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Klaus Störtebeker Band 4 Verliebt und vogelfrei von Gloria von Felseneck Er war an kein Gesetz gebunden. Er gehorchte einzig seinem Gewissen. Eine Frau als blinder Passagier wurde zum Problem...
»Wer vermag gegen Gott und Nowgorod?« Dieses im ganzen nördlichen Raum bekannte Sprichwort machte allen Seefahrern und Kaufleuten klar, welches große Ansehen diese Stadt in der ganzen Welt hatte. Sie hatte sich im Gegensatz zu Kiew ihre Selbständigkeit bewahrt und war als Hansestadt der wichtigste Umschlaghafen im Osten geworden. Sie hatte der Macht so mancher Fürsten widerstanden, genauso wie dem Ansturm der Tataren und der Schweden. Auch der machtgierige Deutschritterorden war von Alexander Newsky auf dem Eise des Peipussees besiegt worden. Eine Fahrt nach Nowgorod war sehr beschwerlich. Sie war es auch für die Mannschaft der ›Maria Anna‹ gewesen, aber alle Mühen und Anstrengungen waren schnell vergessen, als man die farbenfrohen, seltsam geformten Kirchenkuppeln erblickte, die mächtige Stadtmauer und die kunstvollen Holzhäuser sah und vor allem die Menschen betrachtete. Die Männer trugen lange Barte und farbige Röcke, die ihnen bis auf die Schuhspitzen reichten, die Krieger schmückten sich mit glitzernden Rüstungen und prächtigen Schutzschilden und die Frauen flanierten in langen bunten und bestickten Kleidern durch die Straßen. Die Stadt schien überaus reich und mächtig zu sein. Von hier aus führten die Handelswege vom Norden Europas bis zum fernen Asien, zu den Ländern des Kaukasus, nach Persien und zum Schwarzen Meer. Mehr als zwei Wochen waren Klaus, Goedecke und die übrigen Schiffsleute in dieser Stadt geblieben, hatten ihre Beute vertauscht oder verkauft und hatten dann die Heimreise angetreten, mit Kurs auf Lübeck. An Bord lagerten nun russische Pelze, Seidenstoffe, Spezereien und Teppiche aus dem Morgenland, Waffen und Handwerkszeug sowie Fässer mit Bier und Wein und getrocknetem Fisch. Anfangs hatte eine steife Brise ihre Fahrt begünstigt, doch dann war das Meer immer ruhiger geworden, viel zu ruhig, so als würde es schlafen. Für die Mannschaft war die Flaute Anlass genug, längst fällige Ausbesserungsarbeiten an Segeln und Tauen vorzunehmen oder einfach nur an Deck herumzulungern, zu faulenzen und dabei Kräfte für den nächsten Kampf zu sammeln. Klaus fluchte jedoch über das Wetter und die andauernde Windstille. 4
»So kommen wir nicht in Fahrt«, stellte er an diesem Abend seufzend fest und blickte zu Goedecke, der lang ausgestreckt auf seinem Strohsack lag. »Die Segel hängen so schlaff herab wie Lämmerschwänze. Wenn das so weitergeht, werden wir wohl tagelang in dieser gottverdammten Gegend verbringen müssen, ohne weiterzukommen oder irgendwelche Beute zu machen.« Der Kapitän gähnte laut und ungeniert und sagte dann spöttisch: »Es ist doch nicht das Meer allein, das dir Magendrücken bereitet, sondern vor allem der neue Steuermann. Ich verstehe gar nicht, was du gegen den Kerl hast.« Klaus, der bis jetzt unruhig in der Kajüte hin und her gegangen war, blieb abrupt stehen und erwiderte zornig: »Ich kann dir genau sagen, was ich gegen diesen Burschen habe. Er mag ja ein tüchtiger Seemann sein und jung und kräftig ist er auch, aber er ist so falsch wie ein Fuchs und wird uns viel zu schaffen machen, wenn wir nicht auf ihn aufpassen.« »Wir??«, dehnte Goedecke sichtlich verärgert. »Du meinst doch nur mich, denn du wirst in Kürze dein eigener Herr sein, willst ja selbst ein Schiff führen.« »So war es ausgemacht, Goedecke, vor Jahr und Tag schon, damit wir uns gegenseitig zur Hilfe kommen können, wenn es mal brenzlig wird. Und mit diesem Karsten Studer wird es irgendwann einmal brenzlig, mit dem wirst du nur Verdruss haben, das sage ich dir heute schon.« »Du siehst Gespenster und redest dir etwas ein. Die Männer mögen ihn, weil...« »... weil er ihnen zum Munde redet, jetzt noch«, unterbrach Störtebeker seinen Freund. »Bald wird er Zwietracht säen, wird die Leute gegeneinander aufhetzen und dich um dein Schiff und vielleicht sogar um deinen Kopf bringen, Goedecke.« »Ach was! Die Leute stehen zu mir, da kann kommen, was will. Die werden sich von so einem jungen Spunt nicht aufwiegeln lassen. Aber so weit kommt es nicht. Ich werde ihm schon auf die Finger schauen, wenn es dich beruhigt, Klaus.« Goedecke gähnte noch lauter, drehte sich dann auf die andere Seite und brummte dann noch: »Leg 5
dich auch hin, Klaus. Vielleicht frischt die See bald auf. Dann sind wir binnen weniger Tage in Lübeck.« Störtebeker fluchte leise vor sich hin, während nun auch zu seinem Lager ging. Er befreite sich von Wams, Hosen und Stiefeln, legte sich behaglich und zog eine Felldecke über sich. Seelenruhig schlafen oder gar schnarchen wie Goedecke konnte er allerdings nicht. Viel zuviel ging in seinem Kopf herum, was ihm Sorgen machte. Warum nur erkannte sein Freund nicht, dass der neue Steuermann hinterhältig und nur auf sich selbst bedacht war? So einer hatte auf dem Schiff von Goedecke Micheel und Klaus Störtebeker nichts zu suchen - weiß Gott nicht. Aber er, Klaus, hatte nicht das Recht, den zwielichtigen Neuzugang im nächsten Hafen von Bord zu weisen, das konnte nur der Kapitän des Schiffes. Und da er, Klaus, an dieser Situation nichts ändern konnte, beschäftigte er sich in Gedanken mit seinem Schiff, mit seiner Kogge, die zur Zeit für Klaus Derenborg in Lübeck gebaut wurde und ›Sancta Barbara‹ heißen sollte. So hatte er es jedenfalls damals gesagt, als er den Bau des Schiffes in Auftrag gegeben hatte. Er hatte sich jedoch schon längst einen anderen Namen überlegt, einen, der viel besser zu ihm und seinem Handwerk passte - ›Roter Teufel‹. Klaus lächelte ein wenig, auch über sich und seine Schwäche, sich allzu gern ein scharlachrotes Wams, ebensolche Hosen und rotbraune Stiefel anzuziehen. Ja, ›Roter Teufel‹ war ein vortrefflicher Name. Wenn das Schiff erst Lübeck verlassen hatte, dann würde er Heiligland ansteuern und dort die Namensänderung vornehmen lassen. Hoffentlich gelang es ihm bald, eine gute Mannschaft anzuheuern. Wackere Burschen sollten es sein, die mit ihm durch dick und dünn gingen und sich weder vor dem Tod noch vor dem Teufel fürchteten. Klaus fielen nun doch die Augen zu, er bemerkte kaum noch, dass Wind aufkam und die Segel blähte, er dachte nur: Bald sind wir in Lü-
beck und dann werde ich endlich mein Schiff sehen.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war die ›Maria Anna‹ schon ein gutes Stück vorangekommen und somit war das Ärgste, was einem Seemann passieren konnte – die völlige Windstille - nicht eingetreten. 6
* »Was willst du?« Goedecke Micheel, der auf einem leeren Bierfass gesessen und das Meer beobachtet hatte, richtete sich zu imponierender Größe auf und traktierte den vor ihm stehenden Gerd Windmaker mit wütenden Blicken. Der Waffenmeister ertrug den Zorn des Kapitäns mit vorgetäuschtem Gleichmut und wiederholte: »Ich will mit Klaus gehen, wenn er in Lübeck sein Schiff zu Wasser lässt. Du hast gute Leute, Kapitän, aber Klaus muss sich diese erst suchen. Ich möchte ihm zur Seite stehen.« »Er hat dich abgeworben, der falsche Hund!« »Das habe ich nicht.« Klaus Störtebeker war lautlos zu den beiden getreten, legte nun eine Hand auf Windmakers Schulter und setzte nachdrücklich hinzu: »Ich werbe dir nicht die Leute ab, Goedecke. Das habe ich nicht nötig. Wenn Gerd aber aus freien Stücken mit mir gehen will, dann freut es mich. Einen wie ihn kann ich brauchen.« Diese Argumente milderten die Wut des Kapitäns nicht. Er hatte schlecht geschlafen und war so gereizt wie ein Stier, der das rote Tuch vor sich sieht. »Ihr seid beide gegen mich«, brüllte er, schnappte sich den Waffenmeister, schüttelte ihn derb und stieß ihn dann zu Boden. »Weshalb sollten wir gegen dich sein?« Störtebeker half Gerd beim Aufstehen und stellte sich dann schützend vor ihn, ehe ihn ein weiterer Hieb auf die Schiffsplanken werfen konnte. »Wir wollen nur unseren eigenen Weg gehen. Lass uns also bitte beide in Frieden ziehen.« »Ja, ja, schon gut, du hast mir ja rechtzeitig gesagt was du vorhast«, schnauzte Goedecke ihn an. »Aber der da«, er wies auf Gerd Windmaker, »der da ist ein Abtrünniger, ein Verräter, den ich auspeitschen lassen werde. Dabei wird ihm die Sehnsucht nach einem anderen Schiff schon vergehen.« »Das solltest du lieber nicht tun, Goedecke«, warnte Klaus, ehe der aufgebrachte Kapitän einen entsprechenden Befehl an die neugierige Mannschaft geben konnte. »Wir hatten beim letzten Überfall Ver7
luste und Sven und Fietje sind immer noch krank. Und Gerd wird auch tagelang kampfunfähig sein, wenn du ihn windelweich prügeln lässt.« »Dann müssen die anderen eben mehr arbeiten, oder ich werde selbst die Waffen putzen, ich werde sogar in den Mastkorb steigen, ich werde...« »Lass es gut sein, Goedecke«, zischte Klaus ihm leise zu. »Wahre dein Gesicht und lass Gerd jetzt wieder auf reinen Posten zurück kehren. Du brauchst doch jeden Mann, bis du in Lübeck neue Leute anheuern kannst.« Der eindringliche und mahnende Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht. Der schnell aufbrausende Kapitän wurde ruhiger und grummelte nur noch: »Verzieh dich, Windmaker! Und meinetwegen kannst du in Lübeck von Bord gehen. Ich werde schon noch Ersatz für dich finden. Solche Kerle wie dich gibt es haufenweise.« »Sofort, Kapitän«, murmelte der Waffenmeister hastig. Er warf Störtebeker noch einen dankbaren Blick zu und verschwand dann in Richtung Waffenkammer. »Und nun zu uns. Gehen wir in unsere Kajüte und trinken einen Humpen Bier - zur Versöhnung.« Goedecke boxte Klaus freundschaftlich auf den Oberarm und blaffte dann die anderen an, die immer noch gaffend und grinsend dastanden. »Habt ihr nichts zu tun?« Daraufhin zerstreute sich die Mannschaft, allen voran ein ansehnlicher, kräftiger Bursche, dessen Miene nichts über seine wahren Gedanken verriet. Er wusste, dass seine Stunde noch nicht gekommen war, aber das Glück war auf seiner Seite. Klaus Störtebeker, soviel hatte er inzwischen mitbekommen, würde in Lübeck für immer von Bord gehen und mit ihm der Waffenmeister. Das waren zwei wichtige Leute, für die Micheel Ersatz schaffen musste. Er, Karsten Studer, kannte zwei sehr geeignete Bewerber, die er nur noch seinem Kapitän aufschwatzen musste. Und er zweifelte nicht daran, dass ihm das gelingen würde. Klaus und Goedecke waren unterdessen in ihrem Schlafraum angekommen, hatten sich Bier bringen lassen und stießen jetzt die Humpen aneinander. 8
»Zum Wohl, Klaus, trinken wir auf uns, auf allzeit gute Fahrt für dein Schiff und immer fette Beute.« Goedecke lachte dröhnend und trank dann seinen Humpen in einem Zug leer. Klaus tat es ihm nach. Auch er lachte und erzählte dann von seiner Kogge und seinen Zukunftsplänen. Ihr Streit war damit beigelegt, aber ihre Freundschaft hatte einen Riss bekommen. Das spürten sie beide. * Seine Frau war wesentlich jünger als er, erst Ende der Dreißig und obendrein so hübsch und gut erhalten, als wäre sie zehn Jahre jünger. Dem Witwer Diederich Laurenz, der diese höchst ansehnliche Person vor einem Monat geheiratet hatte, lief bei ihrem Anblick buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. O ja, Lisenka war so schön und so liebevoll, dass er sich schon morgens darauf freute, nachts bei ihr zu liegen. Seine Verwandten und die Geschäftsfreunde gratulierten ihm mehr oder weniger ehrlich zu der Witwe des Bürgermeisters Hagenau, beneideten ihn vielleicht auch um sie und konnten kaum glauben, dass dieses Weib schon einen zweiundzwanzigjährigen Sohn hatte. Und mit Hubertus hatte er nun endlich den männlichen Erben, den seine erste Frau ihm nicht hatte schenken können. Er mochte den Burschen, wenn dieser auch längst nicht so hübsch wie die Mutter war. Aber er war natürlich nicht hässlich, sondern nur so kräftig und grob wie ein Bulle. Und er war zuvorkommend, klug und fleißig und war ihm schon jetzt eine große Hilfe bei den verschiedensten Handelsgeschäften - viel mehr als die eigene Tochter, die zur Widerspenstigkeit neigte und ihm viel zu oft widersprach. Ihretwegen musste er sich ständig den Kopf zerbrechen und er wäre heilfroh, wenn er sie endlich an den Mann und aus dem Haus gebracht hätte. Dieses Thema lag ihm so sehr am Herzen, dass er seinem Ärger an diesem Abend unbedingt Luft machen musste. Seine Frau, die ihm gegenüber auf einer Bank saß und im Schein der Kerzen in einem Gesangbuch blätterte, sah überrascht auf, als er 9
ungehalten sagte: »Dorette muss für eine Weile aus dem Haus, damit sie bei anderen Leuten arbeiten lernt. Dort wird man ihr auch beibringen, dass man seinem Vater Ehrfurcht und Gehorsam schuldet und nicht so sehr aufsässig ist wie sie.« »Sie ist noch jung und hat viel zu früh die Mutter verloren«, erwiderte Lisenka beschwichtigend, während sie das Buch zur Seite legte. »Du musst mehr Geduld mit ihr haben, Diederich.« »Geduld, Geduld...«, murrte er und trank dann einen Schluck von dem gewürzten Wein, den das Hausmädchen vorhin gebracht hatte. »Wie kann ich mit jemand Nachsicht haben, der sich meinen Anordnungen nicht fügt? Ich habe Dorette schon mehrmals gesagt, dass ich es nicht billige, wenn sie über ihren Büchern und ihren Rechenübungen Zeit und Weile vergisst. Doch sie schaut mich nur verständnislos an und behauptet frech, Rechnen, Lesen und Schreiben wäre auch für eine Frau wichtig.« »Nun, so verkehrt ist es ja auch nicht. Ich würde gern auch mehr schreiben können als meinen Namen. Aber leider hatten meine Eltern nicht so viel Geld, um mich in eine Klosterschule schicken zu können, so wie du es mit deiner Tochter getan hast.« »Eine Frau braucht das nicht«, beharrte er unwillig. »Die soll lieber lernen, einen Haushalt zu führen, damit sie es ihrem Gemahl einmal recht und bequem machen kann. Aber Dorette wird nie einen Mann bekommen, wenn sie weiterhin so störrisch und unbelehrbar ist.« »Ich wüsste einen, der sie sofort nehmen würde - so wie sie ist.« Diederich Laurenz wunderte sich so sehr, dass er sekundenlang sprachlos war. Doch dann fragte er neugierig: »Und wer ist dieser mutige junge Mann?« »Hubertus.« An seinen wackeren und arbeitsbeflissenen Stiefsohn hatte der Hausherr in dieser Hinsicht noch gar nicht gedacht. Und es leuchtete ihm auch nicht ein, dass dieser anscheinend Gefallen an Dorette gefunden hatte, was seine nächsten Worte bewiesen: »Hubertus...? Tatsächlich? Nun ja... gar nicht so schlecht, was er will, aber wie kann er...? Dorette ist doch überhaupt nicht liebenswürdig.« 10
Lisenka lächelte insgeheim über die Ungläubigkeit ihres Ehemannes, antwortete jedoch ernsthaft: »Hubertus liebt deine Tochter inniglich, hat es aber bisher nicht gewagt, dir von seinen Gefühlen zu erzählen. Er will dir doch erst beweisen, dass er trotz seiner Jugend ein ordentlicher Geschäftsmann ist. Schließlich muss er ja irgendwann in der Lage sein, Frau und Kinder zu ernähren. Und ich denke, dass Dorette ihn auch mag, er ist immerhin ein stattlicher und gewissenhafter Mann.« »Ja, ja... natürlich«, versetzte Diederich Laurenz zerstreut und dann sprach er aus, was ihm eben blitzartig durch den Kopf gegangen war: »Der Junge gefällt mir immer besser. Soll er meine Tochter nur heiraten, dann hat sie einen Mann, der sie zu zähmen versteht... und ich habe einen tüchtigen Nachfolger.« »Das sehe ich auch so, mein lieber Diederich«, säuselte Lisenka und stand auf. Sie ging zu ihrem Mann, setzte sich auf seinen Schoß und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Offensichtlich gefiel ihm die leise Botschaft, denn er murmelte entzückt: »Mein kleines, lüsternes Täubchen hat immer die wunderbarsten Einfälle.« Dabei ließ er eine Hand unter ihre Röcke gleiten, was ihr dann alsbald ein lautes Jauchzen entlockte. * Dorette Laurenz war nicht hübsch im herkömmlichen Sinne, dazu war ihr Mund ein wenig zu breit, ihre Nase zu kurz und die Augenbrauen standen zu dicht zusammen, aber sie hatte wunderschöne Augen und eine Figur, an der alles sozusagen am rechten Fleck war, Brüste, rund und fest wie Äpfel, eine schmale Taille und lange, schlanke Beine. Hinzu kam ihr kaffeebraunes Haar, das sie meist aufgesteckt trug, wenn sie es aber öffnete, reichte es ihr bis auf den Rücken. Ihre Stiefmutter wunderte sich jedenfalls nicht, dass sie Hubertus gefiel, sie wunderte sich nur, dass Dorette die Blicke und kleinen Aufmerksamkeiten des jungen Mannes vollständig übersah. Hatte sie etwa kein Interesse an dem pflichtbewussten und gutmütigen Hubertus? 11
Der wohlgeratene Stiefsohn des angesehenen Patriziers Diederich Laurenz fragte sich das auch und fand doch keine Antwort darauf, auch an diesem Tag nicht, als seine Auserwählte ihn wieder einmal nicht beachtete, obwohl er ihr schon am Morgen eine rote Rose vor die Kammertür gelegt hatte. Dass seine Stiefschwester ihn möglicherweise nicht ausstehen konnte, darauf kam er gar nicht. Es musste einen anderen Grund geben. Vielleicht musste er sie mehr umwerben, er musste auch mal ganz allein mit ihr sein. In Gegenwart ihres Vaters und seiner Mutter konnte es ja nie zu einer trauten Zweisamkeit kommen. Nachdem Hubertus Hagenau sich auf diese Art und Weise getröstet und Mut zugesprochen hatte, verbesserte er seine innerliche Kraft noch mit einem großen Becher Wein, den er eilig hinunterstürzte. Nun fühlte er sich stark genug und schlich Dorette nach, als sie zum Kräutergarten ging. Sie bemerkte ihn nicht, denn sie wandte ihm den Rücken zu und bückte sich gerade, um einige Stängel Rosmarin zu pflücken. »Dorette«, flüsterte er heiser, während er dicht hinter sie trat und sie stürmisch an sich riss. »Dorette, ich bin dir ja so gut. Bitte werde meine Gemahlin.« Sie war erschrocken, allerdings nicht wegen seines Antrages, sondern wegen der Annäherung. Begriff er denn noch immer nicht, dass sie ihn nicht haben wollte? Offenbar nicht, er hielt sie jedenfalls so dicht an sich gepresst, dass sie sich kaum bewegen konnte und drückte ihr nun auch noch seine feuchten Lippen auf den Hals. »Lass mich sofort los!«, schrie sie und trat ihm kräftig auf den Fuß. Und als das nichts nützte und er sogar versuchte, sie auf den Mund zu küssen und ihre Brüste zu berühren, rief sie so laut um Hilfe, dass eine Magd und zwei Knechte aus dem Haus stürzten und auf sie zueilten. Hubertus, jäh ernüchtert von ihrer Abwehr und den entsetzten Zuschauern, ließ nun tatsächlich von ihr ab. Er war in höchstem Maße verärgert, fühlte sich tief gedemütigt und versuchte doch mit allen Mitteln, sein Ansehen zu retten. »Schaut nicht so einfältig!«, fuhr er die Knechte und die Magd an. »Ich will das Fräulein ganz bestimmt nicht ermorden, ganz im Gegen12
teil. Sie ist doch meine Braut, da werde ich ihr doch wohl einen Kuss geben dürfen.« »Ich bin nicht deine Braut, du Tölpel!« Dorette maß ihn mit vernichtenden Blicken. »Zwischen uns hat es nie ein Versprechen gegeben.« »Doch, meine Tochter.« Diederich Laurenz war in Begleitung seiner Frau ebenfalls in den Garten gekommen und fügte nun nachdrücklich hinzu: »Hubertus hat bei mir um deine Hand angehalten und ich habe ihm gesagt, dass ich mir keinen besseren Schwiegersohn wünschen kann als ihn, zumal er ein idealer Nachfolger für mein Unternehmen sein wird.« »Aber ich will ihn nicht, er ist ja kaum älter als ich... und er gefällt mir nicht. Und außerdem, Vater, habt Ihr mich nicht gefragt, dann hätte ich sofort gesagt, dass...« Eine gebieterische Handbewegung gebot ihr Schweigen, was Lisenka und ihr Sohn mit einem triumphierenden Lächeln registrierten. Sie wussten, dass sie das Familienoberhaupt auf ihrer Seite hatten. Dorette war nur eine unangenehme, aber zur Zeit noch notwendige Beigabe. »Du wirst Hubertus heiraten, das versichere ich dir«, bekräftigte der Hausherr mit lauter Stimme. »Mögen es nur alle hören, die Nachbarn und unser Gesinde. Schon bald werden wir eure Verlobung feiern und unsere Verwandten und Freunde dazu einladen.« Dorette schwieg, blickte aber verstört und ungläubig von einem zum anderen - und sah nur zufriedene Mienen. Alle meinten anscheinend, sie würde in einen Glückstopf greifen, wenn sie die Gemahlin des tapsigen Hubertus wurde. Doch soweit würde es nicht kommen - niemals. Sie schaute ihren Vater zornig an, sagte aber ziemlich beherrscht: »Ich denke, es ist besser, wenn wir über diese Angelegenheit im Hause weiter reden. Ich bin nämlich der Meinung, dass die Nachbarn und die Dienerschaft nicht zuhören müssen.« Nach diesen Worten wandte sie sich abrupt ab und ließ die anderen entgeistert im Garten zurück. * 13
»Sie will Hubertus nicht zum Mann nehmen und wird einen Skandal verursachen, wenn ich sie dazu zwinge. Ich verstehe sie nicht. Was hat sie nur gegen deinen Sohn?« Diederich Laurenz schaute seine Frau bekümmert an und verstand die Welt nicht mehr. Lisenka saß neben ihm und tätschelte ihm beruhigend die Hand. »Hubertus wird ein wenig ungestüm gewesen sein, wie es junge Männer oft sind«, meinte sie nachsichtig. »Ihm fehlt es eben noch an Zärtlichkeit und liebevollem Warten. Er will gleich zum Ziel kommen. Andererseits bin ich auch ein wenig traurig, dass Dorette ihn so strikt ablehnt.« »Nicht mehr lange, das verspreche ich dir. Sie wird mir gehorchen müssen.« »Was willst du denn tun? Du kannst sie doch nicht vor den Altar schleifen.« »Nein, das nicht, das würde auch viel zuviel Auf sehen machen, aber...« Diederich unterbrach sich und wurde sich plötzlich seiner Ratlosigkeit bewusst. Verärgert erinnerte er sich an die vergangenen Stunden, in denen er zuerst den abgewiesenen Freier hatte besänftigen müssen, um anschließend mit der aufmüpfigen Tochter ins Gericht zu gehen. Hubertus hatte er bald getröstet, Dorette hatte sich jedoch all seinen wohlmeinenden Argumenten, seinen scharfen Worten und seinen derben Flüchen widersetzt und klipp und klar gesagt, dass sie ihren Stiefbruder niemals heiraten würde. Sie könne ihn nicht leiden, ja, mehr noch, er wäre ihr widerwärtig und sie fände ihn ekelhaft. Und die Verwandten sollte er lieber nicht einladen, wenn er seine Autorität nicht untergraben wolle. Sie würde nämlich allen erzählen, dass man sie zu der Verlobung gezwungen habe und würde Hubertus obendrein die kalte Schulter zeigen. Der Hausherr seufzte schwer, was seine Frau veranlasste, nach einer Weile scheinbar nachdenklich zu sagen: »Deiner Tochter geht es zu gut. Du hast ja selbst schon einmal in Erwägung gezogen, sie zu anderen Leuten zu schicken, damit sie dort für Lohn und Brot arbeitet. Schick sie für ein paar Wochen fort. Das wird für uns alle von Vorteil sein.« 14
»Ja? Warum denn?« »Schau, Herzensschatz.« Lisenka überging gewandt die dümmliche Frage ihres Gatten und erklärte eindringlich: »Wenn Dorette bei anderen Leuten ist, dann wird sie dort vieles lernen können, was ihr später als Hausfrau nützlich ist. Sie wird auch lernen, ihren Vater und Hubertus besser zu schätzen und zu würdigen. Mein Sohn hingegen wird begreifen, dass er sich in Geduld zu fassen hat und wir beide haben dann eine ruhige und schöne Zeit vor uns.« Was sie unter einer ruhigen und schönen Zeit verstand, leuchtete ihm sofort ein, denn ihr berückendes Lächeln und ihre streichelnden Hände versprachen ihm die Seligkeit auf Erden. So bekundete er leise stöhnend sein Einverständnis und freute sich, dass sein ›zärtliches Weibchen‹ ihn bei der Suche nach einer geeigneten Anstellung für die widerspenstige Dorette mit Rat und Tat unterstützen wollte. * »Nun hab' dich doch nicht so. Was macht es denn aus, wenn du mir schon jetzt gewährst, was mir in der Hochzeitsnacht sowieso zusteht?« Hubertus hatte sich in Dorettes Kammer geschlichen, heimlich und zu später Stunde, hatte sich auf die Bettkante gesetzt und seine Hände unter die Decke gleiten lassen, um das Ziel seiner Sehnsucht - Dorettes Körper - zu spüren. Er war davon überzeugt gewesen, dass ihr das auch gefallen würde und war nun völlig entgeistert, als seine liebliche Braut ihm einen solchen Stoß versetzte, dass er zu Boden fiel. Dort saß er in diesem Augenblick noch und fügte nun zynisch hinzu: »Du brauchst gar nicht so keusch zu tun, unsere Vermählung ist eine beschlossene Sache. Füge dich lieber, sonst wird es dir schlecht ergehen.« »Das kann ich mir denken«, zischte sie, während sie nach einem silbernen Leuchter griff, um bei einem zweiten Angriff auf ihre Tugend sich besser wehren zu können. »Du willst mir Gewalt antun und hinterher behaupten, ich hätte dich verführt und wir müssten nun umgehend heiraten.« 15
Hubertus grinste selbstgefällig, was sie im Schein des Vollmondes gut erkennen konnte. Er stand langsam auf, klopfte sich den Staub von seinen Beinlingen und erwiderte dann schadenfroh: »Du hast mitunter recht vernünftige Gedanken, aber ich bin ein Kavalier und werde dich selbstverständlich nicht mit Gewalt nehmen. Du bist mir von deinem Vater versprochen worden und ich werde, auch wenn es mir schwer fällt, auch die Zeit ertragen, wenn du zur Strafe für deine Widerspenstigkeit als Magd arbeiten musst.« »Als Magd arbeiten...«, flüsterte sie ungläubig und verständnislos. »Das würde der Vater doch niemals wollen, das... denkst du dir doch nur aus, um mir Angst einzujagen... um mich... gefügig zu machen.« »Wo denkst du hin?«, entgegnete er und lachte spöttisch. »Dein Vater hat es mir erst am Nachmittag gesagt. Er will dich Gehorsam lehren und wird dich deshalb zu fremden Leuten schicken, wo du als Dienerin von morgens bis abends schwer arbeiten musst. Da kannst du nicht das feine und hochmütige Fräulein spielen. Und wenn du dann endlich nach ein paar Wochen oder gar Monaten wieder nach Hause darfst, wirst du froh sein, mein Weib werden zu dürfen.« Dorette war der Leuchter aus der Hand gefallen, aber sie blieb ruhig, auch wenn sie innerlich vor Wut und Enttäuschung zitterte. Sie würde sich vor dem süffisant grinsenden Hubertus keine Blöße geben, sie würde auch nicht jammern und weinen, dazu war sie viel zu stolz. »Ich werde niemals froh sein, dein Weib werden zu dürfen, Hubertus«, sagte sie mit klirrender Stimme, während sie wieder nach dem Leuchter griff, aus dem Bett sprang und sich dicht vor ihn hinstellte. »Ich verabscheue dich, weil du ein ganz hinterhältiger Hund bist, weil du dich nicht ordentlich wäschst und demzufolge stinkst wie ein Schwein und weil du dich bei meinem Vater Liebkind machst und keine eigene Meinung hast. Und ich will lieber Fußböden schrubben und Vieh füttern, als dich heiraten. Und nun verschwinde! Du hast in der Kammer einer Jungfrau nichts zu suchen.« Nun war Hubertus sprachlos. Er starrte sie an, als hätte man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen. Dann taumelte er hinaus. Er war nicht der Sieger und Verführer, wie er fest angenommen hatte, sondern nur ein höhnisch abgewiesener Freier, dem nichts an16
deres übrig blieb, als die Kammer der Frau zu verlassen, die er wegen ihrer Erbschaft heiß begehrte. Aber diese Demütigung - diese Schande - würde er niemals vergessen und er würde sich rächen. Und er wusste auch schon wie. Am anderen Morgen, als er nach dem Frühstück mit seinem Stiefvater im Kontor saß, sagte er scheinbar beiläufig und in mildem Tonfall: »Ihr habt sicher recht, Herr Vater, wenn Ihr meiner Braut Gehorsam beibringen wollt. Aber ich bitte Euch von Herzen, sie nicht allzu hart zu bestrafen. Manche Herren gehen sehr schlecht mit ihrem Gesinde um. Doch meine Frau Mutter und ich kennen da ein sehr gutmütiges Ehepaar, das eine Gastwirtschaft in der Vorstadt besitzt und die Dienerschaft fast wie eigene Kinder behandelt, streng aber gerecht.« Diederich Laurenz sah überrascht auf und antwortete: »Eine Gastwirtschaft ist nicht übel. Da kann Dorette viel lernen. Ich werde mit deiner Frau Mama darüber sprechen.« »Danke, Herr Vater«, säuselte Hubertus und wandte sich wieder seinen Pflichten zu. Eifrig überprüfte er die Bilanzen, war aber gedanklich ganz woanders. Er wusste zwar nicht, ob er Dorette nach ihrer Arbeit im ›Rosengarten‹ noch heiraten wollte, aber er wusste, dass er eines Tages der Herr dieses Unternehmens sein würde. * Die Kogge ›Sancta Barbara‹ war lang mit fast gleich hohem turmartigen Heck und Bug und tief abfallenden Mittelschiff. Sie würde mehr als vierzig Seeleuten Platz und Arbeit bieten und war ein schönes Schiff mit ihren Außenplanken aus dunklem Zypressenholz. Es hatte nur einen einzigen Fehler - es war noch nicht fertig. Als Klaus Störtebeker alias Klaus Derenborg am gestrigen Tag in Lübeck angekommen und begleitet von Gerd Windmaker zur Werft gegangen war, hatte sich der Schiffbaumeister mehrfach entschuldigt und viele Gründe angeführt, warum und wieso die Kogge nicht zum ausgemachten Termin zu Wasser gelassen werden konnte. Sein bester Zimmermann wäre lange krank gewesen, die Hölzer waren zu spät geliefert worden und teilweise noch zu frisch, um sofort eingebaut zu 17
werden. Und zu allem Übel arbeitete der Segelmacher viel zu langsam. Dabei hätte er ihn schon so oft gemahnt. Klaus unterbrach die wortreichen Beteuerungen und sagte barsch: »Da Ihr die Ursachen für den Zeitverzug so gut erkannt habt, Meister Birnbaum, werdet Ihr mir jetzt sicher sagen können, wie lange es noch bis zur Fertigstellung meines Schiffes dauern wird.« Theodor Birnbaum zuckte ratlos mit den Schultern. »Drei bis vier Wochen, vielleicht auch fünf.« »Gut, fünf Wochen, aber keinen einzigen Tag länger. Sonst werde ich den Kaufpreis drücken und Ihr habt das Nachsehen. Habt Ihr das verstanden?« »Ja... ja... natürlich, Herr Derenborg«, stotterte der säumige Schiffbauer. »Ihr werdet sehen, dass ich meine Leute antreiben werde, Ihr könnt auch jeden Tag herkommen und Euch überzeugen, dass bienenfleißig gearbeitet wird. Und ich bin auch bereit, Euch die Kosten für eine gute Herberge zu ersetzen.« »Das ist nicht nötig«, wehrte Störtebeker unwirsch ab. »Aber Ihr könnt mir sagen, welche Herberge gut und sauber ist. Mein Freund und ich haben nicht die Absicht, in Betten zu schlafen, in denen Flöhe und Wanzen ihr Unwesen treiben.« »Geht zur ›Alten Mühle‹. Das ist die beste Herberge in der ganzen Stadt und das Essen ist auch gut. Ich kenne den Wirt persönlich, er ist jung, energisch und duldet keine Schlampereien. Die Herren werden sich dort ganz gewiss sehr wohl fühlen.« Klaus war davon nicht so ganz überzeugt, fragte jedoch ruhig: »Und wie kommen wir zu diesem Gasthof?« »Oh, das ist ganz einfach.« Theodor Birnbaum atmete erleichtert auf und erklärte anschließend den beiden Männern, wie sie zu ihrer zeitweiligen Unterkunft gelangen konnten. »Und was machen wir nun mit unserer freien Zeit?«, erkundigte sich Gerd Windmaker, als sie die Werft verlassen hatten und sich auf dem Weg zu ihrem Quartier befanden. »Es wird sich schon etwas finden.« Klaus lächelte und sprach dann das aus, was er eben gedacht hatte: »Wir werden etwas für Körper und Seele tun, wir werden zum Beispiel des öfteren eine Badestu18
be besuchen. So ein entspannendes Bad wird uns ausgezeichnet bekommen. Und danach gibt es eine leckere Mahlzeit und eine hübsche Dirne. Würde dir das gefallen, mein Freund?« »Na und ob.« Die Augen des Waffenmeisters begannen zu leuchten, denn die Wochen auf See waren nicht nur wegen der Kämpfe und der harten Arbeit anstrengend gewesen. * Dorette verfluchte ihren Stolz und wusste doch, dass sie nicht bei ihrem Vater zu Kreuze kriechen würde. Vor knapp drei Wochen hatte er sie hierher gebracht - in den ›Rosengarten‹, der angeblich eine gut gehende Gastwirtschaft war und in dem den Reisenden aus nah und fern gegen gutes Entgelt eine deftige Mahlzeit, süffiger Wein und, wenn man wollte, auch ein Bad für den ganzen Körper angeboten wurde. Inzwischen wusste sie jedoch, dass die größten Einnahmen aus einem ganz anderen Geschäft kamen - aus dem Geschäft mit der käuflichen Liebe. Anfangs hatte sie über die bunt gekleideten jungen Frauen und Mädchen gestaunt, die die Herren beim Baden so ungeniert bedienten und oft genug mit ihnen in einer Kammer verschwanden, bis sie drei Tage nach ihrer Ankunft von einer Dirne ›aufgeklärt‹ worden war. »Du wunderst dich?«, hatte Guste gefragt, während sie einen neuen Hut ausprobierte und sich eingehend im Spiegel betrachtete. »Hast du etwa nicht gewusst, dass der ›Rosengarten‹ eigentlich ein Freudenhaus ist?« »Nein, sonst wäre ich doch nie... hätte mein Vater mich nicht hierher... gebracht.« »Dein Vater war also so ahnungslos wie ein neugeborenes Kind?« Guste hatte schallend gelacht und dann spöttisch hinzu gesetzt: »Das kann ich nicht glauben. Ein Bordell kennen fast alle Männer und viele, sehr viele sind auch schon hier gewesen. Nun schau mich nicht so entsetzt an, als wäre ich die Sünde in Person. Denke daran, dass zu diesem Geschäft immer zwei gehören, eine Frau, die ihre Dienste anbietet - und ein Mann, der diese Dienste annimmt und bezahlt.« 19
Guste hatte natürlich recht, das musste Dorette zugeben. Und sie fragte sich beklommen, ob ihr Vater wirklich nicht gewusst hatte, was diese Gastwirtschaft in Wirklichkeit war. Die nächste Frage, die sie sich stellte, war noch quälender: Wollte ihr Vater sie etwa auf diese Weise loswerden? Nein, so konnte und so durfte es nicht sein. Sie war als Küchenmagd eingestellt worden, nicht als Freudenmädchen und sie hatte nichts anderes zu tun, als dem Koch vom frühen Morgen bis zum späten Abend die schmutzige Arbeit abzunehmen. Der Lohn war lausig, das Essen schlecht und die Kammer musste sie sich mit Trine und Lina teilen. Doch sie fragte sich besorgt, was der Vater von ihr erwartete, wenn er sie in einem guten Monat wieder abholte. Sie würde sich weiterhin weigern, Hubertus zu heiraten. Doch was kam dann? Musste sie dann für immer hier bleiben, oder würde er sie in ein Kloster stecken? Diese Frage beschäftigte sie unablässig, auch wenn die Arbeit die reinste Plackerei war. Ihre Hände waren inzwischen rau und rissig geworden, ihr Haar strähnig und glanzlos und ihre Kleidung klebte ihr am Leib, weil sie diese nur selten wechseln konnte. Vom Waschen und anderer Körperpflege konnte auch keine Rede mehr sein, sie fühlte sich jetzt wie jemand, der geradewegs aus der Gosse kam. Um so mehr staunte sie, als Leberecht Wenzel, das war der Wirt, an diesem Nachmittag zu ihr trat und kurz angebunden sagte: »In der Badestube ist jetzt niemand. Geh und wasch dich, du stinkst ja, dass es kaum zum Aushalten ist.« Noch vor einigen Tagen hätte sie ihn angepfiffen, hätte ihm zu verstehen gegeben, dass dieser Zustand nun weiß Gott nicht ihre Schuld war. Doch jetzt war sie viel zu müde dazu. Und die Aussicht auf ein Bad war so herrlich, dass sich alle anderen Gedanken wie Spreu im Wind, verflüchtigten. Nur wenige Minuten später lag sie in dem nach Essenzen duftenden Wasser, wusch sich gründlich von Kopf bis Fuß, schloss schließlich erschöpft die Augen und döste vor sich hin. »Genug gefaulenzt!« Die scharfe Stimme von Berta Wenzel riss sie aus ihrem Halbschlaf. »Zieh dir das da an und geh in deine Kammer. Ich rufe dich, wenn ich Arbeit für dich habe.« 20
Ein zinnoberrotes Gewand wurde auf eine Bank geworfen, zusammen mit einfacher Unterwäsche, Strümpfen und Schuhen. Dann entfernte sich die Wirtin. Dorette starrte verblüfft auf die Sachen, sie gehörten ihr nicht, aber sie zog sie trotzdem an, weil sie sauber waren und nach Lavendel rochen. Das Kleid hatte allerdings einen recht tiefen Ausschnitt. Doch wenn sie sich ein großes Tuch um die Schultern legte, würde davon so gut wie nichts zu sehen sein. Später saß sie in ihrer Kammer, allein, während Trine und Lina sich in der Küche plagten. Warum wurde sie, Dorette, heute nicht gebraucht? Der Grund war nahe liegend, denn eines der ehrlosen Weiber war krank geworden, doch am Abend würden einige Ritter kommen, die in der Nähe an einem Turnier teilgenommen hatten. Sollte sie jetzt anstelle der kranken Meta etwa... Liebesdienste... verrichten? Ihr wurde plötzlich heiß und kalt zugleich. Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle beinahe zu und sie saß wie gelähmt da, unfähig, sich zu bewegen und einen klaren Gedanken zu fassen. »Komm mit!« Leberecht Wenzel sagte das kalt und unmissverständlich. Er hatte die Tür aufgestoßen und zerrte die sich heftig wehrende Dorette zum hinteren Teil des Gebäudes, dorthin, wo die käufliche Liebe angeboten wurde. »Nein, ich will nicht!«, schrie sie laut. »Ich arbeite in der Küche, so hat es mein Vater mit Euch abgesprochen. Ich bin keine Dirne.« »Bald wirst du's sein«, knurrte der Wirt ungerührt und schob sie in einen Raum, in dem ein Gast am Fenster stand und ungeduldig an die Scheibe trommelte. Der Mann war groß und schlank, aber schon ziemlich alt und hässlich wie die Nacht. Dorette wurde bei seinem Anblick übel. Sie merkte nicht, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde, sie sah nur die begehrlichen Blicke des Ritters und spürte die Hände, die nach ihr griffen, ihr das Haar öffneten, das Kleid zerrissen und sie schließlich auf das Bett warfen. In diesem Augenblick setzte bei Dorette das rationale Denken aus, sie vergaß ihre Übelkeit und die Schwäche, sie wollte sich nur noch von diesem Untier befreien, wollte fort aus diesem Hause. Sie wehrte 21
sich mit aller Kraft, bekam ein Bein frei und trat so fest zu, wie sie konnte. Der Erfolg war überwältigend, denn der Freier stieß einen lang gezogenen Schmerzensschrei aus und fiel zu Boden, wo er sich vor Schmerzen krümmte. Dorette achtete nicht auf ihn, sie rannte hinaus, so wie sie war mit zerrissenem Kleid und zerzausten Haaren. Sie lief die Treppe hinab, bis sie den Hinterausgang erreichte und auf der Straße stand. Dort atmete sie für einige Augenblicke auf, sah sich suchend um und riss dann ein großes dunkles Tuch von der Wäscheleine. Sie band es sich um die Schultern, flüchtig nur, denn sie musste ja weiter. Der abgewiesene und wahrscheinlich verletzte Freier würde bald genug Alarm schlagen. * Es war schon spät, als sie vor dem Heim ihres Vaters ankam. Aus Angst, verfolgt zu werden, hatte sie beschwerliche Umwege auf sich genommen und hatte die dunkelsten Gassen gewählt, um nach Hause zu gelangen. Die Tür war wie immer zu dieser Stunde bereits verschlossen, so dass sie laut klopfen musste. Und sie musste es mehrmals tun, bis endlich geöffnet wurde und Ambrosius, der Hausdiener, sie fassungslos anstarrte. Er erkannte sie offenbar nicht, denn er sagte hochnäsig: »Biete deine Hurendienste woanders an, Weib. Wir bedürfen deiner nicht, wir sind ehrbare Leute.« Nach diesen Worten wollte er ihr die Tür vor der Nase zuknallen, was Dorette gerade noch verhindern konnte. Es gelang ihr, sich an Ambrosius vorbei zu schlängeln und laut nach ihrem Vater zu rufen. Ihre Schreie wurden jedoch sofort erstickt von einer großen Hand, die sich auf ihren Mund presste. Entsetzt erkannte sie Hubertus und wollte ihn fort stoßen, aber er hielt sie mit dem anderen Arm wie mit einer Eisenklammer fest, so dass sie sich kaum bewegen konnte. »Schaff die Metze aus dem Haus, mein Sohn! Hetze die Hunde auf sie, wenn sie nicht freiwillig unser Haus verlassen will!« Die schrille Stimme von Lisenka Laurenz tönte durch den Eingangsbereich. 22
Dorette sah ihre Stiefmutter auf der Treppe zum Obergeschoß stehen, sah die gaffende und sensationslüsterne Dienerschaft und spürte, wie Hubertus sie trotz ihrer Gegenwehr zur Tür drängte. Schließlich schaffte sie es doch, ihn in die Hand zu beißen und zu schreien: »Lass mich los, du Ungeheuer. Ich will zu meinem Vater!« »Den wirst du hier nicht finden, du ehrloses Weibsbild. Verschwinde endlich!«, zischte Hubertus ihr zu und stieß sie weiter nach vorn. »Was ist das hier für ein Lärm?« Diederich Laurenz, bereits im Schlafgewand und mit einer Nachtmütze auf dem Kopf, kam nun ebenfalls die Treppe hinunter. Er schaute entgeistert von einem zum anderen und forderte dann seine Frau auf, ihm zu erklären, was diese nächtliche Ruhestörung zu bedeuten habe. »Eine Dirne hat sich in unser Haus geschlichen, lieber Gemahl«, antwortete Lisenka scheinbar tief betroffen. »Ich weiß nicht, wie ihr das gelungen ist, wahrscheinlich, weil sie nicht mehr bei Sinnen ist. Ständig verlangt sie nach ihrem Vater...« »Papa!!« Dorette hatte Hubertus nun doch abgeschüttelt und war zu ihrem Vater gelaufen. Schwer atmend blieb sie vor ihm stehen und stieß mit letzter Kraft hervor: »Ich bin... keine Hure, aber... ich sollte eine werden, der ›Rosengarten‹ ist ein... Bordell. Bitte Vater, rettet mich vor Schande und Gewalt, ich bin doch... Eure Tochter.« Der Hausherr hatte sie zuerst mit einem Gemisch aus Ekel und Abwehr gemustert, dann erkannte er sie, sagte jedoch schneidend: »Du bist nicht mehr meine Tochter. Ich habe dich zum Erlernen der Hauswirtschaft in ein ordentliches Gasthaus gebracht, doch du hast nichts Besseres gewusst, als deinen Leib schänden zu lassen. Du hast deine Ehre verloren und damit das Recht, in diesem Hause zu wohnen. Jetzt wissen wir auch, warum du Hubertus nicht heiraten wolltest, dir ist ein Mann ja nicht genug, du musst es ja mit vielen treiben. Jagt sie fort, sie ist von jetzt ab vogelfrei.« Der letzte Satz galt den Dienern, die inzwischen die beiden Hunde geholt hatten und abwartend an der Tür standen. Ambrosius und sein Gehilfe sahen sich betreten an, bevor sie langsam auf Dorette zugingen. Diese wiederholte indessen weinend: »Ich bin keine Dirne, Vater. Das kann ich beweisen.« 23
»Dieses grelle und zerrissene Gewand mit dem tiefen Ausschnitt und das unordentliche Haar beweisen mehr als genug«, rief Lisenka entrüstet dazwischen. »Schaut sie euch doch an. Sieht so eine ehrbare Jungfrau aus? So laufen nur Huren herum.« »Ich kann doch nichts dafür, dass ich dieses Kleid anziehen musste und dass dieser Ritter mir Gewalt antun wollte. Aber ich konnte entkommen. Bitte helft mir und nehmt mich hier wieder auf.« Dorettes Verzweiflung rührte die Anwesenden nur wenig oder gar nicht, denn sie hatten alle einen triftigen Grund dafür. Diederich Laurenz fürchtete, sein Ansehen in der Stadt zu verlieren, wenn es herauskam, dass seine Tochter der Sünde verfallen war. Bei sich selbst konnte er keine Schuld finden. Er hatte sie in die Obhut eines redlichen Ehepaares gegeben. Und wenn sie nicht arbeiten, sondern lieber in liegender Stellung ihr Brot verdienen wollte, dann war das ihre Sache. Es war nun seine Pflicht, sie für immer aus seiner Familie zu verbannen. Der allmählich verblühenden Lisenka war die hübsche Stieftochter aus mehreren Gründen im Weg. Sie befürchtete, bald nicht mehr der umschwärmte Mittelpunkt bei häuslichen Festen zu sein und wollte andererseits ihrem Sohn den Weg zu Ansehen und Wohlstand ebnen. Hubertus hingegen wollte unbedingt der Alleinerbe werden und die Diener bangten um ihre Stellung. Sie waren es auch, die jetzt mit den Hunden bei der angeblichen Dirne angekommen waren, drohend und mit eiskalten Mienen, während die Hunde die Zähne fletschten und bösartig knurrten. Sie kamen immer dichter an Dorette heran, so dass diese schließlich angstvoll schrie und wie von Furien gehetzt aus dem Haus rannte. Die Zurückbleibenden sahen sich sekundenlang schweigend an, dann erklärte der Hausherr laut und deutlich: »Ich wünsche, dass jedermann in diesem Haus über diesen unliebsamen Vorfall jetzt und für alle Zeit schweigt. Und sollte doch jemand nach dieser ehrlosen Person fragen, dann ist sie in ein Kloster gegangen. Ihr Name darf in diesem Hause ab sofort nicht mehr genannt werden. Ich habe keine Tochter mehr, nur noch einen Sohn.« Danach ging er zu Hubertus und umarmte ihn liebevoll. 24
* Die Windmühle, von der die Herberge ihren Namen hatte, gab es noch, sie funktionierte allerdings nicht mehr, denn der verheerende Sturm vor sechs Jahren hatte ihr erhebliche Schäden zugefügt. Der Müller hatte nicht genug Geld für die Reparatur gehabt und war fortgezogen, nachdem er den Grund und Boden an einen jungen Mann namens Burkhard Goldstein verkauft hatte. Jener hatte hier alsbald eine Herberge errichten lassen, führte doch ganz in der Nähe die Landstraße nach Norden vorbei, auf der Tag für Tag die Fuhrwerke vorbeizogen, die gut situierten Händlern gehörten. Diese Kaufleute kehrten hier oft ein, genauso wie Edelleute, Pilger und Ritter. Man konnte ohne zu prahlen sagen, dass das Geschäft blühte, zumal der Wirt sein Haus mustergültig in Ordnung hielt. Da gab es keine Schweine, die im Unrat wühlten, keine herrenlosen Hunde und Katzen und keine Ratten, die bis in die Strohsäcke der Gäste krochen. Klaus Störtebeker war angenehm überrascht gewesen, denn man hatte ihm und Gerd eine sehr saubere und geräumige Kammer zugewiesen, in der zwei passable Betten sowie Schränke und Truhen standen. Hier konnte man sich wirklich gut ausruhen und von der ›Sancta Barbara‹ träumen, die in absehbarer Zeit ›Roter Teufel‹ heißen würde. Klaus hatte unterdessen schon eine tatkräftige Mannschaft angeworben, zum größten Teil arme Schlucker, die ohne Arbeit waren und nichts mehr zu verlieren hatten, aber auch erfahrene Schiffsleute sowie einen Koch und einen Heilkundigen. Sie alle standen auf Abruf, während Meister Birnbaum und seine Gesellen beinahe Tag und Nacht arbeiteten, um den geforderten Termin einzuhalten. Kapitän Klaus und sein Waffenmeister genossen unterdessen das Leben an Land, saßen in Schenken herum, tranken Bier und Met und machten auch diverse Abstecher zu den Badestuben im ›Rosengarten‹. Hier waren sie auch an diesem Nachmittag gewesen und hatten nichts dabei gefunden, bei einer Dirne zu liegen und dieser beim Abschied ein paar Münzen für ihre Dienste hinzuwerfen. Das Leben war 25
eben so. Und nun befanden sie sich auf dem Heimweg, sie gingen eher gemächlich, obwohl ein scharfer und kühler Wind wehte und die Wolken sich zu großen, dunkelgrauen Wänden zusammenballten und ausgiebigen Regen verkündeten. Einen Seemann warfen Wind und Wasser ganz gewiss nicht um, der hatte doch schon ganz andere Stürme hinter sich. Aber sie waren wachsam, sie mussten es sein, denn die Obrigkeit und vor allem die Herren der Hanse, ließen jeden erbarmungslos verfolgen, der ihre Unternehmungen und ihre Gier nach Geld und Macht gefährdete. Die armen Leute blieben dabei auf der Strecke. Sie hatten mitunter nicht einmal ein Obdach und genug zu essen - so wie die magere, in Lumpen gehüllte Frau, die eben von einer dicklichen Matrone unter lauten Schimpfworten vor die Tür gestoßen wurde, wo sie im Straßenschmutz liegen blieb. Klaus und Gerd blieben unwillkürlich stehen und blickten sich betroffen an. Und dann eilten sie zu der Frau, die unterdessen wieder aufgestanden war und mit kleinen, unsicheren Schritten weitergegangen war. »Wartet doch, gute Frau!«, rief Klaus. »Können wir Euch helfen?« Er stützte die schwankende Gestalt, indem er ihre Schultern umfasste und als sie vor Angst zitterte, führte er sie ein Stückchen weiter, dorthin, wo eine verwitterte Bank stand. Er drückte sie darauf, nahm seinen Umhang ab und hüllte die Frau darin ein. »Ihr müsst Euch nicht vor uns fürchten«, begann er und wies auf Gerd Windmaker, der ihnen gefolgt war. »Wir sind nur Seeleute, die hier vor Anker gegangen sind. Wir tun Euch nichts zuleide.« Er bekam keine Antwort, erkannte jedoch in diesem Moment, dass die Frau noch sehr jung war, jung und anscheinend von allen verlassen, vermutlich sogar verstoßen. * Dorette starrte den großen blonden Mann verwirrt und ängstlich an. Er war gut gekleidet und hatte etwas Bestimmendes, ja, nahezu Herrisches an sich, trotz seiner Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Gehörte er vielleicht auch zu jenen Männern, die Frauen und Mädchen an rei26
che Kaulleute oder Adlige Verschacherten? Sollte sie etwa wieder zu Hurendiensten gezwungen werden? Bei diesen Gedanken wurde ihr schwindlig. Sie wollte aufstehen und davonlaufen, sie versuchte es auch, sank aber mit einem leisen Stöhnen in sich zusammen, noch bevor Störtebeker oder sein Waffenmeister sie auffangen konnten. »Wir müssen uns um sie kümmern«, sagte Klaus, während er sie hoch hob, auf die Bank legte und forschend betrachtete. »Wenn sie noch lange bei diesem Wetter durch die Straßen irrt, wird sie ihre letzten Kräfte bestimmt bald verbraucht haben und geht elend zugrunde.« Gerd nickte zustimmend und fragte: »Willst du sie mitnehmen... in unsere Herberge?« »Wohin denn sonst? Der Wirt wird sicherlich noch ein Lager haben, auf dem sich dieses arme Mädchen erholen kann. Außerdem glaube ich, dass sie schon tagelang gehungert hat. Komm, fass mit an!« Dorette war vor Angst wie gelähmt, ihr Herz klopfte, als wollte es zerspringen, aber sich wehren und um Hilfe schreien konnte sie nicht mehr. Sie spurte aber den Regen, der ihr über das Gesicht lief und die Kleidung durchnässte und die Arme der Männer. Die beiden brachten sie irgendwohin und eigentlich war es ihr auch egal. Schlimmer konnte es wohl nicht mehr kommen, nachdem ihr eigener Vater sie eine Ehrlose genannt und kaltherzig aus dem Haus gewiesen hatte. Warum nur hatte er sie so grausam behandelt? Dass er sie nicht herzlich liebte, das hatte sie schon lange gewusst, sie war ja kein Sohn, sondern nur ein Mädchen, mit dem er nichts anzufangen wusste. Und doch war er früher erträglich gewesen, auch noch nach dem Tod ihrer Mutter. Schlimm war es erst geworden, als er Lisenka zur Frau genommen hatte. Er war dieser in manchen Dingen hörig geworden, tat genau das, was sie ihm empfahl und sah in Hubertus seinen Nachfolger. Seine Tochter war somit überflüssig geworden. Er brauchte sie nicht mehr, nicht einmal für den Haushalt. Ihre Gedanken verwirrten sich, flatterten umher wie unruhige Vögel und verschwanden dann ganz. Es wurde hell um sie und gleich darauf wieder dunkel. Sie nahm das kaum noch wahr, sie merkte auch 27
nicht, dass sie in ein großes Gebäude getragen, auf ein Bett gelegt und von einer älteren Magd ausgezogen und betreut wurde. Und während Gerd Windmaker bereits zu Bett gegangen war und Dorette Laurenz in halber Bewusstlosigkeit vor sich hin dämmerte, saßen Klaus Störtebeker und der Wirt beieinander, jeder einen Becher Wein vor sich. Doch die Stimmung zwischen ihnen war getrübt, sehr sogar, denn der sonst so umgängliche Wirt sagte eben verärgert: »Ihr habt ein gutes Herz, Klaus Derenborg, aber Ihr könnt dieses... äh... Freudenmädchen doch nicht bei mir lassen. Ich habe eine Herberge und kein Bordell.« »Wie kommt Ihr darauf, dass sie eine Dirne ist?«, fragte Klaus überrascht. »Ich brauchte sie mir nur genau anzuschauen. Solche Kleider tragen ehrbare Frauen nicht, die treiben sich auch nicht in der Gosse herum, die haben nämlich ein Heim und eine Familie.« »Und wenn der Schein trügt?«, erwiderte Klaus mahnend und dachte an sein eigenes Schicksal. Hatte man ihn nicht auch ehrlos genannt und tat es immer noch? Doch das konnte er dem Wirt ja nicht sagen. Deshalb setzte er nur hinzu: »Es gibt soviel Elend auf der Welt. Und wer die Möglichkeit hat, es ein wenig zu lindern, der sollte es tun. Zumindest sollten wir uns anhören, was die Frau uns zu sagen hat, wenn sie wieder bei Verstand ist. Erst dann können wir entscheiden, ob sie bei Euch arbeiten kann, oder ob ich für diese bedauernswerte Kleine eine andere Arbeitsstelle suchen muss. Mitnehmen kann ich sie jedenfalls nicht.« »Nein, das geht wohl nicht. Das Meer ist kein Ort für Frauen.« Burkhard Goldstein füllte die inzwischen leer getrunkenen Becher nach und sagte dann abschließend: »Ihr habt recht, Klaus Derenborg, warten wir ab, bis Euer Findelkind uns etwas erzählen kann.« * Als Dorette erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihre Strahlen blendeten sie, gleichzeitig schaute sie sich erschrocken im Raum um und fragte sich, wie sie hierher und in dieses Bett ge28
kommen sein mochte. Sie erinnerte sich nur noch daran, bei einem Handwerker nach Arbeit gefragt zu haben. Den Meister hatte sie jedoch gar nicht sprechen können, sie war schon vorher von dessen Frau beschimpft und aus dem Haus gestoßen worden. Danach hatte sie zwei Männer gesehen, die ihr Angst gemacht hatten. Und dann? Sie wusste es nicht mehr. Aber sie war hier, war nicht mehr auf der Straße. Die Kammer war nur klein, recht armselig, aber sauber. An den weißgetünchten Wänden standen eine schmucklose Truhe, eine Bank aus Kiefernholz und ein Tisch mit Krug und Waschschüssel. Sie fühlte sich nicht besonders gut, richtete sich aber trotzdem auf und wollte das Bett verlassen. Es gelang ihr nicht, denn sie sank sofort zurück. Vor ihren Augen flimmerte es und sie hörte die Stimme einer Frau nur von fern. »Legt Euch wieder hin! Ihr seid noch viel zu schwach, um aufzustehen. Außerdem seid Ihr so klapperdürr, dass man Eure Rippen zählen kann.« »Ja...«, murmelte Dorette, während sie von der Frau wieder auf das Lager gedrückt und zugedeckt wurde. »Ich habe Euch eine Hühnersuppe mitgebracht und etwas Brot. Seid Ihr in der Lage, allein zu essen? Oder muss ich Euch füttern?« Dorette öffnete die Augen und blickte auf eine ältere Frau, die eben eine Schüssel auf den Tisch stellte. Die Frau trug ein dunkelblaues Leinenkleid, eine weiße Schürze und ein schwarzes Kopftuch, genauso wie die Mägde im Hause ihres Vaters. Vielleicht war sie aber auch die Hausherrin, weil ihre Fragen und Anordnungen einen befehlenden und argwöhnischen Unterton hatten. »Ich kann allein essen«, hauchte sie und versuchte laut und deutlich zu sprechen. »Ich danke Euch für die Mahlzeit... und werde... danach sofort... gehen. Ich weiß nur nicht, wo meine... Sachen geblieben sind.« Johanna Liebetraut rümpfte verächtlich die Nase. »Euer Tuch und das Unterzeug sind noch in der Wäsche. Die Schuhe müssen gereinigt werden, die sind ja total verschmutzt. Euer anstößiges Kleid habe ich Jedoch verbrannt. Auch wenn Ihr eine Dirne seid, in unserem Hause 29
habt Ihr Euch anständig zu benehmen und zu kleiden. Ich werde Euch nachher Kleidung und Wäsche von mir bringen. Mein Nachthemd habt Ihr ja auch schon an.« Ohne Dorette noch Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, rauschte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Sie war also eine Dirne, eine Buhlerin, eine Ehrlose, die man so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Noch vor ein paar Tagen hätte sie jetzt verzweifelt geweint, jetzt konnte sie es nicht mehr. Sogar die Tränen blieben ihr versagt, obwohl sie nichts mehr auf dieser Welt besaß, weder Mutter noch Vater, keine Geschwister oder andere Verwandte und keine Freunde. Sie hatte nur noch das nackte Leben. Und auch das würde sie nicht erhalten können, wenn ihr niemand Arbeit und ein Dach über dem Kopf gab. Und es würde ihr niemand helfen, nicht einmal der eigene Vater tat das. Warum sollte sie sich jetzt noch aufraffen und essen? Aber die Suppe duftete so verführerisch... Dorette gelang es nun doch, sich zu erheben und die paar Schritte zu gehen, bis sie am Tisch angekommen war. Sie zitterte zwar, aber das Beben und das Unwohlsein ließen ein wenig nach, als sie sich auf die Bank gesetzt und ein paar Löffel von dem Eintopf zu sich genommen hatte. Sie konnte nur langsam schlucken, aber so nach und nach schaffte sie es doch, den Teller leer zu essen. Das Brot ließ sie jedoch unberührt. Für jemanden, der tagelang gehungert hatte, war die Suppe mehr als ausreichend. Sie schlich zum Bett zurück, legte sich hinein und nahm sich vor, wach zu bleiben, bis die unfreundliche Frau wiederkam und ihr etwas zum Anziehen brachte. Doch sie hatte kaum die Decke über sich gezogen, da schlief sie auch schon wieder. Klaus Störtebeker, der gegen Abend nach ihr sah, lächelte zufrieden. Seinem verflogenen Vögelchen ging es offenbar besser. Sollte die Kleine ruhig noch ein paar Stunden schlafen, um so schneller erholte sie sich. Er öffnete leise die Tür und war doch nicht leise genug, denn Dorette erwachte und fragte ängstlich: »Wer seid... Ihr?« Er drehte sich herum. »Ich heiße Klaus Derenborg. Mein Freund und ich haben Euch auf der Straße gefunden. Ihr wart völlig erschöpft. Da haben wir Euch in diese Herberge gebracht, wo wir zur Zeit auch wohnen.« 30
»Eine Herberge?«, wiederholte sie überrascht. »Und ich dachte, ich wäre bei einer... Familie oder auf einem Gut.« »Ich werde Euch morgen alles erklären. Bis dahin geht es Euch sicher wieder gut. Und dann können wir darüber reden, wie es mit Euch weitergehen soll.« »Ihr... wollt... mir... helfen?« »Ja, das will ich. Macht Euch keine Sorgen.« Klaus war nun doch zu ihr gekommen, strich ihr sanft über die Wange und blickte in ihre Augen, die ihn misstrauisch musterten. »Ich will aber nicht wieder... in ein... Freudenhaus«, murmelte sie verzagt. »Ich will eine ehrliche Arbeit.« »Natürlich, ich bin kein Mädchenhändler. Doch nun muss ich gehen. Gleich wird Johanna Liebetraut kommen und Euch eine Mahlzeit bringen. Esst und trinkt, damit Ihr zu Kräften kommt. Alles andere besprechen wir später.« Er ging und Dorette sah ihm fassungslos nach, fassungslos und verblüfft, aber sie hatte keine Angst mehr. Sie spürte, dass sie zu diesem Mann Vertrauen haben konnte. * Zu dem Wirt, der ihren Retter am nächsten Morgen begleitete, hatte sie dieses Vertrauen nicht. Wie sollte sie auch? Er betrachtete sie mit so verächtlichen Blicken, als wäre sie eine Diebin oder eine Mörderin. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass er sie ebenfalls für eine Frau hielt, die sich für Liebesdienste bezahlen ließ. Sie saßen in einer Stube, die dem Wirt anscheinend als Geschäftsraum diente, denn hier befand sich ein großer Schreibtisch, auf dem diverse Papiere und Federn lagen. An den Wänden standen mehrere Regale mit Büchern und Schriftrollen sowie einige Stühle. »Wie heißt Ihr, junge Frau?«, begann Klaus und unterdrückte ein Lächeln, weil sein Findling in dem viel zu weiten Kleid von Johanna recht putzig aussah. »Dorette Laurenz.« 31
»Laurenz?«, wiederholte Burkhard Goldstein ungläubig. »So heißt doch einer der reichsten Männer der Stadt. Denkt Euch lieber einen anderen Namen aus, sonst wird dieser Herr noch böse.« »Das ist er schon. Er ist mein Vater und wollte mich zur Hochzeit mit seinem Stiefsohn zwingen. Und als ich mich... geweigert habe, Hubertus zu heiraten, da hat er mich fortgeschickt, damit ich im... ›Rosengarten‹ arbeiten lerne und fortan gehorsam bin. Ich... musste in der Küche helfen... bis Leberecht Wenzel, das ist der Wirt, mich zum Baden geschickt und mir dieses grässliche rote Kleid gegeben hat.« Hastig und schluchzend erzählte Dorette alles, was mit ihr in den vergangenen Wochen geschehen war. Sie hatte ihren Bericht kaum beendet, als Burkhard Goldstein sie heftig anfuhr. »Ihr lügt«, sagte er mit klirrender Stimme. »Ich habe schon von Diederich Laurenz gehört. Er ist ein angesehener und fürsorglicher Mann. Er hat nur eine einzige Tochter und die würde er niemals gegen ihren Willen verheiraten und vor allen Dingen nicht in einem Haus der übelsten Sorte unterbringen.« »Mein Vater mag mich nicht, ich bin ja nur ein Mädchen. Er hat Hubertus viel lieber, weil der sein Nachfolger werden kann, ihm zum Munde redet und...« »Haltet Euer Schandmaul und verschwindet!«, schrie der Wirt wütend und wollte aufstehen. Klaus legte ihm jedoch begütigend für einen Moment die Hand auf die Schulter. »Das lässt sich doch alles nachprüfen, Meister Goldstein. Ich gebe ja zu, es klingt wie ein Ammenmärchen, was uns das Fräulein erzählt hat. Und es passt auch nicht zu der edlen Gesinnung des Herrn Laurenz, aber vielleicht ist doch etwas Wahres an dieser Geschichte. Man soll ja immer beide Seiten hören.« Der leise Vorwurf ärgerte den Besitzer der Herberge und machte ihn zugleich so verlegen, dass er unwirsch sagte: »Ich werde das selbst machen, denn Ihr seid mir doch zu nachsichtig, Klaus Derenborg. Mag die Frau so lange hier bleiben, bis ich genaue Auskünfte bekommen habe. Sollte sie jedoch Euch und mich belogen haben, dann fliegt sie vor die Tür, so wahr mir Gott helfe.« 32
Dorette zuckte bei dieser Drohung zusammen, als hätte man sie geschlagen. Schon wieder glaubte man ihr nicht. Auch Klaus Derenborg würde bald anders denken, denn ihr Vater, Lisenka und Hubertus würden keinesfalls die Wahrheit sagen. Man würde sie auch von hier fortjagen wie eine Aussätzige. Bei diesen Gedanken wurde ihr erneut übel, aber sie nahm sich zusammen, so gut es ging. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt«, beteuerte sie mit schwacher Stimme, »aber ich weiß nicht, ob mein Vater das auch tun wird.« Der Wirt runzelte die Stirn, Klaus sagte jedoch freundlich: »Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Seid guten Mutes und geht jetzt in Eure Kammer. Wir werden mit Eurem Vater reden. Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis und Ihr könnt wieder nach Hause zurückkehren.« Sie antwortete nicht - wozu auch? Aber sie stand gehorsam auf und ging zu der Kammer. Dort setzte sie sich auf die Bank und dachte nach. Eine halbe Stunde später schlüpfte sie ungesehen aus dem Haus, ein schmales Bündel mit etwas Nahrung und Kleidung von Johanna fest in der Hand. * Klaus und Gerd hatten bald herausbekommen, wo Diederich Laurenz wohnte. Sie waren zwar nicht misstrauisch dem Wirt gegenüber, wollten sich aber eine eigene Meinung bilden. Und so standen sie nun vor dem Haus des Patriziers, sahen sich bedeutungsvoll an und pfiffen angesichts des zur Schau gestellten Reichtums leise durch die Zähne. Dann betätigte Klaus den Türklopfer. Ein Diener öffnete ihnen und musterte sie einen Augenblick, als ob er überlegen würde. Schließlich meinte er wohl, dass die Gäste zur besseren Gesellschaft gehörten und fragte höflich: »Was ist Euer Begehr, meine Herren?« »Ich bin Klaus Derenborg und komme im Namen meiner Mutter«, log Störtebeker. »Sie hat hier vor einiger Zeit Verwandte besucht und 33
Fräulein Dorette während eines Gottesdienstes kennen gelernt. Sie bat mich, ihr viele herzliche Grüße auszurichten.« Ambrosius war gut geschult und erwiderte kühl, genauso wie er dem Gastwirt Burkhard Goldstern vor knapp zwei Stunden geantwortet hatte: »Fräulein Dorette wohnt nicht mehr hier. Sie ist in ein Kloster gegangen.« Klaus hatte geahnt, dass man ihn mit einer Lüge abspeisen würde. Er lächelte daher breit und erwiderte treuherzig: »Meine Frau Mutter hat mir noch ein kleines Geschenk für das Fräulein gegeben. Würdet Ihr mir bitte das Kloster nennen, damit ich dort vorsprechen kann?« Der Hausdiener hatte mit so einer Bitte offensichtlich nicht gerechnet und stammelte heiser: »Das... geht... nicht.« »Warum nicht?«, warf Gerd Windmaker ein. »Bis zum Kloster... sind es... mehrere Stunden. Außerdem wünscht das Fräulein... keinen Besuch. Ihr könnt mir das Geschenk geben. Ich werde veranlassen, dass sie es bekommt.« »Einem Diener vertraue ich so ein kostbares Geschenk nicht an«, erklärte Klaus mit scheinbarer Empörung. »Wenn Fräulein Dorette nicht hier ist, dann möchte ich gern Herrn Laurenz sprechen.« »Der ist auch nicht da, nur...« »Warum fertigst du die Herren an der Tür ab, Ambrosius?« Diederich Laurenz hatte die Stimmen an der Haustür gehört, kam nun langsam näher und sah in den gut gekleideten Männern offenbar Geschäftsleute, die mit ihm verhandeln oder vielleicht sogar etwas kaufen wollten. Ambrosius sah die Gewitterwolke schon über sich, denn schließlich hatte er jeden abzuwimmeln, der nach Fräulein Dorette fragte. Bei diesen hartnäckigen Burschen war ihm das leider nicht gelungen. Völlig verunsichert krächzte er: »Ich... ich habe ihnen gesagt, dass Fräulein Dorette in einem Kloster ist, aber...« »Schon gut, Ambrosius.« Der Hausherr wedelte ungeduldig mit der Hand, worauf der konfuse Diener schnell das Weite suchte. »Ihr wollt also zu meiner Tochter?« Diederich Laurenz bat Klaus und Gerd mit einer einladenden Handbewegung ins Haus. 34
Die Seeleute folgten ihm in sein Kontor, setzten sich anschließend auf die angebotenen Stühle und hörten sich anschließend die traurige Legende von der halb wahnsinnigen Tochter an, die nun im Kloster für den Mann beten wollte, der im Kampf gefallen war. »Glaubt mir, sie braucht das Geschenk Eurer Frau Mutter nicht mehr. Was soll sie im Kloster auch damit anfangen?« Mit diesen Worten beendete der Großkaufmann seine Lügengeschichte, wobei er sich scheinbar tief ergriffen über die Augen wischte. Klaus und Gerd hatten genug gehört und sie fragten sich betreten, wer nun eigentlich die Wahrheit sagte. Da es zwecklos war, den Großkaufmann weiter aushorchen zu wollen, verabschiedeten sie sich und gaben sich den Anschein, als wollten sie in die nächste Schenke gehen. Gerd sagte jedoch leise: »Ich habe das Gefühl, als wenn hier irgend etwas faul ist. Der Diener war ziemlich verwirrt und mehr als froh, als Laurenz kam, der aber angeblich nicht im Hause war.« »Und alles, was man uns erzählt hat, klang wie eingelernt, als hätte man sich abgesprochen, was man sagen wollte, wenn doch jemand nach dem Fräulein fragte«, setzte Störtebeker nachdenklich hinzu. »Den Namen des Klosters hat man uns auch nicht genannt. Mittlerweile glaube ich, dass man uns hier vorsätzlich belogen hat.« Gerd Windmaker zuckte mit den Schultern. »Scheint so, doch wir sind jetzt genauso klug wie vorher. Am besten wird sein, die Frau auf dem Land unterzubringen. Dort fragt man vielleicht nicht nach ihrer Vergangenheit.« »Sie ist viel zu zart für die Arbeit auf dem Feld oder im Stall.« Der Waffenmeister lächelte verschmitzt. »Gib es zu, Kapitän, sie gefällt dir?« »Ja, schon, sie erinnert mich an eine meiner Schwestern. Ich möchte ihr helfen und bin immer noch der Meinung, dass sie in unserer Herberge gut aufgehoben ist. So muss sie ihre Heimatstadt nicht verlassen und findet vielleicht doch noch zu ihren Angehörigen zurück. Es ist nur so schade, dass der Wirt sie nicht haben will, weil er glaubt...« 35
Er unterbrach sich, weil er von einem älteren Mann angerempelt wurde. Dieser trug die Kleidung eines Bediensteten, schien sehr aufgeregt zu sein und entschuldigte sich mehrmals. »Nun macht doch nicht soviel Aufhebens«, wehrte Klaus ab. »Mir ist ja gar nichts geschehen.« »Zum Glück«, nuschelte der Alte und flüsterte dann hastig: »Diederich Laurenz hat seine Tochter verstoßen. Ich weiß es genau, hab' alles gehört, was er damals gesagt hat. Er hat sie für vogelfrei erklärt, weil sie im ›Rosengarten‹ gehurt haben soll. Ich glaub's nicht, denn das Fräulein Dorette ist nicht so eine. Und nun bitte ich Euch inständig, mich nicht zu verraten. Es würde mich meine Stellung kosten.« »Das will ich gern glauben. Doch nun hab' Dank, Alter.« Klaus holte ein paar Münzen hervor und drückte sie dem Mann in die Hand, worauf dieser mit einem ehrfürchtigen »Danke, Herr« wieder davon eilte. Schon bald war er in der Menge der Passanten verschwunden. »Das hört sich schon ganz anders an.« Klaus lachte triumphierend. »Machen wir uns auf den Weg zum ›Rosengarten‹. Was meinst du dazu, Gerd?« »Machen wir«, erklärte der andere grinsend. »Leberecht Wenzel wird sich bestimmt freuen, uns wieder zu sehen.« * Genauso war es auch. Der Gastwirt verbeugte sich und erkundigte sich beflissen: »Wollen die Herren wieder ein Bad nehmen?« »Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Klaus ziemlich frostig. »Ihr habt mich gehörig getäuscht, indem Ihr mir nur diese drallen Weiber zur Verfügung gestellt habt, nicht aber die zarte Kleine, diese Dorette, von der mir ein Freund gestern Abend erzählt hat.« Leberecht Wenzels Stirn rötete sich und sein Mund wurde zu einem schmalen Strich, bevor er unwillig knurrte: »Die ist nicht mehr hier, war sowieso nur ein Küchenmädchen und viel zu zimperlich fürs Geschäft. Ihr Vater hat zwar gesagt, ich soll sie tüchtig ran nehmen, aber genützt hat es nicht viel. Das Mädchen war zu nichts zu gebrauchen. Dabei wollt ich es ihr wirklich ein bisschen leichter machen, 36
hab' ja gemerkt, dass die Küchenarbeit zuviel für sie ist. Gedankt hat sie es mir nicht. Das störrische Frauenzimmer hat mir nur Ärger und Aufregung eingebracht. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie viel Mühe es mich gekostet hat, den vorübergehend um seine Manneskraft gebrachten Ritter zu beschwichtigen.« Störtebeker und Windmaker konnten sich so manches sehr genau vorstellen und grinsten schadenfroh, auch noch, als der Wirt abschließend sagte: »Ja, so war es, genauso. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass das Weib davon gelaufen ist.« »Nun, wenn es sich so verhält, dann müssen wir uns eben woanders ein zierliches Reh suchen«, entgegnete Störtebeker lakonisch und knuffte seinen Waffenmeister in den Oberarm. »Es gibt auch noch andere gastliche Stätten.« Der Wirt versagte sich einen deftigen Fluch, während er den beiden athletischen Gestalten verärgert nachschaute. Sie hatten ordentlich gezahlt und waren bisher zufrieden gewesen. Wiederkommen würden sie wohl nicht. Doch das machte nichts. Es gab genug andere - Ritter, Kaufleute, Handwerker und mitunter sogar Bauern, die seine Schenke und die Badestuben besuchten. Leberecht Wenzel sorgte sich nicht um sein Auskommen, denn das Geschäft mit der käuflichen Liebe blühte auch ohne diese beiden Burschen und eine zickige Jungfer wie Dorette Laurenz. »Sie ist demnach von hier geflohen«, stellte Gerd fest, als sie wieder auf der Straße angekommen waren. »Danach wird sie zu ihrem Vater gegangen sein, doch der hat sie nicht wieder aufgenommen. Das ist mir unerklärlich. Ich begreife auch nicht, warum er sie überhaupt hierher geschickt hat. Er hat doch sicher gewusst, dass der ›Rosengarten‹ nicht nur eine Schenke, sondern vor allem ein Bordell ist.« »Ja, das ist alles sehr seltsam«, antwortete Klaus. »Aber es ist nicht unmöglich. Vielleicht hat ihm sein angehender Schwiegersohn diese Schenke aufgeschwatzt, weil er das Mädchen, das ihn nicht heiraten wollte, bestrafen wollte. Vielleicht war es aber auch einfach nur Neid. Die Gier mancher Menschen nach Reichtum, Macht oder irgendwelchen Kostbarkeiten ist mitunter so groß, dass sie alles beiseite räumen, was ihnen im Wege ist. Und sie finden dann sogar eine 37
Rechtfertigung vor sich selbst, warum sie so und nicht anders handeln konnten.« »So könnte es gewesen sein«, pflichtete ihm Gerd bei. »Wenn Dorette Laurenz ihren Stiefbruder geheiratet hätte, wäre er auf ganz einfache Art und Weise zu ihrem Vermögen gekommen.« »Aber sie wollte ihn nicht«, spann Klaus diesen Faden weiter. »Deshalb musste sie verschwinden. Und es ist ja so leicht, jemanden anzuschwärzen, wenn derjenige sich nicht wehren kann. Laurenz ist vermutlich nur ein williges Werkzeug in den Händen seines Stiefsohnes und dessen Mutter gewesen. Man erzählt sich, dass seine zweite Frau eine Schönheit und er rasend in sie verliebt ist.« »Das arme Mädchen«, murmelte Gerd. Er keuchte ein wenig, denn Klaus' Schritte waren länger und schneller geworden, als würde er befürchten, zu spät in die Herberge zu kommen. Und genau das befürchtete der Waffenmeister inzwischen auch. * Burkhard Goldstein stand mürrisch hinter dem Tresen. Er beobachtete seine Gäste, spülte Becher und Humpen aus und ärgerte sich über sich selbst. Sein Verstand musste gelitten haben, als er bis zum Haus des Großkaufmannes Laurenz geritten war, um sich nach Fräulein Dorette zu erkundigen. Sie sei schon seit Wochen in einem Kloster, wäre Nonne oder Novizin geworden und würde nun Tag für Tag beten, hatte ihm ein hochnäsiger Diener mitgeteilt. Danach hatte er ihm die Tür vor der Nase zugemacht. Soviel zum Fräulein Laurenz und die andere, die er hier hatte aufnehmen müssen, diese spillerige Person mit den braunen Augen und den hübschen Brüsten, konnte demnach nur eine Lügnerin sein. Eine Dirne war sie ja sowieso. Er hatte sie sofort aus seiner Herberge weisen wollen, hatte es sich dann aber doch anders überlegt. Er wollte wenigstens warten, bis Klaus Derenborg und sein Freund wieder da waren. Ihnen wollte er zuerst mitteilen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Und dann würden sie ihm recht geben. 38
Nur fünf Minuten später betraten die beiden die Schankstube, schlenderten zu ihm und Klaus fragte: »Habt Ihr Neuigkeiten für uns, Meister Goldstein?« »Welche soll ich denn haben?«, murrte dieser. »Euer Findelkind hat uns alle an der Nase herumgeführt.« »Das müsst Ihr uns näher erklären. Wäre es möglich, dass Ihr den Ausschank für eine Weile einer Magd überlasst?« »Selbstverständlich, Herr Derenborg.« Burkhard winkte Johanna Liebetraut heran und gab ihr einige Anweisungen. Danach gesellte er sich zu seinen besten Gästen, die unterdessen an einem abseits stehenden Tisch Platz genommen hatten. »Ja, Euer flügellahmes Vögelchen hat es faustdick hinter den Ohren«, bekräftigte der Wirt jetzt aufgebracht. »Es hat uns nach Strich und Faden belogen und heißt ganz gewiss nicht Dorette Laurenz. Dieses Fräulein ist nämlich schon seit Wochen in einem Kloster.« Klaus lächelte bitter. »Ja, das wollte uns dieser selbstherrliche Diener auch weismachen, Herr Laurenz übrigens auch. Sie sind es nämlich, die uns nach Strich und Faden belogen haben. Dorette hat die Wahrheit gesagt.« Burkhard Goldstein war davon natürlich nicht überzeugt, er fragte spöttisch: »Und wie seid Ihr zu diesen so ganz anderen Auskünften gekommen?« »Es gibt im Hause Laurenz nicht nur eingebildete und egoistische Laffen, sondern auch mitfühlende Menschen. Und ein solcher hat uns zugeflüstert, dass Diederich Laurenz seine Tochter verstoßen hat, als sie aus der Schenke ›Rosengarten‹ geflohen ist. Er hat sie nämlich, genauso wie Ihr, als Hure beschimpft, hat kein gutes Haar an ihr gelassen, obwohl das arme Ding zu diesem Schritt mit Sicherheit gezwungen wurde. Leberecht Wenzel, das ist der Besitzer dieser anrüchigen Schenke, hat uns da so einiges berichtet, er hat uns auch gesagt, dass Dorette Laurenz ausgesprochen zimperlich sei und schließlich ausgerissen wäre, obwohl er sie, gutmütig, wie er nun einmal wäre, von der Küchenmagd zur Dirne befördern wollte.« 39
Die schonungslosen Worte von Klaus verfehlten ihre Wirkung nicht. Burkhard Goldstein wurde verlegen und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Wer kann denn ahnen, dass es solche Väter gibt«, verteidigte er sich mit belegter Stimme. Danach räusperte er sich mehrmals und sagte schließlich: »Unter diesen Umständen werde ich Fräulein Laurenz natürlich bei mir einstellen. Johanna ist nicht mehr die Jüngste und braucht außer Wanda noch jemanden, der ihr zur Hand geht.« Klaus bedachte Gerd und den Wirt mit seinem unnachahmlichen Lächeln und meinte danach tief aufatmend: »Dann können wir ja unbesorgt abreisen. Mein Schiff ist nämlich in Kürze fertig.« »Das könnt Ihr«, bestätigte der Wirt und erhob sich. »Doch nun wollen wir zu dem Fräulein gehen, damit es weiß, dass es hier fortan Arbeit und ein Dach über dem Kopf hat.« Klaus und Gerd nickten sich zufrieden zu und folgten Burkhard Goldstein bis zu der Kammer, wo man Dorette untergebracht hatte. Der Raum war jedoch leer. »Wo ist Fräulein Laurenz?«, blaffte der Wirt eine gerade vorübereilende Magd an. »Was weiß denn ich?«, gab diese schnippisch zurück. »Ich hatte den ganzen Tag auf dem Hof zu tun, da hatte ich keine Zeit, um nach einer Schlampe zu schauen.« »Sie ist keine Schlampe! Merke dir das!«, wetterte Goldstein und begann anschließend zusammen mit den beiden Seeleuten sowie dem Hausknecht nach Dorette zu suchen. Das Ergebnis war jedoch niederschmetternd. Klaus und Gerd verzichteten darauf, dem Wirt Vorwürfe zu machen, obwohl diese durchaus angebracht waren. Vermutlich hatte dessen Unfreundlichkeit zu Dorettes Verschwinden geführt. Inzwischen war es Abend geworden, aber im Sommer war es auch jetzt noch hell genug, die Suche fortzusetzen. Deshalb sattelten die drei Männer ihre Pferde und erkundeten so die Umgebung. Vielleicht war die junge Frau ja noch nicht sehr weit gekommen. * 40
Allmählich waren ihre Schritte kürzer und langsamer geworden. Das Bündel, das sie in der Hand trug, schien immer schwerer zu werden, zumal es an diesem Tag schwül und warm war. Dorette seufzte leise. Sie hatte es sich einfacher gedacht, bis zu einem Bauerngehöft zu gelangen und dort um Arbeit zu bitten. Sie war zwar bis zum Hof gekommen, doch der Bauer hatte mit einem bezeichnenden Blick auf ihre zierliche Figur nur gemeint, dass er eine kräftige Magd brauche, kein schmächtiges Mädchen, das kaum einen Eimer mit Milch heben konnte. Aber vielleicht brauchte der Bäcker im nächsten Dorf jemanden. Zum Brotbacken wäre sie eventuell doch geeignet. Sie hatte sich bedankt und war weiter gezogen, war sich jedoch bewusst, dass sie das nächste Dorf heute nicht mehr erreichen würde, auch wenn sie den Feldweg benutzte, zu dem der Bauer ihr geraten hatte. Es war besser, sich ins Gras zu legen und zu schlafen, um so die wenige Nahrung für morgen aufzusparen und neue Kräfte zu sammeln. Da der Wegrand zum Teil mit Büschen und hohem Unkraut bewachsen war, bot er einen recht guten Unterschlupf für die Nacht. Und wenn es nicht regnete oder erheblich kälter werden würde, dann konnte sie sich hier getrost ausruhen. Hier würde sie auch niemand finden, hier war sie ganz allein. Anscheinend war sie es noch nicht, denn sie vernahm in diesem Augenblick den Hufschlag eines Pferdes. Hastig wollte sie sich hinter einem Holunderbusch verstecken, dessen Äste bis auf die Erde reichten. Der Reiter hatte sie aber doch gesehen. Er brachte seinen Schimmel direkt vor ihr zum Stehen und sprang aus dem Sattel. Dorette atmete ein wenig auf, denn der große blonde Mann, der sie vorgestern zur Herberge getragen und so freundliche Worte für sie gehabt hatte, würde ihr vermutlich nichts tun. »Da seid Ihr ja!«, rief Klaus, während er mit einer Hand sein Pferd am Zügel führte und mit der anderen nach ihr griff und sie am Arm festhielt. 41
Nun hatte sie doch Angst und fauchte: »Lasst mich los! Ich habe nichts gestohlen. Ihr braucht mich also nicht wie eine Verbrecherin festzunehmen.« »Aber Dorette, ich nehme Euch doch nicht fest. Ich will Euch doch nur nach Hause bringen.« »Ich habe kein Zuhause, ich bin vogelfrei.« Sie wehrte sich, allerdings ohne Erfolg. Um Störtebekers Hand abzuschütteln, brauchte man nämlich die Kräfte eines Bären. »Ihr habt jetzt wieder ein Zuhause«, beharrte er nachdrücklich. »Und Ihr habt Arbeit. Der Wirt von der ›Alten Mühle‹ will Euch als Küchenhilfe einstellen. Er sucht schon nach Euch, genauso wie Gerd Windmaker und ich.« »Der Wirt?«, fragte sie sarkastisch. »Der sieht mich doch lieber gehen als kommen. Ich bin doch eine Verworfene... eine Hure. Das sagen alle im Haus.« »Jetzt sagen sie das nicht mehr. Burkhard Goldstein hat es ihnen strikt verboten. Er weiß inzwischen, dass Ihr die Tochter von Diederich Laurenz seid und aus Gründen, die wir nicht verstehen können, von ihm verstoßen wurdet.« Sie war so erstaunt, dass ihr der Mund sekundenlang offen stehen blieb. »Das... das... hat mein Vater zugegeben?«, murmelte sie schließlich. »Es ist nicht zu fassen.« »Nun ja, so direkt nicht. Es war jemand von Eurem Gesinde, ein älterer Mann mit rötlichen Haaren.« Sie lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung an Hannes Brandt. Bei ihm hatte sie in ihrer Kinderzeit oft gesessen, wenn er die Schuhe putzte oder Holz für die Öfen zerkleinerte und hatte andächtig zugehört, wenn er von früher erzählte, als er noch Schiffsjunge auf einer gewaltigen Kogge gewesen war. »Der Mann wird Hannes gewesen sein«, sagte sie nun laut. »Er hat mich gern und war immer für mich da.« »Wie mir scheint, ist er das auch heute noch.« Klaus ließ Dorette nun los, weil er spürte, dass sie keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen würde. »Er lässt sich offenbar nicht von Eurem Vater einschüchtern und hat mir gesagt, dass jener Euch davon gejagt hat. Er 42
hat mir auch gesagt, dass Ihr im ›Rosengarten‹ gearbeitet habt und...« »Als Küchenmädchen«, warf sie tonlos ein. »Nur als Küchenmädchen, ich bin keine Dirne.« »Ich weiß auch das. Der Wirt vom ›Rosengarten‹ hat Euch noch in unguter Erinnerung und ein gewisser Ritter auch.« Sie errötete, erwiderte aber tapfer: »Ich wusste mir nicht anders zu helfen.« Klaus lachte und sagte dann: »Kleines Mädchen, du bist ja eine ganz erstaunliche Person. Doch nun komm! Bald wird es dunkel sein. Da wird es gefährlich auf allen Wegen.« Er hob sie schwungvoll auf sein Pferd, setzte sich hinter sie und raunte ihr dann noch spitzbübisch zu: »Dein späterer Ehemann wird sehr auf sich acht geben müssen.« Sie antwortete nicht, schmiegte sich jedoch an die breite Brust ihres Retters und fühlte sich dort wohl und geborgen. Und dann war da noch etwas, etwas, was sie noch nie gefühlt hatte. Sie hätte lachen mögen oder weinen - oder diesen Mann küssen. Und sie dachte verwirrt: Klaus Derenborg - was hast du nur mit mir gemacht? * Vor der Herberge trafen sie auf Gerd Windmaker und den Wirt, die noch auf ihren Pferden saßen und anscheinend unschlüssig gewesen waren, ob sie sich noch einmal auf die Suche machen sollten oder nicht. Beide atmeten erleichtert auf, als sie in diesem Augenblick Klaus und das Mädchen erkannten. »Wo habt Ihr sie gefunden, Klaus Derenborg?«, rief Burkhard Goldstein, während er vom Pferd sprang und dieses einem herbei eilenden Knecht übergab. »Auf dem Weg zum nächsten Dorf.« Klaus sprang ebenfalls vom Pferd, genau wie Gerd und half anschließend der ängstlich drein blickenden Dorette herunter. »Wir gehen schon mal ins Haus«, verkündete Störtebeker und zog den neugierig gaffenden Gerd mit sich. Somit waren Burkhard Gold43
stein und Dorette allein, soweit das auf einem belebten Wirtschaftshof möglich war, wo Knechte und Mägde geschäftig herum liefen, damit alles getan wurde, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. »Du kannst bei mir arbeiten und bekommst Lohn, wie es üblich ist«, begann der Herbergsvater spröde. »Wie ich gehört habe, hast du Erfahrung in der Küchenarbeit. Geh zu Johanna, sie wird dir alles sagen und zeigen. Du wirst auch bei ihr in der Kammer schlafen.« »Ja, Herr.« Sie senkte demütig den Kopf und nahm ihr Bündel von einer Hand in die andere. »Ist das alles, was du besitzt?«, fragte er und wies mit der Hand darauf und auf das schäbige Gewand, das sie anhatte. »Ja, Herr«, wiederholte sie leise. »Johanna wird dir etwas anderes besorgen. Ich rede morgen mit ihr. Du kannst jetzt gehen - gute Nacht.« »Ja, Herr«, murmelte sie zum dritten Mal und eilte dann ins Haus, begab sich sofort zur Küche, wo eine Magd eben Holz ins Herdfeuer warf. Diese beachtete Dorette kaum und murmelte zu deren zaghafter Begrüßung nur etwas, was nicht gerade wie ein Segenswunsch klang. »Ich soll mich bei Frau Liebetraut melden«, sagte Dorette tapfer. »Die is nich da, aber wenn du willst, kannste mir ja helfen. Hol Holz und Reisig und kümmere dich danach um den Hammelbraten. Aber lass ihn nicht anbrennen.« Wanda rasselte noch mehr Aufträge herunter und verließ anschließend so schnell die Küche, dass ihre Röcke flatterten. Dorette war froh, dass sie ging. Sie arbeitete sowieso lieber allein. Nach einer guten Stunde, als Johanna sich endlich wieder sehen ließ, war die Küche aufgeräumt und der Braten fertig. Die neue Küchenhilfe war allerdings so müde, dass sie kaum noch die Augen aufbehalten konnte. »Geh ins Bett!«, schnauzte die Alte sie an. »Weißt ja inzwischen wohl, wo unsere Kammer ist.« Dorette nickte zustimmend, schlich davon und fiel kurz darauf förmlich ins Bett. Und dann schlief sie so gut wie schon lange nicht mehr. 44
Am nächsten Morgen wusste sie es einzurichten, dass sie Klaus bei den Ställen begegnete. »Ich... möchte Euch danken«, sagte sie und schaute mit strahlenden Augen zu ihm auf. Er erschien ihr wie ein Held aus einer der alten Sagen, die sie zu Hause so oft gelesen hatte oder wie einer jener furchtlosen und starken Männer, die einstmals in schmalen, langen Booten die Meere befahren hatten. »Ihr habt mir erneut geholfen, denn ich weiß genau, dass ich es nur Euch zu verdanken habe, dass der Wirt mich eingestellt hat.« »Nun übertreibe nicht, kleines Mädchen«, wehrte Klaus lächelnd ab. »Ich helfe gern, bin doch Gottes Freund und aller Welt Feind. Doch jetzt brauchst du mich nicht mehr. Burkhard Goldstein hat mir versprochen, dass du hier eine Bleibe haben sollst. Und eines Tages wirst du auch einen braven Mann finden, mit dem du glücklich sein wirst.« »Ihr geht... fort?« »Ja, in ein paar Tagen. Dann kann ich mein Schiff in Besitz nehmen und wieder... äh... meiner Arbeit nachgehen.« »Werdet Ihr... wiederkommen?« »Sicher werde ich eines Tages erneut in Lübeck vor Anker gehen«, erwiderte er mit einem ihm unbewussten innigen Unterton in der Stimme. »Aber ich kann dir nicht sagen, wann das sein wird. Das Meer hat seine eigenen Gesetze.« Das wusste sie auch und doch hoffte sie auf ein baldiges Wiedersehen. Sie sprach ihre Wünsche nicht aus, aber sie standen in ihren Augen und vermittelten Klaus ein Gefühl von Sehnsucht und Trauer. »Ich kann nicht bei dir bleiben, Mädchen«, sagte er nun leise und strich ihr sanft über das straff geflochtene Haar. »Ein Seemann ist kein Mann für das ganze Leben. Du würdest immer nur auf mich warten, dich ängstigen und unsere Kinder allein auf ziehen müssen.« »Ich habe Vertrauen zu Euch, zu Euch allein. Vor den anderen fürchte ich mich. Sie werden...« »Was lungerst du hier bei den Ställen herum?« Burkhard Goldstein stieß diese Frage scharf und grollend hervor. Er war unbemerkt heran gekommen und wies nun herrisch in Richtung des Hauses, worauf Dorette sich schleunigst davon machte. 45
Als sie hinter einer Tür verschwunden war, sagte der Wirt ungehalten zu Störtebeker: »Ihr solltet die Frau nicht von der Arbeit abhalten. Außerdem schadet es ihrem Ruf, wenn sie hier herum steht. Es sind noch längst nicht alle überzeugt, dass sie nicht in Sünde gelebt hat.« »Sie hat sich nur bei mir bedankt«, versetzte der Schiffskapitän kühl. »Und ich habe ihr alles Gute für die Zukunft gewünscht. Mehr war da nicht.« »Hoffentlich«, brummelte Goldstein, wandte sich brüsk ab und marschierte zum Weinkeller. Klaus sah ihm zuerst verdutzt nach, doch dann pfiff er leise vor sich hin und dachte amüsiert: Schau mal einer an. Unser kaltschnäuzi-
ger Wirt hat doch ein Herz für kleine, verschüchterte Hühnchen. Und eifersüchtig auf mich ist er auch. Na, wenn das nichts ist. *
Die jungen Männer waren bereits am frühen Nachmittag gekommen, sie hatten sich auf die Bänke gefläzt und laut nach Brot, Braten und Wein verlangt. Inzwischen hatten sie ein Spanferkel, gebratene Fische und jede Menge belegte Schnitten vernichtet. Ihr Hunger war damit gestillt, ihr Durst jedoch nicht, ihr Übermut ebenfalls nicht. Mit jedem Becher Wein, den sie in sich hinein schütteten, wurden sie lauter und unternehmungslustiger. Sie rissen derbe Witze, grölten frivole Lieder und riefen alle naselang nach der Schankmagd. Alles in allem machten sie einen Lärm wie ein Dutzend betrunkener Soldaten, aber sie waren nur vier Jünglinge, kaum den Kinderschuhen entwachsen. Ihrer Kleidung nach zu schließen, waren sie besseren Standes, das bedeutete allerdings nicht, dass sie die Zeche auch bezahlen würden. Burkhard Goldstern sah dem Treiben mit wachsender Sorge zu und er nahm es den anderen Gästen nicht übel, dass sie inzwischen gegangen waren. Nur der Schiffskapitän und sein Freund hockten am anderen Ende des lang gezogenen Raumes und tranken seelenruhig ihr Bier. 46
Einer der Milchbärte hatte wohl nun doch genug in seinem Wanst, er rutschte unter den Tisch und blieb dort liegen. Die anderen drei kümmerte das nicht. Sie lärmten weiter und verpassten ihrem Saufkumpan sogar ein paar Fußtritte. Nun reichte es dem Wirt. Er ging zu dem zänkisch werden Trio und sagte barsch: »Ihr habt nun genug gezecht, meine Herren! Zahlt mir, was Ihr gegessen und getrunken habt, nehmt Euren schlafenden Freund und macht, dass Ihr nach Hause kommt, bevor Eure Väter nach Euch suchen.« »Unsere Väter?«, rief der Anführer der kleinen Bande aufgebracht. »Die haben uns nichts zu sagen... gar nichts. Und nach Hause... gehen wir auch nicht. Lasst lieber neuen Wein bringen. Der Krug ist ja leer. Seht!« Er drehte ihn um und zeigte auf die letzten Tropfen, die auf den Tisch fielen. »Ihr bekommt nichts mehr, Zahlt jetzt und verschwindet!« »Oho, der Wirt, der falsche... Hund, will... uns nichts mehr geben!«, lallte ein anderer Jüngling. Schon längst nicht mehr sicher auf den Beinen, stand er mühsam auf, schaffte es aber doch noch, ein Messer aus seinem Stiefel zu ziehen und damit Burkhard Goldstein zu bedrohen. »Kriegen wir nun was... oder nicht?«, zischte er und fuchtelte mit dem Messer herum. »Nein, Ihr bekommt nichts mehr!« Der Wirt schlug dem jungen Mann den Dolch aus der Hand und versuchte ihn zum Gehen zu bewegen, indem er ihn zum Ausgang drängte. In diesem Augenblick bekam er von hinten einen Schlag auf den Kopf und fiel ohnmächtig zu Boden. Er sah nicht mehr, wie die Mägde vor Angst davon liefen, hörte nicht, wie Krüge und Becher an die Wand geworfen wurden - und jemand schrie, er würde dem verfluchten Wirt jetzt Feuer unter dem Hintern machen. »Das wirst du nicht tun, Bürschchen!« Störtebeker, der sich bis jetzt nicht hatte einmischen wollen, hob den entgeisterten Gernegroß einfach hoch und beförderte ihn vor die Tür, während Gerd einen anderen Raufbold vor sich her schob, als sei er nichts weiter als eine Marionette. 47
Der dritte Jüngling wollte nun davon laufen, geriet jedoch in die Nähe der Küche, wo er von Johanna mit dem Besen verhauen wurde. Laut schreiend konnte er schließlich entwischen. Er stolperte hinaus und lief zwei Knechten in die Arme, die sich seiner in sehr drastischer Weise annahmen und kurz darauf den total Betrunkenen aus der Gaststube schafften. Dorette und Wanda waren unterdessen zu Burkhard Goldstein gelaufen. Sie untersuchten ihn, hörten sein Herz schlagen und atmeten erleichtert auf. Am Kopf hatte er allerdings eine blutende Wunde, die er in diesem Moment, als er das Bewusstsein wieder erlangte, stöhnend betastete. »Mein Gott«, murmelte er, »was ist nur mit mir geschehen?« »Einer dieser Bösewichte hat Euch mit einem Krug auf den Kopf geschlagen«, ereiferte sich Wanda und rannte vor die Tür, um nachzusehen, was mit den üblen Burschen inzwischen passiert war. Das war schließlich auch wesentlich wichtiger und interessanter, als dem verletzten Wirt wieder auf die Beine zu helfen. Dorette blieb jedoch bei ihrem Arbeitgeber, half ihm, sich aufzurichten und bugsierte ihn anschließend zu einer Bank. »Bleibt hier sitzen, bis ich Euch einen Verband gemacht habe«, ordnete sie an. »Ich hole nur ein sauberes Tuch aus meiner Kammer.« »Ja, ja... schon gut«, nuschelte Goldstein und blickte seiner jüngsten Magd verwundert nach. Noch viel mehr wunderte er sich, als diese das in Streifen gerissene Tuch behutsam und fachgerecht um seinen Kopf wickelte und somit die Blutung zum Stillstand brachte. Damit ließ auch sein Schwindelgefühl soweit nach, dass er mit Dorettes Unterstützung aufstehen und nach draußen gehen konnte. Dort fand er sein Gesinde vor, das ihm aufgeregt und kreischend erzählte, dass die vier Saufbrüder von Herrn Derenborg, seinem Freund und den Knechten unschädlich gemacht worden seien. »Unschädlich nun gerade nicht«, wehrte Klaus grinsend ab, der eben mit Gerd und den übrigen Männern wieder auftauchte. »Wir haben die Kerle nur in der Futterkammer eingeschlossen, Meister Goldstein. Dort können sie ihren Rausch ausschlafen. Morgen werden sie hoffentlich wieder so nüchtern sein, dass sie Euch die Zeche bezahlen 48
und auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Und wenn sie das nicht wollen, dann helfen wir notfalls ein wenig nach.« Ein allgemeines Gelächter erscholl, dem Wirt war allerdings nicht nach Frohsinn zumute. Er brachte nur ein verkrampftes Lächeln zustande und sagte dann zu Störtebeker: »Ihr habt mir geholfen, mein Eigentum zu bewahren. Dafür danke ich Euch und Eurem Freund von Herzen.« »Nicht der Rede wert«, erwiderte Klaus. »Wir hätten Euch schon eher zur Hilfe kommen sollen, aber wir dachten nicht, dass diese betrunkenen und sangesfreudigen Burschen gewalttätig werden würden.« »Das dachte ich auch nicht. Ich habe sie anfangs nur für harmlose Rüpel gehalten. Aber der Wein hat ihnen wohl vollkommen die Sinne verwirrt. Wenn Ihr nicht eingegriffen hättet, wäre sicher noch viel mehr entzwei gegangen als ein paar Krüge.« »Sie wollten die Herberge anzünden, Herr«, mischte sich Johanna Liebetraut entrüstet ein. »Und Euch hätten sie zum Tode gebracht, wenn Klaus Derenborg sie nicht daran gehindert hätte.« »So ist es wohl«, gab Burkhard Goldstein schwer zurück. Dann wandte er sich ab und ließ sich von Dorette ins Haus führen. Störtebeker sah ihnen lächelnd nach. * Die jugendlichen Raufbolde wurden am nächsten Morgen von ihren mehr oder weniger zornigen Vätern abgeholt. Der Übermut der Herrensöhnchen war einer sichtlichen Zerknirschung gewichen, wozu allerdings die Nachwehen der gestrigen Orgie erheblich beitrugen. Noch immer blass und geplagt von Kopfweh und Magendrücken schwangen sie sich, nachdem ihre Väter die Rechnung beglichen hatten, auf ihre Pferde und ritten davon. Burkhard Goldstein bewahrte Haltung, hoffte aber, diese Burschen nie mehr wieder zu sehen. Ihm dröhnte natürlich auch der Kopf, auch wenn Dorette ihm versicherte, es würde ihm bald besser gehen. 49
Klaus war an diesem Vormittag wieder bei Meister Birnbaum gewesen, hatte sein Schiff bezahlt und liebevoll über das edle Holz gestrichen, aus dem es gebaut worden war. Ja, genauso hatte er es sich vorgestellt, schnittig und mit hohen Aufbauten im Vor- und Hinterschiff und den besten Segeln, die man hatte überhaupt auftreiben können. Morgen würde es zu Wasser gelassen werden und dann würde auch die Mannschaft an Bord gehen. Ihm, Störtebeker, blieb nur noch übrig, seine Zeche in der Herberge zu bezahlen und dann zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Dorettes Bild schob sich in seine Überlegungen. Wäre er ein Mann in einer gesicherten Position und ein Mann, der ein Haus besaß, hätte er gesagt: Geh mit mir Mädchen, werde meine Gemahlin und hilf mir vergessen, dass ich zwei Frauen, die ich vielleicht immer noch liebe, verloren habe. Doch das konnte er ihr nicht sagen, das durfte er nicht. Dorette brauchte einen Mann, der tagtäglich bei ihr war, sie liebte und beschützte. Burkhard Goldstein war so ein Mann. Er war noch jung, sah gut aus und hatte ein regelmäßiges Einkommen. Und das Wichtigste war, er mochte Dorette, auch wenn er das nicht zugeben wollte, nicht einmal vor sich selbst. Und sie mochte ihn auch, zumindest ein wenig. Als er bei der Herberge ankam, dachte er immer noch an sein Findelkind, das dem eigensinnigen Wirt vielleicht doch Herz und Bett wärmen konnte. Aber wie er die beiden zusammenbringen sollte, das fiel ihm nicht ein. * Es sah fast so aus, als hätte der Wirt auch das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen. Zumindest schien er auf ihn gewartet zu haben. Als Klaus nämlich den Gastraum betrat, unterbrach er seine Arbeit an der Theke und eilte auf ihn zu. »Verzeiht, dass ich Euch gestern so wenig gedankt habe, Klaus Derenborg«, begann Burkhard schuldbewusst. »Mein Kopf hatte noch Schwierigkeiten mit dem Denken.« 50
»Das ist doch kein Wunder. Aber wie ich sehe, geht es Euch heute schon viel besser.« »Ja, Gott sei Dank. Mein Schädel brummt zwar noch ein wenig, aber sonst geht es mir gut. Es bedrückt mich nur, dass ich Euch und Eurem Freund noch nicht genug gedankt habe. Ohne Euch wäre meine Herberge in Flammen aufgegangen.« »Vielleicht«, gab Klaus zu, »vielleicht aber auch nicht. Eure Knechte wären sicher auch bald zur Stelle gewesen, um Euch zu helfen.« »Schon möglich, doch ein Brand ist zwar schnell entfacht, lässt sich jedoch nur schwer löschen. Es ist schon besser, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen. Und ich selbst war obendrein nicht bei Sinnen...« Er unterbrach sich, blickte flüchtig zu seinen Gästen, die an diesem Tag nur aus einer Gruppe von Pilgern bestanden und fügte dann eindringlich hinzu: »Bitte sagt mir, wie ich Euch meinen Dank abstatten kann.« In Klaus' Augen blitzte es auf und er sprach nun das aus, was ihm schon seit gestern durch den Kopf ging: »Gerd und ich brauchen nichts. Wir freuen uns, dass wir Euch von diesem Gesindel befreien konnten, bevor der Schaden noch größer wurde, aber es gibt jemanden, der Eurer Hilfe dringend bedarf - Dorette Laurenz. Sie hat Schlimmes hinter sich und niemanden mehr auf dieser Welt, heiratet sie und gebt ihr ein Zuhause, in dem sie sich wohl fühlen kann. Das wäre uns Dank genug und wir könnten beruhigt abreisen.« »Die soll ich heiraten?« Der Wirt schaute seinen Gast so entgeistert an, dass dieser ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Warum nicht?«, beharrte Klaus. »Sie ist hübsch und gefällt Euch auch. Da täusche ich mich nicht.« Burkhard Goldstein schnappte noch immer nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er hätte gern alle möglichen Gründe gegen diese Vermählung angebracht, aber er wagte es nicht, sondern brummelte nach einer Weile nur: »Wenn ich es recht bedenke, könnte sie mir in der Wirtschaft sehr nützlich sein.« »Nicht nur in der Wirtschaft.« Klaus grinste verschmitzt. »Sie würde Euch auch pflegen, wenn Ihr krank seid, das hat sie ja gestern schon bewiesen.« Störtebeker deutete auf den Verband, der immer 51
noch Goldsteins Kopf zierte. »Und sie wäre Euren Kindern, die Ihr bestimmt haben werdet, eine gute Mutter.« »Ja, nun ja... aber wird sie mich auch nehmen? Immerhin hat sie ihren begüterten Stiefbruder auch nicht gewollt.« »Weil dieser falsch wie eine Schlange ist. Kann man ihr das verübeln?« Der Wirt atmete einige Male tief ein und aus, bevor er antwortete: »Nein, das kann man nicht. Ihr habt recht, Klaus Derenborg. Und Ihr sollt auch nicht vergeblich an mein Herz und mein Gewissen appelliert haben. Bereits morgen werde ich dem Fräulein einen Antrag machen.« »Gut, dann werde ich meine Abreise so lange verschieben, bis ein Pfarrer Euch gesegnet hat.« Klaus lachte unbekümmert und schlug Burkhard Goldstein freundschaftlich auf die Schulter, was dieser mit einem süßsauren Lächeln quittierte. * Dorette hatte sich eben in ihrer Kammer eine saubere Schürze umgebunden und wollte nun in die Küche zurück. Als sie jedoch Störtebeker auf sich zukommen sah, blieb sie unwillkürlich stehen und fragte beinahe atemlos: »Sucht Ihr... mich?« »Ja, so ist es. Ich hätte gern mit dir gesprochen, Mädchen, aber allein.« Sie zögerte einen Augenblick, blickte aber vertrauensvoll zu ihm auf und ging dann zur Hintertür hinaus. Er folgte ihr, bis sie am Brunnen stehen blieb und ihn erwartungsvoll ansah. »Burkhard Goldstein wird dich bitten, seine Frau zu werden«, fiel Klaus sozusagen mit der Tür ins Haus, denn Diplomatie und lange Reden waren nicht seine Stärke. »Es hat ihm gefallen, dass du seine Wunde so gut versorgt hast und findet überdies, dass du dich in der Küche wirklich sehr geschickt anstellst.« »Aber... das sind doch... keine Gründe zum... heiraten«, stammelte Dorette fassungslos. 52
»Doch, ich denke schon«, widersprach er ernst. »Gemeinsame Pflichten und gegenseitige Hilfe sind kein schlechtes Fundament für eine Ehe. Außerdem mag dich der Wirt gut leiden.« »Da irrt Ihr Euch aber sehr. Auch wenn er es nicht ausspricht, so weiß ich doch, dass er mich immer noch für ehrlos und leichtfertig hält.« »Du wirst ihn bald eines Besseren belehren. Und das wird dir leicht fallen, denn er brennt vor Verlangen nach dir und wird dir sicher bald ein guter Ehemann sein.« »Hat er Euch das alles gesagt?« »Nein, ich habe ihn nur lange genug beobachtet«, versetzte Klaus ernsthaft. »Glaub mir, Mädchen, es ist so, wie ich es sage. Und du wirst es gut bei ihm haben... und hast dann wieder ein Zuhause.« Sie schluckte die Traurigkeit und die Hoffnungslosigkeit hinunter und sagte sich, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als den Antrag von Burkhard Goldstein anzunehmen. Sie war vogelfrei und ihr Ruf verdorben. Deshalb musste sie froh sein, wenn sich jemand fand, der sie trotz allem doch heiraten wollte. »Ihr habt dem Wirt diesen Rat gegeben, nicht wahr?«, fragte sie unumwunden. »Das will ich nicht leugnen, denn es wäre mir eine Beruhigung, kleine Dorette, wenn ich dich hier gut aufgehoben wüsste.« »Könnt Ihr mich... nicht mitnehmen?«, platzte sie nun heraus, obwohl sie die Antwort doch schon wusste. Er schüttelte den Kopf und sagte dann: »Das ist viel zu gefährlich. Ich bin kein Seefahrer im Dienste der Hanse, sondern ein Freibeuter, der lediglich einen Kaperbrief besitzt. Und wenn meine Männer und ich Schiffe entern, wenn wir kämpfen und Beute machen, dann fließt oft genug Blut, dann steht der Teufel uns zur Seite und wir haben ständig den eigenen Tod vor Augen.« Sie erschauerte. »Müsst Ihr denn... so etwas machen?« »Ja«, entgegnete er festen Tones, »ich nehme den Reichen etwas weg und gebe es den Armen. Daran kann nichts falsch sein. Und ich werde so etwas immer wieder tun. Es muss auch Leute geben, die den Mächtigen den Kampf ansagen.« 53
Dorette senkte den Kopf. »Ja, ich weiß. Aber Ihr werdet doch... wiederkommen?« »Das ist schon möglich«, erwiderte er ausweichend und streichelte flüchtig ihre Wange. »Doch dann bist du schon lange die Frau von Burkhard Goldstein und wirst kaum noch an mich denken.« Ihr flammender Blick verriet ihm, dass sie ganz anderer Meinung war, auch wenn sie jetzt nüchtern sagte: »Wenn der Wirt mich tatsächlich haben will, dann werde ich ihn heiraten, denn ich möchte wieder ein Heim haben und nicht immerzu auf der Suche nach Arbeit und Brot sein.« »So ist es recht. Ich wusste, dass du ein vernünftiges Mädchen bist und dir die Tür zu deinem Glück nicht zuschlagen wirst.« Klaus nickte ihr lächelnd zu und ging dann zu Gerd Windmaker, der offensichtlich nach ihm Ausschau hielt. Dorette sah ihm mit Tränen in den Augen nach. Am anderen Vormittag machte ihr Burkard Goldstein einen sehr sachlichen Heiratsantrag, den sie ebenso sachlich annahm. Sie wurden noch am gleichen Tag im Beisein von Klaus und Gerd sowie des gesamten Gesindes getraut. * Der Stapellauf der ›Sancta Barbara‹ hatte sich in der Stadt doch herumgesprochen, auch wenn die angeheuerte Mannschaft ziemlich maulfaul gewesen war und angeblich von rein gar nichts wusste. Aber so ein großes und stolzes Schiff fiel natürlich doch auf, ebenso wie der stattliche Kapitän, der jetzt an der Reling stand und den Bürgern und Bauern zuwinkte. Neben ihm hatte sich ein Teil seiner Leute aufgebaut, die ebenfalls die Hände zum Gruß hoben. Und dann glitt die Kogge ins Wasser, wo sie, von Störtebeker gesteuert, schnell in Fahrt kam. Ihr erstes Ziel würde die Insel Heiligland sein, denn dort war Goedecke Micheel inzwischen sicher schon angekommen. Dort würden sich die Freunde treffen, miteinander reden und die nächsten Beutezüge planen. 54
Dorette und Burkhard Goldstein hatten auch am Ufer der Travemündung gestanden, schweigsam und in Gedanken versunken, bis jemand während des Stapellaufes laut rief: »Viel Glück, gute Fahrt und allzeit eine Handbreit Wasser unter dem Kiel, Klaus Störtebeker!« In diesen Ruf stimmten sofort andere Bürger ein, manche warfen sogar vor Freude ihre Mützen und Kappen in die Luft. Aus dem Gruß eines einzelnen wurde schnell ein leidenschaftlicher Beifall für denjenigen, den man schon überall den Retter der Armen, der Verstoßenen und Verfolgten nannte. Der Chor der Begeisterten verstummte erst, als die Kogge nicht mehr zu sehen war. Nun eilten die Einwohner der Stadt wieder zu ihren Häusern und die Bediensteten zu ihrer Herrschaft. Nur die Gesetzlosen und Vogelfreien trieben sich weiterhin im Hafen herum, in der Hoffnung auf ein Stück Brot oder einen Happen Dörrfisch. Die Jungvermählten hatten sich während des Jubels um Klaus Störtebeker zuerst verständnislos angesehen, doch allmählich begriffen sie. Der, dessen Schiff jetzt auf die offene See segelte, war derjenige, den die armen Leute liebten und die Reichen hassten, er war Gottes Freund und aller Welt Feind. »Er ist es also«, sagte Burkhard Goldstein spröde. »Nun wird mir vieles klar.« »Mir auch«, erwiderte Dorette nachdenklich. »Er ist einer der unseren, er hat Euch und mir geholfen und ist ein wahrer Freund. Ich werde ihn nie vergessen.« Das glaube ich dir aufs Wort, dachte der Gastwirt verärgert. Du
würdest ihm doch bis ans Ende der Welt nachlaufen, wenn er das wollte. Laut sagte er jedoch nur: »Lasst uns jetzt nach Hause gehen, Frau.
In der Herberge gibt es viel zu tun.« Sie nickte beklommen, während sie unbehaglich die Schultern hochzog. Trotz der sommerlichen Wärme war ihr kalt, wahrscheinlich, weil sie sich vor jener Stunde fürchtete, in der sie nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott Burkhards Frau werden würde. *
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Die Warenladung, die sie vor zwei Tagen einem flämischen Pfeffersack abgenommen hatten, war so ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Man hatte zwar hart dafür kämpfen und Verletzte hinnehmen müssen, man hatte sogar zwei der wagemutigsten Gegner über Bord geworfen, aber letzten Endes zählte nur der Erfolg. Karsten Studer, der vor einigen Stunden mit den anderen auf der Insel Heiligland angekommen war, hatte noch den Überfluss vor Augen - zahllose Ballen von Wollstoffen und Seide, Pelze von Zobeln und Nerzen, Lederwaren, Getreide und Erze und sogar ein fremdartiges Spiel, das Goedecke »Schach« nannte. Und das Allerschönste war, dass ein Teil dieser Beute ihm, Karsten Studer alias Ingomar von Humfried, gehörte. Er würde seinen Anteil nach und nach in den Hafenstädten verkaufen, um seine Geldkiste zu füllen. Aber er war noch längst nicht reich genug, um nach Stralsund zurückzukehren - und den Bürgermeister und zukünftigen Schwiegervater von seinem Platz zu verdrängen. Der alte Wulflam mochte ja faseln und fordern, was er wollte und große Reden schwingen. Er traute ihm trotzdem, nicht über den Weg, aber seine Tochter war zum Anbeißen, ein bisschen schmal und jung noch, aber so liebreizend, dass er schon unruhig wurde, wenn er nur an sie dachte. In ein oder zwei Jahren würde sie jedoch eine Frau sein, voll erblüht und sinnlich, so wie er die Weiber liebte. Dann würde er sie heiraten, seinen Schwiegervater in die Hölle schicken und zumindest nach außen ein braver Bürger werden. Diese Zukunftsaussichten vor seinem geistigen Auge, schlenderte er zu einigen anderen Mannschaftsmitgliedern, die es sich an einer windgeschützten Stelle bequem gemacht hatten. Von hier aus konnte man das Meer beobachten, wurde aber selbst nicht gesehen. Er setzte sich zu ihnen, ließ sich einen Humpen Bier geben und rülpste kurz danach laut, genau wie die anderen es zumeist taten. Er war überhaupt bestrebt, keine Ausnahme zu sein. Er wollte nicht auffallen, wollte sich zurückhalten - bis zu jenem Tag, wo er seine beiden Freunde in die Mannschaft schleusen und dann mit ihnen zusammen das Ruder an sich reißen würde. 56
Und doch gab es etwas, was ihn nervös machte, gab es jemanden, der seine Pläne durchkreuzen konnte. Und dieser Jemand war Klaus Störtebeker. Dessen Augen waren ihm lästig, ja, geradezu unangenehm. Sie schienen bis auf den Grund seiner Seele zu blicken. Nur gut, dass der Kerl jetzt nicht mehr zur Mannschaft gehörte. »So ein paar Tage faulenzen tut richtig gut«, meinte Sven eben und streckte sich behaglich im warmen Sand aus. »Das sind eben die angenehmen Seiten von unserem Gewerbe. Nach Sturm, Kampf und Gefahr kann man sich irgendwo ausruhen und braucht weder an Könige, Fürsten und Pfeffersäcke zu denken.« Als Antwort bekam er nur ein beifälliges Nicken, Karsten Studer lästerte jedoch gutmütig: »Willst dich wohl schon zur Ruhe setzen und bürgerlich werden, was?« »Nö, noch nicht. Das anständige Leben ist teuer, muss dafür noch viel auf die hohe Kante legen.« »Ja, so ist es«, pflichtete ihm Fietje schläfrig bei. »Bevor man geköpft, gerädert oder gepfählt wird, muss man den Absprung ins bürgerliche Leben schaffen.« »Male den Teufel bloß nicht an die Wand«, mahnte ein anderer. Dieser wurde jedoch schnell getröstet, weil mehrere Männer beinahe zugleich riefen: »Uns erwischen sie nicht, die Hanseherren mit ihren Henkern. Und wenn doch, dann wird Störtebeker uns retten. Er wird es nicht zulassen, dass man uns vom Leben zum Tode bringt.« Störtebeker, immer wieder Störtebeker! Karsten Studer verzog missmutig seinen Mund. Er konnte den Namen seines ärgsten Feindes schon nicht mehr hören. Er verfolgte ihn manchmal sogar bis in seine Träume. Er wünschte sich, dass der Teufel diesen gefährlichen Burschen recht bald holen möge. Der Herrscher der Unterwelt fühlte sich offenbar nicht angesprochen, denn im Morgengrauen ging die ›Sancta Barbara‹ in der Nähe von Heiligland vor Anker. Und als sie vier Tage später wieder die Bucht verließ, prangte auf ihr der Name: ›Roter Teufel‹. Goedecke Micheel folgte ihm in einem gewissen Abstand. Ihr erstes gemeinsames Ziel war Stockholm, dessen Einwohner immer noch unter der dänischen Blockade zu leiden hatten. Den Freibeutern war 57
natürlich durchaus bewusst, dass ihre Hilfe der Königin außerordentlich missfallen würde. Doch das machte ihnen nichts aus, sie kämpften nicht für einen Herrscher von Gottes Gnaden, sondern für das Volk und damit auch für sich selbst. * Dorette hatte es sich früher ganz anders vorgestellt, eine Ehefrau zu sein. Sie hatte von einem zärtlichen Gemahl geträumt, von einem Mann, der sie stürmisch in die Arme nahm und an sich drückte, ihr Haar streichelte und ihr zuflüsterte, dass sie allein seine Liebste wäre. Burkhard Goldstein tat selbstverständlich nichts dergleichen. Sie hatten inzwischen zwar ein gemeinsames Schlafzimmer, doch das bewohnte sie allein. Ihr Mann schlief in einer anderen Kammer. Nun, vielleicht war das auch gut so. Sie hatte ja ohnehin Angst. Bei der Arbeit verstanden sie sich jedoch mit jedem Tag besser, was sich auch positiv auf die Stimmung in der Herberge auswirkte. Und sie hätte durchaus zufrieden sein können, wenn sie nicht immer noch die unterschwellige Abwehr ihres Ehemannes gespürt hätte. Aber immerhin war sie jetzt eine Ehefrau, die man zu respektieren hatte. Bei diesen Gedanken lächelte sie bitter, so wie an diesem Nachmittag auch, als sie das Haus verließ, um auf den angrenzenden Wiesen nach Minze und anderen Kräutern zu suchen. Schon bald fand sie die ersten Stängel, die sie abschnitt und in ihren Korb legte. Ein Stückchen weiter entdeckte sie die in dieser Gegend recht seltene Wasserminze, aus deren Blättern man einen Tee bereiten konnte, der Magen- und Gallebeschwerden linderte. Sie lief zu dieser Stelle und begann, eifrig zu pflücken, achtete jedoch kaum darauf, dass ihre Füße nass wurden. Erst als sie auf einmal mit beiden Beinen bis zu den Knien im Schlamm versank, erkannte sie entsetzt, dass sie ins Moor geraten war. Nach den ersten Schrecksekunden, in denen sie unwillkürlich aufschrie und ihr der Korb aus der Hand fiel, warf sie sich geistesgegenwärtig in die Richtung, aus der sie gekommen war, klammerte sich an ein großes Büschel Binsen, zog sich daran langsam aus dem Morast und kroch dann vorsichtig weiter, bis sie endlich fes58
ten Boden erreichte. Erleichtert aufatmend blieb sie im Gras liegen und schlief kurz darauf vor Erschöpfung ein. * »Meine Frau ist verschwunden?«, wiederholte Burkhard Goldstein eher ungehalten als besorgt. »Seit wann denn?« »Schon seit Stunden, Herr«, erklärte Wanda mit einer Stimme, die vor geheimer Schadenfreude nur so tropfte. »Sie hat gesagt, sie wollte irgendwas sammeln, Beeren oder Kräuter. Aber nun wird es bald dunkel, da müsste sie doch längst wieder hier sein... oder nicht?« Der Hausherr trennte sich nur ungern von seiner Buchführung, aber er stand auf, rief nach einem der Stallknechte und pfiff nach seinem Hund. »Meint Ihr, es ist etwas mit ihr passiert?«, fragte Wanda unangenehm überrascht. Schließlich hatte sie fest damit gerechnet, dass der Wirt nun laut auf seine Frau schimpfen und sie aus dem Haus jagen würde, sobald sie wieder auftauchte. Dass er sie suchen könnte, leuchtete der drallen Küchenmagd nicht ein. Aber wahrscheinlich musste er wenigstens so tun, als läge ihm das Wohl seiner Ehefrau am Herzen. Burkhard kümmerte sich nicht um die neugierige und schnippische Wanda. Er ließ den Hund Dorettes Spur aufnehmen und eilte zusammen mit seinem Knecht über die Wiesen dem Moor zu. Gefoltert von heftigen Vorwürfen, die er sich selbst machte, rannte er dem Schäferhund nach und wich wie dieser den gefährlichen Stellen aus. Seinem Knecht gelang es kaum, ihm zu folgen. Inzwischen war die Sonne ganz untergegangen und die Dämmerung legte allmählich ihre alles verhüllenden Schatten über das Land. Würden sie Dorette jetzt noch finden? Würden sie sie überhaupt noch finden? Vielleicht hatte sie den Kampf gegen das Moor schon vor Stunden verloren. Der Hund lief jetzt immer schneller und bellte schließlich laut, wurde aber von einer Frauenstimme beschwichtigt, von Dorettes Stimme. 59
Burkhard schickte daraufhin ein Dankesgebet zum Himmel, was seinen Groll, die aufgestaute Wut und die eigenen Gewissensbisse jedoch keineswegs beseitigte, ganz im Gegenteil. Im Näher kommen erkannte er an ihren nackten und schmutzigen Füßen, an ihren total verdreckten und teilweise auch zerrissenen Röcken und den aufgelösten Zöpfen, dass der todbringende Sumpf ihr bereits sehr nahe gekommen war. Sie hatte sich jedoch retten können - Gott sei Dank. »Hier finde ich Euch also!«, herrschte er sie laut an, als sie unmittelbar voreinander standen. »Im Hause sucht man seit Stunden nach Euch... und was macht Ihr? Ihr rennt durch die Wiesen, um irgendwelches Unkraut zu pflücken. Wisst Ihr denn nicht, wie gefährlich es hier ist?« »Nein, das wusste ich nicht«, erwiderte Dorette tonlos. »Das dachte ich mir«, blaffte er weiter. »Ihr seht Euch ja niemals vor. Aber Verstand und Verantwortung kann man ja von Euch auch nicht erwarten, einer Frau, die ihren Leib verkauft hat, die...« Eine schallende Ohrfeige unterbrach seine Anschuldigungen. Dorette hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen und fauchte nun in überwältigendem Zorn: »Was seid Ihr doch nur für ein gemeiner Kerl? Warum verurteilt Ihr nur die Frauen, die oftmals zu diesen Diensten gezwungen werden? Warum zieht Ihr nicht gegen die Männer zu Felde, die zu diesen Frauen gehen? Aber so etwas macht der rechtschaffene Gastwirt von der ›Alten Mühle‹ natürlich nicht. Vielleicht war er ja schon selbst mal in einem Bordell. Er wird doch nicht das eigene Nest beschmutzen.« Der Stallknecht hatte die scharfe Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten anfangs grinsend verfolgt, nun meinte er jedoch, er sei vollkommen überflüssig und es wäre angebracht, die Gefahrenzone umgehend zu verlassen. Er rief den Hund leise zu sich und machte sich mit ihm schleunigst auf den Heimweg. Burkhard Goldstein bemerkte den Rückzug seines Knechtes nicht, er strich sich nur mehrmals verblüfft über seine schmerzende Wange. Seine Frau hatte so kräftig ausgeholt wie ein Waschweib. Sie wagte es, ihm zu widersprechen und wagte es auch, ihn zu züchtigen und zu 60
beschimpfen. Und das alles in Gegenwart seines Dieners. Es war nicht zu fassen. Vollkommen verdattert stand er da, so reglos, als hätte er wieder einen Schlag auf den Kopf bekommen. Er kam erst wieder zu sich, als er sah, wie seine Frau davonlief. Er folgte ihr, holte sie schließlich auch ein und hielt sie am Arm fest. »Ihr seid so schmutzig wie ein Schwein, das in der Erde herum wühlt«, sagte er spöttisch und grollend zugleich. »Um Euch zu säubern, braucht man nicht nur einen Zuber voller Wasser, sondern ein ganzes Fass oder besser noch, einen See. Kommt mit, ich zeige Euch, wo Ihr Euch waschen könnt.« »So?«, zischte sie. »Waschen soll ich mich dort, vielleicht wollt Ihr mich jedoch lieber... ertränken. Dann seid Ihr die Ehefrau, die Klaus Störtebeker Euch aufgedrängt hat, endgültig los.« »Ich bin doch kein Mörder!«, rief er empört und griff nach ihrer Hand, um sie mit sich zu ziehen. Doch sie wehrte sich heftig. »Lasst mich los! Ich weiß allein, wo der See ist. Schickt lieber Johanna, damit sie mir Seife und saubere Sachen bringt.« »Wie Ihr befehlt«, antwortete er höhnisch und ging dann schweigend neben ihr her bis sie den See erreicht hatten. * Sie hatte sich ausgiebig von Kopf bis Fuß gewaschen und war anschließend mit Johanna, die mittlerweile sehr an ihr hing, zur Herberge gegangen. Sie hatte sich ins Bett gelegt und konnte doch nicht schlafen, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging. Im Hause war es inzwischen still geworden. Die Gäste, die über Nacht blieben, hatten sich bestimmt schon in ihre Mäntel gewickelt und schliefen in ihren Kammern oder auf den einfachen Lagerstätten im großen Saal. Wenn sie das doch auch nur könnte, wenn sie wenigstens vorübergehend vergessen würde, was heute geschehen war. Aber selbst diese Wohltat blieb ihr versagt. So lag sie grübelnd im Bett und hörte auf die Geräusche der Nacht, hörte das lang gezogene ›huuuui‹ eines 61
Kauzes, das Rascheln von kleinen Tieren und das Rauschen des Windes. Die Schritte ihres Ehemannes hörte sie nicht. »Ihr?«, murmelte sie, als sie ihn im Schein des Mondes vor dem Bett stehen sah. »Was wollt Ihr denn? Habt Ihr mich denn immer noch nicht genug zurecht gewiesen?« Er setzte sich auf die Bettkante und sagte verlegen: »Ich will Euch nicht tadeln, sondern mich bei Euch entschuldigen.« »Ach ja?« Sie richtete sich entgeistert auf. »Ja, so ist es«, bekräftigte er leise, während er nach ihrer Hand griff und diese behutsam streichelte. »Ich war ungerecht und... gemein. Bitte verzeiht mir und... lasst uns unsere Ehe neu beginnen.« »Und wie stellt Ihr Euch diesen Neubeginn vor?« »Ich werde in Euch nur noch meine Gemahlin sehen, werde das Vergangene vergessen und mit Euch ein friedliches Leben führen. Ich hätte auch gern... Kinder.« »Ich auch«, gab sie spontan zurück und erwiderte seinen Händedruck. Ihr Einlenken machte ihn mutiger und ließ sein männliches Begehren aufflackern wie ein loderndes Feuer. Obwohl er sie am liebsten sofort an seine Brust gezogen hätte, beherrschte er sich und fragte: »Dann verzeiht Ihr mir?« »Ja«, flüsterte sie. »Wir wollen vergessen, was gewesen ist... und vielleicht kommen wir auf diese Weise besser miteinander aus... als bisher.« »Das meine ich auch.« Er rutschte näher zu ihr heran, berührte ihr Haar und murmelte heiser: »Weißt du, was ich mir schon lange wünsche?« »Nein.« »Dass du deine Flechten für mich öffnest und dass ich dich sehen darf... ohne dein Nachthemd... nur von deinen Haaren verhüllt.« Dorette zitterte, nickte aber. Was hätte sie sonst tun sollen? Burkhard war ihr Ehemann. Es war sein Recht, sie so zu sehen, wie Gott sie geschaffen hatte. Daher sagte sie auch nichts, als er sich nun erhob und eine Kerze anzündete. Danach zog er sich hastig aus, warf Schuhe, Wams und Beinlinge einfach auf den Fußboden, ebenso wie sein Unterzeug. Dann setzte er sich wieder auf das Bett und befreite 62
seine Frau von ihrem Nachthemd. Dabei flüsterte er verlangend: »Nun löse deine Zöpfe!« Sie tat es, während er sie bewundernd anschaute, dann langsam die Decke fortzog und sich danach zu ihr legte. Seine Hände glitten über ihren Körper, sein Mund verschloss den ihren, was seltsame und trotzdem berauschende Gefühle in ihr auslöste. Diese währten jedoch nicht lange, bald spürte sie nur noch seinen schweren Leib - und den Schmerz in ihrem Innern. »Zum Teufel!«, keuchte Burkhard und entfernte sich von ihr. »Du bist ja noch - Jungfrau!« Sie antwortete nicht, sondern drückte nur ihr Gesicht in das Kissen und weinte. Anscheinend konnte sie ihrem Mann nichts recht machen. So musste es wohl sein, denn er sprang auf, zog sich wieder an und eilte hinaus. Zu ihrer Überraschung war er schon wenige Minuten später wieder da - mit einem Krug Wein und zwei Bechern in den Händen. Und er schien auch nicht böse zu sein, er lächelte sogar sehr zufrieden, während er den Wein in die Becher goss. Er reichte ihr einen und sagte: »Trink nur, kleine Frau! Dann wird es dir bald wieder gut gehen.« Sie wandte sich ihm zu, betrachtete ihn ungläubig und stieß dann hervor: »Hat... hat es dir nun doch... gefallen?« »Es war sehr schön und du bist eine wunderbare Frau. Nur ich bin ein alter Esel, weil ich das nicht gleich gemerkt habe.« Nach diesem Geständnis brauchte sie wirklich einen Schluck Wein. Sie trank den Becher halb leer und stellte ihn dann beiseite, genauso wie er und fragte dann scheu: »Willst... du etwa die ganze Nacht... vor meinem Bett stehen bleiben?« »Darf denn der Mann zu dir kommen, der in dir nur ein leichtfertiges Frauenzimmer gesehen hat?«, fragte er beschämt. Sie lächelte ihm zu und schob dann die Bettdecke beiseite. So einer verführerischen Einladung konnte Burkhard, Goldstein natürlich nicht widerstehen. Und irgendwann im Verlaufe der Nacht raunte er ihr zu, dass er die Ohrfeige durchaus verdient hätte. * 63
Seit diesem Tag waren mehr als drei Monate vergangen. Der Herbst hatte seinen Einzug gehalten, hatte das Laub der Bäume rötlich und golden gefärbt und schickte mit Reif und Nebel einen Hauch von Winter über Wald und Flur. Dorette war inzwischen die allseits geachtete Wirtin, die mit Energie und Verstand zusammen mit ihrem Mann die Herberge führte. An ihr vergangenes Leben in Wohlstand und Untätigkeit dachte sie kaum noch, wohl aber an den Mann, dem ihre erste Liebe gegolten hatte, an Klaus Störtebeker. Und mitunter fragte sie sich, wie es ihm gehen mochte und ob er noch manchmal an sie dachte. Hätte sie gewusst, dass er es immer noch bedauerte, dass er sie hatte verlassen müssen, dann hätte sie sich bald in einem Zwiespalt zwischen ihren Gefühlen befunden, denn sie hätte nicht sagen können, wen sie mehr liebte - Klaus oder ihren Mann. So sagte sie sich jedoch, dass es gut war, wie das Schicksal es gewollt hatte. Störtebeker glaubte nicht an das Schicksal, aber er glaubte an die Kraft seiner Fäuste, an seine Fähigkeit, ein Schiff zu führen und an sein Glück, das ihm in den Stunden der Gefahr zur Seite stand. Seit Tagen lag der ›Rote Teufel‹ in der Nähe von Rostock vor Anker, während die Mannschaft bis auf die Diensthabenden in der Stadt herumlungerte. Nach vielen anstrengenden und entbehrungsreichen Wochen auf See bot sich in der Hansestadt viel Abwechslung für Seeleute, die in vielerlei Hinsicht bedürftig waren. Klaus war allerdings sofort nach der Ankunft mit einer Kutsche weitergereist, um seine Eltern und Geschwister wieder einmal zu besuchen und befand sich zu dieser Stunde auf dem Weg zurück nach Rostock. Der Weg war lang, der Tag jedoch nur noch kurz, so dass er vor einem Gasthof halten ließ. Er war müde und wollte auch dem Kutscher und den Pferden eine Verschnaufpause gönnen. Und während die Pferde im Stall gefüttert und getränkt wurden, ging er gemächlich auf das lang gestreckte Gebäude zu, blieb aber plötzlich stehen, weil er einen älteren Mann bemerkte, der offensichtlich um sein Leben rannte. Zwei andere Männer, maskiert, aber anscheinend wesentlich jünger, 64
jagten ihm nach und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie ihn erreichen und überwältigen würden. Ohne lange zu überlegen, warf er sich vor den laut ächzenden Alten und schrie diesem zu: »Versteckt Euch irgendwo! Ich werde mich um die beiden schon kümmern.« Die Verfolger hatten unterdessen mitbekommen, dass jemand ihren Anschlag vereiteln wollte und stürzten sich nun siegessicher auf diesen Gegner. Doch der hatte blitzschnell einen Dolch hervor gezogen und einen der Angreifer sofort außer Gefecht gesetzt. Mit einer klaffenden Wunde im Oberschenkel stürzte er schreiend zu Boden, wo er bewusstlos liegen blieb. Der andere Bursche bekam es nun mit der Angst zu tun. Er lief davon, auf den nahen Wald zu, hatte allerdings nicht die geringste Chance, Störtebeker zu entkommen. Er stolperte, wurde jedoch aufgefangen und so derb geschüttelt, dass ihm beinahe Hören und Sehen verging. »Du Dreckskerl, du«, zischte Klaus. »Schämst du dich nicht, einen wehrlosen Alten zu verfolgen?« »So alt ist der noch gar nicht, wenn er es wäre, hätten wir ihn nämlich erwischt«, versetzte der Mann frech. »Und nun lasst mich los und mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten. Es reicht mir schon, dass Ihr meinen Freund verletzt habt.« »Das hat er verdient, genauso wie du.« Klaus hielt den widerwärtigen Burschen nach wie vor fest und sagte mit klirrender Stimme: »Ich werde dir auch einen ordentlichen Hieb verpassen, oder dich am Mast meines Schiffes aufhängen lassen, wenn du den Alten nicht in Ruhe lässt. Und glaube ja nicht, dass ich nicht auf dich aufpassen werde. Aber ich lasse dich laufen, wenn du mir sagst, weshalb ihr ihn ins Jenseits befördern wolltet.« »Wir... wir hatten einen... Auftrag«, stammelte der verhinderte Mörder mit letzter Kraft, denn Störtebeker hatte seine Hände jetzt um dessen Hals gelegt und ließ ihm kaum noch genug Luft zum Atmen. »Von wem?« »Weiß ich doch nicht... Man hat uns nur gesagt, was wir machen... sollen und dass der Alte ein Geizhals ist.« 65
»Und deshalb sollte er ins Gras beißen?« Der Mann nickte nur und röchelte. Im gleichen Augenblick bekam er einen Fausthieb an den Kopf und fiel lautlos auf die Erde. Klaus betrachtete ihn einen Moment und lächelte verächtlich. Er wusste, dass der Bursche sich im Laufe der nächsten Stunden wieder aufrappeln würde, aber dann war er schon über alle Berge - vielleicht sogar zusammen mit dem Mann, den er beschützt hatte. Eiligen Schrittes marschierte er zum Gasthof zurück, wo man den Verletzten inzwischen gefunden und nach bestem Wissen und Gewissen versorgt hatte. Stöhnend und jammernd lag er in einer Kammer auf einer Pritsche, während der ältere Mann in der Gaststube an einem Tisch saß und den Kopf in die Hände stützte. Er schien völlig erschöpft zu sein. * Als er jedoch Klaus erkannte, stand er auf, ging auf ihn zu und sagte mit belegter Stimme: »Ich danke Euch für Euer mutiges Eingreifen. Ohne Euch wäre es schlecht um mich bestellt gewesen. Aber ich kenne Euch doch. Habt Ihr nicht im Sommer in meinem Hause vorgesprochen? Euer Name ist Klaus Derenborg, nicht wahr?« Störtebeker erkannte den Kaufmann nun ebenfalls, war unangenehm überrascht und erwiderte kalt, während er dessen angebotene Hand übersah: »So ist es, Diederich Laurenz. Aber Ihr braucht mir nicht zu danken. Es war selbstverständlich für mich, jemandem, der in Not ist, beizustehen. Der andere Angreifer liegt übrigens am Waldrand und ist wahrscheinlich noch immer nicht bei Sinnen.« »Wie erfreulich für uns beide«, antwortete der Ältere, der die abweisende Haltung des Jüngeren nicht verstand. »Da Ihr meinen Dank in klingender Münze offenbar nicht wollt, sollten wir uns wenigstens setzen und stärken. Bitte, seid heute Abend mein Gast.« »Für dieses Angebot danke ich«, entgegnete Störtebeker mit unterdrückter Wut, er nahm Laurenz am Arm und zerrte ihn vor die Tür. Und dort sprach er weiter: »Ich setze mich nicht mit einem Mann an 66
einen Tisch, der seine Tochter zuerst in ein Bordell gesteckt und später verstoßen hat.« »Meine... Tochter... ist in einem... Kloster«, stotterte Laurenz und starrte Störtebeker fassungslos an. »Das habe ich Euch doch schon damals gesagt.« »Da habt Ihr genauso wie heute gelogen. Ich habe Eure Tochter nämlich halbverhungert am Wegrand gefunden und habe mich später erkundigt, wo sie hergekommen ist - zuerst bei Euch und anschließend beim Wirt vom ›Rosengarten‹. Letzterer hat mir die Wahrheit gesagt, die ganze Wahrheit. Er hat mir erzählt, dass er Eure Tochter gemäß Eurer Anordnung tüchtig heran genommen hat und sie schließlich auch in den Badestuben beschäftigen wollte.« »Badestuben? Davon weiß ich nichts.« »Tut doch nicht so scheinheilig«, erwiderte Klaus zornig. »Ihr müsst doch gewusst haben, welche Musik im ›Rosengarten‹ eigentlich gespielt wird und wodurch Leberecht Wenzel so reich geworden ist. Und Ihr habt auch gewusst, dass man Eure hübsche Tochter zwingen würde, den männlichen Gästen zu Willen zu sein. Pfui Teufel, was seid Ihr nur für ein erbärmlicher und gewissenloser Vater!« Diederich Laurenz wollte etwas sagen, sich verteidigen, aber kein Wort kam von seinen zitternden Lippen, zumal Störtebeker nun in seiner Anklage fortfuhr: »Ihr müsst kein Herz in der Brust haben, nur einen gefühllosen Stein...« Der Großhändler hatte sich nun soweit gefasst, dass er einzuwenden wagte: »Meine Ehre, meine Ämter und mein Ansehen geboten mir, so und nicht anders zu handeln.« »Ehre, Ämter und Ansehen sind also wichtiger als Euer Kind?«, fragte Klaus sarkastisch. »Eure Tochter meint aber, dass Ihr vollkommen in die Netze Eures intriganten Weibes und deren Sohn geraten seid, die beide nur nach Eurem Vermögen gieren. Vielleicht solltet Ihr deshalb aus dem Weg geräumt werden.« »Was... sagt Ihr... da? Das... kann doch nicht sein, ich... habe keine Feinde und mein Weib liebt mich.« Der Patrizier war trotz seiner Gegenargumente aschfahl geworden. 67
»Seid Ihr dessen so sicher? Der Bursche, der jetzt im Wald liegt, hat jedenfalls vorher noch gezwitschert wie ein Vögelchen, er hat mir gestanden, dass er und sein Kumpan einen Auftrag ausführen sollten. Wenn es nicht Eure Frau ist, die Euch nach dem Leben trachtet, dann muss Euch jemand anders abgrundtief hassen, was ich sehr gut verstehen kann.« Klaus musterte den Kaufmann verächtlich und sagte dann nur noch: »Es tut mir leid, dass ich Euch beigestanden habe, aber ich habe Euch leider nicht gleich erkannt.« * Der selbstherrliche Großhändler stand da, als hätte ihn der Schlag getroffen. Er blickte dem großen blonden Mann, der jetzt ins Haus zurückging, wie versteinert nach und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war so verstört, dass er die Fragen des herbeigeeilten Wirtes nur mit einem Kopfschütteln beantwortete. Er hatte keine Wünsche mehr, wollte nur noch allein sein und nachdenken. Schwerfällig stapfte er zu seinem Reisewagen, wies die Kutscher an, sofort die Pferde einzuspannen und fuhr noch an diesem Abend in Richtung Lübeck. Er hatte zwar noch einige Geschäfte erledigen wollen, doch die erschienen ihm jetzt nicht mehr so notwendig, jetzt, wo sich seine Gedanken pausenlos nur noch um die Vorwürfe von Klaus Derenborg drehten. Sagte dieser Mann vielleicht doch die Wahrheit? Nein, das konnte nicht sein. Lisenka und Hubertus hatten ihn gern und hatten ihm seinerzeit mehrmals versichert, dass der ›Rosengarten‹ ein respektabler Gasthof sei und dass Leberecht Wenzel ein unbescholtener, ehrlicher Bürger wäre. Und nun sollte er ein Freudenhaus haben? Viel früher als geplant, kam Diederich Laurenz in Lübeck an, ließ sich aber nicht nach Hause fahren, sondern zum ›Rosengarten‹. Seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, betrat er das Wirtshaus und fragte mit verstellter Stimme nach den Badestuben. »Ich zeige Euch den Weg, Herr«, erklärte Berta Wenzel eifrig und führte den entgeisterten Laurenz durch eine unscheinbare Seitentür zu einem Innenhof und gleich darauf durch eine andere Tür in einen 68
schmucklosen Anbau. Er wurde zu einer Kammer geleitet, wo er sich nach Aussage der Wirtin entkleiden konnte. »Ich möchte mir das Bad zuerst anschauen«, entgegnete er jedoch trocken und bemühte sich, seine Aufregung so gut wie möglich zu unterdrücken. »Wie der Herr wünschen.« Berta öffnete eine weitere Tür und ließ ihn in einen Raum schauen, in dem drei Badewannen nebeneinander standen. Zwei waren bereits von Männern besetzt, aber die Reinigung schien keine große Rolle zu spielen, denn quer über den Zubern befanden sich reich gedeckte Tafeln. Die beiden Herren speisten ausgiebig, ließen sich von einem jungen Musikanten etwas vorspielen und schäkerten mit zwei hackten Frauen herum, die ihnen gerade den Rücken massierten. Der Patrizier schloss für einige Sekunden angewidert und entsetzt die Augen. »Wenn Euch die gemeinsame Badestube nicht gefällt, dann kann ich auch mit einem Einzelzimmer und einer besonders hübschen Dirne dienen. Ist natürlich etwas teurer.« Nach diesem Vorschlag der Wirtin musste sich Diederich Laurenz räuspern, um einigermaßen deutlich sprechen zu können. Mit rauer Stimme erklärte er schließlich: »Ich möchte Euren Mann sprechen - sofort.« Die geschäftstüchtige Berta erfüllte ihm auch diesen Wunsch, sie war ja von den Männern einiges gewöhnt und wunderte sich über gar nichts mehr. Ihr Gemahl wunderte sich ebenfalls nicht, aber erkannte den ungesehenen Großkaufmann wieder und fragte mürrisch: »Was wollt Ihr?« »Ich habe Euch im Frühjahr meine Tochter geschickt, damit sie hier kochen und wirtschaften lernt, muss jetzt jedoch erfahren, dass Ihr sie auch zu anderen Diensten genötigt habt. So war das nicht abgesprochen und ich erwarte jetzt von Euch eine plausible Erklärung.« Berta Wenzel schrie nun doch erschrocken auf, auf ihren Mann machte die scharfe Frage keinerlei Eindruck, er änderte auch seinen verdrießlichen Tonfall nicht und erwiderte: »In meinem Geschäft haben die jungen Weiber alles zu machen. Das ist allgemein bekannt, Euch sicher auch. Und es wird ja wohl jedem einleuchten, dass die Hübschen vor allem für gut zahlende Herren da sind. Eure Tochter 69
sollte da keine Ausnahme machen, sie hat sich allerdings wie eine eiserne Jungfer angestellt und ist geflohen. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.« »Seid Ihr denn total von Gott verlassen?«, wetterte Laurenz, während ihm die Röte des Zorns und der Scham ins Gesicht kroch. »Zu diesem Zweck habe ich meine Tochter nicht zu Euch geschickt. Aber die Sache wird ein... Nachspiel... haben. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.« »Wenn Ihr meint«, versetzte der Wirt ungerührt. »Aber glaubt nur nicht, dass Ihr bei der Obrigkeit etwas erreichen werdet, es kommen auch sehr feine und adlige Herren hierher. Und die wollen ganz bestimmt nicht, dass ich meine Wirtschaft schließe.« Diederich hatte genug gehört. Mit sich hadernd und zum ersten mal wütend auf sich selbst, seine Frau und ihren vortrefflichen Sohn, verließ er den berühmten und berüchtigten ›Rosengarten‹. * »Wenn die Katze nicht im Hause ist, dann tanzen die Mäuse auf den Tischen«, besagte ein altes Sprichwort, das Lisenka Laurenz sehr gern in die Tat umsetzte. Sie fühlte sich zwar nicht wie eine Maus, sah in ihrem Mann aber einen alten, behäbigen Kater, den sie zu streicheln und bei guter Laune zu halten hatte. Wenn er nicht so reich wäre, dann hätte sie ihn nie und nimmer genommen. Aber er war es nun einmal und sie hatte ihre Ansprüche, zumal Hubertus ja auch ausreichend versorgt werden musste. Mittlerweile hatte Diederich sie beide zu seinen einzigen Erben eingesetzt, aber das genügte nicht. Es dauerte viel zu lange, bis sie dieses Erbe vollkommen genießen konnten. Der Hausherr befand sich zur Zeit auf Reisen und würde erst kurz vor Einbruch des Winters wieder heimkommen - oder gar nicht, falls ihr Plan, den sie und Hubertus ausgeheckt hatten, gelang. Lisenka hatte sich an diesem Abend in eines ihrer schleierartigen Gewänder gehüllt, hatte sich die Haare gebürstet, bis sie glänzten und kostbaren Schmuck angelegt. Ihr Sohn, der tatsächlich ein rühriger Kaufmann war, saß derweil in Diederichs Kontor und rechnete. Die 70
Dienerschaft hatte Ausgang mit Ausnahme einer Magd für grobe Arbeiten und Ambrosius, der stets und ständig mit Argusaugen die Haustür bewachte. Aber auch Ambrosius konnte und wollte seine Augen nicht überall haben und deshalb entging ihm immer, dass die Hausfrau zur Abendstunde oft Besuch bekam - von einem jungen Mann mit blonden Locken, der außerdem so schön wie ein Engel war. Hubertus hatte ihn vor einigen Wochen mit ins Haus gebracht und hatte ihn seinen Freund genannt, mit dem er ab und zu ins Wirtshaus oder auf die Jagd ging. Inzwischen war Albin Petersen jedoch weit öfter in der Kemenate der Hausherrin zu finden, als in der Gesellschaft des jungen Herrn. Ambrosius und alle anderen Bediensteten sahen geflissentlich darüber hinweg, um sich das Wohlwollen der schönen Frau nicht zu verscherzen. Hannes Brandt war der einzige, der das nicht tat. Er verzichtete auch heute auf seinen Ausgang und blieb im Haus, um noch mehr herauszubekommen, als er bis jetzt gesehen und gehört hatte. Aber auch er wagte es nicht, den zu dieser Stunde heimkehrenden Diederich Laurenz darauf aufmerksam zu machen, dass ihm in den vergangenen Wochen ein paar gewaltige Hörner aufgesetzt worden waren und dass die schöne Lisenka vor kurzem erneut ihren Hausfreund empfangen hatte. Seine bedepperte Miene machte jedoch den ohnehin schon argwöhnischen Kaufmann noch misstrauischer. »Ist was passiert?« »Nein..., Herr«, stammelte Hannes und blickte unwillkürlich zur Treppe, die zum ersten Stock führte. Hatte er dort nicht vorhin erst den Liebhaber der Hausfrau gesehen? Auch Ambrosius versicherte seinem Herrn, dass alles in bester Ordnung wäre und er würde sogleich Meldung erstatten. »Nicht nötig.« Laurenz befreite sich energisch von seinem mit Pelz verbrämten Mantel und schleuderte diesen einschließlich des federgeschmückten Hutes dem Diener in die Arme. Danach marschierte er festen Schrittes die Treppe hinauf, riss die Tür zum Gemach seiner Frau auf... und blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen. Er glaub71
te, seinen Augen nicht trauen zu können, aber vielleicht träumte er auch nur und würde gleich aufwachen. Nein, er träumte nicht. Das, was er sah, war schonungslose und hundsgemeine Wirklichkeit. Seine über alles geliebte Gemahlin wälzte sich mit einem jungen, nur sehr spärlich bekleideten Mann auf dem Diwan herum, stieß verzückte Schreie aus und hatte keinen einzigen Faden mehr am Leib. »Lisenka...«, ächzte er, während er sich am Türrahmen abstützte, als brauchte er einen festen Halt. Die beiden Ehebrecher fuhren auseinander und waren sekundenlang sprachlos. Der jugendliche Liebhaber entzog sich der unweigerlichen Strafe, indem er blitzschnell durch eine Seitentür verschwand und er war so flink und hatte das Haus schon verlassen, ehe ihn der laut keuchende Ehemann erreichen konnte. Unverrichteter Dinge und schwer atmend kehrte Laurenz zum Ort seiner Schmach zurück. * Seine Gemahlin hatte sich unterdessen angezogen und dabei das verzweifelte Schluchzen geübt. Letzteres war vorerst die einzige Möglichkeit, um zu retten, was noch zu retten war. Das glaubte sie jedenfalls. »Du... treuloses Weib, du... Metze!«, schrie Laurenz in höchstem Zorn und wollte sich auf sie zu stürzen, um sie zu züchtigen. Er wollte sie bei den Haaren packen und sie durch den Raum schleifen, so wie sie es verdiente. Doch sie entwischte ihm immer wieder, behauptete sogar mit schriller Stimme, der junge Mann hätte sich bei ihr eingeschlichen, sie überrumpelt und sie genötigt, mit ihm das Lager zu teilen. »Ach ja?« Der Kaufmann fand allmählich zum rationalen Denken zurück und setzte ironisch hinzu: »So seht Ihr auch aus. Und es freut Euch sicher, dass Ihr bei diesem Kampf keinerlei Verletzungen davongetragen habt.« »Mein liebster Gemahl«, schluchzte Lisenka scheinbar tief beschämt, während sie sich hinter einem Tisch verschanzte, »es ist so, 72
dass dieser Jüngling mir sehr oft aufgelauert hat, aber sein beharrliches Werben und Flehen hat mich dann doch ein wenig gerührt, so dass ich seinen Aufmerksamkeiten nicht mehr ausweichen konnte. Aber nie... niemals... wollte ich Euch vorsätzlich betrügen, die Sehnsucht nach Euch hat mir nur für kurze Zeit den Verstand geraubt. Ihr wart eben allzu lange fort und da...« »Schweigt endlich still!«, fiel er ihr hart ins Wort. »Wie es zu diesem skandalösen Vorfall kommen konnte, interessiert mich nicht. Ihr habt die Ehe gebrochen und werdet mein Haus verlassen - sobald wie möglich. Und glaubt ja nicht, dass Eure Tränen mich umstimmen werden. Ihr habt die Annehmlichkeiten und die Geborgenheit nicht zu schätzen gewusst, die ich Euch geboten habe und werdet Euch daher fortan mit einem Almosen und einer armseligen Unterkunft auf dem Lande begnügen müssen.« »Diederich!«, rief sie laut und sichtlich schockiert, dann wurde ihre Stimme brüchig und sie flüsterte entsetzt: »Das... das könnt Ihr mir doch nicht... antun.« »Ihr habt mir noch viel mehr angetan. Ihr habt mich betrogen und auch belogen, denn Ihr habt mir zum Beispiel hoch und heilig versichert, dass der ›Rosengarten‹ ein ordentliches und gesittetes Gasthaus ist. Er ist nichts dergleichen, er ist ein Bordell.« »Ein Bordell? Das wusste ich nicht, eine anständige Frau weiß doch so etwas doch nicht.« »Ihr seid keine anständige Frau«, erwiderte er eisig. »Und je mehr ich über Euch nachdenke, um so mehr komme ich zu der Ansicht, dass Ihr und wahrscheinlich auch Euer Sohn nur hinter meinem Vermögen her seid. Vermutlich wolltet Ihr mich deshalb umbringen lassen. Aber Euer Anschlag ist missglückt. Man hat mich gerettet.« Mit dieser Anschuldigung hatte Lisenka nicht gerechnet, sie erblasste tief und musste sich setzen. »Ja, ja, nun wird Euch übel«, meinte er höhnisch. »Ihr habt Euer Vorhaben schlecht vorbereitet, hättet schweigsamere Burschen verpflichten sollen, nicht solche, die alles ausplaudern.« »Das... ist doch alles gar nicht... wahr. Ich wollte Euch doch nicht... umbringen lassen. Das bildet Ihr Euch doch nur ein.« 73
»Ich kann natürlich nicht beweisen, dass Ihr hinter diesem Anschlag auf mein Leben steckt«, räumte er ein. »Dass Ihr mich aber zum Hahnrei gemacht habt, das habe ich eben mit eigenen Augen gesehen. Dieses Vergehen reicht für eine Trennung von Tisch und Bett.« Nach diesen Worten schlug er die Tür hinter sich zu, ließ anschließend die gesamte Dienerschaft antreten und verkündete ihnen unmissverständlich, dass seine Gemahlin streng bewacht werden müsste und zwar solange, bis sie dieses Haus für immer verlassen würde. Lisenka hockte unterdessen in ihrer Kammer und weinte. Und jetzt waren ihre Tränen echt. * Zwei Wochen später saß Diederich Laurenz allein in seinem Kontor. Er war so ziemlich am Ende seiner seelischen und körperlichen Belastbarkeit, denn er hatte nicht nur die ungetreue Ehefrau aus dem Hause gejagt, sondern auch ihren Sohn. Nachdem dieser erfahren hatte, dass seine Mutter aufs Land abgeschoben werden sollte und er nicht mehr der Erbe sei, hatte er ihn doch tatsächlich entmündigen lassen wollen. Soweit war es gekommen und das nur, weil er ein total verliebter alter Zausel gewesen war, der so sehr einer schönen Frau verfallen war, dass er ihr alles glaubte, dass er tat, was diese wollte und sogar die eigene Tochter auf die schiefe Bahn gebracht hatte. Das war das Allerschlimmste! Wenn er nur wüsste, ob Dorette noch lebte... Ein zaghaftes Klopfen schreckte ihn auf, worauf er ungehalten »Herein!« rief, dann trübe auf Hannes Brandt schaute und leise fragte: »Was führt dich zu mir?« »Ich weiß nicht, ob es recht ist«, begann der Diener zögernd. »Aber ich hab' gedacht, dass der Herr jetzt vielleicht doch gern wissen möchte, was aus unserem... Fräulein... geworden ist.« »Du - weißt, wo sie ist?« Der Hausherr sprang erregt auf. 74
»Ja... nun... es hat mir keine Ruhe gelassen, ich hab' die Kleine nun mal ins Herz geschlossen und wollte ihr helfen, so gut ich es vermag. Aber das war nicht mehr notwendig.« »Nicht mehr notwendig? Wie meinst du das? Sie ist doch nicht etwa... tot?« »Nein, Herr«, Hannes Brandt verzog den Mund zu einem breiten Grinsen und setzte dann eifrig hinzu: »Als ich das Fräulein endlich ausfindig gemacht hab', da war es schon verheiratet mit einem ordentlichen Mann, der eine Herberge am Stadtrand besitzt. Eure Tochter hat es sehr gut bei ihm.« »Und wie heißt dieser Mann?« »Burkhard Goldstein.« »Ich danke dir, Hannes, das werde ich dir nie vergessen.« Diederich Laurenz zog einen kleinen Beutel mit Münzen aus seiner Jacke und drückte diesen dem Diener in die Hand. Der Alte bedankte sich wortreich und machte dann die Tür hinter sich zu. Er ahnte, dass sein Herr nun allein sein und nachdenken wollte. Vielleicht wollte er auch vor Freude weinen. * Es kamen jetzt wesentlich weniger Reisende als im Frühjahr und im Sommer. Dorette und Burkhard verdross das kaum. Sie hatten auch so genug zu tun, zumal es dringend nötig geworden war, die Herberge gründlich zu reinigen und mit neuer Farbe zu versehen. Die Strohsäcke mussten aufgeschüttelt und teilweise sogar neu gestopft werden, einige Stühle und Tische wurden durch neue ersetzt und die Hausfrau war emsig dabei, Vorräte für den Winter herbei zu schaffen, Schweinefleisch einzupökeln, Schmalz auszulassen, die letzten Äpfel gut zu lagern und vieles mehr. An diesem Vormittag stand sie am Herd und kochte eine Suppe aus Steckrüben und Hammelfleisch, während Burkhard auf die Jagd gegangen war, um die Speisekammer mit Wildbret zu bereichern. Die junge Hausfrau war so sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie unwillig aufsah, als Wanda in die Küche kam und aufgeregt sagte: 75
»Da ist soeben ein ganz feiner Herr gekommen, der möchte Euch sprechen, Herrin.« »Mich?« Dorette dachte sofort an Klaus Störtebeker, aber ihre Freude, die wie ein Feuer aufgeflackert war, wurde schnell zu Asche, als sie ihren Vater erkannte. Ihre Miene verdüsterte sich, wurde kalt und abweisend und sie sagte zu der Magd: »Kümmere du dich weiter um die Suppe. Ich habe jetzt keine Zeit zum Kochen.« Und zu Diederich Laurenz meinte sie nur: »Folgt mir in die Gaststube!« Er tat es, wobei er sich ungeniert umsah und schließlich hervorstieß: »Ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten, Tochter. Es tut mir jetzt sehr leid, dass ich dich aus dem Hause gewiesen habe. Das war nicht recht von mir. Du bist keine Dirne.« Sie erwiderte nichts, stand nur da und wirkte beinahe teilnahmslos. »Ja, ich habe mich schwer an dir versündigt«, fuhr der Patrizier nun mit rauer Stimme fort. »Ich wollte dich zur Ehe mit einem minderwertigen Mann zwingen und habe dich deswegen sogar in dieses... Haus geschickt. Aber glaube mir, ich habe wirklich nicht gewusst, womit der Wirt sein Geld verdient. Bitte, komm wieder nach Hause. Du hast nichts mehr zu befürchten. Ich habe Lisenka und Hubertus hinausgeworfen. Beide haben mich belogen und betrogen... und wollten nur mein Geld.« »Ich bin verheiratet«, erwiderte Dorette kurz angebunden. »Ja, ich weiß, mit einem Gastwirt. Hannes Brandt hat es mir erzählt. Aber das macht nichts. Ich habe genug Verbindungen, um diese Ehe für null und nichtig erklären zu lassen. Du kannst doch hier... in dieser Ärmlichkeit... nicht bleiben, wo du selbst wie eine Küchenmagd arbeiten musst.« Dorette lächelte nur über den Hochmut ihres Vaters und entgegnete dann frostig: »Im ›Rosengarten‹ habe ich wesentlich mehr arbeiten müssen und sollte außerdem noch eine der Bademägde vertreten. Hier bin ich aber die Herrin und habe zudem noch einen liebevollen Ehemann. Das heißt, ich komme nicht mit Euch zurück.« »Das solltest du dir aber reiflich überlegen.« 76
»Es gibt nichts mehr zu überlegen. Meint Ihr denn, ich würde in ein Haus zurückkehren, wo man mir die Ehre genommen und mich davon gejagt hat? Niemals werde ich das tun... Niemals.« »Aber Tochter, ich sehe mein Unrecht doch ein.« »Wie lange?«, fragte sie spöttisch. »Ein paar Tage oder Wochen? Danach werdet Ihr mir doch wieder Euren Willen aufzwingen wollen. Ihr fangt doch bereits jetzt damit an, ich soll mit Euch zurück kommen und Ihr wollt sogar meine Ehe mit Burkhard Goldstern auflösen lassen. Was mein Gemahl und ich dazu zu sagen haben, interessiert Euch nicht. Aber ich werde meinen Mann nicht verlassen, denn er hat mich vor einem grausamen Schicksal bewahrt.« »Ich... ich habe es doch nur... gut gemeint«, stotterte Laurenz verdattert. »So eine simple Herberge ist doch auf Dauer nichts für die Tochter eines Patriziers. Du kannst einen besseren und reicheren Mann haben, der...« »Den Ihr mir aussuchen werdet, nicht wahr? Und wenn ich Euch nicht gehorche, dann werde ich wahrscheinlich wieder in so ein berüchtigtes Haus gebracht, wie es der ›Rosengarten‹ ist. Dort soll man mich dann gefügig machen, o ja, ich weiß.« »So... so wird es nicht kommen. Das verspreche ich dir.« »Ihr könnt mir versprechen, was Ihr wollt, Vater. Glauben kann ich Euch nicht, denn ich habe kein Vertrauen mehr zu Euch. Geht und lasst Euch niemals mehr hier blicken.« Eine so kalte und endgültige Absage hatte er nicht erwartet, hatte fest angenommen, sie würde weinen und sich eine Weile zieren. Und als sie jetzt die Haustür weit öffnete, da wusste er, dass er seine Tochter verloren hatte. Und das war ganz allein seine Schuld. »Gut, ich gehe, weil ich einsehe, dass du mir nicht so schnell verzeihen kannst«, sagte er leise und flehend. »Aber ich versichere dir hiermit feierlich, dass du jederzeit zurück kommen kannst und dann in allen Ehren in deinem Vaterhaus aufgenommen wirst, so wie es dir zusteht.« Der Großhändler blickte seine Tochter betrübt an und ging dann langsam zur Tür hinaus. Dorette atmete jedoch erleichtert auf, auch wenn ein Rest von Traurigkeit in ihr blieb. 77
* Die Jagd war recht erfolgreich gewesen und so kehrte Burkhard Goldstein mit einem Reh und drei Hasen nach Hause zurück. Schwerfällig stapfte er zur Vorratskammer, wo er die erlegten Tiere Johanna Liebetraut übergab. Anschließend wusch er sich am Brunnen die Hände. Dabei bemerkte er den älteren Mann, der eben die Herberge verließ und zu einer in der Nähe wartenden Kutsche ging. Der Mann war ausgesprochen gut gekleidet und trug glänzende Stiefel. Man sah ihm seinen Reichtum an, auch wenn man nicht unmittelbar vor ihm stand. Solche Gäste waren selten in der Herberge und deshalb eilte er sofort ins Haus, um sich zu erkundigen, was der Mann hier gewollt hatte. Dorette war inzwischen wieder in die Küche gegangen und rührte gedankenverloren im Suppentopf. Sie hatte Wanda hinaus geschickt, weil sie allein sein wollte. Nur so konnte sie mit ihrem Zorn und ihrer Aufregung fertig werden. »Wer war denn dieser gutbetuchte Herr?«, fragte Burkhard, nachdem er die Küche betreten hatte. »Mein Vater«, erwiderte sie mit zitternder Stimme, legte die Holzkelle beiseite und setzte sich auf einen Stuhl. Ihre Beine zitterten nun doch, was Burkhard allerdings nicht merken sollte. »Dein Vater?«, wiederholte er verblüfft und fügte dann misstrauisch hinzu: »Was wollte der denn?« »Um gut Wetter bitten, nachdem er endlich herausgefunden hat, dass seine Frau und Hubertus nur hinter seinem Vermögen her waren. Er hat beide hinausgeworfen, will sich nun mit mir versöhnen und mich wieder in seinem Hause aufnehmen. Er will mir sogar einen anderen Mann besorgen.« Ihre Stimme klang ätzend und bitter. »Und... was hast du dazu gesagt?« »Ich habe gesagt, er soll gehen und sich hier nie mehr blicken lassen.« »War das nicht ein wenig... unklug? Jeder macht mal Fehler. Dein Vater ist ein einflussreicher Mann. Er könnte dir wirklich...« 78
»Ach, nun sollte ich mich wohl noch darüber freuen, dass er sich wieder an mich erinnert?« unterbrach sie ihn sarkastisch. »Ich sollte ihm wohl mit einem milden Lächeln verzeihen, was er mir angetan hat - den Aufenthalt in einem Freudenhaus, das Vegetieren auf der Straße ohne Geld und etwas zum Essen? Wenn Klaus mich nicht gefunden hätte, wäre ich heute tot.« Burkhard vertrug es immer noch nicht, wenn sie diesen Namen erwähnte, obwohl sie natürlich die Wahrheit sagte. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und war trotzdem grausam bestraft worden. Auch er hatte sie verletzend behandelt, hatte in ihr eine ehrlose Frau gesehen, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass man einen schlechten Ruf hatte und trotz allem unschuldig war. »Ja, das ist wahr«, gab er nun betroffen zu. »Aber dieser Mann ist nun einmal dein Vater. Vielleicht solltest du überlegen, ob du zu ihm zurückkehrst. Ich... kann dir leider... nicht viel bieten... bin ja nur ein Gastwirt.« Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als sie ihn anfauchte: »Du redest mir ja sehr eifrig zu, dich zu verlassen. Und jetzt verstehe ich dich auch. So wirst du die ungeliebte und aufgezwungene Ehefrau am besten los. Sie hat ja jetzt wieder ein Dach über dem Kopf. Mag sie nur weiter von ihrem despotischen Vater tyrannisiert werden. Was kümmert es dich? Du kannst mich ja sowieso nicht leiden.« Bei den letzten Worten bebte ihre Stimme verdächtig. Das sollte Burkhard aber auf keinen Fall merken. Deshalb sprang Dorette hastig auf und verließ die Küche. Burkhard blickte ihr einen Augenblick völlig entgeistert nach. Doch dann begannen seine Augen zu leuchten, seine Frau schien von ihm enttäuscht zu sein - bitter enttäuscht. Und das war man doch nur, wenn einem der Ehemann nicht gleichgültig war. Ohne sich lange zu besinnen, rannte er ihr nach. * Er hatte angenommen, dass sie im Schlafzimmer wäre oder in der Waschküche. Doch dort war sie nicht, auch nicht im Keller, im Garten 79
oder bei den Tieren. Nun wurde ihm regelrecht ängstlich zumute. War sie etwa zum See gelaufen? Wollte sie sich vielleicht das Leben nehmen? Fühlte sie sich auch von ihm verstoßen? Er stürzte vorwärts, rief nach ihr und machte das gesamte Gesinde sowie die Gäste auf sich aufmerksam. »Meine... Gemahlin ist... fortgelaufen«, schrie er noch, dann eilte er zum See, blieb keuchend am Ufer stehen, starrte verzweifelt auf das Wasser und wollte hinein springen. »Aber Burkhard, hier bin ich doch.« Er hörte ihre sanfte Stimme direkt hinter sich, drehte sich um und riss sie wortlos in seine Arme. Fast schmerzhaft drückte, er sie an sich, so als wollte er sie nie mehr loslassen. Und dann küsste er sie auf die Augen, auf die Nase, bis er auf ihrem Mund verweilte - lange. Dabei war es ihm egal, dass Knechte, Mägde und Gäste gaffend und grinsend in der Nähe standen und dieses Schauspiel verständnisvoll betrachteten. Johanna war es, die nun energisch sagte: »Lasst uns zum Haus gehen. Hier haben wir nichts mehr verloren.« Man folgte der Alten und meinte bei sich, dass eine Versöhnung zwischen Liebenden doch eine sehr schöne Sache sei. Dorette kam nun endlich auch zu Wort, obwohl ihr Mann sie noch immer fest an seinen Körper presste. Aber sie hatte wenigstens ihren Mund frei und sagte nun leise und innig: »Du dummer Kerl, du! Hattest du etwa Angst um mich?« »Fürchterliche Angst, ich bin beinahe gestorben, dachte schon, du wärest in den See gesprungen.« »Das hatte ich nicht vor, ich wollte nur allein sein und überlegen, was ich nun tun sollte.« »Musst du jetzt auch noch überlegen?«, fragte er zerknirscht. »Nein, ich glaube, ich bedeute dir doch etwas.« Sie strich über seine Wange und legte dann ihren Kopf an seine Brust. »Natürlich bedeutest du mir etwas«, flüsterte er ihr zu. »Du bist mein Ein und Alles, ich liebe dich von Herzen und werde sehr glücklich sein, wenn du für immer bei mir bleibst und mich eines Tages auch lieb haben kannst.« 80
Sie blickte schelmisch zu ihm auf und sagte schlicht: »Ich liebe dich auch.« »Und Klaus?« »Was ich für Klaus empfunden habe, war nur die Schwärmerei eines Mädchens«, erwiderte sie nachdenklich. »Doch jetzt bin ich eine Frau, deine Frau und weiß, was wahre Liebe ist.« »Dann sind wir uns ja einig, meine liebe Gemahlin.« Burkhard Goldstein lächelte zufrieden, nahm Dorette bei der Hand und ging so mit ihr zur Herberge zurück. * Klaus hätte Dorette gern wieder gesehen, doch er verzichtete schweren Herzens darauf. Sie gehörte jetzt zu einem anderen, der sie mehr liebte, als ihm wahrscheinlich selbst bewusst war. Bei ihm würde sie glücklich sein, auch ohne größeres Vermögen und das Ansehen ihres Vaters. Der Gedanke an Diederich Laurenz entfachte seinen Zorn jedoch immer noch. Seine Wut auf den egoistischen Patrizier loderte wie eine heilige Flamme und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, sondern nahm mit seiner Kogge Kurs auf Lübeck und kam an einem Morgen im Spätherbst kurz nach Sonnenaufgang dort an. Ganz schnell wurde ein Boot zu Wasser gelassen, das ihn umgehend zum Ufer brachte. Dort stieg er aus, lieh sich von einem befreundeten Bauern ein Pferd und ritt damit in die Stadt. Als er vor dem Hause des Großkaufmannes angekommen war, hatten die Menschen in der Stadt bereits ihr Tagewerk begonnen. Er hörte die Rufe der Fischhändler und Marktweiber, ebenso wie das Bellen von Hunden und das Wiehern der Pferde. Da er nicht erkannt werden wollte, bedeckte er sein leuchtendes Haar mit einem Hut und ging dann, das Pferd am Zügel mit sich führend, zum Hof, der zum Anwesen von Diederich Laurenz gehörte. Dort traf er nach einer Weile, wie erhofft, auf Hannes Brandt, der eben mit einem Besen aus dem Haus kam. 81
Dieser erinnerte sich augenblicklich an ihn, eilte auf ihn zu und fragte zutraulich: »Kann ich dem Herrn helfen?« »Ich glaube, das kannst du, mein Alter«, entgegnete Störtebeker freundlich. »Sag mir, hast du in der Zwischenzeit etwas von Fräulein Dorette gehört?« »Habe ich.« Der Diener blinzelte ihm verschwörerisch zu. »Erst neulich war ich in der ›Alten Mühle‹ und habe es mir bei Wein und einem deftigen Mahl gut gehen lassen. Und dabei habe ich erfahren, dass unser Fräulein in gesegneten Umständen ist.« »Dann ist sie also glücklich?« »Sehr glücklich«, bekräftigte Hannes, wies dann mit der Hand zum Haus und sagte leise, aber schadenfroh: »Der da drinnen, der Laurenz, der ist es nicht, nicht einmal zufrieden. Bestimmt würde er sich freuen, wenn er von dem Kind wüsste. Aber die Dorette redet kein Wort mehr mit ihm und er darf sie auch nicht besuchen. Na, das hat er auch verdient. Aber nun ist er ganz allein und grämt sich.« »Ich denke, er hat eine Frau.« »Ach die«, der Diener winkte nachlässig ab. »Die und ihr Sohn waren doch nichts wert. Es war richtig, dass der Herr die beiden fortgeschickt hat.« »So ist das also«, sagte Klaus und legte dem Diener die Hand auf die Schulter. »Dein Herr wird sich vermutlich noch sehr lange Vorwürfe machen. Aber vielleicht gibt es eines Tages einen kleinen Jungen, den er zu seinem Erben machen kann und der die Freude seines Alters ist.« »Ja, vielleicht.« Hannes lächelte zuversichtlich und steckte dann dankbar die Münzen ein, die Störtebeker ihm auch dieses Mal gab. Dieses Lächeln wich den ganzen Tag nicht von seinem Gesicht, auch wenn er sich sagte, dass er den freigiebigen Seemann wahrscheinlich niemals wieder sehen würde. Klaus aber kehrte zu seinem Schiff zurück und nahm Kurs auf Gotland. Dort wollten er und seine Männer zusammen mit Goedecke und dessen Mannschaft den Winter verbringen. Und dort würde er auf Karsten Studer höllisch aufpassen, denn dieser Bursche führte etwas im Schilde. Aber er, Klaus Störtebeker, würde ihn eines Tages ent82
larven. Bei diesen Gedanken lachte er siegessicher. Der undurchsichtige Steuermann würde in ihm seinen Meister finden. Ende
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