog das Gesicht, hielt die Augen aber geschlossen. "Gehen Sie weg, ich schlafe. Mein Kopf tut weh ..." Der Doktor nahm ihre Hand. "Armes Kind. Gegen die Schmerzen werden wir gleich etwas tun. Wenn Sie aufwachen, wird es Ihnen besser gehen. Wollte Ihr Vater Sie in Harwich abholen?" "Wie hätte ich sonst den Weinkühler durch halb England transportieren sollen? Gehen Sie endlich." Der Doktor kehrte in das Büro der Oberschwester zurück und griff zum Telefon. Mr. Gillard, der geduldig auf das Anlegen der Fähre wartete, war erstaunt, als er plötzlich über Lautsprecher in das Büro der Hafenverwaltung gerufen wurde. "Ein Anruf aus Holland", hieß es. Mr. Gillard nahm den Hörer auf. "Daisy?" "Julian der Huizma. Daisy hat einen Unfall gehabt. Sie ist nicht schwer verletzt, aber sie hat eine Gehirnerschütterung. Ich
komme gerade von ihrem Bett. Sie ist wieder bei Bewusstsein und wird gut versorgt. Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Sie wird einige Tage im Krankenhaus bleiben, und ich kümmere mich persönlich um ihre Rückreise." "Was ist passiert?" "Sie wurde überfallen ... jemand riss ihr die Handtasche Weg. Sie wird Geld und einen neuen Pass brauchen, aber das ist kein Problem." "Soll ich herüberkommen? Oder vielleicht meine Frau?" "Das ist nicht nötig, falls Sie es nicht unbedingt wünschen. Daisy muss strenge Ruhe haben, Sie dürften sie ohnehin nur kurz besuchen. Ich rufe Sie täglich an und berichte, wie es ihr geht. Nur noch eine Sache ... Daisy sagte etwas von einem Weinkühler. Kann ich da helfen?" "Ach ja, Mijnheer Friske ..." Der Doktor ließ sich die Sache erklären, versprach, sich darum zu kümmern, und verabschiedete sich von Mr. Gillard. Auf dem Nachhauseweg fragte er sich, was ihn eigentlich bewogen hatte, mehr oder weniger fremden Menschen seine Hilfe anzubieten. Hatte er nicht genug zu tun, auch ohne Weinkühlern nachzujagen und jeden Abend in Salcombe anzurufen? Er hielt vor seinem Haus - einem hohen, schmalen Giebelhaus gegenüber einem Kanal - und ging gleich nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Dann erschien er unten zum Frühstück. Sein Butler, ein hagerer älterer Mann, der schon leicht gebeugt ging, erwartete ihn mit vorwurfsvoller Miene, "Sie sind wieder die halbe Nacht draußen gewesen", hielt er dem Doktor vor. "Das ist nicht recht. Man sollte auf einen so wichtigen Mann wie Sie mehr Rücksicht nehmen." Der Doktor sah rasch die Post durch, die neben seinem Platz lag. "Das ist nun mal mein Beruf, Joop, und er macht mir
Freude." Er sah lächelnd auf. "Übrigens bin ich halb verhungert." Im Lauf des Tages hatte der Doktor keine Zeit, an Daisy zu denken, aber bevor er abends das Krankenhaus verließ, ging er kurz bei ihr vorbei. "Sie ist fast ständig bei Bewusstsein", teilte ihm die Oberschwester mit. "Sie isst und trinkt, was wir ihr geben, aber sie spricht kaum. Irgendetwas scheint sie zu beschäftigen. Ein Weinkühler..." Der Doktor nickte. "Darum kümmere ich mich auf dem Nachhauseweg." Daisy merkte sofort, dass Dr. der Huizma als Arzt kam. Sein Bück ruhte kritisch auf ihr, nicht annähernd so freundlich wie damals im Hotel oder während des Spaziergangs am Strand. "Guten Abend", sagte sie leise. "Es geht mir wieder gut." "Vielleicht in einigen Tagen", verbesserte er sie. "Ich fahre nachher bei Herrn Friske vorbei. Soll ich ihm etwas bestellen?" "Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Er wird sich wundern, dass ich nicht vorbeigekommen bin, um den Weinkühler und mein Gepäck abzuholen. Bitte sagen Sie ihm, dass ich das in einigen Tagen nachholen werde." Daisy stutzte. "Wer hat Ihnen von Mijnheer Friske und dem Weinkühler erzählt?" "Ihr Vater, Daisy. Ich habe ihn heute Morgen in Harwich angerufen." "Oh, vielen Dank. Ich komme mir so unnütz vor." "Das müssen Sie nicht. Es freut mich, dass Sie sich wieder erholt haben." Der Doktor lächelte. "Schlafen Sie gut." Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um. "Das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen. Ihre Eltern wissen, dass Sie in guten Händen sind, und lassen von ganzem Herzen grüßen. Sie wären herübergekommen, aber ich haben ihnen abgeraten. Ich sagte, es sei nicht nötig, denn Sie würden in wenigen Tagen wieder zu Hause sein."
Als Daisy wieder allein war, schloss sie die Augen und dachte über das Gespräch nach. Es war knapp und unpersönlich gewesen, trotz aller Höflichkeit hatte der Doktor seine Ungeduld nicht verbergen können. Wahrscheinlich fand er sie nur lästig und wünschte sie insgeheim zum Teufel. Das machte sie traurig. Zwei Tränen liefen über ihre Wangen, und ehe sie sie fortwischen konnte, stand die Schwester an ihrem Bett. "Tränen, Daisy? Hat Dr. der Huizma Sie gekränkt?" "Nein, nein, er war äußerst liebenswürdig." Es gelang Daisy zu lächeln. "Es sind die Kopfschmerzen ..." Sie schluckte Tabletten, trank lauwarmen Kräutertee und schloss die Augen. Sie bezweifelte, dass sie schlafen würde, aber wenn sie die Augen geschlossen hielt, würden die Oberschwester und die Nachtschwester es glauben. Alle waren so freundlich zu ihr ... Warum durfte sie nicht früher nach Hause? Wenn sie wieder zu Hause war, würde sie Dr. der Huizma endgültig vergessen.
4. KAPITEL Nachdem Dr. der Huizma alles Notwendige mit Mijnheer Friske besprochen hatte, fuhr er nach Hause. Mit le ichtem Verdruss erinnerte er sich daran, dass er heute Abend bei Freunden zum Essen eingeladen war und dass seine Verlobte damit rechnete, pünktlich abgeholt zu werden. Doch bis dahin hatte er noch viel zu tun. Er musste seine Briefe lesen, wichtige Telefongespräche erledigen und Patientenberichte durchsehen. Gefolgt von Joop, der ein Kaffeetablett trug, und Bouncer, einem Hund unbekannter Rasse, ging der Doktor in sein Arbeitszimmer. Er dankte Joop für den Kaffee, ließ sich ausgiebig von Bouncer begrüßen und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Der Doktor trank nur den Kaffee und überließ Bouncer die Kekse. "Ich muss heute Abend ausgehen", sagte er, "und das gefällt mir gar nicht. Anscheinend bin ich kein sehr geselliger Mann. Wenn ich zurück bin, machen wir beide noch einen schönen Abendspaziergang." Dagegen hatte Bouncer nichts einzuwenden. Er aß den letzten Keks und machte es sich unter dem Schreibtisch bequem. Er war ein ungewöhnlicher Hund, wie der Doktor seinen Freunden immer wieder versicherte. Er hatte einen schlanken, mit seidigem Fell bedeckten Körper, kurze Beine und große Ohren. Die bernsteingelben Augen verrieten sein mutiges Herz, und er
liebte seinen Herrn hingebungsvoll. Jetzt gähnte er, schloss die Augen und überließ den Doktor seinen Brie fen. Nach einer guten Stunde stand der Doktor auf und ging mit Bouncer in den Garten. Es war ein klarer, frostiger Abend. Wie hübsch ist es, in Salcombe am Strand entlang zu spazieren, dachte der Doktor, während er mit großen Schritten auf und ab wanderte. Und wie wohltuend war Daisys Gesellschaft. Er seufzte, ohne einen Grund dafür zu haben, pfiff nach Bouncer und ging in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Helene van Tromp, die fest entschlossen war, Julian der Huizma zu heiraten, teilte mit ihren Eltern eine große Etagenwohnung in der Churchillaan. Sie war nicht mehr jung kaum ein Jahr trennte sie von dem fünfunddreißigjährigen Doktor -, aber mit ihrem hellblonden Haar, den großen blauen Augen und den ebenmäßigen Gesichtszügen galt sie als schöne Frau. Die gertenschlanke Figur war ein Ergebnis ständiger Disziplin und regelmäßiger Besuche im Fitnessstudio und im Kosmetiksalon. Sie war immer elegant angezogen und tadellos frisiert. Wenn der Doktor sie zur Begrüßung auf die Wange küsste, erhielt er stets die Ermahnung, ihre Frisur nicht zu ruinieren, und auch der heutige Abend machte keine Ausnahme. "Du kommst spät", wurde er außerdem ermahnt. "Ich hatte gehofft, wir könnten uns noch etwas mit meinen Eltern unterhalten. Sie sehen dich so selten." Helene lächelte betörend. "Nach unserer Hochzeit wirst du natürlich mehr Zeit für sie haben..." "Meine Arbeit wird mich wie bisher in Anspruch nehmen", warf der Doktor ein. Helene lachte silberhell. "Sei nicht albern, Julian. Du könntest den Dienst im Krankenhaus aufgeben und dich ganz auf deine Privatpraxis konzentrieren. Dann hätten wir endlich Zeit für unsere Freunde."
Genau das wünschte sich der Doktor nicht. Helenes Freunde waren nicht nach seinem Geschmack, und er hatte in der unbestimmten Vorstellung gelebt, dass sie sich nach der Hochzeit seinen eigenen Freunden zuwenden würde verheirateten Männern, die ihren Beruf so ernst nahmen wie er selbst und gleichzeitig eine harmonische Ehe führten. Plötzlich kam ihm der Verdacht, dass er sich in dieser Hinsicht wahrscheinlich irrte. Helene würde ihrem alten Freundeskreis treu bleiben, aber heute war nicht der richtige Tag, um darüber zu sprechen. Er verabschiedete sich von Mevrouw und Mijnheer van Tromp und fuhr mit Helene zu der Dinnerparty. "Ein verlorener Abend", gestand er Stunden später dem ergebenen Bouncer, der neben ihm durch die stillen nächtlichen Straßen trottete. "Was ist nur mit mir los? Die Unterhaltung bei Tisch hat mich entsetzlich gelangweilt. Ob bösartig oder witzig, von Bedeutung war kein einziges Wort. Unterhalten und sich unterhalten lassen, das war die Devise." Auf dem Weg in sein Schlafzimmer blieb der Doktor plötzlich stehen. Warum wollte er Helene überhaupt heiraten? Er liebte sie nicht und hatte sie nie geliebt. Eigentlich hätte ihn diese Erkenntnis wach halten müssen, aber er war todmüde und dachte im Einschlafen seltsamerweise nicht an Helene, sondern an Daisy. Zwei Tage später erfuhr er von seinem Kollegen, dass Daisy sich genug erholt habe, um die Heimreise anzutreten. "Heute schon?" fragte er. Dr. Brem schüttelte den Kopf. "In ein bis zwei Tagen. Sie hat gestern einen neuen Pass und Geld für die Rückreise erhalten. Möchten Sie sie noch einmal besuchen?" "Ja", antwortete der Doktor. "Heute Abend fahre ich für einen Tag nach Utrecht, aber ich werde rechtzeitig zurück sein." Während sich Daisy für die Heimreise rüstete, dachte sie immer wieder an Dr. der Huizma. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er sie noch einmal besuchen würde, aber am Abend vor der
Abreise gab sie diese Hoffnung auf. Als sie der Oberschwester mitteilte, dass sie die Nachtfähre nehmen würde, fragte diese besorgt: "Und wo werden Sie den Tag über bleiben?" "Bei einem Freund meines Vaters", antwortete Daisy vage. "Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein", bat die Oberschwester. Immerhin war Daisy alt genug, für sich selbst zu sorgen, obwohl sie ein bedauerliches Talent besaß, in Unfälle verwickelt zu werden. Zehn Minuten, nachdem Daisy das Krankenhaus verlassen hatte, parkte Dr. der Huizma seinen dunkelgrauen Rolly- Royce vor dem Krankenhaus. Er suchte kurz seinen Assistenten auf und ging dann in die Station, in der Daisy gelegen hatte. "Sie hat das Krankenhaus vor einer knappen halben Stunde verlassen", teilte ihm die Oberschwester mit. "Sie nimmt die Nachtfähre, wollte aber nicht länger bleiben." Dr. der Huizma sah auf die Uhr. "Es ist elf Uhr. Hatte sie noch irgendetwas vor?" "Sie wollte einen Freund ihres Vaters besuchen." Der Doktor bedankte sich und verließ das Krankenhaus. Sein freier Tag war ihm nun verdorben, aber er konnte Daisy nicht ihrem Schicksal überlassen. Bestimmt war sie unterwegs zu Mijnheer Friske, um den unseligen Weinkühler und ihr Gepäck abzuholen. Er konnte sich ihre Rückreise lebhaft vorstellen. Sie würde einen dritten, vielleicht noch schwereren Unfall haben ... Als er das Antiquitätengeschäft betrat, nahm Daisy gerade den sorgfältig eingepackten Weinkühler in Empfang. Beim Klingeln der Türglocke drehte sie sich um und sagte verärgert: "Oh!" Der Doktor ließ sich dadurch nicht abschrecken. "Überlegen Sie, wie Sie das gute Stück nach Hause bekommen?" fragte er heiter. Daisy sah ihn kalt an. "Natürlich nicht. Ich habe alle nötigen Vorbereitungen getroffen."
"Ich fahre heute mit der Nachtfähre nach England", fuhr der Doktor fort. "Ich kann Sie und den Weinkühler bequem im Auto mitnehmen." "Das ist nicht nötig", erklärte Daisy. "Trotzdem vielen Dank. Ich kann die Rückreise gut allein bewältigen - genau so, wie ich es geplant habe." "Daran zweifle ich nicht, Miss Gillard. Sie können bestimmt alles, was Sie wollen, aber was soll die hartnäckige Weigerung? Mir ist es gleich, ob Sie mitkommen oder nicht. Mein Vorschlag entspringt nur vernünftigen Überlegungen." Der Doktor wartete keine Antwort ab, sondern nickte Mijnheer Friske zu, der daraufhin den Weinkühler nahm und nach draußen trug. "Wo bringt er ihn hin?" Daisy sah Mijnheer Friske nach, aber der Doktor trat dazwischen. "In mein Auto. Seien Sie vernünftig, Daisy." "Meinetwegen, aber wohin bringen Sie den Weinkühler?" "Zu mir nach Hause. Sie werden dort mein Gast sein, bis es Zeit ist, nach Hoek van Holland aufzubrechen." "Auf keinen Fall, Doktor. Wie denken Sie sich das? Ich bin bestimmt kein erwünschter Gast, und Ihre Frau ..." "Ich bin nicht verheiratet, und wie kommen Sie darauf, dass Sie mir als Gast unerwünscht sind? Ich kann mich nicht erinnern, etwas Derartiges gesagt zu haben." Das alles klang nicht nur freundlich, sondern auch so vernünftig, dass Daisy schließlich nachgab. "Sie sind sehr liebenswürdig", sagte sie leise. "Durchaus nicht. Wir fahren jetzt zu mir nach Hause, aber wenn Sie noch einmal aufbrechen wollen, um etwas zu kaufen oder zu besichtigen... bitte, das steht Ihnen frei. Allerdings würde ich Ihnen raten, vorher mit mir zu essen." Sekunden später fand sich Daisy vor dem Geschäft wieder. Mijnheer Friske verstaute ihre Reisetasche und den Weinkühler im Auto, reichte ihr zum Abschied die Hand und wartete, bis sie
eingestiegen war. Dann winkte er und kehrte in sein Geschäft zurück. Der Doktor schwieg während der Fahrt, was Daisy Gelegenheit gab, sich mit dem veränderten Reiseplan abzufinden. Sie bedauerte, dass sie nachgegeben hatte, aber inzwischen war es zu spät, ihre Meinung zu ändern. Und der Weinkühler lag sicher auf dem Rücksitz. Es gab tatsächlich keine bequemere Art, ihn zu transportieren, und weiterer Widerspruch wäre kindisch gewesen. Der Doktor hielt vor seinem Haus, stieg aus und öffnete Daisy die Tür. Einen Moment blieb sie auf dem Gehweg stehen und sah an den schmalen, hohen Häusern hinauf, die alle einen anderen Giebel und schön gepflegte Fassaden hatten. Während sie die wenigen Stufen zum Haus des Doktors hinaufstiegen, wurde die schwere, mit einem Fächerfenster verzierte Tür geöffnet. Der Doktor, der sich sonst immer selbst aufschloss, unterdrückte ein Lächeln. "Das ist Joop", stellte er vor. "Er und seine Frau Jette führen mir das Haus. Joop spricht Englisch und wird Ihnen in jeder Weise behilflich sein." Zu Joop gewandt, fuhr er fort: "Miss Gillard und ich fahren heute Abend nach England. Wir nehmen die Nachtfähre." Auf Joops Gesicht regte sich nichts. "Sehr wohl, Mijnheer", antwortete er. "Ich bringe gleich Kaffee ins Wohnzimmer. Wenn Miss Gillard mir freundlicherweise folgen würde? Ich sage Jette Bescheid." Dr. der Huizma nahm die Briefe, die auf dem Flurtisch lagen, und blätterte sie durch. "Tun Sie das, Joop." Er nickte Daisy zu. "Wir sehen uns in fünf Minuten." Daisy wurde einer kräftigen, rotwangigen Frau mittleren Alters übergeben, die sie einen langen Korridor entlang führte, an dessen Ende ein Badezimmer lag. Daisy ordnete ihr Haar, an dem nichts zu ordnen war, stellte fest, dass sie heute noch
langweiliger als sonst aussah, und ging wieder nach vorn, wo Joop wartete, um sie ins Wohnzimmer zu führen. Es schien niemand da zu sein, bis auf einen ungewöhnlich aussehenden Hund, der Daisy fröhlich begrüßte. "Braver Hund", sagte sie und streichelte sein weiches Fell, ehe sie sich genauer umsah. Es war ein großer, hoher Raum mit zwei schmalen Fenstern, die von bordeauxroten Samtvorhängen eingefasst waren. Es gab mehrere Sessel und kleine Lampentische, einen Sekretär zwischen den Fenstern und zwei Glasvitrinen rechts und links vom Kamin. Daisy trat aufmerksam näher. "Intarsienarbeiten aus dem achtzehnten Jahrhundert", sagte sie zu dem Hund. "Beide sehr gut erhalten." "Ganz recht", erklang es hinter ihr. "Zwei schöne Stücke, nicht wahr? Wie ich sehe, haben Sie mit Bouncer Freundschaft geschlossen. Mögen Sie Hunde?" "Oh ja. Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein." "Das waren Sie auch nicht. Wenn Sie einen der Schränke geöffnet und etwas herausgenommen hätten, wäre ich vielleicht irritiert gewesen. Hier kommt Joop mit dem Kaffee. Setzen Sie sich, Daisy, und sagen Sie mir, was Sie mit dem Tag anfangen wollen." Daisy wählte einen kleinen, mit Tapisserie bezogenen Sessel. "Müssen Sie nicht arbeiten?" "Nein. Ich war zwei Tage in Utrecht, dafür gönne ich mir jetzt einen kurzen Urlaub." Daisy schenkte den Kaffee aus einer schönen kleinen Silberkanne ein. Vermutlich siebzehntes Jahrhundert, dachte sie, wesentlich älter als die hauchdünnen Porzellantassen. Wenn es nicht unhöflich gewesen wäre, zu fragen ... "Die Kanne stammt von 1625. Die Tassen sind etwas jünger... um siebzehnhundert."
"Sie sind wunderschön. Haben Sie keine Angst, sie könnten zerbrechen?" "Nein, Ich benutze sie ständig, aber außer Jette darf sie niemand abwaschen." "Viele Menschen verstecken ihre Schätze in Schränken." "Dann verdienen sie keine. Nehmen Sie von den Keksen, Daisy. Jette ist eine hervorragende Köchin." Daisy trank den aromatischen Kaffee und aß von dem köstlichen Gebäck. Sie hätte verlegen oder doch verärgert sein müssen, weil der Doktor so rigoros in ihre Pläne eingegriffen hatte. Stattdessen saß sie hier und fühlte sich angenehm entspannt, beinahe wohl... Nach einer Weile entschuldigte sich der Doktor, um einige Telefongespräche zu erledigen. "Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause", sagte er zu Daisy. "Jenseits des Flurs finden Sie die Bibliothek mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Wenn Sie möchten, zeigt Joop Ihnen auch die Tür zum Garten." "Sie haben einen Garten? Den würde ich gern sehen." "Joop wird Ihnen den Weg zeigen." Daisy folgte dem Butler durch eine Tür neben der Treppe, hinter der ein gepflasterter Gang lag. Das Haus war zwar schmal, aber es reichte weit nach hinten und hatte an den merkwürdigs ten Stellen Durchgänge und Fenster. Als Joop schließlich die Tür zum Garten öffnete, konnte Daisy feststellen, dass hier das gleiche Prinzip herrschte: Der Garten war schmal, aber ungewöhnlich tief, so dass er nicht eng wirkte. Zwei gepflasterte Wege führten rechts und links am Rasen entlang und trennten ihn von den Blumenbeeten, die im Schutz der hohen Backsteinmauern lagen. Weiter hinten gab es eine kleine Laube und sogar einen Teich mit Springbrunnen, der von einem Rosenspalier eingefasst war. Wie schön es hier im Sommer sein muss, dachte Daisy und setzte sich trotz der Kälte in die Laube. Was für ein prächtiges
Heim der Doktor besaß. Wenn er heiratete - was er zweifellos tun würde -, konnte sich seine Frau nur glücklich schätzen. "Hier an einem warmen Sommertag zu sitzen", sagte Daisy halblaut. "In einer Wiege würde ein Baby schlummern, zwei ältere Kinder würden herumtollen, verfolgt von Bouncer und einer Katze mit ihren Jungen ..." "Ein reizendes Bild, aber vielleicht würde es doch etwas eng werden." Dr. der Huizma kam den Weg herauf und hatte Daisys Worte gehört. "Ich habe nur vor mich hin geträumt", entschuldigte sie sich. "Tun Sie das nie?" "Nicht oft genug. Ich muss in Zukunft daran denken. Gefällt Ihnen mein Garten?" "Er ist vollkommen." "Dann will ich Ihnen etwas zeigen." Der Doktor führte Daisy zu einer alten Tür in der hinteren Mauer. Er schob die Riegel zurück, drehte den großen Schlüssel um und öffnete. Hinter der Tür lag ein kleiner Platz, der direkt an einen Kanal grenzte. Mehrere Stufen führten zum Wasser und zu einem vertäuten Boot hinunter. "Ihr Hinterausgang?" fragte Daisy. Als der Doktor nickte, fuhr sie fort: "Natürlich, hier hat ein Kaufherr früher seine Waren ausgeladen. Benutzen Sie das Boot?" "Sehr selten. Als kleiner Junge bin ich oft zu den größeren Kanälen gerudert." Daisy sah in das dunkle, stille Wasser. "Ihre Mutter muss tausend Ängste ausgestanden haben." "Das hat sie jedenfalls oft genug behauptet." Sie kehrten in den Garten und dann ins Haus zurück, wo sie sich wieder ins Wohnzimmer setzten und Sherry tranken. Daisy hatte inzwischen alle Befangenheit verloren und erzählte mehr von sich, als sie merkte. Der Doktor freute sich darüber und ermunterte sie unauffällig.
Das Esszimmer, in dem der Lunch serviert wurde, war so kostbar eingerichtet wie die anderen Räume. Tisch und Stühle schätzte Daisy auf frühes neunzehntes Jahrhundert, die wuchtige Anrichte mochte jünger sein. Die zahlreichen Familienporträts an den Wänden wirkten etwas einschüchternd, aber Daisy ließ sich den Appetit nicht verderben. Pate, Räucherlachs, Rührei und Käse schmeckten köstlich, ebenso die warmen Croissants und der leicht gekühlte Weißwein. Den Kaffee tranken sie auf Vorschlag des Doktors in der Bibliothek, einem kleinen dunklen Raum mit deckenhohen Bücherborden, einem lederbezogenen Tisch, mehreren bequemen Stühlen und zwei hölzernen Stehleitern, die Daisy fachkundig auf die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts datierte. Der Doktor ließ Daisy nach Herzenslust herumstöbern. Erst nach einer Weile fragte er, ob sie an einer Geschichte des Hauses interessiert sei. "Oh ja, sehr", antwortete sie. "Ist es eine Erstausgabe?" Der Doktor nickte. "Leider in holländischer Sprache, aber einige Zeichnungen sind interessant." Sie beugten sich gemeinsam über das Buch, als die Tür geöffnet wurde. Der Doktor blickte auf und sagte: "Helene, welche Überraschung!" Dann erhob er sich, um die Frau zu begrüßen. Daisy erkannte auf den ersten Blick, dass sie hier ihr Idealbild vor sich hatte. Groß, blond und schön, einfach, aber hochelegant angezogen und gertenschlank. Vielleicht etwas zu schlank - beinahe hager. Etwas mehr Figur hätte sie vollkommen gemacht. Oder mochte Dr. der Huizma überschlanke Frauen? "Daisy?" fragte er jetzt. "Dies ist Helene van Tromp, meine Verlobte." Er hatte eine Hand auf Helenes Arm gelegt. "Helene, das ist Daisy Gillard. Sie kauft und verkauft Antiquitäten ... eine Expertin auf ihrem Gebiet."
Daisy reichte Helene die Hand und lächelte. Helene lächelte auch, aber es war ein kaltes Lächeln. "Wie aufregend", sagte sie dabei. "Hoffentlich haben Sie auch etwas aus diesem Haus gekauft. Ich hasse die alten Möbel." "Niemand würde freiwillig etwas davon verkaufen", antwortete Daisy schockiert. "Jedes Stück ist eine Kostbarkeit." Helene sah ihren Verlobten an. "Warum ist Miss Gillard dann hier?" "Weil ich sie heute Abend im Auto mitnehme. Wir fahren mit der Nachtfähre nach England." "Oh." Ein schillernder Blick traf Daisy. "Sind Sie vor Julians Auto gefallen oder vor seinem Haus ohnmächtig geworden?" "Es war viel banaler", antwortete Daisy unbekümmert. "Ich stürzte in einen Kanal, und Dr. der Huizma zog mich wieder heraus. Ach ja, und dann wurde ich noch überfallen und beraubt. Ich musste einige Tage im Krankenhaus liegen. Als der Doktor hörte, dass ich nach England zurückfahre, bot er mir seine Begleitung an." Helene fixierte Daisy einen Moment und lächelte dann. Ein fades Ding, dachte sie beruhigt. Ohne Charme und Schick und für Julians Reize offenbar unempfänglich. Es lohnt sich nicht, ihretwegen besorgt zu sein. Als der Doktor dringend ans Telefon gerufen wurde, nutzte Helene ihre Chance. "Sie müssen müde sein", sagte sie scheinheilig. "Warum legen Sie sich nicht hin? Sie haben eine lange Reise vor sich." Sie nahm Daisy am Arm und führte sie zur Tür. "Der kleine Salon gegenüber wird selten benutzt. Sie können sich dort auf der Couch ausstrecken und ein wenig schlafen. Ich werde Joop bitten, Ihnen später eine Tasse Tee zu bringen." Daisy war durchaus nicht müde, aber sie verstand Helenes Wunsch, mit ihrem Verlobten allein zu sein, und ließ sich daher widerstandslos in den kleinen Salon führen.
"Hier wird Sie niemand stören", versprach Helene und schloss die Tür. Verglichen mit den anderen Zimmern, war der Raum klein, dafür aber umso gemütlicher. Auf dem runden Mitteltisch stand eine Schale mit Astern, daneben gab es einen zierlichen Schreibtisch, ein Sofa und kleine bequeme Sessel. Helene hatte gesagt, der Raum würde selten benutzt, aber Daisy kam er durchaus bewohnt vor. Sie setzte sich in einen Sessel und hing ihren Gedanken nach. Helene war ihr unsympathisch, daran änderte auch ihre Schönheit nichts. Der Doktor würde mit ihr nicht glücklich werden, aber das ging sie nichts an. Außerdem bildeten die beiden nach außen ein ideales Paar. Helene passte in dieses schöne alte Haus und würde es glänzend repräsentieren. Was sie allerdings über die Möbel gesagt hatte ... Daisys Lider wurden schwer, und ihre Gedanken verwirrten sich. Warum hatte sie sich bloß von dem Doktor überrumpeln lassen? Wenn sie England erreichten, stand sie doch wieder allein mit dem Weinkühler da. Sie hätte vorher daran denken und ihren Vater benachrichtigen sollen ... Sie erwachte durch leises Klopfen. Joop brachte den Tee und fragte, ob ihre Kopfschmerzen nachgelassen hätten. "Juffrouw van Tromp hat ausdrücklich gebeten, Sie nicht zu stören", fügte er hinzu. "Kann ich irgendetwas für Sie tun, Miss?" "Nein, danke", antwortete Daisy, ohne den Irrtum mit den Kopfschmerzen aufzuklären. Sie trank den Tee und fragte sich, wie lange sie noch hier sitzen würde. Bis zum Abendessen oder sogar bis zu ihrer Abreise? Sie musste nicht lange grübeln, denn Dr. der Huizma kam herein und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. "Ich muss um Entschuldigung bitten", sagte er. "Ich ahnte nicht, dass Sie Kopfschmerzen hatten und müde waren." "Oh", antwortete Daisy, ohne zu überlegen. "Ich war durchaus nicht müde, und ich hatte auch keine Kopfschmerzen.
Helene - ich darf sie doch so nennen? - war der Meinung, ich musste mich ausruhen. Sie machte sich sogar die Mühe, mir dies Zimmer zu zeigen." Dem Doktor schien das nicht zu gefallen, aber er fragte nur: "Wie wäre es mit einem Glas Sherry vor dem Essen?" "Oh ja, gern. Ich mag dieses Zimmer." "Meine Mutter benutzt es, wenn sie mich besucht." Daisy nickte. "Also war mein Eindruck richtig. Ich fand die Atmosphäre so wohnlich, irgendwie heiter. Man schreibt Briefe, näht oder strickt und ist einfach glücklich." Der Doktor sah sie nachdenklich an. "Wie Recht Sie haben, Daisy." Er stand auf. "Ich hole jetzt den Sherry." Nach dem Sherry wurde gegessen, und danach machte sich Daisy für die Reise fertig. So ein Luxus, dachte sie, als sie wieder im Auto saß, den Weinkühler und die Reisetasche sicher hinter sich. Wenn ich nur wüsste, worüber wir uns während der Fahrt unterhalten sollen. Diese Sorge war überflüssig. Kurz hinter Amsterdam fragte der Doktor einmal, ob sie es bequem habe. Sonst schien er seinen Gedanken nachzuhängen, und Daisy wagte nicht, ihn dabei zu stören.
5. KAPITEL In Hoek van Holland bat der Doktor Daisy freundlich, aber bestimmt, im Auto zu bleiben und auf ihn zu warten. Er blieb so lange fort, bis sie unruhig wurde. Gerade, als sie aussteigen und nach ihm suchen wollte, kam er zurück. "Wir können an Bord gehen", erklärte er. "Ich habe meine Fahrkarte noch nicht gezeigt..." "Das habe ich für uns beide erledigt. Sie können sich das Geld für Ihre Fahrkarte in Harwich zurückgeben lassen." "Um meine Schulden bei Ihnen zu begleichen?" Daisy wollte sich nicht noch abhängiger machen. "Wie Sie möchten." Der Doktor hatte sich in die Autoschlange eingereiht, und wenig später stieg Daisy vom Autodeck zum Mitteldeck hinauf, wo sie ihre Kabine gebucht hatte. Doch der Doktor drängte weiter. "Zum Oberdeck", sagte er und ging mit ihrer Tasche voran. Oben war es ruhig. Eine Stewardess führ te sie zu ihren Kabinen, und der Doktor sagte: "In zehn Minuten im Restaurant, Daisy." Dann schloss er seine Tür. Daisy sah sich in ihrer Kabine um. Sie war klein, aber sehr komfortabel eingerichtet. Also erste Klasse ... was das wohl kosten mochte? Und wo befand sich das Restaurant? Der Doktor hatte ihr mehr oder weniger befohlen, dort zu erscheinen. Wenn sie nun gar keinen Appetit hatte?
Leider hatte sie Appetit. Trotzdem setzte sie sich auf das Bett und ließ die zehn Minuten verstreichen, ehe sie das Restaurant aufsuchte. Der Doktor erwartete sie bereits. Er kam ihr bis zum Eingang entgegen und fragte: "Wie wäre es mit einem Drink? Ich würde dazu raten, denn in dieser Jahreszeit kann die See ziemlich unruhig sein." "Nein, danke", antwortete Daisy. "Ich bin schon bei rauer See hergekommen, ohne dass mir schlecht geworden ist." Der Doktor unterdrückte ein Lächeln. "Dann vielleicht ein Glas trockenen Sherry? In jedem Fall ist es empfehlenswert, etwas zu essen." Sie sprachen wenig während der Mahlzeit, und danach erklärte Daisy, dass sie gern ihre Kabine aufsuchen würde. Der Doktor versuchte nicht, sie zurückzuhalten. "Wir legen gegen sieben Uhr in Harwich an", informierte er sie noch. "Jemand wird Ihnen um halb sieben Tee und Toast bringen. Wir frühstücken später. Gute Nacht, Daisy." Das klang so kurz angebunden, dass Daisy nicht zu widersprechen wagte, obwohl sie mit dem gemeinsamen Frühstück keineswegs einverstanden war. Sobald sie in Harwich ankamen, würde sie ihre Tasche und den Weinkühler nehmen und ihren Vater anrufen, damit er ihr weitere Ratschläge gab. Das Wetter war sehr stürmisch. Daisy spürte eine leichte Übelkeit, als sie sich hinlegte, aber sie war rechtschaffen müde und schlief ein, ehe sie viel darüber nachdenken konnte. Die Stewardess weckte sie mit Tee und Toast. "Eine scheußliche Überfahrt", meinte sie, "aber wir legen bald an. Achten Sie darauf, dass Sie nichts in der Kabine vergessen." Das Schiff rollte noch immer schwer, was das Anziehen etwas schwierig machte. Nachdem Daisy den Tee getrunken und eine Scheibe Toast gegessen hatte, ging sie an Deck. Ob Dr. der Huizma gut geschlafen hatte? Irgendwie passte es nicht zu ihm, dass er seekrank wurde.
Daisy entdeckte ihn sofort. Er stand an der Reling und beobachtete die Einfahrt in den Hafen. Plötzlich drehte er sich um, als hätte er Daisys Erscheinen gespürt. Etwas fasziniert mich an ihr, dachte er. Nicht ihr Aussehen allenfalls ihr nettes Lächeln und die großen, leuchtenden Augen. Sie haben einen Ausdruck ... Der Doktor suchte nach dem richtigen Wort. Ja, Daisys Augen hatten einen freundlichen Ausdruck. Helene hatte sie als langweilig, schlecht angezogen und unbeholfen abgetan, aber das stimmte nicht. Daisy war nicht langweilig und auch nicht schlecht angezogen, obwohl sie von der Stange kaufte. Ihre Kleider waren einfach, aber geschmackvoll, und sie trug sie mit Würde. Schade, dass ich nicht mehr über sie weiß, dachte der Doktor, während er Daisy begrüßte. Gemeinsam beobachteten sie das Andocken der Fähre und gingen dann zum Autodeck hinunter, wo sie in den Rolls-Royce stiegen. Jetzt konnten sie nur warten, und auf diese Gelegenheit hatte Daisy gehofft. "Wenn Sie mich mit meinem Gepäck absetzen würden, sobald wir durch den Zoll sind ...", begann sie. "Und was wollen Sie dann machen, Daisy?" fragte der Doktor. "Ich werde meinen Vater anrufen." "Das habe ich gestern schon getan. Ich bringe Sie nach Hause, Daisy - mit Ihrem Weinkühler." Daisy wandte sich ihm zu. "Das geht doch nicht. Es sind Hunderte von Meilen bis Salcombe!" "Ich übernachte bei meine n Freunden, die ich schon vor Weihnachten besucht habe. Damals begegneten wir uns am Strand." Daisy nickte. "Ich erinnere mich. Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass Sie mich nach Hause bringen?" "Weil Sie das Angebot rundweg abgelehnt hätten."
Daisy überlegte einen Moment. "Ja, das hätte ich wohl getan", gab sie zu, "aber jetzt bin ich sehr erleichtert." Sie lächelte den Doktor an. "Vielen Dank." "Danken Sie mir nicht. Ich freue mich über Ihre Gesellschaft." "Ist das wahr? Aber Sie reden nie. Ich dachte, Sie wären verärgert, weil Sie mich mitnehmen mussten." "Keineswegs, Daisy. Ich zögere nur, Sie mit Banalitäten zu unterhalten." "Und mich stört es nicht, wenn Sie schweigen, Doktor. Es gibt so vieles, über das man nachdenken kann." Der Doktor sah Daisy an und nickte. Er musste selbst über viele Dinge nachdenken. Kurz vor Colchester hielt Dr. der Huizma an und lud Daisy zu einem üppigen Frühstück ein. Danach ging es über Chelmsford und Brentwood weiter zum Londoner Ring, über den sie die M3 und später die A303 erreichten. Nachdem sie London hinter sich hatten, herrschte wenig Verkehr. Der Doktor fuhr schnell und konzentriert, ohne viel zu sagen. Daisy war es nur recht, in die winterliche Landschaft hinausträumen zu dürfen. Mit jeder Meile wuchs ihre Vorfreude auf zu Hause. Sie war nur wenige Tage fort gewesen, aber was hatte sie nicht alles erlebt! Es würde schön sein, zu dem ruhigen, gleichmäßigen Leben zurückzukehren. Wenigstens für eine Weile. Der Besuch in Amsterdam hatte ihre Reiselust geweckt... Als der Doktor die A303 vor Salisbury verließ, sah Daisy ihn überrascht an. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Warum also die Schnellstraße verlassen? "Zeit zum Mittagessen", erklärte der Doktor, als hätte er Daisys Gedanken erraten. "Ich kenne hier ein gutes Restaurant kurz bevor wir wieder die A303 erreichen." "La Brasserie" lag in einem kleinen Dorf kurz hinter Wüton. In der Bar und im Speiseraum brannten Kaminfeuer und ließen den grauen Wintertag vergessen. Daisy verschwand kurz im
Waschraum, um sich frisch zu machen, und kehrte zu dem Doktor zurück, der bereits Sherry bestellt hatte und die Karte studierte. Das Essen war ausgezeichnet, und die wenigen anderen Gäste gaben dem Raum die nötige Atmosphäre. Zum ersten Mal seit dem Morgen brach der Doktor sein Schweigen und wurde so umgänglich, wie er bei ihrem gemeinsamen Strandspaziergang gewesen war. Bis Exeter benutzten sie wieder die A303, dann nahmen sie die idyllische Küstenstraße über Torbay und Dartmouth. "Mum würde Sie bestimmt gern zum Tee einladen", sagte Daisy, als sie in Kingsbridge nach Salcombe abbogen. "Das wäre reizend, aber ich möchte gleich weiterfahren. Meine Freunde erwarten mich." Daisy errötete. Dr. der Huizma hatte in seinem üblichen freundlichen Ton gesprochen, aber die unterschwellige Zurechtweisung war nicht zu überhören. Wie dumm von ihr zu glauben, dass er eine Teeeinladung annehmen würde. Er hatte sie in seinem Auto hergebracht, aber das bedeutete nicht, dass er länger mit ihr zusammen sein wollte. "Ja, natürlich", antwortete sie verlegen und fügte hinzu, dass es bald dunkel würde. Der Doktor hatte Daisys Erröten bemerkt und konnte sich gut vorstellen, was sie dachte. Vielleicht war er doch etwas zu schroff gewesen. Wenn er es sich genau überlegte, hätte er Daisys Eltern sogar gern wieder gesehen. Und Daisy endgültig Lebewohl zu sagen fiel ihm auch nicht leicht. Sie begann ihn immer mehr zu interessieren, vielleicht zu sehr ... Sie erreichten Salcombe, fuhren die High Street hinunter und bogen in die Heather Lane ein. Kurz darauf hielten sie vor dem Antiquitätengeschäft, dessen Fenster hell erleuchtet waren. Die Tür wurde geöffnet, und Mr. Gillard kam heraus. Er zog Daisy überglücklich in seine Arme und drückte dem Doktor anschließend die Hand.
"Wenn Sie wüssten, wie dankbar wir Ihnen sind, Mr. der Huizma. Kommen Sie bitte herein, meine Frau wartet bereits mit dem Tee." Der Doktor gab sich einen Ruck. Eine weitere halbe Stunde in Daisys Gesellschaft würde auch nichts schaden. Außerdem sahen sie sich wahrscheinlich zum letzten Mal. Daisy war vorausgelaufen, um ihre Mutter zu begrüßen. "Es ist schön, wieder zu Hause zu sein", sagte sie strahlend. "Wenn du wüsstest, was ich alles erlebt habe ..." Sie unterbrach sich, denn ihr Vater und der Doktor waren ihr gefolgt. Also hatte sich der Doktor doch anders besonnen. Sie lächelte erleichtert, und der Doktor freute sich doppelt über seinen Entschluss. Mussten sich ihre Wege wirklich für immer trennen? Aber da war Helene ... Beim Tee saß der Doktor neben Mrs. Gillard. Er musste tausend Fragen über Daisy beantworten und immer wieder versichern, dass sie die beiden Unfälle heil überstanden habe. Dann Wandte sich das Gespräch Mijnheer Friske und dem Weinkühler zu. Daisy beteiligte sich kaum daran. Sie saß still da und wünschte, Dr. der Huizma könnte für immer bleiben. Ein unerfüllbarer Wunsch, wie sich bald herausstellte. Der Doktor stand auf, dankte Mrs. Gillard für den Tee, holte mit Mr. Gillard Daisys Gepäck und den Weinkühler aus dem Auto und verabschiedete sich. Sekunden später war er fort. Während Daisy das Teegeschirr abräumte, stand ihre Mutter am Fenster und sah dem RollsRoyce nach. "Was für ein Auto", meinte sie, "und was für ein Mann, Darling. Er hat vollendete Manieren. Es muss daran liegen, dass er Arzt ist." Daisy bestätigte diese Vermutung so leise, dass ihre Mutter ihr rasch einen Blick zuwarf. "Heute Abend kannst du uns alles noch einmal in Ruhe erzählen", schlug sie vor. "Pack rasch
deine Sachen aus. Ich kümmere mich inzwischen um das Essen." Den restliehen Abend verbrachte Daisy mit einem ausführlichen Bericht über ihre holländischen Erlebnisse. Es fiel niemandem auf, dass sie sich unnötig lange bei den Brüdern van der Breek, dem Stellschirm und Mijnheer Friskes Weinkühler aufhielt und über alles, was mit Dr. der Huizma zusammenhing, rasch hinwegging. Dr. der Huizma erzählte seinen Freunden an diesem Abend ebenfalls von seinen Erlebnissen mit Daisy. "Ihr seid mir doch nicht böse, dass ich mich so kurzfristig angesagt habe?" fragte er zwischendurch. "Ich kannte Daisy von meinem letzten Besuch. Wir sind uns zufällig begegnet, und später habe ich sie mehrmals im Laden ihres Vaters getroffen. Ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, sie und den Weinkühler sicher zu Hause abzuliefern." Mrs. Dilling, die Gastgeberin, nickte. "Armes Ding - in den Kanal zu fallen und anschließend noch beraubt zu werden. Dabei ist Daisy so ein umsichtiger Mensch. Man schätzt sie allgemein, aber seltsamerweise hat sie nie einen Freund. Die meisten jungen Männer gehen eben nach dem Äußeren ..." Am nächsten Morgen erkundigte sich Mrs. Dilling beim Frühstück, ob der Doktor bereits einen Termin für seine Hochzeit bestimmt habe. "Helene hat es damit nicht besonders eilig", antwortete er. "Sie führt ein reges gesellschaftliches Leben - zu rege für meinen Geschmack. Sie fährt in diesen Tagen zum Skilaufen in die Schweiz und ist anschließend von Freunden nach Kalifornien eingeladen worden." "Tatsächlich ein ausgefülltes Programm", warf Mr. Dilling ein. "Als ich letzte Woche in Mr. Gillards Laden war, zeigte er mir eine kostbare Diamantbrosche, bei der ich sofort an Helene denken musste. Er hat sie von den Lancey-Courtneys erworben, die kürzlich viel verkauft haben. Die Brosche gehörte einer
Ururgroßmutter, stieß in der Familie aber auf wenig Interesse." Mr. Dilling lachte. "Einen Moment lang war ich versucht, eine Hypothek auf dieses Haus aufzunehmen, um die Brosche für Grace zu kaufen." Er sah seine Frau lächelnd an. "Sie hat mir den Plan ausgeredet." Dr. der Huizma ließ sich Kaffee nachschenken. "Es klingt, als wäre die Brosche genau richtig für Helene. Ich werde später bei Mr. Gillard vorbeischauen." Und Daisy wieder sehen, dachte er und lächelte bei dem Gedanken. Daisy band gerade Preisschildchen an einen Satz kleiner Porzellanfiguren, als die Türglocke bimmelte. Sie hatte sich schon wieder in die Alltagsroutine hineingefunden, und der Ausflug nach Amsterdam kam ihr nur noch wie ein Traum vor. Beim Anblick Dr. der Huizmas wurde der Traum wieder lebendig. Daisys Herz begann heftig zu klopfen, aber es gelang ihr, ihn mit ihrer normalen Stimme zu begrüßen. "Schon wieder bei der Arbeit, Daisy?" fragte er freundlich. "Machen Sie niemals Ferien?" "Die Tage in Holland waren wie Ferien für mich. Möchten Sie Dad sprechen? Er ist im Büro." "Man hat mir von einer Brosche erzählt, die ich gern sehen würde." Daisy rief ihren Vater und wandte sich wieder ihren Preisschildchen zu, während die beiden Männer im Büro verschwanden. Was mochten sie zu besprechen haben? Für Daisy gab es nur eine Erklärung: Der Doktor war gekommen, um über ihre Rückreise abzurechnen. Das Geld für die erstattete Fahrkarte hatte offenbar nicht ausgereicht. Einige Minuten vergingen, dann wurde die Bürotür geöffnet, und Mr. Gillard rief: "Würdest du einen Moment herkommen, Daisy?"
Die beiden Männer standen am Schreibtisch und betrachteten die Diamantbrosche; die schwer auf ihrem dunkelblauen Samtbett lag. "Sie ist wunderschön", sagte Daisy unwillkürlich. Ihr Vater nickte. "Wunderschön, aber auch stark verschmutzt." Er sah den Doktor fragend an. "Wann brauchen Sie die Brosche? Ich kann sie Ihnen so nicht überlassen." "Die Brosche ist als Hochzeitsgeschenk für meine Braut gedacht", antwortete der Doktor. "Da wir frühestens im Sommer heiraten, besteht keine Eile. Trotzdem möchte ich die Brosche jetzt schon kaufen." Er dachte einen Moment nach. "Ich fahre heute nach Holland zurück und würde Ihnen das Säubern gern überlassen. Da ich vorerst nicht wieder hierher komme, wäre es nett, wenn Daisy die Brosche nach Amsterdam bringen würde, sobald sie fertig ist. Sie hat sich bereits als Botin bewährt, und eine Brosche ist leichter zu transportieren als ein Stellschirm oder ein Weinkühler." "Ich habe nichts dagegen einzuwenden", erklärte Mr. Gillard. "Für das Säubern der Brosche müssten Sie etwa zwei Wochen rechnen." Beide Männer sahen Daisy an - Dr. der Huizma mit leicht hochgezogenen Brauen, Mr. Gillard mit väterlicher Fürsorge. Offenbar erwartete man eine Antwort von ihr. "Natürlich kann ich die Brosche nach Amsterdam bringen", antwortete sie, aber der Doktor hatte bereits beschlossen, dass er Daisy nie und nimmer allein reisen lassen würde. Sie konnte ein zweites Mal überfallen und schwerer verletzt werden. Die Brosche war nicht wichtig - nur Daisy war wichtig. In seinem Kopf begann es zu arbeiten, aber Vorläufig schwieg er noch. Er ließ sich von Mr. Gillard überreden, bei einer Tasse Kaffee alles Weitere zu besprechen, und ging mit ihm in die Wohnung hinauf. Daisy blieb im Laden und verkaufte zwei Messingleuchter und einen kupfernen Bettwärmer an ein junges amerikanisches Ehepaar, das in England die Flitterwochen verbrachte. Beide freuten sich so sehr über ihren
Fund, dass Daisy ihnen den Bettwärmer billiger überließ, als er ausgezeichnet war. Sie freute sich ebenfalls. Der Gedanke, Dr. der Huizma nicht wieder zu sehen, hatte sie traurig gestimmt, und nun sollte sie ein zweites Mal nach Amsterdam reisen, wo sie ihm notwendigerweise begegnen musste. Ihre Wege hatten sich inzwischen so oft gekreuzt, dass sie den Doktor fast als Freund betrachtete. Die Brosche fiel ihr ein - ein Geschenk ganz nach Helenes Geschmack. "Wenn ich Helene wäre", sagte sie in die Stille des Ladens hinein, "würde ich mich Hals über Kopf in den Doktor verlieben." Als die Männer wieder herunterkamen, kaufte Daisy gerade eine kleine Wedgwood-Teekanne von einer älteren Kundin - ein echtes Stück mit Monogramm im Deckel, das weitaus mehr wert war, als die Kundin ahnte. Als Daisy der erfreuten Frau die angemessene Summe ausgezahlt hatte, war Dr. der Huizma gegangen. Das Säubern der Brosche fiel also Daisy zu. Sie hatte Geduld bei kniffligen Dingen und arbeitete täglich mehrere Stunden, um die Brosche in ihren ursprünglichen strahlenden Zustand zu versetzen. Dabei hatte sie genug Gelegenheit, an Helene und den Doktor zu denken. So verging die erste und dann die zweite Woche. Kurz vor Ende der dritten Woche war die Brosche fertig. Mr. Gillard unterzog sie einer peinlich genauen Prüfung und packte sie dann sorgfältig ein. "Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln", sagte er dabei zu Daisy. "Du musst damit rechnen, täglich nach Holland abberufen zu werden."
6. KAPITEL Dr. der Huizma hatte in Amsterdam viel zu tun, und da Helene in der Schweiz Ski lief, konnte er mit einem Besuch warten, bis sie zurück war. "Lässt du dich auch mal wieder blicken?" begrüßte sie ihn ungnädig. "Wirklich, Julian, du musst deine Arbeit einschränken. Gib wenigstens einige Krankenhäuser auf, in denen du Betten hast. Gut, ich weiß, dass du für die Kinder unentbehrlich bist, aber in deiner Privatpraxis könntest du genug für sie tun. Deine Kollegen würden dich mit Freuden ablösen ..." Helene sah an diesem Abend sehr hübsch aus. Sie hatte sich noch sorgfältiger als sonst angezogen und tat alles, um dem Doktor zu gefallen. Doch sie gefiel ihm nicht. Zugegeben, er verbrachte seine Tage und auch viele Nächte an den Betten seiner kleinen Patienten, aber das hatte Helene gewusst, als sie seinen Antrag annahm. Endlich begriff er, dass sie nicht das geringste Interesse an seinem Beruf hatte. Sie würde sich beschweren, wenn er vom Tisch oder aus dem Bett gerufen wurde oder einen gebuchten Ferienflug nicht wahrnehmen konnte. Sie war unfähig, sich das Leben vorzustellen, das sie an seiner Seite erwartete, und sie würde niemals auf ihre gesellschaftlichen Zerstreuungen verzichten. Doch Julian der Huizma war ein ehrenhafter Mann. Er hatte Helene um ihre Hand gebeten, weil er geglaubt hatte, sie zu lieben. Er hatte sie auch geliebt, aber das reichte ihm nicht mehr.
"Helene", sagte er ruhig. "Meine Arbeit ist mein Leben. Ich hänge an jedem meiner kleinen Patienten. Wenn du mich einmal im Krankenhaus besuchen würdest, könntest du dich persönlich davon überzeugen." Helene stand auf und setzte sich zu ihm auf das Sofa. "Du bist müde, weil du zu viel arbeitest, Julian. Natürlich liebst du deinen Beruf - er ist ja auch sehr interessant -, aber warum so übertreiben? Das Leben ist nur kurz. Die Van Hoffmanns haben mich für eine Woche nach Cannes eingeladen, weil aus der Kalifornienreise vorerst nichts wird. Begleite mich, Darling. Du bist ausdrücklich mit eingeladen." "Ich habe keine Zeit", erwiderte der Doktor ernst. Helene runzelte die Stirn. "Unsinn, Julian, du willst mich nur ärgern." "Nein, Helene." Er wirkte erschöpft und abwesend, und Helene hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Sie liebte Julian nicht, aber mit seinem Vermögen, seinem alten Familiennamen und seinem beruflichen Erfolg war er der richtige Mann für sie. Sie hatte ihre Zukunft immer für gesichert gehalten, und plötzlich überfiel sie leiser Zweifel. "Sei mir nicht böse", bat sie und le gte eine Hand auf seinen Arm. "Ich weiß, was deine Arbeit dir bedeutet, aber ich mache mir Sorgen, weil du nicht genug Freizeit hast." Zu Hause saß der Doktor lange mit dem treuen Bouncer in seinem Arbeitszimmer und dachte nach. Wie die Dinge lagen, konnten Helene und er nur unglücklich werden. Er spürte, dass sie ihn nicht liebte und nie geliebt hatte, aber er war bereit gewesen, das zu übersehen, weil sie die passende Frau für ihn war. "Ich bin ein Dummkopf", sagte er plötzlich laut zu Bouncer, der daraufhin mit dem Schwanz wedelte und leise jaulte. "Komm, wir gehen schlafen, und morgen besuche ich Mijnheer Friske."
Es war später Nachmittag, als der Doktor das Antiquitätengeschäft erreichte. Er hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, und mehrere seiner Kinder machten ihm Sorgen. Außerdem war er müde und hungrig, aber er hatte sich vorgenommen, seinen Plan von gestern Nacht in die Tat umzusetzen. Das Geschäft war noch geöffnet, und als Mijnheer Friske den Doktor erkannte, stand er auf, um ihn zu begrüßen. "Mr. Gillard hat mir mitgeteilt, dass der Weinkühler gut angekommen ist", erzählte er. "Es war sehr freundlich von Ihnen, Daisy persönlich nach Hause zu bringen." "Nicht der Rede wert", antwortete der Doktor. "Sie wäre allein schlecht mit ihrem Gepäck zurechtgekommen, obwohl sie eine vernünftige und umsichtige junge Dame ist." Mijnheer Friske nickte. "Allerdings, und fachlich sehr beschlagen. Sie hat das richtige Gespür für Antiquitäten. Ich wette, dass sie einmal in einem der größeren Londoner Auktionshäuser landet." Das war der Ansatz, auf den der Doktor gewartet hatte. "Daisy interessiert sich sehr für holländische Antiquitäten", erklärte er. "Hat sie Ihnen das nicht gesagt? Leider kennt sie niemanden in Holland, der ihr die fehlenden Kenntnisse vermitteln würde." "Sie kennt mich", antwortete Mijnheer Friske prompt. "Es würde mir nichts ausmachen, sie für einige Monate in mein Geschäft zu nehmen. Bald beginnt die Touristensaison, da wollte ich mir ohnehin jemanden suchen." Dr. der Huizma nahm das scheinbar gleichgültig zur Kenntnis und betrachtete einen kleinen blassgrünen Emaillekasten, der mit Rosen bemalt war. Er kaufte ihn, ohne Daisy noch einmal zu erwähnen, und fuhr nach Hause. Vielleicht war sein Vorstoß vergeblich, aber Mijnheer Friske hatte angebissen. Mijnheer Friske war ein vorsichtiger Mann und dachte lange über die Vor- und Nachteile des Plans nach. Er wartete noch
einige Tage und entschloss sich dann, an seinen Kollegen in Salcombe zu schreiben. Mr. Gillard las den Brief beim Frühstück. Er stutzte, las noch einmal und sagte dann zu Daisy: "Dieser Brief wird dich interessieren, mein Kind. Mijnheer Friske fragt, ob du einige Monate in seinem Geschäft arbeiten willst. Deine Kenntnisse haben ihn beeindruckt, und er meint, du könntest noch viel dazulernen." Mr. Gillard nahm die Brille ab und sah Daisy an. "Du musst dich natürlich selbst entscheiden, aber ich persönlich halte es für eine gute Idee. Man kann nie genug lernen. Du hast zwar keine wissenschaftliche Ausbildung, aber ich sehe nicht ein, warum du diesen Laden nicht eines Tages übernehmen sollst." "Es werden noch Jahre vergehen, ehe du dich zurückziehst", antwortete Daisy, "aber ich verstehe, was du meinst." Für einen Moment glaubte sie, die Zukunft zu erkennen. Sie sah sich in mittleren Jahren - noch langweiliger als heute, etwas nachlässig angezogen und vergraben in ihre Arbeit. Nun, warum nicht? Es würde nicht viel geben, das sie ablenken konnte. Keinen Ehemann, keine Kinder, keine Hunde, Katzen oder Ponys, die sich im Garten tummelten, während sie das große alte Haus versorgte ... Daisy zwang sich, wieder an die Gegenwart zu denken. Sie würde gern nach Amsterdam fahren, nicht nur aus den Gründen, die ihr Vater genannt hatte. Sie hoffte, in Amsterdam Dr. der Huizma wieder zu begegnen. Das genügte, um sie für den Plan zu gewinnen. "Ich werde nach Amsterdam fahren", sagte sie zu ihrem Vater. "Wann soll ich bei Mijnheer Friske anfangen?" "Darüber schreibt er nichts. Du sollst dich erst grundsätzlich entscheiden, ehe er genauere Pläne macht. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern. Bald kommen die ersten Touristen nach Holland, um die Tulpenblüte zu bewundern. Da macht Mijnheer Friske bestimmt gute Geschäfte."
"Ich spreche kein Holländisch", gab Daisy zu bedenken. "Wahrscheinlich kommen die meis ten Kunden aus England und Amerika und freuen sich, wenn jemand gut Englisch spricht. Natürlich müssen noch viele Einzelheiten geklärt werden. Wirst du Gehalt bekommen? Wie sieht es mit deiner Freizeit aus, und wo wirst du wohnen?" "Alle diese Fragen kann man mit einem einzigen Brief klären", mischte sich Mrs. Gillard ein. "Man kann von Mijnheer Friske keine Einzelheiten erwarten, solange er nicht weiß, wie Daisy sich entscheidet. Dabei fällt mir ein .... du wirst neue Kleider brauchen." Etwas Elegantes, dachte Daisy. Etwas, worin mich Dr. der Huizma wahrnimmt - vorausgesetzt, dass wir uns begegnen. Mijnheer Friske begrüßte Daisys Entscheidung. Er stellte ihr ein kleines Gehalt in Aussicht und dazu eine Beteiligung an allem, was sie verkaufen würde. Sonntag und Montag sollte sie freihaben, dafür erwartete er, dass sie sich an den übrigen Tagen voll zur Verfügung hielt. Auch das Wohnproblem war schnell gelöst. Mijnheer Friske bot Daisy ein Zimmer in seinem Haus an und fügte hinzu, dass seine Frau und er sich sehr über ihre Gesellschaft freuen würden. Das genaue Reisedatum sollte noch festgelegt werden. Daisy fuhr mit dem Bus nach Plymouth. Es war noch kühl, obwohl die erste Ahnung des Frühlings in der Luft lag. Sie kaufte sich ein braunes Tweedkostüm, mehrere Pullover und ein strenges graues Kleid für den Laden. Da ihr Vater ihr einen großzügigen Scheck mitgegeben hatte, wählte sie zum Schluss noch eine Dreierkombination in Moosgrün - nur für den Fall, dass sie irgendwo eingeladen wurde. Zu Hause probierte sie alles noch einmal an und hängte es dann sorgfältig weg. Die Aufforderung zu ihrer Abreise konnte jeden Tag kommen. Sie musste sich noch etwas in Geduld fassen.
Dr. der Huizma ließ zehn Tage verstreichen, ehe er wieder bei Mijnheer Friske vorbeiging. Diesmal kaufte er eine antike Babyrassel aus Koralle mit silbernen Glöckchen daran. Irgendwann würde sie ein passendes Taufgeschenk sein. Während er bezahlte, teilte Mijnheer Friske ihm mit, dass er Daisy engagiert habe. "Das war eine gute Idee von Ihnen", meinte er, "und so habe ich mich entschlossen, sie zu fragen. Sie kommt gern, und ich werde ihr alles beibringen, was ich weiß. Sie muss an ihre Zukunft denken. Sicher wird sie einmal das Geschäft ihres Vaters übernehmen. Leider ist sie nicht hübsch und wird darum wohl ledig bleiben." "Wann soll sie kommen?" erkundigte sich der Doktor. Mijnheer Friske zögerte. "Sobald alle Vorbereitungen abgeschlossen sind." "Ich fahre in der nächsten Woche nach England und könnte sie mitbringen", bemerkte der Doktor beiläufig. "Würden Sie das tun? Macht es Ihnen nicht zu große Unannehmlichkeiten?" "Nicht im Geringsten. Würden Sie Daisy meinen Vorschlag übermitteln? Ich fahre Samstag hinüber und würde sie Sonntag früh abholen. Dann sind wir bis zum Abend hier." Der Doktor fuhr nach Hause, legte die Babyrassel zu dem Emaillekästchen und rief Mr. Gillard an. "Ein glücklicher Zufall, dass ich nächste Woche in England bin", erklärte er. "Ich kann die Brosche und Daisy gleichzeitig mitnehmen, falls es Ihnen nichts ausmacht, wenn wir fr üh aufbrechen. Ich habe Montagmorgen einen wichtigen OP-Termin." "Daisy wird sich über Ihr Angebot freuen", erwiderte Mr. Gillard, "und ich bin Ihnen von Herzen dankbar. Es war mir kein angenehmer Gedanke, sie allein mit der Brosche reisen zu lassen. Ich sage ihr Bescheid, und wir erwarten Sie Sonntag früh um acht Uhr."
Daisys Augen leuchteten, als sie von dem Vorschlag hörte. Das Schicksal war ausnahmsweise auf ihrer Seite. Sie hing inzwischen sehr an dem Doktor und durfte sich andererseits keinen falschen Illusionen hingeben. Er würde Helene heiraten, daran konnte sie sich nicht oft genug erinnern. Trotzdem freute sie sich auf das Wiedersehen. Sie würden einen ganzen Tag zusammen sein, auch wenn er unterwegs keine drei Worte mit ihr sprach. Sie packte ihren Koffer, wusch sich das Haar und rieb sich das Gesicht mit einer Creme ein, die über Nacht blühende Schönheit versprach. Natürlich blieb ihr Gesicht, wie es war, aber sie hatte das erhebende Gefühl, etwas für sich getan zu haben, und kaufte auch noch eine n neuen Lippenstift. Sonntagmorgen stand sie früh auf, frühstückte schnell und lauschte mit halbem Ohr auf die letzten Anweisungen ihres Vaters und die besorgten Ermahnungen ihrer Mutter. Sie war sehr blass, und als Dr. der Huizma vor dem Haus hielt, brachte sie kaum ein Wort zur Begrüßung heraus. Der Doktor trank eine Tasse Kaffee, begutachtete die Brosche und steckte sie ein. Nachdem er Daisy für ihre sorgfältige Arbeit gedankt hatte, erklärte er, abfahrbereit zu sein. Daisy umarmte ihre Eltern, versprach, bald zu schreiben, und stieg ins Auto. Jetzt, da der Augenblick der Trennung gekommen war, hätte sie am liebsten den ganzen Plan aufgegeben und ihr ruhiges Leben weitergeführt. Doch zur Umkehr war es zu spät. Dr. der Huizma verlor keine Zeit, und Daisy konnte sich gerade noch umdrehen und zurückwinken. "Sitzen Sie bequem?" fragte er. "Ja, danke. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich mitzunehmen." "Da ich ohnehin in England war, fand ich es eine gute Idee, Sie und die Brosche gleichzeitig abzuholen. Freue n Sie sich auf die Arbeit bei Mijnheer Friske?"
"Oh ja. Er war mir sympathisch, aber seine Frau kenne ich noch nicht." "Ich bin sicher, dass es Ihnen bei den Friskes gefällt. Allerdings werden Sie viel zu tun haben. Das Geschäft ist sehr bekannt und wird regelmäßig von Touristen besucht, die sich darauf verlassen, nur echte Sachen zu bekommen." Nach diesem kurzen Gespräch herrschte wieder Schweigen, was Daisy ohnehin erwartet hatte. Hinter Salisbury machten sie eine kurze Kaffeepause, und kurz vor Harwich gab es Lunch. "Sind wir nicht reichlich früh dran?" fragte Daisy, als sie das Restaurant verließen. "Wir nehmen die neue Schnellfähre. Sie braucht nur dreieinhalb Stunden, und wir sparen viel Zeit." Beim ersten Anblick erschien die neue Fähre Daisy nicht sehr zuverlässig, aber drinnen war es warm und gemütlich, und die Plätze waren großzügig aufgeteilt. Da sie sehr früh aufgestanden war, kuschelte sie sich in ihren Sitz und schlief ein. Eine ideale Reisebegleiterin, entschied Dr. der Huizma. Daisy erwachte sofort, als der Doktor sie kurz vor der Landung sacht am Arm berührte. Sie eilte in den Waschraum, um die Spuren des Schlafs zu tilgen, und stieg so untadelig wie vorher in den Rolls-Royce, den der Doktor auf die Autobahn in Richtung Den Haag lenkte. Es war inzwischen später Nachmittag, und die Dämmerung setzte ein. Als die Lichter von Den Haag vor ihnen auftauchten, verließ der Doktor die Autobahn. "Ich kenne hier ein hübsches Restaurant", erklärte er. "Wenn wir bei Mijnheer Friske ankommen, werden Sie zu müde sein, um noch etwas zu essen." Daisy war hungrig und aß die gegrillte Seezunge und den anschließenden Fruchtpudding mit gutem Appetit. Leider drängte der Doktor bald wieder zum Aufbruch, was nur bedeuten konnte, dass er das Ende der Fahrt herbeiwünschte. Daisy war beinahe enttäuscht, als sie vor Mijnheer Friskes
Geschäft hielten, denn sie wusste nicht, ob sie den Doktor wieder sehen würde. Er forderte sie auf, im Wagen zu warten, und klingelte an der kleinen Tür neben dem Geschäft. Nach wenigen Minuten erschien Mijnheer Friske, freundlich lächelnd wie immer. Der Doktor kam zurück und öffnete Daisy die Tür. Sie begrüßte Mijnheer Friske und wurde hereingebeten. "Bitte hier entlang", sagte er und stieg die steile Treppe zur Wohnung hinauf. Daisy folgte ihm, und der Doktor, der ihren Koffer trug, bildete den Abschluss. Mevrouw Friske hieß Daisy herzlich willkommen und bot Kaffee an. Dr. der Huizma lehnte höflich ab, unterhielt sich noch eine Weile mit den Friskes und verabschiedete sich dann. Daisy reichte ihm die Hand. "Danke für die angenehme Fahrt", sagte sie und hörte selbst, wie ungeschickt das klang. "Es war sehr freundlich, mich herzubringen." Der Doktor sah sie ausdruckslos an. "Sie vergessen, dass ich die Brosche holen wollte", antwortete er. "Da im Auto genug Platz war, lag es nahe, Sie mitzunehmen. Hoffentlich verbringen Sie eine glückliche Zeit in Amsterdam. Grüßen Sie Ihre Eltern von mir, wenn Sie schreiben, und machen Sie sich nicht die Mühe, heute Abend noch anzurufen. Das erledige ich, sobald ich zu Hause bin." Nachdem er gegangen war, führte Mevrouw Friske Daisy eine zweite Treppe hinauf, wo ihr Zimmer lag. Es war einfach, aber hübsch eingerichtet und bot Aussicht auf den Platz. "Gegenüber gibt es eine Dusche", sagte Mevrouw Friske. "Sie werden hier oben ganz allein sein. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus." Daisy versicherte, dass sie sich sehr wohl fühlen würde, und kehrte mit Mevrouw Friske ins Wohnzimmer zurück, wo ihr neuer Chef sie erwartete. "Sie werden am Dienstag mit der Arbeit anfangen", sagte er. "Wir frühstücken um halb acht, eine Stunde später öffne ich das
Geschäft. Es bleibt bis sechs Uhr abends geöffnet - oder länger, wenn noch Kunden da sind. Mittags begnügen wir uns mit einem Sandwich, dafür gibt es abends ein gutes Dinner." "Mein Vater hält es genauso", warf Daisy ein. "Ich bin an diesen Tagesablauf gewöhnt." Mijnheer Friske lächelte. "Umso besser, Daisy. Ich darf Sie doch so nennen? Da das Geschäft montags geschlossen bleibt, haben Sie morgen einen freien Tag, um sich einzuleben. Jetzt sind Sie wahrscheinlich müde. Vielleicht noch eine Tasse Kaffee und ein Käsebrot? Dann möchten Sie sicher schlafen." Daisy blieb noch eine Weile und tauschte mit Mijnheer Friske geschäftliche Neuigkeiten aus, während seine Frau dabeisaß und strickte. Sie sprach zu wenig Englisch, um viel zu verstehen, aber sie nickte dann und wann, lächelte mütterlich und gab Daisy das Gefühl, zu Hause zu sein. Später, als Daisy unter ihrer warmen Decke lag, dachte sie wieder an Dr. der Huizma. Er würde jetzt bei Helene sein und ihr die funkelnde Brosche anstecken. Sie würden über das Datum ihrer Hochzeit sprechen und sich über den festlichen Rahmen einigen. Ganz großer Stil... anders tat es Helene natürlich nicht. Sie hatte Freunde und Bekannte und natürlich zahlreiche Angehörige. Bei Dr. der Huizma war sich Daisy in dieser Hinsicht nicht so sicher. Er hatte seine Familie kaum erwähnt und auch über sein Privatleben geschwiegen. Vielleicht vertrug er sich nicht mit seiner Familie ... Darin irrte sich Daisy. Gerade jetzt saß der Doktor in seinem Elternhaus bei Hilversum - einem soliden, etwas kastigen Gebäude mit grünen Fensterläden und einer messingbeschlagenen Tür - am Kamin, kraulte Bouncer zwischen den Ohren und entspannte sich. Ihm gegenüber saß eine kleine, eher korpulente Frau und strickte. Ihr Gesicht fiel nicht besonders auf, aber sie war elegant frisiert und sehr geschmackvoll angezogen.
Sie nickte der Haushälterin zu, die das Kaffeetablett hereingebracht hatte, und meinte dann: "Lieber Julian, wann wirst du mir endlich von deiner Englandreise erzählen? Dein kurzer Anruf..." Der Doktor lächelte. "Meine Anrufe sind immer kurz, sonst würde ich mein Tagesprogramm nicht schaffen. Auch jetzt müsste ich eigentlich zu Hause sein und Krankenberichte lesen, aber da wir uns länger nicht gesehen haben ..." "Über einen Monat", fiel Mevrouw der Huizma ein. "Du wolltest schon vor einer Woche kommen, aber Helene durchkreuzte deine Pläne." "Das tut mir Leid. Die Kalifornienreise kommt nun endlich doch zustande, und ich werde Gelegenheit haben, meine Schuld gutzumachen." "Ich beklage mich nicht, Julian, denn ich weiß, wie sehr du beschäftigt bist. Hattest du eine angenehme Reise? Dein Entschluss kam sehr plötzlich." Der Doktor berichtete ausführlich über die Brosche. "Sie ist wunderschön", versicherte er. "Ich muss sie dir unbedingt zeigen. Da ich nach Salcombe fahren müsste, um sie abzuholen, konnte ich Daisy gleich mitnehmen." Mevrouw der Huizma sah überrascht auf. "Daisy?" "Habe ich dir noch nicht von ihr erzählt?" Der Doktor holte das Versäumte ausführlich nach und schloss mit den Worten: "Sie würde dir gefallen." "Ist sie hübsch?" "Nein, aber sie hat schöne Augen, volles braunes Haar und eine angenehme Stimme." Mevrouw der Huizma konzentrierte sich ganz auf ihr Strickzeug. "Das klingt wirklich sympathisch. Vermutlich versteht sie etwas von Antiquitäten?" "Sehr viel sogar."
Mevrouw der Huizma warf ihrem Sohn rasch einen Blick zu und sah, dass er lächelte. "Wie habt ihr euch kennen gelernt, Julian?" "Wir begegneten uns am Strand von Salcombe - bei Sturm und Regen. Beides machte Daisy nichts aus." "Dann müsste ihr Holland gefallen", entschied Mevrouw der Huizma. "Wann triff st du dich wieder mit Helene? Die Brosche wird sie begeistern, oder soll sie sie erst zur Hochzeit bekommen?" "Da das Datum noch nicht feststeht, werde ich die Brosche vorerst unter Verschluss halten", antwortete der Doktor. Seine Mutter murmelte eine vage Antwort und wünschte insgeheim, Helene würde sich nie für ein Datum entscheiden. Sie hatte sie um Julians willen als zukünftige Schwiegertochter akzeptiert, aber sie mochte sie nicht, obwohl Helene zugegebenermaßen gut aussah und sogar charmant sein konnte, wenn sie wollte. An ihre zukünftige Schwiegermutter hatte sie allerdings wenig von diesem Charme verschwendet und sich eher gelangweilt gezeigt, wenn sie Julian begleitete. Sie fand das Haus altmodisch, aber das verbarg sie vor Julian und ließ es nur durchblicken, wenn sie mit seiner Mutter allein war. Mevrouw der Huizma seufzte. Helene würde Julian beruflich nicht unterstützen und die Unruhe, die seine Arbeit mit sich brachte, höchstens vorübergehend dulden. Der Doktor stand auf, um sich zu verabschieden. "Ich komme wieder, sobald ich kann", versprach er. "Tu das, Julian", antwortete seine Mutter. "Wenn Hele ne fort ist, könnten wir einmal einen ganzen Sonntag zusammen verbringen." Der Doktor stieg in seinen Rolls- Royce und fuhr nach Hause. Bouncer saß neben ihm, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass ihm Daisys Gesellschaft lieber gewesen wäre.
7. KAPITEL Als Daisy am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, erhielt sie den freundschaftlichen Rat, auszugehen und sich zu amüsieren. "Wir beginnen erst morgen mit der Arbeit", erinnerte Mijnheer Friske sie. "Sehen Sie sich in der Umgebung um. Kaufen Sie Postkarten und Briefmarken, und merken Sie sich, wo die wichtigsten Geschäfte sind." Also räumte Daisy ihr Zimmer auf, half Mevrouw Friske bei dem Morgenabwasch und ging anschließend auf Entdeckungsreise. Die nächsten Geschäfte kannte sie schon von ihrem ersten Besuch. Es waren Souvenirläden oder Antiquitätengeschäfte wie das von Mijnheer Friske. Die Geschäfte für den täglichen Bedarf lagen etwa zehn Gehminuten entfernt: ein Postbüro, ein Papiergeschäft, ein Handarbeitsgeschäft, eine Bäckerei und ein bescheidener Supermarkt. Mehr brauche ich nicht, entschied Daisy. Sie würde kaum Zeit haben, die eleganten Boutiquen in der Kalverstraat oder Leidestraat zu besuchen, aber da sie nur sehr wenig Geld besaß, spielte das keine Rolle. Sie kaufte Briefmarken, Postkarten und eine englische Zeitung und kehrte nach Hause zurück. Es war fast Mittag, und von der Küche wehte ein leckerer Duft herüber.
Wenig später tauchte Mijnheer Friske zum Essen auf. Es gab dicke Erbsensuppe mit Wurst- und Speckstückchen und dazu grob geschnittenes Schwarzbrot. "Meine Frau kocht den besten 'Erwtenstamppott' in ganz Amsterdam", erklärte Mijnheer Friske stolz und forderte Daisy auf, eine zweite Portion zu nehmen. Am nächsten Morgen wurde das Geschäft um halb neun geöffnet, aber zunächst kamen nur wenige Kunden. Daisy beobachtete alles genau, hörte Mijnheer Friske aufmerksam zu und merkte sich, was sie für wichtig hielt. Am späteren Vormittag erschien eine Kundin und bot einen Delfter Teller zum Kauf an. Er war gut erhalten, und Mijnheer Friske forderte Daisy auf, den Wert zu schätzen. Sie betrachtete den Teller genau, konnte keine Schäden feststellen und nannte eine Summe, die ihr nach ihren Erfahrungen bei Auktionen angemessen erschien. "Das war gut geschätzt", meinte Mijnheer Friske erfreut. "Heute Abend werden wir uns meine Delfter Kollektion ansehen, damit Sie noch mehr lernen." Nach dem Dinner, das aus Koteletts mit Rotkohl und einem Eierpudding bestand, kehrten Daisy und Mijnheer Friske in den Laden zurück, um das Delfter Porzellan zu betrachten. Es handelte sich nur um wenige Stücke, aber sie waren sämtlich in erstklassigem Zustand und sehr wertvoll. Daisy ging klüger ins Bett als am Abend vorher und wiederholte sich vorm Einschlafen noch einmal alles, was sie gehört hatte. Sie musste noch unendlich viel lernen, aber war sie deswegen nicht hergekommen? Nein, nicht nur deswegen, verbesserte sie sich. Sie war auch gekommen, um Dr. der Huizma wieder zu sehen. Amsterdam war keine übermäßig große Stadt, und das Krankenhaus lag nicht allzu weit von Mijnheer Friskes Geschäft entfernt... Die erste Woche verging schnell. Manchmal war es ermüdend, den ganzen Tag im Laden zu sein, aber Daisy tröstete
sich damit, dass sie ihre Kenntnisse über Antiquitäten ständig erweiterte. Gelegentlich kamen amerikanische Touristen, die sich freuten, in englischer Sprache bedient zu werden. Sie unterhielten sich angeregt mit Daisy, während sie sich im Laden umsahen, um endlich diese oder jene Kleinigkeit mitzunehmen. Es handelte sich nicht um weltbewegende Verkäufe, aber Daisy freute sich trotzdem. Sie hatte den Durchbruch geschafft und erhielt ihr kleines Gehalt zu Recht. Am Sonntag durfte sie kommen und gehen, wie es ihr beliebte. Die Friskes gingen selten aus, erhielten aber Besuch von Freunden oder Verwandten. Daisy bekam einen Hausschlüssel und wurde gebeten, außerhalb zu essen, da sonntags nur provisorisch gekocht würde. Am ersten Sonntag wagte sie sich nicht weit. Sie spazierte bis zur Oude Kerk, setzte sich mittags in ein kleines Cafe, wo sie ein mächtige s Stück Torte verzehrte, und machte anschließend eine Grachtenfahrt. Dr. der Huizma begegnete sie nicht. Als sie abends im Bett lag, nahm sie sich vor, am nächsten Sonntag weiter auszuschwärmen. Sie konnte einen Zug nach Delft oder Den Haag nehmen. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt. Die zweite Woche verging so schnell wie die erste. Daisy machte sich im Laden nützlich, so gut es ging. Wenn keine Kunden da waren, ließ sie sich von Mijnheer Friske die Geschichte der Intarsienkunst erzählen und studierte mit ihm die Beispiele, die er besaß. Gegen Ende der Woche begann sie Pläne für den Sonntag zu machen. Sie würde nach Volendam fahren, einem beliebten Touristenort, wo sich das alte Holland erhalten hatte. Die Busse dorthin fuhren vom Hauptbahnhof ab, zu dem es nicht weit war. Sie würde in Volendam etwas essen und im Lauf des Nachmittags zurückkommen. Falls ihr dann noch genug Zeit blieb, würde sie durch die Leidesgracht oder die Vijselstraat bummeln und sich die Geschäfte ansehen.
Am Samstag wurde es spät, aber endlich ging auch der letzte Kunde. Während Daisy die wertvolleren Auslagen aus dem Schaufenster nahm, schloss Mijnheer Friske die Einnahmen und das Silber weg. "Für Sie, Daisy!" rief er, als das Telefon klingelte. Daisy griff nervös nach dem Hörer. Ihre Mutter hatte während der Woche angerufen, und dass sie sich noch einmal meldete, konnte nur Schlimmes bedeuten. "Hallo?" fragte sie mit besorgter Stimme. Dann merkte sie, wer es war, und ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen. "Julian der Huizma. Ich habe morgen frei, Daisy. Hätten Sie Lust, eine Autotour zu machen und etwas mehr von Holland kennen zu lernen?" "Oh ja, große Lust." Daisy konnte ihr Glück kaum fassen. "Gut, dann hole ich Sie um zehn Uhr ab." "Ich werde fertig sein", versprach Daisy und fügte unwillkürlich hinzu: "Möchten Sie den Tag nicht mit Helene verbringen? Sie könnte etwas dagegen haben ..." "Helene ist in Kalifornien", antwortete der Doktor und lachte leise. "Sie hätte bestimmt nichts dagegen, dass ich Sie spazieren fahre." "Nun, wenn Sie sicher sind ..." "Ganz sicher." Der Doktor legte den Hörer auf und wandte sich an Bouncer. "Nun, alter Freund, was sagst du? Wir machen morgen beide einen Ausflug und werden jede Minute genießen." Der Doktor hatte zwei Wochen lang an Daisy gedacht und sich erst dann zu dem Anruf entschlossen. Früher oder später würde sie in ihre Heimat zurückkehren, dann brauchte er sie nicht wieder zu sehen. Er durfte sie auch nicht wieder sehen. Er musste sie vergessen, so gut es eben ging, denn seine Zukunft gehörte Hele ne. Aber noch war er nicht mit Helene verheiratet. Daisy stand Sonntagmorgen früh auf und machte sich sorgfältig zurecht. Zum Glück war es ein kühler, aber trockener Tag, so dass sie das braune Tweedkostüm anziehen konnte, das
ihr besser stand als der nicht mehr ganz neue Mantel. Dazu wählte sie flache Schuhe, falls der Doktor unterwegs spazieren gehen wollte. Das hübsche Seidentuch, das ihr ihre Mutter zum Abschied geschenkt hatte, war eine angemessene Kopfbedeckung. Es wehte immer in Holland, wenigstens kam es Daisy so vor. Sie frühstückte unter den fürsorglichen Blicken der Friskes und errötete, als es an der Haustür klingelte. Dr. der Huizma kam für zehn Minuten herauf, unterhielt sich mit den Friskes und drängte dann zum Aufbruch. Bouncer wartete im Wagen. Er begrüßte Daisy erfreut, wich aber nicht von der Seite seines Herrn. "Er kann hinten sitzen", schlug der Doktor vor, aber Daisy schüttelte den Kopf. "Da würde er sich einsam fühlen, und außerdem mag ich ihn. Ich wünschte, wir hätten zu Hause auch einen Hund, aber man musste mit ihm spazieren gehen, sich um ihn kümmern ..." Sie bemerkte, dass sie die City hinter sich ließen. "Wohin fahren wir?" "Zuerst an die Küste - nach Zandvoort. Dort trinken wir Kaffee. Wie gefällt es Ihnen bei den Friskes?" "Sie sind beide sehr freundlich zu mir, und im Laden ist immer viel zu tun. Was ich alles lerne ... über Intarsienkunst, Biedermeier und die verschiedenen Sorten von blauem Delfter Porzellan. Mijnheer Friske besitzt einen fast makellosen Wasserkrug aus dem achtzehnten Jahrhundert und einige schöne Kacheln. Dad hat nichts dergleichen. Vielleicht darf ich einige Kacheln mitnehmen, wenn ich nach Hause fahre." Der Doktor sah Daisy von der Seite an. "Denken Sie schon an die Rückkehr?" "Um Himmels willen, nein! Ich würde noch Monate bleiben, wenn Mijnheer Friske mich brauchen kann. Ich weiß immer noch viel zu wenig," Daisy lächelte den Doktor an. "Ein Glück, dass es nicht regnet. Wir müssen unbedingt mit Bouncer spazieren gehen."
"Selbstverständlich, aber erst nachdem Kaffee." Daisy hatte inzwischen alle Scheu verloren. "Ich habe einen eigenen Hausschlüssel", erzählte sie, "und Mevrouw Friske stellt mir das Essen warm, wenn sie mit Mijnheer sonntags einen Besuch macht. Es ist manchmal nicht ganz leicht, sich mit ihr zu verständigen. Einige nützliche Worte habe ich inzwischen gelernt, aber Holländisch ist eine unmögliche Sprache. Finden Sie nicht?" "Man behauptet es allgemein, aber da es sich um meine Muttersprache handelt, versage ich mir jeden Kommentar." Daisy errötete heftig. "Entschuldigen Sie, bitte. Ich war eben sehr unhöflich - wenn auch unbeabsichtigt." "Das weiß ich, Daisy. Wir kennen uns inzwischen gut genug, um frei miteinander umzugehen." "Ja, wir kennen uns, aber wir sind nicht befreundet." Daisy überlegte. "Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber Sie sind Sie, und ich bin ich." "Trotzdem glaube ich, dass wir Freunde sind." Der Doktor fuhr an den rechten Straßenrand und hielt an. "Freunde, Daisy?" fragte er und streckte die Hand aus. Daisy schlug unbedenklich ein. "Oh ja, bitte." "Dann erwarte ich, dass Sie mich von jetzt an Julian nennen." "Einverstanden." Daisy strahlte ihn an. "Ich hielt uns von Anfang an für Freunde, aber ich wusste nicht, ob Sie auch so denken." Dr. der Huizma dachte schon lange so, aber das verriet er nicht. "Wir kommen jetzt nach Leiden", sagte er stattdessen. "Ich habe dort Medizin studiert." "Waren Sie glücklich?" "Sehr glücklich. Ab und zu fahre ich hin, um alte Erinnerungen aufzufrischen." Sie hielten kurz an, um die Burcht - eine erhöht liegende mittelalterliche Festung -, die ehrwürdige Universität und die Rapenburg-Gracht anzusehen, und fuhren weiter nach Delft, wo
sie auf dem goßen Marktplatz parkten. Von dem kleinen Restaurant, das der Doktor aussuchte, hatte man einen herrlichen Blick auf das Stadhuis und die Nieuwe Kerk. "Hoffentlich sind Sie hungrig", meinte Julian, nachdem er bestellt hatte. "Es gibt ein typisch holländisches Gericht." Zum Glück war Daisy hungrig, denn die "Spekpannekoeken", mit denen die Kellnerin nach kurzer Zeit erschien, waren von beträchtlichem Ausmaß. Dazu wurde dunkler Sirup gereicht, den der Doktor großzügig auf die Pfannkuchen verteilte. "Auf den ersten Blick erscheint die Mischung ungewöhnlich", sagte er halb entschuldigend, "aber sie schmeckt köstlich." Daisy musste ihm Recht geben. Sie aß mit so sichtlichem Vergnügen, dass der Doktor insgeheim seine Freude daran hatte. Anschließend besichtigten sie die Nieuwe Kerk mit dem Prunkgrab Wilhelms I. und der Gruft der Oranier. "Sie sollten bei Gelege nheit noch einmal herkommen", riet der Doktor. "Delft ist eine der reizvollsten Städte in Holland, und um diese Jahreszeit gibt es noch keine Touristen." Wenig später saßen sie wieder im Auto. "Unser nächstes Ziel ist Hilversum", erklärte der Doktor. "Wir passieren Alphen aan den Rijn mit seinem berühmten Vogelzoo und Gouda, die Käsestadt. Beides müssen wir uns für später aufheben, aber Sie werden einen schönen Blick auf die Reeuwijksche Plassen, eine inländische Seenkette, bekommen." Trotz des trüben Wetters genoss Daisy die Fahrt durch die schöne Landschaft. Kleine Wälder wechselten mit ausgedehnten Heideflachen. Sie kamen an idyllischen Dörfern und einsamen Gehöften vorbei, überquerten Flüsse und Kanäle und waren bald nicht mehr weit von Hilversum entfernt. In der einsetzenden Dämmerung konnte Daisy ein etwas zurückliegendes Haus mit weißen Mauern und grünen Fensterläden erkennen, dem das hohe Dach einen wehrhaften Charakter verlieh.
"Sehen Sie nur!" rief Daisy. "Was für ein prächtiges Haus! Es sieht aus, als hätte es immer dagestanden, und doch wirkt es irgendwie gemütlich. Alle Fenster sind erleuchtet. Wahrscheinlich wohnt eine große Familie darin, mit Kindern, Hunden und Katzen." Der Doktor bog auf den Weg ein, der zu dem Haus führte. "So lebhaft geht es dort vorläufig noch nicht zu", meinte er lächelnd, "aber gemütlich ist es, da haben Sie Recht. Ich bin in diesem Haus geboren worden." Daisy sah ihn überrascht an. "Und Ihr schönes Haus in Amsterdam?" "Dies ist mein Elternhaus. Meine Mutter wohnt hier und erwartet uns zum Tee." "Aber Sie kennt mich nicht." "Noch nicht", verbesserte der Doktor. Er hielt vor dem Haus, stieg aus und öffnete Daisy die Tür. Daisy zögerte. "Ich weiß nicht..." "Nur zu", machte der Doktor ihr Mut. "Wo bleibt die englische Gelassenheit? Außerdem sehnen Sie sich bestimmt nach einer Tasse Tee." Inzwischen war die Haustür von einer älteren Frau geöffnet worden. Der Doktor begrüßte sie und sagte zu Daisy: "Das ist Katje, unsere Haushälterin. Sie spricht kein Englisch, aber Sie können sich ihr getrost anvertrauen." Daisy reichte Katje die Hand und folgte ihr zu einem Waschraum am Ende des Flurs, in dem alles vorhanden war, was eine Frau sich nur wünschen konnte. Sie ordnete ihr Haar, frischte ihr Make-up auf und übergab Katje die Kostümjacke, ehe sie wieder nach vorn ging, wo der Doktor sie erwartete. "Kommen Sie", sagte er und öffnete eine rundbogige Doppeltür. "Meine Mutter erwartet uns." Mevrouw der Huizma saß am Kamin und erhob sich, als die Tür aufging. "Mein lieber Julian", sagte sie und bot ihm die Wange zum Kuss. "Wie pünktlich ihr seid." Sie wandte sich
lächelnd an Daisy. "Sie müssen Miss Gillard sein. Julian hat mir schon viel von Ihnen erzählt." "Daisy ist in Amsterdam, um mehr über holländische Antiquitäten zu lernen", erklärte der Doktor, obwohl seine Mutter längst Bescheid wusste. Er wollte Daisy die Befangenheit nehmen und stellte zufrieden fest, dass ihm das gelang. Daisy, die mit wässrigem Tee und trockenem Gebäck gerechnet hatte, wurde angenehm überrascht. Der Assamtee war schwer und dunkel und wurde mit Zucker und Sahne gereicht. Statt des trockenen Gebäcks gab es Kanapees, Pfannkuchen und Schokoladenbiskuits. Mevrouw der Huizma hatte den Teetisch vor den Kamin stellen lassen und sorgte für ein leichtes, lockeres Gespräch. Ab und zu flocht sie eine persönliche Frage ein, aber Daisy hatte nie das Gefühl, verhört zu werden. Das Gespräch blieb unverbindlich und allgemein, als unterhielten sich drei Menschen, die sich seit langem kannten. Trotz der freundlichen Aufnahme hütete sich Daisy, die Situation auszunutzen. Als die große Standuhr sechs schlug, erinnerte sie den Doktor an die Rückfahrt nach Amsterdam. "Die Friskes erwarten, dass ich bis zum Abend zurück bin", fügte sie hinzu. Das stimmte zwar nicht ganz, klang aber glaubha ft. Sie dankte Mevrouw der Huizma für den Tee, verabschiedete sich und saß wenig später wieder neben dem Doktor im Auto. Die leise Enttäuschung darüber, dass man sie nicht gebeten hatte, länger zu bleiben, währte nicht lange und war außerdem ungerecht. Der Doktor hatte sie den ganzen Tag durch das Land gefahren, obwohl es zweifellos verlockendere Dinge für ihn gab. Sie hatte keinen Grund, etwas anderes als Dankbarkeit zu empfinden. Die Fenster der Friskes waren erleuchtet, was Daisys kleine Ausrede glaubhafter machte. Als der Doktor hielt, wollte sie mit
der kurzen Dankesrede beginnen, die sie sich während der Rückfahrt zurechtgelegt hatte, aber sie kam nicht weit damit. "Ersparen Sie mir die Dankesworte, die Sie sich vorgenommen haben", sagte der Doktor, als sie kaum den Mund geöffnet hatte. "Ich habe den Tag gern mit Ihnen verbracht. Sie sind eine angenehme Gesellschafterin, Daisy. Sie reden nur, wenn es sich lohnt, und was Sie sagen, hat Sinn und Verstand. Ansonsten sind Sie vorbildlich schweigsam." "Tatsächlich?" fragte Daisy, die sich durch die Beschreibung nicht sehr geschmeichelt fühlte. War das mit der Schweigsamkeit etwa ironisch gemeint? Hatte sie zu viel gesprochen? Sie war sonst eher zurückhaltend, aber gegenüber dem Doktor hatte sie seit langem die Scheu verloren. "Wenn meine Zeit es erlaubt, fahren wir nächsten Sonntag zu den friesischen Seen", sagte er, während er sie zur Haustür begleitete. "Von dort ist es nicht mehr weit bis Leeuwarden." Er nahm ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Die Freude über das nahe Wiedersehen leuchtete aus Daisys Augen, was den Doktor veranlasste, sich zu ihr hinunterzubeugen und sie zu küssen. Dann schob er sie sanft ins Haus und schloss hinter ihr die Tür. Daisy hatte keine Gelegenheit gehabt, etwas zu sagen, aber ihr wäre auch nichts eingefallen, so sehr hatte der Kuss sie überrascht. Sie stieg leicht benommen die Treppe hinauf, begrüßte die Friskes und schilderte, wie der Tag verlaufen war. Noch beim Abendessen - es gab Sauerkraut mit Räucherwürstchen - dachte Daisy über den Kuss nach. Man küsste sich heute mehr als früher, aber Julians Kuss war sehr persönlich gewesen, zart und intensiv zugleich. Sie beschloss, ihn möglichst schnell zu vergessen. Trotz aller guten Vorsätze blieb der Kuss Daisy so lebhaft in Erinnerung, dass sie dem nächsten Sonntag mit Bangen entgegensah. Sie musste Julian zeigen, dass der Kuss keinerlei
Eindruck auf sie gemacht hatte, aber das würde nicht leicht sein. Sollte sie eine Ausrede erfinden und die Fahrt absagen? Eine andere Verabredung vorzutäuschen war sinnlos, denn Julian wusste, dass sie in Amsterdam niemanden kannte. Sollte sie eine Erkältung erfinden? Oder Kopfschmerzen? Nein, Kopfschmerzen nicht. Die waren ein zu durchsichtiger Vorwand. Am Ende kam Daisy zu dem Entschluss, nur noch den nächsten Sonntag mit Julian zu verbringen und alle weiteren Treffen abzusagen. Julian würde ohnehin keine Zeit mehr für sie haben. Helene kam in wenigen Tagen aus Kalifornien zurück und würde seine Gesellschaft beanspruchen. Es war nur natürlich, dass Julian während ihrer Abwesenheit eine andere Begleiterin gesucht hatte, aber sobald sie zurück war, gebührte der Platz an seiner Seite wieder ihr. Der Sonntag kam. Daisy hatte erwartet, dass sie beim Wiedersehen verlegen sein würde, aber Julian ließ keine Verlegenheit aufkommen. Es war wieder ein grauer, windiger Tag, genau richtig, um die Wärme und die Bequemlichkeit des Rolls-Royce zu genießen. "Wir fahren erst nach Alkmaar und dann über den Afsluitdijk nach Friesland", erklärte Julian. "Auf dem Rückweg kommen wir durch ein Gebiet, das dem Ijsselmeer abgewonnen wurde. Es sieht dort ziemlich eintönig aus. Nur die verstreut liegenden Bauernhöfe bringen etwas Abwechslung in die Landschaft." Danach schlief das Gespräch wieder ein. Als Julian nach einer Weile fragte, ob Daisy eine angenehme Woche verbracht habe, antwortete sie so knapp wie möglich, um nicht geschwätzig zu erscheinen, und fragte ihrerseits, wie seine Woche verlaufen sei. Helene hatte ihn nie danach gefragt, und zu seiner eigenen Verwunderung begann Julian, von seiner Arbeit zu erzählen. Daisy ermunterte ihn, indem sie sich nach Einzelheiten erkundigte: Wie viele Patienten er in den verschiedenen
Krankenhäusern habe, ob er häufig operieren müsse, ob er lieber Babys oder ältere Kinder behandle und was nach der Entlassung aus ihnen würde. Julian beantwortete jede Frage genau und stellte dabei fest, welche Freude es ihm machte, mit jemandem über seine Arbeit zu sprechen, der sich wirklich dafür interessierte. Das galt natürlich auch für seine Mutter, aber er sah sie selten, und über dem Austausch familiärer Neuigkeiten kam sein Beruf meist zu kurz. Bei Daisy war das anders. Sie fragte nicht nur, sie konzentrierte sich auch auf die Antwort. Es gefiel dem Doktor immer besser, ihr von seiner Arbeit zu erzählen. In Alkmaar tranken sie Kaffee und besichtigten die "Waage" mit dem berühmten Glockenspiel, ehe sie nach Friesland weiterfuhren. Sie passierten Harlingen und Franeker und trafen rechtzeitig zum Mittagessen in Leeuwarden ein. Danach begann die Rückfahrt. Hinter Sneek erreichten sie die großen Seen - im Sommer ein Paradies für Wassersportler, wie Julian versicherte -, dann ging es über Meppel nach Lelystad, einer kleinen Stadt auf dem neu gewonnenen Schwemmland, und weiter nach Naarden und Hilversum. "Meine Mutter erwartet uns zum Tee", sagte Julian, als er in die Auffahrt zu dem weißen Haus einbog. Daisy genoss es wie am Sonntag zuvor, in dem großen Wohnzimmer zu sitzen und mit der Familie Tee zu trinken. Bouncer lag dicht bei seinem Herrn, ignorierte stolz Kuchen und Gebäck und ließ sich auch nicht durch die große Tigerkatze stören, die neben Mevrouw der Huizma im Sessel saß. Alles wirkte ruhig und friedlich. Daisy spürte ein tiefes inneres Glück, das sie kaum hätte in Worte fassen können. Es war das Glück, bei guten und zufriedenen Menschen zu sein. Auch diesmal achtete sie darauf, nicht zu lange zu bleiben. Mevrouw der Huizma küsste sie zum Abschied und sagte warm: "Leben Sie wohl, mein Kind. Ich bin sicher, dass wir uns wieder sehen."
Daisy hegte denselben Wunsch, aber Julian sprach keine weitere Einladung aus, als sie vor dem Haus der Friskes hielten. Er küsste sie auch nicht, und sein Abschied fiel ziemlich kurz aus. Zum Schluss ermahnte er sie noch, nicht zu viel zu arbeiten. Also werde ich ihn nicht wieder sehen, dachte Daisy, als sie ins Bett ging. Vielleicht ist Helene schon zurück. Er wird ihr die Brosche schenken, und sie werden heiraten. Kurz bevor ihr die Augen zufielen, sagte Daisy laut: "Sie können niemals glücklich werden!" Dann schlief sie ein.
8. KAPITEL Während der nächsten Woche kamen ungewöhnlich viele Besucher in den Laden, und Daisy hatte mehr als sonst zu tun. Ihre Holländischkenntnisse hatten sich inzwischen verbessert, so dass sie sich nicht nur mit Touristen, sondern auch mit Einheimischen verständigen konnte. Abends, wenn der Kundenstrom nachließ, lauschte sie Mijnheer Friskes Erklärungen über holländische Möbel und holländisches Porzellan. Am Sonntag bummelte sie durch das Antiquitätenviertel, um sich die Auslagen genauer anzusehen. Nach einem frühen Lunch besuchte sie das Rijksmuseum und blieb dort, bis es geschlossen wurde. Beim Verlassen des Gebäudes sah sie Dr. der Huizma in seinem Rolls-Royce vorbeifahren. Eine Frau saß neben ihm. Beide sahen geradeaus und schwiegen. Also war Helene zurückgekommen. Daisys heimlicher Wunsch, es möchte ihr in Kalifornien so gut gefallen, dass sie dort bleiben würde, hatte sich nicht erfüllt. Sie konnte aufhören, sinnlosen Träumen nachzuhängen. Ich werde ihn vergessen, dachte sie, während sie zum Abendessen nach Hause ging. Es war eine nette Bekanntschaft, aber sie konnte nicht ewig währen. Das waren gute Vorsätze, doch das Schicksal schien es anders bestimmt zu haben. Gegen Ende der nächsten Woche, als Daisy gerade mit Silberputzen beschäftigt war und Mijnheer
Friske einem Kunden den Kauf einiger Kacheln empfahl, entstand auf der Straße ungewöhnlicher Lärm. Da Mijnheer Friske unabkömmlich war, ging Daisy nach draußen, um den Grund des Lärms zu erfahren. Dicht vor dem Haus stand ein Auto. Der Fahrer war ausgestiegen und beugte sich über eine ältere Frau, die auf dem holprigen Straßenpflaster saß und eine schwarze Katze an sich drückte. Als Daisy näher kam, blickte er auf. "Sprechen Sie zufällig Englisch?" fragte er.' "Ich bin nicht schnell gefahren, aber die Katze lief vor mir über die Straße, und die Frau kam hinterher." "Sie haben Glück. Ich bin eine Landsmännin von Ihnen", antwortete Daisy und wandte sich in ihrem gebrochenem Holländisch an die Frau. Nein, lautete die Antwort, ihr sei nichts geschehen. Sie sei mit dem Schrecken und einigen blauen Flecken davongekommen. Daisy reimte sich das Geschehen mühelos zusammen. Sie klopfte der Frau beruhigend auf die Schulter, streichelte die Katze und sagte zu dem Engländer: "Um ganz sicherzugehen, würde ich die Frau ins Krankenhaus bringen. Es liegt nicht weit entfernt. Warten Sie einen Augenblick. Ich spreche kurz mit Mijnheer Friske." Der Mann atmete auf. "Würden Sie mitfahren? Das wäre sehr freundlich. Ich komme für alle Unkosten auf." Mijnheer Friske, der seine Kacheln glücklich verkauft hatte, war Daisy inzwischen auf die Straße gefolgt. Er sprach mit der Frau, half dabei, sie ins Auto zu setzen, und forderte Daisy auf, mit einzusteigen. "Vergessen Sie nicht, die junge Dame heil zurückzubringen", ermahnte er den Engländer zum Schluss. Daisy setzte sich neben ihn und lotste ihn durch die engen Straßen zum Krankenhaus. Dort ging sie in die Notaufnahme, wo zufällig Schwester Malwina Dienst hatte, die Daisy sofort wieder erkannte. Die Frau wurde hereingeholt, und während der
Engländer erst mit dem Pförtner und dann mit einem Polizisten verhandelte, blieben Daisy und die Katze sich selbst überlassen. Nach einer Weile suchte Daisy Schwester Malwina auf. "Würden Sie der Patientin sagen, dass ich die Katze nach Hause bringe?" fragte sie. "Ich brauche dazu nur ihre Adresse und den Schlüssel. Bitte erklären Sie ihr, dass ich im Antiquitätengeschäft von Mijnheer Friske arbeite und vertrauenswürdig bin. Jetzt kann ich leider nicht länger warten." Wenige Minuten später hatte sie Adresse und Schlüssel und befand sich auf dem Weg zum Ausgang, wo sie beinahe mit Dr. der Huizma zusammenstieß. Er wollte das Krankenhaus ebenfalls verlassen, und an ein Ausweichen war nicht zu denken. "Daisy!" begrüßte er sie und warf einen Blick auf die Katze, die sie im Arm trug. "Sind Sie auf dem Heimweg? Ich fahre Sie." Jeder andere hätte sie mit Fragen überhäuft, nur der Doktor nicht. Daisy drückte die Katze fester an sich, gab einen kurzen Bericht der Ereignisse und wartete auf seine Reaktion. "Wir bringen die Katze gemeinsam nach Hause", entschied er. "Vielleicht können wir einen Nachbarn verständigen, der sich um das Tier kümmert. Ist die Frau verletzt? Bleibt sie hier?" "Das weiß ich nicht", antwortete Daisy. "Dann kümmere ich mich später darum. Überlassen Sie alles mir." Er führte Daisy zu seinem Auto, ließ sich den Zettel zeigen, auf den Schwester Malwina die Adresse geschrieben hatte, und fuhr los. Die Patientin, eine Mevrouw Anne Stoffels, wohnte in einem kleinen Haus, das in einer Reihe ebenso kleiner Häuser stand. Die Fensterscheiben glänzten, die Gardinen waren blendend weiß, und auch drinnen blitzte es vor Sauberkeit. Die Möbel waren alt, aber gut gepflegt, und hinter der Küche gab es einen Garten - ebenfalls sehr kle in und so ordentlich wie das ganze Haus.
Die Katze lief schnurstracks zu einem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers, sprang hinauf und rollte sich zum Schlafen zusammen. Was sich nun noch ereignete, schien sie nicht mehr zu interessieren. Während Daisy nach Futter suchte, sprach Julian mit dem Nachbarn. "Wir sollen das Küchenfenster offen lassen", meldete er, als er zurückkam. "Dann kann sich die Katze frei bewegen. Der Nachbar wird sie füttern, falls es nötig ist." "Und der Schlüssel?" fragte Daisy. Julian zog sein Funktelefon aus der Tasche und rief im Krankenhaus an. "Mevrouw Stoffels kommt noch heute Nachmittag zurück", sagte er dann. "Abgesehen von einigen Prellungen und einer unbedeutenden Platzwunde am Bein ist sie unverletzt geblieben. Geben Sie mir den Schlüssel, Daisy. Ich fahre noch einmal ins Krankenhaus und sorge dafür, dass sie ihn bekommt." Das war keineswegs seine Absicht gewesen, aber er war ein hilfsbereiter Mann. "Und nun zurück zu Mijnheer Friske." Daisy hatte bisher kaum etwas gesagt. Die Freude des Wiedersehens hatte ihr die Sprache versehlagen, und da Julian alles so umsichtig regelte, war sie ihm blindlings gefolgt. "Sie waren sehr freundlich, Julian", sagte sie jetzt, "aber ich kann zu Fuß gehen. Es ist nicht weit, und ..." Der Doktor kam aus der Küche zurück, wo er das Fenster geöffnet hatte. "Ich fahre ohnehin am Geschäft vorbei" war alles, was er sagte. Er setzte sie vor dem Haus ab, verabschiedete sich flüchtig und fuhr weiter, ehe sie etwas sagen konnte. Er hatte nicht vorgehabt, vor der Abendsprechstunde noch einmal ins Krankenhaus zu fahren, aber wie schon so oft hatte Daisy seine Pläne durchkreuzt. Warum musste sie ihm immer wieder über den Weg laufen und seine Ruhe stören? Sie hatten während der Fahrt kaum zehn Worte miteinander gewechselt, und doch hatte er ihre schweigende Gegenwart genossen. Blieb er so seinem
Entschluss treu, sie nicht wieder zu sehen? In ihrer stillen, unaufdringlichen Art hatte sie sich in sein Herz geschlichen, und da durfte sie nicht bleiben. Der Doktor betrat das Krankenhaus und suchte Schwester Malwina auf. "Mevrouw Stoffels kann jederzeit entlassen werden", erfuhr er von ihr. "Wie geht es Juffrouw van Tromp, Doktor? Ist sie schon aus Kalifornien zurück?" Schwester Malwina schätzte den Doktor sehr und wüns chte ihm von Herzen Glück. Sie war Helene bei verschiedenen offiziellen Anlässen begegnet und mochte sie nicht, obwohl sie ihr als zukünftige Mevrouw der Huizma durchaus passend erschien. "Helene ist vor einigen Tagen zurückgekommen", antwortete der Doktor mit einer Miene, die Schwester Malwina stutzig machte. Welcher Mann sah so ... ja, so bedrückt aus, wenn er von der Frau sprach, die er heiraten wollte? Sie war jedoch klug genug, keine weiteren Fragen zu stellen, und ging, um Mevrouw Stoffels zu holen. Der Doktor fuhr Mevrouw Stoffels zu ihrem Häuschen, übergab ihr den Schlüssel und hörte sich wohlwollend eine Lobeshymne auf Daisy an. "Eine reizende junge Dame", schwärmte sie. "Sie kam mir gleich zu Hilfe und verstand meine Sorge um die Katze. Dabei ist sie doch Ausländerin ..." Der Doktor verabschiedete sich und widerstand der Versuchung, noch einmal bei Mijnheer Friske vorbeizufahren. Er hatte Daisy vorhin nicht gut ausweichen können, aber sie vorsätzlich aufzusuchen war etwas anderes. Da ihm nur noch wenig Zeit bis zur Abendsprechstunde geblieben war, fuhr er direkt in seine Praxis und kam erst spät nach Hause. Joop empfing ihn mit einem späten Dinner und einer Nachricht von Helene, die am nächsten Morgen angerufen werden wollte.
Der Doktor setzte sich an seinen Schreibtisch und blätterte im Terminkalender. Die nächsten Tage waren voll besetzt, da würde für Helene wenig Zeit bleiben. Wahrscheinlich erwartete sie, zum Essen oder ins Theater ausgeführt zu werden, aber das kam vorläufig nicht in Frage. Er würde ihr Blumen schicken, einen recht üppigen Strauß, und dann ihren Anruf abwarten. Der Doktor nickte zufrieden und wandte sich dem Aufsatz über Unterernährung bei Kindern zu, den er für eine Fachzeitschrift schrieb. Man hatte ihn gebeten, einige Hungergebiete in Afrika aufzusuchen und dort Ratschläge zur Ernährung der Kinder zu geben, und er hatte ohne Zögern zugesagt. Das Problem lag ihm sehr am Herzen, und er hatte alle Termine verschoben, um einen Monat in Afrika bleiben zu können. Der Doktor hörte auf zu schreiben und lehnte sich seufzend zurück. Im Geist hörte er schon Helenes zornige Stimme, denn seine Entscheidung würde ihr nicht gefallen. Dabei hatte er alles getan, um den Auftrag auszuführen, solange sie in Kalifornien war... Am nächsten Montag machte Daisy Mevrouw Stoff eis einen Besuch. Sie war in der Post gewesen, hatte im Supermarkt eine Zeitung, Zahnpasta und Shampoo gekauft und im letzten Moment noch eine Dose Katzenfutter in ihren Wagen gelegt. Mevrouw Stoffels erkannte sie sofort und bat sie herein. Um Worte verlegen, packte Daisy die Dose aus, und wie aufs Stichwort kam die schwarze Katze ins Zimmer und schnurrte um ihre Füße. Mevrouw Stoffels strahlte und hatte tausend Dinge zu erzählen, von denen Daisy kein Wort verstand. "Besser?" fragte sie, als eine kleine Pause eintrat. Da das entsprechende Wort im Holländischen ähnlich klang, nickte Mevrouw Stoffels, nötigte Daisy auf einen Sessel und zeigte ihr einen Brief aus England. Er kam von dem Mann, der den Unfall verursacht hatte, und enthielt neben einer neuerlichen
Entschuldigung den Betrag von hundert Pfund, mit dem etwaige Unkosten bezahlt werden sollten. Daisy übersetzte den Brief, so gut es ging, und erklärte, wofür das Geld gedacht war. Ihr Akzent war abenteuerlich, und es fehlte ihr an Worten, aber mit vielen Gesten und viel Lachen, gelang es ihr, sich verständlich zu machen. Mevrouw Stoffels nahm den Brief wieder an sich und fragte: "Kaffee?" Daisy hatte gleich wieder gehen wollen, aber da heute ihr freier Tag war, nickte sie, streichelte die Katze, die auf ihren Schoß gesprungen war, und bemühte sich nach Kräften, so etwas wie ein Gespräch aufrechtzuerhalten. Beim Abschied stellte sie fest, dass sie zwei unterhaltsame Stunden verbracht und dabei ihr Holländisch entscheidend verbessert hatte. Wenigstens das Vokabular, sagte sie sich. Grammatik und Aussprache waren nicht so wichtig. Wofür gab es schließlich Mijnheer Friske? An diesem Nachmittag ging Daisy vergnügter als sonst nach Hause. Sie hatte ihren ersten selbstständigen Besuch gemacht. Vielleicht gelang es ihr doch noch, sich in der fremden Stadt einen eigenen, wenn auch noch so kleinen Kreis zu schaffen. Dr. der Huizma bereitete sich auf seine Reise vor. Er arbeitete Tag und Nacht, um seine Abwesenheit so gut wie möglich auszugleiche n, und er hatte Helene bei der ersten passenden Gelegenheit von seinem Entschluss erzählt. Sie hatte ihn angerufen, um sich für die prächtigen Blumen zu bedanken, und schmeichlerisch hinzugefügt: "Hast du schon von dem neuen Restaurant in der Leidesgracht gehört, Julian? Wir müssen unbedingt hingehen. Vergiss bitte nicht, einen Tisch zu bestellen." Sie hatte eingehängt, ohne eine Antwort abzuwarten, und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als den gewünschten Tisch zu bestellen. Doch das Dinner wurde kein Erfolg. Es wollte kein rechtes Gespräch aufkommen, so dass Helene am
Ende notgedrungen fragte: "Hast du in letzter Zeit viel zu tun gehabt, Julian?" "Wie immer", lautete die knappe Antwort. Helene lachte. "Armer Julian! Du vertrocknest in deinem Beruf. Wir sollten öfter ausgehen, uns mehr amüsieren." "Ich verreise für eine Weile", erklärte er leise. "Du weißt vielleicht nicht, dass Kinderernährung zu meinen Spezialgebieten gehört. Ich habe mehrere Aufsätze zu diesem Thema geschrieben, und man hat mich gebeten, in einigen Hungergebieten Afrikas Beratungsdienste zu leisten." Helene sah ihn fassungslos an. "In Afrika? Wie entsetzlich, Julian! Du wirst dir eine dieser grässlichen Krankheiten holen. Und warum gerade du? Es gibt so viele junge Ärzte, die auf Abenteuer aus sind. Sollen die doch das Risiko eingehen. Du bleibst jedenfalls hier. Ich erlaube einfach nicht, dass du fährst." Julian betrachtete sie kalt. "Ich brauche deine Erlaubnis nicht einzuholen, Helene, und werde es auch nicht tun. Es geht um meinen Beruf, und ich allein entscheide, wie ich ihn ausübe. Ich dachte, du hättest das inzwischen verstanden." "Verstanden?" Helene wurde blass vor Wut. "Ich bin nicht mit einem kleinen Dorfarzt verlobt, der sich nachts aus dem Bett holen lassen muss und keine Mahlzeit in Ruhe beenden kann. Das Leben ist dazu da, um es zu genießen, und genau das werde ich tun!" Julian schwieg eine Weile und fragte dann ruhig: "Möchtest du, dass wir unsern Entschluss überdenken?" "Es tut mir Leid, Julian." Helene begriff, dass sie zu weit gegangen war. "Natürlich musst du tun, was du für richtig hältst. Du hast mir nur solche Angst eingejagt." Sie lächelte reumütig. "Verzeihst du mir?" "Gewiss, Helene, aber das ändert nichts an meinen Plänen." "Nein, nein, natürlich nicht... das Ganze ist ja so interessant. Du musst mir später alles genau erzählen. Wie lange wirst du fort sein?"
Helene spielte die Zerknirschte und legte so viel Anteilnahme in ihre Stimme, wie sie konnte. Julian hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. Für einen Moment hatte sie geglaubt, ihn verloren zu haben, und das durfte nicht geschehen. Als Ehemann war er alles, was eine Frau sich wünschen konnte. Sie war auch beim Abschied besonders herzlich, aber für Julian hätte sie sich das Theater sparen können. Er glaubte ohnehin nicht daran. Er wusste längst, dass Helene ihn nicht liebte und nie geliebt hatte. Er garantierte ihr den Lebensstil, den sie sich wünschte - das war alles. Von sich aus würde Helene die Verlobung niemals lösen, und bisher hatte er sich damit abgefunden. Inzwischen kannte er Daisy, die er vergessen musste und die bald nach England zurückkehren würde, um zu heiraten oder ledig zu bleiben. Sie hatten sich darauf geeinigt, Freunde zu sein, aber besonders herzlich war Daisy nie gewesen. Er hatte das Pech gehabt, sich in eine Frau zu verlieben, die nichts für ihn empfand. Dem Doktor blieb noch eine Woche, und in dieser Woche widmete er Helene jede freie Minute. Er gab sich alle Mühe, die erloschene Zuneigung neu zu entzünden, und machte ihr sogar den Vorschlag, sofort zu heiraten. Helene ging nicht darauf ein. Sie war sich ihres Verlobten viel zu sicher, um die Hochzeit zu überstürzen und auf einen glänzenden, lange vorbereiteten Rahmen zu verzichten. "Um Himmels willen, Julian", wehrte sie ungeduldig ab. "Ich habe Jahrzehnte als Ehe- und Hausfrau vor mir. Lass mich mein Leben noch etwas genießen." Sie verzog schmollend die Lippen. "Wenn du nur etwas mehr mithalten würdest. Du bist fünfunddreißig, und dein Leben ist eine einzige Tretmühle von Patientenbesuchen, Krankenhausrunden und Vorträgen." "So sieht mein Leben eben aus, Helene, und ich bin glücklich dabei." Julian war sehr ernst geworden. "Du kannst deine Meinung jederzeit ändern ..."
Helene stutzte, aber sie war zu eitel, um sich als Verliererin zu sehen. "Bester Julian!" rief sie und schmiegte sich für einen Moment an ihn. "Warum sollte ich meine Meinung ändern? Sobald du zurück bist, setzen wir den Termin für die Hochzeit fest." Der Doktor erwähnte nichts von diesem Gespräch, als er seine Mutter zum Abschied besuchte, aber sie merkte trotzdem, dass etwas nicht stimmte. Wie immer hatte sie nach Helene gefragt und sich die vagen Antworten schweigend angehört. Erst als sie nach Daisy fragte und Julians veränderten Gesichtsausdruck wahrnahm, senkte sie betroffen den Kopf. Julian würde die Verlobung mit Helene niemals lösen, dazu kannte sie ihn zu gut. Es mussten schon stichhaltige Gründe vorliegen, aber die würde Helene ihm niemals liefern. Und doch bete ich darum, dachte Mevrouw der Huizma. Ich bete darum, dass Julian wieder frei wird. An Julians Abreisetag stand Daisy früh auf. Seit Mevrouw Stoffels' Unfall hatte sie nichts von ihm gesehen oder gehört. Das hätte es leicht machen müssen, ihn zu vergessen, aber leider war das nicht der Fall. Trotz aller guten Vorsätze dachte Daisy fast immer an ihn - auch an diesem Morgen, an dem sie so früh im Laden war, um Porzellan einzupacken, das ein Kunde auf dem Weg zum Flughafen abholen wollte. Mevrouw Friske bereitete in der Küche das Frühstück zu, und Mijnheer war noch im Badezimmer. Daisy stand mit dem Rücken zur Tür, als die altmodische Glocke bimmelte. Ein ungewöhnlich früher Kunde, dachte sie und blickte auf die Wanduhr neben Mijnheer Friskes Schreibtisch. Er muss sich einige Minuten gedulden, bis ich mit dem Paket fertig bin. "Guten Morgen, Daisy", sagte Dr. der Huizma hinter ihr. Sie drehte sich überrascht um. "Wir haben noch nicht ge... Oh, guten Morgen, Julian."
"Ich weiß, dass es früh ist, Daisy. Ich verreise für einen Monat - vielleicht für länger." Er sah ihr prüfend ins Gesicht. "Ich wollte die Stadt nicht verlassen, ohne Lebewohl zu sagen. Ich fahre nach Afrika." "Aber Sie kommen wieder?" Daisy wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang, obwohl sie sich zum Sterben elend fühlte. "Ja, natürlich. Werden Sie dann noch hier sein?" "Vielleicht." Sie dachte einen Moment nach. "Warum fahren Sie nach Afrika? Es liegt weit weg." "Ich habe den Auftrag, in einigen Hungerregionen die Ernährung der Kinder zu überwachen und neu zu organisieren." "Oh Julian!" rief Daisy. "Wer könnte das besser als Sie? Wäre ich Krankenschwester, würde ich Sie begleiten." Nach einer Pause fügte sie hinzu: "Helene wird Sie ungern fortlassen." "Helene wird sich auch ohne mich amüsieren", antwortete Julian fast heftig. "Werden Sie mich vermissen, Daisy?" "Oh ja. Freunde vermisst man immer, und wir sind doch Freunde, nicht wahr? Allerdings sehen wir uns nur selten - und wenn, weil ich in irgendeinen Unfall verwickelt bin." Daisy seufzte. "Trotzdem werde ich Sie vermissen, Julian. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und ... eine rasche Rückkehr." Sie streckte die Hand aus, denn die Tränen saßen jetzt wirklich gefährlich locker. "Auf Wiedersehen." Julian nahm ihre Hand, so vorsichtig, als könnte sie zerbrechen. Dann zog er Daisy rasch in die Arme und küsste sie. Es war kein gewöhnlicher Kuss. Es war ein Kuss, den es für Daisy bisher nur in Romanen gegeben hatte. "Etwas muss ich in die Ferne mitnehmen", sagte Julian mühsam beherrscht und ließ Daisy so plötzlich los, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Im nächsten Augenblick war er aus dem Laden verschwunden. Nicht weinen, dachte Daisy. Weinen hilft gar nichts. Sie packte das Porzellan fertig ein und ging dann nach oben, um mit
den Friskes zu frühstücken. Beide wunderten sich, dass sie außer einer Tasse Kaffee nichts zu sich nehmen konnte. "Es muss das Wetter sein", entschuldigte sie sich. "Ich habe Kopfschmerzen, aber bis heute Mittag ist mein Appetit bestimmt wieder da." Dr. der Huizma übergab Joop in Schiphol den Rolls-Royce und ging an Bord seiner Maschine. In Gedanken war er noch bei Daisy. Sein Besuch hatte sie gefreut, da war er ganz sicher, aber sie hatte nichts gesagt, was auf ein wärmeres Gefühl für ihn schließen ließ. Eigentlich konnte ihm das nur recht sein, denn er hätte es nicht ertragen, Daisy unglücklich zu machen. Der Kuss war zweifellos ein Fehler gewesen. Anfangs hatte er sie auch nicht küssen wollen, aber dann hatte der Wunsch ihn doch überwältigt. Hoffentlich sah sie nichts als einen Abschiedsgruß darin. Sie war bestimmt nicht oft geküsst worden. Der Abschiedskuss eines Freundes musste ihr unverdächtig sein. Der Doktor schloss den Sicherheitsgurt und nahm seine Papiere heraus. Er musste alle persönlichen Probleme vergessen und nur noch an die Aufgabe denken, die vor ihm lag. Er musste Daisy vergessen. An Helene dachte er längst nicht mehr.
9. KAPITEL Irgendwie überstand Daisy den Tag. Sie wusste bereits, was es bedeutete, jemanden zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden. Gewiss, Julian hatte sie fast gewaltsam geküsst, aber ihre Ankündigung, dass sie bei seiner Rückkehr vielleicht nicht mehr da sein würde, hatte ihn kalt gelassen. Zum Glück wusste sie, dass sie auf Männer nicht besonders anziehend wirkte, sonst hätte sie aus diesem Kuss falsche Schlüsse ziehen können. So gab es nur eine Erklärung. Die bevorstehende Reise und der Abschied von Helene hatten Julian so belastet, dass er sich auf diese Weise abreagiert hatte. Eine vernünftige Erklärung, aber sie verhinderte nicht, dass Daisy sich an diesem Abend in den Schlaf weinte. Der Gedanke, Julian nicht wieder zu sehen, war ihr unerträglich. Sie würde wieder in England sein, wenn er zurückkam, das wusste sie genau. Und was noch schlimmer war - sie kannte sein Reiseziel nicht und würde nichts von ihm hören. Wie dumm und naiv, sich in einen Mann zu verlieben, der mit einer wunderschönen Frau verlobt war und in einer Welt lebte, die mit ihrer eigenen nichts gemeinsam hatte! Herzen brechen nicht vor Kummer, ermahnte sich Daisy, und das Leben geht immer weiter. Ich werde darüber hinwegkommen, und bald wird Julian nur noch ein schönes Traumbild sein. Ich werde meine Zeit nutzen, um alles über holländische Antiquitäten zu lernen und meine holländischen
Sprachkenntnisse zu verbessern. An den Sonntagen werde ich Ausflüge mache n, um so viel wie möglich von diesem schönen Land kennen zu lernen. Die guten Vorsätze halfen Daisy, die Woche nach Julians Abreise zu überstehen, und für den Sonntag nahm sie sich mehr als sonst vor. Sie wollte besonders weit fahren, verschiedene Busse und Züge benutzen und sogar riskieren, sich zu verirren. Dadurch würde sie abgelenkt sein, und außerdem ergab es ein Thema für ihren nächsten Bericht nach Hause. Samstagmorgen erhielt Daisy einen Brief. Der Umschlag bestand aus Büttenpapier und zeigte eine feine, kunstvolle Handschrift. Im ersten Moment gab es Daisy einen Stich, aber dann nahm sie sich zusammen. Julian hatte keinen Grund, ihr zu schreiben, und dort, wo er sich jetzt aufhielt, gab es bestimmt kein so kostbares Schreibpapier. Sie öffnete den Umschlag und faltete den Brief auseinander. Er kam von Mevrouw der Huizma und enthielt eine Einladung für den nächsten Tag. Daisy wurde gebeten, zum Lunch zu kommen und den Nachmittag über zu bleiben. Joop würde sie im Wagen abholen und auch zurückbringen. Mehr als ein kurzer Anruf sei nicht nötig. Daisy las den Brief zweimal hintereinander und dachte dann darüber nach. Sollte sie die Einladung annehmen? Sie mochte Mevrouw der Huizma und hätte Julians Elternhaus gern wieder gesehen, aber war das vernünftig? Wurden dadurch nicht Dinge aufgewühlt, die sie besser ruhen ließ? Allerdings würde Julian nicht da sein ... Sie ging zu Mijnheer Friske, erzählte ihm von der Einladung und sagte telefonisch zu. Am Sonntag erschien Joop kurz nach elf Uhr, um Daisy abzuholen. Sie hatte lange vor ihrer bescheidenen Garderobe gestanden, aber es war nichts darunter, was in das vornehme alte Haus gepasst hätte. Also blieb wieder nur das braune Tweedkostüm, wenn auch mit einer anderen Bluse. Aber warum
sich grämen? dachte Daisy, während sie sich in dem kleinen Spiegel, der in ihrem Zimmer hing, betrachtete? Julian ist ja doch nicht da, und selbst wenn er da wäre, würde er nicht darauf achten, wie ich angezogen bin. Joop kam in einem alten Daimler. Er begrüßte Daisy mit väterlichem Wohlwollen und sorgte dafür, dass sie es bequem hatte. Er fuhr gut, aber nur in mäßigem Tempo, was Daisy Gelegenheit gab, ihr Holländisch bei ihm auszuprobieren. Er antwortete in derselben Sprache und korrigierte sie nur, wenn sie vor Eifer allzu sehr durcheinander geriet. Bei der Ankunft wurde sie von Katje empfangen, die ihr die Kostümjacke abnahm und sie ins Wohnzimmer führte. Mevrouw der Huizma, die in ihrem üblichen Stuhl am Kamin gesessen hatte, stand auf und begrüßte sie mit großer Herzlichkeit. "Willkommen, Daisy, bitte setzen Sie sich. Katje wird uns gleich Kaffee bringen. Es ist reizend von Ihnen, mir Gesellschaft zu leisten. Wie Sie sehen, hat Julian mir Bouncer dagelassen, aber manchmal wird mir die Zeit doch lang. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, sich das Haus anzusehen. Einige Möbel sind alt und wertvoll, und Sie verstehen ja viel von Antiquitäten. Aber zuerst trinken wir Kaffee. Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit. Gefällt es Ihnen noch bei Mijnheer Friske?" Sie unterhielten sich wie gute Freundinnen, aber Julian wurde nicht erwähnt. Das enttäuschte Daisy, denn sie hatte gehofft, etwas über ihn zu erfahren. Vielleicht später, dachte sie, als ihre Gastgeberin aufstand, um den Rundgang zu beginnen. "Es gibt viel zu sehen", meinte sie. "Allein das Erdgeschoss wird uns bis zum Lunch beschäftigen." Daisy wäre gern noch im Wohnzimmer geblieben, um die Einlegearbeiten an den Möbeln und das kostbare Porzellan in den Vitrinen zu bewundern, aber sie folgte Mevrouw der Huizma in das Esszimmer, das von einem prächtigen Biedermeierbüfett beherrscht wurde. An den getäfelten Wänden
hingen Familienporträts in üppigen Goldrahmen. Julian gleicht ihnen, dachte Daisy, während sie die würdigen Gesichter betrachtete. Es fehlt nur die Perücke. Neben dem Esszimmer lag ein kleiner Salon mit gestreifter Tapete, bequemen Stühlen und einem runden Spieltisch vor dem Fenster. Moderne Zutaten fehlten, was dem Raum eine behagliche und zeitlose Atmosphäre verlieh. "Hier sitze ich häufig, um Handarbeiten zu machen oder Briefe zu schreiben", erzählte Mevrouw der Huizma. "Meine Enkel sind manchmal böse, weil sie hier nicht herein dürfen." "Oh, Ihre Enkel. Wie viele haben Sie, Mevrouw?" "Bisher fünf. Es sind die Kinder meiner beiden Töchter. Ich hoffe, dass die Zahl zunimmt, wenn Julian heiratet." "Das verstehe ich", stimmte Daisy zu. "Kinder sind ein Geschenk, und dieses Haus ist wie für sie gebaut. Es ist groß und prächtig und dabei so anheimelnd ..." Mevrouw der Huizma betrachtete Daisy voller Anteilnahme. Hier war endlich eine Frau nach ihrem Herzen und, wie sie vermutete, auch nach Julians Herzen. Sie seufzte und setzte den Rundgang fort - erst in die Bibliothek, dann in das Herrenzimmer und zum Schluss in den Wintergarten auf der Rückseite des Hauses. "Sie müssen unbedingt wiederkommen, Daisy", meinte Mevrouw der Huizma, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, um vor dem Lunch ein Glas Sherry zu trinken. "Stöbern Sie herum, so viel Sie wollen. Es ist alles katalogisiert, was Ihnen vielleicht nützen wird." "Vielen Dank, Mevrouw", antwortete Daisy. "Das würde ich sehr gern tun." Sie aßen im Esszimmer, wo an einem Ende des großen ovalen Tischs für zwei Personen gedeckt worden war. Es gab geeiste Melone, Hummer in Aspik, gemischten Salat und "Crepe Beatrix" - hauchdünne Pfannkuchen, ge füllt mit Vanillesauce und Maraschinofrüchten. Daisy ließ sich durch die strengen
Blicke der Der-Huizma-Ahnen nicht beirren und aß zur Freude ihrer Gastgeberin mit gutem Appetit. Als sie wieder im Wohnzimmer saßen und Kaffee tranken, meinte Mevrouw der Huizma: "Ich hatte vor einigen Tagen die Freude, von Julian zu hören. Eine Krankenschwester, die nach Holland zurückkehrte, brachte mir eine Nachricht von ihm. Nur wenige Zeilen, aber ich vermute, dass es dort unten sehr viel zu tun gibt. Da bleibt keine Zeit für private Dinge. Ich würde es Julian gegenüber nie zugeben, aber ich warte schon sehnlich auf seine Rückkehr." Sie beugte sich zu Bouncer hinunter, der neben ihrem Stuhl lag, und streichelte ihn. "Bouncer ist ein treuer Gesellschafter, und auch Joop kommt, sooft ich ihn darum bitte. Meine Töchter wohnen zu weit entfernt, um mich regelmäßig zu besuchen Ineke in Groningen und Lisa in Limburg. Sie müssen sich um die Kinder und den Haushalt kümmern, da bleibt ihnen wenig freie Zeit. Dafür rufen sie mich me hrmals in der Woche an." Mevrouw der Huizma lächelte und stellte ihre Tasse auf den niedrigen Kacheltisch. "Sie sehen, Daisy, meine Familie lässt es nicht an Fürsorge fehlen. Möchten Sie jetzt die übrigen Räume sehen? Das wird eine Weile dauern, und dann bringt Katje den Tee." Es dauerte wirklich eine Weile. Daisy wollte die Schlafzimmer gar nicht mehr verlassen. Vor allem das Elternschlafzimmer gefiel ihr. Himmelbett, Kommode und Frisiertisch waren aus Mahagoni gearbeitet und zeigten schöne Intarsien aus Magnolienholz. Auf einem Seitentisch stand ein silberner Wasserkrug, den Daisy gern genau untersucht hätte, um seine Entstehungszeit festzustellen. Doch die Höflichkeit zwang sie, ihrer Gastgeberin durch alle Räume zu folgen, die sich zwar in der Größe, aber kaum in der kostbaren Einrichtung unterschieden.
"Es gibt auch noch Bodenräume", sagte Mevrouw der Huizma. "Sie sind voll von ausrangierten Möbeln, aber das würde heute zu weit führen." Sie kehrten ins Erdgeschoss zurück, und als sie den Flur erreicht hatten, klingelte es an der Haustür. Joop kam, um zu öffnen. "Wer mag das sein?" fragte Mevrouw der Huizma verwundert. "Ich erwarte niemanden." Es war jemand, den sie gewiss nicht erwartet hatte - Helene. Sie drängte sich an Joop vorbei und kam mit ausgestreckten Händen auf Mevrouw der Huizma zu, als wollte sie sie umarmen. "Mevrouw der Huiza. Ich komme unangemeldet, aber meine Sehnsucht war einfach zu groß. Sicher vermissen Sie Julian, und wir haben so viel miteinander zu besprechen." Mevrouw der Huizma ergr iff eine der ausgestreckten Hände. "Das ist wirklich eine Überraschung, Helene. Bringen Sie Neuigkeiten von Julian?" "Er hat mir nur kurz mitgeteilt, dass er gut angekommen ist. Ich erwarte auch gar nicht, mehr von ihm zu hören. Wozu auch? Was er da unten tut, interessiert mich nicht." "Das habe ich mir beinahe gedacht", antwortete Mevrouw der Huizma und fuhr auf Englisch fort: "Ich nehme an, Sie haben Daisy bei Julian kennen gelernt?" Helene streifte Daisy mit einem flüchtigen Blick. "Ach ja? Oh, ich erinnere mich. Sie sind das Mädchen aus dem Antiquitätenladen." Mit deutlicher Feindseligkeit fügte sie hinzu: "Haben Sie es schon wieder auf alte Möbel abgesehen?" Daisy dachte nicht daran, auf eine so plumpe Beleidigung zu reagieren, was Mevrouw der Huizma Gelegenheit zu der Bemerkung gab: "Daisy hat mir den Tag über Gesellschaft geleistet. Sie war schon mehrmals mit Julian hier. Er hat ihr einiges von Holland gezeigt."
"Tatsächlich?" Helenes blaue Augen funkelten. Natürlich, während sie in Kalifornien gewesen war! Dieses fade Geschöpf versuchte sie auszustechen, obwohl nicht zu begreifen war, was Julian an ihr fand. Dagegen musste etwas getan werden, doch der Augenblick war ungünstig. "Keiner könnte Ihnen das Land besser zeigen als Julian", sagte sie zu Daisy und lächelte. "Bleiben Sie länger in Holland?" "Das ist noch ungewiss, aber im nächsten Monat werde ich wahrscheinlich nach Hause fahren. Das hängt von Mijnheer Friske ab." Sie waren während der kurzen Unterhaltung ins Wohnzimmer gegangen, wo Helene sich in eine Sofaecke kuschelte, als wäre sie hier zu Hause. Als Bouncer zu ihr lief, stieß sie ihn mit dem Fuß zurück und sagte lachend: "Hu, Julians grässlicher Hund! Wie oft habe ich schon gesagt, dass er in die Küche gehört. Haben Sie ihn jetzt übernommen?" "Julian hat mir Bouncer in Pflege gegeben", antwortete Mevrouw der Huizma. "Er macht mir viel Freude." "Dann werde ich Julian überreden, ihn nach unserer Hochzeit ganz bei Ihnen zu lassen. Hunde sind eine unnötige Belästigung." Mevrouw der Huizma überhörte das. "Bleiben Sie zum Tee, Helene?" fragte sie. "Ich wollte Katje gerade Bescheid sagen." "Nur eine Tasse ... ich muss unbedingt abnehmen. Ich habe in Kalifornien nicht genug aufgepasst, und jetzt hängen alle hübschen Kleider, die ich mitgebracht habe, im Schrank." Sie lachte kokett und betrachtete den eleganten Hosenanzug, der ihre magere Figur noch betonte. Flach wie ein Brett, dachte Daisy. Auf einem Bügel würde der Anzug schicker aussehen. Der Gedanke tat ihr wohl. Sie neigte nicht zu Gehässigkeit, aber Helene war ein Ekel, und warum Julian sie heiraten wollte, konnte Daisy beim besten Willen nicht verstehen.
Der Gedanke an Julian brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht, das Helene mit Unbehagen bemerkte. Worüber hatte diese dumme Gans zu lächeln? Ein Argwo hn blitzte in ihr auf. "Hat Julian Ihnen geschrieben?" "Mir?" fragte Daisy erstaunt. "Warum sollte er das tun? Wer so beschäftigt ist, schreibt nur an seine Nächsten." Helene verzog schmollend den Mund. "Ich hätte nicht gedacht, dass er einfach so auf und davon gehen würde." "Als Arztfrau müssen Sie auf so etwas gefasst sein, Helene", sagte Mevrouw der Huizma ernst. Helene machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es wird mir schon gelingen, das zu ändern, wenn wir erst verheiratet sind. Julian drängte vor seiner Abreise auf einen Termin, aber wir brauchen wirklich nichts zu überstürzen. Die Zeit, Hausfrau zu spielen, kommt immer noch früh genug." Daisy fragte sich, ob Helene jemals in der Lage sein würde, eine Hausfrau zu sein. Sicher würde es ihr nicht schwer fallen, die Angestellten herumzukommandieren, aber würde sie auch eine gute Ehefrau und Mutter sein? Daisy hielt das für ziemlich unwahrscheinlich. Bei dem Gedanken, welche trostlose Zukunft vor Julian lag, wurde ihr ganz elend. Aber vielleicht empfand er es nicht so, weil er Helene liebte. Daisy ließ sich Tee einschenken und nahm höflich an dem Gespräch teil, das sich zwischen Mevrouw der Huizma und Helene entspann. Sie liebte Julian, aber deshalb durfte sie nicht wünschen, er möge Helene aufgeben. Während sie noch überlegte, wie sie sich am besten verabschieden könnte, sagte Mevrouw der Huizma: "Daisy und ich haben uns für heute Abend noch einiges vorgenommen. Wir wollen die Geschichte dieses Hauses studieren. Es gibt alte Bücher darüber und private Aufzeichnungen längst vergessener Familienmitglieder. Alle Unterlagen befinden sich auf dem Dachboden, und wir werden beim Herumkramen ziemlich
schmutzig werden." Sie lächelte Helene an. "Möchten Sie uns vielleicht begleiten?" Helene winkte ab. "Oh nein, vielen Dank. Ich bin heute Abend zum Essen eingeladen und muss mich beeilen. Ich hätte Daisy mitnehmen können, aber so ..." Einige Minuten später verabschiedete sich Helene. An der Tür fragte Mevrouw der Huizma: "Sie melden sich doch, wenn Sie Nachricht von Julian bekommen?" "Oh, damit rechne ich nicht. Ich werde ihm auch nicht schreiben. Er hat sowieso keine Zeit, meine Briefe zu lesen." Sie fixierte Daisy, die ihr daraufhin die Hand reichte, was Helene großzügig übersah. Als sie wieder allein waren, sagte Mevrouw der Huizma: "Es tut mir Leid, dass Helene so unhöflich war. Wollen wir jetzt nach oben gehen und uns ein bisschen umsehen?" "Sollte ich mich nicht auch verabschieden?" "Nur, wenn Sie möchten, Daisy. Ich hatte gehofft, Sie würden noch zum Abendessen bleiben." "Das würde ich sehr gern tun. Ich dachte nur, Sie hätten die alten Bücher erwähnt, um ..." Daisy errötete und schwieg. "Um Helene aus dem Haus zu treiben?" Mevrouw der Huizma lachte. "Das war allerdings meine Absicht, aber deswegen wollte ich Sie trotzdem bitten zu bleiben. Joop wird Sie nach dem Abendessen zurückfahren." Sie verbrachten zwei unterhaltsame Stunden auf dem Dachboden, indem sie alte Papiere durchblätterten, die sorgfältig auf einem Regal geordnet waren. "Ich komme selten herauf", meinte Mevrouw der Huizma. "Als mein Mann noch lebte, gehörte es zu unsern größten Vergnügen, hier herumzustöbern." "Ich finde es faszinierend", stimmte Daisy zu. "Sehen Sie nur diese Rechnung über ein Tafelgeschirr für hundert Personen. Offenbar hat man damals große Gesellschaften gegeben." "Zweifellos. Sie müssen unbedingt wiederkommen, Daisy, und sich weiter nach Herzenslust umsehen. Jetzt wollen wir zum
Abendessen hinuntergehen, sonst bekommen wir es mit Katje zu tun." Mevrouw der Huizma klopfte den Staub von ihrem eleganten Wollkleid und ging voran. Ein wunderbarer Tag, dachte Daisy, als sie später neben Joop im Auto saß. Mevrouw der Huizma hatte sie beim Abschied geküsst und gesagt: "Wie schnell die Stunden vergangen sind, Daisy. Wir müssen das Ganze bald wiederholen." Nachdem Daisy abgefahren war, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb einen Brief an Julian. Dabei dachte sie mehrmals an Helene. Ob sie in den vier Wochen wenigstens einen Brief an ihren Verlobten schreiben würde? "Nein", sagte Mevrouw der Huizma laut zu Bouncer, der neben ihrem Stuhl lag. "Das halte ich für höchst unwahrscheinlich." Helene hatte allerdings nicht die Absicht gehabt, an Julian zu schreiben. Er hatte ihr zwar eine kurze Nachricht zukommen lassen, aber sie hielt es keine swegs für notwendig, darauf zu reagieren. Sie hasste seine Arbeit, und was sie erlebte, interessierte ihn nicht. Er duldete ihre Vergnügungen und die Art, wie sie lebte - immer in der Erwartung, dass sie ihren Lebensstil nach der Hochzeit ändern würde. Diese Absicht hatte sie nie gehabt. Erst heute, nach dem Besuch bei seiner Mutter, mischten sich leise Zweifel in ihre selbstgefällige Sicherheit. Diese elende Daisy hatte es geschafft, sich bei Mevrouw der Huizma einzuschmeicheln, aber ihre wirklichen Absichten galten wahrscheinlich Julian. Ein lächerlicher Gedanke, doch man konnte nicht vorsichtig genug sein. Helene hatte durchaus noch keine Lust zu heiraten. Ihr sorgloses Leben gefiel ihr, aber nur, solange eine Zukunft mit Julian winkte. Sie durfte diese Zukunft keineswegs aufs Spiel setzen. Entgegen ihrer Behauptung schrieb sie Julian einen langen Brief, in dem sie ihr Privatleben kaum erwähnte und nur von
dem Besuch bei seiner Mutter schwärmte. "Daisy war auch da", schrieb sie unter anderem. "Ein so liebes Ding und geradezu brillant, was Antiquitäten betrifft. Sie will bald nach England zurückkehren und dort in absehbarer Zeit heiraten. Ich wette, das ist eine interessante Neuigkeit für dich." Helene war klug genug, nicht mehr über Daisy zu schreiben. Die Andeutung genügte, um Julian jedes Interesse an ihr zu nehmen. Sie beendete den Brief, warf ihn persönlich in den Postkasten und überlegte dann, wie sie ihre Pläne weiter fördern könnte. Ein harmloses Treffen mit Daisy ... ja, das konnte nichts schaden. Daisy war überrascht, als Helene in der Mitte der nächsten Woche anrief und ihr vorschlug, am Sonntag gemeinsam an die See zu fahren. "Wir können unterwegs etwas essen", meinte sie, "und zum Tee wieder hier sein. Sie sollten so viel wie möglich von Holland kennen lernen, bevor Sie nach England zurückkehren." Daisy war zu verblüfft, um gleich die richtige Antwort zu finden. Sie hatte keine Lust, mit Helene einen Ausflug zu machen, aber wie sollte sie ablehnen, ohne unhöflich zu sein? Tausend Entschuldigungen fielen ihr ein, aber keine erwies sich als stichhaltig. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Einladung anzunehmen. "Ein wunderbarer Vorschlag", sagte sie. "Ich komme gern mit." "Ich hole Sie um elf Uhr ab", erklärte Helene. "Sie brauchen sich nicht schick zu machen, wir nehmen nur irgendwo einen kleinen Imbiss." Ich habe gar nichts, um mich schick zu machen, dachte Daisy, nachdem sie eingehängt hatte. Diese Sorge bleibt mir also erspart. Aber warum ist Helene so freundlich? Daisy überlegte hin und he r, ohne eine Erklärung zu finden. Kam der Vorschlag von Julian? Hatte er Helene geschrieben und
sie um den Ausflug gebeten? Nein, dafür gab es keinen Grund, und außerdem fehlte ihm die Zeit. Trotzdem blieb es auffällig, dass Helene ihren Sonntag opferte, um jemanden durchs Land zu fahren, den sie nicht leiden mochte. Oder tat sie Helene vielleicht Unrecht? Plötzlich hatte Daisy ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mehr Sympathie für Julians Verlobte empfand.
10. KAPITEL Helene kam kurz nach elf Uhr in einem leuchtend roten Sportwagen angerauscht. Sie trug einen roten Hosenanzug, eine weiße Lederjacke und sah hinreißend aus. "Sie brauchen sich nicht schick zu machen", klang es in Daisys Ohr, während sie einstieg, aber das hatte wohl nur für sie gegolten. Helene war nicht ausgestiegen und achtete auch nicht auf Mevrouw und Mijnheer Friske, die vom Wohnzimmerfenster aus winkten. Daisy winkte lebhaft zurück und hoffte, dass Helenes Gleichgültigkeit ihre freundlichen Wirtsleute nicht gekränkt hatte. "Hallo, Daisy", sagte Helene mit ihrem bezauberndsten Lächeln. "Waren Sie schon mit Julian in Egmond aan Zee?" Als Daisy verneinte, fuhr sie fort: "Wir fahren zuerst nach Zandvoort, trinken dort Kaffee und nehmen dann die nördliche Küstenstraße." Anfangs fühlte sich Daisy durch Helenes ungewohnte Freundlichkeit verunsichert, aber dann schwand ihr Misstrauen, und am Ende war sie überzeugt, Helene falsch beurteilt zu haben. "Was für ein glücklicher Zufall, dass Julian gerade vorbeikam und Sie aus dem Kanal ziehen konnte", meinte Helene, nachdem das erste Eis gebrochen war. "Und wie seltsam, dass Sie sich bereits kannten. Waren Sie in England öfter zusammen?"
Daisy, die inzwischen von Helenes guten Absichten überzeugt war, erzählte von ihrer Begegnung mit Julian und dem gemeinsamen Spaziergang am Strand. "Ich freute mich natürlich sehr, ihn später wieder zu treffen", fuhr sie fort, und etwas in ihrer Stimme ließ Helene aufhorchen. "Er hat mir sehr geholfen, seit ich in Amsterdam bin." Sie lachte halb verlegen. "I rgendwie führte uns das Schicksal immer wieder zusammen, obwohl wir es gar nicht beabsichtigten." Helene warf hier und da ein Wort ein und ermunterte Daisy zum Sprechen. Die kleine Engländerin hatte sich ganz offensichtlich in Julian verliebt, und das schmeichelte ihm. Damit muss Schluss sein, sagte sich Helene. Noch bevor Julian nach Amsterdam zurückkommt! Nach der Kaffeepause in Zandvoort fuhren sie die Küste entlang und erreichten Egmond aan Zee, wo Helene zum Mittagessen ein besonders exklusives Hotel aussuchte, in dem offensichtlich nur der internationale Jet-Set verkehrte. Daisy war völlig falsch angezogen. Sie bemerkte die spöttischen Blicke, mit denen ihr braunes Tweedkostüm bedacht wurde, das für Amsterdam passen mochte, aber hier, zwischen all den modisch gekleideten Gästen, einfach peinlich wirkte. Wir wollten doch nur irgendwo einen kleinen Imbiss nehmen, dachte sie unglücklich, während der Kellner sie an einen Tisch in der Mitte des Speiseraums führte. Warum mussten wir gerade in dieses Hotel gehen? Helene tat, als bemerkte sie Daisys Unbehagen nicht, obwohl sie es absichtlich herbeigeführt hatte. "Die Speisekarte ist französisch geschrieben", sagte sie übermäßig laut. "Soll ich sie Ihnen übersetzen?" Daisy beherrschte die französische Sprache recht gut und errötete vor Ärger. Helene war bisher freundlich gewesen, aber jetzt änderte sie den Ton und sprach von oben herab. "Ich komme schon zurecht", sagte sie und bestellte ihr Menü in fehlerlosem Französisch. "Wir lernen Französisch in der
Schule", erklärte sie anschließend. "Warum es gerade Französisch und keine andere Fremdsprache ist, weiß ich nicht." "Wahrscheinlich erwartet man von einem gebildeten Menschen immer noch, dass er diese Sprache beherrscht", antwortete Helene milde. Daisy wollte nicht entscheiden, wie das gemeint war. Sie genoss ihr Menü und ließ sich auch durch die Umgebung den Appetit nicht verderben, Von Egmond aan Zee fuhren sie nach Alkmaar und dann quer durch Nordholland zur Gouwzee-Bucht. "Sie müssen Volendam kennen lernen", meinte Helene. "Alle Touristen fahren dorthin, um die traditionellen Trachten zu bestaunen." Sie lachte übertrieben. "Die Welt scheint zu glauben, dass alle Holländer Holzschuhe tragen. Was meinen Sie? Sie sind ja auch eine Touristin." Helene hielt auf dem Marktplatz und ließ Daisy Zeit, sich umzusehen und eine Postkarte zu kaufen, während sie selbst im Wagen sitzen blieb. "Sie werden zu Hause viel zu erzählen haben", meinte sie, als Volendam hinter ihnen lag. "Wissen Sie schon, wann Sie zurückfahren?" Helene hatte das schon vor einer Woche bei Mevrouw der Huizma gefragt, und Daisy wunderte sich, warum sie der Zeitpunkt ihrer Abreise so interessierte. "Ich habe keine Ahnung", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Vielleicht bleibe ich noch einige Wochen, vielleicht auch länger." Helene wechselte das Thema und begann von Kalifornien zu erzählen, was bis Amsterdam genug Gesprächsstoff lieferte. In der City schlug sie eine Richtung ein, die Daisy unbekannt war, was sie zu der Frage veranlasste: "Ist dies eine Abkürzung zu Mijnheer Friskes Haus?"
"Nein", antwortete Helene. "Wir trinken erst bei mir Tee, und anschließend fahre ich Sie nach Hause. Es ist noch früh, und Sie haben sicher Teedurst." "Das ist sehr freundlich." Daisy wäre gern vorher gefragt worden, aber es interessierte sie, wo Helene wohnte. Wahrscheinlich in einem hübschen alten Stadthaus, wie sie es bei Julian kennen gelernt hatte. Helene hielt vor einem modernen Apartmentblock in der Churchillaan. "Da sind wir", erklärte sie und führte Daisy durch den von einem Pförtner bewachten Eingang zum Lift. "Unsere Wohnung liegt im zweiten Stock." Sie verließen den Lift und gingen einen langen, mit Teppichware ausgelegten Korridor entlang. Helene zog einen Schlüssel heraus und öffnete die letzte Tür. Die Wohnung erinnerte in nichts an Julians Heim. Alle Räume gingen ineinander über und waren modern möbliert. Die Teppiche waren so dick, dass man darin versank, und die Gardinen glichen in ihrer Üppigkeit Theatervorhängen. Nicht ein antiker Gegenstand war zu sehen. Helene öffnete eine Doppeltür nach der anderen, bis sie in ein großes Wohnzimmer kamen, wo ein älterer Mann und eine jüngere Frau saßen. Beide drehten sich um, als Helene und Daisy hereinkamen. Helene sagte etwas auf Holländisch und fuhr auf Englisch fort: "Das ist Daisy, eine flüchtige Bekanntschaft von Julian." Zu Daisy gewandt, fügte sie hinzu: "Meine Eltern." Keiner der beiden rührte sich. Daisy trat einen Schritt vor und streckte die Hand aus, was übersehen wurde. "Guten Tag", sagte sie daraufhin und wartete ab, wer zuerst sprechen würde. "Setzen Sie sich", sagte Mevrouw van Tromp. "Wahrscheinlich möchten Sie eine Tasse Tee? Klingle doch bitte, Helene." Sie betrachtete Daisy mit ausdruckslosen Augen. "Machen Sie in Amsterdam Ferien?" "Nein. Ich arbeite in Mijnheer Friskes Antiquitätengeschäft." "Ach ja? Und warum arbeiten Sie gerade in Amsterdam?"
"Weil ich hier mein Wissen erweitern kann." Helene war hinausgegangen und kam ohne die weiße Lederjacke zurück. "Ziehen Sie doch Ihre Kostümjacke aus", forderte sie Daisy auf. "Es ist schon etwas warm für Wintersachen, aber Sie haben sicher nicht viel zum Wechseln. Gehen Sie jemals aus?" Daisy knöpfte die Jacke auf, behielt sie aber an. "Nein", gab sie offen zu. "Tagsüber arbeite ich, und abends studiere ich bei Mijnheer Friske holländische Möbel und holländisches Porzellan." "Arbeiten Sie in England etwa auch?" fragte Mevrouw van Tromp misstrauisch. "Ja. Mein Vater besitzt ebenfalls ein Antiquitätengeschäft." "Wie interessant." Als der Tee hereingebracht wurde, verstummte das Gespräch. Man bot Daisy eine Tasse schwachen Tee ohne Sahne an, und während sie daran nippte, überlegte sie, ob Mijnheer van Tromp sie überhaupt eines Wortes würdigen würde. Offenbar stand er so hoch, dass Verkäuferinnen für ihn nicht existierten. "Sie kennen Dr. der Huizma?" fragte Mevrouw van Tromp nach einer längeren Pause. "Ja. Wir sind uns mehrmals begegnet - drüben in England und hier in Amsterdam." Daisy nahm einen trockenen Haferkeks und wünschte, sie wäre irgendwo auf der Welt, nur nicht hier. Helenes Eltern waren zum Fürchten. Wie konnte Julian auch nur mit dem Gedanken spielen, ihr Schwiegersohn zu werden? Und dann diese Wohnung! In ihrer protzigen Geschmacklosigkeit wirkte sie beinahe vulgär. Wenn Julian das alles übersah oder duldete, musste er Helene sehr lieben. Daisy lehnte eine zweite Tasse ab und sagte zu Helene: "Es war ein schöner Tag, für den ich mich herzlich bedanke. Würden Sie mich jetzt zu Mijnheer Friske zurückbringen? Sonntagabend spielen wir immer Bridge. Eine Nachbarin kommt herüber und übernimmt den vierten Platz."
"Sie spielen Bridge?" fragte Mevrouw van Tromp. Ihr Ton verriet, dass sie das für Verkäuferinnen nicht schicklich fand. Daisy hatte sich bisher mühsam beherrscht, aber noch so eine Bemerkung, und es war aus mit dem schönen Schein. Sie stand lächelnd auf, dankte ihrer missgünstigen Gastgeberin für den Tee und verabschiedete sich. Da Mijnheer van Tromp sie weiter ignoriert hatte, nickte sie ihm nur zu und verließ mit Helene das Zimmer. Auf dem Weg zur Tür sagte Hele ne über die Schulter: "Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie alles etwas einschüchternd finden ..." "Einschüchternd?" wiederholte Daisy. "Warum?" "Nun, unser unterschiedlicher Lebensstil ... Sie müssen sich wie in einer anderen Welt vorkommen." "Durchaus nicht." Daisy unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. "Ich bemerke den Unterschied, aber warum sollte er mich einschüchtern?" "Julian fürchtete, Sie würden sich hier nicht am richtigen Platz fühlen." Helene blieb stehen und drehte sich um. "Wissen Sie, Daisy, wir heiraten im nächsten oder übernächsten Monat. Ich schlug vor, Sie zu der Hochzeit einzuladen, aber Julian ist immer so rücksichtsvoll. Er meinte ... nun ja, Sie müssten sich ein etwas besseres Kleid kaufen - nichts von der Stange - und dann kämen noch die Fahrkarte und das Hotel hinzu. Auch die bescheideneren Hotels sind in Amsterdam teuer." Sie erreichten die Wohnungstür und traten auf den Flur hinaus. "Sicher halten Sie mich für taktlos, weil ich so zu Ihnen spreche", fuhr Helene auf dem Weg zum Lift fort, und ihre Stimme klang beinahe ehrlich. "Aber Sie müssen Julian und mich verstehen. Wir möchten Sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen." Im Lift schwiegen sie, und als sie auf die Straße kamen, sagte Daisy: "Ich würde gern zu Fuß gehen." "Ist das nicht sehr weit?"
"Schon möglich, aber ich bin es gewohnt, zu gehen." Daisy streckte die Hand aus. Nichts verriet etwas von den Gefühlen, die in ihr tobten. "Danke für den netten Tag." Das hatte Helene nun doch nicht erwartet. Sie nahm Daisys Hand und begann: "Soll ich Sie wirklich nicht..." Doch Daisy hatte ihre Hand schon zurückgezogen und ging davon. Sie hatte keine Ahnung, welche Richtung sie einschlagen musste, aber das merkte man ihr nicht an. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr vertrautes Heim erreichte. Mevrouw Friske war in der Küche und arrangierte Gebäck auf einem Silberteller. Sie sah lächelnd auf und fragte Daisy in ihrem Gemisch aus Holländisch und Englisch, ob sie einen angenehmen Tag verbracht habe.. "Wir erwarten heute Abend fünf Gäste", fügte sie hinzu. "Meine Schwester mit ihrem Mann und den drei Töchtern. Freuen Sie sich, Daisy. Sie werden endlich einmal mit Gleichaltrigen zusammen sein." Nach Helenes boshaften Bemerkungen tat Mevrouw Friskes Freundlichkeit Daisy besonders wohl, und der Abend wurde tatsächlich ein Erfolg. Daisy wurde vorbehaltlos in den Familienkreis aufgenommen, und da das Englisch der drei Schwestern weitaus besser war als Daisys Holländisch, mangelte es nicht an Gesprächsstoff. Nach dem Essen verteilte sich die Gesellschaft auf zwei Bridgetische. Daisy erhielt eine der Schwestern als Partnerin und harmonierte so gut mit ihr, dass sie wiederholt gewannen. Beim Abschied äußerten alle den Wunsch, Daisy bald wieder zu sehen, worauf Mijnheer Friske bemerkte, dass sie vermutlich bald nach England zurückkehren würde. Das überraschte Daisy. Sie dachte jedoch nicht lange darüber nach, denn der Tag mit Helene beschäftigte sie weit mehr. Eins wusste sie jetzt: Die Einladung zu dem Ausflug war nicht aus Freundlichkeit erfolgt. Helene hatte alles getan, um sie mit ihrem gehobenen Lebensstil zu beeindrucken und ihr einen
niedrigeren Platz zuzuweisen. Daisy bezweifelte, dass Julian die Dinge gesagt hatte, die Helene ihm andichtete. Andererseits gab es keinen Grund für sie zu lügen. Wahrscheinlich hatte auch Julian den gesellschaftlichen Unterschied zwischen ihnen erkannt, aber er hätte sie behutsamer darauf hingewiesen. Vor allem hätte er sie nicht in ein Luxushotel geführt, nachdem er ihr vorher geraten hatte, sich schlicht anzuziehen. Ob es besser war, wenn sie sich nicht wieder sahen? Nach Mijnheer Friskes Bemerkung von heute Abend kam er möglicherweise erst nach ihrer Abreise aus Afrika zurück. Und doch hätte sie ihn so gern noch ein einziges Mal wieder gesehen! "Wo bleibt dein gesunder Menschenverstand?" fragte sie sich laut, als sie schon im Bett lag. "Wie kannst du so dumm sein, von jemandem wie Julian zu träumen? Vergiss ihn und schlaf lieber ein." Trotz dieser Ermahnung dauerte es noch eine Weile, bis der Schlaf sie von ihren Grübeleien erlöste. Montag früh ging Daisy zur Post, um die Karte aus Volendam an ihre Eltern abzuschicken. Anschließend bummelte sie durch mehrere Geschäfte. Sie wollte Geschenke für zu Hause aussuchen, aber nichts gefiel ihr. Sie würde Mijnheer Friske um einen halben freien Tag bitten und zur Kalverstraat fahren. Sie hatte ja noch beliebig viel Zeit. Wie sich herausstellte, war ihre Zeit begrenzt. Am Dienstagabend der nächsten Woche, als der letzte Kunde nach langem Zögern gegangen war, ohne etwas zu kaufen, rief Mijnheer Friske Daisy zu sich. "Ich muss mit Ihnen sprechen, Daisy", sagte er und bot ihr einen Stuhl an. "Sie haben hier gute Arbeit geleistet und zusätzlich viel gelernt. Eigentlich hatte ich Sie bitten wollen, bis zum Herbst zu bleiben, aber inzwischen hat sich eine neue Situation ergeben."
Mijnheer Friske sah Daisy unsicher an, doch sie hielt seinem Blick ruhig stand, obwohl sie von einer bangen Vorahnung beschlichen wurde. "Unsere älteste Nichte - Sie haben Mel neulich Abend kennen gelernt - möchte gern zu mir kommen und ihr Wissen über Antiquitäten erweitern. Sie hat seit langem eine Neigung dazu. Ich habe mit meiner Frau gesprochen, und wir sind uns einig, dass es ganz in unserm Interesse liegt, jemanden aus der Familie ins Geschäft zu nehmen. Kurz und gut ... Mel möchte Ihre Nachfolge antreten, sobald Sie nach England zurückkehren. Es war eine Freude für uns, Sie hier zu haben, Daisy, aber Sie werden einmal das Geschäft Ihres Vaters übernehmen oder vielleicht auch eine unabhängige Karriere machen. Wir werfen Sie nicht hinaus - bitte denken Sie das nicht. Wir werden Sie vermissen, und natürlich erhalten Sie ein erstklassiges Zeugnis von mir. Sie sind mir doch nicht böse, dass ich so offen mit Ihnen spreche?" Mijnheer Friske machte bei den letzten Worten ein so besorgtes Gesicht, dass Daisy sofort antwortete: "Natürlich nicht, Mijnheer Friske. Sie könnten es nicht besser treffen, als dass Mel für Sie arbeitet. Ich hätte ja ohnehin bald Abschied nehmen müssen, nicht wahr? Ich bin hier sehr glücklich gewesen, und ich habe viel bei Ihnen gelernt. Dafür danke ich Ihnen und natürlich auch Mevrouw. Wann würde Mel gern anfangen? In ein oder zwei Tagen ..." Mijnheer Friske atmete auf. "Könnte Mel am Samstag kommen, oder ist das zu früh für Sie? Bitte nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Sie müssen packen, Ihre Fahrkarte besorgen ... Vielleicht haben Sie auch Freunde, von denen Sie sich verabschieden möchten." "Samstag passt mir gut. Ich habe nicht viele Freunde, und den wenigen kann ich schreiben oder sie anrufen. Wenn ich mir vielleicht einige Stunden frei nehmen dürfte ..."
"Selbstverständlich. Ich werde Ihren Vater anrufen und ihm die Situation persönlich erklären. Sie halten mich doch nicht für unfreundlich, weil ich so handle?" Mijnheer Friske wirkte so zerknirscht, dass Daisy sich impulsiv zu ihm hinüberbeugte und seine Wange küsste. "Sie sind einer der freundlichsten Menschen, die mir je begegnet sind", versicherte sie. Beim Zubettgehen überlegte sie sich, wie ihre Rückreise verlaufen würde. Sie würde ein Flugzeug nehmen und ihren Vater bitten, sie in Heathrow abzuholen. Nach Schiphol zu kommen war nicht schwierig. Vom Hauptbahnhof verkehrten regelmäßig Busse dorthin, und sie hatte nur wenig Gepäck. Sie buchte einen Platz für Freitagmittag und kaufte anschließend Zigarren für ihren Vater und ein Seidentuch für ihre Mutter. Der Abschiedsbrief an Mevrouw der Huizma fiel etwas geschraubt aus, denn sie wollte Julian auf keinen Fall erwähnen. Sie dankte noch einmal für die gelungenen Besuche, bestellte Grüße an Bouncer und die Katze und sprach zum Schluss ihre guten Wünsche für die Zukunft aus. Sie hätte Julians Mutter gern persönlich auf Wiedersehen gesagt, aber es erschien ihr klüger, so unauffällig wie möglich zu verschwinden. Der Abschied von Friskes ging Daisy besonders nah. Die lieben Menschen waren ihr ans Herz gewachsen, und es lag nur ein geringer Trost darin, dass sie früher oder später doch hätte gehen müssen. Amsterdam war ein abgeschlossenes Kapitel. Sie verließ nicht nur Friskes, sondern auch Julian und alles, was sie mit ihm verband. Aus den Augen, aus dem Sinn. Der Traum war ausgeträumt. Als Erinnerung blieb nur die Porzellanfigur, die Mijnheer Friske ihr am Vorabend ihrer Abreise als Abschiedsgeschenk übergab. Ein Taxi brachte sie zum Hauptbahnhof, wo der Bus nach Schiphol wartete. Dort herrschte lebhafter Betrieb, und es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtgefunden hatte. Die
Flugziele und Abflugzeiten auf der großen Anzeigetafel wechselten ständig. Sie prägte sich die Nummer ihres Flugsteigs ein und wollte gerade weitergehen, als sie Julian auf sich zukommen sah. Vielleicht hätte sie ihren Koffer nehmen und in der Menge verschwinden sollen, aber sie blieb stehen und wartete, bis er sie erreicht hatte. "Was tun Sie hier?" herrschte er sie an. "Und was soll der Koffer?" Kein Wort der Begrüßung, keine noch so banale Bemerkung über ihr abermaliges Zusammentreffen. Dabei war es beinahe schon mehr als Zufall, dass er gerade heute und um diese Zeit aus Afrika zurückkam. "Ich fliege nach Hause." Daisy war bei Julians Anblick etwas schwindlig geworden. Er kam ihr größer als sonst vor und wirkte trotz der tadellosen Kleidung müde und abgespannt. "War es sehr schlimm? Konnten Sie helfen?" "Zweimal ja." Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. "Warum verlassen Sie uns, Daisy?" "Ich muss mich beeilen, sonst verpasse ich mein Flugzeug." "Es muss einen Grund für Ihre Abreise geben", beharrte er. Daisy errötete, wich seinem Blick aber nicht aus. "Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt und eine Menge gelernt. Eine Nichte von Mijnheer Friske wird meine Stelle im Geschäft übernehmen." "Ist das der einzige Grund? Waren Sie bei meiner Mutter?" "Ja, und wir haben einen wunderschönen Tag verlebt. Einen Sonntag hat Helene mich spazieren gefahren. Es war sehr aufmerksam von Ihnen, sie darum zu bitten. Ich habe viel dabei gelernt." Julians Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Daisy spürte, dass er sich ärgerte. "Ich muss gehen", wiederholte sie. "Ich darf das Flugzeug nicht verpassen. Dad erwartet mich in Heathrow."
Sie hielt Julian die Hand hin, aber statt sie zu nehmen, zog er Daisy in die Arme und küsste sie. Nach einer Weile ließ er sie zögernd los. "Hier entlang", sagte er so ruhig, als wäre nichts geschehen. Er nahm Daisys Koffer und brachte sie zum Abfertigungsschalter. "Da sind wir, Daisy. Weiter darf ich nicht mitkommen. " "Nein, natürlich nicht. Vielen Dank. Auf Wiedersehen." Julian hob die Hand und strich über Daisys Wange. "Kommen Sie gut nach Hause, Daisy." Mehr sagte er nicht, und Daisy drehte sich nicht mehr nach ihm um. Sie reihte sich in die Warteschlange ein und ging mit den anderen Fluggästen an Bord. Dr. der Huizma sah Daisy nach, bis sie verschwunden war, und ging dann auf den Parkplatz hinaus, wo Joop mit dem RollsRoyce wartete. Er begrüßte ihn freundlich, fragte, wie es ihm und den anderen gehe, und übernahm das Steuer. "War es sehr schlimm?" fragte Joop mit der respektvollen Vertraulichkeit eines alten, treuen Hausangestellten. "Sie sollten endlich einmal Ferien machen, Mijnheer." "Ja, es war schlimm, Joop, aber vielleicht habe ich ein bisschen helfen können. Über Ferien wollen wir lieber nicht sprechen. In den letzten Wochen ist zu viel Arbeit liegen geblieben." Zu Hause begrüßte der Doktor Jette und Bouncer, ehe er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um die Post durchzusehen und wichtige Telefongespräche zu führen. Anschließend ging er nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Als er wieder herunterkam, wartete Joop mit Kaffee. Während der Doktor den Kaffee trank, dachte er an Daisy. Hatte sie sich über die Begegnung gefreut, oder war sie nur überrascht gewesen? Ihr Gesicht hatte nichts verraten, aber Daisy gehörte zu den Menschen, die sich selten eine Gefühlsäußerung erlaubten. Wie auch immer, er würde sehr bald
nach England fahren und sie aufsuchen. Vergessen konnte er sie nicht mehr. Er liebte sie innig und wollte sie heiraten. Wenn sie nur einen Bruchteil dieser Liebe für ihn empfand, würde er Helene bitten, ihn freizugeben. Helene ... Erst jetzt dachte er wieder an sie. Es war heute zu spät, um sie aufzusuchen, und anrufen wollte er nicht. Morgen früh musste er ins Krankenhaus, aber im Lauf des Nachmittags würde er zu ihr fahren. Sie mussten sich endlich aussprechen. Bei den ewigen Dinnerpartys, Theater- und Restaurantbesuchen hatte sich nie eine Gelegenheit dazu ergeben. Der Doktor schlief fest, und als er morgens ins Krankenhaus kam, hatte er seine persönlichen Probleme vorübergehend vergessen. Die Sorgen seiner kleinen Patienten nahmen ihn ganz in Anspruch, und der Nachmittag war schon ziemlich weit fortgeschritten, als er endlich in die Churchillaan fahren konnte. "Juffrouw van Tromp?" fragte er, als das Hausmädchen öffnete. Das Mädchen nickte und ging voran. An der Wohnzimmertür sagte der Doktor: "Nein, nicht anmelden" und trat leise ein. Helene saß auf einem der übertrieben ausgepolsterten Sofas und unterhielt sich mit einem Mann, den der Doktor nicht kannte. Bei seinem Anblick sprang sie auf und verbarg ihre Verlegenheit hinter lauten Ausrufen des Entzückens. "Julian, Darling! Bist du zurück? Was für eine unerwartete Freude! Wann..." "Gestern", unterbrach er sie kurz und fixierte den Mann, der ebenfalls aufgestanden war. "Das ist Hank Cutler, wir haben uns in Kalifornien kennen gelernt. Er hat geschäftlich in Amsterdam zu tun und macht mir einen Besuch. Hank, darf ich vorstellen? Julian der Huizma, mein Verlobter." Helene hatte ihre übliche Haltung zurückgewonnen und fuhr fort: "Setz dich, Julian. Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist. Wir sprachen gerade über die Party, die ich anlässlich deiner Rückkehr geben will."
Julian blieb so betont stehen, dass Hank sagte: "Ich muss gehen. Ihr beide habt euch bestimmt viel zu erzählen. Wie ich höre, waren Sie in Afrika. Sehr interessant..." "Wenn Sie es interessant finden, Babys und kleine Kinder sterben zu sehen, gewiss", antwortete Julian, und Hank floh aus dem Zimmer. "Musstest du so bissig sein?" fragte Helene heftig. Sie sah besonders hübsch aus, und der Zorn belebte ihr makelloses Gesicht. "Ich bitte um Entschuldigung." Julian ließ sich in einen Sessel fallen. "Ich muss lernen, meine Ansichten für mich zu behalten." "Allerdings - zumindest wenn sie so fragwürdig sind und meine Freunde kränken. Hank kommt jetzt bestimmt nicht zu meiner Party." "Ich wahrscheinlich auch nicht", erklärte Julian gelassen. "Wie ist es dir inzwischen ergangen?" "Ich habe eine Woche lang Wasserkur gemacht, du weißt ja, wie erschöpft ich war. Und dann die Ausstellung, von der ich dir erzählt habe ... schrecklich viele Leute waren da. Dazu das ermüdende Einkaufen ... Oh, einmal habe ich bei deiner Mutter Tee getrunken. Diese Daisy war auch da, um sich die Möbel anzusehen. Ich traue diesen stillen Wassern nicht. Sich das Vertrauen deiner Mutter zu erschleichen ..." "Warum sollte Daisy das tun?" fragte Julian ruhig. "Weil sie ehrgeizig ist und etwas abbekommen oder deine Mutter für sich einnehmen will. Ich habe sie einen Sonntag eingeladen, um ihr klar zu machen, wie wenig sie zu uns passt." Helene verzog trotzig die Lippen. "Ich habe ihr auch gesagt, dass wir im nächsten Monat heiraten." Als Julian schwieg, setzte sie hinzu: "Vor deiner Abreise hattest du es immerhin ziemlich eilig." "Und du, Helene? Hast du es auch eilig?"
"Wenn du mich so ehrlich fragst, nein. Ich finde, wir können uns Zeit lassen. Du hast deine Arbeit, und ich habe meine Freunde. Lass uns bis zum Herbst warten." Statt darauf zu antworten, fragte Julian: "Warum hast du Daisy eingeladen?" Helene lachte. "Ich sagte ihr, du hättest mich darum gebeten, damit sie noch etwas Nettes erlebt, bevor sie nach England zurückfährt." "Warum hast du das gesagt?" Julian sprach so ruhig wie immer, aber etwas an seinem Ton irritierte Helene. Was fand er nur an dieser Daisy? "Ganz einfach, ich wollte ihr beweisen, dass sie nicht zu uns gehört. Ich glaube, sie hat mich verstanden und trotzdem Spaß gehabt. Sie redete ständig von einem alten Jugendfreund, der nur darauf wartet, dass sie endlich Ja sagt." Das hatte gesessen, aber Helene empfand keinen Triumph, sondern kalte Wut. Wie konnte Julian sich für ein so fades Mädchen interessieren, da er doch sie hatte, die von allen bewundert wurde, gut aussah, teure Kleider trug, Witz und Charme besaß und glänzend in der Gesellschaft dastand? "Vergiss sie, Julian", sagte sie scharf. "Sie gehört zu denen, die wissen, wie man andere ausnutzt." Julian stand auf. "Du irrst dich, Helene. Daisy gehört zu den Menschen, denen man selten begegnet. Sie ist freundlich, aufrichtig und gütig. Verglichen damit, zählt Schönheit nichts." Helene erschrak. Sie eilte hinter Julian her, drehte ihn zu sich um und legte beide Arme um seinen Nacken. "Bester Julian, du kennst mich doch. Ich meine es nie so, wie ich es sage. Ich hoffe, dass Daisy mit ihrem alten Verehrer glücklich wird. Wir schicken ihr ein schönes Hochzeitsgeschenk." Sie lächelte betörend. "Nimm dir frei, Darling, und lass uns zusammen deine Rückkehr feiern. Es tut mir wirklich Leid, bitte sei mir nicht böse. Und was unsere Hochzeit betrifft ... Wir heiraten, sobald du willst. Bist du damit einverstanden?"
Julian betrachtete Helenes Gesicht, das reizender denn je wirkte. "Ich muss sehr viel Arbeit nachholen und möchte vorerst keine Pläne machen. Leb wohl für heute. Ich melde mich wieder." Mehr war im Augenblick nicht zu erreichen, und Helene fragte sich, ob ihre Zukunft wirklich so sicher war, wie sie immer angenommen hatte. Sie durfte Daisy auf keinen Fall wieder erwähnen. Aus den Augen, aus dem Sinn ... darauf musste sie bauen. Sie trat vor den hohen Flurspiegel und betrachtete sich. Nein, dachte sie und fühlte wieder die alte Zuversicht. Eine Miss Daisy Gillard schafft es nicht, mich von meinem Platz zu verdrängen.
11. KAPITEL Seit das Wetter sommerlich geworden war, machte Daisy wieder ihre täglichen Spaziergänge. Sie hatte inzwischen etwas Farbe bekommen, aber auch an Gewicht verloren, und die bläulichen Schatten unter ihren Augen waren nicht zu übersehen. Sie verhielt sich stiller als sonst, ohne niedergedrückt zu wirken. Ihre Sehnsucht nach Julian ging niemanden etwas an. Wenn sie von Holland erzählte, ließ sie keine Einzelheit aus. Nur Julians Name fiel nicht ein einziges Mal. Daisys Vater fiel das nicht weiter auf, dafür machte es ihrer Mutter das Herz umso schwerer. Wieder war ein heller, klarer Tag angebrochen. Der Wind hatte seit dem Morgen aufgefrischt und trieb flockige Wolken über den blauen Himmel. Daisy zog einen Pullover über das schlichte Kleid, das sie im Geschäft trug, band ein Tuch um ihren Kopf und verließ das Haus. Sie war etwas später dran als sonst, denn ihr Vater hatte sie im letzten Moment gebeten, einen kleinen silbernen Handspiegel zu putzen, den er ins Schaufenster legen wollte, um Kunden anzulocken. Trotzdem war sie entschlossen, ihre übliche Runde zu machen - bis zu den Klippen am Strand, dann steil hinauf und über den Uferweg zurück. Sie hatte die Klippen fast erreicht, als sie einen Mann auf sich zukommen sah. Er hatte einen Hund bei sich, der laut bellend
angesprungen kam, um sie zu begrüßen. Es war Trigger, der Hund von Julians Freunden. Daisy blieb abwartend stehen. Das Herz schlug ihr vor Freude bis zum Hals, und doch wäre sie am liebsten da vongerannt, als sie die große, kräftige Gestalt erkannte. Aber wohin? Der Strand bot weit und breit keine Deckung. Julian erreichte sie, bevor sie sich einigermaßen gefasst hatte. "Ein schöner Tag, nicht wahr?" fragte sie überflüssigerweise. Ein warmes Lächeln glitt über sein Gesicht. "Der schönste Tag meines Lebens." "Seltsam, dass wir uns wieder hier am Strand begegnen." Daisy bückte sich und streichelte Triggers Kopf. Warum fiel ihr nicht ein vernünftiges Wort ein? Sie hätte so gern kühl und überlegen gewirkt ... Julian half ihr aus der Verlegenheit. "Ideales Wetter zum Spazierengehen, nicht wahr?" fragte er. "Gehen Sie noch bis zu den Klippen?" Daisy nickte. "Dann erlauben Sie, dass ich Sie begleite. Ich wohne einige Tage bei den Dillings, um mich vom Krankenhausbetrieb zu erholen. Wie gefällt es Ihnen, wieder zu Hause zu sein?" Julian verhielt sich wie ein guter alter Freund, und Daisy schloss sich ihm bereitwillig an. Sie freute sich sehr über das Wiedersehen, obwohl Julian keine übermäßige Begeisterung gezeigt hatte. Warum auch? Er hatte ja Helene. Um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen, fragte sie ihn nach seiner Arbeit in Afrika. Julian berichtete ausführlich darüber, denn er wusste, dass Daisy ihm aufmerksam zuhörte. Erst nach einer Weile fragte er: "Und Sie, Daisy? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?" "Merkwürdig, dass Sie danach fragen", antwortete sie ernst. "Dad und ich haben erst heute Morgen darüber gesprochen, aber bisher ist nichts entschieden." Mehr sagte sie nicht. Warum sollte sie Julian erzählen, dass sie den Plan hatte, in eins der großen Auktionshäuser
einzutreten, um ihre Kenntnisse und damit ihre Berufsaussichten zu erweitem? Um nicht etwa schroff zu erscheinen, fügte sie noch hinzu: "Natürlich müsste Dad dann jemanden einstellen." Julian konnte mit dieser Andeutung wenig anfangen, aber er war ein geduldiger Mann und wollte noch zwei Tage bleiben. Er nahm das allgemeine Gespräch wieder auf, und Daisy überließ sich dem Glück des Augenblicks. Sie warf Stöcke für Trigger und kümmerte sich nicht darum, dass der Wind ihr die Wangen rötete und trotz des Tuchs das Haar zerzauste. Wenn sie mit Julian zusammen war, kümmerte es sie nicht, wie sie aussah. Er achtete ohnehin nicht darauf. Ab und zu ein kurzer Seitenblick das war alles. Sie erreichten die Klippen. Daisy wäre gern weitergegangen, aber es war bald Mittag, und sie sollte ihren Vater im Laden ablösen. "Ich muss umkehren", sagte sie. Julian nickte. "Die Zeit vergeht schnell." Sie sprachen wenig während des Rückwegs und trennten sich an der Ecke Heather Lane. Daisy hätte gern gefragt, ob sie sich wieder sehen würden, aber natürlich schwieg sie. Ein kurzer Abschiedsgruß, dann lief sie die Straße hinunter und verschwand im Laden, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Es ist besser, wenn wir uns nicht wieder sehen, dachte sie, während sie ihrer Mutter half, den Mittagstisch zu decken. Wahrscheinlich hätten wir uns auch heute nicht begegnen dürfen. Ich war so bemüht, ihn zu vergessen, und jetzt... "Hat Dr. der Huizma dich gefunden?" fragte Mr. Gillard beim Essen. "Er kam in den Laden und fragte nach dir. Ich habe ihn zum Strand hinuntergeschickt." "Wir trafen uns kurz vor den Klippen." Daisy war bei der Frage rot geworden. "Es war nett, sich wieder zu sehen. Der Doktor bleibt einige Tage hier, bei den Dillings ..." "Er war so freundlich zu dir, als du in Holland warst", bemerkte Mrs. Gillard.
Daisy wollte nicht, dass er freundlich war. Sie wollte, dass er sie liebte. Der Gedanke beschäftigte sie den ganzen Nachmittag und lenkte sie so ab, dass sie einem Kunden, der sich nicht zwischen einem Sevres-Teller und einem Meißen-Krug entscheiden konnte, riet, den Sevres-Krug zu nehmen. Ob Julian morgen wieder am Strand sein würde? Sie beschloss, wie gewohnt ihren Spaziergang zu machen und alles dem Zufall zu überlassen. Julian hatte kein Wiedersehen angeregt und würde wohl nicht kommen. Doch er kam. Er war sogar schon da und erwartete sie mit Trigger am Fuß der Treppe, die von der Promenade zum Strand hinunterführte. Er begrüßte sie in bester Laune und fragte: "Was halten Sie vom Wetter?" Daisy sah zum Himmel auf. Über ihnen war es noch klar, aber am Horizont braute sich etwas zusammen. "Ob die Wolken in unsere Richtung ziehen?" "Ich fürchte, ja. Würden Sie lieber umkehren?" Daisy schüttelte den Kopf. "Auf keinen Fall. Ich liebe Wind und Regen, auch wenn es etwas schlimmer wird." Sie gingen dicht nebeneinander, und jeder fühlte sich bei dem anderen geborgen. Ab und zu betrachtete Julian Daisys rosiges Gesicht und stellte fest, wie gut es ihm gefiel. Sie hat ihre eigene Art, schön zu sein, dachte er. Kurz vor den Klippen blieben sie stehen und sähen aufs Meer hinaus. Die Wolken hatten sich zusammengezogen und verdunkelten den Himmel immer mehr. "Das sieht nach einem Unwetter aus", meinte Julian. "Wir können es zwischen den Felsen abwarten." Er pfiff nach Trigger und ergriff Daisys Hand. Er hatte die Felsen während der letzten Tage ausgekundschaftet und kannte eine sichere Stelle, die vor dem Wetter Schutz bot. "Sehen Sie nur!" rief Daisy und zeigte aufs Meer hinaus. "Ist das nicht phantastisch?"
Julian nickte. "Ein Wirbelsturm, höchst interessant. Aber kommen Sie jetzt." Er hatte Trigger an die Leine genommen und legte schützend den Arm um Daisy. Sie setzten sich mit dem Rücken gegen die Felsen, die über ihnen ein Dach bildeten. "Wird der Wirbelsturm lange dauern?" fragte Daisy. "Nein. Er wird eine Weile toben, aber hier kann er uns nichts anhaben. Ich hätte früher darauf achten sollen." Daisy schmiegte sich dichter in seinen Arm und war froh, dass er es nicht getan hatte. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr, und plötzlich brach der Sturm los. Er raste über sie hinweg und war von Blitzen und Donner begleitet. Daisy, die sich schon immer vor Gewitter gefürchtet hatte, schloss verängstigt die Augen und barg das Gesicht an Julians Schulter. "Ich habe Angst vor Gewitter", murmelte sie. "Es tut mir Leid." Julian lachte gutmütig. "Keine Sorge. Es geht schnell vorüber, und hier sind wir sicher." Daisy schwankte zwischen Angst und einem wunderbaren Gefühl der Geborgenheit. So neben Julian zu sitzen, seinen Arm zu spüren und von ihm beschützt zu sein ... In ihrem ganzen Leben würde sie diesen Augenblick nicht vergessen. Der Wirbelsturm zog vorüber, und der Donner verhallte in der Ferne. Es regnete heftig, aber über dem Meer zeigte sich bereits wieder blauer Himmel. Julian stand auf und zog Daisy mit sich hoch. "Es ist vorbei", sagte er. "Wir können umkehren." Der Regen ließ etwas nach, nur das Meer tobte weiter und warf hohe Wellen an den Strand. Daisy merkte von all dem nichts. Sie war glücklich, und wenn Julian ihr Gesicht betrachtete seufzte er in sich hinein und hoffte auf ein Wunder. Sein Ehrgefühl verbot es ihm, das Helene gegebene Versprechen
zu brechen. Sie musste von sich aus darauf kommen, dass es ein Fehler wäre, ihn zu heiraten. "Ich fahre morgen Abend nach Holland zurück", sagte er, als sie die Promenade erreichten. "Wie steht es mit Ihrer Zeit? Könnten wir morgen einen Ausflug machen und rigendwo zu Mittag essen?" Daisy blieb stehen. "Morgens gehe ich meist spazieren, und nachmittags löse ich Dad ab." "Wenn ich Sie um zehn Uhr abhole, könnten wir so früh essen, dass Sie rechtzeitig zurück sind." "Einverstanden, Julian - vorausgesetzt, ich bin bis zwei Uhr wieder hier." "Das verspreche ich." Am nächsten Morgen zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite. Kaum eine Wolke stand am blauen Himmel, und es war warm genug, um das Jerseykleid anzuziehen. Daisy war lange vor zehn Uhr fertig, aber sie blieb in ihrem Zimmer, bis ihre Mutter nach ihr rief. Julian saß im Wohnzimmer und schien sich wie zu Hause zu fühlen. "Guten Morgen, Daisy", sagte er freundlich, aber so neutral, dass Mrs. Gillard enttäuscht war. Sie glaubte, die Wahrheit zu kennen, und hätte sich von Julian weniger Zurückhaltung gewünscht. "Wohin fahren wir?" fragte Daisy, als sie im Auto saßen. "Nach Dartmoor. Ich habe im ,Gidleigh Park' außerhalb von Chagford für halb eins einen Tisch bestellt. Wir können also bequem bis zwei Uhr zurück sein." Sie fuhren über Totnes nach Two Bridges und weiter nach Postbridge, wo sie in einem kleinen Cafe" eine Pause einlegten. Dann ging es weiter über schmale, gewundene Straßen, vorbei an Ponys und Schafen, die ihre Lämmer bewachten. "Wollen wir ein wenig spazieren gehen?" fragte Julian nach einer Weile.
"Oh ja, wenn wir genug Zeit haben." Die Sonne schien warm, die Luft war herrlich frisch. Sie gingen schnell, und da das hohe Gras die Schritte behinderte, hielt Julian Daisys Hand. Daisy fand das nur natürlich. Es war ihr, als wäre sie schon immer so mit Julian durch das sommerliche Land gewandert. "Gidleigh Park" lag in einem schönen Garten direkt am Ufer des Teign. Das Haus verband unauffälligen Luxus mit einer exzellenten Küche und war gut besucht. Der Tisch, den Julian bestellt hatte, stand direkt am Fenster und bot eine schöne Aussicht über den Fluss. Daisy warf einen Blick auf die Speisekarte und traute ihren Augen nicht. Die Preise waren extrem hoch. Julian bemerkte ihre Verwirrung und fragte: "Soll ich für Sie bestellen, oder haben Sie einen bestimmten Wunsch?" "Oh ja, bitte ... bestellen Sie für mich." Mit der Naivität eines Kindes fügte Daisy hinzu: "Ich bin hungrig." "Dann geht es Ihnen wie mir. Was halten Sie von Spinatquiche, Lammkoteletts und einer Nachspeise vom Dessertwagen?" Die Quiche schmeckte köstlich, und zu den Koteletts wurden neue Kartoffeln, gemischtes Gemüse und Brokkoli gereicht. Der Dessertwagen machte Daisy die Wahl schwer. Am Ende entschied sie sich für Schokoladencreme mit Eierlikör und Schlagsahne, während Julian Käse nahm. Der Kaffee wurde in einer kleinen Mokkakanne gebracht, und Daisy übernahm das Einschenken. "Was für ein wundervoller Tag", seufzte sie glücklich. Julian tat etwas Zucker in seinen Kaffee und rührte um. "Daisy", sagte er geradeheraus. "Du weißt, dass ich mich in dich verliebt habe, nicht wahr?" Daisy stellte ihre Tasse vorsichtig hin. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, aber sie hielt seinem Blick stand. "Ich wusste es nicht, aber der Gedanke ist mir schon gekommen. Ich
habe ihn möglichst beiseite geschoben. Du wirst Helene heiraten - schon bald, wie sie mir gesagt hat. Vielleicht liegt alles nur daran, dass du mir immer wieder überraschend zu Hilfe gekommen bist. Ich meine den Kanal, den Raub überfall, den Weinkühler ... Wären wir täglich zusammen, würdest du mich kaum wahrnehmen." Julian schwieg, und so fuhr sie nach einer Pause fort: "Du fährst heute Abend nach Holland zurück. Wir werden uns nicht wieder sehen, und du wirst mich vergessen." "Ist das dein Wunsch?" fragte er nach einer weiteren Pause. "Möchtest du, dass ich dich vergesse?" Daisy nickte. "Nun, das ist tun vernünftiger Entschluss, und unter den gegebenen Umständen zweifellos der richtige. Wir sind beide anderweitig gebunden." "Aber wir bleiben Freunde?" Julian nickte. "Natürlich. Ich wusste nicht, was Helene oder dein zukünftiger Mann dagegen haben sollten." "Mein zukünftiger Mann?" Daisy sah ihn betroffen an. "Es gibt keinen. Kein Mann hat mich je gebeten, ihn zu heiraten." Ein befreites Lächeln glitt über Julians Gesicht. "Man hat mir erzählt, du würdest bald einen alten Jugendfreund heiraten." "Es gibt keinen Jugendfreund. Es gab nur Desmond, und an den kann ich mich kaum noch erinnern." Julian wirkte plötzlich zehn Jahre jünger, "Ich könnte noch viel sagen", erklärte er, "aber jetzt ist nicht der richtige Moment. Unser Gespräch war höchst aufschlussreich, Daisy." Seine unerwartet heitere Laune verwirrte Daisy. Wahrscheinlich ist es mit seiner Verliebtheit schon vorbei, dachte sie niedergeschlagen. Liebte er mich wirklich, würde er sich anders verhalten. Schade, dass ich meine Liebe nicht genauso schnell vergessen kann. Sie stiegen wieder ins Auto und fuhren über die Hauptstraße zurück. Julian plauderte unbefangen, als hätte er Daisy nicht vor kurzem seine Liebe gestanden, die ihnen beiden nur Unglück
bringen konnte. Er begleitete sie in die Wohnung, unterhielt sich noch eine Weile mit ihren Eltern und brach dann auf. Die Höflichkeit verlangte es von Daisy, ihn bis zur Haustür zu bringen. "Ich wünsche dir eine gute Heimreise", sagte sie leise. "Danke für den schönen Tag und das teure Essen. Bitte grüße deine Mutter und Helene von mir." Sie konnte nicht weitersprechen. "Ach, Julian ..." Das hatte er hören wollen - diesen sehnsüchtigen Klang in ihrer Stimme. Ihre Gefasstheit und kühle Freundlichkeit waren nur Fassade. Er sagte nichts, sondern zog sie in die Arme und küsste sie zärtlich. Dann stieg er ohne ein Wort des Abschieds in seinen Rolls-Royce und fuhr davon. Während der nächsten zehn Tage vertiefte sich Dr. der Huizma ganz in seine Arbeit. Er besuchte weder seine Mutter noch Helene und kam abends so spät nach Hause, dass Joop eines Morgens besorgt fragte: "Wollen Sie sich früh zu Tode arbeiten, Mijnheer? Seit über einer Woche haben Sie abgesehen von den Spaziergängen mit Bouncer - keine freie Stunde gehabt. Das ist nicht normal." "Keine Sorge, Joop", antwortete der Doktor. "Heute Abend werde ich Juffrouw van Tromp besuchen." Das beruhigte Joop nur halb. Seit zehn Tagen ging sein Herr nicht aus, und von Juffrouw van Tromp war kein einziger Anruf gekommen. Irgendetwas stimmte nicht. Nachdenklich ging er in die Küche, um sich bei Jette Rat zu holen. Der Zufall wollte es, dass der Doktor am selben Abend einen Anruf von Helene auf seinem Anrufbeantworter vorfand. Sie habe gerade erfahren, dass er seit zehn Tagen zurück sei, hieß es mürrisch, und sie verstehe nicht, warum er sich nicht gemeldet habe. Ob sie wenigstens heute Abend mit ihm rechnen dürfe? Der Doktor war ehrlich genug zuzugeben, dass Helene Recht hatte. Er rief sie an und hörte geduldig zu, bis sich ihre Empörung gelegt hatte. "Ich esse heute Abend mit Freunden", erklärte sie zum Schluss. "Komm also nicht vor neun Uhr, aber
auch nicht später. Ich muss morgen früh aufstehen. Die De Groots haben mich zum Wochenende nach Amersfoort eingeladen." Damit hängte sie ein. Der Doktor aß das Menü, das Jette für ihn gekocht hatte, machte einen kurzen Spaziergang mit Bouncer und fuhr dann zur Churchillaan. Helene saß in dem pompösen Wohnzimmer und erwartete ihn. "Kommst du endlich, Julian?" empfing sie ihn ungnädig. "Warum habe ich nicht erfahren, dass du zurück bist?" Sie hielt ihm die Wange hin, und er drückte einen flüchtigen Kuss darauf. "Du hättest nur im Krankenhaus oder bei mir zu Hause anrufen müssen", erklärte er dann freundlich. "Mein lieber Julian. Erwartest du etwa, dass ich meine Zeit am Telefon verbringe? Ich habe, weiß Gott, andere Dinge zu tun." "Ich auch, Helene." Julian setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. Helene hatte sich schmollend in eine Sofaecke geworfen und sah hübscher denn je aus. "Ja, ja, ich weiß. Vergiss die Arbeit, und lass dir von den Partys erzählen, die ..." "Während ich bei den Dillings war, habe ich Daisy besucht", unterbrach er sie. "Warum hast du mir erzählt, sie würde heiraten? War das ein Scherz, oder hast du dich geirrt?" "Natürlich ein Scherz. Wie soll jemand wie Daisy einen Mann finden? Kein Gesicht, keine Garderobe und immer nur alte Möbel ..." Helene sah Julian scharf an. "Wie auch immer, sie ist wieder da, wo sie hingehört. Du kannst sie vergessen." Helene merkte, dass Julian ihr nicht konzentriert zuhörte. Eisiger Schreck durchfuhr sie. Hatte er erfahren, dass sie in letzter Zeit viel mit Hank Cutler zusammen gewesen war? Sie lächelte und fuhr fort: "Daisy ist ein so nettes Mädchen. Bestimmt wird sie bald einen Mann finden. Wie steht es mit deiner Arbeit? Hast du schon von der neuen Klinik in Afrika gehört?"
Helene konnte sehr charmant sein, und sie zog jetzt alle Register. "Ich lasse uns Kaffee bringen", sagte sie, "und dann erzähle ich dir, was wir in nächster Zeit vorhaben." Sie bemerkte Julians Stirnrunzeln und fuhr schnell fort: "Ich habe jeweils nur für mich zugesagt und deine Teilnahme offen gelassen." Julian musste einsehen, dass Afrika und die neue Klinik bereits vergessen waren. "Ich werde in den nächsten Wochen wenig freie Zeit haben", erklärte er. Helene beugte sich vor. "Du fährst doch nicht wieder nach Afrika? Das erlaube ich nicht. Du bist gerade erst zurückgekommen. Du solltest mir mehr Zeit widmen, Julian, mich zum Essen ausführen, zu Freunden begleiten ..." Julian sah sie kalt an. "Hast du dir bei unserer Verlobung nicht klar gemacht, dass ich nicht immer frei über meine Zeit verfügen kann? Kinder werden in den ungünstigsten Augenblicken krank. Sie brechen sich Arme und Beine, sie verbrühen sich und bekommen hohes Fieber, ohne mich vorher zu fragen, ob es mir passt." Julian sprach so ruhig wie immer, aber Helene spürte seine Gereiztheit. Sie musste vorsichtig sein, sonst verlor sie ihren Einfluss auf ihn. "Julian, Darling", schmeichelte sie. "Du missverstehst mich. Natürlich kommt deine Arbeit zuerst, und das wird auch nach unserer Hochzeit so bleiben. Ich werde dir eine Musterfrau sein. Ich werde Gesellschaften geben, auf denen du einflussreiche Leute kennen lernst. Du ahnst nicht, wie stolz ich auf dich bin. Ich möchte, dass du weltweit berühmt wirst, nicht nur in Holland und Europa. Ich kann dir helfen, Julian, das weißt du." Helene redete weiter, aber Julian hörte ihr nicht zu und sah auch nicht, wie verführerisch sie vor ihm auf dem Sofa lag. Im Geist tauchte eine andere Frau vor ihm auf, eine Frau mit großen Augen und braunem Haar ... Es wäre sinnlos gewesen, jetzt mit Helene über die Zukunft zu reden. Julian musste warten, bis sie in ernsthafterer
Stimmung war. Vorläufig ging es nur um Partys, um ein bevorstehendes Wochenende in Amersfoort und um neue Freunde, die sie ihm unbedingt vorstellen wollte. Als er aufstand, blieb Helene bewusst liegen, um ihre reizvolle Stellung nicht zu verändern. Sie lächelte und streckte die Hand aus. "Ich bin zu erschöpft, um aufzustehen, Julian. Ruf mich an, wenn du einen freien Abend hast. Montag früh bin ich zurück." "Genieße das Wochenende, Helene." "Oh, das werde ich. Die De Groots sind reize nd ... Wenn du nur mitkommen würdest!" Der Doktor fuhr nach Hause, machte noch einen kurzen Spaziergang mit Bouncer und setzte sich dann in sein Arbeitszimmer. Es war unmöglich gewesen, vernünftig mit Helene zu sprechen. Wahrscheinlich hatte sie gar keine Vorstellung von dem Leben, das sie nach der Hochzeit führen würde. Sie kannte nur gesellschaftliche Vergnügungen und ahnte nicht, was sie erwartete. Wenn es ihm gelang, ihr das klar zu machen, würde sie die Verlobung vielleicht von sich aus lösen. In der Mitte der nächsten Woche gelang es dem Doktor, sich einen Abend freizunehmen. Er rief Helene an, um sie zum Essen einzuladen, aber sie war bereits verabredet. "Der Wohltätigkeitsball in Scheveningen, Julian ... ich kann einfach nicht absagen. Zwei königliche Prinzen werden da sein. Ruf mich wieder an. Wollen wir den Sonntag zusammen verbringen?" Der Doktor legte auf und blätterte in seinem Terminkalender. Freitagnachmittag sah es günstig aus. Er würde Helene besuchen und endlich mit ihr sprechen. Sie wollte abends ins Theater gehen und ruhte sich vorher vermutlich aus. Doch Helene war unterwegs, als der Doktor kurz nach drei Uhr in der Churchillaan eintraf. Das Hausmädchen, das ihn
hereinließ, wusste nicht, wann sie wiederkommen würde, und fragte, ob er warten wolle. Der Doktor bejahte das und ging ins Wohnzimmer, wo er es sich in einem der tiefen Sessel bequem machte. Er hatte selten Zeit, vor sich hin zu träumen. Wie es Daisy wohl erging? Sicher war sie jetzt im Geschäft, in ihrem schlichten Kleid und mit streng zurückgebundenem Haar. Entweder bediente sie gerade einen Kunden, oder sie reinigte eine seltene Kostbarkeit, die ihr Vater kürzlich erworben hatte. In jedem Fall wirkte sie ernst und konzentriert, als gäbe es außerhalb des väterlichen Antiquitätenladens keine andere Welt... Von draußen ertönten Stimmen. Helene kam in Hanks Begleitung zurück. Sie fuhr dem Hausmädchen so scharf über den Mund, dass es verdrossen schwieg und die Anwesenheit des Doktors nicht meldete. Lachend näherten sich Helene und Hank dem Wohnzimmer. "Liebster Hank", sagte Helene laut, "natürlich werde ich Julian heiraten. Er hat alles, was ich will: Geld, den richtigen Namen und einen angesehenen Beruf, der ihn so in Anspruch nimmt, dass ich tun kann, was mir gefällt. Wir beide können uns treffen, wann es uns beliebt. Ich werde in zwei Welten leben und von beiden das Beste haben." Der Doktor erhob sich aus seinem Sessel. Er war ein großer Mann und wirkte jetzt noch größer. "Ich muss dich leider enttäuschen, Helene", sagte er seelenruhig. "Deine eigene Welt wird dir bleiben, aber auf meine musst du leider verzichten." Helene wurde kreidebleich. "Julian!" rief sie. "Warum hat man mir nicht gesagt, dass du da bist? Ich habe nur Spaß gemacht." Sie wandte sich an Hank. "Nicht wahr? Sag, dass es nur Spaß war." Hank lächelte verlegen. "Ich widerspreche einer Dame nicht gern, Helene, aber es schien mir doch, als hättest du jedes Wort ernst gemeint. Vielleicht ist Dr. der Huizma großzügig genug, das zu übersehen, vielleicht auch nicht. Ich kann nur eins sagen:
Mir fehlt zwar die lange Ahnenreihe, aber ich besitze in Kalifornien ein schönes Haus, und ich habe Geld ... das weißt du." Der Doktor ging zur Tür. "Damit wäre dann alles zufriedenstellend gelöst. Du gibst mir mein Wort doch zurück, Helene? Ich wünsche euch beiden eine glückliche Zukunft." Das Hausmädchen öffnete ihm die Wohnungstür und wunderte sich, dass er lächelte. Sie mochte den Doktor und wünschte ihm eine bessere Frau als Juffrouw van Tromp. Der Doktor sagte ihr freundlich Lebewohl, fuhr nach Hause und ließ sich von Joop den Tee bringen. Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch, um seine Termine neu einzuteilen. Er wollte die Reise nach England auf keinen Fall länger aufschieben.
12. KAPITEL Um dieselbe Zeit erhielt Daisy einen Brief von ihrer Cousine Janet, die in Totnes verheiratet war und zwei Kinder hatte. "Janet bittet mich, für einige Tage zu ihr zu kommen", berichtige Daisy ihrer Mutter. "Jack ist von seiner Firma ins Ausland geschickt worden, beide Kinder haben Windpocken, und Janet kämpft gegen eine Grippe. Was rätst du mir?" "Natürlich musst du hinfahren", entschied Mrs. Gillard ohne Zögern. "Mrs. Coffin kann dich im Geschäft vertreten. Sie ist unbedingt zuverlässig, obwohl sie nie etwas verkauft. Die arme Janet. Sie wird dich sehnsüchtig erwarten." Also packte Daisy ihre Reisetasche, fuhr mit dem Bus nach Totnes und stieg die steile Straße hinauf, die zu dem hübschen alten Haus der Andersons führte. Es war vor etwa hundert Jahren gebaut worden und hatte, ebenso wie die Nachbarhäuser, der Zeit fast unbeschädigt widerstanden. Alle Häuser standen direkt an der Straße, hatten dafür aber große Gärten, die in freies Feld übergingen. Daisy öffnete die unverschlossene Haustür und rief: "Hallo? Ich bin es. Daisy!" Janet kam die schmale Treppe heruntergelaufen. "Oh Daisy, du Engel! Ich habe dich nur ungern hergebeten, aber mir fiel niemand anders ein. Da sind meine Freundinnen, aber ihre Kinder haben noch keine Windpocken gehabt und würden sich anstecken." Sie sah Daisy ängstlich an. "Du bist doch immun?"
"Keine Sorge", versicherte Daisy. "Sind die Kinder im Bett? Du siehst aus, als gehörtest du auch dorthin." Sie stellte die Tasche ab und zog ihre Jacke aus. "Jetzt bin ich da, und du kannst dich hinlegen. Sag mir nur noch, was eingekauft werden muss." "Bis morgen ist genug im Haus." "Hast du den Arzt benachrichtigt?" "Er kommt heute Nachmittag." "Gut, dann kann er euch alle drei untersuchen," Daisy ging in die Küche. "Sobald du im Bett liegst, bringe ich dir eine Tasse Tee hinauf. Dann sehe ich nach James und Lucy." Nachdem Janet versorgt war, kümmerte sich Daisy um die Kinder. Sie wusch ihre erhitzten, verweinten Gesichter, machte ihre Betten und zog ihnen frische Nachthemden an. Beide verlangten nach Eiscreme, die reichlich im Kühlschrank vorhanden war, und schliefen dann erschöpft ein. Daisy trug ihre Tasche in das kleine Gästezimmer an der Rückseite des Hauses und bereitete für Janet und sich ein Spätes Mittagessen zu. Kurz danach erschien Dr. Hobson. Er erklärte, die Windpocken verliefen völlig normal, und die Kinder könnten nach zwei bis drei Tagen wieder aufstehen. Janet verordnete er ebenfalls Bettruhe. "Es ist Grippe", sagte er. "Nicht schlimm, aber Vorsicht ist in solchen Fällen immer angebracht." Er schrieb ein fiebersenkendes Mittel auf, riet, möglichst viel Saft und Kräutertee zu trinken, und verabschiedete sich. "Gut, dass Mrs. Andersen jetzt Hilfe hat", sagte er beim Abschied zu Daisy. "Ich komme übermorgen wieder vorbei. Sollten Sie sich Sorgen machen, können Sie mich jederzeit anrufen." Daisy holte die Tabletten aus der Apotheke, versorgte die Kinder für die Nacht und trug das Abendessen zu Janet hinauf. Nachdem auch hier alle Wünsche erfüllt waren, sah sie unten
noch einmal nach dem Rechten und ging dann selbst schlafen. Für heute konnte sie nichts mehr tun. Während der nächsten Tage war Daisy voll beschäftigt. Sie musste drei Kranke pflegen, sauber machen, einkaufen, waschen, bügeln und einfallsreich kochen, um den spärlichen Appetit der Patienten zu reizen. Das war harte Arbeit, aber Daisy beklagte sich nicht. Je mehr sie zu tun hatte, desto weniger Zeit blieb ihr, an Julian zu denken. Nur abends, wenn nichts mehr zu tun blieb, als ins Bett zu gehen und zu schlafen, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Der Ausflug nach Dartmoor und vor allem Julians Abschiedskuss beschäftigten sie immer noch. Es war nicht ihre Absicht gewesen, sich so zu verraten, und sie würde sich diese Schwäche niemals verzeihen. Es gelang ihr jetzt kaum noch, sich Julian ohne Helene vorzustellen. Sie sah die beiden beim Abendessen, beim Tanzen und im Theater. Helene würde inzwischen noch schöner sein, denn sie trug die Diamantbrosche ... Daisy ahnte nicht, wie falsch diese Vorstellungen waren. Julians letzter Besuch in der Churchillaan lag schon einige Tage zurück, und er dachte nur noch an seine Reise nach England. Janet erholte sich, sah aber noch blass aus und brauchte Schonung. Auch die Kinder durften wieder aufstehen, was bedeutete, dass sie den Tag über unterhalten werden mussten. Obwohl Daisy beide aufrichtig liebte, wünschte sie manchmal, Dr. Hobson hätte ihnen noch einige Tage Bettruhe verordnet. Je mehr die Bläschen zurückgingen, desto vergnügter lärmten die beiden durchs Haus. Janet, die äußerst reizbar war, bekam Kopfschmerzen davon. Sie lag viele Stunden auf ihrem Bett und kümmerte sich nur um die Kinder, wenn Daisy einkaufen ging. An einem Morgen war es besonders schlimm. Lucy musste sich übergeben, James verschüttete seinen Haferbrei, und Janet blieb liegen, weil die Kopfschmerzen sie wieder plagten. Während Daisy Lucy das Gesicht wusch und den Haferbrei
aufwischte, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, das auch erhört wurde. Jack rief an, um zu sagen, dass er in zwei Tagen zurückkommen würde. Daisy versicherte ihm, dass alle gute Fortschritte machten, brachte Janet eine Tasse Kaffee hinauf und inspizierte den Kühlschrank. Rührei zum Mittag, entschied sie, und für die Kinder anschließend Eiscreme. Heute Nachmittag muss ich unbedingt einkaufen. Hoffentlich geht es Janet bis dahin besser. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Janet rührte das Mittagessen kaum an, und die Kinder mussten zu jedem Bissen überredet werden, weil ihnen das Rührei nicht schmeckte und sie nur nach Eiscreme verlangten. Daisy hatte Lucy gerade auf den Schoß genommen, um sie zu füttern, als laut an die Haustür geklopft wurde. Milchmann und Postbote waren bereits da gewesen. Vielleicht kam jemand, um den Stromzähler abzulesen oder irgendetwas zu verkaufen. Sie beschloss, das Klopfen zu ignorieren, und schob Lucy den nächsten Bissen in den Mund. Das Klopfen wiederholte sich, diesmal noch energischer. Daisy bat James, brav zu warten, setzte Lucy auf ihre Hüfte und ging nach vorn, um zu öffnen. Dr. der Huizma stand auf der Schwelle, so groß und zuverlässig wie immer. Daisy nahm Lucy auf die andere Hüfte und fragte: "Wie kommst du hierher?" Julian antwortete nicht gleich. Alles, was er Daisy hatte sagen wollen, musste bis später warten. Er nahm ihr Lucy ab und fragte: "Darf ich hereinkommen?" "Wir sind gerade beim Mittagessen", antwortete Daisy. "Es gibt Rührei. Wenn dir das genügt..." Julian ging an ihr vorbei in die Küche, setzte sich mit Lucy an den Tisch und fütterte sie weiter. "Also wirklich." Daisy betrachtete ihn erstaunt. Julian sah lächelnd auf. "Hast du vergessen, dass ich Kinderarzt bin?"
Janet hatte das Klopfen und die Stimmen gehört und fragte laut von oben: "Daisy? Wer ist das?" "Ich muss hinaufgehen und ihr Bescheid sagen", meinte Daisy. "Sie ist meine Cousine. Ihr Mann kommt erst übermorgen aus dem Ausland zurück, und es ging ihr nicht gut. Außerdem hatten die Kinder Windpocken." "Also eine echte Familienkrise, so etwas kommt vor. Hast du schon gegessen?" "Ich? Nein. Ich wollte mir später Tee und Toast machen." Daisy errötete. "Du kannst Rührei und Kaffee bekommen, wenn du wartest, bis ich diese beiden Quälgeister ins Bett gebracht habe." Julian blieb gelassen wie immer. "Sag deiner Cousine, wer ich bin, und kümmere dich um die Kinder. Ich besorge uns inzwischen etwas zu essen, und dann besprechen wir, wie ich helfen kann." Als Daisy zögerte, setzte er hinzu: "Keine Widerrede, mein Herz." Daisy ging nach oben und erzählte Janet von Julian. "Wie freundlich", meinte Janet, die an Daisys Gesicht erkannte, wie es zwischen ihr und Julian stand. "Du kannst wirklich Hilfe brauchen. Falls er zum Tee bleibt, werde ich mich aufraffen und ihn begrüßen." Als Daisy wieder herunterkam, verließ Julian gerade das Haus. Sie brachte die Kinder ins Bett, sah noch einmal nach Janet und kehrte in die Küche zurück, wo Julian inzwischen Wunder gewirkt hatte. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. In der Mitte stand eine Fleischpastete - der Stolz des Fleischers an der Ecke -, dazu gab es frischen Salat und Toast. Sogar an eine Flasche Weißwein hatte Julian gedacht. "Setz dich hin, und erzähl deine Geschichte", forderte er sie. auf. "Hoffentlich stört meine Anwesenheit deine Cousine nicht." Daisy sah mit großen Augen auf die Fleischpastete. "Sie will herunterkommen und dich begrüßen, falls du zum Tee bleibst."
"Sehr gut. Dies ist kein Luxusmenü, aber wenn du hungrig bist..." "Das bin ich", gestand Daisy freimütig und ließ es sich schmecken. Julian unterdrückte den starken Wunsch, sie auf die Arme zu nehmen und in einen stillen Winkel zu tragen, um ihr seine Liebe zu gestehen. Die Fleischpastete war wichtiger, das sah er ein. Offenbar hatte Daisy in den letzten Tagen viel zu wenig gegessen. "Das wird dir gut tun", sagte er und schenkte ihr ein Glas Wein ein. "Keine Angst, es ist ein leichter Wein ... genau richtig zu der Pastete." Nach dem Essen räumte Julian den Tisch ab und übernahm auch den Abwasch. "Ich wette, du wäschst zu Hause nie ab", bemerkte Daisy. "Nein", gab er zu, "aber ich weiß, wie es gemacht wird." Er goss das Spülwasser aus, säuberte das Becken und hängte das Geschirrtuch auf. "Und nun wollen wir besprechen, wie wir die Lage hier verbessern können." Daisy zögerte. "Das ist wirklich nett von dir, aber solltest du nicht bei deinen Freunden sein? Ich meine die mit dem Hund ..." "Dillings erwarten mich erst heute Abend. Darf ic h vorschlagen, dass ich vorher das Einkaufen übernehme? Wie ich festgestellt habe, ist der Kühlschrank fast leer." Daisy sah ihn unsicher an. "Ich frage mich immer noch, wie du hierher kommst. Woher wusstest du ..." "Ich besuchte deine Eltern. Sie haben es mir gesagt. Aber lenk bitte nicht ab. Was essen die Kinder außer Rührei? Schreib alles Nötige auf, dann besorge ich es." "Jetzt gleich?" "Ja, Daisy, jetzt gleich. Wenn ich zurück bin, fühlt sich deine Cousine vielleicht wohl genug, um mit uns Tee zu trinken." Daisy merkte, dass Julian entschlossen war, die Regie zu übernehmen, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Es gefällt mir,
entschied sie nach kurzem Überlegen. Ich werde die Liste schreiben, die er verlangt. "Du wirst Geld brauchen." "Keine Sorge, das können wir später regeln." Julian verließ das Haus, und Daisy ging zu Janet hinauf, um ihr alles zu erklären. Janet fühlte sich etwas besser und hörte mit wachsendem Erstaunen zu. "Mit anderen Worten", sagte sie, nachdem Daisy ihren Bericht beendet hatte. "Dr. der Huizma ist aus Holland herübergekommen, um dich zu sehen?" "Nein, nein", wehrte Daisy ab. "Natürlich nicht. Er kommt häufig nach England, denn er arbeitet in mehreren Londoner Krankenhäusern. Er hat Freunde in Salcombe und war öfter in unserm Geschäft. So hat er auch Mum und Dad kennen gelernt. Sie haben ihm gesagt, dass ich hier bin, und da hat er beschlossen, kurz vorbeizukommen." Janet beließ es dabei und sagte nur noch: "Ruf mich, wenn der Tee fertig ist, dann komme ich runter." Doch die Neugier ließ ihr keine Ruhe. Als Julian nach einer knappen Stunde zurückkam, war sie bereits unten und öffnete selbst die Tür. Er stellte sich vor und wurde in die Küche geführt, wo Daisy am Bügelbrett stand. "Sowie ich hiermit fertig bin, gibt es Tee", sagte sie. Julian stellte die Einkaufstaschen auf den Tisch. "Sicher möchten Sie sehen, was ich mitgebracht habe, und alles selbst wegräumen", sagte er zu Janet. "Ich helfe Ihnen dabei." Daisy bügelte weiter und hörte zu, wie sich Julian und Janet unterhielten. Dann wachten die Kinder auf, und Janet ging nach oben, um sie anzuziehen. "Ich werde Wasser aufsetzen", sagte Julian. "Wie häuslich du bist." Daisy war müde, und Julians Hilfsbereitschaft ärgerte sie. Er benahm sich so langweilig wie ein Onkel oder älterer Bruder!
"Nur, wenn es sein muss. Du bist gereizt, Daisy, und außerdem müde. Im Kühlschrank liegt eine Pizza, die nur gewärmt werden muss. Fruchtjoghurt und Pudding für die Kinder sind auch da. Geh heute Abend früh schlafen." Janet brachte die Kinder herunter, und Julian spielte mit ihnen, bis der Tee fertig war. Er versteht es, mit Kindern umzugehen, dachte Daisy, während sie das letzte Nachthemd bügelte. Das ist die Übung durch seinen Beruf. Nach dem Tee stand er auf, wehrte Janets Dank großzügig ab und sagte zu Daisy: "Morgen Abend hole ich dich ab. Ich habe tagsüber in Plymouth zu tun, müsste es aber bis sechs Uhr schaffen." "Ich kann nicht...", begann Daisy. "Doch, du kannst", versicherte er und lächelte so, dass ihr warm ums Herz wurde. "Auf Wiedersehen, Mrs. Andersen. Ihnen und den Kindern weiter gute Besserung." Als Julian fort war, sagte Daisy: "Eigentlich wollte ich Jacks Rückkehr abwarten. Schaffst du es einen Tag ohne mich, Janet?" "Natürlich. Ich fühle mich fast wieder gesund, und die Kinder sind über den Berg. Jack will gegen Mittag kommen, da habe ich genug Zeit, alles vorzubereiten. Du warst ein Engel, Daisy, und dein Dr. der Huizma ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Bist du sicher, dass er dich nicht liebt?" "Vielleicht liebt er mich ein bisschen, aber in Holland wartet eine andere auf ihn." Janet lachte. "Holland ist weit weg, Schatz, und du bist hier. Komm, lass uns das Abendessen machen. Der Kühlschrank ist voll, und ich durfte nichts bezahlen. Er nannte es Dank für meine Gastfreundschaft..." Daisy war fertig, als Julian am nächsten Abend kam. Er brachte Blumen für Janet und ein Kuscheltier für jedes Kind mit, und als Janet ihn bat, jederzeit vorbeizukommen, wenn er in der Gegend sei, dankte er ihr mit dem natürlichen Charme, der ihn nie im Stich ließ.
Die Rückfahrt nach Salcombe verlief schweigsam. Julian begleitete Daisy in die Wohnung, unterhielt sich einige Minuten mit ihren Eltern und verabschiedete sich dann. Daisy brachte ihn zur Tür und reichte ihm die Hand. Wieder ein Abschied, dachte sie dabei, und diesmal bestimmt der letzte. Vielleicht küsst er mich ... Julian küsste sie nicht. Er schüttelte ihr kurz die Hand, stieg in sein Auto und fuhr davon. Daisy kehrte ins Wohnzimmer zurück und begann mit einem ausführlichen Bericht über ihren Aufenthalt bei Janet. Julians unerwarteten Besuch überging sie, soweit das möglich war. "Du hast dir einige Ferientage verdient", meinte ihr Vater, nachdem sie zu Ende erzählt hatte. "Mrs. Coffin kommt noch bis Sonnabend. Du kannst also tun, was dir gefällt." Daisy weinte sich in den Schlaf und wachte früh auf. Ohne die gewohnte Tätigkeit im Laden dehnte sich der Tag endlos vor ihr aus. Sie würde ihrer Mutter beim Saubermachen helfen und das Einkaufen übernehmen. Zum Strand würde sie nicht hinuntergehen. Der Gedanke, dort mit Julian zusammenzutreffen, war ihr unerträglich. Nach dem Frühstück nahm sie Korb und Einkaufsliste und ging zu "Patis Supermarkt" am Kirchplatz. So früh waren noch keine Kunden unterwegs. Sie fragte Mr. Pati nach dem Asthma seiner Frau, den Mandeln seines Sohns und seinen eigenen kleinen Leiden. Das nahm einige Zeit in Anspruch, aber Daisy hatte ja nichts Besseres vor. Nachdem das Thema erschöpft war, holte sie sich einen Einkaufswagen und nahm die Liste zur Hand. Sie griff gerade nach dem Assamtee, der immer ganz oben stand und kaum zu erreichen war, als ihr jemand zuvorkam. "Ein oder zwei Päckchen?" fragte Dr. der Huizma. Daisy drehte sich zu ihm um. Das war endgültig zu viel. Warum konnte er nicht ein für alle Mal verschwinden und sie in
Ruhe lassen? Sie drückte ihre Meinung unverblümt aus, worauf er antwortete: "Ich bin trotz meiner knappen Zeit nach England gekommen, um mit dir zu sprechen, Daisy. In Totnes war das nicht möglich. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dich beim Einkaufen zu begleiten." Daisy stellte zwei Dosen geschälte Tomaten in den Wagen. "Worüber du auch sprechen willst, Julian ... hier geht es nicht." "Oh doch, gerade hier! Der Rahmen ist nicht ideal, aber ich habe nicht genug Zeit, um mir eine romantische Kulisse auszusuche n." Julian warf zwei Dosen Spargelköpfe in den Wagen und ließ eine Packung Ravioli folgen. Daisy suchte gemahlenen Kaffee aus, und ihm nicht zurückzustehen, wählte Julian drei Dosen Katzenfutter. "Wir haben keine Katze", sagte Daisy. "Dann nehmen wir das Futter mit nach Holland. Jettes Katze hat gerade Junge bekommen." Sie gingen langsam zwischen den Regalen entlang. Daisy hatte die Einkaufsliste ihrer Mutter längst vergessen, aber Julian legte ab und zu etwas Beliebiges in den Wagen, der immer voller wurde. Am Ende des schmalen Gangs nahm er Daisys Hand. "Liebstes Herz, würdest du einen Moment stehen bleiben, damit ich dir sagen kann, dass ich dich liebe? Nur deswegen bin ich gekommen." Daisy sah ihn an. "Und Helene?" fragte sie traurig. "Helene hat unsere Verlobung gelöst. Sie wird in absehbarer Zeit nach Kalifornien ziehen und einen Millionär namens Hank Cutler heiraten." "Du hast sie geliebt..." "Vielleicht am Anfang, als wir uns verlobt hatten, aber dann sah ich dich am Strand entlanggehen und wurde dein Bild nicht mehr los. Zuerst dachte ich, ich hätte keine Chance bei dir, aber
als wir uns neulich trennten und du so traurig ,Ach, Julian', sagtest ... Daisy, mein Leben. Willst du mich heiraten und lernen, mich so zu lieben, wie ich dich liebe?" "Oh Julian", seufzte Daisy, und die Antwort genügte ihm, um sie in die Arme zu nehmen und leidenschaftlich zu küssen. "Ja", sagte sie, als sie endlich zu Atem gekommen war. "Natürlich will ich dich heiraten. Ich liebe dich schon so lange." Julian küsste sie wieder. Mr. Pati, der sich taktvoll fern gehalten hatte, kam leise näher, nahm den Einkaufswagen und rollte ihn zur Kasse. Er hatte eine romantische Seele, und er mochte Daisy, aber Geschäft blieb Geschäft. Ein viel versprechender Tagesbeginn, dachte er zufrieden und tippte die Beträge ein.
-ENDE