REN DHARK
Drakhon Band 18 Vergessenes Volk
l. Bert Stranger hatte Angst. Obwohl ihm das Herz in die Hose gerutscht war, schlug es ihm bis zum Hals. In seinen Eingeweiden rumorte es. Offensichtlich suchte seine letzte Mahlzeit einen Weg nach draußen, konnte sich aber nicht entscheiden, welche Richtung sie einschlagen sollte. Stranger war kein Feigling - aber er war auch kein Nahkämpfer. Brenzlige Situationen bewältigte er nicht mit Waffengewalt, sondern mit Verstand. Seine Devise lautete: Ein kluger Mann hält stets bereit 'nen guten Bluff zur rechten Zeit. Nur wenn es sein mußte, griff er zur Waffe. Es mußte sein. Mit Tricksen kam er in dieser aussichtslosen Lage nicht weiter. Widerwillig nahm Stranger dem toten GSO-Agenten, der neben ihm am Boden lag, den Strahler aus der Hand und stellte ihn von Paralyse auf tödliche Waffenwirkung um. Wie eine Robbe bewegte sich der kugelige, rothaarige Journalist rückwärts und seitwärts, um ein schlechteres Ziel abzugeben. Energiestrahlen zischten ihm um die Ohren und verfehlten ihn nur knapp. Ihn - und Bernd Eylers sowie mehrere GSO-Agenten, die unter Strahlenbeschuß standen und vergebens nach einer sicheren Deckung Ausschau hielten. Wild um sich schießend liefen sie hin und her, oder sie lagen wie Stranger bäuchlings auf dem Boden und feuerten eine Salve nach der anderen auf die Angreifer ab. Ihre Gegner wichen nicht zurück. Rückzug war für die Tel gleichbedeutend mit Versagen, und Versagen galt für einen Angehörigen dieses straff durchorganisierten Volkes, das seinen Auf stieg der Entdeckung und Nutzung von Worguntechnik vor mehreren hundert Jahren verdankte, als Schande. Aufgrund ihres Aussehens - dunkelhäutig, ohne negroide Ausprägung - wurden die Tel auf Terra auch »Schwarze Weiße« genannt, eine Bezeichnung, die in keiner Weise abwertend gemeint war. Ganz im Gegenteil, die Terraner waren jederzeit bereit, anzuerkennen, daß es die Natur bei der Erschaffung dieser den Menschen äußerlich so ähnlichen Art besonders gutgemeint hatte. Zu Vermischungen zwischen terranischem und telschem Blut kam es allerdings nie, die Tel wiesen eine völlig andere Genstruktur auf. Zudem verfügten sie über zwei Herzen, zwei Kreisläufe und zwei Nervensysteme. Die Hauptwelt des Telin-Imperiums hieß Cromar. Nach mehreren kriegerischen Zusammenstößen hatten Terra und Cromar diplomatische Beziehungen aufgenommen, sprich: Man betrieb Handel miteinander, tauschte Erfahrungen über andere Milchstraßenvölker aus, vereinbarte kulturelle Freundschaftstreffen - und spionierte sich gegenseitig aus. Die von Bernd Eylers gegründete und geleitete Galaktische Sicherheitsorganisation war auf Cromar ständig präsent. Es mußte sein, denn längst nicht alle Tel waren damit einverstanden, daß freundschaftliche Kontakte mit den Terranem gepflegt wurden. Die früheren Auseinandersetzungen waren nicht vergessen, insbesondere die Niederlagen, welche von vielen Tel noch heute als Schmach empfunden wurden. Eine gegen die Tel-Regierung arbei tende Rebellenorganisation hielt die Erinnerung an die unrühmliche Vergangenheit in der Bevölkerung ständig wach und sabotierte sämtliche Friedensbemühungen. Die Tel waren gefährliche Gegner - aber noch gefährlicher waren ihre Roboter. Diese Kampfmaschinen sahen den normalen Tel so ähnlich, daß man sie kaum voneinander unterscheiden konnte. Bei Bedarf trugen sie sogar Kleidung. Eylers und seine Agenten hatten beim Sturm des Fabrikgeländes zunächst geglaubt, es mit lebenden Tel zu tun zu haben. Erst als die Paralyse keine Wirkung gezeigt hatte - die Roboter hatten sich lediglich für eine Weile bewußtlos gestellt - war ihnen ihr Fehler klargeworden. Zu spät. Einer der besten GSO-Agenten hatte deshalb sein Leben lassen müssen, und ein Toter beim Einsatz war bereits einer zuviel. Hinter den Männern befand sich das Fabrikgebäude, dessen Tor einen Spalt offenstand. Drinnen hätte es Deckung en masse gegeben, doch die Kampfroboter ließen den Agenten keine Chance, sich dorthin zurückzuziehen. Der eingezäunte Platz rund um die abgelegene Fabrikhalle war gut ausgeleuchtet. Zu gut für den Geschmack von Bert Stranger. Der neunundzwanzigjährige Reporter zielte auf einen der am Gebäude und am Zaun angebrachten Scheinwerfer und blies ihm das Licht aus - im wahrsten Sinne des Wortes.
Bernd Eylers als Einsatzleiter tat es ihm gleich und visierte ebenfalls einen Scheinwerfer an. Seine Leute folgten seinem Beispiel. Kurz darauf lag dieser Teil des Geländes im Dunkeln. Der knapp dreiunddreißigjährige Eylers wirkte zwar manchmal etwas unbeholfen, aber es war ein Fehler, ihn zu unterschätzen. Er hatte seine Mannschaft stets fest im Griff. Anstelle des linken Unterarms trug er eine Prothese. Im Nahkampf war sie ihm normalerweise von größtem Nutzen, denn es war eine Gaswaffe darin verborgen. Gegen Roboter war die Waffe allerdmgs nutzlos. Stranger und Eylers lagen zusammen im Dreck -- ebenfalls im wahrsten Sinne des Wortes. Die beiden ungleichen Kampfgefährten arbeiteten sich rückwärts aufs Tor zu, wobei sie sich gegenseitig Feuerschutz gaben. Warum immer ich? stöhnte der Journalist innerlich auf. Wie konnte ich nur in diese aussichtslose Lage geraten? Eine rhetorische Frage - schließlich wußte er nur zu gut, wie es dazu gekommen war. Auf der Suche nach den Drahtziehern, die sich hinter Sensorium Inc. verbargen, jener Firma, die ein sensationelles neues Hologerät auf den Markt gebracht hatte, hatte Bert Stranger viel riskiert. Er hatte herausgefunden, daß das Gerät mit zwei verschiedenen Chips betrieben werden konnte - mit harmlosen, die überall legal zu erwerben waren, und mit süchtigmachenden, die es nur auf dem Schwarzmarkt gab. Beinahe hätten seine Recherchen ein abruptes Ende gefunden, als man ihn gewaltsam mit den Suchtchips »gefüttert« hatte, doch eine lebensgefährliche Entgiftungskur und eine 10 anschließende psychiatrische Behandlung, in deren Verlauf man ihm einen Teil seiner Erinnerungen gelöscht hatte, hatten ihn gerettet. Strangers Gegenschlag war furchtbar gewesen! Ausgerechnet mit seinem Erzfeind Osman Mülyz, einem türkischen Drogenbaron, der sich geschworen hatte. Stranger höchstpersönlich umzubringen, hatte er sich verbündet. Bert hatte ihn auf skrupellose Chipdealer im Hafen von Marseiile gehetzt - und Mülyz hatte dort gründlich »aufgeräumt«. Von Osman stammte auch der Tip, diese Fabrikhalle, die in einem Vorort von Addis Abeba lag, näher unter die Lupe zu nehmen. Zuvor hatten Eylers und seine Männer bereits die offizielle Geschäftszentrale sowie die Chipfabrik von Sensorium Inc. nach belastenden Unterlagen oder sonstigen Hinweisen durchsucht -vergebens. In Big Bear City (Kalifornien) schien alles mit rechten Dingen zuzugehen. Würden sie hier in Äthiopien endlich fündig werden? Und was viel wichtiger war: Würden sie von hier jemals wieder lebend wegkommen? Augenblicklich sah es nicht danach aus. Ein weiterer Agent wurde von zwei Energiestrahlen gleichzeitig getroffen. Er war sofort tot. Der Zwischenfall ereignete sich in Eylers' und Strangers Nähe. Ohne zu zögern legten sie auf die beiden Robotschützen an. »Ich den linken«, brummte der wortkarge GSO-Chef - woraufhin Bert auf den von ihm aus gesehen rechts befindlichen Kampfroboter zielte. Er benötigte drei Schüsse, um ihn überhaupt zu treffen, und nochmals drei, um ihn außer Gefecht zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Eylers seinen Gegner bereits komplett zerstört. »Manchmal sind wir ein richtig gutes Team«, bemerkte Stranger selbstzufrieden. Eylers9 Antwort war ein unwilliges Knurren, ähnlich einem Wolf, dem man die Jagdbeute wegnehmen wollte. Weitere Agenten fanden sich in ihrer Nähe ein. Sie wurden von den Robotern regelrecht zusammengetrieben. Die schwarzen Maschinen formierten sich zu einem Halbkreis, der immer enger wurde. Bert war überzeugt, daß die Telroboter über Nachtsichtgeräte verfügten. Auch die Agenten setzten solche Geräte ein. Patt. Stranger war nicht schutzlos nach Addis Abeba aufgebrochen. Eine vorausschauende Persönlichkeit hatte mit erheblichen Schwierigkeiten gerechnet: Sam Patterson, der oberste Chef von Terra-Press. Patterson hatte seinem besten, aber manchmal etwas leichtsinnigen Mitarbeiter einen Kegelroboter aufgenötigt, zu dessen Schutz und Wohlergehen. Dummerweise hatte Bert der geleasten Kampfmaschine, die er Clint nannte, die Anweisung gegeben, sich aus allem herauszuhalten und statt dessen aus sicherer Entfernung Filmaufnahmen von den Geschehnissen zu machen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht geahnt, daß er es mit Tel-robotem zu tun bekommen würde. Fazit: Die GSO und Terras bester Sensationsreporter saßen in der Falle. Und der tödliche Ring um sie herum zog sich immer mehr zusammen...
Clints Auftrag lautete, Bert Stranger unter allen Umständen zu beschützen. Strangers gegensätzlichen Befehl, sich herauszuhalten und die nächtliche Aktion zu filmen, hatte er dennoch akzeptiert, schließlich wurde der Reporter vorübergehend von der GSO geschützt. Als die scheinbar bewußtlosen Tel wieder aufgestanden und zum Angriff übergegangen waren, hatte Clint nicht eingegriffen. Mit der Gefühllosigkeit einer tumben Maschine hatte er die Nah kämpfe und den Tod der beiden Agenten mit seiner eingebauten Kamera ungerührt gefilmt, wie Bert es ihm aufgetragen hatte. Er war nicht darauf programmiert, die GSO-Männer zu schützen, sie 12 gingen ihn nichts an. Erst als die telähnlichen Maschinen Stranger zu nahe auf den Pelz rückten, änderte sich Clints passive Haltung. Der Kegelroboter kam aus der Dunkelheit geschossen wie ein Springteufel aus seinem Karton. Dank seines Prallfeldes war er extrem beweglich. Blitzschnell schwebte Clint hin und her und streckte einen Telroboter nach dem anderen nieder. Mitunter erwischte er sogar mehrere der schwarzen Maschinen gleichzeitig, da er dank seines hochwertigen Suprasensors in der Lage war, seine Waffenarme gegen mehrere Gegner gleichzeitig einzusetzen. Die Telroboter wandten sich dem neuen Gegner zu und deckten ihn von allen Seiten mit Strahlensalven ein. Clint kümmerte das nicht, er verfügte über einen starken Schutzschirm. Die Telroboter nicht. Nach und nach wurden sie außer Betrieb gesetzt - von Clint und von den Agenten, die wieder Oberwasser bekamen und ihre Chance zu nutzen wußten. Außerhalb des Fabrikgeländes, auf der anderen Seite des Zaunes, hielt sich der GSOSanitätsdienst in Bereitschaft. Normalerweise traten die Mediziner und ihre Helfer erst in Aktion, wenn die Kämpfe vorüber waren, um dann das schlimmste Leid zu lindem. Ihre Handfeuerwaffen dienten ausschließlich dem Selbstschutz. Als sie jedoch sahen, wie ihre Kameraden immer mehr in Bedrängnis gerieten, entschlossen sie sich, direkt ins Geschehen einzugreifen. Dank Clint war das nun nicht mehr nötig. Der schwebende Kegel verfügte über den Kampfwert von zehn Agenten und mehr. Erst als der letzte Telroboter seine Funktionen eingestellt hatte, fuhr er die Waffen wieder ein. Das nächtliche Strahlengefecht war beendet. Verluste auf GSO-Seite: zwei tote Agenten und ein Verletzter. Um letzteren kümmerte sich der Sanitätsdienst, der schneller denn je zur Stelle war. Eylers, Stranger und die noch verbliebenen Agenten drangen mit gezückten Waffen in die Fabrikhalle ein. Drinnen war alles hell erleuchtet, allerdings standen die Maschi nen still. Offensichtlich wurden nachts lediglich Wartungsarbeiten durchgeführt - von »einfach gestrickten« Robotern, die teilweise nur eine einzige Funktion ausführen konnten und somit keine Gefahr für die Eindringlinge darstellten. »Nicht gerade das neuste Modell«, bemerkte ein Agent verächtlich, nachdem er eine der Produktionsmaschinen näher in Augenschein genommen hatte. »Überaus pflege- und reparaturbedürftig, völlig ungeeignet für den Dauerbetrieb. Ohne tägliche Wartung würden die Klapperkisten schon bald auseinanderfallen.« »Wir befinden uns nicht in Europa oder Amerika, sondern in Äthiopien«, erwiderte Stranger. »Zwar hat der technische Fortschritt auch in dieser Region seinen Einzug gehalten, aber die Uhren laufen hier nun einmal etwas langsamer.« Offiziell wurden hier in zwei Tagschichten Lederschuhe angefertigt, teils in Handarbeit. Doch schon nach kurzer Untersuchung war klar, daß diese Behauptung nicht stimmte. Die vollautomatische Anlage diente einzig dem Zweck, Chips für Sensorien herzustellen. Illegale Chips, die sich von den legalen rein äußerlich durch nichts unterschieden - wenn man mal davon absah, daß ein Teil der Chips numeriert war, von eins bis zehn. »Filmserien, die man sich in der richtigen Reihenfolge anschauen soll«, vermutete Eylers. Stranger nickte. Er erinnerte sich zwar so gut wie gar nicht mehr an seine virtuellen Erlebnisse, aber in dem letzten Paket, das er erhalten hatte, hatten sich ebenfalls numerierte Chips befunden. Bert hatte nur den Chip mit der Nummer eins verwendet und sich danach ein paar Notizen gemacht, aus denen hervorging, daß die Chiphersteller die Ziele der Fortschrittspartei befürworteten - jener Partei, dessen Spitzenkandidat Antoine Dreyfuß bestrebt war, Ren Dhark das Amt des Commanders der Planeten abzujagen. »Unsere Techniker werden schon herausfinden, was das Besondere an den Suchtchips ist«, sagte Eylers - mehr zu sich selbst als zu Stranger, der kürzlich gemeinsam mit Veronique de Brun, der
14 französischen Filialleiterin von Biotechnologique, vergebens versucht hatte, das Geheimnis der Chips zu ergründen. »Fest steht, daß bei Anwendung der Suchtchips im menschlichen Gehirn bestimmte chemische Stoffe erzeugt werden«, sagte Bert zum GSO-Leiter, der mehrere Handvoll fertiger Chips in einen mitgebrachten kleinen Plastikbeutel füllte. »Diese Stoffe lassen sich im Blut des Süchtigen nachweisen. Wie genau das funktioniert, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, daß nicht nur technische Mittel angewendet werden. Der psychologische Aspekt dürfte dabei die größere Rolle spielen.« »Wie meinen Sie das?« »Sowohl die normalen als auch die süchtigmachenden Chips beinhalten Holofilme. Bei den legalen Filmen handelt es sich teils um aufgemotzte ältere Werke, teils um grandiose Naturaufnahmen, teils um harmlose Studioneuproduktionen. Zur Erzeugung der illegalen Filme braucht man ebenfalls ein Studio, nebst Kameraleuten, Regisseuren, Darstellern und so weiter. Mit Sicherheit werden dort auch psychologisch gebildete Berater beschäftigt, sozusagen Fachkräfte in Sachen Gehirnmanipulation, die genau wissen, für welche Signale unser Zentralorgan ganz besonders empfänglich ist.« »Seelenklempner, die unsere geheimsten Wunschträume aus dem Unterbewußtsein ins Bewußtsein befördern und in uns das Verlangen erwecken, sie für immer dort zu belassen«, sinnierte Eylers. »Eine gefährliche Sache. Stellen Sie sich mal vor. Stranger, was geschieht, wenn sich ein Chipsüchtiger nicht mehr mit den virtuellen Träumereien begnügt. Wenn er sich irgendwann entschließt, seine intensiven Phantasieerlebnisse Wirklichkeit werden zu lassen...« Bert Stranger wollte sich das lieber nicht vorstellen. Einer der Agenten stieß auf eine nach unten führende Treppe und informierte den GSO-Leiter. Bernd Eylers nahm an, daß im Untergeschoß die Büroräume lagen und wies drei Mann an, ihn zu begleiten. Stranger folgte dem Quartett, begleitet von Clint, der weiterhin alles aufnahm, ohne dabei seinen Schutzauftrag zu vernachlässigen. Von der untersten Treppenstufe aus führte ein schmaler, etwa zehn Meter langer, beleuchteter Gang zu einer verschlossenen Stahltür. Zu beiden Seiten des Ganges erstreckten sich Glaswände, unterbrochen von gläsernen Eingangstüren. Die links befindlichen Räume dienten Aufenthaltszwecken, rechts befand sich ein Labor. Auch hier ruhte augenblicklich die Arbeit. Eylers machte eine Kopfbewegung zum Labor hin. »Möglicherweise verbirgt sich hier das Geheimnis der Spezialchips. Unsere Wissenschaftler werden alles gründlich auf den Kopf stellen.« Hinter der Stahltür war ein gedämpftes Geräusch zu hören, ein Fauchen oder Zischen wie von einem wilden Tier. Eylers und seine Männer machten sich bereit, den Raum zu stürmen. Das Öffnen der Tür bereitete ihnen keine Schwierigkeiten. Ein primitiver Mechanismus wurde betätigt, und die Stahltür verschwand in der Wand. Ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit betrat Eylers das Zimmer als erster, die Waffe schußbereit in der Hand. Seine Mitarbeiter folgten ihm. Stranger ließ Clint den Vortritt. Die Männer und der Kegel fanden sich in einem nicht sonderlich großen Büro wieder. Das Fauchgeräusch wurde von einem kleinen Flammenwerfer erzeugt, den ein Telroboter in der Hand hielt. Der Maschinenmann fackelte damit die gesamte technische Büroeinrichtung ab, hauptsächlich einen Suprasensor und mehrere Behältnisse mit Datenträgem. Obwohl er die unerwünschten Besucher hätte bemerken müssen, kümmerte er sich nicht um sie und setzte seine Aktion ungerührt fort. Die Flammen fraßen sich quer durchs ganze Büro. Beißender Rauch breitete sich aus. Mit tränenden Augen richteten die drei Agenten ihre auf Zerstörung eingestellten Waffen auf den Brandstifter. Clint sah keinen Anlaß zum Schießen, solange Stranger keine Gefahr für Leib und Leben drohte.
16 Eylers befahl seinen Leuten mit einer unwirschen Handbewegung, die Waffen sinken zu lassen. Dann trat er zwei Schritte auf den Schwarzen Weißen zu und hob den Arm mit der Prothese. Stranger machte ein erschrockenes Gesicht. Was hatte der GSO-Chef vor? Wußte er nicht, daß seine Gaswaffe gegen Roboter wirkungslos war? Der Gasstoß aus der Armprothese erfolgte nahezu lautlos, nur ein kaum wahrnehmbarer Zischlaut war zu hören. Sekundenbruchteile später sank der Brandstifter zu Boden. Der Flammenwerfer entglitt seinen Händen und verlosch.
Obwohl die Löscharbeiten sofort in Angriff genommen wurden, wobei Clint auf Strangers Befehl hin tatkräftig mithalf, war nichts mehr zu retten. Suprasensor und Datenträger waren zu schwarzen Klumpen zerschmolzen. »Vielleicht gelingt es unserer Spurensicherung, aus den Brandresten noch irgend etwas Brauchbares herauszuholen«, sagte Bernd Eylers, glaubte aber selbst nicht so recht daran. »Die GSO wird die gesamte Fabrik auseinandemehmen, vom Keller bis unters Dach! In der Maschinenhalle, den Büro- und Aufenthaltsräumen und im Labor wird kein Stein mehr auf dem anderen stehen, wenn wir hier fertig sind. Auch das Gelände rundherum wird Zentimeter für Zentimeter abgesucht. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht irgendwo auf einen Hinweis stoßen, der uns zu den Verbrechern führt, die hinter all dem stecken!« Er deutete auf den bewußtlosen Tel, dem inzwischen Handfesseln angelegt worden waren. »Und unseren Pyromanen knöpfe ich mir noch heute nacht im hiesigen GSO-Büro vor! Gnade ihm Gott, wenn er nicht redet!« Man merkte ihm unschwer an, daß es ihm ein persönliches Anliegen war, diesen Fall zu lösen. Der Fehlschlag ging ihm gegen die Ehre, schließlich leitete er die bedeutendste terranische Organisation in Sachen Sicherheit. Stranger wußte, wie ungern Eylers überflüssige Fragen beantwortete, aber da der GSO-Leiter gerade so schön in Fahrt war... »Wie konnten Sie sich eigentlich sicher sein, daß es sich diesmal um keinen Roboter, sondern um einen echten, lebendigen Tel handelte?« erkundigte sich der Reporter. »Sein nervöser Blick hat ihn verraten«, antwortete Bernd Eylers. »Während seiner Abfackelungsaktion schaute er ständig zu uns herüber. Ihm war bewußt, daß wir ihn gleich stoppen würden, dennoch hörte er nicht auf, weil er so viel Material wie möglich vernichten wollte. - Ist wohl nicht weit her mit Ihrer journalistischen Beobachtungsgabe.« Stranger schluckte den gemeinen Tiefschlag tapfer herunter. Während Märet Tarem, ein sechzigjähriger GSO-Agent, der aus dieser Region stammte, die Kleidung des Bewußtlosen durchsuchte, verließen die übrigen Agenten das ausgebrannte Büro. Nur Bert, Bernd und Clint schauten bei der Leibesvisitation zu. Tarem förderte einen Diplomatenpaß zutage, der auf den Namen Dar Soba ausgestellt war. Der GSO-Leiter unterdrückte einen fürchterlichen Ruch. »Schon wieder eine Sackgasse«, merkte Stranger ungehalten an. »Laut Gesetz dürfen Sie den Tel weder festnehmen noch verhören, Eylers. Als Diplomat hat er ein juristisch verbrieftes Anrecht auf Immunität. Was werden Sie nun unternehmen?« Eylers winkte Tarem und Stranger zu sich heran. Verschwörerisch legte er ihnen den Arm und die Prothese um die Schultern und flüsterte: »Können Sie schweigen, meine Herren?« . Die Gefragten nickten stumm. »Ich auch«, entgegnete Eylers leise. »Und deshalb verlieren wir drei über dieses unscheinbare kleine Ausweisdokument kein Wort mehr, verstanden?«
Die GSO-Filiale in Addis Abeba zählte nicht zu den komfortabelsten. Wer hier arbeitete, war entweder in Äthiopien geboren 18 oder strafversetzt worden. Gegen die hiesigen genügsamen Räumlichkeiten nahmen sich die meisten anderen GSO-Büros weltweit wie Luxussuiten aus. Nur eines war in allen Filialen gleich: der Verhörraum. Ob Afrika, Asien oder Australien - die Zimmer, in denen Vernehmungen durchgeführt wurden, wirkten unpersönlich und kühl, schließlich sollten sich die Gefangenen hier nicht wohlfühlen. Im Gegenteil, je unangenehmer ihnen der Aufenthalt hier war, um so früher rückten sie mit der Sprache heraus. Die Zelle, in die man sie hinterher zurückbrachte, kam ihnen dann vor wie das Paradies. In gewisser Weise schoß die GSO damit ein Eigentor - schließlich mußten auch die Verhörspezialisten viele Stunden in solchen Zimmern verbringen. Die einzige Unterbrechung fand in Form von kleinen Pausen am Kaffeeautomaten statt. »Kriege ich auch einen?« erkundigte sich der gefangene Tel, als Eylers mit einem dampfenden Kaffeebecher ins Verhörzimmer zurückkehrte. Der GSO-Chef führte die Vernehmung persönlich durch. Nur seinem Agenten Märet Tarem und Bert Stranger war es gestattet, dabei anwesend zu sein. Und natürlich Clint, der unbeweglich und scheinbar völlig unbeteiligt in einer Zimmerecke schwebte, zehn Zentimeter über dem Fußboden. Im Wirklichkeit registrierten seine Sensoren jede verdächtige Bewegung im Raum; zudem nahm er alles auf. »Seit wann trinken Tel Kaffee?« fragte Eylers den Festgenommenen verwundert. »Habe ich mir während meines schon viel zu langen Aufenthalts auf der Erde angewöhnt,
ebenso terranischen Umgangsjargon und sonstige üble Gepflogenheiten«, erwiderte Dar Soba verbittert. »Meine fortwährenden Rückversetzungsgesuche nach Cromar wurden leider kontinuierlich ignoriert. Die braune, überaus angenehm riechende Flüssigkeit ist für unseren Organismus zwar alles andere als gut verträglich, aber wir Tel haben die Kraft der zwei Herzen.« »Sie kriegen trotzdem keinen Kaffee«, entschied Eylers. »Seit Beginn des Verhörs verweigern Sie mir sämtliche Auskünfte, dafür werde ich Sie nicht noch belohnen.« »Wie oft soll ich es noch wiederholen?« erboste sich der Tel. »Mein Name ist Dar Soba. Ich muß Ihnen keine Fragen beantworten, denn ich unterliege als Botschaftsangehöriger der diplomatischen Immunität. Das wird auf Cromar genauso respektiert wie aufTerra.« »Und wie wollen Sie Ihre Behauptung beweisen?« »Dafür genügt ein Blick auf den Diplomatenpaß, der von Ihnen widerrechtlich eingezogen wurde.« Eylers spielte den Entrüsteten. »Was fällt Ihnen ein? Hätte man bei Ihnen ein entsprechendes Ausweispapier gefunden, hätten wir Sie längst auf freien Fuß gesetzt, wie es unsere Pflicht und Schuldigkeit wäre.« Er schaute Tarem an. »Sie haben die Durchsuchung von Dar Soba ausgeführt. Hatte er einen Paß bei sich?« »Weder einen Paß noch sonst einen Hinweis auf seine Identität«, antwortete der Gefragte mit unbewegter Miene. »Mein Anruf in der Botschaft verlief ebenfalls negativ, dort hat man seinen Namen noch nie gehört. Offensichtlich hält sich Mister Soba - oder wie auch immer er heißt illegal auf Terra auf. Ich vermute, er hat seine persönlichen Papiere vorsorglich vernichtet, damit man ihn nicht identifizieren kann.« Eylers wandte sich wieder Dar Soba zu. »Aus welchem Grund wollen Sie nicht, daß man Ihre wahre Identität erfährt? Was haben Sie zu verbergen? Werden Sie auf Cromar wegen eines Verbrechens gesucht? Ich kriege das heraus, verlassen Sie sich darauf4 Und wenn es Monate dauert!« »Viele Monate«, fügte Tarem hinzu. »Monate, während denen man Sie in einer äthiopischen Haftanstalt unterbringen wird. Sonderlich sauber sind die hiesigen Gefängnisse nicht, doch Sie werden sich schon an die Ratten und das Ungeziefer gewöhnen - und an die anderen Gefangenen, mit denen Sie sich die schmuddelige Zelle teilen.« 20 »Sie dürfen mich nicht wie einen gewöhnlichen Verbrecher behandeln ! Mein Diplomatenstatus...« »Sollte sich im Verlauf der weiteren Ermittlungen herausstellen, daß Sie tatsächlich Diplomat sind, wird sich die terranische Regierung selbstverständlich bei Ihnen entschuldigen«, griff Stranger unvermittelt ins Verhör ein. »Aber das kann dauern... Sie haben sicherlich Verständnis dafür, daß es für die GSO wichtigere Fälle zu klären gibt als die Überprüfung eines vermutlich illegalen Einwanderers. Keine Sorge, man wird Sie nicht vergessen. Dar Soba oder wer auch immer Sie sind. In äthiopischen Gefängnissen kursieren zwar Gerüchte über greise Gefangene, deren Unterlagen von den Behörden versehentlich verschlampt worden seien, doch davon sollten Sie sich keinesfalls verunsichern lassen. Irgendwann erblickt jeder Sträfling wieder das Licht der Sonne - zumindest die meisten.« Der Tel funkelte ihn ärgerlich an. »Ich kenne Sie, Stranger. Sie sind Reporter bei Terra-Press und haben hier eigentlich überhaupt nichts verloren. Ihre Anwesenheit ist schlichtweg - wie sagt man doch bei Ihnen? - eine faule Kiste.« Er wandte sich Eylers zu. »Sie haben gewonnen, ich bin bereit zu reden. Aber ohne Zeugen. Schicken Sie den neugierigen Schmierfink und Ihren Agenten fort. Oder ich sage von nun an keinen Ton mehr.« »Einverstanden«, entgegnete Eylers, der innerlich erleichtert aufatmete. Geschafft! »Aber mein Wachroboter bleibt. Ich weiß, über welche Körperkräfte die Tel verfügen...« Er hielt seine Armprothese hoch. »... und als Krüppel hätte ich im Zweikampf keine Chance gegen Sie, Dar Soba. Darum bleibt Clint hier.« Der Tel hatte gegen den kegelförmigen Leibwächter nichts einzuwenden. Stranger und Tarem gingen aus dem Zimmer. Dar Soba kam sofort zur Sache. »Als seinerzeit die erste telsche Botschaft auf Terra eingerichtet wurde, gab man sich bei der Überprüfung der ausersehenen Mitarbeiter besondere Mühe, um wirklich sicherzugehen, daß keine Dissidenten mit darunter waren. Doch jedes noch so perfekte Sicherheitssystem hat irgendwo eine Lücke. Obwohl ich heimlich mit den Rebellen sympathisierte und gelegentlich auch geheime Kontakte zu ihnen hatte, war mein Lebenslauf tadellos, denn bis dahin hatte ich nie an irgendwelchen umstürzlerischen Aktionen teilgenommen. Allgemein galt ich als Langweiler ohne jeglichen politischen Ehrgeiz, aber als absolut regierungstreu. Meine Bewerbung wurde daher positiv befürwortet, und ich
erhielt einen Posten in der Botschaft. Keine sonderlich verantwortungsvolle Aufgabe, doch damals versprach ich mir davon jede Menge Abwechslung - vor allem im Hinblick auf meine Spionagetätigkeit für die Rebellenorganisation. Leider gestalteten sich weder meine reguläre Botschaftsarbeit noch meine illegalen Aktivitäten besonders abenteuerlich. Hin und wieder gingen Unterlagen über meinen Schreibtisch, die für die Anführer der Organisation möglicherweise von Interesse waren. Über wechselnde Mittelsmänner leitete ich Kopien der betreffenden Akten weiter - das war's auch schon. Nicht gerade spannend, wie? Meine Tarnung war derart perfekt, daß ich selbst nach den Kämpfen im Februar 2058 nicht als Rebellenanhänger demaskiert wurde und wie bisher weitermachen konnte.« »Weitermachen?« wunderte sich Bernd Eylers. »Aber die Organisation der Aufrührer wurde damals zerschlagen.« »Wenn man etwas zerschlägt, bleiben überall Bruchstücke liegen«, entgegnete der Tel. »Bruchstücke, die man irgendwann vielleicht wieder zu einem Ganzen zusammenfügen kann. Derzeit ist unsere Organisation nur noch rudimentär vorhanden. Um neue Strukturen aufzubauen, benötigen wir Geld...« Dar Soba stockte. »Das sollte genügen, denke ich. Mehr Informationen bekommen Sie nicht von mir. Sie wissen jetzt, daß ich ein Dissident bin - ein enttarnter Rebell, der von nun an damit rechnen muß, von seinen eigenen Leuten zum Schweigen gebracht zu werden. Bei Auslieferung an die Tel-Regierung erwartet mich die Todesstrafe. Mir bleibt daher nur eine Möglichkeit: Hiermit beantrage ich politisches Asyl auf Terra.« 22 »Sie haben wirklich Nerven, Mann!« brummelte Eylers. »Glauben Sie wirklich, damit kommen Sie durch?« »Ich kenne die terranischen Gesetze inzwischen fast besser als die meines eigenen Volkes und weiß daher, daß ich einen Anspruch auf Asyl habe. Sie sind verpflichtet, umgehend die zustän digen Behörden darüber zu unterrichten.« »Für Ihren ganz speziellen Fall ist zunächst einmal die GSO zuständig und sonst niemand«, machte Eylers ihm deutlich. »Mein Wort hat Gewicht. Ich kann mich mit aller Macht gegen den Asylantrag stemmen oder ihn befürworten. Prinzipiell spricht nichts gegen Ihren Verbleib auf Terra. Wir könnten Ihnen sogar eine völlig neue Identität verschaffen, vorausgesetzt, Sie kooperieren mit uns. Sagen Sie mir, was die Rebellen mit Sensorium Inc. zu schaffen haben. Welche Pläne verfolgt die Organisation? Nennen Sie mir Fakten und Namen, dann sehen wir weiter.« Dar Soba blieb stur. »Kommt nicht in Frage! Ich habe Ihnen schon viel zuviel gesagt. Ich verlange, daß Sie mein Asylbegehren unverzüglich weiterleiten. Bis darüber entschieden wurde, stelle ich mich unter den Schutz der GSO. Sollte mir etwas zustoßen, wird man Sie höchstpersönlich zur Verantwortung ziehen, Eylers! Ich bin Ihre dummen Spielchen und leeren Drohungen endgültig leid. Geben Sie mir meinen Ausweis zurück, und bringen Sie mich an einen sicheren Ort - und damit meine ich nicht ein äthiopisches Gefängnis.« Ein verdammt zäher Brocken! dachte der GSO-Chef. »Sie haben gewonnen. Dar Soba«, gab er nach. »Ich werde zwei meiner Männer zu Ihrer persönlichen Sicherheit abstellen und Sie von hier fortbringen lassen, in ein vorläufiges Versteck. Dort wird es Ihnen an nichts mangeln.« »So ist es recht«, spöttelte der Tel. »Endlich haben Sie begriffen, daß Sie mir nicht gewachsen sind. Wo werden Sie mich unterbringen?« »Frontier Junction«, antwortete Eylers kurz angebunden.
2. Holger Alsop stellte sich weiterhin bewußtlos. Trotzdem beobachtete der Cyborg aufmerksam seine Umgebung. Drei Gegner, die Paralysatoren noch in den Händen, verließen ihre Deckung. Gedrungene, humanoide Wesen, die kaum größer als 1,50 Meter waren. Die hohe Schwerkraft, fast eineinhalb mal so stark wie auf der Erde, zwang ihnen diese kompakte Statur auf. Schulterpartie und Oberkörper waren sehr breit und tief. Arme und Beine extrem muskulös. Kleine Riesen, dachte Alsop, fast zweimal so breit wie Menschen, aber in der Körperlänge gewaltig zusammengestaucht... Die »kleinen Riesen« näherten sich. Alsop wartete auf seine Chance. Er durfte dabei nicht vergessen, daß Gisol paralysiert und wehrlos neben ihm lag, nicht mehr in humanoider Form wie zuvor, sondern aus seiner Kleidung herausgeflossen und zu einem formlosen Etwas geworden, zur körperlichen Urform der Worgun, die als Gestaltwandler jedes gewünschte Aussehen annehmen konnten.
Dieser Planet, dritter Umläufer seiner Sonne, war eine kleine Hölle. Das lag nicht an der enormen Schwerkraft dieser nur 11 000 Kilometer durchmessenden Sauerstoffwelt, die von diesen Fakten abgesehen relativ erdähnlich war, sondern an den Zyzzkt, die mit ihren Ringraumem im Orbit hingen und immer wieder Bodentruppen ausschleusten, um gegen die Planetarier zu kämpfen. Sie machten Planet drei zur Hölle. Überall auf den Kontinenten herrschte Krieg. Die Femaufklärung der POINT OF hatte ergeben, daß dieser Krieg nur mit konventionellen Waffen geführt wurde. Atomare, biologische oder chemische Kampfmittel kamen nicht zum Einsatz. Offenbar war beiden Kriegsparteien, den Planetarien! wie den insektoiden Eroberern, nicht daran gelegen, den Lebensraum nachhaltig zu verseuchen. 24 Gisol, der Worgun, hatte beschlossen, mit einem seiner speziell ausgerüsteten Flash auf dem Planeten zu landen und sich vor Ort umzusehen. In ihm tobte ein unbändiger Zorn und Haß auf die Zyzzkt, die sein Volk unterjocht hatten, und die nun anscheinend dabei waren, ein weiteres Volk zu unterwerfen. Ob Gisol in diesem Fall etwas unternehmen konnte - und falls ja, was das wollte er vor Ort herausfinden. Holger Alsop, Cyborg der A-Serie und der erste Mensch, der seinerzeit die entsprechenden Implantate erhalten hatte, die ihn zu etwas Besonderem machten, begleitete den Worgun. Der Flash, eines der Beiboote des Ringraumers EPOY, parkte unter Ortungsschutz nicht sehr weit entfernt. Weder die Planetarier noch die Zyzzkt würden ihn finden. In dieser Region wurde nicht gekämpft. Noch nicht, oder den Zyzzkt war es zu mühsam, in der alpinen Landschaft, deren Felsmassive bis 2 000 Meter über den Meeresspiegel aufragten, im Bodenkampf anzutreten. In der Nähe befand sich ein Dorf, das sich wie die übrigen Ansiedlungen auf einem recht hohen technischen Standard befand. Bei der Annäherung hatten Gisol und Alsop nicht nur die kleinen Riesen, sondern auch Schweber und Roboter entdeckt. Und plötzlich kam der Überfall! Sie wurden aus einem Hinterhalt heraus mit Lähmstrahlen beschossen. Gisol erwischte es sofort; er zerfloß zu einem unförmigen Blob. Alsop, der schon beim Verlassen des Flash auf sein Zweites System umgeschaltet hatte, konnte als Cyborg von Lähmstrahlen nicht ausgeschaltet werden. Die wurden erst wirksam, wenn er jetzt zurückschaltete und vom Cyborg wieder zum Menschen wurde, um als solcher abwarten zu müssen, bis die Wirkung der Paralyse ausklang. Aber warum hätte er dieses Risiko eingehen sollen, das ihn dann zusätzlich der hohen Schwerkraft dieses Planeten aussetzte? Als Cyborg wurde er spielend damit fertig. Dennoch spielte er den Bewußtlosen. Die drei kleinen Riesen, die den beiden Besuchern aus dem Weltraum aufgelauert hatten, näherten sich jetzt. Phanten! forderte Alsops Programmgehim. Umgehend löste er den Reizimpuls aus. Die Steuerspannung von 0,003 bis 0,047 Volt aktivierte den vom Planeten Bittan im 404-Sy stem stammenden Phantvirus, der prompt ins Medium trat und damit alle Flüssigkeiten und Gase im organischen Körper des Cy-borgs band. Dieser von Echri Ezbal isolierte F-Stamm der Phantvi-ren schützte damit den Körper vor Belastungen, die jeden normalen Menschen schwer geschädigt oder getötet hätten, barg aber auch eine ungeheure Gefahr in sich. Durch die Reizspannung wurde eine spontane Vermehrung angeregt, die der Körper nur für einen Zeitraum von neun Tagen und sechs Stunden ertragen konnte; danach löste der Virus einen blitzartig wirkenden, unheilbaren und tödlichen Krebs aus. Äußerlich war dem Cyborg nicht anzusehen, daß er phantete, um damit auf größere Gefahren besser vorbereitet zu sein. Die drei kleinen Riesen waren vorsichtig. Ihre Paralysatoren hielten sie schußbereit; offenbar trauten sie dem Braten nicht. Sie trugen keine ID-Dämpfer, wie Alsop feststellte. Sie unterhielten sich in einer unbekannten Sprache, die von Reib- und Zischlauten dominiert wurde. Alsop verstand kein Wort, aber der Gestik und der Art, wie sie redeten, entnahm er, daß sie über Gisols Zerfließen völlig verblüfft waren. Da sich weder Gisol noch Alsop rührten, wurden sie nun mutiger. Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit verstärkt dem Worgim und vernachlässigten den Terraner darüber. Dem konnte das nur recht sein. Die drei umringten Gisol und betrachteten ihn eingehend, einer hockte sich neben ihn und betastete seinen Körper und die Kleidung, aus der er herausgeflossen war. Ein anderer der kleinen Riesen entdeckte den falschen ID-Dämpfer, der auf Gisols Körper lag, und nahm ihn an sich. Seinen Paralysator steckte er ein und drehte und wendete den Dämpfer mit beiden Händen hin und her, um ihn von allen Seiten näher zu
26 Auch die anderen steckten ihre Waffen jetzt in die Futterale an ihren Gürteln zurück. Wieder redeten sie heftig aufeinander ein. Keiner von ihnen achtete in diesem Moment auf Holger Alsop. Der erhob sich blitzartig und hielt im gleichen Moment seinen Impulsblaster in der Hand. Sein Zeigefinger berührte den Strahlkontakt, und ein greller Blitz fauchte aus dem Projektionsdom der Laufmündung. Ein paar Dutzend Meter entfernt schmolz einer der zahlreichen Felsbrocken an, die hier überall aus dem Boden aufragten. Alsop richtete die Waffe auf die kleinen Riesen. Die fuhren mit offenen Mündern herum und starrten ihn an wie einen Geist. Daran, zu ihren Waffen zu greifen, dachten sie nicht. Dennoch bedrohte Alsop sie nicht nur mit seinem Biaster, sondern auch mit Worten. Dazu benutzte er die Worgunsprache, die er mit Hilfe der von den Römern Terra Nostras zur Verfügung gestellten Mentcaps erlernt hatte. Die drei waren fassungslos. Einer von ihnen antwortete. Auch er sprach Worgun, während die beiden anderen Laute des Erschreckens und der Überraschung in ihrer Zisch- und Kratzsprache von sich gaben. »Auch du bist ein Hoher?« hörte Alsop. Er hatte diese Sprache auf Verdacht eingesetzt, der sich nun bestätigte. Die technisch hochstehenden Planetarier waren mit ihr vertraut. Das hieß, daß sie die einstigen Beherrscher Oms kannten, die seit Jahrhunderten nicht mehr zwischen den Sternen in Erscheinung getreten waren, weil die Zyzzkt sie auf ihrem eigenen Heimatplaneten praktisch eingekerkert hatten. Die Hohen... das waren die Mysterious, wie sie von den Terra-nem genannt wurden, die Worgun. In der heimatlichen Galaxis waren sie bei diversen Völkern auch noch unter anderen Bezeichnungen bekannt, aber hier in Orn hatten auch die Römer von Terra Nostra sie die Hohen genannt.»Zweifelst du daran?« fragte Alsop kühl. »Muß ich nicht zweifeln, weil du dich bewegst, dieser hier aber nicht, der seine Gestalt verloren hat?« kam die Antwort. »Ich weiß, daß ich euch beide getroffen habe, aber warum bist du dann in der Lage, dich zu bewegen und der andere nicht?« Alsop wich einer Antwort aus. »Warum hast du auf uns geschossen? Warum habt ihr alle drei auf uns geschossen? Wir sind nicht eure Feinde!« »Aber ihr kamt mit einem Flugobjekt, das dem ähnelt, wie es unsere Feinde benutzen«, erhielt er zur Antwort. Gisols Ortungsschutz ist nicht optimal, erkannte das Programm-gehim des Cyborgs, wurde aber im nächsten Moment von der Behauptung eines der beiden anderen Wesen widerlegt: »Wir sahen, wie ihr aus dem Boden auftauchtet, ein Stück flogt und dann landetet. Für unsere Technik wart ihr unsichtbar, nicht aber für unsere Augen!« Als er von der Technik sprach, reckte er leicht seinen linken Arm vor, an dessen Gelenk sich ein kleiner Apparat befand, kaum größer als eine Schuhcremedose. Alsop sah einen Minibildschirm in der Mitte und ringsum eine Reihe von winzigen Tasten. Ein tragbares Miniaturortungsgerät? Wenn das versagt hatte, funktionierte der Ortungsschutz doch, aber optisch war der Flash dann immer noch zu erkennen. Die Nogk verfügten da über eine weit bessere Technik, mit welcher sie nicht nur ihre Raumschiffe, sondern auch sich selbst tarnen konnten, um sich für andere unsichtbar mitten unter ihnen bewegen zu können. Bei der ersten Begegnung zwischen Nogk und Terranem auf Hope war diese Mimikry-Technologie zum Einsatz gekom-" men, und während der Giant-Herrschaft auf der Erde hatten Nogk-Raumer sich mehrfach unsichtbar im Sol-System bewegt. Auch Commander Huxleys Forschungsraumer FO I war von den Nogk mit einem solchen Deflektorschirm ausgerüstet worden. »Eure Feinde - sind die Zyzzkt?« fragte Alsop nach. »Die Massenvermehrer, die über die Planeten unserer Galaxis herfallen wie Freßschreckinsekten über erntereife Felder«, erwi 28 derte einer der drei kleinen Riesen. »Zyzzkt, ja, so nennen sie sich wohl. Sie...« In diesem Moment erfolgte der Angriff. Plötzlich waren sie da. Drei Flash, die wie dunkle Pfeile heranjagten und das Feuer eröffneten! Aber nicht auf die kleine Gruppe zwischen den Felsen, sondern auf das Dorf! Blaßrote Nadelstrahlen blitzten aus den Mündungen der Bordwaffen, schlugen zwischen den Häusern und in ihnen ein. Geparkte Schweber, Roboter, Häuser - sie explodierten. Dorfbewoh ner, die zu flüchten versuchten, lösten sich einfach in einem schwachen Aufblitzen in Nichts auf, wurden zu Schatten auf dem Boden, unvergänglich eingebrannt. Flammen loderten empor, Rauchwolken stiegen auf, düsterer, fetter schwarzer Qualm. Dazwischen immer wieder das
grelle Aufblitzen, die blaßroten Energiefinger, die ihre Ziele fanden... Inferno! Ein Dorf starb. Es verbrannte im Strahlfeuer der drei Flash. Als Mensch wäre Holger Alsop in diesem Moment entsetzt und fassungslos gewesen. Er sah, wie rücksichtslose Angreifer alles in Brand schössen, alles töteten, was sich bewegte. Männer, Kinder, Frauen, Greise. Aber als Cyborg konnte er diesen Massenmord nur emotionslos zur Kenntnis nehmen. Trauer, Entsetzen und Zorn würden erst kommen, wenn er vom Zweiten System wieder zurückschaltete, um als Mensch denken und handeln zu können und nicht als Cyborg. Immer noch feuerten die drei Flash aus allen Strahlantennen und ließen mit ihrem NadelstrahlDauerbeschuß keinen Stein mehr auf dem anderen. Plötzlich rannte einer der drei kleinen Riesen los. Er lief in Rich tung des brennenden Dorfes. Seine beiden Gefährten riefen ihm hinterher und versuchten, ihn aufzuhalten. Aber er ließ sich nicht bremsen. Er hetzte über Stock und Stein, und dann machte er auch noch den Fehler, mit seinem Biaster auf einen der Flash zu schießen. Die zwei anderen kleinen Riesen schrien gellend auf, weil sie seinen selbstmörderischen Leichtsinn nicht begreifen konnten, und dann schwenkte einer der Flash nur ganz kurz herum und sandte einen Nadelstrahl aus. Der kleine Riese, der sich nicht durch die Zurufe hatte stoppen lassen, verwandelte sich in eine Feuerwolke, die ganz kurz aufstrahlte, um gleich darauf für alle Zeiten zu verlöschen. Alsops Programmgehim warnte. Die Zyzzkt in den drei Flash mußten jetzt doch davon ausgehen, daß sich weitere Planetarier dort aufhielten, von wo der eben Getötete kam! Er packte Gisol und zerrte den Blob in die Deckung einiger Felsen. Seine Cyborgkraft ließ ihn mit der Masse des Mysterious, die normal bei etwa 100 Kilogramm lag, unter der Schwerkraft dieses Planeten aber das Anderthalbfache an Gewicht erreichte, schnell fertig werden. Die beiden anderen Planetarier, die sich bei dieser Kraftanstrengung nichts dachten, weil sie die körperliche Konstitution eines Cyborgs nicht kannten, gingen mit Alsop in Deckung, nur hatte keiner von ihnen daran gedacht, dem Cyborg bei seinem Rettungsversuch vielleicht ein wenig zu helfen. Alsops Programmgehim registrierte das, reagierte aber nicht darauf, weil es unwichtig war. Wichtig war, daß einer der drei Flash jetzt über ihnen kreuzte und versuchte, sie aufzuspüren! Er entdeckte sie nicht. Fünfmal während seiner Überflüge war er nahe daran, und zweimal meldete das Programmgehim eine mathematische Wahrscheinlichkeit bis zu 35 Prozent, daß Gisols getarnter Flash bei dieser Aktion lokalisiert werden könnte, aber jedes Mal hatten sie 30 Glück und die Zyzzkt, die in dem suchenden Flüggerät lauerten, blieben erfolglos.
Dafür waren die beiden anderen feindlichen Flash erfolgreich und brannten das Dorf komplett
nieder. Alles wurde vernichtet, restlos. Nur Feuer und Asche blieben zurück. Nach
Überlebenden sah es nicht aus.
Schließlich kehrte Ruhe ein. Da war nichts mehr, das zerstört werden konnte.
Die Flash drehten ab und verschwanden irgendwo in der Feme. Sie hatten ihren Mordauftrag
erfüllt.
Da wollten die beiden überlebenden kleinen Riesen zurück ins Dorf. Ins restlos
niedergebrannte Dorf. Dorthin, wo nichts und niemand mehr lebte.
Alsop ließ sie gehen.
Warum auch hätte er sie zurückhalten sollen?
Gisol hatte inzwischen das Bewußtsein zurückerlangt. Nur wenige Minuten nach dem
Abmarsch der beiden kleinen Riesen erwachte er aus seiner Paralyse, nahm erneut seine Jim-
Smith-Ge-stalt an und schlüpfte wieder in seine Kleidung. Nicht, daß es ihn selbst als
Gestaltwandler gestört hätte, sich nackt zu bewegen -aber er wußte, daß viele Völker den
Begriff »Zivilisation« über ihre Kleidung definierten und jene, die von Kultur oder Klima her
gern darauf verzichten konnten, rigoros als Barbaren abstempelten.
Wie die Planetarier zu diesem Thema standen, wußten weder er noch Alsop, solange sie die
Bewohner dieses Planeten nicht besser kannten.
Alsop berichtete dem Worgun, was sich während dessen Bewußtlosigkeit abgespielt hatte.
Gisol verzichtete auf einen Kommentar. Alsops Programmgehim nahm das, mit einem
Fragezeichen versehen, im Speicher auf.
Nun kehrten die beiden kleinen Riesen aus dem Dorf zurück. Sie
waren bedrückt und voller Trauer. Genauer gesagt, sie standen fast unter Schock. Was sie von
hier oben aus gesehen hatten, war bei weitem nicht so schlimm wie das, was sie danach im
brennenden Dorf hatten sehen müssen.
»Niemand lebt mehr«, sagte einer der beiden. »Wir sind die letzten hier...«
Verblüfft registrierten sie, daß aus dem amöbenartigen Wesen Gisol ein Humanoider geworden
war. Noch verblüffter waren sie, als Gisol seinen falschen ID-Dämpfer zurückforderte, den
einer der beiden vorhin eingesteckt hatte. Gisol legte das Gerät wieder an.
»Verzeih mir. Hoher«, raunte der Mann. »Ich wußte nicht...«
»Wir waren alle sehr bestürzt und überrascht, haben wir doch niemals damit rechnen können,
daß Hohe unsere Welt besuchen, und das gerade in dieser schweren Zeit...«
»Wer seid ihr?« wollte Gisol wissen.
»Ich bin Schrrotz, und mein Begleiter heißt Kureran«, sagte der Angstliche. Als Gisol ihn
weiter durchdringend ansah, fuhr er fort:
»Wir sind Pscheriden. Das ist der Name unseres Volkes. Pscherid ist der Name unserer Welt.
Wir sind einfache Bauern. Aus dem Krieg wollten wir uns immer heraushalten. Doch nun
haben wir niemanden mehr, wir sind ohne Hoffnung.«
»Einfache Bauern?« fragte Gisol. »Euer Volk verfügt über eine recht hochstehende
Technologie.«
»Das ist richtig«, sagte Kureran. »Aber dennoch gibt es uns einfache Leute. Wir verstehen
nicht viel von Technik, dafür aber jede Menge von Ackerbau und Viehzucht. Die haben wir
hier be2 trieben, bis die Mörder aus dem Weltraum zu uns kamen. Nun haben wir nichts mehr.«
»Doch, wir haben noch etwas«, sagte Schrrotz. »Die Hoffnung.«
»Hoffnung worauf?«
»Jetzt, wo ihr hier seid - werden die Hohen wirklich wieder aktiv? Werden sie uns gegen die
Massenvermehrer helfen?« Erwartungsvoll sah er Gisol und Alsop an.
32 »Wenn ihr wüßtet, ihr armen Teufel«, murmelte der Cyborg auf Angloter.
»Begleitet ihr uns, Hohe?« fragte Schrrotz erwartungsvoll.
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Gisol.
»Verzeih, Hoher«, sagte Schrrotz. »Wir beherrschen die Sprache der Hohen nicht besonders
gut. Sie wird unseren Kindern zwar immer noch an den Schulen als Sprache der Wissenschaft
beigebracht, aber sie gilt als >tote< Sprache.«
Wie Latein aufTerra, dachte Alsop. Latein, das hier in Om in der kosmischen Wolke Gardas
von den Römern auf Terra Nostra immer noch verwendet wurde...
Schrrotz fuhr fort: »Vielleicht habe ich mich daher falsch ausgedrückt. Wir sind Bauern und
keine Diplomaten oder Sprachgelehrte.«
»Wir«, Kureran wies auf sich, Schrrotz und dann in Richtung des niedergebrannten Dorfes,
»wollten uns immer heraushalten aus dem Krieg. Aber nun ist alles zerstört, alle sind tot. Als
wir hierher zurückkehrten, sprachen wir darüber. Wir haben niemanden mehr und wollen uns
deshalb zur Armee melden. Wollt ihr uns begleiten? Jetzt, da ihr Hohen wieder aktiv werdet...«
»Bitte!« fügte Kureran hinzu.
»Habe ich euch richtig verstanden?« fragte Gisol. »Habt ihr soeben von den Hohen gesprochen
und nicht etwa von den Massenmördern?«
Schrrotz lächelt bitter. »Du hast mich schon richtig verstanden, Hoher. Unser Volk glaubt den
Propagandalügen der Zyzzkt schon lange nicht mehr. Die Hohen sind nicht ausgestorben. Es
gibt sie noch. Und jetzt, da wir euch vor uns sehen, wissen wir, daß wir recht haben. Helft uns.
Bitte.«
Alsop und Gisol sahen sich an.
Die Hohen können euch nicht helfen, dachte Gisol. Sie würden es nicht einmal wollen, meine
Artgenossen, die der ständigen Gehirnwäsche der Wimmelwilden, der Zyzzkt, unterliegen und
nicht wagen, sich w wehren. Wir brauchen doch selbst Hilfe! Und
selbst die Terraner können nichts tun, ich -weiß es, so sehr ich auch Ren Dhark dankbar bin,
daß er mich zumindest nach Orn begleitete, um sich selbst ein Bild w machen...
Aber dann nickte er.
»Wir werden euch begleiten«, sagte er. »Aber Hilfe kann ich euch nicht versprechen.«
»Allein eure Anwesenheit wird unsere Hoffnung unendlich groß werden lassen«, sagte
Kureran.
Die beiden Pscheriden führten Gisol und Alsop über die Berge. Während sie sich dem Ziel entgegenbewegten, das nur die Pscheriden kannten, achtete der Cyborg immer wieder auf die Umgebung und vor allem auch auf den Luftraum. Aber es tauchten keine weiteren Zyzzkt auf, weder in Flash noch mit Ringraumem oder in Gestalt von Bodentruppen. Vermutlich war ihnen diese unwegsame Bergregion nicht wichtig genug. Sie hatten ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht, das reichte ihnen scheinbar. Auch andere Pscheriden tauchten nicht auf. Alles blieb ruhig. Vielleicht zu ruhig. Alsop und Gisol blieben mißtrauisch. Aber aus einem Grund, den der Cyborg nicht erfassen konnte, waren da plötzlich ERINNERUNGEN:
Terra, Anfang Juni 2056 In Alamo Gordo stand ein schlanker, über einen Meter achtzig großer junger Mann mit grauem, nach hinten gestrichenem Haar im Transmitterraum. An der Gegentaktsperre flammte es grün auf. Der Transmitter war klar. Holger Alsop blickte an sich herunter. Vor einer Viertelstunde hatte man ihm diesen strahlend weißen Plastikanzug gege 34 ben. Ein Kleidungsstück aus einem Guß, ohne Naht, ohne Taschen, ohne Falten. Der Anzug saß wie eine zweite Haut. Er ließ nur die Hände und den Kopf frei. Über der linken Brust stand die Nummer 742. Noch sagte sie ihm nichts. Dennoch begann sie ihm plötzlich Furcht einzujagen. Ich habe Angst, dachte er erst erstaunt, dann erschüttert. Er hatte gerade den sogenannten Angsttest mit der besten Bewertungsnote bestanden - und jetzt flößte ihm allein schon eine Zahl Angst ein? Er sah nicht wie ein Dreiundzwanzigjähriger aus. Sein schmales, markantes Gesicht hatte nicht viele, aber ausgeprägte Falten aufzuweisen. Über der geraden Nase standen zwei tiefe Furchen, die seine Stirn fast bis zum Haaransatz teilten. Von den Nasenflügeln lief rechts und links eine schattenwerfende Kerbe bis tief unter die Mundwinkel. Sein leicht vorspringendes Kinn erweckte unwillkürlich den Eindruck, in diesem Mann einen verwegenen Draufgänger vor sich zu haben. Aber Holger Alsop war noch nie ein Draufgänger gewesen, sondern vielmehr ein bedächtiger, Risiken genau kalkulierender Mensch. Er trat durch die Antenne des Transmitters und verließ die Gegenstation im Brana-Tal. Holger Alsop stieß die Tür auf. Seine Nervosität belastete ihn nach wie vor. Auf dem Gang blieb er stehen und sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Es war so still wie in einem Grab. Dann zuckte er zusammen. Vier Schritte vor ihm, wo sich gerade noch eine fugenlose Wand befunden hatte, öffnete sich eine Tür. Ein fast zwei Meter großer, überschlanker Mann trat heraus, der mit seinem wallenden Bart und den langen, schlohweißen Haaren fast wie das Klischeebild eines indischen Brahmanen wirkte. Auch seine Kleidung paßte dazu. In einer langsamen, ruhigen Bewegung hob er die Arme, kreuzte sie vor der Brust und verbeugte sich nach alter indischer Sitte stumm vor Holger Alsop, begrüßte ihn mit dieser Geste. Holger Alsop sah das Feuer, das tief in den kristallklaren Augen brannte, und er spürte, welche Kraft von diesem Mann ausging, der wohl schon hundert Jahre alt sein mochte. »Holger Alsop?« klang sein Name durch die Stille, und Alsop wußte, daß er noch nie eine Stimme gehört hatte, die so beruhigend auf ihn wirkte. Im gleichen Moment war seine Nervosität nicht mehr vorhanden. »Der bin ich...« Das Gesicht des anderen blieb unverändert. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er sagte: »Und ich heiße Echri Ezbal.« Dieser Name sagte Alsop nichts. »Wo bin ich? Darf ich es erfahren?« »Natürlich, Alsop. Sie haben den letzten Schritt getan. Sie können jetzt nur noch vorwärts, aber nicht wieder zurück. Sie befinden sich in der Cyborgstation. Sie sind einer der wenigen, die da mit rechnen dürfen, einige hundert Jahre alt zu werden. Ich bin der Leiter dieser Station.« Holger Alsop hielt den Atem an. Er glaubte Blei in den Gliedern zu haben. Hier wollte man ihn zu einem Cyborg machen - ihn, einen Menschen aus Heisch und Blut! Und er hatte sich auch noch freiwillig gemeldet! »Nein!« stieß er fast tonlos aus. »Nein, das ist nicht wahr! Das ist ein Scherz, ein gräßlicher Scherz...« Aber die klaren und dennoch unergründlichen blauen Augen sagten ihm, daß es die nackte Wahrheit war.
GEGENWÄRT P sehend, Ende April 2059
Plötzlich waren sie da - selbst Alsop bemerkte sie fast zu spät'. Es handelte sich um eine Gruppe von uniformierten Pscheriden, die hier einen Wachposten eingerichtet hatten. Ihre Bewaffnung 36 und Ausrüstung entsprach dem Standard, den Alsop anhand seiner bisherigen Beobachtungen vermutete. Möglicherweise hätten die Soldaten sich für die kleine Gruppe nicht einmal interessiert, wenn es sich nur um Pscheriden gehandelt hätte. Aber Alsop und Gisol fielen extrem auf mit ihren schlanken, hochaufragenden Gestalten im Vergleich zu den gedrungenen, kompakten Einheimischen. Allein durch ihr Aussehen waren sie sofort als Fremde zu erkennen. Wieder einmal sahen sie Biaster auf sich gerichtet. Der schmale Pfad, der durch einen engen Gebirgspaß führte, wurde von ihnen komplett gesperrt. Da hätten sogar zwei Soldaten völlig ausgereicht, hier aber waren es gleich fünf. Schrrotz und Kureran redeten hastig auf die Soldaten ein, die schnauzten barsch zurück. Das alles in der Pscheridensprache. Die aufgeregte Unterhaltung ging eine Weile hin und her. Alsop lauschte aufmerksam und versuchte, Wörter und Begriffe zu entschlüsseln. Sein Programmgehim speicherte jeden einzelnen Satz und analysierte dazu Gestik und Mimik. Gisol wirkte eher gelangweilt; ungeachtet der drohenden Blastermündungen mit den aktiv glimmenden Abstrahlpolen ließ er sich auf einem Steinbrok-ken nieder und wartete ab. Alsop vermutete, daß Gisol sich nicht im geringsten für die Sprache der Planetarier interessierte. Ihm reichte es wohl, daß sie die Worgunsprache beherrschten, warum sollte er sich dann die Mühe machen, pscheridisch zu lernen? Typisch für die Arroganz, der Mysterious, dachte Alsop auf einem zweiten Gleis, ohne damit den Analyse- und Lernprozeß seines Programmgehims zu stören. Mochte Gisol auch einer neuen Generation angehören, die in Knechtschaft auf gewachsen war - ihm haftete immer noch das alte Denken seines Volkes an, das Bewußtsein, mächtig und allen anderen weit überlegen zu sein. Mußte sich eine solche Denkweise nicht zwangsläufig entwickeln und von Generation zu Generation starker werden, wenn man ganze Galaxien beherrschte und mit Sternen spielte wie Menschenkinder mit Fußbällen? Warum sollte der Herr die Sprache der Sklaven erlernen, wenn der Sklave doch die Herrensprache erlernen mußte? Eine Ausnahme war das römische Reich gewesen, in dem griechische Sklaven als Lehrer tätig wurden und den Römern ihre Sprache und auch ihre Philosophen und wissenschaftlichen Er kenntnisse nahebrachten. Aber das Imperium Romanum war untergegangen wie alle Staaten und Reiche, die irgendwann zu groß wurden und an dieser Größe zerbrachen. Auch das Reich der Mysterious war zerbro chen, weil es trotz oder wegen seiner Größe die Gefahr, die von den Zyzzkt ausging, zu spät erkannt hatte! Und nun waren die Zyzzkt die Herren und die Mysterious die Sklaven... Sklaven, die unterdrückt wurden und deren Elite von den Zyzzkt auf deren Planeten geschafft wurde, um für diese vermehrungswütige und gewaltsam expandierende Insektenrasse zu arbeiten und zu erfinden. Aber Gisol, der Rebell, Gisol, der Schlächter, wie er von den Insektoiden und sogar von vielen Angehörigen seines eigenen Volkes genannt wurde, hatte sich vom Joch der Zyzzkt befreit. Und er dachte in den Bahnen seiner mächtigen Vorfahren. Alsops Programmgehim hatte noch längst nicht genug Informationen, als die hektische Unterhaltung zwischen Soldaten und Bauern abbrach und einer der Posten in ein Vipho sprach, genauer in ein Gerät, das einem terranischen Vipho extrem ähnlich sah. Wenig später erschien ein Antigravschweber der pscheridischen Streitkräfte. »Einsteigen!« befahl der Unteroffizier, der den Schweber angefordert hatte, und wies mit dem Biaster auf die sich öffnende Luke. »Geht's vielleicht auch ein bißchen höflicher?« fragte Alsop in Worgunsprache. »Und was soll das jetzt werden, wemfs fertig ist?« »Einsteigen!«, wiederholte der Unteroffizier. »Nuschele ich, oder willst du mich nicht verstehen, Soldat? Wir 38 sind nicht eure Feinde, sondern die da oben in ihren Raumschiffen, die eure Städte und Dörfer
vernichten, und diese beiden gehören zu eurer Art und wollen Soldaten werden.« Er wies auf
Schrrotz und Kureran. »Also solltest du zu uns allen ein wenig freundlicher und höflicher sein.
Muß ich meine Frage wiederholen?«
»Ein...«
Gisol erhob sich von seinem Steinbrocken. Er tat es mit extremer, bedrohlicher Langsamkeit.
Dabei veränderte er seine Gestalt und achtete nicht darauf, daß seine Kleidung diesen Verände
rungsprozeß nicht mitmachte, sondern aufs Stärkste beansprucht wurde, als er sein Aussehen
einem Pscheriden annäherte. Der Soldat bekam große Augen.
»Ein Hoher...?« keuchte er auf. »Dir seid wirklich Hohe?«
»Wie kommst du denn darauf, mein Junge?« fragte Gisol spöttisch.
»Nur Hohe sind in der Lage, ihr Aussehen nach Belieben zu verändern.«
»Dann sollte dir klar sein, aus welchem Grund du das Zauberwort >bitte< verwenden solltest,
und daß du und deine Leute uns ständig mit ihren Blastem bedrohen, ist auch nicht gerade ein
Zeichen von Freundschaft.«
»Ich sagte doch wiederholt, daß es sich um Hohe handelt«, quengelte Schrrotz. »Sie sind
zurückgekehrt aus dem Nichts, um zu helfen und die Macht der Zyzzkt zu brechen! Jetzt
endlich glaubst du es?«
Der Unteroffizier steckte seine Waffe ein.
»Bitte einsteigen«, preßte er hervor. »Ihr werden zu meinen Vorgesetzten geleitet, wenn euch
das recht ist. Hohe!«
»Es ist recht«, gewährte Gisol huldvoll.
Allein für seinen Tonfall hätte Alsop ihm gern einen Tritt in den Hintern verpaßt. Aber das
wäre in dieser Situaüon sicher nicht hilfreich gewesen.
Nacheinander bestiegen sie den Schweber, in dem sich ebenfalls eine Handvoll pscheridischer
Soldaten befand. Die Luke wurde
geschlossen, die Maschine hob ab und strebte im Bodenfolgeflug ihrem Ziel entgegen.
ERINNERUNGEN: Terra, Anfang Juni 2056 Cybemetic organism... Cyborg... Der Cyborg, der halbmechanisierte Supermensch, sollte im Brana-Tal Wirklichkeit werden. Holger Alsop saß Echri Ezbal in dessen äußerst schlicht eingerichteten Privaträumen gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand ein Tonkrug. Echri Ezbal bot Holger Alsop Wasser als Getränk an. »Wunderbares, klares Quellwasser, Holger«, sagte der Alte, und seine blauen Augen forderten den jungen Mann auf, zu trinken. Aus einer handgefertigten Ton schale, die nach den Worten des Alten fast zweihundert Jahre alt sein sollte, nicht aus einem Plastikbecher. Echri Ezbal hatte ihm die große Cyborgstation gezeigt. Er hatte ihm von allen Geheimnissen des Brana-Tals erzählt. Er hatte mit ihm aber auch eine Nische betreten, die im schwachen Rotlicht lag, und stumm auf eine von innen beleuchtete Tafel gewiesen, auf der Namen standen. Und hinter jedem Namen eine Zahl. Eine Zahl, die angab, im welchem Alter der Träger des Namens gestorben war. 22 Jahre, 23, 27, 21 - kein einziger Dreißigjähriger. »Sie alle wußten, daß ihre Chancen nicht groß waren, Holger«, hatte Ezbal gesagt, »und jeder liebte das Leben. Dennoch kamen sie alle freiwillig, und jeder blieb freiwillig.« Ich nicht, hatte Holger Alsop gedacht. Ich werde einen Weg zur Flucht finden! Und nun saß er Echri Ezbal gegenüber und trank aus einer Tonschale Wasser. Plötzlich senkte er die Schale. Trank er gar kein reines Quellwasser, sondern eine Mixtur, in der sich ein würzig schmeckendes Sedativum befand? War dieses Mittel für seine plötzliche innere Ruhe verantwortlich? Das Gesicht des hageren Alten zeigte den Anflug eines Lächelns. Er erhob sich, ging zum Tonkrug, nahm die zweite Schale und füllte sie mit Wasser, um dann wie Alsop zu trinken. Danach klang seine Stimme wieder auf. »Holger, Sie haben den Mann mit der künstlichen Lunge gesehen. Einen anderen mit einem doppelten Kreislauf. Wieder einen anderen mit einem zweiten elektronischen Gehirn. Ich weiß, daß ich Ihnen mit dieser Besichtigung fast zuviel zugemutet habe, doch wäre es nicht noch schrecklicher gewesen, Sie auf Raten mit der Wirklichkeit vertraut zu machen?« In Holger Alsop meldete sich wieder Protest. »Man hat mich und alle anderen Freiwilligen hereingelegt. Bei jeder Meldung zu einem Himmelfahrtskommando wären meine
Überlebenschancen hundertmal größer gewesen!« Echri Ezbal schüttelte leicht den Kopf. »Holger, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie zu den glücklichen Menschen zählen würden, die ein paar hundert Jahre alt werden können? Ich habe nicht gescherzt. Sie haben keine Frage?« »Ich denke an die Toten, Ezbal!« »Jeden Tag besuche ich die Nische, und ein Gebet, Ohm mani padme hum, kommt über meine Lippen. Sie starben, wie jeder Mensch einmal sterben muß. Die hier gestorben sind, wären zur selben Zeit auch an jedem anderen Ort der Erde gestorben. Sie verließen dieses Leben nicht durch unseren Eingriff, sondern weil sie nicht lebensfähig waren.« »Das glaube ich Ihnen nicht, Ezbal.« »Dir gutes Recht, Holger. Kommen Sie...« Wieder führte er ihn durch lange Gänge, wieder umgab sie überall Ruhe. Nur ihre eigenen Schritte waren zu hören. Und dann standen sie im Freien. Vor ihren Füßen zog sich ein langes, schmales Band aus Plastikbeton entlang. Eine Gruppe junger Männer trieb Leichtathletik. »Holger, sehen Sie den großen blonden Mann? Er trägt eine lichtundurchlässige Binde vor den Augen und bewegt sich dennoch wie ein Sehender. Er sieht auch. Er sieht über sein zweites Augenpaar. Er sieht im Dunkehl. Nur wenn sie ihn mit Blei umpanzern, kann er nichts mehr sehen. Vorgestern wurde ihm das zweite Augenpaar eingesetzt. Möchten Sie mit ihm sprechen?« »Ist dieser Mann ein Cyborg?« »Nein, den Cyborg gibt es noch nicht. Diese Männer werden nie Cyborgs werden. Sie eignen sich nicht dazu. In zehn Jahren werden wir vielleicht soweit sein, auch sie dazu machen zu können. Heute bringen sie noch nicht die innere Einstellung zu dieser Umformung mit.« Alsop lachte auf. »Ich vielleicht, Ezbal? Ich mit dieser ohnmächtigen Wut in meinem Innern?« »Und doch stehen Sie ganz gelassen neben mir. Sie glauben in mir immer noch einen wahnwitzigen Forscher zu sehen, der aufgrund seines fanatischen Ehrgeizes gesunde Menschen auf dem OP-Tisch hat sterben lassen! Ich kann Ihre Gedanken erraten, Holger. Ich freue mich, daR Sie innerlich vor Wut toben und äußerlich so ruhig wirken. Menschen wie Sie benötigen wir im Brana-Tal, um den Cyborg entstehen zu lassen. Den Cyborg mit einer Lebenserwartung von vierhundert bis fünfhundert Jahren. Und wenn das Schicksal es besonders gut mit Ihnen meint. Holger, dann werden Sie auch zu denjenigen gehören, die in den Phant gehen können.« »Was heißt das, in den Phant gehen?« fragte Alsop und betrachtete den Alten wieder, der in die Feme blickte und mit offenen Augen zu träumen schien. »Das erfahren Sie später. Holger. Das erfahren Sie, wenn Sie ein Cyborg sind. Dann wird man Ihnen erklären, was phanten ist.« »Dann werde ich es nie erfahren!« »Doch! Aber Sie wollen den Mann mit der Binde vor den Augen gar nicht sprechen! Kommen Sie, ich habe Ihnen etwas anderes zu zeigen... einen Verunglückten, den man per Transmitter gebracht hat. Vor vier Tagen. Er hatte beide Arme und das linke Bein bis 42 zum Knie verloren. Sehen Sie sich diesen Menschen an.« Und dann stand Holger Alsop neben dem Bett des Verunglückten. Er hatte sich darauf vorbereitet, einen Menschen zu sehen, der entweder in tiefer Bewußtlosigkeit dahindämmerte oder durch Medikamente schmerzfrei gemacht worden war. Statt dessen sah er einen dreißigjährigen Mann, der ihn fragend und auch etwas neugierig anblickte. Bis zum Kopf mit einem Plastiktuch zugedeckt, wirkte er wie jemand, der lange und gut geschlafen hatte und nun bereit war aufzustehen. Holger Alsop wußte, daß man jedem Menschen das Sterben leicht machen konnte. Millionen, die von der Lebensbühne abtreten mußten, hatten eine jener winzigen Kapseln geschluckt, um mit einem Gefühl der Erleichterung den Schritt ohne Wiederkehr zu tun. Aber dieser Mann sah gesund aus; er befand sich in keiner euphorischen Stimmung. Echri Ezbal trat neben Alsop, zog das Plastiktuch etwas zurück und legte den Oberkörper des Verunglückten frei. »Sehen Sie sich alles genau an. Holger«, forderte ihn der Alte auf. Er deutete nach rechts und links, wo jeweils eine durchsichtige, hohle Plastikprothese an den Schultergelenken angeschlossen war. Jede hatte die Form eines menschlichen Armes. Die Hand war vollkommen nachgebildet. Aber das alles sah Alsop kaum. Er hielt den Atem an. Das, was er einmal als Gerücht vernommen hatte, schien hier eine Tatsache zu sein. Dem Verunglückten wuchsen die Arme nach! »Und wie sieht es mit dem linken Bein aus, Shangane?« fragte Ezbal den Verunglückten und legte nun auch dieses Glied frei. Das gleiche Bild. Auch an der Außenseite dieser durchsichtigen Hohlprothese befand sich ein langgestrecktes, verkapseltes Gerät, von dem
Verbindungen in den Hohlraum der Prothese führten. »Holger«, sagte Ezbal, als er den Mann wieder zudeckte, »wir haben dabei nicht allzuviel zu tun. Den größten Teil der Arbeit, die Bildung neuer Glieder, hat der Körper dieses Mannes selbst übernommen. Wir haben nichts anderes getan, als den Bauplan der or ganisierten Zellen zu erstellen, um den komplexen Vorgang sich Molekül um Molekül nachbauender Zellen zu steuern. Sie sehen mich immer noch zweifelnd an. Nein, Holger, wir sind keine Zauberkünstler. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt. Der menschliche Körper ist potentiell eine unzerstörbare, sich fortwährend selbst regenerierende Einheit. Bei Untersuchungen entdeckte man, daß der Mensch die Fähigkeit, amputierte Glieder nachwachsen zu lassen, mit der Geburt nicht verloren hat. Diese Anlage schlummert in jedem Menschen.« Sie verließen das Krankenzimmer. Wieder saßen sie sich in dem einfach eingerichteten Privatraum gegenüber. Frisches Quellwasser befand sich in den Tonschalen vor ihnen. »Der Cyborg wird kein Ungeheuer sein, Holger. Er wird auch nicht ewig leben können. Aber seine Lebenserwartung wird bedeutend größer sein, weil sein Cybernetic organism ein ständiger genetischer Eingriff ist, der die Alterungsprozesse seines Körpers beherrscht und zum Positiven hin steuert. Holger, Sie haben noch einige Tage Zeit, sich mit unserer Arbeit in der Cyborg-station vertraut zu machen. Vielleicht schenken diese Tage Ihnen das Vertrauen in unsere Arbeit, das sie benötigen werden, um Ihre Freiwilligenmeldung vor einem Gremium noch einmal zu wiederholen.« Die werdet ihr nie von mir hören, dachte Holger Alsop. GEGENWART P sehend, Ende April 2059
Der A-Gravschweber brachte Alsop und die anderen in den Gefechtsstand der in diesem Gebiet operierenden Truppen der psche-ridischen Heimwehr. Dieser lag an einem Berghang oberhalb einer Ebene. Der Flug hierher hatte nur wenige Minuten gedauert; zu 44 Fuß hätten sie Stunden benötigt. Die Umgebung war unwirtlich und schwer begehbar. Alsop fragte sich ernsthaft, weshalb diese Ödnis umkämpftes Gebiet sein sollte - aber militärische Logik hatte schon immer eigenen Gesetzen gehorcht. Derweil fragte sich Gisol, woher die Pscheriden wußten, daß die Hohen - die Worgun - ihre Gestalt wandeln konnten. Auch Alsop war darüber etwas verblüfft, daß allein aus Gisols Verwandlung sogar die beiden Bauern geschlossen hatten, es mit Worgun zu tun zu haben. Denn an der Sprache allein lag es sicher nicht. Die schien auf Pscherid als Zweitsprache durchaus geläufig zu sein. »Soweit ich weiß, haben wir uns fremden Völkern immer nur in einer bestimmten Form gezeigt«, grübelte Gisol. »Zum Beispiel den Bewohnern Nais als Humanoide, dem Aussehen der Salter entsprechend...« »Und ihr habt bei eurem Verschwinden aus Nai nichts zurückgelassen, nicht das kleinste Detail, aus dem man Rückschlüsse auf euer wirkliches Aussehen hätte ziehen können«, ergänzte Alsop. »Außer vielleicht die Raumanzüge und die Ergonomie der technischen Gerätschaften, die auf Humanoide hindeuteten.« »Deshalb verstehe ich es nicht«, grübelte der Mysterious. Aber weit kam er mit seinen Gedanken nicht mehr, weil das Ziel unmittelbar vor ihnen auftauchte. »Aussteigen«, schnarrte einer der Soldaten, als der Schweber landete. »Müssen wir hier denn jedem einzelnen die elementarsten Grundlagen der Höflichkeit beibringen?« knurrte Gisol verdrossen. »Wir sind nicht eure Feinde, wir sind nicht eure Gefangenen, wir sind nicht eure Untergebenen. Also behandelt uns mit dem gleichen Respekt, mit dem wir euch behandeln.« Als Mensch hätte sich Alsop in diesem Moment ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen können, als Cyborg nahm er die Worte des Mysterious so hin, wie dieser sie sagte. »Steigen Sie bitte aus.« »Schon besser«, stellte Gisol fest und verließ als letzter den Schweber. Man ließ ihnen nicht viel Zeit, sich umzusehen. Die vier Ankömmlinge sollten zum kommandierenden General gebracht werden, der hier die Heimatverteidigung gegen die Invasoren aus dem Weltraum leitete. Nur hatte der für sie momentan keine Zeit. »Sie müssen hier warten«, wurde ihnen bedeutet und der Zutritt in die Abwehrzentrale verwehrt, die aus einem in den Fels eingelassenen Bunker bestand. »Bleiben Sie möglichst in
Deckung und halten Sie die Köpfe unten«, kam ein abschließender Ratschlag.
Der hatte durchaus etwas für sich. Blaßrote Nadelstrahlen flammten durch die Luft, fauchende
Energiefinger, die Luftmoleküle einfach in Energie umsetzten, ehe sie ihr Ziel erreichten.
Genauer gesagt, sie erreichten ihre Ziele nicht ganz.
Sie trafen auf Energieschirme, an denen sie regelrecht zersprühten.
Überall flammte es auf.
Alsop versuchte sich ein Bild zu machen. Dazu durfte er den Kopf allerdings nicht unten
halten, weil er auch mit seinem Zweiten System nicht durch feste Barrieren sehen konnte. Aber
der Gefechtsstand der Pscheriden war ebenso durch einen Energieschirm geschützt wie die
anderen Ziele, die unter Nadelstrahlbeschuß lagen.
Woher kam dieser Strahlangriff?
Nicht aus der Luft!
Diesmal waren es keine Flash, die von Zyzzkt geflogen wurden. Diesmal handelte es sich um
Bodentruppen.
Unitallpanzer rollten an.
Alsop sah sie.
Vergleichbar mit den Panzern auf W-4, verriet ihm sein Pro-grammgehim über die
Rückschaltphase und lieferte gleich Daten mit; Bilder, die die Mysteriouspanzer zeigten, die
auf dem Planeten W-4 im Ika-3S-System gegen einen imaginären Feind aufmarschiert waren,
ehe eine Planetenbombe diese Welt zerstört hatte.
46 Holger Alsop war damals nicht an Bord der POINT OF gewesen, aber die Aufzeichnungen waren seinem Programmgehim später überspielt worden und zählten seither zu den abrufbaren Informationen seiner Datenbank. Die Unitallpanzer, die hier anrollten, glichen denen, die es auf W-4 gegeben hatte! Nur handelte sich um zwei verschiedene Gala-xien, und in diesen Panzern auf Pscherid befanden sich garantiert keine M-Roboter, sondern Zyzzkt! Sie kamen über die Ebene, und sie feuerten pausenlos auf die Stützpunkte und Schanzen der Pscheriden. Immer wieder flammten die blaßroten Nadelstrahlen über das Gelände und schlugen über viele Kilometer hinweg in die Energieschirme, welche die pscheridischen Stellungen schützten. Diese Schirme waren offenbar ähnlich aufgebaut wie der terranische Kompaktfeldschirm. Sie hielten dem Beschuß stand. Noch... Aber das konnte auf Dauer nicht funktionieren. Die feindlichen Panzer waren in ständiger Bewegung und versuchten immer wieder, in noch bessere Schußpositionen zu gelangen. Es sah so aus, als hätten sie die Schutzschirme der Pscheriden zuerst unterschätzt und bemühten sich jetzt, einen Weg zu finden, um sie zu durchbrechen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihnen gelang. Alsop hörte Befehle. Der pscheridische General ließ die Zeit, welche die Zyzzkt dafür brauchten, nicht ungenutzt verstreichen. Er startete seine eigene Vemichtungsmaschinerie. Noch während die Unitallpanzer versuchten, sich in die günstigsten Schußpositionen zu manövrieren, gab der General den Befehl zum Gegenschlag. Werfer schössen unscheinbar aussehende Granaten auf die Panzer ab. Die Werfer arbeiteten nicht mit chemischen Treibsätzen, sondern mit Energiefeldem. Eine Granate nach der anderen wurde abgefeuert, zwischen den feindlichen Nadelstrahlen hindurch. Alsop sah zu Gisol hinüber. Der Worgun wirkte angespannt und in seiner Gestalt regelrecht verzerrt. Welchen Zorn mußte er ver spüren angesichts der Waffen, die die Zyzzkt gegen die Pscheriden einsetzten - Waffen, die sein Volk einst entwickelt hatte! Waffen, die hier von seinem größten Feind mißbraucht wurden! Alsops Augen waren über sein Zweites System auf Tele geschaltet. Er sah die Bomben, als befänden sie sich unmittelbar in seiner Nähe, und er sah, wie sie zwischen die Panzer fielen, ohne auch nur einen von ihnen zu treffen. Wurden sie von unsichtbaren Kraftfeldern abgewehrt und abgelenkt? Daß es so eklatante Fehlschüsse gab, konnte Alsop sich weder als Mensch noch als Cyborg vorstellen, wenn er das technische Niveau der Pscheriden in Betracht zog. Aber keiner der Unitallpanzer wurde getroffen! Die Bomben fielen zwischen ihnen einfach auf den Boden. Es gab keine Explosionen, es gab nichts. Doch - sie lösten sich auf! Sie schwanden dahin!
Es gab keinen Knall, kein Feuer.
Keine Wirkung!
Oder...?
Doch - es mußte eine Wirkung geben, weil die Panzer plötzlich stehenblieben!
Sie rollten auf ihren Gleisketten nicht mehr weiter, ihre Geschütze jagten keine Nadelstrahlen
mehr in Richtung pscheridischer Kampfstellungen!
Der Panzerangriff kam zum Stehen.
Aber damit begann das Chaos erst...
Aus bisher getarnten Schützengräben und Löchern, die selbst Alsop nicht erkannt hatte,
stürmten jetzt pscheridische Soldaten hervor. Bei den Panzern regte sich nichts. Es gab kein
Abwehrfeuer. Die Soldaten rannten wie blind auf die Kampffahrzeuge zu.
48 Sie turnten an ihnen empor. Einige von ihnen hantierten an den Einstiegs- und Sichtluken.
Sind die lebensmüde? fragte sich Alsop, aber auch sein Zweites System konnte ihm darauf
keine Antwort geben, weil das Handeln dieser Soldaten einfach nicht zu berechnen war. Da
flogen Luken auf, Pscheriden beugten sich vor und feuerten aus allen Handstrahlwaffen
blindlings ins Innere mehrerer Panzer!
Sie forderten die Insassen nicht zur Kapitulation auf - sie schössen sofort!
Sie ließen ihren Feinden keine Chance!
Auch hier gab es keine Gegenwehr. So, wie die Panzer nicht auf die heranstürmenden Soldaten
geschossen hatten, schössen auch jetzt die Insassen nicht durch die aufgerissenen Luken nach
draußen zurück.
Befanden sich Roboter im Inneren, deren Programm diese Art der Verteidigung nicht vorsah?
Oder waren die Kampfwagen leer und wurden femgesteuert?
Welchen Grund hatten dann aber die Pscheriden, in die Panzer hineinzuschießen? Offenbar
war deren Technik blockiert, sie hätten die Kampffahrzeuge also problemlos unter ihre eigene
Kontrolle nehmen können.
Alsop sah, wie andere Soldaten einfach Thermoladungen an die Panzer setzten.
Haftsprengsätze, die sofort zündeten. Die Pscheriden sprangen von den Panzern ab und rannten
davon. Es wirkte grotesk, welche Laufgeschwindigkeit diese kleinen Riesen auf ihren kurzen
Beinen entwickeln konnten.
Während sie Deckung hinter anderen Kampfwagen oder in der Landschaft suchten, brannten
die Thermoladungen unter ultraheller Peuerentwicklung mit fast 150 000 Grad Celsius Löcher
durch die Panzerung, um dann im Inneren Zerstörungen anzurichten. In schneller Folge
explodierten die Panzer.
Der Schmelzpunkt von Unitall liegt bei 143 750 Grad Celsius, teilte Alsops Programmgehim
ihm so nüchtern mit, wie es vorher anhand der Helligkeitsentwicklung des Feuerwerks die
Temperatur
der Haftladungen ermittelt hatte.
Die Pscheriden wußten verdammt genau, wie sie Unitall knakken konnten!
Und die Angreifer wußten verdammt genau, daß sie verloren hatten.
An einigen Panzern, um die die Pscheriden sich bisher noch nicht gekümmert hatten, flogen die
Luken auf, und zum ersten Mal sah Holger Alsop Zyzzkt vor sich - Zyzzkt, die er nur aus Be
schreibungen Gisols und der Römer von Terra Nostra kannte. Er sah diese Insektenwesen, wie
sie aus den Panzern herauskletterten und ihre Arme weit ausstreckten, um zu zeigen, daß sie
waffenlos waren und nicht mehr kämpfen wollten.
Zyzzkt, die sich ihren Bezwingern ergaben!
Aber diese Bezwinger eröffneten sofort das Feuer.
Blasterstrahlen fauchten den Zyzzkt entgegen und mähten sie nieder.
»Nein!« wollte Alsop schreien, der Faktor Mensch im Cyborg, aber im Bereich des Zweiten
Systems wurde dieser menschliche Faktor abgedämpft, und das Programmgehim erklärte ihm
lapidar, daß er gegen diesen Massenmord an Wehrlosen so oder so nichts unternehmen konnte.
Erstens ging alles viel zu schnell, zweitens hätte er sofort die Pscheriden im Wehrbunker als
Feinde gegen sich gehabt.
Pscheriden mordeten Zyzzkt!
Sie machten keine Gefangenen!
Gnadenlos metzelten sie ihre Gegner nieder, obgleich diese deutlich zu verstehen gaben, daß
sie kapitulierten!
Innerhalb weniger Minuten war alles vorbei.
Ruhe kehrte ein. Das Schlachtfeld war befriedet.
Ein Schlachtfeld im wahrsten Sinne des Wortes - mit radikal abgeschlachteten Gegnern... und
in diesem Moment war Alsop froh, daß sein Zweites System die Kontrolle über seinen Körper
hatte.
Er hätte kotzen mögen.
50
3. »Frontier Junction?« wiederholte Dar Soba und erhob sich von seinem Stuhl im Verhörzimmer. »Nie gehört. Wo liegt dieser Ort?« »Auf Xing IV«, lautete die knappe Antwort des Leiters der Galaktischen Sicherheitsorganisation. »Xing?« Der Tel blieb vor der noch geschlossenen Zimmertür stehen. »Moment mal, soweit ich informiert bin, liegt das Xing-System im Sternhaufen Craxath, etwa 1500 Lichtjahre von diesem Sonnensystem entfernt. Ich habe angenommen, mein Versteck würde sich auf Terra befinden.« »Zu unsicher«, erklärte Eylers ihm. »Planet Xing IV wurde von der Junction Mining Corporation in Besitz genommen. Beinahe jeder Einwohner von Frontier Junction, der bislang einzigen Stadt auf diesem abgeschiedenen Kolonialplaneten, arbeitet für die Minengesellschaft. Niemand wird auf den Gedanken kommen, daß Sie sich ausgerechnet dort aufhalten, weder Ihre Regierung noch die Rebellen.« »Klingt vernünftig«, meinte Dar Soba. »Als vorübergehender Aufenthaltsort mag Xing akzeptabel sein, aber auf Dauer möchte ich dort nicht leben müssen.« »Brauchen Sie auch nicht. Sobald über Ihren Asylantrag entschieden wurde, reden wir über Ihre neue Identität und Ihren künftigen Wohnort. Es sei denn, die ganze Angelegenheit hat sich bis dahin von selbst erledigt.« »Wie... wie meinen Sie das?« fragte der Tel verunsichert. »In letzter Zeit werde ich das Gefühl nicht los, es gibt eine undichte Stelle in meiner Organisation«, raunte Eylers ihm zu. »Ein Verräter?« »Einer - oder sogar mehrere. Dieselben kriminellen Elemente, die für das spurlose Verschwinden Ihres Diplomatenpasses verantwortlich sind. Dar Soba, könnten sowohl der TelRegierung als auch der Rebellenorganisation einen anonymen Tip geben, Ihren geheimen Aufenthaltsort betreffend. Wer von beiden wird wohl schneller auf Xing eintreffen?« Dar Soba kehrte zurück zu seinem Stuhl und setzte sich hin. »Verstehe«, sagte er. »Offenbar habe ich Sie unterschätzt, Ey-lers. Um Ihre Ziele zu erreichen, gehen Sie über Leichen.« »Manchmal schon«, räumte der GSO-Chef ein. »Kommt ganz auf die Leiche an. Werden Sie jetzt reden?« Der Tel nickte ~ eine Geste, die er sich während seiner Tätigkeit auf der Erde abgeguckt hatte. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte er. »Die versprengten Rebellentrüppchen, welche Terra offensichtlich noch immer als Hauptgegner des Telin-Imperiums sehen, benötigen Geld, um sich auf Cromar neuzustrukturieren«, half Eylers ihm auf die Sprünge. Soba berichtete, daß die Erfindung des Sensoriums einem auf Cromar lebenden Wissenschaftler namens Fok Leto zuzuschreiben war. Der Vank und die Behörden ahnten nicht, daß Leto in Verbindung zu den Rebellen stand. Nachdem er seinerzeit die Senso riumstechnik zum Patent angemeldet hatte, hatten die Tel-Rebellen auf Terra über einen Strohmann Sensorium Incorporated gegründet. Die Gewinne dieses Unternehmens flössen seither größtenteils in die Kassen der Rebellenorganisation. Anfangs hatte es sich um völlig legale Geschäftsgewinne gehandelt - bis es Fok Leto gelungen war, Vollchips zu erschaffen, die alle Sinne ansprachen und zudem süchtig machten. Damit konnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen wurde nun noch mehr Gewinn eingefahren, zum anderen ließen sich die Süchtigen nach Belieben wie Marionetten dirigieren. Auf lange Sicht war geplant, über die Vollchips Druck auf angesehene Persönlichkeiten in der terranischen Politik und Wirtschaft auszuüben und letztlich das gesamte System zum Einsturz zu bringen. Bernd Eylers sprach den aussagewilligen Tel direkt auf die Fortschrittspartei an. (Stranger hatte ihn über seine Notizen zum »Chip
52 Nummer eins« unterrichtet.) Dar Soba versicherte glaubwürdig, nichts von einer Verbindung zwischen der Fortschrittspartei und den Tel-Rebellen zu wissen. Im weiteren Verlauf des Verhörs beteuerte er immer wieder seine Unwissenheit zu diesem Thema. Auch sonst war augenblicklich nicht mehr viel aus ihm herauszuholen. Soba war lediglich ein kleines, unscheinbares Rädchen im Rebellengetriebe, das sich über einen längeren Zeitraum hinweg nur sehr langsam gedreht hatte. Erst seit der Verbreitung des Sensoriums auf Terra bewegte es sich schneller - und nun war es von der GSO ausgebremst worden. Nach hartnäckigem Nachfragen nannte Soba noch eine Adresse in Beverly Hills, angeblich das einzige Aufnahmestudio auf Terra, das Programme für die Intensivchips produzierte. Gegen Morgen beendete Eylers die Vernehmung fürs erste und ließ den Tel für weitere Verhöre in die GSO-Zentrale nach Alamo Gordo bringen. Was Dar Soba nicht ahnte: Mit Billigung des GSO-Leiters hatte Wachroboter Clint die gesamte Vernehmung aufgezeichnet und somit Terra-Press brisantes Exklusivmaterial verschafft.
In der äthiopischen GSO-Automatenkantine trafen sich Stranger und Eylers zu einer Abschlußbesprechung. Der Reporter hatte das Gespräch mit dem Tel übers Armbandvipho verfolgt, da Clint ihm Bild und Ton live übertragen hatte. Selbstverständlich hielt sich auch der Roboter in der ansonsten leeren Kantine auf. »Ich habe bereits über Funk eine GSO-Truppe nach Beverly Hills geschickt, um das Studio auszuheben«, teilte Eylers seinem Gesprächspartner mit. »Wir werden alles daransetzen, den Verbrechern das Handwerk zu legen. Die Produktion der Intensivchips muß auf der Stelle unterbunden werden.« Stranger ging sogar noch einen Schritt weiter. »Man müßte die Sensoriumstechnik komplett verbieten.« Eylers pflichtete ihm darin bei. Beiden Männern war jedoch klar, daß sich ein solches Verbot nur schwer würde durchsetzen lassen. »Eins ist mir noch immer nicht klar«, sagte Bernd Eylers nachdenklich. »Welche Verbindung besteht zwischen der Intensivchipproduktion und der Fortschrittspartei? Wird die Partei wirklich von den Tel-Rebellen unterstützt oder beeinflußt? Oder existiert noch eine zweite kriminelle Gruppierung, die sich das Sensorium für ihre Zwecke nutzbar macht?« Bert Stranger konnte nur mit einem Schulterzucken dienen. Er schlug vor, die Unterredung zu beenden und eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Eylers stimmte zu, auch er war hundemüde. »Nur eine Bitte habe ich noch. Stranger. Das mit dem verschwundenen Diplomatenpaß wird nicht über Ihren Sender ausgestrahlt, klar?« »Klar«, bestätigte der Journalist. »Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse. Wir beide müssen schließlich zusammenhalten, wie es sich für ein gutes Team gehört.« Eylers verspürte einen leichten Stich. Die kumpelhafte Art des Reporters bereitete ihm Unbehagen. Stranger und er ein Team? Nein, danke! Sobald die zeitweise Zusammenarbeit mit ihm beendet war, würde er wieder mehr auf Distanz zu ihm gehen.
Bei ihrem rücksichtslosen Angriff auf die Erde im Jahr 2051 hatten die Giants vor nichts und niemandem haltgemacht. Zahlreiche wertvolle Kulturdenkmäler, darunter viele uralte Kirchen, waren damals ihrer Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Ortschaften, die auf keine jahrhundertealte Kultur zurückblicken konnten, hatten hingegen »nur« ihre Verkehrsnetze, Geschäftsgebäude und Wohnhäuser eingebüßt - Ersetzbares, das inzwischen größtenteils wie der neu errichtet worden war. 54 Auch den idyllischen Straßen, malerischen Villen und prächtigen Gärten in Beverly Hills merkte man heute nicht mehr an, wie sehr diese Region einst unter den Angriffen gelitten hatte. Das Geld, das hier wohnte, hatte einen schnellen Wiederaufbau möglich gemacht. Mittlerweile erstrahlte der Ort in seiner alten Pracht, als hätte es die schlimmen Zeiten nie gegeben. Die Mär, man könne ausschließlich durch ehrliche Arbeit steinreich werden, erzählte längst kein Großvater seinem Enkel mehr. Nicht wenige Bewohner von Beverly Hills waren von Geburt an vermögend. Andere wiederum hatten überraschend geerbt beziehungsweise in der Lotterie gewonnen. Manch einer hatte sich rücksichtslos nach oben geboxt und sich einen
Dreck um die zerstörten Existenzen geschert, die seinen Karriereweg pflasterten. Und auch diejenigen, die sich ihr Geld auf kriminelle Weise verdienten, fehlten in jener vornehmen Gegend nicht. Zweifelsohne lag in einigen Villen die sprichwörtliche »Leiche im Keller« obwohl die meisten Häuser dort überhaupt nicht unterkellert waren. Nicht alle Bewohner pflegten private Kontakte zu ihren Nachbarn. Den gebürtigen Pariser Guy de Gobert, der vor wenigen Monaten eine der ansehnlichsten Villen am Ortsrand erworben hatte -Plowerstreet Nummer 17 - hatte bislang noch niemand zu Gesicht bekommen. Hinter seinem Haus befand sich eine hohe Mauer, und vor dem Villengebäude erstreckte sich ein großer, von dichten Hecken sichtgeschützter Garten, in dem vier deutsche Doggen frei herumliefen, so groß wie Ponys, aber nicht so friedfertig. Besucher aus der Nachbarschaft wurden per Lautsprecheranlage gleich vorn am Gittertor abgewimmelt. Das bedeutete jedoch nicht, daß sich der Millionär grundsätzlich von der Außenwelt abschirmte. Das Gegenteil war der Fall. Auf seinem Grundstück herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, insbesondere am späten Abend. Über Nacht parkten vor dem Haus mit der Nummer Siebzehn wechselnde Schweber der unterschiedlichsten Preisklassen. Fahr zeuge, denen mitunter skurrile Gestalten entstiegen, die so gar nicht in dieses vornehme Viertel passen wollten. Zudem schien de Gobert, der internen Informationen zufolge bereits auf die Hundert zuging, ein Faible für junge leichte Mädchen zu haben. Offensichtlich gab der nachbarscheue Villenbesitzer eine Party nach der anderen, wobei er bei der Auswahl seiner Gäste nicht wählerisch war — solange sie nicht in seiner Nähe wohnten. Hätte er sein ausschweifendes Leben in einem normalen Mietshaus geführt, hätten die Mitbewohner sicherlich nicht von Partys, sondern von »Orgien« gesprochen, und »Lustgreis« wäre noch die netteste Bezeichnung gewesen, die man ihm im Hausflur an den Kopf geworfen hätte. In Beverly Hills sah man jedoch großzügig darüber hinweg, schließlich hatte jeder ein Anrecht darauf, sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hielt - solange er genügend Geld hatte, sich das auch leisten zu können. Schlimmstenfalls ärgerte man sich darüber, noch nie eingeladen worden zu sein. Die Männer der GSO, die gegen 22 Uhr Ortszeit durch den schwach beleuchteten Villengarten aufs Haus zuliefen, verfügten ganz sicher über kein Einladungsschreiben. In ihren grauen Trai ningsanzügen waren sie nur schwer auszumachen, ansonsten dienten ihnen Büsche und Bäume als Deckung. Natürlich wurden die Hunde auf sie aufmerksam, doch eine leichte Paralyse genügte, um die Tiere auszuschalten. Bewußtlos lagen die vier Doggen im Gras, als ob sie friedlich schlafen würden. Die Agenten waren lediglich mit leichter Bewaffnung ausgerüstet - sie wollten nur eine Villa erstürmen und keinen Krieg anfangen. Geredet wurde kein Wort, zur Verständigung genügten Handzeichen. Nachdem sich die Grauen rund ums Haus verteilt hatten, verharrten sie an Ort und Stelle und schauten dabei auf ihre Zeitmesser. Vier, drei, zwei, eins... Auf die Sekunde genau drangen sie alle gleichzeitig von mehre 56 ren Seiten in die Villa ein. Fensterscheiben wurden eingeschlagen, Türen eingetreten. Hausgäste, die sich in Fluren und Dielen aufhielten, wurden ohne viel Federlesens mit sanften Betäubungsstrahlen außer Gefecht gesetzt. Die Wirkung würde höchstens ein, zwei Minuten anhalten, aber das genügte bereits, um den Überraschungseffekt zu gewährleisten. Im unteren Stockwerk befand sich ein großer, mit flauschigem Teppichboden ausgelegter Raum, spärlich möbliert. Die Szene, die sich den eindringenden Agenten dort darbot, war so außergewöhnlich, daß sie zweimal hinsehen mußten, um sie zu begreifen. Mitten im Zimmer stand ein etwa fünfzigjähriger Mann, fett, grottenhäßlich, mit Sicherheit alles andere als ein Frauentyp — und zu allem Überfluß auch noch nackt. Er wurde von vier bezaubernden, ebenfalls unbekleideten Frauen gnadenlos angehimmelt, als ob der griechische Jüngling Adonis höchstpersönlich vom Himmel herabgestiegen sei, direkt aus den Armen der schönen Aphrodite. Die Grazien machten sich ungeniert am Körper des Dicken zu schaffen, der die leidenschaftlichen Zärtlichkeiten sichtlich genoß. Sichtlich - und hörbar, denn er schnaufte dabei wie ein kurzatmiges Walroß. Auf dem Kopf trug der Mann eine Art Helm oder Haube, unter der ein paar fettige Haarsträhnen hervorlugten. Rechts und links am Helm war jeweils eine winzige Antenne angebracht. Erst nachdem einige Sekunden vergangen waren, fiel den erstaunten Agenten das Kamerateam auf, das sich im Zimmer positioniert hatte und die pornographische Szenerie von mehreren Sei
ten aufzeichnete.
»Schnitt!« rief ein kleiner schmächtiger Mann, wahrscheinlich der Aufnahmeleiter.
Mit erboster Miene trat er auf die Graugekleideten zu und stemmte provozierend die Fäuste in
die Hüften.
»Was haben Sie hier verloren?« fragte er feindselig. »Sehen Sie nicht, daß hier ein Kunstwerk
gedreht wird?«
Die GSO-Agenten waren nicht gekommen, um Preise zu verleihen. Schweigend verteilten sie
sich im Raum und legten allen Anwesenden Handfesseln an. Die Mädchen und der Dicke
durften sich vorher ankleiden. Der merkwürdige Helm wurde beschlagnahmt.
»Das werden Sie bereuen!« zeterte der Aufnahmeleiter. »Ich kenne den hiesigen
Polizeipräsidenten!«
Zwei der Agenten schauten sich grinsend an. Sie wußten, daß sie nichts zu befürchten hatten,
immerhin handelten sie auf höchste Weisung. Was war schon irgendein Polizeipräsident gegen
den Leiter der GSO?
Inzwischen war auch das obere Stockwerk durchsucht worden. Auch dort hatte der stumme
Trupp Verhaftungen vorgenommen. In zahlreich aufgestellten Feldbetten hatte man Süchtige
aus allen Bereichen des Drogenkonsums vorgefunden, völlig weggetreten von der Wirkung
ihrer Pillen, Spritzen, berauschenden »Drinks« oder Opiumpfeifen. Was genau jeder einzelne
zu sich genommen hatte, ließ sich vor Ort nicht feststellen, dafür waren die GSO-Mediziner
zuständig.
Jeder der Süchtigen trug bei der Festnahme einen jener seltsamen Antennenhelme.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei den Helmen um Aufzeichnungsgeräte«,
teilte Bernd Eylers Bert Stranger mit, mit dem er um elf Uhr morgens (Ortszeit Addis Abeba)
beim Frühstück saß -- nach drei Stunden Schlaf und einer anschließenden belebenden Dusche.
»Zumindest hat das die erste Untersuchung ergeben. Für genauere Prognosen ist es noch zu
früh, schließlich sind wir keine Zauberkünstler.«
»Aufzeichnungsgeräte«, wiederholte der Reporter nachdenklich. »Um was aufzuzeichnen?
Gehirnströme vielleicht?«
»Sie denken docJi wohl nicht an ein Gedankeniesegerät? So et
58 was gehört in den Bereich der Science Hction. Zwar hat die terranische Wissenschaft Apparaturen entwickelt, mit denen gewisse Empfindungen sieht- und lesbar gemacht werden können, aber mehr als ein Türchen zur Gedanken- und Traumwelt der Menschen kann man damit nicht öffnen. Das ist auch gut so. In seine Mitmenschen sollte man nur bis zu einem begrenzten Bereich hineinschauen dürfen, der Rest ist tabu.« »Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Eylers. Ich vermute, die helmartigen Geräte ertasten mit ihren hochempfindlichen Sensoren sowohl Ängste als auch Hochgefühle der Süchtigen und speichern alles ab. Im Klartext: Man zeichnet ihre Räusche auf - um sie später auf die Intensivchips zu übertragen. Dadurch werden die im Studio gedrehten Holoaufnahmen bei der Ausstrahlung besonders intensiv empfunden, und dieses starke Empfinden regt im Gehirn die Produktion der Suchtstoffe an. Das ist, wie gesagt, natürlich nur eine Vermutung. Alles weitere...« »... können Sie getrost unseren Wissenschaftlern überlassen«, ergänzte der GSO-Leiter den Satz. »Meine Männer haben diverse Aufzeichnungsgeräte und Chips beschlagnahmt. In unseren Labors werden wir schon herausfinden, wie genau das ganze funktioniert, da bin ich mir völlig sicher. Bis es soweit ist, werde ich versuchen, ein Verbot des Sensoriums in die Wege zu leiten. Ach ja, denken Sie bitte daran, daß Sie noch zwei Tage nichts verlautbaren lassen dürfen. Stranger.« Bert grinste. »Das weiß ich, schließlich habe ich Patterson überredet, Ihnen noch eine zusätzliche Frist zu gewähren. - Wissen Sie, was ich merkwürdig finde? Daß im Haus mit der Nummer Siebzehn nur Menschen anzutreffen waren und keine Tel.« »Die abtrünnigen Tel halten sich im Hintergrund, damit man ihnen nichts nachweisen kann. Die GSO wird sie früher oder später aufstöbern; nötigenfalls bitte ich die Tel-Regierung um Hilfe. Verlassen Sie sich darauf. Stranger: Der Sensorium-Spuk hat bald ein Ende!« Ein Ende hatte auch Strangers Aufenthalt in Addis Abeba. Während sich Eylers umgehend daran machte, für die bevorstehende Presseveröffentlichung noch so viele Fakten wie möglich zu schaffen, lagen vor dem Journalisten zwei Tage des süßen Nichtstuns. Zwei Tage, die er mit seiner Neueroberung Veronique de Brun verbringen wollte. Veronique und er waren sich im Verlauf ihres gemeinsamen Hafenabenteuers nähergekommen, und diesen Kontakt wollte Bert
nicht einschlafen lassen. Genauer gesagt: Er war verknallt bis in die Sommersprossen. Clint und Stranger benutzten den Transmitter nach Paris. Von dort aus buchte der Reporter ein Ticket für die Magnetbahn nach Lyon. Zur Weiterfahrt nach dem abgeschiedenen Örtchen Le Puy, wo die zur Wallis-Gruppe gehörige Firma Biotechnologique lag, würde er sich dann einen Schweber mieten. Veronique hielt sich derzeit aus Sicherheitsgründen ständig auf dem Firmengelände auf, auch über Nacht. Sie fürchtete sich vor der Rache der Marseiller Hafengangster, von denen sie in Notwehr zwei getötet hatte. Bert hielt ihre Angst für übertrieben, schließlich hatte er alles darangesetzt, ihren Namen aus der Sache herauszuhalten. Es erschien ihm unwahrscheinlich, daß der einzige Überlebende ihrer Verfolger Veronique erkannt haben könnte. Der Abendzug, der etwa eine Stunde für die Strecke Paris-Lyon benötigte, war gut besetzt. Wie es Strangers Gewohnheit war, ließ er seinen Blick an den Sitzreihen vorbeiwandem und machte sich Gedanken über die anderen Fahrgäste. Mutter mit zwei Kindern. Erwartete sie ihr Ehemann am Zielort? Sie sah unglücklich aus. Mochte sie ihren Mann nicht? Tyrannisierte er sie und die Kinder? War sie wirklich auf dem Weg zu ihm, oder hatte sie ihn gerade verlassen? Pfeiferauchender Greis. Er machte einen entspannten Eindruck. Vielleicht ließ er soeben sein erfülltes Leben vor seinem inneren Auge an sich vorüberziehen. Ob er alleinstehend war? Beabsich 60 tigte er, in Lyon seine Kinder und Enkel zu besuchen? Oder fuhr er weiter nach Marseiile, ans Meer, um seine alten Knochen in der warmen Frühjahrssonne der Cöte d'Azur zu baden? Zwei junge, kichernde Mädchen. Worüber lachten sie wohl? Über ihre Verflossenen? Oder hatten sie in Paris etwas ungeheuer Witziges im Holokino gesehen? Etwa fünfzigjähriger, schlanker Mann mit aktiviertem Senso-rium. Der vernachlässigten Kleidung nach war er höchstwahrscheinlich Junggeselle. Leider ließ sein tiefernster Gesichtsausdruck keine Schlüsse darauf zu, welche Art von Chip er im Gerät hatte - einen normalen oder einen Intensivchip. Bert Stranger kümmerte sich nicht weiter darum. Eylers hatte ihm versichert, daß der Spuk mit den Suchtchips bald vorbei sein würde, und er vertraute ihm. Sein Vertrauen ging jedoch nicht soweit, daß er Eylers verraten hätte, wie er an die Adresse in Addis Abeba gekommen war. Den Namen seines zwielichtigen Informanten Osman Mülyz gab er nicht preis. Mülyz war ein Verbrecher übelster Sorte, doch Stranger stand bei ihm im Wort. Er würde ihn nicht verraten, sondern irgendwann und irgendwo selbst mit ihm abrechnen. Deshalb hatte er sich auf seine journalistische Schweigepflicht berufen - so wie sich Bernd Eylers auf seine Schweigepflicht berufen würde, wenn die Tel wegen Dar Soba nachfragen würden. Der Journalist nahm in der Magnetbahn Platz. An der Rücklehne seines Vordermannes war ein Kopfhörer angebracht. Wahlweise konnte man Entspannungsklänge vom Band hören oder sich in aktuelle Musik- und Nachrichtenkanäle einklinken. Bert bevorzugte einen ihm bekannten Sender, der rund um die Uhr Live-Musikwünsche der Hörer erfüllte. »Sie hörten gerade >More Wine< von der aufstrebenden jungen Girlsgroup >Country<«, sagte der Moderator den letzten Song ab. »Nicht zum ersten Mal am heutigen Tag - und sicherlich auch nicht zum letzten Mal. >More Wine< zählt zu den absoluten Lieblingstiteln unserer Hörerschaft und befindet sich auf dem Weg an .ie Hitparadenspitze. Wir schalten jetzt unseren nächsten Hörer zu. Hallo? Was kann ich für Sie tun?« Stranger konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er kannte sich aufgrund früherer Reportagen in der Musikbranche aus und wußte, wie sogenannte »Superhits« gemacht wurden. Das Rezept war fast immer dasselbe: Man nehme ein Musikstück, das so ungefähr den Allgemeinheitsgeschmack trifft und ins Ohr geht. Damit das Liedchen häufig ausgestrahlt wird, sind gute Beziehungen zu den jeweiligen Musikredaktionen überaus wichtig - wichtiger als die Qualität des Stückes selbst. Wer über solche Beziehungen nicht verfügt, mobilisiert seine gesamte Verwandtschaft, sämtliche Freunde und den sonstigen Bekanntenkreis, sich den betreffenden Titel in möglichst vielen Wunschmusikprogrammen möglichst oft zu wünschen, so lange, bis auch der letzte Zuhörer begriffen hat, um was für eine phantastische Aufnahme es sich handelt. Zudem kann es nichts schaden, bei Anrufen im Sender konkurrierende Musiktitel dezent zu kritisieren (»Unerträglich für mein geschultes Ohr, doch vielleicht sehen das die übrigen Hörer anders.«), wobei es wichtig ist, nur den Titel der geschmähten Aufnahme zu nennen, keinesfalls aber den Interpreten - schließlich will man seinen Namen nicht unnötig bekannt machen. Bert Stranger verfügte über große Erfahrung im Medienbereich, und er lernte ständig hinzu.
Man mußte sich höllisch anstrengen, wollte man stets auf dem laufenden bleiben. Die technische Entwicklung auf diesem Gebiet legte ein Tempo vor, daß einem schwindelig wurde. Hätte ihm vor einem Jahr jemand vom Senso-rium erzählt, er hätte ihn einen Zukunftsspinner genannt. Mittlerweile war dieses außergewöhnliche, aber leider auch brandgefährliche Gerät bei der Bevölkerung gang und gäbe, und seine Beliebtheit breitete sich mindestens ebenso schnell aus wie die eines hitverdächtigen Ohrwurms. Eylers würde es schwer haben, ein Verbot durchzusetzen. Kegelroboter Clint schwebte in Berts Nähe im Zwischengang. Wollte jemand an ihm vorbei, machte er ihm bereitwillig Platz, 62 ohne jedoch Stranger auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Sensoren zu lassen. Auch den Mann mit dem Sensorium, der aufgestanden war und offenbar die Bordtoilette aufsuchen wollte, ließ er passieren. Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Der Unbekannte zückte einen Hochenergieschocker und drückte ihn an eine hochsensible Stelle des Roboters, um ihn auf diese Weise zu neutralisieren. Ganz offensichtlich verfügte er über exakte technische Kenntnisse die Kegel betreffend. Clint war nicht entgangen, daß der Fremde eine Nahkampfwaffe bei sich hatte, was allerdings in diesen gefährlichen Zeiten nichts Außergewöhnliches war. Hochenergieschocker waren lediglich die Weiterentwicklung von Elektroschockem, einer in früheren Jahren von Frauen bevorzugten Abwehrwaffe gegen Sittenstrolche. Zu spät hatte die Maschine begriffen, daß man damit nicht nur unkontrollierte menschliche Triebe, sondern auch Schaltkreise zum Er lahmen bringen konnte. Der Einsatz der einstigen Elektroschocker hatte nur selten zu Todesfällen geführt, schlimmstenfalls bei Herzkranken. Hingegen war die Überlebenschance eines Menschen, der mit einem Hochenergieschocker attackiert wurde, gleich Null. Dessen war sich Bert Stranger nur zu gut bewußt, als der »Sensorium-Mann« den Schocker auf ihn richtete und mit starrem Blick auf ihn zukam.
4. Nach dem Gemetzel hatte der Befehlshaber endlich Zeit für seine Besucher. Er stellte sich ihnen als General Gutter vor, führte sie in einen anderen Raum und bot ihnen bequeme Sitzplätze an. Die paßten sich der Körperform ihrer Benutzer an und zeigten damit, daß Bequemlichkeit nicht hinter militärischen Belangen zurückstehen mußte. Dieser Gefechtskommandostand im Berg war mit einem Luxus ausgestattet, der Alsop überraschte. Selbst Schrrotz und Kureran staunten Bauklötze. Roboter, die keine Ähnlichkeit mit Pscheriden oder anderen Humanoiden hatten, sondern deren Form allein vom Zweck bestimmt wurde, servierten Getränke. Eine Wand dieses Zimmers wurde von einer Holoprojektion dominiert, die das Schlachtfeld zeigte. Übriggebliebene Panzer waren zu sehen, die ausglühenden und qualmenden Wracks der zerstörten Kampf fahrzeuge, und auch die toten Zyzzkt, um die sich keiner der pscheridischen Soldaten kümmerte. Taktische Zeichen und Symbole waren überall eingeblendet und signalisierten wohl den Status des entsprechenden Objekts oder Bereichs. Alsop rührte die angebotenen Getränke nicht an. »Was ich hier miterleben mußte, ist nichts anderes als kaltblütiger Massenmord«, sagte er scharf. »Das hat mit Krieg und Selbstverteidigung nichts mehr zu tun, General. Das ist einfach nur ein entsetzliches Massaker.« Ausgerechnet Gisol fiel ihm in den Rücken. »Es waren Wimmelwilde«, sagte der Worgun. »Für jeden, der getötet wird, schlüpfen hundert andere aus ihren verfluchten Eiern und überfluten die Galaxis.« Gutter sah von einem zum anderen. »Man sagt, daß Sie Hohe sind«, sagte er. »Man sagt aber auch, daß wir einem Mörder gegenübersitzen«, konterte Alsop. »Die Zyzzkt hatten bereits kapituliert, weil sie 64 keine Chance mehr hatten, diesen Kampf zu gewinnen. Warum haben Sie sich nicht darauf beschränkt, sie gefangenzunehmen? Warum haben Sie sie hinrichten lassen? Denn etwas anderes als eine Massenhinrichtung war dieses Massaker doch nicht, General!« »Sind Sie nach Pscherid gekommen, um uns Vorwürfe zu machen, Hoher?« fragte Gutter zurück. Nichts an seinem Tonfall verriet Ärger. Der General hatte sich völlig unter Kontrolle. Er führ fort: »Ich dachte bisher, gerade die Hohen hätten allen Grund, die Massenvermehrer
auszulöschen.«
»Ihre Annahme ist korrekt, General«, sagte Gisol.
Der Schlächter, dachte Alsop. So wurde der Rebell der Myste-rious von seinen Gegnern
genannt, weil er die Zyzzkt tötete, wo er eine Möglichkeit dazu fand, und dabei mindestens in
einem Fall nicht einmal Rücksicht auf Angehörige seines eigenen Volkes genommen hatte.
Das ging aus seiner eigenen Erzählung hervor, und Alsop ahnte, daß das, was der Worgun
während des Anflugs auf Om aus seiner Jugendzeit erzählt hatte, nur die Spitze des Eisbergs
war. Es gab sicher noch sehr viel mehr zu berichten... *
»Die Zyzzkt im Kampf zu besiegen ist etwas anderes als sie zu ermorden, wenn sie ihre
Waffen niedergelegt haben«, erwiderte Alsop frostig.
Der General beugte sich vor.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Sie Moralist«, sagte er. »Hören Sie mir genau zu. Da oben«,
er deutete zur Zimmerdecke, »kreisen die Raumschiffe der Zyzzkt. Es werden immer mehr,
und sie schleusen immer mehr Truppen aus, um uns niederzukämpfen. Nicht nur uns hier in
den Bergen, sondern überall auf Pscherid. Sie wollen uns vernichten. Wir stehen mit dem
Rücken zur Wand. Erst am vorigen Tag wurde meine Vaterstadt Dußdro dem Erdboden
gleichgemacht. Dabei kamen fast 500 000 Zivilisten ums Leben.
* Siehe REN DHARK-Sonderband 18: »Rebell der Mysterious«
Unschuldige Männer, Frauen, Kinder, Greise, Alte, Kranke. Leute, die niemals jemandem etwas Böses taten, die an Krieg nicht einmal dachten. Pscheriden, die einfach nur leben wollten, aber sie durften nicht mehr leben, weil die Zyzzkt es nicht wollten. Sie sind im Strahlfeuer verbrannt, sie sind nur noch Asche. Kinder, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Frauen und Männer, die von anderen geliebt wurden. Nichts blieb übrig. Die Stadt ist ein riesiges Massengrab. Möchten Sie wissen, wie dieses Massengrab aussieht? Eine große Fläche aus Glas, zerschmolzen von den Waffen der Zyzzkt. Und Sie moralisieren über ein paar Handvoll tote Zyzzkt-Soldaten, die möglicherweise an dieser Schlächterei beteiligt waren? Oder sie billigend in Kauf nahmen?« »Ich jedenfalls billige nicht, daß...« »Unterbrechen Sie mich nicht!« führ der General ihn an. »Auch als Hoher haben Sie nicht das Recht dazu. Sie sind Gast auf unserem Planeten. Wir hoffen, daß die Hohen uns endlich in unserem Kampf unterstützen, aber wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir mit Massenmördern umzugehen haben. Sollen wir sie auch noch durchfüttern aus Dankbarkeit dafür, daß sie oder ihre Artge nossen unsere Familienangehörigen in flirrende Gaswolken verwandelt haben? Hoher, Sie haben nicht gesehen, wie meine Stadt verbrannte, aber Sie haben gesehen, wie das Dorf Ihrer Begleiter Schrrotz und Kureran verdampfte. Reicht Ihnen das nicht?« »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut«, murmelte Al-sop verbittert. Sein Zweites System war in der Lage, über die Rückschaltphase seine Gemütslage zu erfassen und seiner Stimme den entsprechenden Klang zu geben. »Genau so ist es«, sagte der General. »Leben um Leben, Tod um Tod. Aber das Problem ist größer. Töte einen Wimmelwilden, und während du es tust, wachsen hundert von ihnen nach. Man muß tausend von ihnen töten, um ihnen Einhalt zu gebieten. Ihr Begleiter, Hoher, sieht das wesentlich rationaler.« Dabei nickte er Gisol anerkennend zu. »Wer den Mörder ermordet, stellt sich mit ihm auf die gleiche 66 niedrige Stufe«, sagte Alsop.
»Aber er hat eine Chance, danach nicht selbst ermordet zu werden«, konterte Gutter sofort.
»Die Wimmelwilden greifen gnadenlos an. Sie haben keine Gnade verdient. Denn sie erweisen
auch uns keine Gnade. Sie sind gefühllos. Sie kennen keine Liebe und nicht einmal Haß. Sie
vernichten einfach nur. Wer die Waffe erhebt, wird durch die Waffe umkommen, wie das
Sprichwort sagt. Sie haben es durch ihr Vorgehen nicht anders verdient.«
Alsop schüttelte den Kopf. Er kannte diesen Spruch aus der Bibel, nur der Begriff war anders:
Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. »General, sind Sie sicher, daß
nicht auch Sie durch die Waffe umkommen werden, die Sie erhoben haben?«
»Niemand kann seinem Schicksal entkommen«, sagte Gutter, »was auch immer er versucht.
Wenn es mein Schicksal ist, in diesem Kampf zu sterben, sterbe ich. Aber ich weiß, daß ich
dann alles versucht habe, meinem Volk zu helfen und es gegen die mörderischen Zyzzkt zu
verteidigen. Andere werden mir folgen, meine Arbeit fortsetzen und vollenden.«
»Aber was nützt es Ihnen, wenn Sie dann nicht mehr leben?«
»Ich bin Soldat«, sagte der General. »Als ich mich für diese Laufbahn entschied, wußte ich,
was mich erwartet. Sieg oder Niederlage. Langes Leben oder rascher Tod. Ich fürchte den Tod
nicht. Er ist mein ständiger Begleiter, er ist fast schon mein Freund.«
ERINNERUNGEN:
Terra, Anfang Juni 2056 Langsam ging Echri Ezbal zu seinem Platz zurück und ließ sich nieder.
»Holger.« Seine Stimme klang mhig. Seine Augen strahlten eine Ruhe aus, die zum Klang
seiner Stimme paßte. »Niemand kann vor sich selbst davonlaufen! Und Sie haben sich
freiwillig für jeden Einsatz im Dienst der TF gemeldet. Sie sind bei Ihrem Entschluß geblieben,
auch als man Sie warnte und Ihnen sagte. Sie könnten schon beim ersten Einsatz Dir Leben
verlieren. Sie werden es nicht verlieren! Nicht ich, sondern Sie werden zu den beneidenswerten
Menschen gehören, die mit dreihundert Jahren noch so jung sein werden, wie Sie es jetzt sind!
Holger, Sie bleiben Mensch, selbst als Cyborg! Irgend etwas läuft Ihnen wie ein Schatten nach,
und ich kann nicht herausfinden, an welcher Seite sich Dir Schatten befindet, ich...«
Da verlor Holger Alsop den letzten Rest seiner bisher mühsam gewahrten Beherrschung. Seine
Augen blitzten, sein Gesicht wurde blaß, und seine Stimme klang scharf.
»Ich will den Tod nicht zum Freund haben, Ezbal! Ich will nicht draufgehen, wenn
gewissenlose Kreaturen, die sich Wissenschaftler nennen, mich verstümmeln. Ich will leben!
Ja, ich bin bereit, in den gefährlichsten Einsatz zu gehen, aber ich will den Tod nicht zum
Freund haben! Der holt mich noch früh genug!«
GEGENWART P sehend, Ende April 2059 »Was ist das eigentlich für eine Waffe, mit der die Panzer gestoppt wurden?« unterbrach Gisol das Streitgespräch zwischen Alsop und dem General sowie Alsops auf anderer Ebene ablaufenden Erinnerungssegmente. Der Cyborg fragte sich einmal mehr, warum ihn diese Erinnerungen an seine »Anfangszeit« ausgerechnet jetzt überkamen, hier auf einer fremden Welt, in einer fremden Galaxis. Er fand keine Antwort, und er verzichtete auch darauf, die 68 Fragestellung von seinem Programmgehim analysieren zu lassen, weil es im Grunde irrelevant war. »Oszillationsgranaten«, sagte Gutter und glaubte damit eine unifassende Erklärung abgegeben zu haben, nur ließ sich der Wor-gun davon nicht zufriedenstellen. »Was ist das für eine Wirkungsweise?« hakte er nach. »Die Oszillationsgranaten erzeugen Schwingungen, die in der Lage sind, Unitall zu durchdringen und den Antrieb innerhalb der Panzer lahmzulegen.« »Deshalb also blieben die Kampfwagen plötzlich stehen«, sagte Alsop. »Aber Waffen und Antrieb sind zwei verschiedene Dinge.« »Auch die Waffensysteme werden blockiert«, gestand Gutter, um gleich darauf einzuschränken: »Das alles funktioniert allerdings nur bei Waffen, die nicht von Intervallfeldem geschützt sind.« Der Weiße Blitz, durchzuckte es Alsop. Die galaktische Katastrophe, als durch die letzte Transition der Galaxis Drakhon eine überlichtschnelle Schockwelle ausgelöst wurde, die bis ins damalige, heute nicht mehr existierende Exspect hinaus lief und jegliche Mysterioustechnik lahmlegte, die nicht von Intervallfeldem geschützt war! Aber das war hiermit keinesfalls vergleichbar. Was seinerzeit Drakhon ausgelöst hatte, konnte mit normalen Mitteln niemals nachvollzogen und ausgeführt werden. Die Waffe, welche die Pscheriden einsetzten, hatte damit garantiert nichts zu tun. Es mußte sich um ein völlig anderes Blockierungsprinzip handeln. »Wie genau funktioniert das?« fragte Gisol und nahm damit Alsops Frage vorweg. »Das kann ich Ihnen leider nicht erklären«, erwiderte der General. »Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?« hakte Gisol nach. »Ich kann es nicht«, gestand General Gutter. »Ich bin Soldat, kein Ingenieur. Ich weiß, wie und wogegen ich eine Waffe einsetze, nicht aber, wie man sie baut. Dafür sind andere zuständig.« »Ich akzeptiere das«, sagte der Worgun. Gutter warf Alsop einen fragenden Blick zu, als wolle er sich vergewissem, daß dieser der gleichen Meinung war wie der andere Hohe. Alsop zeigte keine Regung, die Gutter hätte deuten können. Der General lehnte sich wieder zurück. Er wirkte äußerlich etwas entspannter, aber dem Cyborg entging nicht, daß er nach wie vor von Streßhormonen durchströmt wurde. »Ich will ja nicht aufdringlich erscheinen«, sagte Gutter, »aber in der Hektik der Kampfhandlungen während Ihrer Ankunft sind mir Ihre Namen nicht genannt worden, oder ich
habe sie bedauerlicherweise vergessen und muß deshalb um Entschuldigung bitten. Meinen
Namen und Rang kennen Sie. Darf ich fragen...«
»Sie dürfen«, sagte der Mysterious. »Ich bin Gisol, und mein Begleiter heißt Alsop.«
Gutter zuckte leicht zusammen und schloß sekundenlang die Augen. Er schien nachzudenken.
»Gisol und Alsop«, sagte er dann gedehnt, und noch einmal:
»Gisol und Alsop... der Name Alsop sagt mir nichts, aber Gisol? Doch nicht etwa der Gisol?«
Selbiger nickte stumm.
Gutter erhob sich und kam um seinen Arbeitstisch herum. »Damit hätte ich niemals gerechnet,
daß ausgerechnet der legendäre Gisol hier erscheint. Das kann einfach nicht sein...«
»Legendär?« fragte Gisol. »Ich dachte bisher immer. Legenden rankten sich nur um tote
Helden, nicht um Lebende.«
»Sie sind wirklich Gisol?«
»Wie oft soll ich es noch bestätigten?« fragte der Worgun etwas genervt zurück und fügte
ironisch hinzu: »Ich gehe mal davon aus, daß Sie nicht darauf aus sind, die Kopfprämie zu
kassieren, die die Zyzzkt auf mich ausgesetzt haben...«
»Natürlich nicht!« empörte sich der General. »Sie sind ein Held,
70 einer, der es gewagt hat, sich den Wimmelwilden in den Weg zu
stellen!«
Er umschritt Gisol, als habe er ein seltenes Tier vor sich, betrachtete ihn von allen Seiten, und
soweit Alsop Mimik und Gestik der Pscheriden inzwischen einzuschätzen vermochte, zeigte er
dabei unverhohlen seine Bewunderung für den Mysterious. »Es ist fantastisch«, brachte er
hervor. »Unsere Gebete wurden erhört. Die Stemengötter geben uns eine Chance...«
»Wenn Sie sich an mir sattgesehen haben, können Sie uns das vielleicht einmal erklären«, bat
Gisol.
Gutter zuckte zusammen. »Verzeihen Sie, Hoher«, murmelte er. »Aber ich bin einfach
überwältigt. Zwei Hohe auf Pscherid, und dann auch noch Gisol persönlich... das ist etwas,
worauf wir niemals zu hoffen wagten. Aber nun wird alles gut. Sie sind doch sicher hier, um
den Zyzzkt eine vernichtende Niederlage beizubrin-gen. Mit der Kampftruppe der Hohen, die
Sie zusammengestellt haben...«
»Wie bitte? Wovon reden Sie, General?«
Der stutzte. »Etwa... etwa nicht...?«
Er war fassungslos. Er taumelte fast, als er hinter seinen Arbeitstisch zurückkehrte und sich in
seinen Sessel fallen ließ. »Sie -Sie haben nicht...?«
Gisol lachte bitter auf.
»Sie entwickeln eine blühende Fantasie, General«, sagte er. »Woher soll ich eine solche
Kampftruppe rekrutieren? Meine eigenen Leute verabscheuen mich, nennen mich Schlächter.
Wer sollte sich da freiwillig an meine Seite stellen?«
»Aber Alsop hat es doch getan!«
»Ich bin kein Worgun«, sagte Alsop. »Ich bin keiner der Hohen. Ich bin ein Terraner. Meine
Heimatwelt liegt in einer Galaxis, zehn Millionen Lichtjahre von hier entfernt.«
Gutter war wie erschlagen. Er sank über seinem Arbeitstisch zusammen und stützte den Kopf
auf seine Hände, verbarg sein Gesicht.
»Kein Hoher... der legendäre Gisol allein... warum, ihr Götter, gebt ihr mir erst die größte
Hoffnung und nehmt sie dann wieder?«
Er hob den Kopf.
»Bitte«, sagte er leise. »Bitte, lassen Sie mich für eine Weile allem. Ich muß nachdenken.«
Gut zehn Minuten später kam er nach draußen. Er schien sich wieder gefangen zu haben.
»Verzeihen Sie einem alten Krieger, der sich einen Moment lang irrationaler Euphorie
hingab«, sagte er. »Es ist vermessen, an Wunder zu glauben. Die gibt es nicht.«
»Manchmal doch«, erwiderte Alsop. »Wenn man fest genug daran glaubt.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Gutter.
»Nichts, was diese Situation betrifft«, sagte der Cyborg. »Aber wenn man die Hoffnung nicht
aufgibt, geschehen manchmal Dinge, die uns als Wunder erscheinen. Vielleicht wird es ein sol
ches Wunder auch für Pscherid geben. Nicht heute und nicht morgen, und sicher nicht durch
Gisol und mich herbeigeführt.«
»Wo sind Ihre beiden Begleiter, die beiden Bauern?« fragte der General. »Schrrotz und Kureran? Sie verließen uns, als wir ins Freie gingen. Sie wollen sich der Truppe anschließen. Vermutlich bekommen sie gerade jetzt Uniformen angepaßt.« Gutter zuckte mit den Schultern. »Sie werden sterben«, sagte er. »Sie werden in ihren neuen Uniformen sterben. Nicht, weil sie schlecht ausgebildet wären, sondern weil sie blind vor Haß sind. Ich habe diesen Haß in ihnen gesehen. Sie wollen nur Rache, und das treibt sie in den Tod.« »Sie etwa nicht?« fragte Alsop. »Haben Sie nicht eben erst versucht, mit klarzumachen, weshalb Sie Zyzzkt-Soldaten ermorden ließen? Als Vergeltung für die Vernichtung Ihrer Heimatstadt?« »Es hätte jede andere Stadt sein können. Es war keine Vergel 72 tung, keine Rache - nur eine Antwort. Sie haben das nicht verstanden, Alsop. - Warum sind Sie hier?« fragte er dann unvermittelt. »Was hat Sie in diese Galaxis getrieben?« Der Cyborg wies auf Gisol. »Seine Geschichte«, sagte er. »Wir Terraner sind ein neugieriges Volk. Wir sind hier in dieser Galaxis, weil wir wissen wollen, was geschieht. Und ob wir helfen können.« Daß eine solche Hilfe Ter-ras Kraft überstieg, erwähnte er vorsichtshalber nicht. Einen solchen intergalaktischen Krieg konnte die Erde sich niemals leisten. Die Menschheit hatte noch an den Kämpfen gegen die Grakos zu kauen, der Staatshaushalt war auf Jahrzehnte hinaus hoch ver schuldet, und jeder weitere Kraftakt dieser Art würde den Untergang bringen. Zudem gab es auch in der Heimat noch genug Probleme, denn der Friede mit den Tel stand auf sehr wackeligen Beinen. Terra hatte den Mysterious viel zu verdanken, vielleicht sogar seine ganze Existenz, aber ein militärisches Eingreifen in Om war unmöglich. So zumindest sah es Alsops Logiksektor, und so sah es sogar Ren Dhark, aber der Commander der Planeten hoffte wohl, irgendeine Möglichkeit zu finden, mit der er das Rad der Om-Ge schichte auch ohne Kampfgeschwader und teure extragalaktische Kriegführung weiterdrehen konnte. Deshalb waren zehn terrani-sche Ringraumer hier in Om, und deshalb waren Gisol und Alsop hier auf Pscherid. »Dann wollen Sie auch wissen, wie es zu dem gegenwärtigen Krieg kam«, vermutete der General. »Wir haben seit mehreren Jahrhunderten insgesamt fünf bis dahin unbewohnte Sonnensysteme in der Nachbarschaft kolonisiert. Natürlich bekamen wir rasch mit, daß wir nicht allein in der Galaxis sind, daß es viele andere Völker gibt, und wir erfuhren von den Hohen, die einst Om beherrschten und den Völkern vieler Welten den Fortschritt brachten. Wir erfuhren aber auch von den Zyzzkt, und daß sie die Hohen, die einstigen Wohltäter Oms, besiegt und auf einen Planeten vertrieben hatten, den keiner von uns kennt.« »Epoy, meine Heimatwelt. Die Heimatwelt aller Worgun«, sagte Gisol leise. »Bei unseren Vorstößen in die Weiten des Weltraums«, fuhr Gutter fort, »stießen wir immer wieder auf Hinterlassenschaften der Hohen. Wir lernten einen Teil ihrer Technik kennen, wir lernten ihre Sprache und nahmen einige ihrer technischen Hinterlassenschaften in Besitz. Aber wir lernten auch die Zyzzkt kennen, wir erfuhren, daß sie die Hohen einst besiegten. So erfuhren wir auch von der ungeheuren Expansionswut der Zyzzkt, von ihrem Drang, immer mehr Planeten für sich und ihre Brut in Besitz zu nehmen, und wir, die wir selbst gerade begannen, andere Welten zu kolonisieren, fürchteten, daß die Wimmelwilden - dieser Aus druck stammt von den Worgun - auch uns angreifen würden. Unsere Befürchtung wurde zur traurigen Wirklichkeit, als vor etwa 50 Jahren die Zyzzkt auch hier auftauchten und kategorisch forderten, daß wir Pscheriden auch Zyzzkt auf unsere dünnbesiedelten Kolonialwelten ließen.« »Das war ein tödlicher Fehler«, sagte Gisol. »Heute wissen wir das«, erwiderte Gutter. »Damals waren wir noch wesentlich unbedarfter. Wir wußten zwar, daß die Massenvermehrer die Hohen verdrängt hatten, aber wir hielten das für eine Art Machtkampf zweier rivalisierender, hochtechnologisierter Völker, einen Verdrängungswettbewerb, in dem einer der Sieger und der andere der Verlierer sein mußte. Wir durchschauten die Zyzzkt noch nicht. Heute wissen wir es besser. Aber nun ist es zu spät. Wir hätten ihnen schon damals Widerstand leisten und unsere Planeten für sie sperren sollen.« Gisol lachte kurz und hart auf. »Wie hätten Sie das machen wollen? Wie kann man einer Rasse von Mördern widerstehen, die die großartigste, aber auch gefährlichste und vernichtendste Technik benutzt, die es jemals gab? Nämlich unsere Technik, die der Worgun! Sie haben sie uns gestohlen und setzten sie erst gegen uns und jetzt auch gegen andere ein.«
74 Faktisch hat er recht, aber muß er das auf diese überhebliche Art formulieren? dachte Alsop, der über die Rückschaltphase seines Zweiten Systems nicht nur wie ein menschlicher Computer, sondern auch wie ein normaler Mensch denken und empfinden konnte, und diese Rückschaltphase hielt er derzeit geöffnet. Die großartigste Technik, die es jemals gab - welche Arroganz! War es da ein Wunder, daß das Reich der Worgun untergegangen war? Irgendwann fordert der Größenwahn seinen Tribut, und im Zenit ihrer Macht waren die Mysterious in die Dunkelheit gestoßen worden, so wie es vielen anderen Reichen ergangen war, deren Beherrscher keine Grenzen mehr gekannt hatten. Die irdische Geschichte war voll von entsprechenden Beispielen, und warum sollte es in Weltraumtiefen anders sein? Irgendwann kam immer jemand, der den Hohen erniedrigte und selbst aufstieg in neue Höhen. So wie es die Zyzzkt in Om getan hatten... Das Reich Alexanders des Großen, Rom, das Reich der Mitte, das britische Weltreich - sie alle waren an ihrer Größe und Selbstüberschätzung zerbrochen. »Wie auch immer«, fuhr Gutter derweil fort, »wir machten den unverzeihlichen Fehler, ihnen Zugang zu unseren Welten zu gewähren. Wir ahnten nicht, wie ungeheuer groß der Bevölkerungsdruck der Zyzzkt mittlerweile sein muß. Sie pflanzen sich völlig unkontrolliert fort. Auch auf unseren Kolonialwelten vermehrten sie sich rasend schnell. Wir Pscheriden wurden bald an den Rand gedrängt und schließlich gezwungen, nach Pscherid zurückzukehren. Auf unseren eigenen Planeten gab es keinen Platz mehr für uns! Überall waren Zyzzkt, immer mehr Zyzzkt. Sie fragten nicht - sie bauten einfach immer mehr Städte, Raumhäfen, auf unseren Feldern, in unseren Welten, sie bauten ihre Städte um unsere Städte herum, über unsere Straßen hinweg. Auf Bitten, Warnungen und Drohungen reagierten sie nicht, und plötzlich waren sie so viele, daß eine Million von ihnen auf einen von uns kamen. Sie verlangten noch mehr Platz, und wir mußten die Planeten aufge ben. Damals riskierten wir noch keinen Krieg. Das war unser zweiter Fehler. Wir dachten, sie würden sich damit zufriedengeben, wenn sie ein paar unserer Planeten übernahmen. Aber sie übernahmen alle unsere Planeten. Plötzlich gab es Pscheriden nur noch aufPscherid! Dabei waren wir einst aufgebrochen, um unsere Heimatwelt zu entlasten, um Raum zu schaffen für jene, die dort zurückblieben!« »Aber auch dabei blieb es nicht«, sagte Gisol. General Gutter nickte. »Mit strengen Maßnahmen der Geburtenkontrolle gelang es uns, ein erneutes Übervölkerungsproblem zu vermeiden. Das stieß oft auf Probleme. Religionsführer und Philosophen wandten sich gegen diese Geburtenkontrolle. Wir mußten Kompromisse schließen, die keiner Seite gefielen. Dennoch versuchte unsere Regierung immer noch, den Frieden mit den Zyzzkt zu halten. Aber dann machten wir den dritten und letzten Fehler.« »Was haben Sie getan?« fragte Alsop. »Wir wußten inzwischen, wie versessen die Zyzzkt auf Ala-Metall sind«, führ der General fort. Noch bevor er fortfuhr, begann Alsop zu ahnen, wie es weiterging. Ala-Metall war die worguni-sche Bezeichnung für Tofirit. Dieses nach dem Metallurgen Ach-med Tofir benannte, rotfunkelnde Schwermetall, das im Jahr 2052 auf dem Planeten Jump und fast zeitgleich auf Hope entdeckt wurde, besaß das spezifische Gewicht von 481,072 kg/cm^. Seine Sprungpunkttemperatur lag bei 0,355 GrAD Kelvin. Die Bearbeitung wurde, wie Tofirs Kollege Poul Renoir herausfand, durch den Einsatz von Induktionsportalen möglich, die ein elektrisches Feld von 139 560 Volt und 48 Ampere erzeugen, woraufhin das Metall sich selbständig auf 29 287,6° Kelvin erhitzte und formbar wurde. Aber Tofirit war mehr als nur ein superschweres, superfestes Metall. Es war in der Lage, Hyperfunkstrahlen zu bündeln, zu richten und zu verstärken, in einer Form, die zunächst geradezu unwahrscheinlich wirkte. Doch das war längst nicht alles. Inzwischen wußten die Menschen, daß Tofirit den Mysterious als Kon-76 verterbrennstoff diente. In diesem Superschwermetall steckte ein unglaubliches Energiepotential. Deshalb war es bei den Mysterious - und auch bei den Zyzzkt, die sich der M-Technik hemmungslos bedienten - so sehr begehrt. Vermutlich war der Industriekomplex auf Hope, in dem die genialen Worgun Margun und Sola vor tausend Jahren die POINT OF konstruierten, Ren Dharks legendäres Flaggschiff, nur deshalb dort eingerichtet worden, weil es auf Hope ein großes Tofiritvorkommen gab. Tofirit war mehr als selten im Universum... Und Terra besaß unglaubliche Vorräte davon! Die Abteuf stellen auf Hopes Kontinent 4 und auf dem Planeten Jump waren lächerlich gering im Vergleich zu den Vorkommen im Asteroidengürtel des Achmed-Sy stems, das im Januar 2058 von den Prospektoren Jane und Art Hooker entdeckt worden war. Seither flogen Terras Ringraumer stets mit vollen Tofirittanks. Gutter sprach längst weiter: »... beuteten die sehr geringen Ala-Vorkommen unseres Planeten
aus, um sie den Zyzzkt als Handelsware anzubieten und uns -freizukaufenl« Er spie dieses Wort förmlich aus. »Es befindet sich überwiegend im Kern unseres Planeten. Wir selbst brauchen es nicht, weil wir unsere Energie mit fortschrittlicher Antimaterietechnik erzeugen und außerdem gar nicht in der Lage sind, Tofiritmeiler nach dem Vorbild der Hohen zu bauen.« Er sah zum Himmel empor. »Vor einem Jahr nun forderten die Zyzzkt plötzlich Schürfrechte auf Pscherid und wollten das Metall mit ihren eigenen Leuten abbauen. Doch unsere Regierung war nicht bereit, auch nur einen Zyzzkt nach Pscherid zu lassen. Wir hatten endlich begriffen: Wo heute ein Zyzzkt ist, sind morgen deren zwanzig. Die Zyzzkt, diese >Stemenpest<, als die viele sie bezeichnen, vermehren sich rasend schnell, und wenn sie erst einmal auf einem Planeten Fuß fassen, bekommt sie niemand mehr weg.« »Wer wollte dem widersprechen?« fragte Gisol trocken. »Wir Worgun mußten diese böse Erfahrung machen, ihr machtet sie, und viele andere in Om ebenfalls. Man kann sie nur auslöschen, wenn sie erst wenige sind. Wartet man zu lange, sind sie durch ihre Menge unbesiegbar. Wir haben einst zu lange gewartet. Wir waren auch so närrisch, sie lange Zeit agieren zu lassen, General. Wir hätten sie gleich zu Anfang bekämpfen sollen, statt eine friedliche Koexistenz zu erhoffen. Es war ein Fehler, den wir bitter bezahlen mußten.« Gutter gab einen seufzenden Laut von sich. »Unsere Ablehnung«, erzählte er weiter, »war für die Insektoiden ein Kriegsgrund. Sie wollen das Ala-Metall, aber sie wollen nicht dafür be zahlen. Seit drei Monaten nun greifen sie Pscherid an. Wir konnten uns bisher halten, weil wir schon seit der Vertreibung von unseren Kolonialwelten über dunkle Kanäle an eine ganz besondere Waffe gelangten, eine Waffe, die der Worguntechnik entstammt. Sie wird Mix-4 genannt. Damit können wir die Zyzzkt einigermaßen abblocken, denn sie greifen nicht einfach mit ihren Raumschiffen aus dem All an, weil sie Pscherid offenbar nicht unbewohnbar machen, sondern für ihre eigenen Zwecke haben wollen.« Mix-4, durchfuhr es Alsop. Die letzte moderne Waffe, welche die Mysterious noch hatten entwickeln können, ehe sie von den Zyzzkt besiegt wurden. Zumindest hatte Gisol das so berichtet. Die POINT OF, das bis dahin modernste Raumschiff der Mysterious, verfügte über die Waffenarten Mix-1 bis Mix-3. Mix-4 war erst später gekommen, als es längst keine Worgun in der Milchstraße mehr gab. Aber Gisols Raumschiff EPOY verfügte über Mix-4, das dazu diente. Intervallfelder aufzuweichen und durch-dringbar zu machen. Eine Waffe, die Gisol auf Hope selbst eingesetzt hatte, als er den terranischen Ringraumer EUROPA eroberte, um dieses vollständig aus Tofirit bestehende Raumschiff später zu zerlegen und mit seiner Substanz die Tofirittanks seiner eigenen S-Kreuzerflotte zu befüllen. Die Pscheriden verfügten also ebenfalls über Mix-4! »Diese dunklen Kanäle würde ich gern kennenlernen«, sagte Gisol. 78 »Abgelehnt«, entgegnete der General kalt. »Auch wenn Sie ein Hoher sind - es gibt Dinge, die wir niemals preisgeben werden. Wir haben dazugelemt.« »Das verstehe ich«, sagte Gisol. »Auch ich hatte immer mit Verrätern und Verrat zu kämpfen. Jene, denen ich vertraute, erwiesen sich plötzlich als meine Feinde. Ich werde Sie nicht bedrängen, gegen Ihren Willen, gegen Ihre Vorschriften und Gesetze Informationen preiszugeben, die für Ihr Volk überlebenswichtig sind. Wie sieht es mit der Kampfkraft Ihres Volkes aus?« Gauner, dachte Alsop. Auf der einen Seite schmierst du ihm Honig um den Bart, um ihn auf der anderen zu überrumpeln. Aber Gutter zeigte, daß er nicht auf den Kopf gefallen war. »Sie wollen wissen, mit welchen Streitkräften in welcher Stärke Angreifer zu rechnen haben? Wozu wollen Sie das wissen. Hoher? Ohne Ihre Unterstützung werden wir diesen Krieg verlieren.« »Das sagen Sie. Aber sagten Sie nicht auch etwas von Hoffnung und Wunder? General, ich bin sicher, daß die Zyzzkt über die militärische Stärke der Pscheriden bestens informiert sind, aber vielleicht kommt mir eine Idee, Ihre Lage zu verbessern, wenn ich weiß, über welche Kräfte und Mittel Sie verfügen.« »Dann sollten Sie Ihre Idee möglichst bald kommen lassen«, sagte Gutter respektlos, »ehe es für uns alle zu spät ist. Was wir aufzubieten haben, sehen Sie hier.« »Nicht gerade viel, falls ich nicht in den letzten Stunden blind geworden bin«, konterte Gisol. »Ich sehe Truppen der Zyzzkt, die Städte und Dörfer ausradieren, und ich sehe eine kleine Gruppe von Soldaten, die eine Panzerabteilung massakrieren. Sehe ich Abwehrforts? Sehe ich planetarische Energieschirme? Sehe ich Hypno-Abwehr? Sehe ich Raumfallen? Sehe ich Kampfraumschiffe?«
»Ich glaube. Hoher, Sie sollten Ihre Ansprüche ein wenig reduzieren«, sagte Gutter. »Pscherid ist keine Welt der Hohen. Wir waren nie ein Kriegervolk. Unsere Technologie befmdet sich auf einem recht hohen Niveau, wie ich in aller Bescheidenheit erwähnen darf, aber was Sie erwarten, Gisol - es ist zuviel. Wir haben nur wenige Kampfraumschiffe, und die liegen in von Energieschirmen geschützten Hangars. Wir sehen derzeit keinen Grund, sie in den Kampf zu schicken und sie dabei zu verlieren. Das behalten wir uns für den äußersten Notfall vor, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit mehr gibt. Solange wir die Zyzzkt in Bodenkämpfe verwickeln können, ist das für uns die bessere Lösung. Im Weltraum können wir sie nicht schlagen, auf Pscherid schon. - Fragt sich, wie lange noch«, fügte er bitter hinzu. »Sie haben geradezu unendlichen Nachschub an Material und Kriegern.« In diesem Moment erzitterte der Boden. Wir werden angegriffen, teilte das Programmgehirn Alsop nüchtern mit, und »Wir werden angegriffen«, stieß auch Gisol in diesem Moment hervor. Die Wimmelwilden kamen, um diesen Gefechtsstand der Pscheriden dem Erdboden gleichzumachen!
5. Mit unbewegter Miene hörte der amerikanische Raumschiffkapitän Lee Grant die Funkmeldungen ab, die laufend in der Zentrale der SEZESSION eintrafen. Nachdem die Grakos bereits Hope erobert hatten, befand sich nun auch Babylon in ihrer Hand. Fast zeitgleich kesselte ein Kampf stationen-Verband der Schatten den Planeten Dockyard ein, wo ihm allerdings heftige Gegenwehr entgegenschlug. »Sollten es die Grakos schaffen, alle drei Planeten in ihren Besitz zu bringen, gibt es keine Rettung mehr für die Milchstraße«, bemerkte Lee Grants erster Brückenoffizier tonlos. »Dockyard braucht dringend unsere Unterstützung.« Doch die SEZESSION, einer der wenigen Toßrit-Ringraumer, konnte nicht eingreifen. Die Besatzung kämpfte selbst ums Überleben - Seite an Seite mit der POINT OF, die ebenfalls von Grako-Stationen umzingelt war und unter Dauerfeuer lag. Beiden terr (mischen Raumschiffen blieb nur ein einziger Fluchtweg, eine winzige Lücke in der nahezu undurchdringlichen Kette der Angreifer, Aber dieser Weg war durch eine Raummine versperrt. Ironie des Schicksals: Die Mine war nicht von den Grakos, sondern schon vor längerer Zeit von einem terranischen Kampfraumer dort plaziert worden, um ein Vorrücken der feindlichen Truppen zu verhindern. »Sir, soeben geht eine Erfolgsmeldung ein!« rief der Funkoffizier der SEZESSION aufgeregt. »Hope wurde befreit - aufgrund eines spektakulären Kampfeinsatzes der GSO!« In der Zentrale brach Jubel aus. Für ein paar Augenblicke vergaßen alle die Gefahr, in der sie schwebten. »Einfach Spitze, die Jüngst« »Endlich kriegt das Grako-Gesindel, was es verdient!« »Was die GSO schafft, können wir schon lange! Vorwärts, zeigen wir es den häßlichen Insekten!« Kurz hintereinander vergingen zwei Grako'Schiffe in einem Strahleninferno. Leider wurde die entstehende Lücke in der An' greiferkette sofort wieder geschlossen, so daß sich den beiden Ringraumern auch weiterhin keine Fluchtmöglichkeit bot - abgesehen vom Minenfeld. »Wenn wir uns wenigstens mit Dhark und seinen Leuten verständigen könnten, Himmel und Wolkenbruch!« fluchte der 1.0. Obwohl sich die POINT OF in Sichtnähe befand, war der Sprechkontakt zu ihr abgebrochen. Vermutlich hatte ein Treffer die Funkzentrale des Flaggschiffs schwer beschädigt. Neue Hiobsbotschaften gingen ein. Die Grakos hatten sich von Dockyard abgewendet. Statt dessen hielt der Verband jetzt direkt aufTerrazu. »Die elenden Mistviecher haben uns reingelegt!« ging dem Ersten ein Licht auf. »Sie wollten von vornherein auf die Erde los. Die Schlacht um Hope sollte unsere Verbände lediglich beschäftigen, und die Attacke gegen Dockyard war nur ein Scheinangriff. Offensichtlich verfügen die Grakos über einen verdammt guten Strategen.« Kapitän Grant analysierte in Gedanken die Situation. Die SEZESSION stand kurz. davor, von den Grakos vernichtet zu werden. Die POINT OF würde mit Sicherheit länger durchhalten. Vielleicht gelang es Ren Dhark sogar, sich freizukämpfen. Das dauerte jedoch seine Zeit. Zeit, die der Commander der Planeten nicht hatte. Bis er von hier wegkam, würde sich »seine« Erde längst in den Händen der Eroberer befinden, die dort alles Leben gnadenlos auslöschen würden. »Die ersten Ast-Stationen sind gefallen«, meldete der Funkoffizier mit bebender Stimme. »Ein Kamp fr aumerv erband der Nogk ist zur Verstärkung der terranischen Truppen unterwegs, allerdings werden unsere Verbündeten nicht mehr rechtzeitig eintreffen. Die Erde brauchte
dringend unsere Hilfe - und wir kommen hier nicht weg.« 82 »Die POINT OF wäre eine noch größere Hilfe als wir«, widersprach der Kommandant. »Ein
Überraschungsangriff mit dem Flaggschiff könnte Terras letzte Rettung sein. Wir dürfen keine
Sekunde länger zögern. Sie wissen, was Sie zu tun haben, meine Herren?«
Niemand antwortete ihm, jedem war klar, was er meinte.
Kurz darauf stellte die SEZESSION das Abwehrfeuer ein. Der Schutzschirm wurde bis zur
äußersten Belastungsgrenze hochgefahren. Kapitän Lee Grant höchstpersönlich
programmierte den T-Raumer mit den Koordinaten für den Rückzug.
Ein Rückzug, der nur in eine Richtung führte: in den Tod.
Die SEZESSION flog direkt ins Minenfeld hinein und aktivierte dadurch die Raummine. Mine
und Schiffvergingen in einer mächtigen Explosion.
Dhark nutzte seine Chance und jagte mit der POINT OF mitten durch das Inferno. Einige
Grako-Schiffe nahmen sofort die Verfolgung auf, wurden aber vom Flaggschiff abgeschossen,
noch bevor sie richtig reagieren konnten.
Der Weg zur Erde war jetzt frei. Mit Höllentempo eilte die POINT OF den bedrohten
Terranern zu Hilfe. Würde der Com-mander noch rechtzeitig eintreffen?
»Das schafft er niemals«, sagte Regina Lindenberg - mit einem gehässigen Lächeln, das so gar nicht zu ihren vollen roten Lippen passen wollte. »Abwarten«, entgegnete Robert Saam gelassen. »Die Guten kommen immer rechtzeitig.« »Diesmal nicht«, war Regina überzeugt. »Oder hast du bei der Entwicklung des Spiels dem Commander irgendein Hintertürchen aufgelassen? Zuzutrauen wär's dir ja.« Robert schüttelte den Kopf. »Nein, bei den Phantasiegefechten im All geht es absolut fair zu. Jede Partei hat die gleiche Chance. Selbst wenn man solitär spielt, also gegen sich selbst, kann man bis zum Schluß Sieg oder Niederlage nicht voraussehen. Im übrigen wurde dieses Strategiespiel nicht von mir entwickelt, sondern von zwei genialen Köpfen aus dem Brana-Tal. Perkins und Hotch wurden aufgrund ihres hohen IQ von Echri Ezbal als wissenschaftliche Hilfskräfte eingestellt. Ihr Hobby ist die Entwicklung von Holographiespielen zu Unterhaltungszwecken.* Eigentlich habe ich für derart profane Freizeitbeschäftigung nicht viel übrig, aber dieses Spiel fasziniert mich aufgrund seiner Realitätsnähe.« Nur selten ließ sich der siebenundzwanzigjährige Norweger Robert Saam zu anerkennenden Komplimenten hinreißen. Nicht nur sein blondes Haar war schwer zu bändigen, auch er selbst lehnte jede Art von Kontrolle ab. Zweifelsohne war er eines der größten Genies der Menschheit, und das wußte er. Deshalb sah er keinen Anlaß, Kollegen zu loben oder sich sonstwie den beruflichen Zwängen des Lebens unterzuordnen. Sein Mäzen Terence Wallis, seines Zeichens der reichste Mann der Erde, ließ ihm alle Freiheiten, die er brauchte - und profitierte dafür nicht schlecht von Roberts geistreichen Erfindungen. Wer für Wallis Industries, Wallis Star Mining, Biotechnologique oder sonstige Firmen und Tochtergesellschaften des Multimilliardärs arbeitete, zählte zu den Besten. Bei der Auswahl seiner Mitarbeiter hatte der siebenundvierzigjährige Unternehmer mit der Vorliebe für bunte Westen, der sein Haar meist zu einem Pferdeschwanz zusammenband, eine glückliche Hand. Nur selten griff er mal daneben, beispielsweise wenn er schlecht beraten wurde. Aus diesem Grund gab er nur wenig auf Empfehlungen oder Ratschläge. Wallis wußte, was er wollte, sowohl beruflich als auch privat. Die schönsten und intelligentesten Frauen machten ihm Avancen,
* Siehe 9. Band des Drakhon-Zyklus, »Das Stemenversteck«, Seite 223 bis 226
84 und das nicht nur wegen seines Geldes. Hingegen wies Saams Privatleben etliche Defizite auf - genaugenommen hatte er gar keines. Nach außen hin gab er sich gern als Frauenfeind, in Wahrheit aber war er nur zu schüchtern, um mit dem weiblichen Geschlecht anzubändeln. Der Mann, der seinerzeit sein Studium abgebrochen hatte, weil ihm seine Professoren geistig nicht mehr hatten folgen können, der Mann, dessen Erfindungen es mit zu verdanken war, daß sich Terra nicht schon längst in der Hand fremder Mächte befand, der Mann, der einst beinahe die Sonne in die Luft gesprengt
hätte... dieser Mann hatte erhebliche Schwierigkeiten mit den alltäglichen Dingen des Lebens -
und im Umgang mit Frauen.
Schon seit langem hatte er ein Auge auf die bezaubernde Schweizer Biologin Regina
Lindenberg geworfen, die ebenfalls zu Wallis9 wissenschaftlichen Spitzenkräften zählte. Die
Einunddrei-ßigjährige, die ein Faible für tiefe Ausschnitte hatte, verfügte über mehr
Auszeichnungen als die meisten älteren Wissenschaftler. Im Gegensatz zu Robert hielt sie sich
jedoch nicht für unfehlbar.
Gegen eine engere Beziehung zu ihrem begabten Kollegen hätte sie eigentlich nichts
einzuwenden gehabt, wenigstens versuchsweise, doch beide zögerten noch, den ersten Schritt
zu tun. Auf dem Flug zum Planeten Eden waren sie sich in der Bordbibliothek menschlich
zwar etwas nähergekommen, aber ihre Privatunterhaltung hatte überwiegend auf intellektueller
Basis stattgefunden. Über ihre gemischten Gefühle zueinander hatten sie nicht gesprochen.
Beide hielten sich nun am Meer auf, am sonnigen, menschenleeren Strand von Aloha.
Insgeheim hatte Regina gehofft, Robert würde auf ihrem gemeinsamen Spaziergang endlich
etwas mehr aus sich herausgehen. Doch anstatt ihre Hand zu halten, die frische Brise
einzuatmen und dem sanften Meeresrauschen zu lauschen, zog er es vor, auf dem Bildschirm
seines tragbaren Suprasensors Weltraumgefechte mit ihr auszutragen.
»Machen wir weiter?« erkundigte er sich, nachdem sie eine
Weile schweigend im Sand gesessen hatten.
Regina, die über ihrem knappen Bikini nur ein dünnes Hemdchen trug, das ihre Blößen kaum
verdeckte, lächelte ihn verheißungsvoll an.
»Ich bin zwar am Gewinnen, dennoch zählt taktisches Schlach-tengetümmel nicht unbedingt zu
meinen Lieblingsbeschäftigungen«, antwortete sie. »Wir Frauen sind für die Liebe geboren,
nicht für den Krieg.«
Diesen Wink mit dem Zaunpfahl konnte Saam gar nicht übersehen!
Oder?
»Verstehe, du hast keine Lust mehr«, entgegnete der Norweger und speicherte das Spiel ab.
»Macht nichts, wir können ja auf dem Rückflug weiterspielen. Übrigens: Du überschätzt dich.
Wenn hier einer gewinnt, dann bin das ich.«
Mit diesen Worten klappte er sein Laptop zu. Regina hätte sich das Gerät am liebsten
geschnappt und ins Meer geworfen, aber die Dinger waren teuer.
»Was machen wir nun?« fragte Saam - und meinte diese Frage tatsächlich ernst.
»Fällt dir denn gar nichts ein?« stellte sie ihm die Gegenfrage und räkelte sich provozierend im
warmen Sand.
Für einen winzigen Augenblick war sie zu allem bereit. Er mußte nur noch die Hand nach ihr
ausstrecken, sie in den Arm nehmen...
»Wir könnten zurück zum Strandhaus um die Wette laufen«, schlug Robert vor.
Jedwede Romantik hatte er soeben dahingemeuchelt. Es gab bestimmte kostbare Momente im
Leben eines jeden Menschen, die mußte man vorsichtig ergreifen, mit viel Fingerspitzengefühl,
sollten sie nicht wie Seifenblasen zerplatzen. Einen solchen unwiederbringlichen Augenblick
hatten die beiden gerade erlebt. Nun mußten sie auf den nächsten warten. Atemlos und
verschwitzt traf das Paar beim Strandhaus ein.
86 Saam, der bunte Boxershorts und ein Hawaiihemd trug, keuchte wie eine alte Dampflokomotive. Obwohl Regina viel properer gebaut war als er, erwies sie sich als wesentlich sportlicher. »Das ist kein Wetter für einen Mann aus dem Norden Europas«, versuchte er, seine schwache Leistung zu rechtfertigen. »Immerhin begrüßt man uns mit Musik aus dem Norden«, erwiderte Regina und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses. Neben der Eingangstür schwebte ein Kegelroboter und ließ eine alte Wikingerweise ertönen. Dabei drehte er sich langsam im Kreis. »Cash scheint heute unheimlich gut drauf zu sein«, kommentierte Saam den melodischen Gesang. »Fehlt nur noch, daß Carry seinen Senf dazugibt.« Cash und Carry gehörten den Besitzern von Aloha: Art und Jane Hooker. Die beiden ehemaligen »Weltallvagabunden« waren eigenständige Freiberufler, durften aber heute - laut Vertrag - ausschließlich für Wallis Star Mining tätig werden. Diese berufliche Ein schränkung hatten sie sich teuer bezahlen lassen - mit 2,5 Prozent Anteil an der Firma. Zudem besaßen sie 2,5 Prozent des Planeten Eden, den sie im Verlauf einer von Terence Wallis finanzierten Expedition im Kugelhaufen M 53 entdeckt hatten. Während jener Expedition hatten zwei ihrer Kegelroboter leichte Schäden erlitten. Cash ließ sich manchmal zu spontanen Opemarien hinreißen, und Carry philosophierte für sein Roboterleben gem. Ansonsten führten
sie sämtliche Befehle gewissenhaft aus, wie man es von seelenlosen Maschinen erwarten konnte. Aloha war sozusagen das Filetstück von Eden. Der zwischen Subtropen und Tropen gelegene Inselkontinent war ein Naturparadies par excellence. Mit dem Recht der ersten Wahl als Entdekker hatten die Hookers seinerzeit davon Besitz ergriffen. Rechnete man die Aloha umgebenden Gewässer und Inselgruppen mit, ergab das exakt den Anteil, der Art und Jane von diesem Planeten zustand. Hier fühlten sie sich inzwischen heimisch. Ihren Fracht-raumer SEARCHER betrachteten sie als ihr erstes, diesen friedvollen Kontinent als ihr zweites Zuhause. Auf einer Aloha vorgelagerten Insel hatten sich die beiden ein luxuriöses, quadratisches Strandhaus eingerichtet, mit einem kleinen Raumerlandeplatz, idyllischer Badebucht und allem, was sonst noch dazugehörte. Im Bedarfsfall ließ sich das einstöckige Haus, das über zahlreiche verschieden eingerichtete Gästezimmer verfügte, mit technischen Tricks in eine kleine Festung verwandeln. In diesem »Fort« hielten sich außer ihnen derzeit Terence Wallis, Robert Saam, Regina Lindenberg, der Kanadier George Lau-trec und der Inder Saram Ramoya auf; letztere gehörten ebenfalls zum Team der für Wallis' tätigen Spitzenwissenschaftler. Ursprünglich hatte Wallis nach einem entlegenen Fluchtplaneten für die Menschheit gesucht, für den Fall der Vernichtung der Milchstraße durch das entartete Schwarze Loch in ihrem Zentrum. Nachdem die galaktische Katastrophe jedoch im letzten Moment abgewendet worden war, gab es keinen Grund mehr, massenhaft Flüchtlinge nach hier zu verfrachten. Statt dessen plante der Multimilliardär nun, seine gesamten Firmen nach und nach auf Eden neu zu errichten und diesen von Menschenhand noch unberührten Planeten mit handverlesenen Freiwilligen zu besiedeln. Ihm schwebte eine Art »Erde zwei« vor, wobei er von Anfang an Fehler vermeiden wollte, die über Jahrhunderte hinweg auf Terra gemacht worden waren - vor allem im Umweltbereich. Beispielsweise plante er, die gesamte Industrie ins Planeteninnere zu verlagern. »Earth two« durfte keinesfalls zu »Bad Earth« werden. Grund für die geplante Umsiedlung waren nicht zuletzt Querelen mit der terranischen Regierung. Terence Wallis war ein Freund von Commander Ren Dhark, doch er hielt nicht viel von der klassischen Politik und ihrem undurchschaubaren Beziehungsgeflecht. Für einen aufrechten Charakter wie ihn, der seinen Mitmenschen geradeaus auf den Kopf zusagte, was er von ihnen hielt, waren Behörden ein rotes Tuch, insbesonders dann, wenn sie als einziges 88 Argument ihre staatliche Autorität hervorkehrten und ansonsten den Amtsschimmel fröhlich wiehern ließen. Wallis war kein Umstürzler, aber er hatte ein gesundes Empfinden für Recht und Gerechtigkeit. Und einen Spürsinn für gute Geschäfte. Hier auf Eden würde er, dessen war er sich sicher, noch reicher werden, als er es bisher schon war. Robert Saam stemmte sich vehement gegen den Umzug. Auf dem Gelände der Hauptzentrale von Wallis Industries herrschten genau die Arbeitsbedingungen, die er für seine diversen Forschungen brauchte. Ausgerechnet jetzt, wo er kurz davor stand, einen neuen Werkstoff zu entwickeln, sollte er umziehen? Niemals! Carborit hieß die neueste Erfindung aus dem Hause Saam & Co - und laut George Lautrec war Carborit die Lösung sowohl für Wallis als auch für Saams Problem. Was genau er damit meinte, hatte der Kanadier bislang jedoch nicht preisgegeben; er hatte sich lediglich auf eine geheimnisvolle Andeutung beschränkt. Nachdem sich Regina Lindenberg und Robert Saam geduscht hatten, selbstverständlich jeder für sich, packten sie ihre Sachen zusammen. Ihr Aufenthalt auf Eden war vorüber. Die Rückkehr nach Pittsburgh, Pennsylvania stand unmittelbar bevor.
Zirka fünf Tage würde der Rückflug nach Terra dauern. Die SEARCHER konnte pro Transition maximal 5000 Lichtjahre überwinden. Um das Material nicht zu überlasten und Energie zu sparen, beließen es die Hookers allerdings bei Sprüngen von 3000 Lichtjahren. Aus denselben Gründen riskierten sie nur einen Sprung alle sechs Stunden. Bei ihren ersten Langstreckenflügen durchs All hatten sie sich sogar auf einen 24-Stunden-Rhythmus beschränkt, um die Belastbarkeit ihres diskusförmigen Frachtrau-niers erst einmal auszutesten. Mittlerweile wußten Art und Jane, wieviel sie der SEARCHER tatsächlich zumuten durften, so daß sie die Strecke Terra-Eden beziehungsweise Eden-Terra in weniger als einem Drittel der ursprünglichen Flugzeit bewältigen konnten.
»Ich kann die Heimkehr kaum erwarten«, bemerkte Saam auf dem Weg zum Abflugplatz. »Als wir aufbrachen, waren gerade die letzten Carborit-Tests im Gange. Zwar bin ich mir ziemlich sicher, daß sie positiv verlaufen sind, aber ich wäre lieber persönlich mit dabeigewesen.« Er warf einen scheelen Seitenblick auf den zweiundsechzigjäh-rigen Lautrec, der neben ihm ging. »Willst du mir nicht endlich verraten, was es mit deiner merkwürdigen Andeutung auf sich hat, George? Ich hasse Rätselspiele.« »Und ich erst!« mischte sich Terence Wallis ein. »Bisher hat es noch keiner von euch für nötig gehalten, mir zu erklären, was Car-borit eigentlich ist. Du weißt, Robbie, wie sehr ich es hasse, wenn du mich über deine laufenden Projekte nicht informierst. Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, woran du gerade arbeitest, immerhin finanziere ich das ganze.« / »Laß dich überraschen«, entgegnete Saam. »Wenn alles wie gewünscht klappt, wirst du soviel Geld verdienen, daß du daran erstickst.« »Und wenn es schiefgeht? Ersetzt du mir dann meine finanziellen Verluste? Jede neue Erfindung von dir bedeutet ein unabwäg-bares Risiko für mich.« »Das ganze Leben ist ein Risiko«, warf Lautrec ein, der auf den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Gebieten über einen bedeutsamen Erfahrungsschatz verfügte. »Bisher sind Sie mit uns immer gut gefahren, Mister Wallis, oder? Vertrauen Sie uns, wir werden Sie auch diesmal nicht enttäuschen.« Mit »wir« war das gesamte vierköpfige Team gemeint. Zwar hatte Robert Saam das Sagen, doch ohne seine drei Assistenten hätte er so manches »Wunder« niemals vollbringen können das wurde bei den unzähligen Lobeshymnen auf das Supergenie oftmals vergessen. Es erfüllte George daher mit diebischer Schaden 90 freude, daß er Saam ausnahmsweise um einen Gedankensprung voraus war. An Bord bezogen Terence und seine Mannschaft fünf bequeme Quartiere. Carry trug ihnen das Gepäck hinterher, nicht ohne die übliche philosophische Sprücheklopferei. »Wer die Last der Welt zu tragen hat, muß über starke Schultern verfügen, andernfalls trägt die Last der Welt ihn.« Wie wahr, wie wahr, dachte Wallis und seufzte unhörbar. An manchen Tagen hatte er das Gefühl, die hohe Verantwortung, die tagtäglich auf ihm lastete, würde ihn erdrücken. Auf dem Rückflug nahm er sich keine Zeit zum Entspannen. Fortwährend suchte er die anderen in ihren Quartieren auf und war redlich bemüht, sie auf sein Umsiedlungsvorhaben einzustimmen. Obwohl er eine Vielzahl von ausgefeilten Argumenten hervorbrachte, schlug ihm überwiegend Skepsis entgegen. Lediglich Lautrec stand seinen Plänen aufgeschlossen gegenüber. Saam hin gegen lehnte einen Umzug nach Eden weiterhin kategorisch ab. Wallis dachte ernsthaft darüber nach, Druck auf ihn auszuüben. Allerdings riskierte er damit möglicherweise den endgültigen Bruch ihrer ebenso freundschaftlichen wie geschäftlichen Beziehung. Auch die Hookers blieben nicht verschont. Wallis hielt sich öfter in der Zentrale der SEARCHER auf, als dem Prospektoren-Ehepaar lieb war. Der Milliardär beschränkte er sich jedoch darauf, mit den beiden über die ablehnende Haltung seiner Mitarbeiter zu diskutieren. In ihre Arbeit mischte er sich nicht ein; er akzeptierte Art und Jane als Kapitäne dieses Schiffs und stellte ihnen keine unnötigen Fragen. Nur ein einziges Mal kam es zu der berühmten Ausnahme von der Regel. Auf halber Strecke konnte Jane Gefügeerschütterungen anmessen, verhältnismäßig weit entfernt und nur ganz kurz - dann war es wieder totenstill im All. »Was ist passiert?« verlangte Wallis eine Erklärung. »Ist ein fremdes Schiff in unserer Nähe aufgetaucht?« »Nicht auf- sondern untergetaucht«, antwortete Art, der neben seiner Frau am Kontrollpult stand. »Die unbekannten Raumfahrer haben das Weite gesucht, kaum daß sie uns bemerkt hatten.« »Unsere Sensoren konnten das Schiff nur für Sekundenbruchteile erfassen«, informierte Jane den aufgeregten Allroundunternehmer. »Die Umrisse, die sich auf dem Bildschirm abzeichneten, ähnelten einem riesigen Kreuz. Offenbar treibt sich dort draußen irgendein verlorenes Völkchen herum, das mehr Angst vor uns hat als wir vor ihm.« Wallis atmete auf. »Um so besser. Ärger mit Fremdvölkem können wir jetzt weiß Gott nicht gebrauchen.« Auch auf dem Kreuzraumer zeigte man sich erleichtert. Der Kommandant mied Kontakte mit den Milchstraßenbewohnem wie der Teufel das Weihwasser. Ursprünglich hatte er mal angedacht, Handelsbeziehungen mit den Terranem aufzunehmen, doch nach seinen schlechten Erfahrungen mit den Utaren und den Rateken verzichtete er lieber darauf.
»Ob sie uns bemerkt haben?« wurde er von seinem 1.0. gefragt.
»Schon möglich«, antwortete er. »Aber solange sie uns nicht verfolgen, besteht keine Gefahr.«
Er gab Befehl, nach einem unbewohnten Planeten Ausschau zu halten, um dort Frischwasser
und sonstige Nahrung aufzunehmen.
»Danach setzen wir die Suche nach unserer Heimatgalaxis fort.«
»Wozu? Allmählich bezweifle ich, daß wir jemals einen Weg zurück nach Drakhon finden
werden.«
»Solche Töne will ich auf der Brücke nicht hören, Offizier! Wir werden niemals aufgeben,
verstanden?«
»Verstanden, Rudelführer! Ich habe mich gehenlassen, wird nicht wieder vorkommen. Tut mir
leid, Priff Dozz.«
Erst nach ihrer Ankunft auf Terra erfuhr die Gruppe Saam zu aller Erleichterung, daß die Abschlußtests mit dem neuen Werk 92 stoff erfolgreich verlaufen waren. Schon von Bord der SEARCHER aus hatte sich Robert mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern, welche die Arbeit während seiner Abwesenheit nach seinen Instruktionen weitergeführt hatten, in Verbindung setzen wollen, doch Terence Wallis hatte es ihm untersagt. Niemand durfte wissen, daß er und die anderen sich auf dem Raumschiff der Hookers befunden hatten. Die Reise nach Eden und die geplante Firmen umsiedelung waren noch streng geheim. Nach der Landung zog sich der Milliardär zunächst in sein Büro zurück. Zwar platzte er vor Neugier, dennoch beugte er sich Saams Bitte, sich noch ein paar Stunden aus den Laboren fernzuhalten. Sein Schützling wollte ihm Carborit sozusagen auf dem Silbertablett servieren, verbunden mit einer kleinen Vorführung. Terence Wallis hatte es nicht nötig, seine Geschäftspartner durch unnötigen Firlefanz zu beeindrucken. Das widersprach seiner Lebensphilosophie. Er überzeugte mit Leistung, nicht mit Blendwerk. Aus diesem Grund nahm sich das dreistöckige Verwaltungsgebäude auf dem Firmengelände von Wallis Industries recht bescheiden aus. Nicht nur von außen her, auch den Geschäftsräumen war kaum anzumerken, daß Wallis privat ein Genießer war, der etwas Luxus durchaus zu schätzen wußte - manchmal durfte es sogar etwas mehr sein. Auch eine bequeme Liege konnte man als Luxus empfinden, zum Beispiel, wenn man nach einer Reise durchs Weltall ein wenig ausspannen und in Ruhe seinen Gedanken nachhängen wollte. Wallis bat seine Sekretärin, ihn bis auf Widerruf nicht zu stören. Dann schloß er seine Bürotür und streckte in einem kleinen Nebenzimmer genüßlich alle Viere von sich. Mit geschlossenen Augen ließ Wallis die wichtigsten Stationen seines Lebens Revue passieren, und er fragte sich, ob er immer alles richtig gemacht hatte. Geschäftlich hatte er sich meistens auf der Überholspur befunden, gelegentliche Fehlschläge, aus denen er seine Lehren gezogen hatte, mal ausgenommen. Doch hatte er sich auch als Mensch in jeder Situation richtig 93
verhalten? Der terranischen Regierung den fünfundzwanzigprozentigen Regierungsanteil an Wallis Star Mining abzuschachern war ein genialer geschäftlicher Zug gewesen. Aber war diese Verhaltensweise menschlich noch vertretbar? Henner Trawisheim, Dharks Stellvertreter, hatte es Wallis stehenden Fußes heimgezahlt. Zwar konnte der Milliardär den Abbaugewinn am Tofirit-Asteroidengürtel im Achmed-System jetzt fast allein einstreichen (bis auf die 2,5 Prozent der Hookers), dafür aber hatte ihm die Regierung den kostenfreien militärischen Schutz entzogen. Dadurch war das System nicht mehr gegen Überfälle fremder Milchstraßenvölker geschützt. Terence Wallis hatte daraufhin beschlossen, eine eigene Kriegsflotte auf die Beine zu stellen und in seinem Werk den Bau von zwölf Ikosaederraumem in Auftrag gegeben. Der Haken an der Sache: Private Raumschiffe durften laut terranischem Gesetz nur mit leichter Bewaffnung zur Selbstverteidigung ausgestattet sein. Selbstverteidigung? Wallis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn man einem Angreifer gegenüberstand, der einen Biaster in der Hand hielt, machte es wenig Sinn, ihn mit einer Erbsenpistole zu beschießen. Im Grunde genommen ließ sich das Problem leicht lösen, so, wie sich die meisten alltäglichen Probleme lösen ließen - mit Geld. Würde Wallis für die Militärschiffe bezahlen, und das nicht zu knapp, bliebe alles beim alten. Der Geschäftsmann in ihm sagte: Tu es! Unterm Strich kannst du trotzdem noch einen anständigen Gewinn verbuchen. Aber er war halt nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Mensch. Ein Mensch mit Fehlem, der Niederlagen nur schwer verdaute und sich ungern etwas vorschreiben ließ. Und dieser Mensch suchte nach einer idealeren Lösung. »Eigene Kriegsschiffe zu bauen kommt mich billiger als die Schutzgelder, die Trawisheim mir aus der Tasche ziehen will!« hatte Terence Wallis - sowohl der Geschäftsmann als auch der 94 seh - vor der Abreise nach Eden aufgebracht zu seinem Rechtsanwalt Fortrose gesagt. »Und
wenn der Staat mir die Genehmigung dafür verweigert, dann... dann brauche ich halt einen
eigenen Staat!«
Ein eigener Staat.
Eden.
Wallis horchte in sich hinein und stellte sich die Frage, wie ernst es ihm wirklich damit war.
War es tatsächlich sinnvoll, sämtliche Unternehmen nach NGC 5024 alias M 53 im Sternbild
Coma zu verlegen? Rentierte sich der damit verbundene immense Aufwand geschäftlich
überhaupt? Oder würde er sich damit total übernehmen?
Jeden anderen hätte diese Frage tage- und nächtelang wachgehalten. Wallis hingegen
schlummerte allmählich ein.
Als er erwachte, stand Robert Saam neben der Liege; er hatte ihn wachgerüttelt.
»Komm mit«, forderte ihn sein »Patenkind« auf. »Das Carborit ist bereit zur Vorführung.«
Wallis erhob sich und folgte ihm. Er fühlte sich ein bißchen wie in Trance, offenbar war er
noch nicht richtig wach...
Das Gelände der Hauptzentrale von Wallis Industries umfaßte achtzig Quadratkilometer.
Kleinere Strecken pflegte man dort mit dem Schwebermodell Feodora zu bewältigen, das
ansonsten überwiegend auf Sportanlagen eingesetzt wurde, insbesondere auf Golfplätzen. Der
Feodora (benannt nach seiner Erfinderin Theo-dora Feodora), ein offener Bodenschweber, der
maximal drei Meter aufsteigen konnte, bot vom einer Person ausreichend Platz; der hintere
Teil diente als Ablage von Gepäck oder als Notsitz.
Den Weg vom Verwaltungsgebäude zum äußeren Labortrakt legten Terence Wallis und
Robert Saam mit zwei Feodoras zurück - auf dem Notsitz wären sich beide etwas lächerlich
vorgekom
men. Sie parkten direkt vor dem Eingang und gingen hinein. Wal-lis fühlte sich noch immer
etwas zerschlagen, was er dem abrupt abgebrochenen Nachmittagsschläfchen zuschob.
Begünstigt wurde seine trübe Stimmung durch die allmählich einsetzende Dämmerung.
»Wir müssen uns beeilen, bevor es für die Freiluftveranstaltung zu dunkel wird«, bemerkte
Saam auf dem Weg zum Laborraum mit angrenzender Werkstatt. »Na ja, notfalls findet die
Vorführung bei Scheinwerferlicht statt.«
In der Werkstatt wurde der Unternehmer bereits sehnsüchtig erwartet. Ramoya, Lautrec und
Lindenberg standen verteilt im Raum und grienten, als hätten sie gerade heimlich aus Omas
Keksdose genascht. Auf einem Tisch lag eine ein Zentimeter dicke, quadratische Platte von einem Meter Kantenlänge, an der Wallis auf den ersten Blick nichts Besonderes entdecken konnte. Das Material, aus dem sie gefertigt war, war tiefschwarz, wies aber einen leichten Stich ins Dunkelrote auf. »Heb sie hoch«, forderte Saam seinen Freund und Gönner auf, »und sag uns, was du von unserer neuesten Erfindung hältst.« Wallis packte mit beiden Händen zu und riß die Platte mit einem kräftigen Ruck in die Höhe. Er hatte erwartet, daß sie ordentlich was wiegen würde, doch zu seinem Erstaunen war sie verhältnismäßig leicht. Beinahe wäre er rücklings umgefallen, soviel unnötigen Schwung hatte er genommen. »Fünf Kilo«, verriet ihm der Inder. »Trotz des Leichtgewichts braucht man sie nicht mit Samthandschuhen anzufassen, die Platte hält einiges aus.« »Werden wir ja sehen«, brummelte Wallis und warf die Platte voller Wucht zu Boden, wo sie unbeschädigt liegenblieb. Lautrec reichte ihm einen Vorschlaghammer. »Probieren Sie ruhig mal, ob Sie das Ding zertrümmern können. Nur zu!« Wallis verzichtete. »Für derlei Spielereien ist mir meine Zeit zu kostbar. Ich glaube euch gern, daß die Platte meinen Hammer 96 schlägen standhält. Aber was ist daran so besonders? Schon um die Jahrhundertwende kamen handliche Glasplatten auf den Markt, die als nahezu unzerbrechlich angepriesen wurden und seither von Hausfrauen in der Küche als Schneidebretter benutzt werden. Daß es sich dabei um ein Abfallprodukt handelt, entstanden bei diversen wissenschaftlichen Versuchsreihen der NASA, weiß heute kaum noch jemand. Seit damals wurde das Material laufend verbessert, so daß Industrie und Handel damit noch immer gute Geschäfte machen. - Ist das wirklich alles, was ihr mir zu bieten habt? Dieses unscheinbare schwarzrote Quadrat ist das Endergebnis eurer geheimgehaltenen Tests? Aufgrund eurer Heimlichtuerei hatte ich das achte Weltwunder erwartet. Statt dessen präsentiert ihr mir die neueste Weiterentwicklung herkömmlicher Haushaltsartikel.« Selbstverständlich wußte er, daß seine hochbezahlten Mitarbeiter es niemals wagen würden, ihre kostbare Arbeitszeit und die ihnen zur Verfügung stehenden Forschungsgelder für derartigen Firlefanz zu verschwenden. Die Erfindung hatte es garantiert in sich, davon war Wallis felsenfest überzeugt. Doch es machte ihm Spaß, das Forscherquartett zu foppen. Das war die Rache dafür, daß sie ihn so lange hatten zappeln lassen. Regina, Saram und George konnte er damit nicht täuschen, sie durchschauten ihn auf Anhieb. Nur Robert Saam reagierte empfindlich auf den Spott. »Eigentlich hatte ich geplant, mittels verschiedener im Vorfeld erfolgreich verlaufener Werkstattests die hohe Belastbarkeit des Materials zu demonstrieren«, sagte er verärgert zu Wallis. »Danach sollte dann das große Finale folgen. Aber du bist der Mühe nicht wert, deshalb kommen wir gleich zur Sache. Gehen wir!« Ohne eine Erwiderung abzuwarten ging er voran. »Wo will er hin?« fragte Wallis Saams Assistenten. »Zum nördlichen Testgelände«, antwortete Regina Lindenberg. »Dort haben wir ein bißchen was aufgebaut. Kommen Sie mit. Sie werden staunen.« Das betonierte Gelände lag im äußeren Grenzbereich des Indu-striegrundstücks, in sicherer Entfernung von den Werkstätten und Labors. Dort wurden überwiegend Tests durchgeführt, bei denen man eventuell Gefahr lief, die Gebäude zu beschädigen. Von außen her war das Gelände nicht einsehbar, zudem wurde es Tag und Nacht suprasensorisch überwacht. Saam und seine Begleiter gelangten über einen der wenigen firmeneigenen Transmitter dorthin, deren Benutzung nur legitimierten Mitarbeitern erlaubt war. Wallis hatte die quadratische Platte bei sich. Ein paar hundert Meter vom Transmitter entfernt stand eine mächtige Apparatur, geeignet zum Einspannen von Zielscheiben und Materialien aller Art. Etwas ähnliches gab es auch auf Schießanlagen, auf denen Handfeuerwaffen auf ihre Treffsicherheit und Zerstörungskraft hin getestet wurden, allerdings waren dort die Halterungen wesentlich kleiner. Für Biaster und Karabiner war das völlig ausreichend... ... nicht aber für schwere Impulsgeschütze - und ein solches war exakt auf die Mitte des soliden Materialhalters gerichtet. Es handelte sich um ein mobiles Geschütz, das bereits öfter zu Testzwecken auf dem Gelände von Wallis Industries eingesetzt worden war. Der Milliardär verfügte über eine Sondergenehmigung, die ihm den Einsatz der Militärwaffe auf seinem Grundstück erlaubte, jedoch nur für Versuche, nicht zur Verteidigung. Die Reichweite des Impulsstrahls war enorm,
ließ sich aber drosseln, schließlich wollte man damit Materialprüfungen durchführen und nicht die benachbarten Ortschaften auslöschen. Ein Kegelroboter näherte sich, nahm Terence Wallis die mitgebrachte Platte ab und schwebte in Richtung der Haltevorrichtung davon. Während der Roboter die Platte einspannte, wurde das Geschütz hochgefahren. Wallis schaute kopfschüttelnd zu. Zwar hatte er nahezu unbegrenztes Vertrauen in Saam und seine Truppe, doch es war für ihn nur schwer vorstellbar, daß dieses dünne »Frühstücks 98 brettchen« die Aktion unbeschadet überstehen würde.
»Was denkst du, was passiert, wenn wir gleich darauf schießen?« fragte Robert ihn.
»Kann ich dir genau sagen. Robbte. Der Energiestrahl wird mitten durch eure Supererfindung
hindurchjagen und sie total zerstören. Der Volksmund spricht in einem solchen Fall von
Kanonen, mit denen man auf Spatzen schießt.«
»Und du glaubst nicht, daß die Platte den Beschuß aushält?«
»Nein, schließlich habe ich sie problemlos durch die Gegend geschleppt. Wäre sie aus Tofirit
oder noch widerstandfähigerem Material gefertigt worden, hätte ich sie keinen einzigen
Millimeter bewegen können. Jedenfalls nicht ohne einen tragbaren Fesselfeldgenerator.«
»Na, dann komm mal mit«, forderte Saam ihn auf.
Wallis folgte ihm.
Auf einem unbetonierten Teil des Geländes war ein weiteres Demonstrationsobjekt errichtet
worden. Dort hatte Saam zwei etwa eineinhalb Meter hohe, klobige Stützblöcke aufstellen
lassen. Der Abstand der Blöcke zueinander betrug neunzig Zentimeter. Obenauf hatte man
eine der schwarzrötlichen Platten gelegt. Fünf Zentimeter der Platte lagen auf dem linken und
fünf Zentimeter auf dem rechten Block. Das Mittelteil wurde nicht extra abgestützt, es
»schwebte« sozusagen frei über dem Erdboden, in eineinhalb Metern Höhe.
Auf der Mitte der Platte befand sich ein würfelförmiger Gegenstand. Wallis konnte nicht
erkennen, was es war, denn der Würfel war mit einem Tuch abgedeckt. Die Stützblöcke waren
ein paar Zentimeter ins Erdreich gedrückt worden, woraus Wallis schloß, daß der Kubus alles
andere als ein Leichtgewicht war. Erstaunlicherweise bog sich die Platte nicht durch.
Robert Saam streckte die Hand nach dem Tuch aus, ergriff es an einem Zipfel und zog es dann
wie ein Zauberkünstler mit einem Ruck weg.
Terence Wallis verschlug es fast die Sprache. Nur ein einziges
Wort kam über seine Lippen. »Tofirit.«
Saam nickte. »Ganz recht. Dieser Würfel besteht aus purem Tofirit.«
»Aber... aber dann müßte er ein Gewicht von mehreren tausend Tonnen haben«, stammelte der
Industrielle.
»Müßte?« wiederholte Saam amüsiert. »Er hat ein Gewicht von mehreren tausend Tonnen.«
»Unmöglich!« widersprach Wallis. »Der Tofirit-Kubus würde deine lächerliche Platte in
Stücke zerreißen.«
»Wie du mit eigenen Augen sehen kannst, ist das nicht der Fall. Der neuartige
Verbundwerkstoff Carborit, aus dem die Platte gefertigt wurde, hält noch viel mehr aus.«
Beide Männer begaben sich zum Geschütz, das inzwischen auf die eingespannte Platte
ausgerichtet worden war. Der Kegelroboter
hatte sich aus der Gefahrenzone zurückgezogen, das Schußfeld war frei.
Saam gab den Feuerbefehl.
Mehrere Strahlensalven wurden auf die Platte abgefeuert, ohne sie zu zerstören. Lediglich die
Haltevorrichtung bebte, blieb aber stehen, da sie fest mit dem Betonboden verbunden war.
Das Impulsgeschütz wurde wieder heruntergefahren.
Wallis und Saam begutachteten die eingespannte Platte. Sie wies keine sichtbaren Schäden
auf. Erst bei genauerem Hinsehen glaubten die beiden, eine winzige Beschädigung am Rand
zu erkennen, waren sich aber nicht ganz sicher.
»Unter dem Mikroskop könnte man vielleicht was erkennen, aber mit bloßem Auge ist da
nichts zu machen«, meinte Wallis. »Bei meiner Morgenrasur ziehe ich mir tiefere Kratzer zu.«
»Das ist kein Kratzer«, sagte Robert voller Überzeugung. »Es handelt sich zweifelsfrei um
eine optische Täuschung. Hätte mich andernfalls auch gewundert. Um Carborit anzukratzen,
braucht es schon etwas mehr als ein bißchen Geschützfeuer.«
100 General Gutter grinste plötzlich. Alsop verstand dieses Grinsen nicht, aber er sah keine angrei-^nden Raumschiffe oder Flash der Insektoiden in der Luft, keine dt Panzern vorrückenden Bodentruppen und erst recht keine
In-.Jnterie. Er sah nur einen grinsenden General und Soldaten, die ge-iangweilt Däumchen drehten und keine Anstalten trafen, in Dek-Icung zu gehen oder Schutzmaßnahmen zu ergreifen. • Wieder erfolgte ein Schlag, der den Boden erzittern ließ. Irgend •Iwo am Berghang löste sich Geröll und polterte talwärts. Irgendwo dröhnte etwas. Im Innern des Berges, behauptete Alsops Programmgehim. Unterirdisch! t »Was geschieht hier?« fragte der Cyborg. »Die Zyzzkt verlieren Flash«, behauptete Gutter, und seine Iganze Mimik drückte Erleichterung, Heiterkeit und sogar etwas sarkastischen Spott aus. »Das war eben der zweite...
ah, der dritte,
feder vierte...«
Es dröhnte und zitterte schon wieder.
»Was soll das heißen?« fragte jetzt auch Gisol. , »Die Zyzzkt«, erklärte Gutter, »versuchen
offenbar, uns mit Flash anzugreifen. Sie durchdringen mit ihren Intervallfeldern den Boden
und wollen uns von unten her angreifen, um plötzlich mitten unter uns aufzutauchen. Aber wir
haben tief im Boden unter dem Gefechtsstand spezielle Minen anbringen lassen. Bei Kontakt
[mit einem Intervallfeld aktivieren sie einen starken Mix-4-Impuls und gleich anschließend
eine Sprengladung. Resultat: Der Flash wird zerstört. Ende des Angriffs. Was Sie hören und
was unter Ihren Füßen zittert, sind die Explosionen.«
Alsops Zweites System ließ in diesem Fall keine Gefühlsregung zu, aber Gisol reagierte auf
diese Erklärung deutlich - zumindest |für Alsop, der lange genug mit ihm zu tun hatte. Gutter
erkannte lyielleicht nichts, aber das war vielleicht auch besser so.
Denn Gisol wurde in diesem Moment bewußt, welches Risiko er eingegangen war, als er mit
Alsop im Flash hierher geflogen war. Um nicht geortet zu werden, war auch er in das Inneres
des Planeten eingedrungen...
Und wenn die Pscheriden ihre Intervallfallen nicht nur im Bereich des Gefechtsstandes,
sondern auch an anderen Stellen angelegt hatten, war es mehr Glück als Verstand, daß sie
ihren Anflug überlebt hatten!
»Aber trotz aller Abwehrerfolge stehen wir auf verlorenem Posten«, erklärte Gutter. »Wir
können unsere Welt auf Dauer nicht gegen den fortwährenden Ansturm der Zyzzkt
verteidigen, wie viele von ihnen wir auch immer töten. Wir werden über kurz oder lang von
der schieren Masse des offensichtlich unerschöpflichen Nachschubs von Wimmelwilden
erdrückt werden. Die Regierung hat zwar schon vor Jahren eine Reihe von zivilen
Evakuierungsschiffen bauen lassen, die mehrere Millionen Pscheriden ins All retten könnten.
Aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir haben keine Lufthoheit mehr und können sie mit den
wenigen Kampfraumem, über die wir verfügen, auch nicht wieder herstellen.«
Gisol sah ihn nachdenklich an. Dann bat er den General, sich kurz mit Alsop unter vier Augen
beraten zu dürfen.
Gutter nickte. Er ließ die beiden allein und kehrte in sein Büro im Gefechtsstand zurück.
»Ich habe da eine Idee«, sagte Gisol auf Angloter; er wollte keine falschen Hoffnungen
wecken, falls doch jemand in der Nähe die Ohren spitzte, etwas mitbekam und Gerüchte
verstreute. Es wäre ihm lieber gewesen, das Gespräch in Gutters Arbeitsraum führen zu
können, aber nun waren sie eben draußen.
»Was meinen Sie?« fragte Alsop mißtrauisch.
»Ich meine, daß unsere insgesamt zwanzig Raumer der vereinigten Terranischen und
Worgunischen Flotte«, er zeigte dabei ein breites Jim-Smith-Grinsen, »durchaus in der Lage
sind, den Pscheriden den Weg freizuschießen.«
»Zwanzig Schiffe gegen mehrere hundert Ringraumer der 102
Zyzzkt in diesem System? Haben Sie den Verstand verloren, Gisol? Die schießen uns
zusammen, ehe wir überhaupt wissen, was
läuft!« »Die? Nie im Leben!« wehrte der Worgun ab. »Alsop, Sie vergessen dabei, daß die verdammten Zyzzkt unter erfreulich extremem Tofiritmangel leiden! Deshalb fliegen ihre Schiffe alle im Sparmodus. Dessen bin ich mir absolut sicher. Unsere zwanzig Raumer aber sind vollgetankt bis zur Halskrause, um mal eine Ihrer terranischen Floskeln zu verwenden, und müßten durchaus in der Lage sein, im Vollbetriebsmodus einen Fluchtweg für die Pscheriden freizuschießen.« Dem mußte Alsop zustimmen. Vielleicht würden sie nicht die ganze Flotte der Zyzzkt kampfunfähig machen können. Aber es reichte sicher, ein dermaßen heilloses Durcheinander anzurichten, daß die Evakuierungsraumer der Pscheriden starten und durchbrechen konnten. Es war alles weniger eine Frage der Kampfkraft, sondern eine der Überraschung und der
Vorbereitungszeit. Denn Millionen Pscheriden zu evakuieren ließ sich nicht von einer Sekunde zur anderen durchführen. Die waren dabei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil Pscherid von Milliarden Bewohnern und Zwangsrücksiedlem der Kolonialwelten unwahrscheinlich dicht besiedelt war. Wen traf die Auswahl, wer mußte zurückbleiben? Das war eine Aufgabe, für die Alsop lieber nicht die Verantwortung übernehmen wollte. Rein logistisch war es sicher zu bewältigen, aber da war noch der menschliche Faktor. Denn wer auf Pscherid bleiben mußte, starb oder wurde versklavt, so wie die Worgun auf Epoy versklavt worden waren. Eine Rückkehr der Raumer und ein zweiter oder dritter Evakuierungs-schub war undenkbar. Und selbst fünf bis zehn Flüge würden immer noch nur einen Teil der Bewohner dieses Planeten retten. Aber die Zyzzkt würden dafür sorgen, daß ein zweiter Versuch nicht stattfand. Ihnen konnte nicht daran gelegen sein, irgendwo in Weltraumtiefen Keimzellen weiteren Widerstands zuzulassen. Mit Sicherheit waren sie in der Lage, kurzfristig dermaßen starke Flotten verbände nach Pscherid zu entsenden, daß zwanzig Ring-raumer selbst im Vollbetriebsmodus nicht einmal mehr den Hauch einer Chance hatten. Die Macht der Wimmelwilden war schon immer die Macht ihrer großen Zahl gewesen... Trotzdem - es war einen Versuch wert. So konnte wenigstens einigen Pscheriden, ein paar unbedeutenden Millionen, die Freiheit erhalten werden. Alsop nickte. »Wir versuchen es«, stimmte er zu. Gemeinsam kehrten sie in Gutters Büro zurück. »Wir haben euren Planeten mit einem Flash erreicht«, sagte Gi-sol. »Er befindet sich in einem Versteck jenseits des Dorfes, das vernichtet wurde. Können Sie uns dorthin bringen lassen? Wir werden mit dem Flash hierher zurückkehren, und dann werden wir Ihnen, werden wir dem Volk der Pscheriden helfen.« »Mit einem Flash?« fragte Gutter etwas spöttisch. »Meinen Sie nicht, die Zyzzkt würden sich eher totlachen?« »Dann wäre der Zweck der Mission auch erfüllt«, sagte Gisol sarkastisch. »Aber wir haben da noch eine kleine Überraschung, an der sich die Wimmelwilden verschlucken werden.« »Wenn es vielleicht auch nichts nützt, kann es sicher nichts schaden«, sagte Gutter fatalistisch. »Hoher, ich stelle Ihnen einen Schweber zur Verfügung.« 6. An der Landestelle angekommen, verließen Gisol und Alsop den Schweber und trugen dem Piloten auf, zurückzukehren. Der Wor-gun wollte vermeiden, daß jemand zuviel sah... Erst als die Maschine außer Sichtweite war, aktivierte er seinen Rash. Die Tamvorrichtungen ließ er dabei eingeschaltet. Gemeinsam flogen sie mit dem zylindrischen, etwas plump aussehenden Flugkörper zur Gefechtsstelle zurück. Alsop fragte sich, weshalb Gisol ihn mitgenommen hatte. Den Flash hätte er auch allein holen können. Wollte er Alsop in seiner Nähe haben, um ihn zu kontrollieren? Wollte er vermeiden, daß der Cyborg in Gisols Abwesenheit weitere kritische Bemerkungen von sich gab? Alsop fragte ihn offen danach. Der Mysterious gab ein trockenes Lachen von sich. »Sie sind sehr mißtrauisch, Alsop, und das ist nicht einmal schlecht, aber Sie dürfen mir glauben, daß ich Sie aus sehr eigennützigen Gründen dabei haben will. Als wir nach unserer Landung von Pscheriden angegriffen wurden, hat man mich paralysiert. Sie als Cyborg aber konnten aktiv bleiben und die Angreifer dadurch überraschen. Deshalb habe ich Sie gebeten mitzukommen. Es hätte ein weiterer Angriff erfolgen können, diesmal sicher nicht von den Pscheriden, dafür aber von den Wimmelwilden. Und Sie mit Ihrer hohen Reaktionsschnelligkeit und Ihrer Unverwundbarkeit...« »Ich bin alles andere als unverwundbar«, widersprach Alsop. »Schon eine simple Kugel kann mich töten, und wenn mich der Nadelstrahl aus einem Flash oder einem der Zyzzkt-Panzer er wischt, bin ich schneller eine kurz aufleuchtende Gaswolke, als Sie nachdenken können.« »Aber Sie sind in jeder Hinsicht wesentlich belastbarer, schneller und auch stärker als ich«, stellte der Mysterious fest. »Sie sind hier so etwas wie meine Lebensversicherung.« »Zu viel der Ehre«, spöttelte Alsop. Diesmal verzichtete Gisol darauf, mittels Intervallfeld unterirdisch zu fliegen. Jetzt, da er von den Minen wußte, ging er lieber das Risiko ein, oberirdisch zu fliegen. Der Tarnung seines Flash schien er dennoch nicht zu trauen, denn er hielt die Maschine immer dicht über dem Boden und benutzte die Berglandschaft als Deckung, wo immer es ging. Natürlich - er hatte es bei den Gegnern, den Zyzzkt, mit gleichwertiger Technik zu tun! Möglicherweise konnten sie ihn trotz allem orten.
Während der Flash sich recht langsam vorwärtsbewegte, bereitete Gisol eine Nachricht an Ren Dhark vor, die er als Kompri-Spruch absenden wollte. Er besaß zwar keinen To-Funk, mit dem er die Sendung so extrem gebündelt hätte verschicken können, daß sie nur das angepeilte Raumschiff erreichte und schon wenige Meter abseits nicht mehr empfangen werden konnte, aber eine Automatik seines Ring-raumers würde diese Botschaft dekomprimieren und mit Mikrowellen geringster Stärke an die POINT OF weiterleiten, so daß die Tarnung der zwanzig Schiffe perfekt blieb. Den Text der Nachricht überspielte er kurz zur Gegenkontrolle auf einen Minibildschirm an Alsops Instrumentenpult - die Flash konnten von beiden Insassen gleichberechtigt gesteuert werden, die in den kleinen Maschinen Rücken an Rücken zueinander saßen. Leider hatten die Erbauer dieser Raumboote keine Miniaturausgaben der Bildkugeln installiert, mit denen in den Ringraumem die Umgebung des Schiffes dargestellt wurde, sondern über den beiden Insassen je einen Bildschirm angebracht, der Flashpiloten dazu zwang, ständig den Kopf zu verdrehen und auf Dauer Genickschmerzen zu riskieren. Nach dem Sinn dieser Konstruktion befragt, hatten die Salter seinerzeit geäußert, die Flash seien nur in Ausnahmefällen von den Mysterious geflogen worden, ansonsten vorwiegend von Robotern, die ein drittes Auge auf der Schädeldecke besaßen, nur widersprach dieser Ausnahme-Theorie die Tatsache, daß es in den Flash genau wie in der POINT OF und der 106 EPOY Gedankensteuerungen gab. Die wurden aber von Robotern nicht benötigt. Seit dem Auftauchen Gisols wußten sie nun alle, daß die Mysterious Gestaltwandler waren und jederzeit ein drittes Auge auf dem Schädel ausbilden und bei Nichtgebrauch wieder verschwinden lassen konnten. Für Humanoide war die Bildschirmanordnung weiterhin äußerst lästig. »Text bestätigt«, sagte Alsop knapp. »Kein Einwand.« Der Flash sendete die Nachricht als ultrakurzen, extrem komprimierten Hyperfunkimpuls an die EPOY. Diesen Impuls konnten die Zyzzkt garantiert nicht auffangen, oder sie mußten ihn für eine Störung halten. Entzerren konnten sie ihn auch nicht, weil sie sicher erst gar nicht auf diese Idee kamen und zum anderen dafür den Komprimierungsmodus hätten kennen müssen. Währenddessen erreichten sie den Gefechtsstand, der gerade für die Verlegung an einen anderen Ort vorbereitet wurde. Von den beiden Bauern, die sich rekrutieren lassen wollten, war nichts mehr zu sehen. Vermutlich waren sie bereits irgendwo an der Arbeit und hatten sich ihr Soldatensein bestimmt nicht so vorgestellt, daß sie Unterkünfte abbauen und Einrichtungen in Schweber zu verladen hatten. Welch ein krasser Unterschied zum mörderischen Kampf gegen mörderische Invasoren... Gisol parkte den Flash etwas abseits, außerhalb des unmittelbaren Sichtbereichs der Pscheriden, und ließ die Tamvorrichtungen auch weiterhin eingeschaltet. Er blieb an Bord, während Alsop sich bei General Gutter zurückmeldete. »Was werden Sie nun tun, um uns mit Ihrem kleinen Raumfahrzeug zu helfen?« fragte Gutter. »Abwarten«, sagte der Cyborg. Gutter reagierte verdrossen; er fühlte sich an der Nase herumgeführt. Aber weder Alsop noch Gisol wollten ihn in den Plan einweihen, ehe nicht von Ren Dhark das »Ja« kam. Sie wollten im Falle einer Ablehnung durch den Commander die Pscheriden nicht erneut in tiefe Hoffnungslosigkeit stürzen. Nur wenn feststand, daß Ren Dhark das Risiko nicht zu groß war, sollte Gutter eingeweiht werden. Lehnte Dhark ab, mußten sie sich etwas anderes einfallen lassen. Etwa eine Stunde später tauchte Gisol auf. Er hatte seinen Flash verlassen und wieder gesichert. »Die EPOY hat einen ebenso kurzen Funkimpuls zurückgesendet«, berichtete er. »Und?« »Dhark ist einverstanden. Die Rotte wird sich noch drei Tage bedeckt halten und dann zu einem genau festgesetzten Zeitpunkt einen bestimmten Fluchtkorridor freikämpfen. Die Pscheriden haben also drei Tage Zeit, um wenigstens ein paar Millionen ihres Volkes ins All zu retten.« »Was heißt das?« stieß Gutter hervor. »Haben Sie etwa doch eine Hilfsflotte zusammengestellt? Warum haben Sie das dann vorhin abgestritten. Hoher?« »Um Sie vor Enttäuschungen zu bewahren«, sagte Gisol. »Denn das Kommando über diese Rotte habe nicht ich selbst. Außerdem - es sind nur zwanzig Raumer. Zu wenig, um sich große Illusionen zu machen. Aber der Commander der Planeten, der die Rotte befehligt, erklärte sich mit unserem Plan einverstanden.« »Commander der Planeten«, echote Gutter. »Das ist ein ziemlich großer Titel.« »Es ist auch ein ziemlich großer Mann«, sagte Gisol, und Alsop glaubte für einen Moment
tatsächlich so etwas wie Bewunderung durchklingen zu hören. »Ein Mann, der in einem Jahr
mehr tat als wir Worgun in tausend.«
»Wie sieht dieser Plan aus?« kam Gutter auf den Kern des Gesprächs zurück. Alsop lächelte.
»Hören Sie zu...«
108 Über abhörsichere Glasfaserkabel gab Gutter diese Nachricht an das Oberkommando weiter.
Doch die Antwort bestand eher in einer Hiobsbotschaft: Bei ihrem Vormarsch auf die
Hauptstadt Pscheridorr hatten die Zyzzkt die Ebene vor der Stadt eingenommen, unter der sich
die Hangars mit den Ruchtschiffen befanden. Die Raumabwehrgeschütze der Hauptstadt
mußten bereits im Bodenkampf eingesetzt werden, so daß schon sehr bald auch mit einem
Direktangriff zyzzktischer Raumlandetruppen zu rechnen war!
Es gäbe vielleicht noch eine Chance, die Ebene - wenigstens vorübergehend - noch einmal
freizukämpfen, wenn die Zyzzkt nicht ihre drückende Luftüberlegenheit durch die Rash
hätten.
»Drückende Luftüberlegenheit?« hakte Alsop nach. »Über wie viele Rash verfügen die Zyzzkt
denn überhaupt?«
Die Terraner hatten diese kleinen Raumboote nur in der POINT OF vorgefunden. Gerade mal
28 Stück, von denen einige inzwischen zerstört waren. Kein einziger der S-Kreuzer besaß
auch nur ein einziges dieser Beiboote. Da waren selbst die Tel mit ihren Xe-Rash gewaltig im
Vorteil. Gisols EPOY verfügte zwar über Rash, aber ob auch seine anderen neun Ringraumer
damit bestückt waren, hatte er bislang noch nicht preisgegeben.
Deshalb konnte sich der Cyborg selbst im Bereich seines Logiksektors nur schwer vorstellen,
daß die Insektoiden über dermaßen viele Rash verfügten, daß sie die Lufthoheit über einem
ganzen Planeten halten konnten.
»Sie besitzen offenbar nur eine begrenzte Anzahl von Rash, die sie scheinbar
schwerpunktmäßig beim Kampf um Pscheridorr einsetzen«, erwiderte Gutter zögernd.
»Wie wäre es dann mit einem Entlastungsangriff auf das planetare Hauptquartier der Zyzzkt?«
schlug Alsop vor. »Dann sind sie gezwungen, ihre Luftwaffe abzuziehen, um ihr
Hauptquartier zu schützen.«
Gutter sah ihn verblüfft an.
»Oder gibt es so ein Hauptquartier nicht?« fragte Alsop weiter
nach.
»Natürlich haben sie eines eingerichtet«, sagte Gutter.
»Etwas anderes hätte mich auch gewundert«, ließ sich Gisol vernehmen. »Es wäre sonst nicht
ihre Art zu kämpfen.«
»Unseren Informationen zufolge ist es rund 1500 Kilometer von Pscheridorr entfernt«,
erklärte Gutter. Natürlich nannte er nicht diesen Begriff, aber Alsops Programmgehirn
rechnete die Daten in terranische Maße um. Gutter fuhr bedauernd fort: »Aber mit den
geringen Kräften, die wir Pscheriden noch aufzubringen in der Lage sind, ist ein Angriff
einfach nicht mehr durchführbar.«
Alsop schüttelte den Kopf.
»Alles ist machbar, Herr Nachbar«, sagte er. »Man muß nur andere oder neue Wege gehen.
Ich habe da einen Plan...«
Als Terence Wallis auf seiner Büroliege erwachte, schien die Sonne zum Fenster herein. Im
Hochsommer hätte er sofort die Vorhänge zugezogen und die Klimaanlage eingeschaltet, doch
Anfang Mai empfand man etwas Licht und Wärme noch als sehr angenehm.
Der Unternehmer war vollständig bekleidet. Er erhob sich und ging nach nebenan in seinen
privaten Waschraum. Seine Beine fühlten sich wie Pudding an.
Im Kopf schien sich ein Kinderkarussell zu drehen. Die Kinder kreischten vor Vergnügen, und
der Karussellmeister ließ über seine Musikanlage in einem fort dasselbe Lied ertönen:
»Sixteen Tons« von »The New Golden Gate Quartett« - ein Evergreen, der nichts von seiner
Ursprünglichkeit eingebüßt hatte, obwohl er seit seiner Entstehung diverse freie
Übersetzungen über sich hatte ergehen lassen müssen. Die am meisten gespielte Fassung
dieser Seemannsballade handelte von einem Schiff, das Mary Ann hieß und seinen Kapitän
mit ins kühle, nasse Grab nahm.
Aus dem Spiegel heraus wurde Wallis von einem fremden Mann
110 angeblickt. Dieser zerknautschte Typ konnte unmöglich er sein. Oder doch? Er versuchte, sich an die letzten Stunden zu erinnern. Nach seiner Heimkehr aus dem All hatte er sich ein bißchen aufs Ohr gelegt. Und dann war da noch dieser seltsame Traum... nur ver schwommen konnte er sich daran erinnern. Wallis fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte. Der Blick auf das Chronometer traf ihn wie ein Schock. Offenbar hatte er fast einen ganzen Tag lang auf der Büroliege zugebracht, einschließlich der dazugehörigen Nacht. Kein Wunder, daß er sich total zerschlagen fühlte. Warum hatte Robert Saam ihn nicht geweckt? Trotz seiner Kopfschmerzen mußte Terence Wallis unwillkürlich schmunzeln, als ihm nach und nach Einzelheiten aus seinem Traum einfielen. Saam hatte ihm die Stabilität eines völlig neuen Verbundwerkstoffs demonstriert, indem er mit einem Impulsgeschütz auf eine dünne, leichte Platte gefeuert hatte, die angeblich aus jenem Werkstoff gefertigt worden war. Das Testobjekt hatte dabei nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Außerdem hatte die Platte das Gewicht eines immens schweren Tofiritwürfels verkraftet, ohne sich durchzubiegen. »Sixteen Tons« rumorte es in Terence' Brummschädel, immer und immer wieder. Wieso ausgerechnet dieses Lied? Sechzehn Tonnen. Der Würfel hatte etliche tausend Tonnen mehr gewogen. Nachdem er sich entkleidet hatte, unterzog sich Wallis einer belebenden Heiß-Kalt-Dusche. Anschließend begab er sich zurück in sein privates Ruhezimmer. Aus einem schmalen Kleiderschrank entnahm er ein paar frische Kleidungsstücke. Während er sich ankleidete, kamen ihm weitere Details aus seinem merkwürdigen Traum in den Sinn. Saam hatte die extreme Stabilität seines neuen Werkstoffs mit der Hinzufügung von Tofirit erklärt. »Lächerlich«, murmelte Wallis und streifte sich eine seiner bunten Westen über. »Hätte die Platte Tofirit enthalten, hätte ich sie niemals tragen können.« Er öffnete die Zwischentür zu seinem Büro und trat ein. Es gab viel zu tun, das mußte er jetzt anpacken. Auf seinem Schreibtisch stand eine Flasche Mineralwasser, gleich daneben ein Glas. An der Rasche lehnte ein Notizzettel, davor lagen zwei Tabletten. Wallis las die Notiz. Guten Morgen, Chef! begrüßte ihn seine Sekretärin. Ausgeschlafen? Ich habe vorsichtshalber alle Termine für heute vormittag abgesagt. Die Whiskyflaschen habe ich weggeräumt und das Büro gelüftet. Falls es Ihnen nicht gutgeht, nehmen Sie die beiden Tabletten, sie wirken Wunder bei einem Alkoholkater. »Alkoholkater?« entfuhr es dem Unternehmer, der sich gar nicht daran entsinnen konnte, nach seiner Rückkehr von Eden auch nur einen Tropfen Single Malt getrunken zu haben. Er wollte nach nebenan ins Vorzimmer gehen, um seine Sekretärin zu befragen. Zuvor nahm er die beiden Tabletten ein. Vielleicht halfen sie ja gegen das Karussell in seinem Kopf... In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Medizin enorme Fortschritte gemacht. Zwar gab es 2059 noch immer kein wirksames Mittel gegen stetigen Alkoholmißbrauch (abgesehen vom Austausch geschädigter durch nachgezüchtete Organe), doch wer nur mal gelegentlich einen über den Durst trank, konnte sich hinterher weitgehend von den Nebenwirkungen befreien dank der »Katerpille«, die Körper und Geist wieder in Schwung brachte. Plötzlich sah Terence Wallis alles ganz klar. Seine Gedächtniszellen regenerierten sich, zumindest die, die der Alkohol nicht ganz und gar ausgelöscht hatte. Carborit! Nein, das war kein Traum gewesen. Die Vorführung auf dem Außengelände hatte tatsächlich stattgefunden, im Beisein von Robert Saam und seinen Assistenten. Im Anschluß an die Testreihe hatten sich alle zu weiteren Gesprächen ins Büro des Industriellen begeben. Die Sekretärin hatte
112 bereits Feierabend gemacht. Nachdem man zu fünft auf die neue Erfindung angestoßen hatte, hatte sich Wallis mit Saam über die Einsatzmöglichkeiten von Carborit unterhalten. Lindenberg, Ramoya und Lautrec hatten dem Zwiegespräch schweigend zugehört und amüsiert mitverfolgt, wie das Erstaunen des Industriellen immer größer geworden war...
»Bei den Mysterious war Tofirit knapp und dementsprechend wertvoll. Heutzutage sind wir besser dran, denn wir können zunächst einmal aus dem Vollen schöpfen. Die Tofiritvorräte im Achmed-Sy stem sind gewaltig. Gewaltig, aber nicht unendlich, Terence. Es ist fast schon eine Sünde, das edle Metall für den Bau von Raumschiffen zu verwenden.« »Aber es gibt nichts Besseres, Robbie, jedenfalls nicht nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.« »Ein Großteil der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Menschheit beruht auf meinen Forschungen. Das gilt auch für den Bau der Ikosaederraumschiffe. Ich erinnere mich noch gut an unseren ersten Testflug mit der IKO l. Seinerzeit war dieses Schiff eine Sensation, etwas Einmaliges! Doch der Fortschritt ruht sich nicht auf seinen Lorbeeren aus, er schreitet unermüdlich voran. Tofirit - das war gestern. Carborit ist morgen. Obwohl ich zugeben muß, daß der neue Verbundwerkstoff ohne Tofirit gar nicht machbar wäre.« »Willst du damit andeuten, die Fünfkiloplatte, die ich mir problemlos unter den Arm klemmen konnte, enthält Tofirit? Du willst mich wohl verkohlen?« »Kohle ist genau das passende Stichwort. Von jeher war ich von den leichten, aber hochfesten Kohlefaserverbundstoffen fasziniert, die um die Jahrtausendwende herum in höchster Perfektion entwickelt wurden. Allerdings ist nichts so perfekt, daß man es nicht noch mehr perfektionieren könnte. Mittels eines speziellen Verfah rens der Hyperoszillation ist es mir gelungen, bei einer Temperatur von nur 600 Grad Celsius einen Werkstoff zu erschaffen, in dem Kohlefasem und Tofirit einen Verbund eingehen.« »Nimm mich nicht auf den Arm, Robbie. Was du mir hier schilderst, ist völlig unmöglich. Die schwarze Platte mit dem dunkelroten Schimmer, die ich in den Händen hielt, war niemals aus Tofirit, nicht einmal teilweise, das hätte ich doch am Gewicht gemerkt.« »Um den neuen Verbundstoff hochfest zu machen, reichen extrem wenige Tofiritatome aus, Terence. Die könnte sogar ein Greis wie du heben, ohne sich einen Leistenbruch zu holen.« »Ich und ein Greis? Na hör mal! Ich bin achtundvierzig.« »Jeder, der über dreißig ist, zählt für mich zu den betagteren Herrschaften. Öh, Damen selbstverständlich ausgenommen, Regina. Zurück zum Thema. Um ein Raumschiff aus Tofiritmasse zu bewegen, benötigt man starke Antriebsmaschinen. Vor allem die Energieerzeuger für die Antigravaggregate verbrauchen viel Platz. IKO l beispielsweise verfügt über neunzehn Maschinenräume. Aufgrund strategisch angebrachter Durchgangsschotts kommt man auf dem kürzesten Weg von einem Raum zum nächsten. Dennoch dauert es seine Zeit, bis man von der im Schiffskem gelegenen Zentrale zum Eingangsschott gelangt. Bei einer Notevakuierung der gesamten Mannschaft wird der Ikosaeder somit leicht zur Falle. Würden weniger Maschinenräume benötigt, könnte man die Quartiere näher an den Ausgang verlegen.« »In der Mitte des Raumschiffs ist es aber am sichersten.« »In der Mitte einer Gruft auch. Im übrigen lassen sich die gewonnenen Kapazitäten auch anders nutzen. Bei Einsätzen auf fremden Planeten könnten zusätzliche Waffen und Nahkampfeinheiten mitfliegen.« »Theoretisch ja. Doch ohne die Antigravaggregate würden sich die Iko-Raumer keinen Millimeter vom Boden bewegen.« »Das gehört von nun an der Vergangenheit an. Wenn wir die Ikosaederschiffe statt aus Tofirit aus Carborit bauen, wären sie 114 wesentlich leichter. Hinzu kommt, daß die Panzerwirkung der Außenhaut bei gleicher Panzerdicke sogar weitaus stärker ist als bei reinem Tofirit - bei einem Bruchteil des Gesamtgewichts, wohlgemerkt.« »Klingt gut, Robbie. Zu gut für meinen Geschmack. Wo hängt der Haken?« »Es gibt keinen Haken an der Sache. Nun ja, fast keinen. Der neue Werkstoff hat einen erheblichen Nachteil. Man kann die Bauteile nicht mehr nachbearbeiten, sondern muß sie gleich bei der Herstellung in der benötigten Form produzieren. Verpfuschte Teile sind hinterher nicht mehr zu gebrauchen. Aber für unsere Fachleute dürfte das nur ein geringfügiges Problem sein, denke ich. Was benötigt wird, sind große Autoklaven, in die wir zusätzliche Hyperoszillatoren einbauen. Der Clou des Verfahrens ist übrigens der Klebstoff, mit dem die einzelnen Bauteile zusammengefügt werden. Man kann ihn bei normaler Zimmertemperatur auftragen. Nach dem Aushärten erträgt er jede bekannte Belastung, selbst Temperaturen bis zu 200 000 Grad Celsius - dank der eingelagerten Tofiritatome.« »Wirklich erstaunlich. Nichtsdestotrotz habe ich noch einen Einwand, von dem ich meine, daß er berechtigt ist. Eine Sache hast du nämlich nicht bedacht.« »Das bezweifle ich, Terence, ich denke an alles. Mußt du eigentlich immer so negativ sein? Die Vorteile liegen doch klar auf der Hand. Ikosaederschiffe aus Carborit sind leichter und
schneller als Tofiritschiffe, bieten viel mehr Platz für zusätzliche Geräte, Mannschaften und Waffen, und sie sind billiger in der Herstellung. Gerade das letzte Argument müßte dich als Geschäftsmann endgültig überzeugen.« »Tut es auch - fast. Allerdings scheinst du vergessen zu haben, weshalb wir die Ikos aus schwerem Tofirit bauten. Ihre extrem hohe Masse hat verhindert, daß sie vom Schwarzen Strahl der Grakos in den Hyperraum geschleudert wurden.« »Die Grakos stellen für Terra keine Gefahr mehr dar.« »Augenblicklich nicht, zugegeben, Robbie. Aber was ist, wenn sich die Verhältnisse dort ändern und sie wieder zu unseren Feinden werden? Oder wenn ein anderes Volk über eine ähnliche Waffe verfügt?« »Wenn, wenn, wenn... bisher ist uns bei Bedrohungen aus dem All noch immer was eingefallen. Im übrigen habe ich auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Auf dem Gebiet der Massenmanipulation wurden in letzter Zeit enorme Fortschritte gemacht, nicht zuletzt bedingt durch die intensiven Forschungen am entarteten Schwarzen Loch im Milchstraßenzentrum. Mittlerweile sehen mein Team und ich uns in der Lage, den kombinierten Schwerkrafterzeuger und Andruckabsorber an Bord so umzubauen, daß er bei einem Angriff mit dem Schwarzen Strahl oder einer vergleichbaren Waffe die Masse der Raumschiffshülle künstlich erhöht. Im Inneren würde man nichts davon spüren. Fazit: Nach außen hin wäre solch ein Schiff noch schwerer als ein Raumer aus Tofirit und hätte beim Strahlenbeschuß somit die besseren Karten.«
Was auch immer Terence Wallis im Verlauf des Gesprächs an Gegenargumenten vorgebracht hatte, Robert Saam war ihm stets einen Schritt voraus gewesen. Letztendlich hatte der Milliardär »die Waffen gestreckt« und sich überzeugen lassen. Saams Ratschlag, umgehend den Bau von zwölf Carborit-Ikosa-ederraumem in Auftrag zu geben, hatte Wallis sofort befolgt. Er hatte Robert und seinem Team die Projektleitung übertragen und die Gruppe mit allen nötigen Vollmachten ausgestattet. Danach war die neue Erfindung gehörig begossen worden. Zwar hatte die Feier nur im kleinen Rahmen stattgefunden und hielt dem Vergleich mit Wallis' gewohnt ausschweifenden Landsitz-Partys bei weitem nicht stand, aber es war niemandem langweilig geworden. Bis in den frühen Morgen hinein hatte »die Fünferbande« so manches Glas geleert. Eine intime, stimmungsvolle Erwachsenen
116 fete, untermalt von Popsongs und Schlagern aus Terence' hochmoderner Musikanlage - es mußte halt nicht immer Kaviar sein. In den nachfolgenden (Nacht-)Stunden hatten Wallis, Saam, Ramoya und Regina abwechselnd versucht, George Lautrec dazu zu bewegen, endlich sein Schweigen zu brechen und sein Ge heimnis mit ihnen zu teilen. Aber der hatte kein Sterbenswörtchen preisgegeben und nur erwidert, daß seine Überlegungen und Berechnungen noch nicht vollständig abgeschlossen waren. Im Morgengrauen hatte Robert dann in einem fort die CD »Six-teen Tons« aufgelegt - und damit das Ende des kleinen, intimen Umtrunks eingeleitet. Entnervt hatten sich Regina, Saram und George nacheinander verabschiedet und sich in ihre Quartiere auf dem Gelände zurückgezogen. Zum Schluß hin hatte Wallis den angetrunkenen Norweger zur Tür hinausgeschoben, die Musikanlage abgeschaltet und sich alkoholbeseelt auf seine Büroliege fallen lassen. Nun war er wieder völlig klar im Kopf. Und schon beschäftigten ihn neue Probleme im Zusammenhang mit den Ikos: Wohin mit den zwölf Tofirit-Ikosaedem, die er vor der Abreise nach Eden bei seinen Ingenieuren in Auftrag gegeben hatte? Die Carboritraumer waren als Schutzflotte fürs Achmed-System zweifelsohne besser geeignet. Sollte er die Arbeiten an den Tofiritschiffen einstellen lassen, ungeachtet der hohen Kosten, die bereits entstanden waren? Und plötzlich kam ihm eine geniale Idee! Wer ein Riesenunternehmen wie Wallis Industries mitsamt Tochtergesellschaften leitete, sah sich schon aus Zeitgründen außerstande, jeden unternehmerischen Einfall persönlich in die Tat umzusetzen. Wozu bezahlte man schließlich einen Stamm hochqualifizierter Mitarbeiter? Für die Umsetzung seiner Idee beschäftigte Terence Wallis genau den richtigen Mann. Keiner war besser dafür geeignet als er -auch wenn man es ihm gar nicht ansah.
7.
»Er ist gerissen wie ein Fuchs«, flüsterte Dr. jur. Petrowsky seinem Mandanten zu, »auch wenn man es ihm gar nicht ansieht.« »Kein Grund zur Aufregung«, entgegnete Lothar Lesch. »Er hat nichts gegen mich in der Hand. Fortrose ist schlau, aber ich bin schlauer.« »Schlauer?« »Das war ein Scherz, Herr Doktor. Gehen Sie denn nie ins Theater? Kennen Sie nicht den schlauen Polizeiminister aus >Madame Pompadour« »Ich kenne weder jene Dame noch den Herrn Minister, und fürs Theater läßt mir mein nervenaufreibender Beruf leider keine Zeit. Konzentrieren Sie sich lieber auf den Prozeß, sonst könnte es sein, daß Ihnen im Gefängnis das Scherzen vergeht. Sind Sie sich eigentlich Ihrer Lage bewußt? Man klagt Sie wegen Industriespionage an.« Lothar Lesch zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Sie werden mich da schon raushauen, das hat mir Ihr Chef zugesichert.« »Unser beider Chef«, stellte sein Anwalt klar. »Sie haben die Seiten gewechselt und arbeiten jetzt für uns, schon vergessen?« Der Vorsitzende Richter räusperte sich ungehalten. »Wenn auf der Anklagebank nicht sofort das Flüstern eingestellt wird, verhänge ich ein Ordnungsgeld, verstanden? Ich würde gern die Beweisaufnahme fortführen, falls es Ihnen recht ist, meine Herren.« »Beweisaufnahme?« entgegnete Petrowsky spöttisch. »Von welchen Beweisen ist denn die Rede, bitte schön? Ich möchte ja nicht respektlos erscheinen. Euer Ehren, aber bisher haben sich sämtliche Vorwürfe gegen meinen Mandanten als Windei entpuppt.« »Windei?« entrüstete sich der Staatsanwalt. »Herr Lesch kannte den Zugangscode für den verschlossenen Konferenzraum sowie 118 die Kombination des Wandsafes, und er hatte Zeit und Gelegenheit, die Minidisk mit den Geheimplänen auszutauschen. Dabei wurde er von der Überwachungskamera gefilmt. Außerdem hat er kein Alibi.« »Zahllose andere Mitarbeiter von Wallis Industries auch nicht. Wollen Sie die jetzt alle verdächtigen? Mein Mandant wußte überhaupt nichts von dem neuen Projekt. Er gehörte nicht zum Kreis der Eingeweihten und hat nie an einem der streng geheimgehaltenen Arbeitstreffen teilgenommen — falls es diese heimlichen Zusammenkünfte überhaupt gab, was bislang noch nicht bewiesen wurde. Kein einziger der angeblichen Sitzungsteilnehmer wurde als Zeuge geladen.« »Aus Sicherheitsgründen«, warf Fortrose, als Vertreter der Nebenklage, ein. »An den Gesprächen nahmen Größen aus Wirtschaft und Politik teil, sogar ein ranghoher Militär war mit darunter. Alle trugen Decknamen, auch Herr Lesch. Elektronische Aufzeichnungen waren verboten, nicht einmal ein schriftliches Protokoll durfte geführt werden.« Im Verlauf des Prozesses hatte sich der unscheinbare Siebzigjährige nur selten zu Wort gemeldet, meist mit knappen, bedeutungslosen Einwänden. Geduldig wartete der Richter ab, ob Fortrose noch mehr zu sagen hatte, doch der Nebenkläger schwieg wieder und blätterte scheinbar geistesabwesend in seinen Akten. Der Vorsitzende kannte Fortrose von früheren Prozessen her und wußte, daß das gespielte Desinteresse lediglich eine Masche war. Wallis' Hausanwalt hatte es faustdick hinter den Ohren. Schon so manche Verhandlung hatte er erst im letzten Moment für sich entschieden. Er war immer für eine Überraschung gut. Der Richter, der an der Schuld des Angeklagten kaum Zweifel hatte, war schon höllisch gespannt, wie Fortrose diesmal vorgehen würde. Die bisher vorgelegten Beweise reichten jedenfalls noch nicht aus, um Lothar Lesch zu verurteilen. Alex Basil Christian David Edward Fortrose war alles andere als rine schillernde Persönlichkeit. Das einzig Besondere an ihm wa ren seine fünf Vornamen, deren Initialen aneinandergereiht die ersten fünf Buchstaben des Alphabets ergaben; der Nachname bildete den sechsten. Wahrscheinlich hatten seine Eltern schon bei seiner Geburt geahnt, daß nichts Außergewöhnliches aus ihm werden würde und hatten ihm deshalb wenigstens einen originellen Namen verpaßt. Auf gewachsen war Alex in einer kinderreichen Lehrerfamilie. Eigentlich hatte auch er Lehrer werden sollen, wie sein Vater und sein Großvater vor ihm, doch aus Unentschlossenheit hatte er fortlaufend das Studienfach gewechselt und war schließlich Anwalt geworden. Ein Entschluß, den er schon bald wieder bereut, aber aus Trägheit niemals rückgängig gemacht hatte. Mittlerweile war er in Ehren ergraut. Sein sich allmählich verflüchtigendes Haar bedeckte nur noch die hintere Kopfhälfte, und der kümmerliche, struppige Oberlippenbart in seinem fahlen Gesicht hatte mit Sicherheit schon mal fröhlichere Tage gesehen - im Gegensatz zu seinem
Träger. Fortroses Kleidung war so färb- und einfallslos wie er selbst. Der Jurist, der derzeit fast ausschließlich für Terence Wallis arbeitete, bezog ein leistungsbezogenes Einkommen, wußte mit seinem Geld aber eigentlich nichts so recht anzufangen. Gutes Essen? Fehlanzeige. Kulinarische Genüsse schlugen ihm auf den schon kostgewohnten Magen. Alkohol und Tabak? Undenkbar! Wenigstens eine gute Tasse Kaffee? Nein, dann schon lieber Kamillentee. Theater, Kino, Museum - drei Begriffe, die Fortroses Meinung nach am besten im Wörterbuch aufgehoben waren. Mit wem hätte er auch ausgehen sollen? Er war weder verheiratet noch hatte er eine Freundin. Und daheim von einem Holokanal zum nächsten zu zappen war schließlich auch eine Art von Kultur. A. B. C. D. E. F. war kein aufrichtiger Mensch. Seine persönlichen Ansichten behielt er lieber für sich und dachte sich seinen Teil. Das machte es schwierig, ihn richtig einzuschätzen - sein wichtigster Pluspunkt vor Gericht. Ein undurchschaubarer Anwalt
120 war schon der halbe Sieg. Diesmal allerdings schien er sich am Angeklagten die Zähne auszubeißen. Der fünfzigjährige Techniker Lothar Lesch war eineinhalb Jahre lang für Wallis Industries tätig gewesen und hatte zuletzt - laut Anklageschrift - an einem geheimen wissenschaftlich-technischen Projekt mitgearbeitet, an welchem unter anderem auch das Militär großes Interesse zeigte. Wallis Industries war im Begriff, einen völlig neuen, kubusförmigen Robotertyp zu entWikkeln, dessen Fähigkeiten die der gängigen Kegelroboter um Längen übertraf, von den eingeschränkten Funktionen der Billig-Blechmänner ganz zu schweigen. Lesch wurde vorgeworfen. Gedächtnisprotokolle der Geheimsitzungen angefertigt und an eine in Worid City ansässige Maschinenbaufirma weitergeleitet zu haben. Gareth Machine war ein aufstrebendes Unternehmen, das vor zwei Jahren sozusagen aus dem Boden gestampft worden war und seither hart um Marktanteile kämpfte, mit recht zwielichtigen Methoden, wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Laut Anklage hatte Lothar Lesch dem Firmeninhaber Tom Gareth angeboten, die Pläne für den neuen Roboter zu stehlen. Als Gegenleistung habe er einen leitenden Posten in den Werkstätten von Gareth Machine gefordert. Mittlerweile bekleidete er diesen Posten tatsächlich, allerdings bestritt er energisch, daß sein neuer Job mit dem Diebstahl der Pläne in Zusammenhang stand. Vielmehr, so seine Aussage, habe man ihn aufgrund seiner Qualifikation völlig legal abgeworben. Bislang konnte man ihm diese Behauptung nicht widerlegen. Der Diebstahl war erfolgt, kurz nachdem die Sitzungsteilnehmer zur Mittagspause aufgebrochen waren. Jemand hatte die Minidisk mit den Herstellungsplänen aus dem Wandsafe im Konferenzraum gestohlen und gegen eine leere Disk ausgetauscht. Dieser Jemand war zwar gefilmt worden, jedoch so unzureichend, daß er auf den Aufzeichnungen nicht klar erkennbar war. Anklage und Nebenklage vermuteten eine Manipulation der Überwachungskamera (zu der Lesch aufgrund seiner technischen Kenntnisse fähig war), konnten dies aber nicht beweisen. Alle Geheimnisträger des Projekts AZ 2222-48, kurz »Robo-drei« genannt, hatten sich zum Zeitpunkt des Diebstahls im selben Restaurant aufgehalten - bis auf Lothar Lesch, der eine Magenverstimmung vorgeschoben und einen Spaziergang an der frischen Luft bevorzugt hatte. Einen Spaziergang, für den es keine Zeugen gab. Angesichts der dürftigen Beweislage brauchte er auch keine. Auf Terra galt jeder Angeklagte so lange als unschuldig, bis man ihm seine Schuld zweifelsfrei nachgewiesen hatte. »Ihre Beweise sind ziemlich mager«, sagte der Richter zum Ende der Beweisaufnahme hin, wobei er abwechselnd den Staatsanwalt und Fortrose anschaute. »Ich sehe nur noch eine Möglichkeit, den Prozeßausgang zu Ihren Gunsten zu entscheiden, meine Herren. Präsentieren Sie uns glaubwürdige Zeugen, die regelmäßig an den geheimen Besprechungen teilgenommen haben. Nur so können Sie beweisen, daß Herr Lesch jedesmal mit dabeigewesen ist und über das Projekt AZ 2222-48 Bescheid wußte.« Zum wiederholten Male lehnte Fortrose es ab, die Namen der Sitzungsteilnehmer zu nennen. »Aus Sicherheitsgründen«, betonte er nachdrücklich. »Mehr darf ich dazu nicht sagen.« »Dann tut es mir leid für Sie«, erwiderte der Vorsitzende seufzend. »Halten Sie jetzt bitte Ihre Plädoyers.« Staatsanwalt, Nebenkläger und Verteidiger faßten sich in ihren Abschlußbekundungen kurz es war eh alles gesagt worden. Danach erteilte der Richter dem Angeklagten das letzte Wort. »Ich schließe mich den Ausführungen meines Verteidigers an«, sagte Lothar Lesch und fügte triumphierend hinzu: »Ich wußte bis zu dieser Verhandlung wirklich nichts von >Robo-drei<,
glauben Sie nur, Euer Ehren. Selbst der beste Anwalt von Wallis Industries konnte mir nichts Gegenteiliges nachweisen.« Doktor Petrowsky stupste seinen Mandanten ermahnend mit 122 dem Ellbogen an. Daraufhin schwieg Lesch abrupt. Zu spät. »Ich möchte Sie bitten, die Verhandlung noch nicht zu schließen, Euer Ehren«, warf Alex Fortrose mit ruhiger Stimme ein. »Hiermit beantrage ich, erneut in die Beweisaufnahme einzutreten.« Der Vorsitzende atmete innerlich auf. Na endlich! Offensichtlich spielte Fortrose in letzter Sekunde seinen Trumpf aus, wie man es von ihm gewohnt war. »Um nochmals in die Beweisaufnahme einzutreten, brauchen Sie einen wirklich guten Grund«, machte der Richter dem Nebenkläger deutlich. »Den habe ich«, versicherte ihm Fortrose. »Wie mir berichtet wurde, hat man auf den Geheimsitzungen der Einfachheit halber immer nur vom Projekt >Robo-drei< gesprochen, statt im Gespräch jedesmal das vollständig Aktenzeichen zu nennen. Offiziell gab es diesen Begriff gar nicht, er kursierte lediglich unter den Sitzungsteilnehmern. Im Verlauf der Gerichtsverhandlung wurde das nie erwähnt, wir alle verwendeten ausschließlich die Bezeichnung Projekt AZ 2222-48. Angeblich hat Herr Lesch an keiner einzigen Geheimsitzung teilgenommen. Woher kennt er dann das inoffizielle Kürzel? Dazu würde ich ihn gern noch einmal befragen, wenn es recht ist.« »Es ist mir aber nicht recht«, fuhr Petrowsky dazwischen, noch bevor der Richter etwas erwidern konnte. »Meinen Mandanten wegen nichts und wieder nichts bei seinem Schlußwort zu unterbrechen, ist eine Unverschämtheit! >Robo-drei< ist ihm ganz spontan in den Sinn gekommen. Nach dem Kegelroboter und den aufrechtgehenden Billigrobotem ist der Kubusroboter der dritte, den Wallis auf den Markt werfen will. Die Abkürzung >Robo-drei< l^egt somit nahe. Deshalb sehe ich in der Äußerung meines Mandanten nichts Außergewöhnliches.« »Das zu bewerten, müssen Sie schon dem Gericht überlassen«, entgegnete der Richter knurrig und wandte sich Fortrose zu. »Wie wollen Sie überhaupt beweisen, daß das Kürzel >Robo-drei< während der Sitzungen verwendet wurde? Ohne entsprechende Zeugenaussagen ist das völlig unmöglich.« »Das habe ich nicht bedacht«, antwortete ihm der Anwalt, wobei er keine Miene verzog; offenbar hatte er seinen Ärger gut unter Kontrolle. »Hiermit ziehe ich meinen Antrag zurück.« »Das war auch das beste, was Sie tun konnten«, bemerkte Pe-trowsky zufrieden. »Ich hatte schon immer den Verdacht, Sie sind nicht halb so gut wie Ihr Ruf.« Erneut erteilte der Richter dem Angeklagten das letzte Wort. »Denken Sie diesmal nach, bevor Sie den Mund aufmachen, Mister Oberschläu«, flüsterte der polnische Anwalt in Richtung seines Mandanten. Lesch kam dem Ratschlag nach. »Ich habe nichts mehr dazu zu sagen. Euer Ehren.« Nach dem unvermeidlichen Freispruch leerte sich der Gerichtssaal ziemlich schnell. Obwohl die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen worden war, hatte kein Zuschauer dem Prozeß beige wohnt. Weder bei Gareth Machine noch bei Wallis Industries hatte man Interesse gehabt, den Fall an die große Glocke zu hängen, so daß nicht einmal die Presse Wind davon bekommen hatte. A. B. C. D. E. Fortrose und der Richter waren die letzten, die den Saal verließen.
»Ehrlich gesagt, ich bin ein bißchen enttäuscht von Ihnen, Fortrose«, sagte der Richter. »Ich
hatte erwartet. Sie würden noch ein As aus dem Ärmel zaubern.«
»Manche Zauberkunststücke vollzieht man besser im stillen«, erwiderte der Anwalt mit
seinem unnachahmlichen reglosen Gesichtsausdruck. »Einen schönen Tag noch. Euer Ehren.«
Fortrose zog sich auf die Personaltoilette zurück. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er
allein war, aktivierte er sein Arm-bandvipho und wählte die Direktverbindung zu Wallis'
Büro.
»Der Prozeß ist verlaufen, wie wir es geplant hatten«, teilte er seinem Chef mit. »Lesch hat
nicht gemerkt, daß die Geheimsit
124 zungen nur eine billige Inszenierung waren.«
»Billig?« entgegnete Wallis. »Die Darsteller haben mir eine fünfstellige Gage abgeknöpft.
Aber das ist es mir wert. Zu schade, daß ich nicht das dumme Gesicht von Tom Gareth sehen
kann, wenn er nach monatelangen kostspieligen Versuchen feststellt, daß der neue Robotertyp
gar nicht machbar ist und die Pläne nichts weiter als eine geschickte Fälschung sind.«
»Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, Lesch eine Falle zu stellen?«
»Er stand schon lange unter Verdacht, firmeninteme Informationen an die Konkurrenz
weiterzuleiten. Glücklicherweise war nichts Wichtiges mit dabei, dennoch kann ich illoyale
Mitarbeiter nicht gebrauchen. Bei Gareth Machine ist er besser aufgehoben. Themenwechsel,
Fortrose. Kehren Sie Worid City umgehend den Rücken und kommen Sie nach Alamo Gordo.
Ich habe einen neuen Auftrag für Sie.«
Terence Wallis und Alex Fortrose saßen Ted Bulton in dessen Büro gegenüber. Der Marschall
der irdischen Raumstreitkräfte hatte dem Unternehmer und seinem Anwalt kurzfristig einen
Gesprächstermin eingeräumt, betonte aber gleich eingangs, daß...
»... Zeit Geld ist, weshalb ich Sie bitten möchte, sich kurz zu fassen, Mister Wallis.«
»Auch ich habe meine Zeit nicht geklaut, Marschall«, erwiderte Wallis im gleichen Tonfall.
»Ihretwegen habe ich ein paar wichtige Termine verschoben, aber man muß halt Prioritäten
setzen. Der geschäftliche Vorschlag, den ich Ihnen unterbreiten möchte, hat absoluten
Vorrang und ist für Sie sicherlich von größtem Interesse.«
Der untersetzte, massige Marschall grinste. Er konnte sich denken, weshalb Wallis zu ihm
gekommen war.
Seit der ursprüngliche Vertrag zwischen Wallis Star Mining und
der Regierung hinfällig war, gewährleistete die Terranische Flotte Wallis' Transportschiffen
keinen kampfstarken Schutz mehr - zumindest nicht länger kostenlos. Bulton vermutete, daß
der Milliardär versuchen würde, den Preis zu drücken.
Je reicher man ist, um so geiziger wird man offenbar^ dachte Bulton im stillen.
Laut sagte er: »Ich schätze. Sie sind gekommen, um über den Preis zu verhandeln. Daraus
wird leider nichts, die Gebühren sind festgeschrieben.«
»Festgeschrieben?« wunderte sich Wallis. »Selbst dann, wenn ich Ihre Preisvorstellungen
unterbiete?«
»Dann erst recht«, entgegnete der Marschall lachend. »Zuständig dafür bin nicht ich, sondern
Marschall Trawler, in dessen Büro Sie die Gebührensätze gern einsehen können. Er errechnet
Ihnen den Gesamtpreis, und Sie akzeptieren oder lassen es, aus und fertig. Ich kann Ihnen da
wirklich nicht weiterhelfen, das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Außerdem bin
ich, genau wie Trawler, an die militärischen Vorschriften gebunden. Der Unterhalt eines
Kriegsraumers kostet nun einmal Unsummen. Technik, Wartung, Personal... für'n Appel und
'n Ei ist das nun mal nicht zuhaben.
Nebenbei bemerkt wurden die Gebühren seit ihrer Einführung noch nie erhöht. Allerdings
mußten sie bislang auch noch nie eingefordert werden - weil vor WSM noch nie eine
Privatfirma um militärischen Schutz ersucht hat. Zu Beginn dieser Legislaturperiode wurden
diverse Gesetze, Vorschriften und Regelungen ersonnen, die einzig und allein der Vorsorge
dienten, sozusagen für den Fall, daß der Fall der Fälle einmal eintritt. Ihr Anliegen ist ein sol
cher Sonderfall.«
Allmählich begriff Wallis, daß Bulton und er aneinander vorbeiredeten. Dennoch klärte er ihn
nicht gleich über den wahren Grund seines Besuches auf, sondern foppte ihn noch ein wenig.
»Zugegeben, es kommt nicht alle Tage vor, daß ich ein Schiff verschenke. Marschall, dennoch
hatte ich nicht erwartet, auf so
126 viel Ablehnung zu stoßen.« »Sie wollen mir ein Schiff schenken? Halten Sie mich für bestechlich?« »Das Schiff schenke ich nicht Ihnen, sondern der TF. Geschenk ist eigentlich die falsche Bezeichnung, vielmehr handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil unserer geschäftlichen Vereinbarung. Für die vertraglichen Einzelheiten ist mein Anwalt und Notar Fortrose zuständig, den ich gleich mitgebracht habe. Zwölf für elf. Mal ehrlich. Marschall, kann es sich die Terranische Flotte wirklich leisten, ein derart großzügiges Angebot auszuschlagen?« Alex Fortrose verfolgte den Dialog mit und amüsierte sich köstlich - auch wenn man es ihm überhaupt nicht ansah. Marschall Bulton merkte, daß er irgendwie auf dem Holzweg war. »Wovon reden Sie eigentlich, Mister Wallis?« »Von den zwölf Tofirit-Ikos, die derzeit bei Wallis Industries auf Kiel liegen«, klärte ihn der Unternehmer auf. »Ich kann Ihnen eine Lieferung innerhalb von zehn Monaten garantieren. Und weil ich Sie mag, biete ich Ihnen zwölf Schiffe für den Preis von elfen an.« »Ein Angebot, dem ich nur schwer widerstehen kann«, gab Bulton zu. »Was bringt Sie eigentlich darauf, daß Ihre Schiffe für mich von Interesse sein könnten? Immerhin verfügt die
TF über eigene Flottenwerften.« »Wissen Sie, wie man Werften, die unter militärischer Leitung stehen, in der freien Wirtschaft nennt?« stellte Wallis ihm die Gegenfrage. »Schnarchwerkstätten. Ihre Arbeiter verfügen über die einzigartige Gabe, im Stehen zu schlafen. Und Dir Fachpersonal ist hoffnungslos unterqualifiziert.« »Werden Sie bloß nicht unverschämt«, entrüstete sich Bulton. »Unsere Männer dort können genauso zupacken wie die Arbeiter ^ Ihren Fabriken, und unsere Ingenieure sind bestens ausgebildet.« »Wenn dem so wäre, gäbe es bei den Raumschiffen, die momentan auf den Flottenwerften im Bau sind, nicht dauernd Verzöge rungen«, hielt Wallis ihm entgegen. Bulton war baff. »Woher wissen Sie das?« »Hat mir ein Vogel gezwitschert«, entgegnete Wallis, dessen Leute Augen und Ohren stets weit aufsperrten. »Was ist nun? Kommen wir ins Geschäft? Oder wollen Sie warten, bis sich auf Ihren Werften die Räder wieder schneller drehen. Wenn Sie genügend Geduld aufbringen...« »Schon gut, schon gut!« fuhr ihm der Marschall ins Wort. »Ich bin nicht abgeneigt, also reden wir über den Deal. Wie ich Sie kenne, haben Sie den Kaufvertrag bereits fix und fertig mit dabei.« »So ist es«, bestätigte Wallis und gab Fortrose ein Handzeichen. »Sie sind doch berechtigt, den Vertrag zu unterschreiben, oder?« »Ja, das kann er«, antwortete der Anwalt anstelle des Marschalls. »Theodore Bulton verfügt über einen eigenen, vom Parlament abgesegneten Beschaffungshaushalt.« »Sie sind gut informiert«, brummelte Ted Bulton, der es haßte, wenn man ihn Theodore nannte. »Ist mein Job«, erwiderte Fortrose kurz angebunden, während er seinem Aktenkoffer die Vertragsunterlagen entnahm; selbstverständlich hatte er auch seinen fälschungssicheren Notariatsstempel mit dabei. »Es liegt nicht an unseren Arbeitern oder Ingenieuren«, bemerkte Bulton mißgelaunt und prüfte die Papiere. »Es sind vor allem die verdammten Vorschriften. Beim Militär wird aus jedem noch so einfachen Arbeitsvorgang eine Riesensache gemacht. Von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare. Mindestens in dreifacher Ausfertigung.«
Die Verhandlungen dauerten nicht lange. Marschall Bulton akzeptierte Wallis' faires Angebot in allen Punkten und übergab die unterzeichneten Schriftstücke dem Notar zum Absegnen. Fortrose waltete seines Amtes. 128 »Was hatten Sie überhaupt mit den zwölf Schiffen vor, Mister Wallis?« wollte Bulton wissen. »Ich kann mich nicht besinnen. Ihnen einen Bauauftrag erteilt zu haben.« »Ursprünglich waren die Schiffe gar nicht für die TF gedacht«, räumte der Industrielle offen ein. »Die Zwölferflotte sollte meine Abbauanlagen im Achmed-System schützen.« »Verstehe«, meinte Bulton. »Und jetzt haben Sie es sich anders überlegt und sich entschlossen, den gewohnten militärischen Schutz beizubehalten. Wie schön, daß Sie zur Vernunft gekommen sind. Die TF ist zwar nicht ganz billig, aber im Angriffsfall durch nichts zu ersetzen.« Das werden wir ja sehen, dachte Wallis, hütete sich aber, seine Gedanken auszusprechen, um das für beide Seiten lukrative Geschäft nicht noch im letzten Augenblick zu gefährden. Auf dem Rückweg nach Pittsburgh informierte Wallis Fortrose über den geplanten Bau der Carboritschiffe. Er gab seinem Hausjuristen die Anweisung, sich zwecks näherer Auskünfte zunächst mit Saam und später mit der hauseigenen Patentabteilung in Verbindung zu setzen. »Wir lassen sämtliche Herstellungsverfahren sowie die notwendigen Maschinen und Technologien patentieren. Das Carborit selbst bleibt vorerst aber noch streng geheim. Geben Sie besonders acht auf undichte Stellen, Fortrose, ich muß mich darauf verlassen können, daß nichts durchsickert. Ein Maulwurf wie Lesch könnte immensen Schaden anrichten.« »Keine Sorge«, entgegnete A. B. C. D. E. Fortrose. »Auf diese Tiergattung bin ich spezialisiert.«
Alsop und Gisol saßen wieder im Flash des Worgun. Gisol lenkte die Maschine mittels
Gedankensteuerung. Er hatte eine unregelmäßige Form angenommen, die jeden Winkel im Inneren des engen Flash ausnutzte, um so Platz für die Bomben und andere Ausrüstung zu schaffen. Die Bomben, genauer gesagt Hitzesprenggranaten, lagen nicht nur teilweise auf seinem Sitz, sondern auch im winzigen Stauraum zwischen den beiden Sitzen, im Puß-raum vor Holger Alsop... die Maschine war, was diese Sache anging, hoffnungslos »überladen«. Jeder terranische Schweberpilot wäre von der Polizei sofort aus dem Verkehr gezogen worden und hätte seine Fluglizenz für den Rest seines Lebens abgeben müssen, hätte er sein Fahrzeug dermaßen bepackt. Gisol stand den thermischen Sprengsätzen skeptisch gegenüber. Er hätte Waffen auf Kemfusionsbasis bevorzugt. Aber die waren in Kompaktform kaum beherrschbar, und »schmutzige« atomare Spaltbomben wurden weder von den Pscheriden noch von den Zyzzkt eingesetzt. Ebensowenig biologische und chemische Waffen. Keine der beiden Parteien wollte diesen Planeten auf unabsehbare Zeit verseuchen und unbewohnbar machen. Gisol sorgte sich wegen der Flash-Minen, mit denen der Raum unter dem jetzigen Hauptquartier der Zyzzkt von den Pscheriden noch rechtzeitig hatte abgesichert werden können. Denn in unmittelbarer Nähe dieser Gefechtszentrale wollte er es trotz der Tarnung nicht riskieren, sich oberirdisch anzunähern. Die Zyzzkt hatten inzwischen so viele Verluste erlitten, daß sie auch den letzten Rest von Leichtsinn und Überheblichkeit ablegten und ihre Ortungen so intensiv arbeiteten, wie Gisol es kaum jemals zuvor erlebt hatte. Die eigene Passivortung verriet es ihm! Sie zeigte ihm an, wie dicht das Netz von Taststrahlen geknüpft war, denen nicht einmal ein kleiner Vogel entging. Die Wimmelwilden waren übervorsichtig geworden! Gisol hatte zwar einen Plan General Gutters, der zeigte, wo die Minen verlegt waren, in den Hyperkalkulator, den Bordrechner des Rash, eingespeist, aber er traute der Genauigkeit der Daten nicht so ganz. Deshalb bewegte er den Flash nur mit äußerst geringer Geschwindigkeit durch den Boden und hoffte, daß die Passivortung einen Mix-4-Angriff rechtzeitig genug erkannte, so daß ein
130 blitzschneller Rückzug möglich war.
Alsop konnte keine Angst verspüren, weil er nach wie vor das Zweite System aktiviert hatte,
aber sein Programmgehim nannte ihm eiskalt den Grad der Wahrscheinlichkeit, trotz aller
Vorsicht von einer dieser Minen erwischt zu werden. Gisol dagegen hatte wirklich Angst, die
ihn aber nicht dazu verleiten konnte, Fehler zu machen.
Über 80 Prozent betrug die Wahrscheinlichkeit, von einer der Minen erwischt zu werden, und
es war kein Trost, daß die Menge der Sprengsätze, die sich an Bord des Flash befanden, sicher
ausreichte, bei genügender Annäherung die ganze Kampfzentrale der Zyzzkt in die
Stratosphäre zu blasen. Denn von Alsop und Gisol würde dabei auch nichts übrigbleiben.
Aber Alsop wollte nicht sterben.
Er wollte den Tod nicht zum Freund haben!
ERINNERUNGEN: Terra, Januar 2059 Als Mark Carrell Holger Alsops Quartier erreichte, traf Echri Ezbal gerade mit einer Schweberplattform ein, auf der außer ihm noch drei weitere Personen Platz genommen hatten. Gemeinsam liefen sie zur Tür. Wie bei den anderen Quartieren auch gab es Sensoren, die dem Bewohner die Ankunft meldeten. Doch obwohl davon auszugehen war, daß sie auch in diesem Fall ihre Aufgabe erfüllten, kam es zu keiner Türöffnung. Auch nicht, nachdem Ezbal den Summer betätigt hatte. Über Armbandvipho nahm der Leiter der Cyborgstation Kontakt zur Kontrollstelle auf und ließ den Zugang von dort aus fernentriegeln. Wenig später betraten sie das Innere des Wohnwürfels. Holger Alsop, der Cyborg mit akademischen Titeln in Mathematik und robonischer Entwicklungslehre, lag wie hingeworfen im Raum, unmittelbar hinter dem Eingangsbereich, und wälzte sich in konvulsivischen Zuckungen am Boden. Dazu wimmerte er unablässig und hatte Schaum vor dem Mund. Ezbal gab seinen Begleitern mit dem Äskulap-Zeichen auf den Overalls ein Zeichen, worauf diese sofort zu dem sich windenden und krümmenden Cyborg eilten und ihr Diagnosebesteck
einsetzten. Ezbal und Carrell hielten sich zunächst abwartend im Hintergrund.
»Was fehlt ihm?« fragte der alte Mann, nachdem einige Zeit vergangen war und Alsop sich
nach Verabreichung einer Injektion leicht beruhigt hatte. »Ist er ansprechbar?«
Der junge Arzt, der dem Cyborg die Spritze gegeben hatte, hob den Kopf und sagte: »Sobald
das Mittel wirkt, müßte er uns wahrnehmen. Es scheint sich um ein muskuläres Problem zu
handeln.«
»Ein muskuläres Problem?« Carrell wartete die Antwort nicht ab, sondern ging zu Alsop und
kniete neben ihm nieder. Seine Hand fuhr sacht über das schweißnasse Gesicht des Cyborgs.
»Holger?«
Alsops Zuckungen ebbten ab - entweder wirkte das Medikament, oder er reagierte auf die
direkte Ansprache seines Cyborg-kameraden. In seine aufgerissenen, bislang stier und starr ins
Nichts blickenden Augen trat Erkennen.
»Mark...«
Auch Ezbal mischte sich jetzt ein. »Holger - was ist passiert?«
Alsops Blick huschte kurz zu Ezbal, kehrte dann aber wieder zu Carrell zurück - als wäre er
der einzige, der ihn in dieser Situation wirklich verstehen konnte.
Holger Alsop krächzte: »Ich... ich kann mich nicht... bewegen. Nicht... kontrolliert. Es...
bewegt mich!«
»Was meinen Sie mit >es« fragte Ezbal.
Mark Carrell beugte sich über Alsop und sagte eindringlich:
»Geh aufs Zweite System, Holger. Ich weiß, wovon ich rede -
132 notfalls kannst du auch noch phanten!« Alsop glaubte -wieder, Ezbal sagen zu hören, damals, vor drei Jahren: »Und wenn das Schicksal es besonders gut mit Ihnen meint, Holger, dann werden Sie auch zu denjenigen gehören, die in den Phant gehen können.« Ein Cyborg, der auf das Zweite System umschaltete, wurde von einem kleinen, aber hochleistungsfähigen Programmgehim gesteuert, das seine Emotionen ausschaltete und seine Reflexe enorm verbesserte. Und Alsop hörte sich damals, am Anfang, sagen: »Ich will leben!«
Und er hörte General Gutter, jetzt: »Als ich mich für diese Laufbahn entschied, wußte ich,
was mich erwartet. Ich fürchte den Tod nicht. Er ist mein ständiger Begleiter, er ist mein
Freund.«
Damals sagte Alsop: »Ich bin bereit, in den gefährlichsten Einsatz zu gehen, aber ich will den
Tod nicht zum Freund haben!«
Für Augenblicke sah Alsop den befreundeten Cyborg nur aus weit aufgerissenen Augen an. Dann aber entspannte er sich. Die krampfartigen Erschütterungen seines Körpers hörten schlagartig auf. Dennoch klang seine Stimme geschwächt, wie die eines alten Mannes, als er sagte: »Ich dachte schon, es hört nie wieder auf...« Echri Ezbal wartete, bis Alsop sich aus eigener Kraft vom Boden erhoben hatte und ausdruckslos die Mediziner musterte, die sich zuerst um ihn gekümmert hatten. Dann fragte er erneut: »Wie ist es dazu gekommen? Wann fing es an. Holger?« »Es geschah aus heiterem Himmel«, erwiderte der Cyborg. »Eine Art Krampf zog sich durch meinen ganzen Körper. Ich verlor die Gewalt über ihn, stürzte. Dann wurden die Schmerzen so unerträglich, daß ich nicht einmal mehr denken konnte. Ich kam erst wieder zu mir, als ihr hier wart. Meine Nervenbahnen... meine Muskeln... alles brennt, alles schmerzt, nichts gehorcht mir mehr! Ich war so verwirrt, daß ich nicht selbst auf die Idee kam zu phanten... ist das nicht verrückt?« Ezbal und Carrell tauschten Blicke. »Nein«, sagte Carrell. »Zumindest nicht verrückter als das, was mir passiert ist. Ich muß im Zweiten System bleiben, um es zu ertragen. Nur deshalb konnte ich dir den Rat geben.« Holger Alsop wirkte ratlos. Und diese Ratlosigkeit wuchs, als Carrell ihm in dürren Worten schilderte, wie er sich verändert hatte. »Das ist Wahnsinn«, reagierte er. »Und es hat mit den Phantviren zu tun?« »Es könnte sein.«
GEGENWART Pscherid, Ende April 2059
Wiederum konnte Alsop sich nicht erklären, weshalb ihn diese Erinnerungen überfielen - an damals, als er zum Cyborg gemacht worden war, und an die jüngere Vergangenheit, die ihn fast das Leben gekostet hätte, als der Phantvirus durch die vom Verschwinden Drakhons ausgelöste Veränderung des galaktischen Spannungsfeldes mutiert war. Die »Zauberer« um Echri Ezbal hatten das Problem schließlich in den Griff bekommen, aber einige CyborgKollegen waren dennoch gestorben... Alsop hatte überlebt. Er, der den Tod nicht zum Freund haben wollte. »Wir sind da«, unterbrach Gisol seine Gedanken. »Was ist mit Urnen, Holger? Schlafen Sie?« »Nein.« Alsop schüttelte den Kopf, als wolle er Benommenheit von sich abwerfen. Wie war es möglich, daß er in menschliches Grübeln verfiel, während sein Zweites System lief und alle Körperfunktionen vom Programmgehim gesteuert wurden? Gab es etwas, das noch stärker war als das Cyborg-System, etwas, das nicht einmal die schwache Rückschaltphase benötigte, um einen Cyborg wieder zum Menschen zu machen? Der Bildschirm über Alsops Kopf verriet ihm, daß sie bei ihrem 134 Bug durch den Erdboden in eine weitläufige Lagerhalle gelangt waren, in der einige Flash geparkt standen. Gisols Flash war jetzt einer mehr. Er schaltete das Intervallfeld ab und ließ die spinnen-beinförmigen Ausleger ausklappen, auf denen die Maschine federnd aufsetzte. Dann stieß der Worgun mit einem rasch geformten Tentakel die Ausstiegsluke auf. Er »floß« aus seinem Flash heraus und nahm sofort Zyzzkt-Ge-stalt an. Der Vorgang dauerte fast eine Minute, weil die Zyzzkt über weit weniger Körpermasse verfügten als die Worgun und Gisol seine Zellstruktur daher erheblich komprimieren mußte. Einen Terraner mit einem Gewicht von etwa 100 Kilo nachzuahmen, ging sehr schnell. Aber die Insektoiden, mit etwa l ,50 Meter nicht größer als die Pscheriden, brachten bei einem Gravo nicht mehr als etwa 50 Kilo Gewicht auf die Waage. Gisol mußte sich also auf die Hälfte »eindampfen«. Das brauchte seine Zeit. Aber auch wenn er in der Lage war, seine Größe zu verringern - die Masse blieb. Er wog auch in Zyzzkt-Gestalt immer noch seine 100 Kilo beziehungsweise deren 150 aufPscherid. Aber dann stand er draußen vor Alsop: Ein aufrechtgehendes Insekt mit zwei Beinen und vier Armen, die in klauenartigen Fingern und Zehen mündeten. Der Körper ein schwarzer Chitinpanzer, der Kopf beherrscht von Facettenaugen, Fühlern und Beißwerkzeugen. Alsop fühlte sich ein wenig an einen Bockkäfer ohne Flügel erinnert; Flügelansätze waren zwar noch rudimentär vorhanden, im Laufe der Evolution aber zur Unbrauchbarkeit geschrumpft. Trotz seiner geringen körperlichen Größe wirkte der Zyzzkt irgendwie gefährlich, sogar bösartig. Ähnlich wie die schlanken, reptilhaften Nogk, deren bedrohlich wirkende Insektenköpfe über ihren wirklichen Charakter hinwegtäuschten. Bei den Zyzzkt täuschte nichts, wenn man den Erzählungen Gisols und auch der Römer von Terra Nostra glauben durfte. Sie waren böse, skrupellos, vernichtend. Gisol legte eine Beuteuniform an, die General Gutter ihm vor äem Start zur Verfügung gestellt hatte. Die Kleidung dämpfte den Eindruck der Gefahr, des Bösen, ein wenig ab. Jetzt stieg auch Alsop aus und begann damit, einige der Bomben in den geparkten und ungesicherten Flash zu verteilen; die Zyzzkt rechneten wohl nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen damit, daß ihre Gegner ihnen dermaßen nahekamen! Totale Verschwendung, diese Flash zu sprengen, dachte Alsop, der die Beiboote liebend gern für die Terranische Flotte requiriert hätte. Aber es waren keine Piloten hier, sie zu fliegen, und ob sie per Gedankensteuerung kontrolliert und ferngelenkt werden konnten, war nicht sicher. Vielleicht verfügten diese Geräte nicht über eine solche Möglichkeit. Und selbst dann war das Risiko einer Entdeckung viel zu hoch. Gisol inspizierte einige der Flash und stellte fest, daß diese tatsächlich nur den notwendigen Mindestenergievorrat an Bord hatten und somit nur im Sparmodus geflogen werden konnten. Energie schien bei den Zyzzkt wirklich sehr knapp zu sein. Zumindest, was die Energie anging, mit der Ringraumer geflogen wurden und die auf Tofiritstaub basierte... Während Alsop weiter seine Bomben verteilte, öffnete Gisol vorsichtig eines der kleineren Hallentore. Draußen war es dunkel. Die Nacht hatte diesen Teil des Planeten erreicht. Gisol huschte hinaus ins Freie, nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand diese Seite der Halle beobachtete. Er sah zum Nachthimmel hinauf. Oms Sterne funkelten in der Schwärze, aber es funkelte auch noch etwas anderes - die Zyzzkt-Ringraumer im Orbit, die immer noch weitere Landefahrzeuge ausschleusten und weitere Bodentruppen zur Oberfläche des Planeten brachten.
Es ist wie immer, dachte Gisol bitter. Sie überschwemmen die zu erobernde Welt mit ihren Körpern. Und sie nehmen keine Rücksicht auf sich selbst. Ihre Vermehrungsrate ist so groß, daß irgendwo in Orn schon eine Million junger Zyzzkt aus den Eiern schlüpft, während hier vielleicht tausend oder zehntausend sterben. Und sie wachsen unwahrscheinlich schnell heran... sie sind 136 schon ausgebildete Kämpfer, wenn ein Worgun noch als Kind Schutz benötigt. Selbst die Terraner brauchen viele Jahre, um heranzureifen. Die Zyzzkt tun das in wenigen Monaten... Sie schienen unbesiegbar - heute. Vielleicht hätte man ihnen vor tausend Jahren noch Einhalt gebieten können, wie es auch gelungen war, den Vormarsch der Grakos zu stoppen. Aber jetzt gab es kaum noch eine Chance, die weitere Ausbreitung der Zyzzkt zu verhindern. Ihre Brutwelten zu sprengen hieß, damit auch Planeten zu vernichten, auf denen Worgun und andere Völker leben konnten. Ein Om, in dem es zwar keine Zyzzkt, aber auch keinen bewohnbaren Planeten mehr gab, wollte auch Gisol nicht. Er sah sich um. Alles deutete darauf hin, daß die Halle auf einem weitläufigen ehemaligen Militärgelände der Pscheriden stand - das nicht bewacht war. Die Zyzzkt schienen sich hier sehr sicher zu fühlen. Vermutlich verließen sie sich auf ihr dichtes Ortungsnetz, das keinem Pscheriden gestattete, sich unbemerkt zu nahem. Nach kurzer Zeit kehrte Gisol in die Halle zurück, in welcher Alsop inzwischen Däumchen drehte. Gisol teilte ihm seine Feststellung mit. Dann stakste er mit seinen Insektenbeinen zum Flash. »Was haben Sie vor?« fragte Alsop. »Nachschub organisieren«, sagte Gisol. Seine Mandibeln klickten immer wieder gegeneinander und störten den Fluß seiner Worte; in Insektengestalt hatte er ein wenig Probleme damit, sich auf Angloter oder Worgun zu artikulieren. Die Zyzzktsprache bestand vorwiegend aus Schnarr- und Klicklauten. Er schwang sich in den jetzt leeren Flash. »Wollen Sie allein fliegen?« fragte Alsop. »Der Flash wird allein fliegen«, erwiderte Gisol. »Ich programmiere ihn über die Gedankensteuerung so, daß er auf dem beim Anflug gespeicherten, also bombensicheren Weg zu Gutter zu rückkehrt und nach einer kurzen Zeitspanne wiederum automa-äsch hierher kommt.« »Das funktioniert, ohne daß einer von uns an Bord ist?« wunderte Alsop sich, der selbst schon oft als Flashpilot unterwegs gewesen war und glaubte, die technischen Möglichkeiten des Bordrechners und der Gedankensteuerung zu kennen. »Dir Terraner seid wirklich ahnungslose Engel, wie es in eurem Sprachgebrauch heißt«, schnarrklickte Gisol. »Ihr ahnt überhaupt nicht, was alles möglich ist...« Spar dir deine verdammte Arroganz, dachte Alsop. Ihr Myste-rious kocht auch nur mit Wasser, sonst hätten euch die Zyzzkt nicht besiegt und sonst wärt ihr auch selbst mit dem entarteten Schwarzen Loch in der Milchstraße allein fertig geworden. Seid ihr aber nicht. Das mußten Terraner und Rahim erledigen... Und Cyborgs habt ihr auch nie entwickelt! Gisol entwarf eine selbstabspielende Botschaft für General Gut-ter, programmierte seinen Flash und schickt ihn mit eben dieser Nachricht zum Gefechtsstand zurück. Er wollte die günstige Gelegenheit ausnutzen und sich von Gutter noch mehr der Thermo-bomben schicken lassen, um mit ihnen noch mehr Chaos anzurichten. Alsop war mit dem Plan einverstanden, da der Flash in spätestens 30 Minuten zurück sein müßte - mit den Bomben. Jetzt, da der sichere Weg gespeichert war, ging das alles viel schneller als beim vorsichtigen Herantasten während des Herflugs. Da sich jetzt keine Insassen im Flash befanden, konnten natürlich weit mehr Bomben geladen werden. Um so größer würde das Chaos sein, wenn es ihnen gelang, diese Bomben an strategisch wichtigen Stellen des Hauptquartiers zu verteilen und zu zünden. Im Schutz der Dunkelheit sollte das nicht allzu schwierig sein, wenn die Zyzzkt sich tatsächlich so sicher fühlten, wie Gisol annahm. So ganz war Alsop davon nicht überzeugt. Aber warum sollten sie nicht einfach Glück haben? 138 ERINNERUNGEN: Terra, Januar 2059
Ezbal begab sich zu dem Raum, in dem Alsop und Carrell auf ihn warteten. Holger Alsop
blickte ihm ausdruckslos entgegen, als er eintrat.
»Ich werde sterben«, sagte er.
»Davon kann keine Rede sein«, widersprach Ezbal. »Bislang ist nur bekannt, daß auch Ihre
Viren verändert sind. Was genau...«
»Ich werde sterben«, unterbrach ihn Alsop. »Und zwar in ziemlich exakt neun Tagen.«
»Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?«
»Sie ist nicht absurd. Sie wissen doch, wie lange ein Cyborg maximal phanten kann, ohne daß
es ihn umbringt.«
Ezbal schüttelte den Kopf. »Sie müssen nicht permanent auf Phant bleiben. Wir helfen Ihnen
mit Medikamenten. Alles andere wird sich finden. Geben Sie uns etwas Zeit.«
»Ich habe keine Zeit«, erwiderte Alsop fast trotzig. »Denn Sie irren sich.«
»Inwiefern?«
»Ich kann den Phantmodus nicht mehr verlassen. Obwohl ich es wieder und wieder versucht
habe. Deshalb werde ich sterben, und niemand weiß das besser als Sie. In jetzt noch genau
neun Tagen und...« er tippte mit Nachdruck auf sein Chrono »... drei armseligen Stunden.«
Er -war damals nicht gestorben. Er "war ein Cyborg, Ein Cyborg mit einer Lebenserwartung von vierhundert bis fünfhundert Jahren. So hatte Ezbal es ihm damals versprochen. Und erst drei Jahre waren vergangen - drei Jahre,
so kurz und doch so lang wie eine
Ewigkeit.
Nein, der Tod war nicht Holger Alsops Freund.
Ein langes Cy borgleben lag noch vor ihm. Vielleicht lebte er noch, wenn selbst Gisol bereits
tot war. Gisol, der Draufgänger, der mit dieser Charaktereigenschaft eine verblüffende
Ähnlichkeit mit Ren Dhark besaß, nur war der Worgun dabei noch risikobereiter als der
Terraner.
War der Tod Gisols Freund?
GEGENWART P sehend, Ende April 2059
»Warten Sie«, sagte Alsop warnend, als Gisol wieder zur Hallentür ging.
»Was haben Sie?« fragte der Mysterious.
»Da draußen sind die Zyzzfct, Ihre Todfeinde«, sagte Alsop. »Sie sollten vorsichtig sein.
Wenn die Zyzzkt Sie entlarven, werden sie Sie töten.«
»Ich weiß«, erwiderte Gisol. Er lachte. »Ich mache das nicht zum ersten Mal. Sie werden mich
nicht entlarven. Ich kenne sie zu gut.«
»Sie kennen andere Zyzzkt. Kennen Sie auch diese hier?«
»Ein Zyzzkt ist wie der andere. Was ist los mit Ihnen, Alsop? Sie machen einen recht
paranoiden Eindruck. Stimmt etwas nicht mit Ihrem Zweiten System?«
»Damit ist alles in Ordnung«, sagte Alsop schroff.
»Wirklich? Vor ein paar Monaten...«
»Wenn Sie auf die Cyborg-Krise anspielen, Gisol - das war die Biokomponente, der
Phantvirus. Mein Programmgehirn ist völlig in Ordnung.«
»Wenn Sie das sagen«, brummte der Worgun. »Aber vielleicht
140
ist Ihr Gefühlsleben nicht in Ordnung. Mit Ihnen stimmt etwas nicht, Holger.«
»Mein Gefühlsleben hat damit nichts zu tun. Ich bin ein Cyborg. Ich denke logisch. Und
deshalb muß ich Sie warnen. Draußen ist es zu ruhig. Vielleicht ist es eine Falle. Vielleicht
wissen die Zyzzkt bereits, daß wir hier sind.«
»O ihr Götter Orns«, seufzte Gisol. »Sie hätten sofort zugeschlagen. Die Zyzzkt spielen nicht.
Dazu sind sie nicht intelligent genug. Sie gehen immer den direkten Weg. Wenn sie wüßten,
daß wir hier sind, hätten sie schon zugeschlagen und notfalls die ganze Halle vernichtet.
Machen Sie sich doch nicht selbst verrückt. Holger. Ich schaue mich draußen um. Wenn der
Flash zurückkommt, müssen wir schnell sein. Wir müssen wissen, wo wir die Bomben am
besten plazieren. Ablegen, abhauen, zünden! Deshalb erkunde ich die Umgebung.«
»Lassen Sie mich das tun.«
»Sehen Sie aus wie ein Zyzzkt?«
Ohne ein weiteres Wort stakste Gisol im typischen, etwas schaukelnden Gang der Insektoiden
hinaus.
»Narr«, flüsterte Alsop. »Selbstmörderischer Narr!«
Aber sein Programmgehirn sagte ihm, daß Gisols Vorgehen logisch war. In seiner Zyzzktgestalt konnte er sich erheblich freier bewegen als Alsop. Der sah mit seiner schlanken, hochgewachsenen Figur zwar nicht aus wie die gedrungenen, kleinen Pscheriden, diese abgebrochenen Riesen, aber er würde Aufmerksamkeit erregen, und das war das letzte, was sie gebrauchen konnten. Gisol dagegen konnte ruhig gesehen werden. Aus der Distanz und bei Nacht würden die Zyzzkt ihn unbedingt für einen von ihnen halten. Er war relativ sicher, selbst wenn man ihn bemerkte. Gestaltwandeln hatte auch seine Vorteile! Dennoch fürchtete Alsop, daß der Worgun den Bogen diesmal überspannte. Wenn sie ihn entlarvten, würde auch Alsop ihn nicht retten können. Und ohne Gisol war auch die ganze »Operation Orn« zum Scheitern verurteilt. Die Unterstützung der Römer reichte bei weitem nicht aus, sich in dieser fremden Galaxis unter Feinden bewegen zu können. Was blieb, war die Rückkehr nach Terra, ohne nennenswerte Erkenntnisse eingeholt zu haben. Eine schlimmere Niederlage konnte Ren Dhark kaum erleben. Er hatte schon genug Schwierigkeiten gehabt, diese geldverschlingende Expedition durchzusetzen, obgleich der Staatshaushalt Terras vor dem Zusammenbruch stand. Kehrte er mit leeren Händen zurück, war das das Ende seiner Karriere. Dann war er die längste Zeit Commander der Planeten und damit Regierungschef gewesen. Die Medien würden ihn anprangern und schlachten, der Staatsgerichtshof würde ihn wegen Verschwendung wertvoller Ressourcen und Finanzen anklagen... Veruntreuung... Seine ständige Suche nach den Mysterious war vielen Menschen ohnehin immer unverständlich geblieben. Manche nannten es Besessenheit, und selbst aus seinem engsten Freundeskreis gab es deshalb immer wieder Kritik. Diesmal aber überspannte er den Bogen. Wer würde ihm glauben, daß er wirklich einem Mysterious begegnet war, wenn dieser Mysterious nicht mehr existierte? Auf Terra war »Jim Smith« offiziell ein Rätsel geblieben. Allenfalls Dharks Stellvertreter Trawisheim und der Geheimdienstchef Eylers waren noch eingeweiht. Aber wer würde ihnen glauben? Dhark verschwand in der Wahlkampfphase in eine fremde Galaxis, um seinem Hobby, seiner Besessenheit nachzugeben! Und das in einer Zeit, in welcher er und auch das Geld, das diese Expedition kostete, daheim dringend gebraucht wurden! Man würde es ihm nicht verzeihen. Die Menschen, die ihn einst bejubelt und auf ihren Schild gehoben hatten, als er die Erde vom Joch der Giants befreite - diese Menschen würden ihn fallenlassen wie glühende Kohle und ihn am Boden zertreten. Deshalb mußte Gisol überleben! Er mußte als Beweis zurückkehren in die Milchstraße, nach Terra! Und sie alle mußten hand 142 feste weitere Beweise mitbringen. Wie aber, wenn sie nicht mehr weiterkamen, weil ihr »Fährtensucher« nicht mehr existierte? Und nun sah es plötzlich so aus, als überreize Gisol sein Blatt...
Gisol fühlte die seltsame Unruhe in dem Terraner. Er wußte längst genug über die Cyborgs, daß ihm klar war: Das konnte eigentlich nicht sein! Es sei denn, Alsop hatte auf Normal zurückgeschaltet. Das würde seine offenkundige Nervosität erklären. Aber das war unwahrscheinlich. Auch wenn Alsop sportlich durchtrainiert war, mußte ihm die hohe Schwerkraft von l ,49 Gravo langfristig zu schaffen machen. Das konnte auch der höhere Sauerstoffanteil der Atmosphäre nicht ausgleichen. Ein Sauerstoffrausch konnte ihm nur kurzfristig Kraft gegeben; der Zusammenbruch würde dennoch erfolgen. Alsop zeigte aber keine Anzeichen von Erschöpfung. Was also war mit dem Cyborg los? Gisol drehte eine Runde um die Halle. Alles war ruhig. Weit entfernt im großen Lager gab es Licht und Bewegung. Kampffahrzeuge und Schweber waren dort abgestellt, und im Stemenlicht sah Gisol Zyzzkt-Soldaten, die mit irgendwelchen Tätigkeiten befaßt waren. Was genau sie machten, konnte er aus der Distanz nicht erkennen. Der Worgun beabsichtigte, seine Runde spiralartig anzulegen und vorsichtig immer weiter vorzudringen, um sich Übersicht zu verschaffen. Als er die Seitentür fast wieder erreichte, durch die er die Halle vor ein paar Minuten verlassen hatte, sah er eine zweiköpfige Zyzzkt-Streife herankommen. Die beiden Soldaten waren
offenbar auf Kontrollgang und wollten sich die Halle näher ansehen.
Genau das konnten die beiden Eindringlinge jetzt nicht gebrauchen! Selbst wenn Alsop sich
verbarg, würden die beiden Zyzzkt "ritbekommen, daß mit den Flash etwas nicht stimmte.
Und wenn
143
dann Gisols Maschine ebenfalls gerade zurückkehrte, gab es garantiert Ärger.
Er mußte dafür sorgen, daß die Zyzzkt keinen Alarm geben konnten.
Er bewegte sich so schnell wie möglich. Aber er konnte nicht mehr verhindern, daß sie die Tür
erreichten und öffneten. Sie wunderten sich darüber, daß sie nicht verriegelt war!
Er trat aus dem Dunklen hervor und sprach die beiden an. Sie wandten sich zu ihm um und
richteten ihre Handlampen auf ihn. Seine Rangabzeichen verrieten ihnen, daß sie es mit einem
Offizier zu tun hatten.
»Was machen Sie hier?« schnarrklickte Gisol. Er beherrschte ihre Sprache beinahe perfekt.
»Routinekontrolle, Herr. Diese Tür ist offen. Das entspricht nicht der Vorschrift. Wir müssen
das melden.«
»Ich erledige das«, sagte Gisol. »Weitermachen.« Dabei wies er in die Richtung, die die beiden
Soldaten auf ihrem Kontrollgang weiterführten.
»Verzeihung, Herr«, wandte der andere Zyzzkt ein. »Aber ich habe Sie bisher noch nicht im
Stützpunkt gesehen.«
»Diese Bemerkung steht dir nicht zu, Soldat«, schnarrte Gisol.
Und plötzlich begriff er.
Seine Uniform entsprach nicht ganz der dieser Soldaten. Sie wies ihn als Angehörigen der
Bodentruppen aus, die beiden Soldaten hingegen trugen Uniformen der Raumstreitkräfte! Hier
waren die Kompetenzen wohl etwas anders verteilt, als General Gutter annahm!
Ein kleiner, tödlicher Fehler.
Er zog den Biaster.
Aber die Zyzzkt waren schneller. Vielleicht wurden sie mit der hohen Schwerkraft besser fertig
als er - Insekten waren dafür bekannt, körperlich weitaus belastbarer zu sein als andere Spezies
oder sie trugen Hilfsgeräte, um die auf sie einwirkende Gravitation entsprechend zu reduzieren.
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Wie auch immer - sie zielten mit ihren Waffen bereits auf ihn, ehe er seinen Biaster auch nur
halb ausrichten konnte.
Gisol sah dem Tod ins Gesicht. Dem Tod, der aussah wie zwei Zyzzkt-Soldaten.
Dann blitzten die Strahlen.
Der zweiundsechzigjährige Kanadier George Lautrec glich eigentlich mehr einem Holzfäller
denn einem Wissenschaftler. Ob er seinen Spitznamen »Grizzly« seiner Herkunft, seinem
dichten Bart, seinem guten Gebiß oder seinem tiefen Bärenbaß verdankte, wußte er selbst nicht
so genau, und es war ihm auch herzlich egal. Solange man ihn nicht unnötig reizte, sah er
keinen Anlaß, seine Krallen auszufahren.
Manchmal fiel es allerdings auch einem Gemütsmenschen wie ihm schwer, ruhig zu bleiben.
Mit Wallis' Vorzimmerdame hätte er liebend gern einmal »Bärenjagd« gespielt - wobei der Bär
der Jäger war. Die Frau wollte ihn partout nicht zum Chef vorlassen.
»Tut mir leid, aber Mister Wallis hat angeordnet, ihn bis zwölf Uhr mittags nicht zu stören«,
wiederholte sie wie eine defekte Grammophonplatte immer wieder dieselbe Floskel. »Sie hätten
sich anmelden müssen, Mister Lautrec.«
»Betätigen Sie jetzt endlich Ihre Gegensprechanlage und sagen Sie ihm, daß ich hier bin«,
knurrte George unwillig. »Der Boß wartet schon seit geraumer Weile auf meinen Besuch.«
»Das kann jeder behaupten. Tut mir leid, aber...«
Jetzt reichte es dem Kanadier. Er langte über den Schreibtisch der Sekretärin und drückte selbst
aufs Knöpfchen.
Terence Wallis meldete sich unwirsch. »Was soll das? Ich habe doch darum gebeten, nicht
gestört...!«
»George Lautrec«, unterbrach ihn der unangemeldete Besucher. »Stichwort: Carborit.«
Das genügte. Wallis forderte ihn auf, sofort hereinzukommen.
Für seine Sekretärin fügte er hinzu: »Und jetzt will ich erst recht nicht gestört werden, klar?«
»Höchste Zeit, daß Sie Ihr Schweigen brechen«, begrüßte er kurz darauf den Wissenschaftler,
während er einige Arbeitsunterlagen zusammenraffte und in seiner großen
Schreibtischschublade verschwinden ließ. »Allmählich verliere ich nämlich die Geduld.
Normalerweise informieren mich meine Mitarbeiter vor Beginn ihrer Forschungen, worum es
geht, schließlich finanziere ich das alles. Eure Carborit-Geheimniskrämerei hat auf Eden und
auf dem Rückflug gehörig an meinen Nerven gezerrt. Schwamm drüber, das Warten hat sich
wenigstens gelohnt. Für Ihren Alleingang bringe ich allerdings nicht so viel Verständnis auf,
Lautrec. Wieso haben Sie nicht wenigstens Ihre Kollegen über Ihre Gedankengänge, Pläne oder
was auch immer unterrichtet?«
»Ich konnte Sie und die anderen nicht früher einweihen«, ent-gegnete George und setzte sich
unaufgefordert hin. »Meine Idee war noch nicht ganz ausgereift. Erst letzte Nacht habe ich
meine Berechnungen vollständig beendet. Es hört sich phantastisch an, doch ich bin felsenfest
überzeugt, daß es funktioniert.«
Er griff in seine Jackentasche. Wallis erwartete, daß er einen Datenträger hervorholen würde.
Statt dessen legte ihm der Kanadier nur ein verknittertes, schon ziemlich vergilbtes
Taschenbuch auf den Tisch.
»Was ist das?« fragte Wallis.
»Man nennt es Buch«, antwortete George. »Vor Urzeiten, als es noch keine
Computerbildschirme gab, benutzte man es zum Lesen.«
»Überschätzen Sie nicht die Reißfestigkeit meines Geduldsfadens, Lautrec!« warnte ihn Wallis,
der in diesem Moment nicht im geringsten gewillt war, Spaß zu verstehen.
Mit mürrischer Miene nahm er das Buch zur Hand. Ein gewisser James Blish hatte es
geschrieben, und es trug den Titel: »Die fliegenden Städte.«
Terence Wallis atmete durch, ganz, ganz tief. Er gehörte zu den
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"Menschen, die eins und eins blitzschnell zusammenzählen konnten.
Da war zum einen das Gespräch mit Lautrec, auf dem Hinflug nach Eden. Thema: Die
Verlegung der Wallis-Werke nach M 53. Fügte man den Titel dieses Buches hinzu...
»Das... das meinen Sie nicht im Ernst, George«, stammelte der Unternehmer, den
normalerweise nichts so leicht ins Stottern brachte.
Lautrec nickte nur, und seine Mundwinkel sagten den Ohren »Guten Tag« - wobei sich sein
Bart wie ein Theatervorhang öffnete und eine Reihe blendendweißer Zähne zum Vorschein
kam.
Wallis bediente die Gegensprechanlage.
»Rufen Sie den Rest des Teams zusammen«, wies er seine Sekretärin an.
Eine echte Privatsekretärin verstand ihren Chef auch ohne viele Worte. Das Team - sie wußte,
wer damit gemeint war.
»Bitte halten Sie bis zwölf Uhr sämtliche Störungen von mir fern«, äffte sie ihren
Brötchengeber nach, in der Annahme, die Sprechanlage sei wieder abgeschaltet.
»Das hab ich gehört!« ertönte es aus dem kleinen Gerät auf ihrem Schreibtisch.
Erschrocken betätigte sie den Sensorschalter und deaktivierte die Verbindung. Glücklicherweise
war Wallis kein nachtragender Mensch. Sie kam seiner Anweisung nach und bestellte Saam,
Lindenberg und Ramoya übers Vipho ins Verwaltungsgebäude.
»Dieser Band war einst eins meiner Lieblingsbücher«, sagte George Lautrec und deutete auf das
zerknitterte Taschenbuch, in dem Robert Saam interessiert blätterte. »Der Autor verfaßte die
Geschichten darin ab 1956. Sammler würden mir einen ordentlichen Preis dafür zahlen,
dennoch habe ich es nie übers Herz gebracht, aas Buch zu verkaufen, ich hänge zu sehr daran.
Wie klug diese
Entscheidung war, kristallisiert sich erst jetzt heraus, denn wäre mir das Buch vor einigen
Wochen bei Renovierungsarbeiten nicht zufällig in die Hände gefallen, hätte ich wohl nie den
Einfall gehabt, Wallis Industries auf die darin beschriebene Weise nach Eden zu verlegen.«
Saram Ramoya, der den Inhalt kurz überflogen hatte, schüttelte amüsiert den Kopf. »Das kann
unmöglich dein Ernst sein, George. Du willst uns alle hochnehmen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich will ich euch hochnehmen«, bestätigte ihm der bärtige
Allroundwissenschaftler. »Bis ganz nach oben ins All. Mitsamt unserer achtzig
Quadratkilometer großen Firmenzentrale.«
»Und wie willst du das schaffen?« fragte Regina Lindenberg.
»Ich ahne, wie«, warf Robert Saam ein. »Das ist genialer als genial. Wieso bin ich nicht als
erster darauf gekommen?«
Die drei hatten auf einer Sitzgruppe in Wallis' Büro Platz genommen. Terence saß hinter seinem
Schreibtisch, und George stand neben einem Wandbildschirm.
Der Kanadier betätigte einen Schalter, und auf dem Schirm erschienen nacheinander mehrere
Skizzen, zu denen er einige Erläuterungen gab.
»Carborit, die wohl größte Erfindung dieses Jahrhunderts, macht es möglich, die Phantasien von
James Blish zur Realität werden zu lassen. Diese Skizze zeigt ein Traggerüst aus Carborit, das
mit l Zentimeter dicken Carboritplatten in den Untergrund unseres Stammwerks eingezogen
werden kann - die schwierigste Arbeit an der ganzen Sache und nicht gerade billig.«
»Das Werksgelände oberirdisch komplett mit Carborit zu ummanteln wird sicherlich noch
teurer«, vermutete Saam. »Garantiert«, pflichtete Lautrec ihm bei. »Darum verzichten wir auch darauf. Ein einfacher Energieschirm zur Aufrechterhaltung des Luftdrucks genügt völlig, um die Anlagen zu schützen. Das komplette Werk wird anschließend mit Antigravantrieb aus dem Boden gelöst und mit billigen Sprungtriebwerken nach Eden ge
148 flogen.« »Ich melde mich freiwillig als Pilot«, sagte Terence Wallis, obwohl er noch nie ein Raumschiff geflogen hatte. »Das würdest du nicht überleben«, erklärte ihm Robert Saam. »Der Sprungschock einer solchen Masse wäre für unsere zerbrechlichen menschlichen Körper zu heftig.« Lautrec nickte. »Einzig und allein Roboter werden mitfliegen und die ganze Aktion unterwegs überwachen.« »Schade«, meinte Wallis und stellte ihm die nicht ganz unwichtige Frage nach dem Kostenfaktor. Auch darauf war George vorbereitet. »Die Verlagerung des Stammwerkes nach Eden dürfte in etwa zwei Milliarden Dollar betragen - und somit weniger als die jährliche Steuerlast von Wallis Industries. Hinzu kommen die Kosten für die Verlegung Ihrer über die ganze Erde verteilten kleineren Werke, Mister Wallis. Theoretisch könnte man sie auf die gleiche Weise nach Eden transportieren, doch es wäre preisgünstiger, die Anlagen und das Personal mit Raumschiffen zu evakuieren und die Werksgebäude auf Eden neu zu errichten.« »Offensichtlich haben Sie an alles gedacht«, lobte ihn der Unternehmer und warf Saam einen schadenfrohen Seitenblick zu. »Wie es aussieht, bist du nicht das einzige Genie auf Erden, Rob bie.« »Habe ich auch nie behauptet«, erwiderte Robert und fügte in aller Bescheidenheit hinzu: »Ich bin nur das größte Genie auf Erden, weiter nichts.«
Liao Morei war knapp einssechzig groß und wirkte so zerbrechlich wie Glas. Möglicherweise würde sie tatsächlich zerbrechen, wenn man sie heftig auf den Boden schmetterte - nur war das bis Jetzt noch niemandem gelungen. Vielmehr hatte die wendige Chinesin, die elf Nahkampfsportarten beherrschte und eine zwölfte selbst entwickelt hatte, schon so manchen kräftigen Mann zu Boden geworfen, ohne sich dabei sonderlich anstrengen zu müssen. Natürlich gab es auch in ihrem Leben Augenblicke, in denen ein Mann umwerfend auf sie wirkte, doch dabei handelte es sich um Begegnungen der anderen Art, nicht um Kampfhandlungen. Als oberste Chefin der Wachmannschaft befehligte sie sowohl den Werkschutz von Wallis Industries als auch die Truppe für Außeneinsätze, ein weiträumiger Arbeitsbereich, der es ihr unmöglich machte, sich selbst um alles zu kümmern. Glücklicherweise verfügte sie über einen Stamm zuverlässiger Stellvertreter, die selbständig agieren durften, solange keine Beschwerden eingingen. Wallis wußte nicht nur die kämpferischen Fähigkeiten, sondern auch den messerscharfen Verstand der kleinen Frau zu schätzen. Daher war es nicht weiter verwunderlich, daß er sie immer öfter mit Sonderaufgaben betraute oder sie zu seinem persönlichen Schutz einsetzte. Vor einiger Zeit hatte er sie beauftragt, ein Dossier zur Com-mander-Wahl im November zu erstellen, und sie hatte ihm wie gewünscht Daten, Zahlen und Analysen geliefert. Daraus ging hervor, daß Dharks Chancen für eine Wiederwahl ziemlich schlecht standen - nicht zuletzt aufgrund seiner häufigen Abwesenheit. Sein Forscherdrang und seine Reisen ins Weltall schienen ihm wichtiger zu sein als die Regierungsgeschäfte auf Terra, weshalb ihm die Bevölkerung für jedes Problem die Schuld in die Schuhe schob und die Forderung nach einem neuen Commander der Planeten immer lauter wurde. Als »Retter der Menschheit« spielte sich Antoine Dreyfüß auf, Spitzenkandidat der Fortschrittspartei, ein blaßgrauer Berufspolitiker, dessen größte Fähigkeit darin bestand, kämpferische, aber schwammige Reden zu halten, in denen er dem Volk all das versprach, was er nach der Wahl sowieso nicht halten würde. Mit rhetorischem Geschick käute er das wieder, was das Wahlvieh von ihm hören wollte. Seine guten Aussichten verdankte er vor allem dem Medienkon 150 Intermedia, der die Fortschrittspartei hemmungslos unterstützte und fast täglich zur Abwahl der derzeitigen Regierung aufrief. Zwar berichtete auch Terra-Press laufend über die politischen
Geschehnisse, allerdings hielt sich Sam Pattersons Konzern mit Wertungen zurück und blieb mit der Berichterstattung auf dem Boden der Neutralität. Ren Dhark fand nur Unterstützung bei der PfD, der Partei für Demokratie, deren Ehrenvorsitzender er war. Sein Stellvertreter als Commander der Planeten, Henner Trawisheim, einziger Cy-borg auf geistiger Ebene, leitete die PfD. Terence Wallis fragte sich, warum Intermedia derart parteiisch war. In seinem Auftrag stellte Liao Morei derzeit entsprechende Ermittlungen an. Bislang waren allerdings kaum konkrete Ergebnisse zustande gekommen. Liao hatte mitunter das Gefühl, einige ihrer Informanten hätten überraschend ein Schweigegelübde abgelegt. Dir bisheriges Fazit: Die Fortschrittspartei und Intermedia hatten eine Menge zu verbergen. Das traf vor allem auf den fünfund-fünfzigjährigen Generalsekretär der Partei zu: Dave Paley. Paley, das hatte die Chinesin inzwischen herausgefunden, war der eigentliche Macher in der Partei. Er leitete die politischen Geschicke und betrachtete Dreyfüß als eine Art Werkzeug, einen Schraubenschlüssel zum Manipulieren von Wählern. War »der gute Antoine«, wie er ihn abfällig zu nennen pflegte, erst einmal an der Macht, würde Paley ihm schon zeigen, wo es langging. Wallis kannte Dave Paley bisher nur von Medienaufnahmen. Der stechende Blick des gerissenen Parteipolitikers verhieß nichts Gutes. Paley wirkte durch und durch verschlagen. Selbst sein sauber geschnittener, leicht rötlich angehauchter Backenbart konnte diesen Eindruck nicht wettmachen. Als Wahlkandidat hätte er mit Sicherheit einen der letzten Plätze belegt. Dreyfüß kam schon rein äußerlich wesentlich glaubwürdiger daher. »Ein verdammt gefährliches Duo«, resümierte Wallis in Moreis Beisein. »Ich werde mit Paley eine Verabredung treffen und ihm mal näher auf den Zahn fühlen. Möglichst unauffällig, versteht sich.« »Am unauffälligsten wäre es, wenn Sie nicht ihn, sondern Drey-fuß um eine Unterredung bitten«, schlug die Chinesin vor. »Jede Wette, daß Paley ihn begleitet. Wann sonst bietet sich ihm die Möglichkeit, mit dem reichsten Mann der Erde zu sprechen? Außerdem muß er achtgeben, daß Dreyfuß nichts Unbedachtes ausplappert. Je näher der Wahltermin rückt, um so unruhiger und unkontrollierbarer wird der FP-Spitzenkandidat nämlich. So wurde es mir zumindest von einer vertrauenswürdigen Quelle bei Terra-Press zugetragen. Ein Interviewtermin mit Bert Stranger soll An-toine Dreyfuß ziemlich nervös gemacht haben.« Wallis war ein Mann der Tat. Wichtiges erledigte er möglichst sofort. Er gab seiner Sekretärin Anweisung, die Verabredung mit Dreyfuß schnellstens in die Wege zu leiten. »Richten Sie seiner Sekretärin aus, es würde sich lediglich um ein zwangloses Treffen handeln, und dann schlagen Sie ihr das Los Morenos vor. Ach ja, er kann gern in Begleitung kommen. Ich bringe auch jemanden mit.«
Das spanische Restaurant Los Morenos lag in Alamo Gordo, im Amüsierviertel am Rande des Raumflughafens Cent Field. Betrieben wurde es von den Brüdern Jüan und Jose Moreno. Letzterer kochte in der Regel, während Jüan die Bedienung der Gäste übernahm. Natürlich konnte er auch kochen, und ebenso verstand sich Jose aufs Kellnern, so daß sich beide nötigenfalls gegenseitig ersetzen konnten. Unersetzlich hingegen waren die Gäste, von denen sie lebten, und die kamen nur, wenn es auch schmeckte. Bisher hatte sich noch niemand beschwert (abgesehen von vereinzelten notorischen Nörglern, die grundsätzlich über alles die Nase rümpften, was nicht wie eine Bratwurst roch). Die Speisekarte im Los Morenos
152 war typisch spanisch, die Mahlzeiten wurden stets frisch zubereitet - kein Wunder also, daß die 30 Plätze abends meist vollständig besetzt waren. Zu den prominentesten Gästen gehörten Commander Ren Dhark und seine Mannschaft, für die immer ein Stuhl frei war. Auch Ter-ras vermögendster Unternehmer pflegte hier hin und wieder zu speisen. Jüan begrüßte ihn und seine hübsche Begleiterin an der Tür und führte sie an den reservierten Vierpersonentisch. Dreyfuß und Paley waren noch nicht eingetroffen. »Ziemlich voll heute«, stellte Terence Wallis nach einem Rundblick fest. »Ich bin froh, daß wir trotzdem einen Platz ergattern konnten.« »Eigentlich waren wir ausgebucht«, gestand Jüan. »Kurz bevor Ihre Sekretärin vorgestern anrief, hatte gerade ein bekannter Musikmanager den letzten Tisch für sich und seine drei neuesten Entdeckungen reserviert. Ich habe ihm daraufhin wieder abgesagt.« »Hoffentlich haben Sie ihn damit nicht für alle Zeiten verprellt«, entgegnete Wallis' Tischdame Liao Morei.
Jüan winkte lässig ab. »Meinethalben kann er heute abend ruhig woanders hingehen. Joses gutes
Essen wird ihn schon wieder zurück in unsere Arme treiben.«
»Muß man den Mann kennen?« erkundigte sich Liao, während sie sich hinsetzte.
»Nicht unbedingt«, antwortete Jüan. »Obwohl er ziemlich oft in der Klatschpresse steht.
Angeblich hat er einen ziemlichen Frauenverschleiß. Zudem soll er ein waschechter Nachfahre
von Anna Boleyn sein, der zweiten Gemahlin Heinrichs VIII. von England, die im sechzehnten
Jahrhundert auf Geheiß ihres Gatten hingerichtet wurde.«
Liao ging ein Licht auf. »Ach, wir reden von Dieter Boleyn und seinen Superstars. Ist nicht
mein Typ.«
»Sie sollen ihn ja auch nicht heiraten«, sagte Terence, »sondern lediglich seinen Tisch
besetzen.«
Die beiden Politiker betraten die Gaststube. Jüan begrüßte auch
sie. Anschließend verteilte er die Speisekarten.
Wallis wurde schnell fündig. Als Vorspeise nahm er eine Sopa de Marisco, und Zarzuela de
Pescado, eine Spezialität aus dem Topf, erwählte er zur Hauptspeise. Morei schloß sich ihm an,
überlegte es sich dann aber zweimal anders (ein Vorrecht der Frauen) und tauschte letztlich die
Suppe gegen einen »Ensalada Special«, einen überaus reichhaltigen Salat mit Thunfisch,
Krabben, Eiern,' Tomaten, Gurken, Mais, Zwiebeln und Käse.
Antoine Dreyfuß kam mit den spanischen Bezeichnungen nur unzureichend zurecht. »Eine
Vorsuppe hätte ich auch gem. Marisco klingt gut, Mister Wallis. Was ist darin enthalten?«
»Meeresfrüchte«, antwortete ihm der Milliardär. »In meiner Hauptspeise ebenfalls.«
»Interessant. Was für Früchte wachsen denn auf dem Meeresboden?«
»Salm, Seehecht, Krabben, Muscheln, Tintenfisch...« »Fische? Nein danke, da ist mir richtiges
Heisch schon lieber.« »Dann bestellen Sie doch Parillada de came, einen Fleischteller mit
Lamm, Rind und Schwein.« <
»Danke, eine ausgezeichnete Idee. Auf die Vorspeise verzichte ich lieber ganz, der Teller ist
sicherlich gut gefüllt.«
Paley mußte nicht so lange nachdenken. Er entschied sich für Paella Valenciana. Jüan wies ihn
darauf hin, daß Paella erst ab zwei Personen serviert wurde, woraufhin Liao ihr Hauptgericht
wieder abbestellte und sich nunmehr an der Paella beteiligte.
Den Wein zum Essen suchte Wallis höchstpersönlich aus. Die Morenos hatten zu jeder Mahlzeit
den passenden Tropfen im Keller.
Während des erlesenen Essens drehte sich das Gespräch zunächst ganz allgemein um Politik,
wobei Dreyfuß und Paley fortwährend betonten, was für ein Segen die Fortschrittspartei für die
freie Unternehmerschaft sei. Jeder vierte Satz von ihnen begann mit der Floskel: »Sobald wir
erst einmal an der Macht sind...«
»Und wenn Sie gar nicht an die Macht kommen?« sprach Teren
154 ce Wallis es offen aus. »Das wäre Terras Untergang«, war Dave Paley überzeugt. »Deshalb sind wir dringend auf Unterstützung aus der Wirtschaft angewiesen. Auch auf Ihre, Mister Wallis. Wie mir unsere Spendenbuchhaltung mitteilte, ist von Ihnen bislang noch kein Cent Unterstützung eingegangen.« »Das wird auch so bleiben«, erwiderte Wallis. »Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich lieber die Ziele der PfD unterstütze. Immerhin ist deren Ehrenvorsitzender mein Freund.« »Nach der Wahl mischt Commander Dhark nicht mehr in der terranischen Politik mit«, sagte Paley. »Dann werden Sie es bereuen, sich gegen uns gestellt zu haben. Ein Fehler, den Sie nie wieder gutmachen können.« Mehrfach versuchte Wallis, das Thema »Politik und Medien« auf den Tisch zu bringen, doch seine beredten Gesprächspartner ließen sich nicht darauf ein. Sie verstanden sich meisterhaft darauf, Gerüchte über Zusammenhänge zwischen der Fortschrittspartei und Intermedia herunterzuspielen, ohne sie direkt zu bestreiten. Eine rhetorische Meisterleistung, zu der wohl nur Berufspolitiker fähig waren. Nach Abschluß der Mahlzeit reichte Terence Wallis beste kubanische Zigarren herum. Dreyfuß und Morei lehnten dankend ab und zogen sich auf einen kleinen Plausch an die Bar zurück - wie Wallis es mit Liao vorab verabredet hatte. »Jetzt sind wir unter uns und können offen miteinander reden«, sagte der Milliardär zum Politiker, während beide genüßlich Rauchschwaden in die Luft pafften, die in der Schankstube nicht nach jedermanns Geschmack waren. »Mir ist Ihre versteckte Drohung vorhin nicht entgangen. Wie haben Sie das gemeint? Warum sollte es ein Fehler sein. Ihrer Partei keine Spenden zukommen zu lassen? Ich wüßte keinen vernünftigen Grund, ausgerechnet Ihnen und Ihrer Anhängerschaft mein sauer verdientes Geld in den Rachen zu stopfen.«
»Ich schon«, erwiderte Dave Paley und blies ihm den Rauch mitten ins Gesicht. »Ich sage nur: Terranische Verfassung, Paragraph vierzehn, Absatz drei. Können Sie mit dieser Angabe etwas anfangen?« Wallis hustete, nahm einen Schluck aus seinem Weinglas und behielt es dann in der Hand. »Nicht das geringste«, gab er offen zu. »Im Gegensatz zu meinen Anwälten, die den entsprechenden Passus für mich nachschlagen werden. Ich möchte Sie um etwas bitten, Paley. Geben Sie etwas mehr acht, in welche Richtung Sie ihren Rauch blasen. Ansonsten würde ich mich gezwungen sehen, meinen Rotwein zweckzuentfremden, um damit Ihre Zigarre zu löschen. Wäre schade um den guten Tropfen - und um Ihre schöne weiße Weste; manche Flecken lassen sich nur sehr schwer wieder rauswaschen.« Wenn Blicke hätten töten können, wäre der Milliardär in diesem Augenblick laut- und leblos von seinem Stuhl gekippt. Schweigend ließ Dave Paley die angerauchte Zigarre in seinem halbvollen Weinglas verlöschen, erhob sich von seinem Platz und verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken. Anschließend begab er sich zur Bar, sammelte dort seinen Spitzenkandidaten ein und verließ das Lokal. »Offenbar bleibt die Rechnung wie üblich an Ihnen hängen«, stellte der Jüan Moreno schmunzelnd fest, als er einen frischen Ascher auf den Tisch stellte. »Glücklicherweise trifft es keinen Armen.« »Sie wissen, daß ich alles andere als ein Geizkragen bin, Caballero«, entgegnete Wallis. »In diesem Fall möchte ich Sie allerdings bitten, mir nur das zu berechnen, was Miß Morei und ich verzehrt haben. Ich weigere mich nämlich hartnäckig, die Fortschrittspartei durch Spenden zu unterstützen - weder in Form von Geld noch in Naturalien.« »Verstehe. Ich schicke meine Rechnung an die Parteizentrale.« »Tun Sie das. Dort wird man sich förmlich überschlagen, den ausstehenden Betrag zu bezahlen. Auf die Schlagzeile >Spitzen-kandidat und Generalsekretär prellen Zeche< legt die Partei mit 156 Sicherheit keinen Wert, schon gar nicht so kurz vor der Wahl.«
Wallis zahlte und gab Jüan ein enorm hohes Trinkgeld.
Liao Morei gesellte sich wieder zu ihm. Ihre Getränkerechnung an der Bar hatte Dreyfuß
anstandslos beglichen, wie es sich für einen Kavalier der alten Schule gehörte.
»Was können Sie mit dem Verfassungsparagraphen 14, Absatz 3 anfangen?« wurde sie von
ihrem Chef gefragt.
»Nichts«, lautete die Antwort, wie er es erwartet hatte.
Wallis betätigte sein Armbandvipho.
Mit viel Geduld und noch mehr Akribie sortierte Alex Fortrose die Zettelwirtschaft auf seinem
Schreibtisch. Dabei glich er diverse handschriftliche Notizen mit den Eintragungen auf dem
Bildschirm seines Suprasensors ab. Die meisten Zettel warf er anschließend weg, den Rest
bewahrte er in einer buntbeklebten Holzschachtel auf.
Das war eine Marotte von ihm. Würde eines Tages weltweit das Netz zusammenbrechen und
kein Computer mehr funktionieren, könnte er jederzeit auf seine bunten Schachteln
zurückgreifen, die alle Informationen enthielten, die er zum Weiterführen seiner Kanzlei
benötigte. Selbstverständlich bewahrte er sämtliche Notizen in einem verschlossenen Schrank
auf; zudem verwendete er eine spezielle, von ihm selbst entwickelte Kurzschrift, die außer ihm
niemand lesen konnte.
Als sein Vipho läutete, legte Fortrose gerade den letzten Zettel in die Box. Sorgfältig schloß er
den Deckel. Mittels eines Spezialschalters verband er Vipho und Suprasensor, woraufhin das
Gesicht des Anrufers auf dem Computerbildschirm erschien.
»Was kann ich für Sie tun, Mister Wallis?« begrüßte der Anwalt seinen wichtigsten Klienten.
»Terranische Verfassung, Paragraph 14, Absatz 3«, sagte Terence Wallis nur.
Seine Worte lösten bei Fortrose einen tiefen Seufzer aus. »Eines Tages mußte es ja soweit
kommen, ich habe es immer befürchtet.«
»Sprechen Sie bitte nicht in Rätseln, Fortrose. Was haben Sie befürchtet?«
»Daß Sie der terranischen Regierung irgendwann zu mächtig werden. Politiker haben von Natur
aus ein einnehmendes Wesen, und es macht sie nervös, wenn sich einzelne Staatsbürger ihrer
Kontrolle entziehen. Als reichster Mann der Erde können Sie tun und lassen, was Ihnen beliebt,
Mister Wallis - genau das stört die Machthaber. Hat Trawisheim Ihnen gedroht? Oder
Commander Dhark selbst?«
»Weder noch. Nur zwei saubere Herren, die ihre Hände nach der
Regierungsmacht ausstrecken: Paley und Dreyfuß. Nun sagen Sie
schon, was es mit diesem ominösen Paragraphen auf sich hat.« A. B. C. D. E. Fortrose atmete
tief durch, bevor er antwortete. »Der dritte Absatz des vierzehnten Paragraphen der terranischen
Verfassung regelt die Möglichkeiten des Staates, Privatbesitz zu
enteignen.«
Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Wallis schaltete augenblicklich das Vipho ab, wobei
er vor Schreck vergaß, sich von Fortrose zu verabschieden.
Die im Los Morenos verzehrten Speisen ließen sich garantiert leichter verdauen als diese
juristische Auskunft.
Alsop sah das Verhängnis nahen. Durch ein Fenster sah er die beiden Wachsoldaten
herankommen, aber er konnte Gisol nicht warnen, weil er nicht genau wußte, wo der Worgun
sich gerade befand. Er hielt den Paraschocker bereit, um die beiden Zyzzkt sofort zu betäuben,
wenn sie die Halle mit den Flash betraten.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Jemand öffnete die Tür.
Aber in genau diesem Moment erschien Gisol. Alsop erkannte
158
ihn an der Art, wie er sich bewegte. Er mochte die Zyzzkt noch so gut imitieren, aber jede
winzige Feinheit konnte er nicht nachvollziehen. Sie schaukelten unmerklich intensiver, wenn
sie gingen. Einem normalen Menschen wäre das nicht aufgefallen, nicht einmal einem Zyzzkt,
und schon gar nicht bei Nacht. Aber als Cyborg registrierte Alsop den winzigen Unterschied.
Und als Gisol sie dann ansprach, erkannte Alsop auch seine Stimme, trotz des Schnarrens und
Mandibelklickens.
Verdammt, warum hat er sie nicht paralysiert oder mir das überlassen? fragte sich Alsop. Daß
Gisol das Risiko einging, die beiden Soldaten anzusprechen, war ein Fehler!
Das stellte sich dann auch sofort heraus. Die Zyzzkt wurden mißtrauisch. Worin dieses
Mißtrauen bestand, konnte Alsop nicht erfassen, weil ihm die Zyzzktsprache nicht geläufig war,
aber sie konnten Gisol auch nicht als Worgun durchschaut haben. Dennoch griffen sie sofort zu
ihren Waffen und waren dabei bedeutend schneller als der Gestaltwandler.
Noch schneller aber war der Cyborg. Er feuerte seinen Paraschocker ab und sah die beiden
Zyzzkt haltlos zusammenbrechen.
Mit einem Angriff von hinten, aus der Halle heraus, hatten sie nicht gerechnet. Sie hatten keine
Zeit mehr gefunden, nach dem Offnen der Tür einen Blick hineinzuwerfen, da Gisol sie in
diesem Moment bereits ansprach.
Alsop sprintete nach draußen, wo Gisol völlig überrascht dastand, die eigene Waffe erst halb
erhoben. »Schnell!« stieß der Cyborg hervor, bekam einen der Zyzzkt zu fassen und zerrte ihn
in die Halle. Mit den normal etwa 50 Kilo leichten Insektoiden wurde er auch unter
anderthalbfacher Erdschwere spielend fertig.
Gisol packte den zweiten, zerrte ihn ebenfalls nach drinnen und dachte daran, mit einem
weiteren seiner vier Zyzzkt-Arme die Tür wieder zu schließen. Sie schleiften die bewußtlosen
Insektenwesen m einen dunklen Winkel der Halle.
»Wenn Sie immer so leichtsinnig sind, Gisol, wundert es mich, daß Sie noch leben«, bemerkte
der Cyborg.
»Der Tod will mich nicht«, sagte der Worgun. »Er will, daß ich ihm die Zyzzkt schenke.«
»Auch 'ne Philosophie«, brummte Alsop.
Sein Programmgehim errechnete anhand von Körpermasse und Dosierung des Schockstrahls,
daß die beiden Insektoiden gut anderthalb Stunden betäubt bleiben mußten. Das reichte aus.
Er glaubte einen Schatten hinter sich zu sehen und fuhr herum. Da tauchte Gisols Flash wieder
aus dem Boden auf. Pünktlich auf die Minute. Das Intervallfeld, das sich mit nur 40 Zentimetern
Abstand um den zylindrischen Flugkörper schmiegte und nicht wie bei den Ringraumem eine
Kugelsphäre von 3000 Metern Durchmesser erzeugte, wurde abgeschaltet. Auf den
spinnenbeinartigen Auslegern setzte die Maschine federnd auf und schaltete den Brennkreis des
SLE ab, der unter dem Flash ein weiteres Loch in den Boden gebrannt hatte, wie schon beim
ersten Ein- und Ausflug.
Die Einstiegsluke klappte auf. Eine Thermobombe drohte nach draußen zu kippen, blieb aber
dann doch wieder ruhig liegen. Der Flash war randvoll mit den Bomben bepackt.
»Dann wollen wir mal«, sagte Gisol fast heiter. »Holen Sie schon mal die ersten Bomben,
Alsop. Wir verteilen sie schön weiträumig...«
Ahnungslos setzte der Cyborg sich in Bewegung und glaubte, Gisol werde ihm gleich folgen,
aber dann hörte er das helle Fauchen eines Blasters.
Er kreiselte herum.
Gisol steckte die Strahlwaffe gerade wieder in die Halterung zurück. Von den beiden Zyzzkt
war nicht mehr viel übrig. Aber von einem hielt Gisol die Uniformjacke in der Hand.
»Was sollte das?« fuhr Alsop den Worgun empört an. »Warum haben Sie die beiden ermordet?
Sie waren paralysiert und konnten uns nicht mehr gefährlich werden! Sie waren völlig
wehrlos!«
»Glauben Sie im Ernst, die Zyzzkt wären mit uns humaner vorgegangen?«
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»Das ist trotzdem kein Grund, Wehrlose zu ermorden! Gisol, Sie stellen sich damit auf die
gleiche niedrige Stufe mit Ihren Feinden!«
»Vielleicht bin ich das meinem Ruf schuldig«, sagte der Worgun
sarkastisch. »Haben Sie schon vergessen, daß ich der in der ganzen Galaxis gesuchte Schlächter
bin?«
8. Alsop war von der Kälte entsetzt, die in Gisol vorherrschte. Konnte ein denkendes Wesen tatsächlich so - so eiskalt sein, daß es dem Wert des Lebens anderer so wenig Bedeutung zumaß? Selbst mit der Logik seines Programmgehims vermochte er sich nicht in Gisols Denken hineinversetzen. Aber wer konnte schon die Mysterious verstehen? Wer konnte nachvollziehen, warum ein Volk vor seinem geplanten Verschwinden alles zerstörte oder mitnahm, was Rückschlüsse auf sein Aussehen, seine Kultur, seine Philosophie zuließ? In der Milchstraße war nur die Technik zurückgeblieben, sonst nichts. Nicht ein einziger persönlicher Gegenstand. Nicht einmal eine Zahnbürste... Und selbst alte Völker wie die Utaren oder die Nogk hatten nicht gewußt, wie die Mysterious aussahen, wer sie waren! In ihren Überlieferungen gab es sie nur als Feind, den sie die Grakos genannt hatten. ,,^^' Die wirklichen Grakos - das waren ganz andere. Jene, die sich teilweise der Technik der Mysterious bedienten. Aber auch dort, wo die Mysterious unmittelbar in die Entwicklung von Völkern und Planeten eingegriffen hatten, waren sie gefürchtet. Und jene Ansammlung von Vitrinen im Goldenen Menschen von Babylon, in denen sich jeweils Vertreter vieler intelligenter Völker in konservierter Form als Schaustücke befanden, zeugte nicht gerade von Respekt gegenüber anderen Lebewesen. Diese Vitrinen erinnerten an die Schaukästen von Schmetterlings sammlem, oder an die ausgestopften Trophäensammlungen von Jägern. Waren andere Lebewesen für die Mysterious nichts anderes als Tiere? Tiere, die man nach Belieben züchten oder schlachten konnte? Das rechtfertigte nicht das Vorgehen der Grakos oder der Zyzzkt gegen die Mysterious. Aber hatten diese es nicht verdient, auf dem Höhepunkt ihrer Macht und Dekadenz zurechtgestutzt zu werden, 162 wieder zurückgestoßen zu werden ins Nichts des Vergessens?
Selbst Rom war einst gefallen. Andere Reiche ebenso.
So wie Rom war auch das Reich der Mysterious schon lange Vergangenheit, aber die heutigen
Bewohner des Bereiches, in dem sich das Imperium einst befunden hatte, und auch die der
Römerkolonie auf Terra Nostra unterschieden sich in ihrem Denken weit von Gisol, der immer
wieder zeigte, wie sehr er noch in den Bahnen seiner Vorfahren dachte.
Dabei war er an sich nicht einmal unsympathisch. Er war ein guter, zuverlässiger Kamerad. Er
war ein Schlitzohr, und er kümmerte sich rührend um das Mädchen Juanita. Das waren Dinge,
die absolut für ihn sprachen. Seine Hilfsbereitschaft war enorm.
Aber auch sein Egoismus und seine Arroganz, die sich immer wieder zeigten. Und seine
Erbarmungslosigkeit, wenn es um die Zyzzkt ging. In ihm schwelte ein tödlicher Haß auf die
Insek-toiden.
Zu Recht oder zu Unrecht - Alsop wollte kein Urteil fällen. Vor allem nicht hier und nicht jetzt.
Er hoffte nur, daß es nicht irgendwann zu einer Katastrophe kam, in die auch Terraner
einbezogen wurden, weil Gisol in seinem Haß und seiner Verblendung einen Fehler beging.
Gisol wechselte die Uniformjacke, die er von General Gutter erhalten hatte, gegen die aus, die
er dem von ihm getöteten Zyzzkt abgenommen hatte. Damit wollte er verhindern, noch einmal
Mißtrauen zu erwecken. Allerdings setzte er »seine« Rangabzeichen an die Beutejacke -
Offizier zu sein war auf jeden Fall sicherer als der Status eines einfachen Soldaten.
Alsop sagte nichts mehr dazu. Warum auch? Der Doppelmord war geschehen, ließ sich nicht rückgängig machen, und alles andere mußte seinen Weg gehen. Er nahm einige der Bomben an sich. »Passen Sie auf, wenn Sie sie ablegen«, sagte Gisol. »Es darf keine Patrouille zufällig darüber stolpern, und es sollte soviel mili-tärisches Gerät vernichtet werden wie eben möglich. Lassen Sie sich auch nicht sehen, Alsop. Mich hält jeder für einen Zyzzkt, Sie fallen als Fremder auf.« »Ich bin kein kleiner Junge«, erwiderte der Cyborg. Gisol entwarf einen Verteilerplan. Alsop machte den Gegencheck und wartete mit Ergänzungen und Verbesserungen auf. Beide waren sie mit dem Lager nicht wirklich vertraut, konnten nur mit dem arbeiten, was sie in der Dunkelheit sahen, wobei Alsop mit seinem Cyborg-Sehvermögen im Vorteil war. Sie sprachen sich ab und trennten sich dann. Es war sinnlos, gemeinsam Bomben zu legen. Zu zweit, getrennt voneinander, war es effektiver. Auch hier war Alsop im Vorteil. Er konnte dank überlegener Kraft mehr Bomben zugleich tragen; lediglich ihre Sperrigkeit setzte die Grenzen. Gisol dagegen verfügte zwar auch über enorme Körperkraft, aber in seiner Zyzzkt-Gestalt konnte er nicht so agieren, wie er es gern getan hätte. Die größere Schwerkraft machte ihm hier gleich doppelt zu schaffen - sie wirkte auf seinen Zyzzktkörper und seine Worgunmasse zugleich. Alsop versuchte die Bomben unter all dem abgestellten Militärgerät unterzubringen. Wo Gisol sein Kontingent unterbrachte, wußte er nicht, aber er hatte eine vage Ahnung. Vermutlich ver minte der Worgun die Quartiere der Zyzzkt-Soldaten... das würde zu ihm passen. Die Thermobomben besaßen kombinierte Funk-/Zeitzünder. Bevor Alsop und Gisol sie verteilten, hatten sie sich in der Halle die Mühe gemacht, diese Zünder einzustellen. Sie würden im Abstand von etwa 15 Sekunden explodieren. Auslöser war ein Funkimpuls, der die Zündmechanismen insgesamt einschaltete. Dann liefen die Uhrwerke. Jede Bombe würde 15 Sekunden später explodieren als die vorige. Der Clou war, sie so zu verteilen, daß sie nicht alle in einer überschaubaren Reihe hochgingen, sondern völlig durcheinander - die eine an diesem, die andere an jenem Rand der Basis oder des Fuhrparks. Die Zyzzkt durften keinen festen Rhythmus erkennen. Aber je mehr Bomben zündeten, um so grö 164 ßer wurde das Inferno. Alles würde daraufhinauslaufen, daß diese Gefechtszentrale der Eroberer
völlig zerstört wurde, was den pscheriden für eine Weile Luft verschaffen mußte.
Immer wieder mußten die beiden zurück zu ihrem Flash, um weitere Bomben zu holen. Zeit
verstrich. Es ging alles nicht so schnell, wie sie es ursprünglich geplant hatten. Denn immer
wieder mußten sie Wachposten ausweichen, Streifengängem, die das Lager kontrollierten.
Ganz so sicher, wie Gisol zu Anfang vermutet hatte, fühlten sich die Zyzzkt hier wohl doch
nicht.
Der Worgun wurde unruhig, je länger es dauerte, zumal die hohe Schwerkraft an ihm zerrte und
zehrte. Er dachte an die beiden Zyzzkt, die er getötet hatte. Sie mußten doch inzwischen vermißt
werden!
Oder waren die Zyzzkt wirklich so vertrottelt, daß sie nur darauf achteten, wenn jemand eine
Alarmmeldung gab, nicht aber darauf, wenn eine Rückmeldung ausblieb?
Möglich war alles. Er wußte, daß die Intelligenz dieser Insektenkrieger nicht sonderlich
ausgeprägt war; vom Intellekt her waren sie den Worgun und wohl sogar den Terranem
unterlegen. Was sie stark machte, war ein ausgeprägter Überlebensinstinkt.
Andererseits wurde dieser Instinkt vom Gehorsamsprinzip überlagert.
Insekten eben, dachte Gisol abfällig. Die einzelne Ameise mag darauf achten, daß sie überlebt.
Aber wenn die Ameisenkönigin sie in die Schlacht schickt, wird sie gehorchen und ihr Leben
opfern, um dem Überleben des Ameisenvolkes zu dienen.
Er verteilte weiter seine Bomben.
Er mußte öfter zurück in die Halle und zum Flash, weil er nicht so viele Bomben tragen konnte
wie der Cyborg. Aber auf diese Weise traf er zwischendurch nicht mehr mit Alsop zusammen
und mußte sich dessen moralisierende Bemerkungen nicht mehr anhö-fen. Was Gisol tat, war
richtig, auch wenn Alsop es nicht akzeptieren würde und auch Ren Dhark es sicher nicht
akzeptieren konnte.
Doch die Freunde mußten sich eben damit abfinden.
Die Dinge waren so und nicht anders.
Noch einmal nahm er einige Thermobomben - die letzten - an sich, um sie möglichst direkt am
Befehlsstand unterzubringen. Der mußte in die Luft fliegen, auf jeden Fall.
Ein letztes Mal...
Zchren-Pre war unzufrieden. Sein Vorgesetzter hatte ihn aufgestört.
»Hole mir den dunklen Beutel aus dem Kampfpanzer!«
Warum holte er ihn sich nicht selbst? Natürlich tat er das nicht, weil er ja jemanden hatte, den er
damit beauftragen konnte. Warum sollte er sich also selbst auf die Beine machen?
Der dunkle Beutel - Zchren-Pre wußte genau, was sich darin befand, aber sein Vorgesetzter
wußte nicht, daß Zchren-Pre das wußte. Und der Zyzzkt hatte schon vor geraumer Zeit
beschlossen, dieses Wissen irgendwann einzusetzen.
Wissen ist Macht...
Manchmal wunderte er sich selbst über seine Gedanken. Er war ein Soldat, seine Aufgabe war
es. Feinde des Volkes zu vernichten. Es war nicht seine Aufgabe, sich selbst erhöhen zu wollen.
Aber er hatte es jetzt schon mehrmals erlebt, daß andere gleichen Ranges erhöht wurden, ohne
mehr geleistet zu haben als er selbst, und er war untengeblieben, ein einfacher Soldat. Niemand
beförderte ihn, egal, was er auch tat.
Das lag an seinem Vorgesetzten.
Davon war Zchren-Pre überzeugt. Sein Vorgesetzter verhinderte, daß Zchren-Pre befördert
wurde. Aus welchem Grund auch immer.
Aber Zchren-Pre würde sich das nicht mehr lange gefallen lassen. Denn auch sein Vorgesetzter
hatte einen Vorgesetzten. Und wenn er dem diesen dunklen Beutel aushändigte...
166
Aber noch war es nicht soweit.
Vorher mußte der Planet Pscherid erobert werden. Das war wichtiger als alles andere. Wichtiger
als die Schicksale von Zchren-Pre und dessen Vorgesetztem. Später, wenn der Kampf vorbei
und gewonnen war, war es an der Zeit, dem Schicksal eine Wendungzugeben.
Also holte Zchren-Pre gehorsam den dunklen Beutel aus dem Kampfpanzer.
Noch war er ahnungslos.
Holger Alsop hatte seine letzte Bombe abgelegt.
Er wußte, daß der Flash jetzt leer war. Also war Rückkehr angesagt. Er hoffte, daß auch Gisol
schnell zurückkehrte. Je früher sie von hier verschwanden, um so besser war es. Sein
Programmge-him verriet ihm, daß die Morgendämmerung kurz bevorstand. Noch war es Nacht,
aber in spätestens einer halben Stunde würde Pscherids Sonne den ersten Schimmer verbreiten,
und wenn es hell wurde, mußten sie verschwunden sein. Dann mußten auch die Bomben bereits
zünden, denn in der Dunkelheit war das Chaos viel perfekter, viel wirkungsvoller. Feuer in der
Nacht war immer bedrohlicher als bei Tageslicht. Zudem erschwerte die Dunkelheit die
Orientierung des Gegners.
Alsop und Gisol brauchten sich dann längst nicht mehr hier zu orientieren. Wenn die Bomben
zündeten, waren sie bereits fort.
Blieb nur zu hoffen, daß Gisol mit seinen letzten Bomben kein unnötiges Risiko einging. Alsop
traute ihm zu, daß er versuchte, eine Bombe unter dem Bettgestell des Zyzzkt-
Oberbefehlshabers ^ plazieren.
Einen Moment lang wünschte er sich, Gisol über Vipho errei-ehen und vor einer solchen Aktion
warnen zu können. Aber das ^ar zu riskant; es gab keine Abhörsicherheit, also hatten sie auf
diese Kommunikationshilfe verzichtet.
Zurück zum Flash! Alsop begann zu laufen.
Zchren-Pre hörte Schritte. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Außer ihm hielt sich niemand
hier bei den Kampffahrzeugen auf -zumindest war ihm nichts anderes bekannt. Wer also
bewegte sich hier?
Er sah einen Schatten, der lief, nur hatte dieser Schatten keine Ähnlichkeit mit einem Zyzzkt,
sondern eher mit einem Pscheriden, nur mußte dieser Pscheride ungewöhnlich groß und schlank
sein.
Auf jeden Fall hatte niemand, der kein Zyzzkt war, auf diesem Gelände etwas zu suchen!
Blitzschnell zog Zchren-Pre seinen Biaster und schoß ohne Vorwarnung. Er traf das Wesen, das
den Schatten warf, in der oberen Körperhälfte. Es lief regelrecht in den Blasterstrahl hinein und
wurde zweigeteilt. Der Zyzzkt sah, wie die beiden Fragmente des Körpers zu Boden stürzten.
Sie bewegten sich nicht mehr.
Dennoch blieb Zchren-Pre vorsichtig. Langsam und die Waffe weiterhin schußbereit in der
Hand, näherte sich dem Fremden.
Gisol befand sich ebenfalls auf dem Rückweg zum Flash, als er das helle Fauchen des
Blasterschusses hörte.
Etwas war schiefgegangen! War Alsop entdeckt worden?
Gisol rannte in die Richtung, aus der er den Schuß gehört hatte. Nach kaum mehr als hundert
Metern sah er einen Zyzzkt-Soldaten, der sich mit erhobenem Biaster vorwärts bewegte. In
einer seiner anderen Hände hielt er etwas Dunkles, einen Beutel vielleicht.
Jetzt hörte er Gisols schnelle Schritte, fuhr herum und richtete den Biaster auf den
Gestaltwandler. Aber er ließ die Waffe sofort
168
wieder sinken, als er den Offizier erkannte.
»Was ist hier passiert?« fuhr Gisol ihn schnarrklickend an. »Warum hast du geschossen, Soldat?
Was tust du überhaupt hier?«
»Ich sollte für...«, er nannte einen Offiziersrang und einen der unaussprechlichen Zyzzkt-
Namen, »... diesen Beutel aus einem der Panzer holen. Da sah ich einen Fremden und habe
sofort geschossen.«
»Was für einen Fremden?«
»Ich weiß es nicht, Herr. Er ähnelte einem Pscheriden, aber wiederum nicht ganz...«
»Und da hast du Narr sofort geschossen, statt zu beobachten und die Sichtung
weiterzumelden?«
»Ich hielt es für richtig, Herr!« verteidigte sich der Soldat.
Gisols Gedanken überschlugen sich. Bei dem Fremden konnte es sich nur um Alsop handeln.
Was war mit ihm?
Und - hatte dieser Zyzzkt-Soldat vielleicht noch mehr gesehen? Unter Umständen einen der
Sprengsätze zwischen den Panzern?
Es war schier unglaublich - das ganze Gelände war praktisch frei, die Wachsoldaten
patrouillierten vorwiegend rings um den Stützpunkt, und ausgerechnet dieses Insekt mußte hier
zwischen den Panzerwagen herumlaufen! Und dann auch noch auf Holger Alsop treffen!
»Es war falsch«, schnarrte Gisol. »Was ist mit dem Fremden? Hast du ihn getroffen?«
»Er stürzte zu Boden. Er ist tot. Ich zerstörte seinen Körper.«
Gisol starrte ihn an. Tot!
»Narr!« stieß er hervor, und sein Zorn war nicht einmal gespielt. »Wenn er noch lebte, könnte
man ihn foltern und befragen. Vielleicht treiben sich mehr von seiner Sorte hier herum! Du aber
hast ihn einfach getötet?«
»Ich dachte, wenn er entkommt, warnt er seine Kameraden.« »Soldaten sollen nicht denken«,
sagte Gisol wütend. »Wo ist der Tote?« Der Zyzzkt wies in die Richtung.
170 Während sie sprachen, formte Gisol an seinem Rücken - unsichtbar für den Soldaten - einen Tentakel aus, der unter der Uniformjacke hervorkroch. An der Spitze befand sich ein starker Dom. Gisol trat nahe an den Zyzzkt heran, der nichts ahnte. Dann, blitzschnell, holte er mit dem Tentakel aus und trieb dem völlig überraschten Soldaten den Dom durch die Brust. Die Chitinhülle des Insektoiden platzte auf, der Dom zerriß Ganglien und Tracheen, wütete blitzschnell im Körper des Opfers. Es ging so rasch, daß der Zyzzkt keinen Ton mehr von sich geben konnte. Als Gisol den Tentakel zurückzog, war der Insektoide bereits tot. Er brach lautlos zusammen. Gisol bewegte den von gelblicher Blutmasse verschmierten Tentakel über die Kleidung des Zyzzkt und wischte ihn so sauber. Dann zog er ihn zurück und verschmolz ihn wieder mit seiner Körpermasse. Nun suchte er Holger Alsop.
Er fand ihn neben einem Erdwall. Genauer gesagt, er fand die beiden Teile. Der Blasterstrahl hatte Alsop in Höhe des Brustbeins in zwei Teile getrennt. Gisol lauschte. Niemand sonst schien den Schuß bemerkt zu haben. Von Strei-fengängem war nirgendwo etwas zu sehen. Der Worgun fragte sich, was er jetzt tun sollte. Die sterblichen Überreste des Cyborgs hier zurücklassen oder sie bergen und zu den Terranem zurückbringen, damit sie dort ihr Bestattungsritual durchführen konnten? Er entschloß sich für die erste Möglichkeit. So bedauerlich der Tod des Cyborgs auch war - hier
gab es die Möglichkeit, den Zyzzkt zumindest teilweise eine Niederlage beizubringen. Gisol
Sollte am Ball bleiben. Er war es Alsop schuldig, die Aktion zu Ende zu bringen. Wenn er jetzt
zur Ringraumerflotte flog, war das ^n Ortungsrisiko, das den Plan in Frage stellte, und es
kostete
Zeit. Ließ er Alsops Leichnam hier zurück, würde dieser im Chaos der detonierenden Bomben
mitsamt dem Stützpunkt der Zyzzkt untergehen.
Gisol wandte sich ab.
Und verharrte in der Bewegung.
Da war etwas!
Er spürte, daß jemand ihn beobachtete!
Langsam näherte sich seine Insektenhand dem Blastergriff. Ganz langsam wandte er sich um.
Aber es war kein Zyzzkt, der ihn beobachtete.
Es war - Holger Alsop!
Für einen Moment war Gisol wie gelähmt. Zu seinem Entsetzen sah er, daß der Cyborg noch
lebte!
Wie war das möglich?
Das, was von ihm übrig war, mußte doch längst ausgeblutet sein! Der Unterkörper spielte
ohnehin keine Rolle mehr, aber alles andere...
... bestand praktisch nur noch aus dem Kopf, den Armstummeln und dem oberen Teil der Brust.
Aus diesen riesigen Wunden mußte alles Blut längst ausgeströmt sein, die Gehimfunktionen
erloschen, weil dieses Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden konnte...
Und dennoch lebte Alsop!
Da begriff Gisol das Ungeheuerliche.
Alsop lebte, weil er gephantet hatte, als er angeschossen wurde. Das Phantvirus band alle
Flüssigkeiten und Gase im Körper des Cyborgs. Somit konnten auch keine Flüssigkeiten
austreten - weder Blut noch Lymphe noch Speichel oder sonst irgend etwas! In diesem Zustand
brauchte Alsop nicht einmal zu atmen - was er ohnehin nicht gekonnt hätte, weil er keine
funktionierenden Lungen mehr besaß. Nur noch die oberen Lungenspitzen. Und die halfen ihm
so oder so nicht mehr.
»Nein«, flüsterte Gisol.
Sein Volk hatte Unglaubliches geschaffen. Gigantisches. Die
172
Worgun hatten mit Sternen gespielt wie Kinder mit Bauklötzen. Sie hatten in Gestalt der
Biostrukte, die von den Terranem Giants genannt wurden, sogar künstliches Leben geschaffen.
Aber die Terraner hatten allem die Krone aufgesetzt.
Sie hatten den Cyborg geschaffen!
Den Menschen, der seinen eigenen Tod überleben konnte!
Ihre Blicke trafen sich, der Cyborg und der Gestaltwandler sahen sich an.
Alsops Augenlider schlössen und öffneten sich in einem seltsamen, verwirrenden Rhythmus.
Er spricht zu mir, begriff Gisol fassungslos. Auf die einzige Weise, die ihm noch bleibt.
Normal reden konnte Alsop nicht mehr. Da er keine Lunge mehr besaß, konnte er keine
Luftstöße mehr durch die Stimmritzen pressen, um damit Wörter zu formen. So verfiel er auf
eine andere Möglichkeit. Mit dem Öffnen und Schließen der Lider sendete er Morsezeichen.
Er wußte, daß Gisol alias Jim Smith den auf Terra gebräuchlichen Morsecode kannte. Smith
hatte ihn erlernt, als er sich seinerzeit bei seinem heimlichen Aufenthalt auf Terra jede Menge
Wissen aneignete, indem er die Computemetzwerke der Erde anzapfte. Jetzt verstand der
Mysterious, was Alsop ihm zu sagen hatte.
»Ich sterbe«, signalisierte der Cyborg.
ERINNERUNGEN:
Terra, Januar 2056 bis Pscherid, April 2059 »Und wenn das Schicksal es besonders gut mit Ihnen meint, Holger, dann werden Sie auch zu denjenigen gehören, die in den Phant gehen können.« sagte Echri Ezbal. Meinte das Schicksal es wirklich besonders gut? 173War es besonders gut, im Phantzustand die Cyborg-Krise über» standen zu haben? War es besonders gut, jetzt im Phantzustand dem Tod zu trotzen, ihm noch eine kurze Zeitspanne abzuringen? Dem Tod, der schon lauerte, der seine Klauen nach Alsop ausstreckte. Nach...
... dem »Cyborg mit einer Lebenserwartung von vierhundert bis fünfhundert Jahren«, wie Ezbal es damals gesagt hatte. 400 bis 500 Jahre. Eine unfaßbar lange Zeit. Alsop "würde sie nie durchleben. Nach nur gut drei Jahren war alles vorüber. Er wußte es. »Ich will den Tod nicht zum Freund haben!« hatte er damals gerufen. Und der Tod war nie sein Freund gewesen, er war sein Feind, dem er in allen Einsätzen immer wieder hatte ausweichen können. Er hatte in Situationen überlebt, die kein normaler Mensch heil überstanden hätte. Aber jetzt war der Augenblick gekommen, da ihm auch sein Zweites System und der Phant nicht mehr halfen. Es war vorbei, das war ihm völlig klar. Er hatte das Ende seines Weges erreicht. Er glaubte wieder General Cutter sagen zu hören: »Als ich mich für diese Laufbahn entschied, wußte ich, was mich erwartet. Sieg oder Niederlage. Langes Leben oder rascher Tod. Ich fürchte den Tod nicht. Er ist mein ständiger Begleiter, er ist mein Freund.« Auch Holger Alsop hatte sich entschieden, damals, vor drei Jahren. Aber im Gegensatz zu dem Soldaten Cutter hatte er den Tod immer gefürchtet. Vielleicht hatte er ihm deshalb immer wieder entgehen können. Jetzt nicht mehr. Der Tod kam zu ihm, um ihn zu holen. Was damals aufgeschoben worden war, kam nun doch viel schneller als erwartet. Nach nur drei von unfaßbaren 400 bis 500 Jahren. Als normaler Mensch, ohne die Cyborg-Risikoeinsätze, wäre ihm vielleicht seine ganz normale Lebensspanne geblieben. Er hätte noch gut hundert Jahre leben können.
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Doch er hatte seine Entscheidung getroffen. Die falsche Entscheidung. Und sein Feind, der Tod, kam zu ihm,
GEGENWÄRT Pscherid, Ende April 2059 »Ich sterbe«, morste Alsop dem Worgun mit den Augenlidern zu.
»Sie leben«, erwiderte Gisol. »Können Sie mich hören?«
»Ja.«
»Haben Sie Schmerzen?«
»Nein. Ich bin im Zweiten System und im Phant. Schmerzreize können in diesem Zustand
nicht wahrgenommen werden. Es wird ein leichter Tod.«
Dazu verzerrte sich sein Gesicht zu einem häßlichen Grinsen, wie Gisol es noch nie an einem
Menschen gesehen hatte, und er wußte, daß Alsop log. Er würde nicht leicht sterben. Etwas in
ihm klammerte sich noch an sein kleines bißchen Leben, wollte nicht loslassen. Er brauchte
nur den Phantzustand aufzuheben und nach dem Ausbluten das Zweite System abzuschalten -
er würde keine Schmerzen verspüren, dann aber sofort tot sein.
Aber er tat es nicht. Der Cyborg schaltete sich nicht ab. Worauf hoffte er noch, wo er doch mit
Worten jede Hoffnung leugnete?
»Verschwinden Sie von hier«, morste er. »Lassen Sie mich zu-riick und ziehen Sie unsere
Mission durch. Es darf nicht vergebens sein. Fangen Sie an, Gisol, es wird bald hell, und dann
ist es zu ^ät, dann sehen die Zyzzkt die Bomben, die wir überall deponiert haben.«
Gisol bückte sich und streckte die Insektenarme aus.
»Verschwinden Sie endlich«, drängte Alsop. »Tun Sie einmal,
was ein Terraner Ihnen sagt! Seien Sie nicht so stur!«
Beinahe hätte Gisol hysterisch aufgelacht. Hatte nicht auch der Checkmaster der POINT OF
ihn einmal getadelt: Sei nicht so sturi Der Worgun war sicher, daß Alsop diese Formulierung
ganz gezielt einsetzte.
Er wich jedem weiteren Blickkontakt aus, er »hörte nicht mehr zu«, was Alsop ihm noch zu
sagen hatte. Er packte den Rest des Cyborgs und nahm ihn mit. Vielleicht gab es noch
irgendeine Möglichkeit, ihn zu retten.
In der Medostation der POINT OF hatte Alsop vielleicht noch den Hauch einer Chance. Manu
Tschobe war ein erstklassiger, begnadeter Mediziner, der zeitweise auch in der Cyborgstation
im Brana-Tal gearbeitet hatte, der »Geburtsstätte« der Übermenschen. Und Tschobe hatte
Assistenten, die nicht minder erstklassig waren.
Durch das Phanten blieben noch ein paar Stunden, um wenigstens Alsops Gehirn zu retten.
Vielleicht gab es sogar einen neuen Körper für dieses Gehirn.
Jetzt gab es für Gisol keine Wahl mehr. Da Alsop noch lebte, mußte er zurück zur Flotte,
mußte er zur POINT OF, egal wie groß das Risiko war, enttarnt zu werden. Ein Cyborg war
für die Mission der Erkundungsflotte wichtiger als der Planet der Pscheriden.
Das zumindest war Gisols Logik.
Und über diese Logik hinaus war da noch etwas.
Etwas Emotionales.
Alsop hatte ihn mehrmals kritisiert, hatte ihm schonungslos die Wahrheit an den Kopf
geworfen, ohne aber gleichzeitig zu Gisols Gegner zu werden. Er war - ein Freund...?
Er durfte nicht sterben, selbst wenn er sich schon fast aufgegeben hatte.
Der Worgun rannte mit dem Cyborg-Torso zurück zur Halle. Alsop hatte Recht, es wurde
tatsächlich bald hell. Gisol stürmte in die Halle und zu seinem Flash, der immer noch mit
offener Luke auf seinen Auslegern stand. Er legte den Torso auf dem zweiten Sitz ab und
wußte, daß er dabei keine große Rücksicht nehmen
176 mußte, weil Alsop keine Schmerzen verspürte. Gisol nahm sich nicht die Zeit der
Rückverwandlung; er blieb in seiner Zyzzkt-Ge
stalt.
Er sprang in den Flash. Ein Gedankenbefehl schloß die Einstiegsluke. SLE ein! Ausleger
einfahren! Intervallfeld ein! Automatisches Rückkehrprogramm ein!
Alles weitere erledigte jetzt die Gedankensteuerung.
Gisol aktivierte den Funk. ZÜNDUNG! Die voreingestellten Zeitzünder wurden in dieser Sekunde aktiviert. Über den Gesamtzeitraum von insgesamt mehr als einer Stunde würden sie zünden, um durch diese Verzögerungen einen Großangriff vorzutäuschen, der von außen kam. Stück für Stück würde sich der Stützpunkt, die Gefechtszentrale der Invasoren, in eine Hölle verwandeln, und nichts würde übrigbleiben. Gisols Flash verschwand im Boden, als die erste Bombe in der Halle hochging und die ungeschützten Flash der Zyzzkt in den thermischen, rund 150 000 Grad Celsius heißen Reaktionen verglühten.
9. Colonel Huxley erwachte von einem Moment zum anderen, öffnete die Augen und sah über sich die künstliche Sonne, die ein weiches, gleichmäßiges Licht verstrahlte. Er brauchte nur Sekundenbruchteile, um sich zu orientieren. Er befand sich in dem domartigen Erholungsraum, den die Nogk in ihrem Pragmatismus als »Sonnenhangar« oder »Sonnengewölbe« bezeichneten, und der sowohl zur Mentalschulung als auch zur physischen Erholung der Besatzung diente. Eine äußerst nützliche Einrichtung, die niemand an Bord der CHARR mehr missen wollte. Huxley richtete sich auf und dehnte seinen hageren Körper, den er einem ständigen Konditionstraining unterwarf, wann immer sich die Möglichkeit dazu bot. Mit sparsamen Bewegungen brachte er seine Uniform in Ordnung, während die überaus bequeme Liege sich wieder zu einem Kontursitz gliederte. Er fühlte sich mit Abstrichen erholt. Seine Entscheidung, sich im Sonnengewölbe für eine halbe Stunde zu regenerieren, erschien ihm als richtig. Die Müdigkeit und Erschöpfung der letzten Tage und Stunden waren verschwunden, und der erste Anflug jener rätselhaften Krankheit, die sich in der CHARR ausbreitete wie eine Seuche, schien zumindest für den Augenblick unterbunden worden zu sein. Er wußte natürlich, daß dies, wenn überhaupt, nur eine subjektive Empfindung sein konnte. Wie ihm Dr. Berger unterbreitet hatte, gab es zur Zeit noch kein einziges Gegenmittel gegen die Krankheit, die die menschliche Besatzung der CHARR ebenso heimsuchte wie die Nogk, obwohl das Labor fieberhaft danach suchte. Auch das nogksche Sonnengewölbe war keine Lösung und schaffte nur für begrenzte Zeit eine trügerische Besserung - die Symptomatik der Krankheit indes blieb. »Colonel Huxley!« Sein Armbandvipho schlug an. Er hob das Handgelenk in Augenhöhe. 178 »Ja?« Auf dem winzigen Bildschirm zeigte sich Sybilla Bontempis Gesicht. »Sir, Sie sollten umgehend hier erscheinen. Unsere Besucher haben sich zu Wort gemeldet. Ich denke mir, daß Sie es gerne selbst sehen möchten.« »Bin schon unterwegs, Captain.« Über Gleitbänder und Antigraviifte erreichte Huxley binnen 120 Sekunden Dr. Bergers Reich. Raschen Schrittes betrat er den vorderen Teil der Quarantä-nestation der CHARR. Mit einem schnellen, umfassenden Blick sondierte er die Situation. Sybilla Bontempi befand sich diesseits der transparenten Barriere, hinter der sich die drei Fremden aufhielten, die in völliger Verkennung der Lage versucht hatten, die CHARR zu stürmen*. Im Raum selbst - er diente üblicherweise nicht der Befragung von Fremdwesen, sondern der Behandlung von Schwerverletzten -herrschte das Provisorium eines Sprachlabors »Hierher, Colonel!« Sybilla Bontempi winkte Frederic Huxley. Die zierlich wirkende Anthropologin und Fremdvölkerexpertin mit der blauschwarzen Pagenfrisur war nicht allein. Zu ihrer Linken, hinter der energetischen Abschirmung, die verhinderte, daß sich Krankheitskeime aus dem Quarantänebereich im übrigen Schiff ausbreiten konnten, befand sich der Durchgang zur Medo-station, Dr. Bergers Arbeitsstätte. Neben dem Meeg Veego, der unter seinen Nogk-Kollegen als hervorragender Sprachwissen schaftler galt, hielt sich auch Tantal dort auf. Der Kobaltblaue hatte unmittelbar nach der Rückkehr aus dem unbekannten Raumschiffswrack ebenfalls sehr schnell Symptome der Erkrankung gezeigt. Die drei fremden Raumfahrer befanden sich noch immer in dem isolierten Bereich der Medostation, in dem sie seit ihrer Gefangennahme unter Beobachtung standen.
Das modifizierte Nogk-Energiefeld hatte man belassen. Als reine Vorsichtsmaßnahme. Und auch, um die Männer und Frauen der CHARR zu beruhigen, die durch die Anwesenheit der Fremden eine Gefährdung der Schiffssicherheit befürchteten. Die überwiegende Mehrzahl glaubte allerdings nicht daran, daß von den drei humanoiden Wesen eine wirkliche Bedrohung ausgehen konnte. Doch Glauben war eine Sache, Wissen eine andere. Und so blieb es bei der Abschottung. Zumindest vorerst. »Sie hatten Erfolg, Captain?« fragte Huxley. »Sehen Sie selbst, Colonel«, entgegnete sie und wies mit einem Kopfnicken auf die Sichtschirme. Huxley musterte mit gerunzelter Stirn den nächstgelegenen Schirm, auf dem nur ein einziger Schriftzug zu sehen war. Schweigend las er: »DIE BLÄUEN TEUFEL SIND ZURÜCK!« Die Falte über seiner Nasenwurzel vertiefte sich. Er musterte die Fremden und konnte sich eines merkwürdigen Gefühls in der Magengrube nicht erwehren, als er ihre Reaktionen auf sein Auftauchen bemerkte. Für ihn hatte es den Anschein, als wäre er für sie etwas Außerordentliches. Dabei handelte es sich bei ihnen selbst um humanoide, entfernt menschenähnliche Wesen. Sie waren mit etwa 180 Zentimetern recht groß, ihre Statur schlank und weniger muskulös als die von Menschen. Das Auftauchen eines Terraners konnte also gar nicht so überraschend sein, zumal sich Captain Bontempi schon eine ganze Weile in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt. Dennoch standen sie einfach nur da, wie vom Donner gerührt, und fixierten ihn mit großen dunklen Augen und offenen Mündern, ein anderer Begriff fiel Huxley dafür nicht ein. Sie waren in locker fallende, verwirrend gemusterte und vielfarbige Kleidung gehüllt: blousonartige Oberteile, weite Beinkleider, die mit 180 Überwurf in kurzen Stiefeln endeten. Ob die Kleidung ebenso »gezüchtet« war wie ihre »Raumanzüge«, die sich während der Überprüfung zur Überraschung der Terraner als genmanipulierte Riesenamöben erwiesen hatten? Konnte gut sein. Jetzt wandten sich die drei einander zu und redeten ganz offensichtlich miteinander. Für menschliche Ohren war es nur eine schnelle Abfolge von poly gutturalen Kehllauten. Huxley hoffte, daß der Translator fähig war, ihre Sprache binnen kurzer Zeit zu analysieren. »Unsere Besucher haben sich also doch verständlich machen können!« richtete er seine Worte an den Captain. Sie nickte. »Wie Sie sehen, Colonel.« »Ist das alles, was bisher dabei herausgekommen ist?« Er deutete auf den Schriftzug, der noch immer auf dem Monitor pulsierte. Sybilla Bontempi löschte den Satz vom Schirm. »Leider.« Die zierlich wirkende Fremdvölkerexpertin strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn und warf einen schnellen Blick hinüber zu dem kobaltblauen Nogk. Huxley richtete sich auf. »Hmm, was sie damit wohl meinen?« Die Frage hatte zwar einen allgemeinen Charakter, war aber dennoch mehr für Tantal bestimmt. Der jedoch schwieg. Huxley empfing keinerlei Bildimpulse. Der Mimik (falls ein Nogk so etwas überhaupt besaß) seines insek-toiden Libellenschädels mit den starren Facettenaugen war nicht zu entnehmen, was in seinem Innern vorging. Nur seine Fühlerpaare zitterten auf eine Weise, die Huxley aufgrund des inzwischen sehr engen Kontakts mit den Nogk signalisierte, daß der Kobaltblaue zutiefst irritiert schien. Ungefragt in seine Gedankenwelt einzudringen hielt Huxley vorläufig nicht für angeraten, obwohl er sich Umstände vorstellen konnte, wo er seine diesbe-^gliche Zurückhaltung aufgeben würde, falls er es für die Sicher heit des Schiffes und der Mannschaft als notwendig erachtete. Huxley wartete ein paar Sekunden, und als Tantal noch immer nicht reagierte, wandte er sich erneut Sybilla zu. »Was ist geschehen, bevor die Fremden reagierten?« »Das war so...« begann sie und schilderte dann in knappen Worten ihre Versuche, eine Verständigung mit den Fremden herzustellen »Ich bin mir nicht schlüssig«, sagte sie abschließend, »aber der Auslöser dürfte meines Erachtens Tantals Erscheinen gewesen sein. Die... hm... Anklage unserer Besucher bezieht sich ausschließlich auf die blauhäutigen Nogk. Ich kann diesen Satz nur so interpretieren.« Huxley warf ihr einen forschenden Blick zu. »Wie kommen Sie darauf?«
»Der Meeg war bereits von Anfang an anwesend«, stellte sie klar. »Er hat keinerlei diesbezügliche Reaktionen provoziert.« Huxley meinte: »Das spricht für Ihre These, Captain. Dennoch kann es sich auch auf jedes andere blauhäutige Wesen beziehen. Wir sollten uns da nicht vorschnell zu Fehlinterpretationen verleiten lassen.« Er wandte sich an Tantal. »Oder was meinst du dazu?« »Ich kann dazu nichts sagen. Ratsmitglied Huxley«, erwiderte Tantal, während er nur die Sinnesorgane seines Kopfes auf den Colonel richtete. »Kannst du nicht... oder willst du nicht«, versetzte Huxley grober als beabsichtigt. Es schien nicht an der Zeit, sich um eventuelle Befindlichkeiten des kobaltblauen Nogk zu scheren. Die Situation an Bord der CHARR lief langsam aber sicher aus dem Ruder. »Dieser Planet«, fuhr Huxley fort, »entspricht voll und ganz den Vorstellungen, die ihr von einer Wohnwelt habt. Gibt es deines Wissens Anhaltspunkte dafür, daß Nogk schon einmal hier gesiedelt haben könnten?« Tantal krümmte sich leicht, in seinen Sehorganen schienen kleine Lichtentladungen stattzufinden, als er sich voll Huxley zuwandte. »Darauf habe ich keine Hinweise«, kamen seine Signale. 182
»Auch nicht, wenn du dein Rassegedächtnis befragst?« Der blauhäutige Nogk-Mutant verfügte über das gesamte Rassegedächtnis des Hybridvolkes. Während normale Nogk sich dieses Wissen im Laufe ihres Lebens aneigneten, waren er und seine Eibrüder bereits damit geboren worden. Eine Laune der Natur - oder gezielte Manipulation einer Gruppe von Meeg, die in den Kobaltblauen die legitimen Nachfolger der Nogk sahen. Darüber war man sich noch uneins. Fakt war, daß die blauhäutigen Nogk auf diese Weise das gesamte bekannte Geschichtswissen des Volkes in sich trugen. Allerdings reichte dieses lebende Archiv auch nicht weiter zurück als fünf Generationen. Für ein Volk, dessen einzelne Individuen eine Lebenserwartung von annähernd vierhundert Jahren besaßen, war diese Zeitspanne von etwa zweitausend Jahren aufgezeichneter Geschichte ein Nichts. Warum eigentlich nicht mehr? dachte Huxley. Es mußte ein Grund existieren, daß das Wissen der Nogk um ihre Vergangenheit nicht weiter zurückreichte als bis zu jener imaginären Grenze. Zumal die Nogk bereits zu Beginn dieser dokumentierbaren Vergangenheit über eine hochtechnisierte Kultur verfügt hatten. Es war einfach undenkbar, daß so etwas aus dem Nichts heraus, ohne eine jahrtausendelange Entwicklung, entstanden sein konnte. Aber die Antwort auf diese Präge lag wohl noch weiter zurück in der Vergangenheit. »Auch dann nicht«, kamen jetzt Tantals Signale. »Doch ich verstehe deine Reaktionen, Kommandant Huxley...« Nicht mehr Ratsmitglied Huxley? dachte der grauhaarige Colonel mit dem hageren Gesicht verwundert. > >... dennoch muß ich dich auf eine Fehleinschätzung deinerseits hinweisen. Wir blauen Nogk befinden uns erst eine lächerlich geringe Zeitspanne auf der galaktischen Bühne.« Tantals Einwand war absolut gerechtfertigt, er war kaum älter als zwei Standardjahre. Nichts Ungewöhnliches. Alle Nogk kamen bereits erwachsen aus dem Ei, versehen mit dem kompletten Wissen, das ihnen die Meeg, die Bewahrer des Lebens, während der Eireife vermittelten. Huxley hatte sich zu Beginn seiner Bekanntschaft mit den insek-toiden Reptilienwesen oft gefragt, wie es diesem Volk trotz vieler Kriege und Katastrophen immer wieder gelungen war, innerhalb unglaublich kurzer Zeit neue Welten zu besiedeln und ihr Imperium dabei stets auf hohem Bevölkerungsniveau zu halten. Bis ihn Charaua darüber aufgeklärt hatte, daß es sich um eine in ihren Genen verankerte biologische Dynamik handelte, mit der sie den entstandenen Bevölkerungsverlust wieder auszugleichen imstande waren. In Zeiten des Wohlstandes ging die Geburtenrate der Nogk drastisch zurück, um auf die gleiche Weise dramatisch anzusteigen, sobald ihre Population infolge von Katastrophen dezimiert wurde. »Das ist mir bekannt«, erwiderte Huxley auf Tantals Einwurf. »Aber gibt es nicht Hinweise darauf, daß ihr Kobaltblauen so etwas wie die ursprüngliche Form der Nogk verkörpert? Vielleicht haben eure Vorfahren dieses System in einer Zeit besucht, die jenseits der Informationen deines Rassegedächtnisses liegt?« »Das würde implizieren, daß wir Blauhäutigen tatsächlich schon von Anbeginn an existierten - und dafür gibt es keinerlei Beweise«, kamen Tantals scharfe, ablehnende Signale als
Lautäußerungen über Huxleys Implantat.
Der Colonel wandte sich an den Meeg, der stumm und in sich gekehrt neben Tantal stand und
bislang nicht in die Diskussion eingegriffen hatte.
»Ist das so, Meenor?«
Die Fühlerpaare des 2,50 Meter großen Sprachwissenschaftlers entwirrten sich etwas mühsam
- die Krankheit schien ihm mehr zuzusetzen, als er bereit war zuzugeben - und richteten sich
auf den Colonel.
»Mir ist nichts bekannt, was diese Vermutung untermauern könnte. Ratsmitglied Huxley«,
erwiderte er mit gebührender Höflichkeit.
Frederic Huxley hatte es nicht anders erwartet, um so verblüffter
18 war er, als der Meeg mit der bildhaften Übermittlung fortfuhr: »Es ist zwar gelungen, in einigen Kraat-kal-meeg diesbezügliche Erinnerungsfragmente aufzuspüren, aber sie waren so unspezifisch, daß man diese These ins Reich der Phantasie verwies und die Spuren nicht weiter verfolgt hat.« »Dennoch«, widersprach Sybilla Bontempi. »Ohne Grund haben unsere Besucher nicht beim Anblick eines blauen Nogk reagiert.« Huxley machte eine abwehrende Handbewegung in ihre Richtung und überlegte schweigend eine Minute lang. Dann entschloß er sich zu einer Maßnahme, die für alle im Raum überraschend kam. Er trat vor die Energiebarriere und sagte laut und überbetont:
»Und weshalb habt ihr so reagiert?«
Die fremden Wesen starrten aus dunklen, runden Augen zurück ohne erkennbare Reaktion.
»Kommt schon«, versetzte Huxley nach einer kurzen Weile, »ich bin mir sicher, ihr versteht,
was ich sage.«
Von seinem Standpunkt aus konnte der Colonel verfolgen, wie der Multitranslator seine
Worte zeitgleich als Schriftsprache auf den Bildschirmen erstehen ließ, die im Innern des
energetischen Käfigs standen, und außerdem eine Reihe von Lauten produzierte, die der
Sprache der Fremden ähnlich klangen.
»Überfordem Sie sie da nicht ein bißchen?« hörte Colonel Huxley Bontempis verhaltene
Stimme.
Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Der Translator ist effizient genug, er hat
inzwischen ihre Sprache analysiert. Wir werden sie also verstehen können, so wie sie uns
verstehen werden -wenn sie sich ein bißchen Mühe geben.«
Wie auf ein unsichtbares Zeichen trat plötzlich einer der drei Fremden vor und nahm
unmittelbar vor Huxley Aufstellung, nur getrennt durch die bläulich flirrende Energiebarriere.
Die großen Augen glänzten in der schattenlosen Beleuchtung. Dann streckte der Fremde
langsam eine Hand aus, als wolle er durch die Barriere greifen.
Huxley faßte ihn scharf ins Auge und schüttelte den Kopf. »Tu
das nicht, mein Freund«, riet er.
Der Fremde zog die Hand wieder zurück.
»Na, wer sagt's denn!« murmelte der Colonel, »geht doch.« Er hob die Hand und deutete auf
sich. »Terraner, Huxley!«
Schweigen.
Keine Reaktion.
Sybilla Bontempi ließ ein Glucksen vernehmen. »Wissen Sie wie Sie sich anhören,
Kommandant?« raunte sie. »Wie Kapitän Cook, als er zum ersten Mal in der Südsee auf
Wilde traf und sich verständlich zu machen suchte. Oder treffender«, ihre Heiterkeit wuchs
um eine Nuance, »wie Tarzans legendärer Dialog. Sie wissen schon: Ich Tarzan, du Jane.«
»Und was ist daran verkehrt?« gab Huxley ebenso leise zurück. »Alles wiederholt sich,
wußten Sie das nicht?« Ein Grinsen umspielte seinen Mund.
Die beiden anderen kamen heran, von links und rechts.
Dann öffnete der Mittlere den Mund: »Gorm, Jumir.«
Der links Stehende sagte: »Gorm, Jamir«; der rechte nannte sich Jomir.
»Wir haben sie!« hörte Huxley die Fremdvölkerexpertin wispern. »Himmel, wir haben sie!«
Auch Huxley hatte seine Stimme gedämpft, als er fragte:
»Gorm, ist das der Name ihres Heimatplaneten, was glauben Sie?«
Sybilla machte eine verneinende Kopfbewegung. Ihre Augen verfolgten gebannt die
Interpretationen des Translators, die dieser aus den beiden Worten des Fremden generierte
und auf dem Schirm abrollen ließ.
»Es ist der Name ihres Volkes. Sie sind Gorm. Jumir, Jamir und Jomir sind Eigennamen.«
»Wie einfallsreich«, murmelte Huxley und wandte sich wieder den drei fremden Raumfahrern
zu, als unvermittelt eine Tonfolge über die Bordverständigung hörbar wurde. Gleichzeitig
damit erlosch die Leuchtanzeige über dem Zugang zur Medostation, die den Bereich dahinter
als Isolationszone kennzeichnete.
186
Sofort entfernten sich die Fremden von der Barriere und wichen bis zur Wand zurück,
offenbar irritiert oder geängstigt von dem Alarm. Es hatte nicht den Anschein, daß sie gewillt
waren, weiter zu kooperieren.
»He«, rief Captain Bontempi erfreut, »die Quarantäne wurde aufgehoben. Offenbar hat Dr.
Bergers Team Erfolg gehabt!«
»Das wäre mal eine gute Nachricht«, murmelte Huxley, fast ein wenig ärgerlich über die
Unterbrechung. »Aber warum bin ich nur davon überzeugt, daß eher das Gegenteil zutrifft?«
Er legte Sybilla kurz die Hand auf die Schulter. »Machen Sie hier weiter?«
Sybilla blickte auf ihr Chronometer. »Der Tag ist zwar fast um«, sagte sie, »aber man soll
bekanntlich das Eisen schmieden, so lange es heiß ist. Unsere Besucher haben reagiert, sie
werden es wieder tun. Ich rühre mich hier nicht von der Stelle. Besorgt mir jemand Kaffee?«
»Lassen Sie sich eine Kanne aus der Messe bringen«, riet Huxley. »Ich bin bald wieder
zurück.«
Dreißig Minuten früher...
Unweit der Station, in der die Fremden untergebracht waren, gab es in einem anderem Raum
der CHARR zwei eng begrenzte Lichtkreise. Einer von ihnen lag auf einer großen, runden
Arbeitsplatte, die mit Ausdrucken nur so übersät war. Zwischen den Papieren stand ein
Aschenbecher, der überquoll. Der zweite Lichtkreis bildete eine helle Fläche auf dem
Bodenbelag des Raumes. Die Schicht aus Kunststoffasem bildete eine Tritt- und Schallisolie
rung und verhinderte Gasaustausch zwischen zwei Decks.
Ein Summer.
»Ja?«
Die Tür wurde zurückgeschoben. Ein Sanitätsmaat trat in den Raum, orientierte sich schnell
und kam auf Dr. Berger zu.
»Ihr Tee, Sir.«
187
»Danke, Fletcher«, sagte der Mediziner und unterbrach kurz seine unruhige Wanderung. Er
deutete auf das Durcheinander auf der Tischplatte. »Stellen Sie ihn einfach dahin, ich bediene
mich selbst.«
Fletcher ging, und in dem Schweigen der beiden Männer wurde die Unsicherheit ausgedrückt,
von der die Besatzung des 500-Me-ter-Riesen CHARR befallen war. Es war nicht die
Tatsache, daß sie sich auf einem unbekannten Planeten befanden, die diese Unsicherheit
auslöste, nicht das Auffinden des uralten Wracks und der zu Staub zerfallenen
Raumschiffsbesatzung, sondern Dinge, die danach geschehen waren und die sich jenseits der
nüchternen, rationalen Betrachtung abspielten... Dr. Berger merkte, wie sich die Nervosität in
einem Kribbeln der Fingerspitzen äußerte, wenn er daran dachte. Oder waren es bereits die
Vorboten jener Krankheit, die nun auch vor ihm nicht Halt machte? Nein, der letzte Check
hatte gezeigt, daß sich sein Blut noch nicht verändert hatte. Wie lange würde er wohl davon
verschont bleiben? Berger hoffte, daß
es ihm vorher noch gelingen würde, ein adäquates Gegenmittel zu finden.
Der Mediziner goß vorsichtig den Tee in einen Becher, rührte Zucker und Milch hinein und
roch dann daran. Dann zündete er
sich eine Zigarette an und setzte sich schwer in den festgeschraubten Sessel.
Er lehnte sich zurück und starrte den Schirm an, der ihn mit der fremden Welt draußen
verband, ohne etwas zu sehen. Während er
von Zeit zu Zeit trank, versuchte er Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Es gelang ihm nur unzureichend.
Zuviel war geschehen, seit sie auf diesem unbekannten Wüstenplaneten gelandet waren.
Es hatte eine Stunde nach der Rückkehr des Außenteams begonnen, das das uralte Wrack -
Prewitt hatte von etwa zweitausend Jahren gesprochen - einer Inspektion unterzogen hatte und
dabei von der ehemaligen Besatzung nichts gefunden hatte als leere Uni-188
formen und Staubhäufchen. Zuerst waren es nur einzelne Nogk gewesen, die die Symptome
einer rätselhaften Erkrankung zeigten. Wenig später hatte sich die Krankheit auch auf die
Terraner ausgedehnt. Und noch etwas später kamen Meldungen über das Auftreten der
unbekannten Krankheit aus allen Stationen und Abteilungen. Seitdem waren er und seine
Mitarbeiter nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Der heiße Tee vermochte Dr. Berger nur fünf Minuten lang die Illusion zu vermitteln, er wäre
einer Lösung des Problems nähergekommen.
»Verdammt«, sagte er mit Inbrunst. »Wir leben doch nicht mehr im zwanzigsten Jahrhundert,
wo man vor vielen Krankheiten einfach kapitulierte!« l Dann summte die Bordverständigung
auf.
Dr. Berger, ein hochgewachsener Mann mit grauem Haar an den Schläfen und am
Nackenansatz, schaltete das Gerät ein. Der Sichtschirm erhellte sich. & »Nun, Merrick?«
fragte Berger beunruhigt.
Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den übermüdeten Augen schüttelte den Kopf.
»Es ist zum Irrewerden«, verkündete er mürrisch.
»Nichts?«
»Doch, fünf weitere Erkrankungen und keine Lösung in Sicht.«
Der Mann war, wie alle aus Dr. Bergers Stab, vollkommen erschöpft.
Merrick hatte die Leitung der Labors unter sich, in dem fieberhaft nach einem Antikörper des
Erregers der rätselhaften Krankheit gesucht wurde.
»Nichts gefunden also«, sagte Berger.
Die Männer starrten sich verzweifelt an.
»Hören Sie, Merrick«, sagte Dr. Berger drängend, »wenn wir üicht bald Erfolge vorweisen
können, werden wir nicht mehr in der Lage sein, etwas zu unternehmen, einfach weil wir dann
ebenfalls so krank sein werden, daß wir nicht einmal mehr den kleinen
Finger rühren können.«
»Ich weiß«, murmelte Merrick. »Ich weiß es sehr genau Berger.«
Dr. Berger sah in seine Tasse; sie war leer.
»Aber?«
»Wir haben buchstäblich nichts in der Hand. Wir stehen vor einem Rätsel.«
Berger nickte. Er wußte auch nicht mehr weiter.
»In Ordnung, Merrick«, sagte er leise. »Ich danke Ihnen und Ihren Leuten. Machen Sie
einfach weiter, auch wenn Sie der Auffassung sind, es hätte keinen Sinn. Verstanden?«
»Verstanden, Berger«, erwiderte Merrick. Ehe er abschaltete, maß er Dr. Berger mit einem
langen, merkwürdigen Blick.
Der Sichtschirm wurde dunkel.
»Diskussion ist die einzige Möglichkeit, andere Menschen die Hoffnungslosigkeit vergessen
zu machen«, murmelte er. »Offensichtlich sind wir jetzt am Ende. Wie bringe ich das nur
Huxley bei? Er wird ein Nein nicht akzeptieren!«
Dr. Berger versuchte, die zweite Tasse Tee in der gleichen Ruhe wie die erste zu trinken, aber
es gelang ihm nicht. Wieder summte das Vipho, wieder aktivierte er den Sichtschirm.
Ein Medotechniker war sichtbar.
»Doktor?«
»Ja, was gibt es?«
Auch das Gesicht des Technikers zeigte die Spuren der Unruhe, der aufkeimenden Panik.
»Doktor, die Auswertung der Schiffsatmosphäre hat ergeben, daß die Sporen inzwischen
überall in der CHARR verteilt sind.«
Bergers Miene gefror.
»Ich habe es befürchtet, dennoch gehofft, wir könnten den Erreger durch unsere
Quarantänemaßnahmen schnell genug eindämmen. Hmm, lassen Sie die Isolation der
betreffenden Bereiche und Stationen aufheben, es macht keinen Sinn mehr.« Tiefe Resigna
tion sprach aus seinen Worten.
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,oll ich Colonel Huxley über die Maßnahme informieren?«
»Nicht nötig.« Der Doktor zeigte ein schwaches Grinsen, das sich auf seine Mundwinkel
beschränkte und die Augen nicht erreichte. »Wie ich ihn kenne«, fuhr fort, »wird er in Kürze
von allein hier erscheinen.«
»Wie Sie wünschen, Doc.«
Der Schirm wurde dunkel.
Berger nahm seine ruhelose Wanderung wieder auf und wartete auf das Unvermeidliche.
Als ein neuerlicher Summton die Stille unterbrach, lächelte er flüchtig. Ein Blick auf sein
Chrono zeigte ihm, daß keine fünf Minuten vergangen waren.
Er betätigte den Türöffner, und Frederic Huxley trat ein.
»Schwere Zeiten, Doktor«, sagte er als Begrüßung.
»Wem sagen Sie das, Colonel«, erwiderte der Doktor und schüttelte die Hand des anderen.
»Sie werden noch schwerer werden.« Er bot Huxley einen Platz auf der gegenüberliegenden
Seite seines Arbeitstisches an. »Tee?«
»Danke, nein. Woran erkennen Sie das?« fragte der Kommandant der CHARR und ließ sich
in den zweiten Sessel fallen.
»Mein Ischiasnerv beginnt sich wieder bemerkbar zu machen«, griente der Doktor schwach.
»Aber Spaß beiseite - Sie wollen sicher wissen, weshalb ich die Quarantäne aufgehoben
habe?«
»Klären Sie mich auf.«
Kein Wort des Colonels darüber, daß Doktor Berger die Quarantäne aufgehoben hatte, ohne
vorher seine Zustimmung einzuholen. Aus gutem Grund. Als Schiffsarzt hatte Berger an Bord
der CHARR ein breit gefächeltes Spektrum an Entscheidungsbefugnis-^n, weit mehr als ein
normaler Offizier. Er konnte sogar den Konimandanten seines Postens entheben, wenn ihn
dessen Verhalten zu der Annahme brachte, er sei nicht mehr Herr seiner Sinne.
»Natürlich, Sir. Aber zuerst etwas für Ihr Wohlbefinden.« Er griff in die Brusttasche seines
weißen Mantels, den er über der Bordkombi trug und brachte einen Gegenstand zum
Vorschein, der
wie ein dicker Schreibstift aussah und eine Hochdruckspritze war.
»Machen Sie Ihren Arm frei, Colonel«, sagte er und spannte den Federmechanismus.
»Muß das sein?« murrte Huxley und hielt seinen entblößten Arm vor sich.
»Es muß. Ärztliche Anordnung.«
Der Arzt setzte die Spritze an. Der herunterschnellende Kontakt drückte das Medikament
durch die Haut ins Blut.
»Reiben Sie die Stelle ein bißchen mit dem Finger«, riet Berger.
Eine Woge glühender Hitze schien sich durch Huxleys Körper zu bewegen.
»He, was haben Sie mir da aus Ihrer Hexenküche verabreicht?« wollte er wissen.
»Nur ein Aufbaupräparat. Kurbelt ihre Immunabwehr an. Mehr kann ich nicht tun. Mehr kann
ich auch für die anderen nicht tun. Aber das wissen Sie ja.«
Huxley rollte den Ärmel wieder nach vom und schloß die Magnetsäume.
»Warum die Aufhebung, Doktor? Daß die.Gefahr nicht vorüber ist, kann ich Ihrer Miene
entnehmen.«
Berger betrachtete den Tee in seiner Tasse, als könne er dort die Wahrheit erkennen.
»Sie hat sich sogar noch dramatisch verschlechtert«, sagte er schließlich.
»Berichten Sie, Doktor!« bat Huxley.
Der Arzt musterte seinen Kommandanten mit einem langen, fast verzweifelten Blick.
»Inzwischen ist die gesamte Atmosphäre des Schiffes mit den Sporen kontaminiert«, bekannte
er. »Eine Quarantäne einzelner Sektoren ist damit hinfällig geworden. So wie es aussieht, hat
sich mittlerweile jeder hier an Bord infiziert.«
Huxley hob die Hand.
»Sporen? Gehen wir nicht mehr von Viren aus?«
»Nein«, erwiderte Berger. »Sie erinnern sich, daß ich Ihnen davon berichtete, daß das
Krankheitsbild derart unspezifisch war, daß kein richtiger Ansatzpunkt gefunden werden
konnte?«
Huxley nickte, und Berger fuhr fort: »Inzwischen sind wir einen kleinen Schritt
weitergekommen. Unsere erste Annahme, daß sich Viren an den Ganglien festsetzten und den
ganzen Metabolismus an den Rand eines Kollapses brächten, haben wir fallenlassen müssen.
Wir sind inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß es sich um mikroskopische Sporen
handelte, die an den Zellwänden andocken und deren Funktionen dergestalt stören, daß sie
den Immunhaushalt zum Kollabieren bringen.«
Die steile Falte über Huxleys Nasenwurzel vertiefte sich.
»Erleichtert oder erschwert das unsere Lage?«
Berger schwieg, aber da auch Huxley keine Anstalten machte, etwas seiner Frage
hinzuzufügen, bequemte er sich schließlich zu der lapidaren Feststellung: »Ich weiß es nicht.«
»Hm, Sporen sagen Sie. Wir müßten also einen Virus finden, der den Sporen den Garaus
macht, und wir wären aus dem Schneider«, sagte er nachdenklich.
»Laienhaft ausgedrückt, Colonel, aber so würde es funktionie-^n«, pflichtete ihm Dr. Berger
bei. »Wir forschen auch schon in diese Richtung.«
»Aber?«
»Ich habe es, glaube ich, schon einmal erwähnt: Das Problem ist, daß die Sporen ständig neue
Mutationen hervorbringen. Jedesmal, wenn wir glauben, einen Ansatzpunkt gefunden zu
haben hat sich ihre DNS schon wieder verändert, und wir befinden uns wieder am Anfang.«
»Eine Waffe?«
»Möglich. Die Natur kennt an und für sich keine derartig rasche Mutationen.«
Die beiden Männer starrten sich schweigend an. Endlich sagte Huxley:
»Was bedeutet das für uns, Doktor?«
Berger zuckte die Schultern. Dann sprang er aus dem Sessel auf und rief: »Ich weiß es nicht!
Alles, was wir an greifbaren Informationen haben, sind kranke Besatzungsmitglieder,
Menschen und Nogk, deren Zahl ständig zunimmt. Und ein Raumschiff, das sich langsam
aber sicher in ein Lazarett, wenn nicht in etwas Schlimmeres verwandelt.« Er ließ offen, was
er damit meinte, aber Huxley verstand auch so. Seine Miene verhärtete sich.
»Was sollen wir tun, Doktor? Was können wir tun?«
Berger zerdrückte die Zigarette im Ascher. Dann trank er die Tasse leer und brummte: »Wir
forschen eben weiter, bis keiner von uns mehr dazu in der Lage sein wird. Sie könnten
eventuell eine Rede an die Besatzung halten und sie auf das Unvermeidliche vorbereiten.«
»Keine gute Idee«, widersprach Huxley, »solange nicht zweifelsfrei feststeht, daß wir keine
Chance mehr haben, dieser heimtückischen Krankheit Herr zu werden.«
»Chance!« Berger lachte bitter. »Ich glaube, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt.
Wir stehen vor dem Nichts.«
Huxleys Grinsen war unecht und unbehaglich.
»Das erinnert mich an Laotse.«
Berger warf ihm einen Blick zu, der sein Unverständnis über diese Reaktion ausdrückte.
»Wie kommen Sie gerade auf den ollen Chinesen?«
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»Es ist das Nichts«, zitierte der Colonel, »die Leere des Innen-raums, worauf des Gebäudes
Brauchbarkeit beruht. So kann man sagen: Das Sein ist der Baustoff, das Nichts erst macht ihn
brauchbar. Sie müssen also das Nichts finden, Doktor.«
Berger lachte heiser.
»Colonel«, sagte er mit wirklicher Bewunderung, »ich bin kein Befürworter von
Komplimenten, aber ich gestehe, daß mich Ihre Klugheit überrascht. Ich bin... beeindruckt.
Woher haben Sie das
Zitat?«
»Aus einem Buch. Sie wissen doch, Doktor, Lesen bildet. Sie sollten es mal versuchen.«
Berger zog eine Grimasse. »Als ob das jetzt noch eine Rolle spielte.«
Huxley starrte ihn eine volle Minute lang an, ohne zu antworten.
Dann sagte er unvermittelt: »Wie geht es meinem Ersten?«
»Die Symptome haben sich verschlechtert. Dennoch scheint er eine sehr widerstandsfähige
Natur zu besitzen. Oder er kaschiert seine wirkliche Verfassung gekonnt.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Natürlich, Colonel, dem steht jetzt nichts mehr im Weg.«
Er öffnete das Schott zu einem indirekt beleuchteten Korridor und ging voran.
Obwohl er sich in seinem Schiff befand, erschien es Huxley, als liefe er durch die kühlen,
aseptisch riechenden Korridore einer Klinik.
Am Ende des Ganges schloß Berger eine Tür auf. »Kommen Sie. Hier herein.«
Der kleine, klaustrophobisch enge Raum war üblicherweise die Infektionsschleuse, an den
Wänden hingen die Overalls mit ihren fransparenten Gesichtsschilden und der Atempatrone
unterhalb des Mundfilters.
Huxley wollte schon nach der Schutzkleidung greifen, aber ein Kopfschütteln Doktor Bergers
hielt ihn davon ab.
»Aber Colonel, schon vergessen? Es gibt keine Quarantäne
mehr. Jetzt ist die CHARR eine einzige riesige Isolierstation.« Hinter der Atmosphärenschleuse befand sich das eigentliche Krankenrevier. In einem ellipsenförmigen, großen Raum waren mehrere Reihen kompliziert aussehende Liegen aufgebaut, versehen mit sämtlichen Einrichtungen zur Intensivbehandlung verletzter oder traumatisier-ter Patienten. In ihnen konnte der Kranke in der Schräge liegen, in unterschiedlichen Positionen sitzen, durch Antigraveinrichtungen mühelos bewegt, gehoben, gedreht und neu gelagert werden. Ein Supra-Med am Kopfende einer jeden Krankenliege überwachte die Lebensfunktionen der Bettlägerigen. Die meisten dieser Einrichtungen waren belegt. Von Nogk und Leuten seiner Besatzung. Auf einer der Liegen hockte Lee Prewitt mit einem ziemlich unglücklichen Gesichtsausdruck; die Isolierung schien ihm gewaltig gegen den Strich zu gehen. Als er Huxley in Begleitung des Doktor entdeckte, erhellte sich seine Miene. »Wie geht es Ihnen, 1.0.?« erkundigte sich der Colonel und ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken. Lee Prewitt sah schlecht aus. Sein Gesicht war gerötet und schweißbedeckt. Er atmete schneller als normal. »Colonel, was machen Sie denn hier?« Dann weiteten sich seine Augen, als er entdeckte, daß Huxley keinen Isolieranzug trug. »Hat man...?« begann er und sank wieder in sich zusammen, als der Colonel verneinte und bekannte, daß noch immer kein Gegenmittel gefunden sei. »Jeder im Schiff hat sich inzwischen infiziert«, gestand ihm der Kommandant. »Jeder. Auch ich. Die Keime haben sich aus der Atemluft der Infizierten über die Luftaustauscher überallhin verbreitet. Es macht deshalb keinen Sinn mehr, Abteilungen und Decks voneinander abzuschotten.« »Dann könnte ich ja wieder Dienst tun«, meinte Prewitt, und in seinen Augen leuchtete es hoffnungsfroh auf. Huxley wandte sich an den Arzt. 196 l »Ist er dazu in der Lage?« »Nein.« Der Mediziner schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kann das nicht befürworten und auch nicht rechtfertigen. Sein Allgemeinzustand entspricht nicht den geforderten Parametern, die einen verantwortungsvollen Dienst erlauben.« r »Sie haben9 s gehört«, bedauerte der Kommandant der CHARR und versuchte die harsche Ablehnung von Prewitts Wunsch nachträglich abzumildern. »Keine Sorge: Sie sind hier in den besten Händen.« Prewitt nickte. »Natürlich, Colonel.« Sein Gesicht schimmerte grau, trotz des Fiebers, das in seinem Innern wütete. »Was machen unsere drei Besucher?« fragte er leise und legte sich
etwas mühsam auf den Rücken.
Dr. Berger winkte einem der Roboter, der den Äskulapstab auf seiner schimmernden
Brustplatte trug, und wies ihm an, dem Ersten Offizier zu helfen.
»Sie haben endlich auf unsere Versuche reagiert und scheinen bereit zu sein, mit uns zu
kommunizieren«, antwortete Huxley und kniff kurz die Lippen zusammen, als er sah, wie
schlecht es seinem Ersten tatsächlich ging. ^ »Mit Erfolg?«
Der Medoroboter verabreichte dem Offizier eine Injektion und trat dann wieder zurück.
Huxley hob die Schultern. Kurz überlegte er, ob er Lee Prewitt über die Reaktionen der
Fremden unterrichten sollte, als diese Tantals ansichtig geworden waren, verwarf diesen
Gedanken aber.
»Wir sind erst am Anfang«, sagte er deshalb. »Aber jetzt lasse ich Sie wieder allein. Ruhen
Sie sich aus, Lee. Ich sehe wieder nach Ihnen, versprochen.«
»Danke, Colonel.«
Huxley und Dr. Berger gingen zurück in die Räume des Mediziners.
»Das ist eine verdammt emste Lage«, murmelte Huxley. Dann, lauter: »Ihre Meinung, Doktor.
Haben die Männer, haben wir eine
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Chance?«
»Kaum«, erwiderte der Mediziner mit brutaler Offenheit und sank wieder in seinen Sessel.
»Mein Team und ich haben alles versucht, was möglich war.«
»Wirklich alles, Doktor?« fragte Huxley ohne Aggression.
»Ja. Wenn uns nicht bald - und mit bald meine ich innerhalb der nächsten vierundzwanzig
Stunden ~ ein entscheidender Durchbruch gelingt, werden die ersten sterben. Und dann wird
es unaufhaltsam weitergehen. So lange, bis niemand mehr an Bord der CHARR übrig sein
wird und sie das gleiche Schicksal ereilt, wie die Besatzung dieses Wracks dort draußen auf
dem Höllenplaneten, das vermutlich in dieselbe Falle geraten ist. Wir werden zu Vergessenen
des Alls.«
Huxleys Augenbrauen zuckten; der gute Doktor schien einen Hang zum Dramatischen zu
haben.
»Nicht ganz«, widersprach der Kommandant der CHARR.
»Wie...?«
»Sie vergessen die FO I und ihre Besatzung. Zumindest wird man von unserem Schicksal
erfahren.«
»Ein schwacher Trost.« Der Mediziner winkte ab und grinste humorlos. »Was nützt mir eine
mit dem Laser geschnittene Inschrift auf einem Monument in Alamo Gordo, wenn es sich
dabei um meinen Namen handelt.«
Huxley stand auf und blieb vor Berger stehen.
»Bis dahin«, sagte er, »wird es noch ein Weile dauern. Ich werde jetzt gehen und Captain
Bontempi bei ihren Versuchen unterstützen, mit den Fremden eine vernünftige
Verständigungsbasis herbeizuführen. Und Sie, Doktor?«
»Was werde ich schon machen«, erwiderte der und massierte seine Nasenwurzel mit Daumen
und Zeigefinger. Dann gähnte er unvermittelt und sagte mit einem schiefen Grinsen:
»Schlafen wäre das beste.«
Erst jetzt merkte der Colonel die Erschöpfung des Bordarztes -und seine eigene. Dennoch
sagte er mit einigem Nachdruck. »Das
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ist lediglich ein vorübergehender Ausweg, aber nicht mehr.«
»Kann schon sein, aber ich kann nicht mehr klar denken. Das ist das Problem. Eine Dusche
und eine kleine Ruhepause bewirken da Wunder, ich kenne mich. Ich bin sicher, daß wir
etwas Wesentliches übersehen. Aber was?«
Die Männer schüttelten sich die Hände.
»Ja«, sagte der Colonel, »wir haben etwas übersehen. Aber was es ist? Ich habe nicht einmal
eine Vorstellung davon.«
Während seiner Abwesenheit hatte sich die Situation nicht grundlegend geändert, wenn man
davon absah, daß sich Tantal und Veego in ihr Krankenquartier zurückgezogen hatten.
»Was machen unsere drei Jotts?«
»Haben sich wenig kooperativ gezeigt«, bedauerte die Fremdvölkerexpertin, »und auf keinen
meiner Versuche reagiert, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich habe die Kerle im
Verdacht, daß sie ausschließlich nur mit Ihnen in Verbindung treten wollen. Offensichtlich
wissen sie, daß Sie der Kommandant des Schiffes sind.«
»Ist das so, Jumir?« fragte Huxley laut und trat vor die energetische Absperrung.
Der, der sich vor nicht allzu langer Zeit selbst als Jumir bezeichnete, kam auf die
Energiewand zu.
»Ttterraner Huxley. Gönn Jumir.«
Seine Stimme klang holprig und gepreßt, doch seine Aussprache war um ein Vielfaches
deutlicher, als es Huxley je vermutet hätte. Vermutlich waren die Sprachorgane der Fremden
den menschlichen sehr ähnlich.
Huxley nickt ein wenig ungeduldig.
»Ich weiß«, erwiderte er. »Sparen wir uns die Vorrede. Ich bin Huxley, ein Terraner, du bist
Jumir, ein Gönn. Richtig? Deine Gefährten heißen Jamir und Jomir. Auch richtig?«
»Rrrichtig.«
Das Angloter hörte sich etwas merkwürdig an. Der Translator überbetonte die
Anfangskonsonanten der Worte; aber mit fortschreitendem Wortschatz gab sich das, wenn
auch die Kommunikation zunächst noch etwas abgehackt verlief.
»Sage mir, Jumir«, begann Huxley und sprach langsam, um dem Translator die Möglichkeit
zu geben, seine Worte adäquat in die Sprache der Gönn zu übersetzen, »weshalb seid ihr so
entsetzt über das Auftreten Tantals?«
»Tantal?«
»Das blauhäutige Mitglied meiner Besatzung«, sagte Huxley;
den Fremden den Unterschied zwischen Besatzungsmitglied und Gast aufzuzeigen, schien
ihm noch etwas verfrüht.
»Ttantal - Tterraner?«
»Nein. Er gehört einer anderen Spezies an.«
Die Gönn gerieten in Erregung; sie unterhielten sich so schnell untereinander, daß der
Translator nicht mitkam. Das sprachliche Tohuwabohu dauerte rund dreißig Sekunden, dann
verstummte es, und Jumir wandte sich an Huxley.
»Gibt es - noch andere - Stemenvölker außer - Gönn und Ter-ranem?«
»Das will ich meinen«, versetzte der Colonel. »Unzählige. Aber was hat es mit den blauen
Teufeln auf sich?«
»Blaue Teufel - mächtiger - Feind, alter Feind - will Gönn und Külä vernichten. Will unser
ganzes Volk auslöschen.«
Huxley fühlte sich mehr als unbehaglich, so deutlich war die Anklage der Gönn zu spüren. Er
deutete auf den Boden und sagte:
»Külä?«
Der links von Jumir stehende Jomir verneinte. Er hob den Arm und zeigte über sich. »Külä!«
Mit großer Wahrscheinlichkeit war Külä, ihre Heimatwelt, einer der anderen Planeten. Und
von dort waren die Gönn mit ihrem Primitivraumschiff auch gekommen. Aber weshalb hatten
sie die lange und beschwerliche Reise auf sich genommen? Die Auswer
200 tung der Tasterstation hatte schon während der Annäherung ergeben, daß das Schiff der Gönn zu keiner großen Geschwindigkeit fähig war- Wenn sich Huxley die Entfernungen innerhalb des Systems ins Gedächtnis rief, mußten sie mehrere Monate unterwegs gewesen sein, nur um vom nächstgelegenen Planeten zu dieser Wüstenwelt zu gelangen! Jetzt sagte Jumir: »Blauer Teufel muß - sterben. Tantal muß sterben. Und wenn Tenaner mit den blauen Teufeln - zusammenarbeiten, müssen auch - sie sterben.« l »Übernimmst du dich da nicht ein bißchen?« versuchte Huxley 'es von der heiteren Seite zu nehmen. »Ihr seid nur drei - wir hingegen sind sehr viele.« ;J| »Schneid scheinen sie zu haben, das muß man ihnen lassen«, warf Sybilla Bontempi ein, die hinter ihren Instrumenten saß und _— die Unterhaltung aufmerksam verfolgte. »Sich gegen ein ganzes Vft Schiff stellen zu wollen, erfordert Mut.« »Ich würde das als Dummheit bezeichnen«, erwiderte der Colonel ebenfalls auf englisch. Er wechselte wieder ins Angloter und fuhr fort: »Ihr habt die Überlegenheit unserer Waffen doch schon am eigenen Leib verspürt. Und das waren nur sehr kleine Waffen. Was könntet ihr schon gegen uns aus ausrichten? Wie wollt ihr das denn...« Anstellen wollte er sagen, aber ein Hustenanfall schnitt ihm das Wort ab. »Verdammt...« flüsterte er heiser, während ein plötzlicher Fieberschauer ihn wie eine feurige Lohe durchfuhr. Seine Lippen fühlten sich trocken und rissig an. Sein Verstand sträubte sich gegen die Erkenntnis, aber es war unverkennbar: Die heimtückische Infektion hatte sich nun doch seiner bemächtigt. Und sie würde von nun an sein ständiger Begleiter sein, mit all den unangenehmen Nebenerscheinungen, die sich immer mehr ausbreiteten und ihn am Ende mit der unausweichlichen Tatsache konfrontieren würde, daß er sich von seinem Leben zu verabschieden hatte. Nein, noch ist es nicht soweit, Colonel Frederic Huxley, sagte er sich.
Es entsprach nicht seiner Art, einfach kampflos aufzugeben. Br hatte noch nie an die Ausweglosigkeit einer Lage geglaubt und in seinem Leben schon einige haarsträubende Situationen gemeistert. Erst wenn das Schicksal ihn eines Tages an die Wand nagelte und ihm hohnlachend seinen letzten Fehler präsentierte, würde er sich eventuell geschlagen geben. Aber keine Sekunde früher! All diese Überlegungen flogen in Sekundenschnelle durch Hux-leys Verstand und schafften es, den Anfall einzudämmen. »Glaubt ihr wirklich, ihr könntet uns besiegen?« wiederholte er noch einmal. Und ein eisiger Schauder körnte die Haut seines Rückens, als er Jumir sagen hörte: »Ihr seid
es doch schon, ohne daß ihr es gemerkt habt. Die alte Seuche wirkt noch immer, die wir in
euer Schiff getragen haben. Sie wird die blauen Teufel und euch, die ihr deren Verbündete
seid, töten, so wie es bereits unsere Vorväter getan haben mit jenen blauen Teufeln, deren
Wrack dort draußen liegt. Euch bleibt nur noch wenig Zeit. Bald werdet ihr sterben.«
Nein, verflucht, es war nicht leicht!
Wer immer den Spruch vom »leichten Sterben« aufgebracht hatte, mußte ein gottverdammter
Lügner und Heuchler gewesen sein!
Holger Alsop konnte es beurteilen, denn Holger Alsop starb. Jetzt, in diesen Momenten, die
sich hinzogen, als wollten sie niemals enden... aber genau das war die Heimtücke daran.
Genau das.
Er lag im Sterben, weil die Tyrannen von Om, die Zyzzkt, eine Situation heraufbeschworen
hatten, die ihm zum Verhängnis geworden war.
Es war so unwirklich... wäre nicht der wabernde Schmerz gewesen, den er dank seines
gephanteten Zustands zwar ertragen, aber nichtsdestotrotz erkennen konnte, er wäre versucht
gewesen, auch zu einer Lüge zu greifen.
202 Zu einer Selbstlüge wie ungefähr dieser: Ich kann es schaffen! Ich werde es schaffen! So kann und wird es nicht w Ende gehen...! Aber die Verletzungen waren zu schwer. Er hatte jetzt schon
keine Gewalt mehr über den Torso, der einmal ein hochgradig beweglicher und belastbarer
Cyborgkörper gewesen war. Er hatte nicht einmal mehr einen Torso.
Abermals morste Alsop dem Worgun in der Gestalt eines Zyzzkt, dem Mysterious namens
Gisol: Tu es nicht! Tu es bitte nicht!
Es dauerte, bis Gisol, den Blick zu ihm fand. Und die Botschaft verstand. Verstehen wollte...
Eine Fahrt durch die Planetenrinde!
Nur ein Flash oder ein Ringraumer vermochte dies - im Schütze seines Mikrokontinuums, das
er um sich herum erschuf: das Inter-vallum. Es löste ihn aus dem Normaluniversum heraus,
ohne daß er es tatsächlich verließ. Wer und was auch immer sich darin befand, es blieb
Bestandteil des Kosmos, hatte sich aber in eine Art Nische zurückgezogen, in der es - beinahe
jedenfalls - unangreifbar und von der umgebenden Materie nicht »bemerkt« wurde.
Abstrus - wie vieles, was der Technik seines Volkes entsprungen war.
Gisols Gelenke knackten, als er mit einer seiner Extremitäten Über die Innenverkleidung der
Flashkabine strich. Ein schabendes Geräusch entstand. Er war immer noch ein Zyzzkt - was
seine Gestalt anging. Aber er bediente diesen ungewohnten, ja verhaßten Körper ebenso
virtuos wie seinen eigenen... oder den von Jim Smith, an den er sich mehr gewöhnt hatte als
an jede andere Maske, die er in seinem Leben getragen hatte.
Den sterbenden Cyborg hinter sich auf dem zweiten Sitz wissend, bog Gisol den Kopf weit
zurück und hielt ihn etwas schräg, um zu dem Bildschirm hinaufzustarren, der ihm die Umgebung zeigte, durch die der Flash
wie durch Nebelschlieren glitt. Festes Gestein unterschiedlichster Beschaffenheit. Die Platte,
die auf dem flüssigen Kern eines jeden bewohnbaren Planeten schwamm. Platten so
gigantisch, daß man sie Kontinente nannte.
Pscherid war eine typische Welt für Worgun - gewesen.
Doch momentan änderte sich vieles, wenn nicht alles. Ob zum Guten oder zum Schlechten,
würde sich erst noch zeigen müssen.
Und ich trage mit Schuld daran, dachte Gisol.
Im nächsten Moment dachte er gar nichts, überließ sich ganz seinen Instinkten.
Der Flash ließ die vom Reizstrahl übertragene Kulisse hinter sich. Die Umgebung wechselte
dramatisch.
Gisol sondierte die Szene, in die er hineingeplatzt war.
Er rechnete mit Gefahr - er rechnete immer und überall damit, auch wenn er hoffte, das
genaue Gegenteil vorzufinden...
Nein, keine Spur von den Zyzzkt, keine Spur von Verfolgern!
Erst jetzt deaktivierte Gisol das Intervallum, stoppte den SLE und fuhr die Stützbeine des aus
Xer-Metall bestehenden und von einem Vitalgeflecht durchwobenen Kleinstraumschiffes aus.
Er fand keine Zeit, darüber nachzudenken, wie wenig die Terra-ner immer noch über die
Schiffe wußten, die sie in der fernen Galaxis Milchstraße in ihren Besitz gebracht hatten. Ein
Impuls an die Gedankensteuerung genügte, die Luken aufgleiten zu lassen. Mit
geschmeidigen Bewegungen, die dennoch von Knackgeräuschen begleitet wurden, löste sich
Gisol aus dem Flash...
... und verwandelte sich in der Bewegung zurück.
Die Maske fiel.
Um einer anderen zu weichen.
Jim Smith - ein von der Statur her veränderter, aber immer noch gut erkennbarer Jim Smith,
der sich den hier herrschenden Schwerkraftverhältnissen angepaßt hatte - beugte sich ins
Innere der Kabine und schob seine Arme unter den Körper des Menschen Holger Alsop.
204
per keine Kontrolle mehr über sich hatte, auf Kopf und Schulterpartie reduziert und nur noch über die Augen Kontakt aufzunehmen imstande war. Morsen. Gisol spürte eine Enge in der Kehle, die eigentlich nicht hätte aufkommen dürfen.
Gleichzeitig aber bewies sie, wie perfekt er sich dem Metabolismus eines Terraners
angeglichen hatte.
Er wollte Alsop anheben, als dessen Augen schrien: Halt!
Gisol hielt inne. Dieser Blick... er wollte etwas fragen, als die Lider des Cyborgs erneut in
einem genau beabsichtigten Takt auf und nieder schlugen.
Gisol hatte das Gefühl, die dazu passenden Worte zu hören. So eindringlich, so intensiv war
Alsops Blick. Und so voller Trauer.
In jeder anderen Situation hätte der Worgun Vorbehalte gegenüber einem Wesen gehabt, das
sich selbst bedauerte. Aber hier... er konnte so gut mit dem Menschen mitempfinden, der vor
ihm lag wie der Rest von etwas, das einmal gelebt hatte.
Die Stimme, die Gisol erhob, schwankte, als er fragte: »Was? Was soll ich nicht tun?«
Gleichzeitig rekapitulierte er die Eckdaten, die er von dem Sterbenden kannte.
Holger Alsop. Einst 7,82 Meter groß. Graues Haar. Experte in robonischer Biologie. Cyborg seit drei Terrajahren... Gisol beugte sich noch etwas tiefer zu dem Fragment hinab und beschloß, ihn nicht auf diese nüchternen Fakten zu reduzieren. »Was, Alsop? Was soll ich nicht tun?« drängte er. Das Gesicht des Mannes, der in den vergangenen drei Jahren mehr erlebt hatte als die meisten seiner Artgenossen in einem ganzen Leben, war von einem hauchdünnen Schweißfilm überzogen. Schon allein das zeigte, wie er mehr und mehr - selbst im Phantmodus - die Kontrolle über sich verlor. Er kann keine Schmerlen spüren, redete sich Gisol ein - nach 205
allem, was er über Cyborgs und ihr Programmgehim (das momentan Alsops Körperreaktionen
blockierte) wußte, entsprach dies den Tatsachen.
Aber ein einziger Blick genügte, um Zweifel aufkommen zu lassen.
Keine Chance, signalisierte Alsop. Nichts kann mich mehr retten.
Obwohl ein einziger Blick Gisols genügte, um die Behauptung des Cyborgs bestätigt zu
finden, erwachte der Wunsch in ihm zu widersprechen.
Am Ende jedoch kam kein Ton über seine Lippen. Er schüttelte nur den Kopf. Nicht als Geste
des Widerspruchs, sondern um seiner ehrlichen Erschütterung Ausdruck zu verleihen.
Ein Mensch starb.
Ein Mensch, der ihm zum Freund geworden war. Zu einer Art Freund zumindest.
Wie Juanita, dachte Gisol. Eine... Art von Freundin.
Obwohl, wie er einräumen mußte, Juanita Gonzales noch einmal einen Sonderfall darstellte.
Hilf mir, morste Alsop weiter. Ich bitte dich. Es ist mein letzter Wunsch. Ich weiß nicht, ob es
vergleichbare Rituale bei den Wor-gun gibt, aber... bei uns Menschen ist der letzte Wunsch
etwas... Heiliges.
Etwas Heiliges. Gisol konnte Alsop nur anstarren. Einen Moment schien es, als wollte der Glanz in den Augen des Cyborgs verblassen und die Pupillen zu Eis gefrieren. Schon das Morsen schien seine Kräfte überstiegen zu haben. Doch dann fing er sich noch einmal, die Lider flatterten kurz
ohne besondere Botschaft, und dann drängte er Gisol: Versprich es mir. Gisol zögerte ein letztes Mal, warf einen Blick auf das wuchtige Gebäude, in dessen Inneren er sich Rettung für Alsop erhofft hatte. Doch dessen Programmgehim mußte inzwischen sämtliche Fakten gegeneinander abgewogen und das Befinden des Körperrestes 206
glasklar analysiert haben. Keine Chance, lautete das niederschmetternde Resümee des kühlen
Logikelements, das in Alsops Kopf implantiert worden war. Keine Chance...
»Was?«, fragte Gisol schließlich, während hinter ihm Schritte laut wurden. Uniformierte
eilten die wenigen Stufen des Gebäudes herab und auf den Flash zu. Der Worgun achtete
nicht darauf. Jim Smith hatte nur Augen für Holger Alsop, den Sterbenden.
Mit seinem letzten Wunsch.
»Was soll ich dir versprechen?«
Alsop morste ihm die Antwort.
Und über Jims Züge huschte ein Lächeln.
Es war ausgesprochen worden. Ohne Worte zu bemühen. Und einen Moment lang hatte Alsop
das Gefühl, von innen heraus zu Eis zu erstarren. Die Kälte war so widernatürlich und so
extrem, daß sie selbst nach seinem Denken zu greifen schien. Träge wälzten sich die
Gedanken dahin. Als ginge ihnen die Kraft aus. Als leere sich die Batterie, die diesen Körper
ein Vierteljahrhundert in Bewegung und am Leben erhalten hatte...
Doch das beklemmende Gefühl von Gletscherkälte wich. Und Alsop bemerkte das Lächeln,
das seine Bitte bei Gisol ausgelöst hatte. Ein warmes Lächeln, das von Begreifen, von
Verstehen zeugte. Und das Alsop wärmte, den Frost aus dem ihm noch verbliebenen
Körperfragment vertrieb.
Noch einmal durchpulste ihn Vitalität. Ein letztes Aufbäumen seiner Kräfte.
Er ließ sich nicht davon täuschen.
»Wenn du es wirklich willst«, sagte Gisol, hinter dem plötzlich uniformierte Pscheriden
auftauchten und in Alsops Sichtbereich räckten.
Ich will. Sofort machte sich die Befürchtung in dem Cyborg breit, daß 207 nicht länger Gisol über sein Schicksal entschied, sondern...
Doch da handelte der Worgun in Menschengestalt auch schon. Handelte rigoros und ohne auf
die Einmischung der Pscheriden zu achten, die heftig auf ihn einredeten.
Das, was von Alsop übriggeblieben war, lag immer noch auf dem Flashsitz. Doch jetzt zogen
sich die Arme, die sich bereits unter ihn geschoben hatten, um ihn herauszuheben, wieder
zurück.
Danke, signalisierte Alsop.
Sein nächster und letzter zusammenhängender Gedanke war: Ich werde nie wieder frieren
müssen.
Dann schaltete er den Phantmodus ab.
Eine Hand legte sich auf Gisols Schulter, und eine Stimme sagte: »Gisol? Ich habe Sie anhand
Ihrer Zellschwingungen identifiziert. .. ich kann gar nicht sagen, wie...«
General Gutters Stimme brach ab. Erst jetzt bemerkte er das tote Etwas im Flash. Das Etwas,
über das Gisol immer noch wie schützend gebeugt stand. Es gelang ihm kaum, der
Erschütterung Herr zu werden. Es gab keinen Zweifel, daß sich Holger Alsop aus dem Phant
zurückgezogen hatte - was seinen sofortigen Tod zur Folge gehabt hatte.
Er hatte nicht mehr gelitten.
Gisol wünschte, daß er nicht mehr hatte leiden müssen. Und er haßte den Gedanken, sich
vielleicht zu irren.
Cyborgs!
Die Worgun hatten zu ihrer Blütezeit Sonnen bewegt - dennoch hatten die von und aus
Menschen geschaffenen Cyborgs etwas beklemmend Faszinierendes. Anfänglich war Gisol
versucht gewesen, sie in den Bereich seelenloser Roboter einzuordnen...
... bis er die Menschen entdeckt hatte, die sich hinter der Cy-borgfassade verbargen.
Alsop war das Paradebeispiel eines solchen Überwesens, das in
208 seinem Kem immer ein ganz normaler Mensch geblieben war. Mit Träumen und Sehnsüchten.
Und mit Ängsten.
Alsop war nur 26 Jahre alt geworden.
Die Sterne hätten ihm noch offen gestanden...
Es war vor allem Alsops Jugend, die Gisol länger als bei anderen Gelegenheiten um einen
Gefallenen trauern ließ.
Und um das zarte Pflänzchen, das zwischen ihnen zu gedeihen begonnen hatte.
Freundschaft...
Gutter sagte: »Darf ich Ihnen trotzdem gratulieren? Sie ahnen nicht, was Sie für uns getan
haben...«
Gratulieren.
Gisol wandte sich langsam, zeitlupenhaft langsam um. Gutter und eine Reihe weiterer
Generäle umstanden ihn in einem Halbkreis. Keiner von ihnen schien Alsop wirklich
wahrzunehmen.
Gisol gab den Gedankenbefehl, den Flash zu schließen.
Mehr als jemals zuvor erinnerte ihn das Kleinstraumschiff daraufhin an einen Sarg. Und am
liebsten hätte er Alsops letztem Wunsch sofort stattgegeben, auch wenn dadurch ein
unersetzliches Vehikel zerstört worden wäre.
Ein Rest von abwägendem Verstand hielt ihn zurück.
»Danke«, wandte er sich an Gutter. »Liegen bereits verläßliche Daten vor?«
Gutter bestätigte eifrig. »Mehr als verläßlich. Kommen Sie. Kommen Sie mit ins Gebäude.
Sehen Sie selbst...«
Gisol zögerte nur ein paar Herzschläge seines Jim-Smith-Körpers lang. Dann schien ihn der
Strom der vorauseilenden Gestalten in seinem unfühlbaren Sog mitzureißen.
Seine Gedanken weilten immer noch bei dem Toten. Auch wenn seine Augen auf dem
Bildschirm ruhten, vor den ihn die Generäle gelotst hatten.
209 Gisol hatte seine Worgungestalt angenommen. Als wollte er damit die letzte Verbindung zu
Alsop kappen... doch so einfach war es nicht. Der erlöschende Blick des Menschen rief immer
noch einen Widerhall von Gefühlen in ihm hervor, den die Stimmen und Bilder, die ihn
umgaben, nicht ersticken konnten.
Zehn Millionen Lichtjahre von daheim, dachte Gisol. Und er stellte sich vor, wie bitter es für
ihn selbst gewesen wäre, in der Milchstraße - ebenfalls zehn Millionen Lichtjahre von zu
Hause -zu enden.
Alsops letzte Bitte drängte mit Macht darauf, erfüllt zu werden.
Aber zuerst...
»... ganze Arbeit geleistet...«, kommentierte General Gutter, was sich auf dem Schirm
abzeichnete. Getarnte Aufklärungsdrohnen machten das aktuelle Geschehen im planetaren
Hauptquartier der Zyzzkt für die Pscheriden transparent.
Und auch für Gisol, der das Himmelfahrtskommando zusammen mit Alsop bewältigt hatte.
Immer neue Thermobomben explodierten, rissen Gebäudeteile und Zyzzkt in den Untergang.
Auch die Drohnen überstanden die Explosionen nicht. Die Bilder wechselten rasch.
Schalteten immer wieder zum nächsten Abschnitt, zeigten orientierungslos wankende
Insektoiden, die ihr Heil in der Flucht aus dem Hauptquartier suchen wollten...
... dann ein alles überlagernder Lichtblitz...
...Schwärze... ... Szenenwechsel...
... der nächste Ort, an dem die nächste Hitzebombe ihre verheerende Wirkung entfaltete...
Gisol sah dem Sterben zu und befand, daß es gut war. Die Zyzzkt waren für ihn nicht viel
mehr als Ungeziefer, das ausgerottet werden mußte. Eine insektoide Stemenpest. Sie hatten
sein Volk fast ausgelöscht. Und Alsop getötet.
Alsop. Nein, dachte er, das Töten ist nicht zu entschuldigen. Es sei
210 denn, man tötet einen Zyzzkt - oder besser noch möglichst viele von ihnen... »... die Wirkung entspricht ganz unserer Absicht«, dozierte Gutter weiter in unpersönlichem
Ton. »Für die Zyzzkt muß es so aussehen, als bewegte sich ein unsichtbarer Gegner mitten
unter ihnen - im Herzen ihrer Kommandozentrale.«
Die Zyzzkt würden diesen Tag, diese Stunde ihrer Niederlage nie mehr vergessen.
Wer immer Regie bei dieser Übertragung führte (Gutter? Er hielt ein Instrument in Händen,
mit dem er offenbar Einfluß auf die Wiedergabe der Kampfzonen nahm), er fand Gefallen am
schnellen Schnitt. Immer rascher wechselten die Einstellungen.
Von Zyzzkt gesteuerte Flash wurden sichtbar, wie sie von der Front zum Schutz des
Luftraums über dem Hauptquartier abgezogen wurden. Einige drangen ins umliegende
Erdreich ein, um dort nach den vermuteten Angreifem zu fahnden...
... und wurden Opfer der dort unten verborgenen Minen.
Was zusätzliche Begeisterung bei den Pscheriden hervorrief.
Die Zyzzkt glichen immer mehr einem aufgeschreckten, primitiven Insektenschwarm. Ihre
Gegenwehr - von der sie nicht ahnten, daß sie völlig chancenlos war - blieb ineffektiv und
steuerte auf ein immer unüberschaubareres Chaos zu. Sie zogen sämtliche Plash aus der
Ebene vor der Hauptstadt ab, um ihr planetares Hauptquartier zu schützen, was es den
Pscheriden nach und nach ermöglichte, die Bodentruppen der Zyzzkt aus der Ebene vor
Pscheridorr zurückzudrängen.
Der Sieg schien nahe, als...
»Da!« schnarrte Gutter.
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Abermals hatte der Ausschnitt gewechselt, zeigte jetzt den
Himmel über dem Schlachtfeld vor Pscheridorr.
Wo die Antwort der Zyzzkt auf die für sie unerwarteten Erfolge der Verteidiger gegeben
wurde.
Inzwischen mußten sie erkannt haben, daß der Abzug der Flash
211
das Kriegsglück in der weiten Ebene vor der planetaren Hauptstadt wendete. Die
Unitallpanzer allein wurden ohne Deckung aus der Luft eine leichte Beute der pscheridischen
Oszillationsgranaten. Deshalb, um das Ungleichgewicht der Kräfte wieder umzukehren
schickten die Zyzzkt jetzt kampfstarken Ersatz.
Einen Ringraumer.
Als Gisol ihn herabstürzen sah, wußte er, daß der Höhepunkt des Sterbens noch nicht erreicht,
geschweige denn überschritten war.
»Gutter...«
Der General machte eine beruhigende Geste. Er flüsterte etwas in ein Gerät an seinem
Handgelenk.
»Wir sind vorbereitet«, sagte er anschließend laut in die Runde. »Die nächsten Minuten
werden darüber entscheiden, ob wir alle vernichtet werden - oder den wichtigsten Sieg
unserer Geschichte davontragen.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der Ringraumer der Zyzzkt das Feuer eröffnete.
Strahlfeuer, das aus dem Bildschirm heraus genau zwischen Gisol und den Generalstab zu
schlagen schien.
Dann wurde es dunkel.
Als sich das Schott hinter Colonel Huxley geschlossen hatte, ging Berger ins Bad, zog sich
aus, duschte heiß und kalt, wechselte die Wäsche und zog sich wieder an. Dann ging er
zurück in seinen Arbeitsraum. Er setzte sich in den Gliedersessel und veränderte dessen Form
und Lage, bis er fast ausgestreckt lag.
»Dunkel!« sagte er.
Der Suprasensor schaltete alles ab - bis auf den Bildschirm, der wie ein Fenster eine Ansicht
der Welt rings um die CHARR bot. Aber auch dort draußen war es Nacht geworden.
Die Zeit in der CHARR war generell nach der Erdzeit ausgerichtet. Das Leben in ihrem
Innern verlief in einem Rhythmus, der
212 zweimal zwölf Stunden umfaßte. Zwölf Stunden Tag, zwölf Stunden Nacht. Nach dieser Einteilung wurde verfahren. Zur Zeit war »Nacht«. Zufälligerweise fiel diese Unterteilung auch mit der planetaren Zeit zusammen. Berger schloß die Augen - und öffnete sie gleich wieder. Er konnte nicht einschlafen. Seit den ersten Symptomen der rätselhaften Krankheit hatte er bis zur Erschöpfung gearbeitet und nach Lösungen gesucht. Eigentlich hätte er schlafen müssen, als wäre er betäubt. Aber sein Verstand funktionierte mit jener luziden Klarheit, die es ihm unmöglich machte, zur Ruhe zu kommen. Er wandte den Kopf. Auf dem Schirm standen zahllose, unbewegliche Lichtpunkte. Feme Sterne waren es. Sie verkörperten für den rational und kühl denkenden Arzt das Unheimliche, das Mystische, das weit Entfernte. Von dorther kam das Licht, kamen die Sonnenwinde, die
Radioechos. Und von dorther waren auch die drei Fremden mit ihrem biologischen Raumschiff gekommen. Man stelle sich das vor! Ein Raumschiff, nun ja, mehr ein Boot, das bis auf die metallene Außenhülle aus Biokomponenten bestand! Unglaublich! Er war noch nicht im Schiff gewesen, hatte sich lediglich die Landebeine des nur zehn Meter großen Primitivschiffes auf dem Bildgeber angesehen. Es handelte sich definitiv um genveränderte, Uanenähnliche Pflanzenkonstrukte. Die Zellmembranen der Pflanzen mußten derart verbessert und vor allem verstärkt worden sein, daß sie Kälte und Strahlung des Weltraums widerstanden. Ein rigoroser Umbau, der sogar die Sporen betraf, anders war es nicht zu erklären... Pßan^ensporen! Berger fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen.
In seinem Geist begann sich eine Idee abzuzeichnen. Vage zunächst, ganz verschwommen,
aber verfolgenswert.
Überhastet verließ er sein Quartier und begab sich zum Hauptlabor, das nur wenige Räume
von den seinen entfernt lag.
»Doktor?« Merrick sah einigermaßen erstaunt auf Berger, der
213
mit wirrem Haar und etwas unordentlicher Kleidung durch das Schott stürmte. »Was kann
ich...« setzte er zu einer Frage an, die dazu verurteilt war, ins Leere zu laufen, weil ihm Berger
das Wort abschnitt.
»Wo sind die Ergebnisse der physiologischen und histologischen Untersuchungen, die wir an
den drei Fremden durchgeführt haben als sie noch paralysiert waren?«
»Noch im Abtaster.«
»Lassen Sie mal sehen.«
Der Sichtschirm des Analysegerätes wurde hell, als Merrick eine Schaltung vornahm.
»Soll ich...«
Berger machte eine abwehrende Handbewegung.
»Nein, nein«, sagte er mit verkniffener Miene. »Ich mache das schon.«
Er beugte sich zum Gerät und bediente die Kalibrierung.
Während er die Ergebnisse studierte, begann er murmelnd die Ergebnisse zu rezitieren.
»... es sind Warmblüter, kein Zweifel... Metabolismus dem menschlichen ähnlich... keine
Infektionskrankheiten durch parasitär lebende Protozoen, wie sie häufig bei im engen Kontakt
mit der Natur lebenden Spezies zu beobachten sind... merkwürdig, aber warum nicht... keine
protozystischen Mikroben... ah, da ist es ja! Wie ich vermutet habe!«
Triumphierend blickte er auf Merrick, der einigermaßen ratlos zu ergründen suchte, was Dr.
Berger vermutet haben könnte.
»Chef...?«
»Ich habe schon Schwierigkeiten, mich mit der nogkschen Physiologie auseinanderzusetzen.
Bei diesen drei fremden Raumfahrern versagen meine Kenntnisse fast ganz. Dennoch kann ich
eines mit Sicherheit sagen: Das Blutbild unserer drei Besucher ist frei von Sporen, sie sind
nicht infiziert. Aber weshalb nicht?«
»Vermutlich sind sie immun dagegen.«
»Immun gegen eine Krankheit, die, wie wir wissen, so unter
214
schiedliche Spezies wie Nogk und Mensch befällt?« versetzte Berger.
»Vielleicht war es das, wozu sie entwickelt wurde«, sagte Merrick, ohne groß nachzudenken.
»Ein biologischer Kampfstoff, der gezielt gegen eine oder mehrere Spezies eingesetzt werden
konnte, aus welchen Gründen auch immer, die Hersteller aber selbst nicht schädigte.«
Berger schien nicht gehört zu haben. Er zündete sich eine Zigarette an, aber das Nikotin hatte
nicht die erhoffte Wirkung, hatte Besseres zu tun, als seine blankliegenden Nerven zu
beruhigen. »Nein«, sagte er, »so einfach ist das nicht, da steckt mehr dahinter...« Er hielt inne,
starrte seinen Assistenten an. »Wie... was haben Sie gerade gesagt, Merrick?«
Merrick blinzelte erschrocken, von der Schärfe in Bergers Stimme überrascht. »Daß es sich
um einen biologische Kampfstoff handeln könnte, gegen den die Fremden immun...«
»Weil-sie-die-Verursacher-dieser-Seuche-sind!« schnitt ihm Doktor Berger triumphierend das
Wort ab und betonte jede einzelne Silbe explizit. »Himmel, ich muß den Colonel davon unter
richten!«
Er tastete einen Kontakt, der ihn mit dem Raum verband, in dem er den Kommandanten
wußte.
Der Schirm des Standviphos erhellte sich. Auf der einen Quadratmeter großen Fläche war
Colonel Huxley zu sehen.
»Ich dachte mir schon, daß Sie nicht schlafen, Doktor«, sagte er geradeheraus. »Ist was mit
Ihren Patienten?«
»Nein, nein«, wehrte der Mediziner ab, »wenn es sie auch betrifft. Ich habe Grund zu der
Annahme, daß unsere Besucher, beziehungsweise das Volk, das sie repräsentieren, als
Verursacher unserer Erkrankung angesehen werden müssen.«
»Sie werden es nicht glaubten, Doktor«, entgegnete Huxley, und ^ schwaches Lächeln huschte
über sein abgezehrt wirkendes Geweht, das durch die Schatten der Bartstoppeln noch düsterer
wirkte, »etwas Ähnliches haben mir eben die Gönn mitgeteilt.«
215 »Gönn?«
»Unsere drei Besucher aus dem All nennen sich Gönn und stammen von einer Welt innerhalb
dieses Systems namens Külä.«
»Wenn die Gönn etwas mit der Seuche zu tun haben, sind sie bestimmt auch in der Lage, das
entsprechende Gegenmittel herzustellen! Wir wären gerettet, Colonel, wenn wir sie dazu
brächten, einen entsprechenden Antikörper zu produzieren.«
»Vorausgesetzt, es ist so, wie Sie vermuten«, dämpfte Frederic Huxley mit unnatürlicher Ruhe
Bergers Enthusiasmus. »Und vorausgesetzt, sie wollten es. Da gibt es nämlich ein Problem.«
»Welches?« Berger warf seinem Kommandanten einen langen, verzweifelten Blick zu.
»Die Gönn sehen in den Kobaltblauen einen uralten Erzfeind, der Schreckliches mit ihren
Vorfahren angestellt haben muß. Und uns schließen sie in ihre Vendetta mit ein, weil wir nach
ihrer Ansicht mit den >blauen Teufeln< kooperieren. Sie haben mir gerade unseren baldigen
Tod vorhergesagt.«
Bergers Blicke senkten sich in die Huxleys. »Haben wir denn eine andere Wahl, als sie zu
überzeugen?«
Huxleys Gesicht schimmerte grau. »Nein.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Und, Colonel...«
»Ja?«
»Ich und die gesamte Mannschaft verlassen uns auf Sie...«
»Eure Vorstellung, die blauhäutige Spezies an Bord meines Schiffes seien Völkermörder, ist
absurd, Jumir. Ebensowenig wie wir Terraner Völkermörder sind. Wie kann ich dir das nur
begreiflich machen?« Huxley legte all seine Überzeugungskraft in seine Stimme.
Zum neuen Tag fehlte nicht mehr viel, auf den Schirmen der Außendarstellung flirrten bereits
die ersten rötlichen Schleier über den Horizont, die den neuen Tag ankündigten. Sybilla
Bontempi
216
hatte längst die Segel gestrichen und sich in ihr Quartier zurückgezogen. Die Schiffswache
hatte ab und zu nach dem Rechten gesehen, ansonsten war Huxley mit den Gönn ungestört
geblieben. Der Colonel fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Nicht wünschte er sich
sehnlicher, als sich ebenfalls eine Weile ausruhen zu können. Aber er wußte, daß er es nicht
konnte, ehe er nicht die Gönn von ihrem Fehler überzeugt und zum Einlenken bewogen hatte.
Es konnte nicht mehr als ein Versuch sein, Geschehnisse aus einer weit entfernten
Vergangenheit zu interpretieren, die so abgelaufen sein konnten, wie die Gönn sie schilderten,
vielleicht aber auch nicht. Die Chancen waren groß, daß sie ihm eine ihrer Vorstellung
gemäße Version offerierten, die nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen mußte.
Aber wenn auch nur die Ausgangspunkte stimmten, dann hatte deren Volk in der Vergan
genheit unter dem Joch einer Tyrannei von »blauen Teufeln« gestöhnt, deren Herkunft bis in
die Neuzeit unbekannt geblieben war.
»Es gibt viele Stimmen von Historikern auf Külä, die das Schreckensregime der blauen Teufel
bestätigen«, beharrte Jumir. »Und an Bord deines Schiffes sind sie zurückgekehrt, vermutlich,
um ihr Werk zu vollenden. Wir sind stolz darauf, daß wir gerade noch rechtzeitig gekommen
sind, euch an eurer Tat zu hindern.«
»Unsinn. Dir besitzt keinerlei Beweise dafür.«
»Dieser Tantal ist uns Beweis genug.«
»Seine Spezies kann es nicht gewesen sein«, beharrte Huxley schroff, »sie existiert erst seit
sehr geringer Zeit in der Galaxis. Dafür gibt es eindeutige Beweise, die ich euch jederzeit
unterbreiten kann.«
Schweigen.
»Eure Sturheit ist Wahnsinn!« Huxley konnte nur noch den Kopf schütteln. »Erklärt mir doch
bitte, weshalb ihr so handelt. Fürchtet ihr nicht, mit uns zu sterben? Und das werdet ihr, mein
Wort darauf.«
»Es macht uns nichts aus hier zu sterben, wenn wir dadurch Milliarden in unserer Heimat
retten können«, versetzte der Gönn,
217
und in seinen Worten schwang eine Würde mit, die Huxley unter anderen Vorzeichen tief
bewegt hätte.
So aber sagte er womöglich noch schroffer: »Wenn wir die Völkermörder wären, für die ihr
uns fälschlicherweise haltet, erreicht ihr mit dieser Aktion nur das Gegenteil, das kann ich
euch versichern. Denn wenn wir es wären, würden wir nicht den gleichen Fehler noch einmal
machen und mit nur einem Schiff hier auftauchen...« Mal sehen, wie sie darauf reagieren,
dachte Huxley, dem diese Wendung im letzten Moment eingefallen war, »... denn ich habe
noch ein zweites Schiff unter meinem Kommando, dessen Besatzung nicht verseucht ist, weil
es nie mit der Oberfläche dieses Planeten in Berührung gekommen, sondern stets im Orbit
verblieben ist.«
Die Gorm steckten die Köpfe zusammen.
Huxley wartete.
Schließlich ließ Jumir verlauten:
»Wir glauben dir nicht, Terraner. Wir haben nie ein zweites Schiff gesehen.«
»Das konntet ihr auch nicht«, erläuterte der hagere Colonel und lächelte dünn. »Als ihr euch
diesem Planeten nähertet, verbarg es sich auf der anderen Seite dieser Welt. Es hat sich auf
meinen Befehl stets so bewegt, daß ihr es nicht zu Gesicht bekommen konntet.« Daß die FO I
sich in Wirklichkeit hinter ihrem Tamfeld verborgen hatte, band er den drei Gönn nicht auf die
Nase.
Das Resultat seiner Worte waren gestikulierende Hände, aufgeregtes und unverständliches,
weil vom Translator nicht übersetztes Sprechen. Arme, die in die Höhe zeigten und Bilder in
die Luft malten. Huxley bemühte sich, in allem einen Sinn zu erkennen, gab es aber auf und
wartete, bis sich die Gorm beruhigten. Schließlich wandte sich Jumir, der stets als Wortführer
auftrat, an Huxley. Er versuchte sich ein wenig in menschlicher Gestik und schüttelte ziemlich
unbeholfen mit dem Kopf.
»Auch das glauben wir dir nicht, Terraner.«
»Ich kann den Beweis dafür antreten.«
218
»Wie willst du das tun?«
War da nicht ein erstes, unmerkliches Zögern? Nein, revidierte sich Huxley im stillen. Nur
Wunschdenken.
Er tastete die Phase zum Leitstand ein.
»Funkzentrale, Butrovich. Sir?«
Der wachhabende Funktechniker der CHARR hatte Huxley schon gedient, als dieser noch
Kommandant der FO I war, wie übrigens auch viele andere an Bord.
»Machen Sie mir eine Verbindung mit der FO I, John«, wies er den Funktechniker an. »Legen
Sie die Phase auf meine Kommuni-kationskonsole hier.«
»Zu Befehl, Colonel!«
Es dauerte nur Sekunden, bis sich Maxwell meldete.
»Hören Sie, Mr. Maxwell«, trug Huxley seinem Zweiten Offizier auf. »Suchen Sie sich einen
Berg in der Nähe der CHARR, so daß wir ihn von der Rampe aus sehen können, und dann
beschießen Sie ihn. Es muß ein schönes Feuerwerk geben, ich möchte unseren Gästen etwas
bieten. Verstanden?«
»Angekommen, Sir.«
Huxley stand auf.
Er deaktivierte die Energiebarriere. Die Gorm sahen sich zum ersten Mal seit ihrem
unsinnigen Versuch, die CHARR mit Waffengewalt zu erstürmen, nicht mehr als Gefangene.
Nicht ohne Mißtrauen folgten sie dem Terraner, der unbefangen an der Spitze ging. Waffen
besaßen die Gorm keine mehr, und Ausbünde an Kraft waren sie auch keine. Zu allem
Überfluß wurden sie von den Robotern mit aktivierten Paralysatoren flankiert.
Als sie in der Hauptschleuse am Kopf der Gleitrampe angelangt Waren, stieg gerade die
Sonne über den Horizont.
Die Luft war glasklar; samtige Kühle erfüllte sie. Noch war nichts von der Hitze des Tages zu
spüren. Die frische Luft durchdrang zirkulierend die unsichtbare Membran der Schleusenöff
nung, die verhinderte, daß Staub und Dreck ins Schiffsinnere eindringen konnten.
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Maxwell meldete sich über Huxleys Armbandvipho.
»Sir, habe ein geeignetes Zielobjekt.«
»Ausgezeichnet, 11.0.«, zeigte sich der Colonel zufrieden. »Wo?«
»Auf elf Uhr. Überhöhung 20 Grad.«
Huxley mußte keine Sekunde überlegen.
»Elf Uhr« bedeutete links von ihrem Standpunkt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad
voraus und in einer Entfernung von etwa 10 Kilometern.
Er suchte die angegebene Stelle und lokalisierte den Berggipfel.
»Habe Ziel im Visier«, meldete Maxwell. »Warte auf Feuerbefehl!«
»Feuern Sie!« befahl Colonel Frederic Huxley und trat etwas zur Seite, damit die Gorm freies
Sichtfeld auf das Zielgebiet hatten.
Ein greller, lautloser Blitz zuckte aus dem Himmel herab, an dem noch vereinzelt die
Lichtpunkte der Sterne zu sehen waren, und schlug in die Bergspitze ein, die sich Maxwell als
Ziel auserkoren hatte. Es war, als wäre die Sonne selbst auf den Planeten herabgestiegen und
hätte sich den Gipfel als neuen Sitz ausgesucht. Die Gewalt des auftreffenden Kampfstrahls
aus der FO I tauchte die Bergspitze in blendende Helligkeit. Dann erschien ein unförmiges
Etwas über der Einschlagstelle und wucherte empor wie ein bösartiges Geschwür. Als sich die
Explosionswolke schließlich aufzulösen begann, war zu sehen, daß das oberste Drittel des
Berges fehlte. Glühende Ströme glutflüssigen Gesteins bewegten sich über die Flanken in die
Täler hinunter.
Und erst jetzt erreichte der Schall die CHARR.
Die Luft erzitterte minutenlang unter der Geräuschorgie.
Jumir und seine Gefährten hielten sich die Ohren zu, eine so überraschend menschliche Geste,
daß Huxley versucht war zu lachen.
»Noch eine Demonstration gefällig, Colonel?« drang Maxwells Stimme aus Huxleys
Armbandgerät.
»Nicht nötig«, versicherte Frederic Huxley nach einem Blick auf
220
die Gönn. »Ich bin sicher, die Demonstration der Möglichkeiten der FO I hat ihren Zweck erfüllt.« »Das ändert die Voraussetzungen?« fragte Maxwell. »Sicher. Aber keineswegs die Lage, in der wir uns befinden.« »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Colonel.« Maxwell klinkte sich aus. »Verstehst du jetzt?« wandte sich Huxley an Jumir, der von der machtvollen Vorstellung terranischer Waffentechnologie über alle Maßen beeindruckt, wenn nicht sogar erschreckt schien. »Wären wir wirklich die Völkermörder aus der Vergangenheit, hätte euer Planet nicht einmal gegen die vergleichsweise schwachen Waffen unseres Beibootes eine Chance. Und wir hätten sie inzwischen längst gegen eure Welt eingesetzt.« Das Schweigen dauerte lange; der Wind war wie eine ferne Stimme, ein Ruf aus einer fremden Welt. Schließlich meldete sich Jumir zu Wort. »Ich erkenne, daß wir von falschen Voraussetzungen ausgingen«, gestand er zögernd. »Ihr könnt nicht die sein, für die wir euch hielten. Wie können wir unseren Fehler ungeschehen machen?« Na endlich...! Huxley spürte das dringende Verlangen, sich irgendwo still hinzusetzen und für eine Weile nichts zu denken. Doch die Situation erlaubte nichts dergleichen. »Indem ihr uns von der Seuche befreit«, bedeutete er Jumir, »die meine Besatzung und auch mich heimsucht. Dir seit doch in der Lage, ein Gegenmittel zu entwickeln?« Es war eine Feststellung, keine Frage. Huxley war schon die ganze Zeit davon ausgegangen, daß die Gönn den Schlüssel zur Eindämmung der Seuche in den Händen hielten. Sekunden angespannten Schweigens herrschte. Dann ließ sich Jumir vernehmen: »Das sind wir, Terraner Huxley.«
222 11. Frederic Huxley ließ den heißen schwarzen Kaffee im Thermo-becher kreisen und trank ab und zu einen Schluck. Ein halber Tag war vergangen seit der Demonstration Maxwells mit der FO I. In der CHARR war es ruhig. Die Decksmaate und -Offiziere hatten die noch arbeitsfähige Mannschaft im Griff. Es war leichter Dienst angeordnet, das hieß, daß die Sektionen aufgeräumt wurden. In der Medizinischen Station waren die ersten Virenstämme aus den Inkubatoren-Beschleunigem gekommen und mit einer Trägerlösung versetzt worden. Als Colonel Huxley Einzelheiten darüber erfahren wollte, was genau die beiden Gönn in Bergers Labor entwickelten, hatte der Mediziner nur abgewinkt. »Ich habe weiß Gott eine umfassende Ausbildung genossen«, hatte er Huxley gegenüber erklärt, »aber was die Burschen über Mikrobiologie wissen, stellt alles in den Schatten, was ich je darüber an Kenntnissen zu besitzen glaubte. Meiner SeeF, es sind die reinsten Superbiologen.« »Treiben wir da nicht den Teufel mit dem Beelzebub aus?« hatte Huxley wissen wollen. »Viren geraten sehr leicht außer Kontrolle.«
»Diese nicht. Es scheint sich um spezialisierte Erreger zu handeln, die nichts als die Sporen fressen und dann selbst zugrunde gehen, wenn sie keine Nahrung mehr finden...« Das war vor zwei Stunden gewesen. Die Medo-Techniker und Assistenten Doktor Bergers behandelten im Augenblick vorrangig die schweren Fälle. Erst danach ^vürde man darangehen, die übrige Mannschaft von den Sporen zu befreien. Jumirs Gefährten halfen unter der Aufsicht des Bordmediziners nach Kräften. Huxley leerte seinen Becher, stellte ihn ab und ließ seine Augen durch den Leitstand wandern. Er lauschte den suprasensorischen 223 Signalen, die aus den Tonphasen wisperten, während die Taster in den Raum horchten und die Konsolen der einzelnen Stationen mit Daten und Informationen fütterten. Schließlich fuhr Huxley seinen Gliedersessel etwas in den Schienen zurück und wandte sich an Jumir. Der Gorm hatte in den vergangenen Stunden einen Schnelldurchgang in stellarer Zivilisation durchmachen müssen, von dem Huxley hoffte, daß er ihn möglichst schadlos überstanden hatte. Der Colonel hatte ihn Perry anvertraut, der den Gorm mit an seine Konsole genommen und ihn die Funkbotschaften der vielen Stemenvölker aus dem All hatte hören lassen. Als wäre das nicht schon genug für einen einzelnen Verstand, hatte ihm Huxley eine Dokumentation über das Volk der eierlegenden Reptilinsekten und der erst vor zwei Jahren terranischer Zeitrechnung - die mit Abstrichen der gormschen glich - aufgetretenen Population der Ko baltblauen gezeigt, die Jumirs bereits wankendes Weltbild endgültig zusammenbrechen ließ. »Bist du nun davon überzeugt, daß wir deinem Volk kein Leid zufügen wollen«, fragte der Golonel »und daß wir vor allem nicht identisch mit jenen Stemenreisenden sind, die euch in der Vergangenheit Leid zugefügt haben?« Jumir nickte. »Das... das bin ich«, versicherte er. »Ich...« Er verstummte, als hinter ihnen das Hauptschott auffuhr und Doktor Berger mit einem Troß seiner Sanitäter in den Leitstand stürmte. »Meine Herren«, ließ er die Anwesenden in der Zentrale der CHARR wissen, »krempeln Sie die Ärmel hoch.« Minutenlang war nur das Zischen der Hochdruckpistolen zu hören. Huxley wartete ergeben, bis er an der Reihe war. »So, Colonel«, meinte Dr. Berger, »Sie sind der Allerletzte...« »Na, na!« warnte der Kommandant. »... der noch geimpft werden muß«, vollendete Berger seinen Satz mit einem süffisanten Grinsen. »Ihren Arm, Kommandant!« Huxley zuckte leicht, als das Medikament von einer Gaspatrone 224 mit fünfzehn Atü Druck durch die Haut in den Blutkreislauf geschossen wurde. »Ja, ja«, murmelte Dr. Berger neben Huxleys Ohr, »auch noch wehleidig. Das haben wir gem.« Laut sagte er: »Der Arm wird Ihnen vielleicht noch ein paar Stunden wehtun. Sollte es nicht aufhören und er anschwellen, wissen Sie, wo ich zu finden bin.« Sprach's und entschwand mit wehendem Mantel an der Spitze seiner Helfer. Huxley rollte den Ärmel seiner Uniformkombi herunter und wandte sich wieder Jumir zu, der die ganze Prozedur schweigend verfolgt hatte. »Du wolltest eine Frage stellen, ehe wir unterbrochen wurden?« Der Gorm nickte. »Ist es möglich, mit den ungeheuren Möglichkeiten deines Schiffes eine Ansicht unseres Heimatsystems in seiner ganzen Ausdehnung gezeigt zu bekommen?« »Das ist eine unserer leichtesten Übungen«, versetzte Huxley. »Unser Astrorechner zeichnet alle Reiserouten und alle Charakte-ristika der Planetensysteme auf, die wir besuchen, und legt die Daten in einem besonderen Archiv ab, woraus sie jederzeit abrufbar sind, sollte Bedarf bestehen.« Im Leitstand liefen die Projektionen ab, die Huxley aus den Datenbanken der Astrometrie abgerufen hatte und nun über die Allsichtsphäre abspielte. Die Sternkonstellation, die Lage des Systems, die Sonne und die kurzen, vom Computer zusammengestellten Charakteristika der 28 Planeten glitten in einer schnellen Bildfolge vorbei, so, wie sie die Taster der CHARR beim An- und Einflug in das System aufgenommen hatten. Für Menschen war es weder neu noch sensationell, inmitten einer Allsichtsphäre zu stehen -
für den Gorm mußte es an ein unerklärliches Wunder grenzen. Der holographische Weltraum war dreidimensional, hatte Tiefe und verleitete Unwissende dazu, in ihn hineinzulaufen. »Bei Kimiks Auge...« murmelte der Gorm beeindruckt, der das 225 stellare Umfeld so noch nicht gesehen hatte, in dem er und sein Volk zu Hause waren. »Es
ist... phantastisch«, sagte er laut und fast ehrfürchtig. Um dann zu verstummen vor der
Demonstration der Möglichkeiten, die ihm die Allsichtsphäre bot.
Verriak wußte, daß etwas nicht stimmte. Er wußte es in dem Moment, als er den Ruten des
Jokkma-Sees entstieg und die Brände am Horizont irrlichtem sah.
Es war Nacht auf dieser Seite Pscherids, und bis auf die fernen Erscheinungen war es finster.
Das Band der Sonnen am Himmel, das Diadem der Ewigkeit, wie Kirrta es einmal genannt
hatte, war zu schwach, um die Umgebung zu erhellen.
Kirrta rief: »Was ist? Warum bleibst du stehen? Geh! Geh doch endlich weiter - meinst du, ich
will hier unten bleiben? Meinst du, ich hätte kein Verlangen, das Gesicht in den Wind zu
halten, nach all der Zeit?«
Nach all der Zeit.
Er erwachte aus seiner vorübergehenden Erstarrung. Aber seine Beine fühlten sich schwer an,
schwer wie Stein, als er die letzten Sprossen nach oben kletterte und sich auf die umrandete
Plattform des Tauchbootes schwang.
Wenig später tauchte hinter ihm Kirrta auf. Sie hatte eine Lampe dabei, und Verriak bemerkte,
als er sich umdrehte, was ihm unten noch nicht aufgefallen war: Sie trug eine Kleidung, die
ihm neu war. Offenbar hatte sie die für den Tag der Rückkehr aus der Tiefe aufgespart.
Seltsam, dachte er. Seltsam, wie oft man einander ansieht, ohne sich wirklich zu sehen.
Er wartete, bis sie neben ihn an die Reling getreten war und legte den Arm um sie. Sie spannte
die Muskeln an - wie ein Tro-mak, der sein Revier fauchend vor einem anderen Tromak vertei
226 digen wollte.
Die Wochen in Zweisamkeit (die Wochen in zweisamer Einsamkeit, korrigierte sich Verriak)
hatten ein tiefes Zerwürfnis zwischen ihnen zutage gefördert - auch wenn keiner von ihnen
bereit war, es offen auszusprechen, schien es, als würden sie bald getrennte Wege gehen.
Dennoch hatten sie es geschafft, durchzuhalten. Sie hatten unglaubliche Ergebnisse mit nach
oben gebracht, hatten Wunder geschaut und aufgezeichnet, die noch kein Pscheride vor ihnen
sehen konnte. Und sie hatten Proben mitgebracht. Muster von Geschöpfen, wie sie dort unten
seit Urzeiten ungestört lebten.
Verriak spürte, wie ihm kalt wurde, obwohl die Nacht lau war.
»Was geht da vor?« fragte Kirrta. Selbst wenn sie abweisend war wie jetzt, strahlte sie immer
noch eine ungeheure Anziehungskraft aus. Aber es war längst nicht mehr nur Liebe, die er bei
ihrem Anblick, in ihrer Nähe empfand.
Sie ertrugen sich beide nicht mehr, und keiner von ihnen glaubte, daß dies ein
vorübergehender Zustand war, ausgelöst von der Enge und auf gezwungenen Nähe dort unten
in dunkler Tiefe.
Der Jokkma-See war das letzte unerforschte Gewässer auf Pscherid. Viele hatten es versucht,
den Grund des Sees zu erforschen, aber vor Verriak und Kirrta war nie jemand von dort
zurückgekehrt - auch keine unbemannten Sonden.
Und sie beide... sie hatten die Ursache dafür entdeckt. Unter anderem.
Was waren sie für ein Risiko eingegangen? Sie hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, so sehr
hatten sie sich in die Idee verbissen, Unsterblichkeit in den Annalen der Wissenschaft zu
erlangen...
... und trotzdem hatten sie gleichzeitig die persönlichste aller Niederlagen hinnehmen müssen.
Hilflos wie kleine Kinder.
Sie hatten es beide nicht gewollt, redete sich Verriak ein, beide nicht. Es war passiert, und sie
hatten es einfach nicht ernst genommen, bis es zu spät für eine Umkehr gewesen war.
227 Und jetzt der Lärm von Geschützen, der Widerschein von Explosionen am Horizont...
»Es kommt aus Richtung der Wimmelwilden«, sagte Kirrta. Ihre Stimme klang rauh. Nicht
einmal ängstlich, nur... müde.
»Ich geh nach unten und stelle eine Verbindung zu...«
Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Nein! Wir können das Radio einschalten. Uns anhören, was
passiert ist - aber wir werden uns nicht in Gefahr bringen, indem wir selbst senden.«
Sie hing also doch noch am Leben.
Nur nicht mehr an einem Leben mit mir, dachte Verriak verbittert. Dann stieg er nach unten in
den Bauch des Spezialfahrzeugs, mit dem sie in die schier unergründlichen Tiefen dieses
unglaublichen, wassergefüllten Lochs hinabgestiegen waren, an dessen Ende...
»Stell es laut! Damit ich es hier oben hören kann!«
Sie ist froh, daß sie oben ist und ich unten bin, dachte er. Zum erstenmal seit Monaten sind wir
annähernd getrennt, auch -wenn die reale Distanz, lächerlich, gering ist. Es reicht ihr schon.
Vorläufig.
Im sanften Licht, das ihn umgab, sah er die Bewegung in den Aquarien. Augen starrten ihn an.
Augen, so fremdartig, daß ihn manchmal schauderte, wenn er ihrem Blick begegnete. In man
chen funkelte etwas, was ihm wahrhaftig Angst machte. Etwas, das ihm sagte: Es war böse,
uns zu entfuhren. Es war unrecht, uns zu verschleppen. Bring uns zurück! Wir werden dort,
wohin du uns bringst, nicht überleben können!
Es waren nur Hirngespinste, dennoch belasteten sie ihn.
Aber nicht mehr als der Schmerz, den Kirrta in ihm verursachte.
Rasch schaltete er das Radio ein.
Zunächst empfing er nur Störgeräusche, obwohl die Antenne des Tauchbootes hier an der
Oberfläche einen klaren Empfang hätte ermöglichen müssen. Daß dies nicht der Fall war,
unterstrich, wie emst die Lage war.
Eine Lage, von der sie nichts mitbekommen hatten. Dort unten.
228 Wo die versunkene Stadt - oder was immer es einmal gewesen
war - lag.
Die Stadt, die nie von Pscheriden bewohnt gewesen war. Und die sie noch weitere Monate
hätten durchkämmen können, ohne dabei ihr über allem schwebendes Geheimnis zu lüften...
Während Verriak daran dachte, spürte er, wie es ihn bereits wieder hinabzog.
Die Stimme, die plötzlich aus dem Knistern herausdrang, lenkte ihn ab. »... Schutzräume
aufzusuchen. Ich wiederhole: Die Bewohner der Hauptstadt werden aufgefordert, die
Schutzräume aufzusuchen. Wo sie keinen Einlaß mehr finden, treten die Sicherheitshinweise
in Kraft, die jedem Haushalt mitgeteilt wurden. Begeben Sie sich...«
Verriak wartete, daß eine Erklärung erfolgte, was genau passiert war. Allerdings ahnte er es
bereits.
Genau wie Kirrta.
»Es hat begonnen«, sagte sie oben. Sie rief es nicht und unterstrich damit, daß ihre Worte
nicht wirklich für ihn gedacht waren, sie sagte es einfach, wie im Selbstgespräch. »Es mußte
passieren. Aber warum gerade während unserer Abwesenheit... meine Familie.«
Meine Familie, dachte Verriak, und es kränkte ihn zusätzlich, daß sie ihn nicht einmal in ihre
verständliche Sorge mit einbezog.
»Sie haben sich in Sicherheit gebracht, bestimmt«, sagte er entgegen seiner wahren
Überzeugung. Und ließ die Augen hinter sich, stieg die Leiter wieder nach oben.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, empfing sie ihn.
»Was hast du vor?«
»Dasselbe, was du vorhast - oder?«
»Ich weiß nicht, ob es klug ist. Und ich weiß nicht, ob du mitkommen solltest...«
Sie ging bereits auf den angeflanschten Goover zu, und er hatte das Gefühl, daß sie nur
Verachtung für seine unangebrachte Form von Rücksichtnahme übrig hatte.
229 Goover waren nicht sehr leistungsstarke Schwebeplatten, die für die reine
Personenbeförderung über Distanzen von maximal hundert Kilometer gedacht waren.
Das nächste Dorf lag dreißig Kilometer entfernt - genau in Richtung der Kolonie der
Wimmelwilden.
Verriak gab sich einen Ruck und folgte Kirrta, nachdem er das Tauchboot verschlossen hatte.
Kurz darauf glitt der Goover summend über die Oberfläche des geheimnisvollen Sees, dem
dicht bewachsenen Ufer entgegen.
Und der noch fernen Schlacht.
Die Illusion war nahezu perfekt gewesen.
Für einen Moment hatte Gisol geglaubt, vom Feuer des Ringschiffs eingehüllt zu werden und
darin zu verbrennen.
Dann erkannte er seinen Irrtum.
Erneut war offenbar nur die Drohne getroffen worden, aus der das herabtauchende Schiff
aufgenommen worden war.
Es hatte Gutter keine Mühe gekostet, einen Ersatz zu aktivieren.
Längst war der Bildschirm wieder hell. Aber er zeigte nicht das erwartete Bild eines
Ringschiffs, das Schneisen der Vernichtung in die Reihen der Pscheriden riß, sondern...
Der General stieß einen triumphierenden Schrei aus. Er war wie verwandelt. Schien in den
Bildern aufzugehen, die ihn hier, in sicherer Distanz zum blutigen Geschehen, erreichten.
Der Ringraumer war plötzlich umgeben von waffenstarrenden Schiffen anderer Bauart.
Und diese wurden definitiv nicht von Zyzzkt gesteuert...
»Unsere letzten Reserven!« bellte Gutter.
Gisol begriff. Die Pscheriden hatten ihre wenigen noch verbliebenen Kampfraumer aus den
Verstecken geholt und sich mit aktivierten Schutzschirmen zwischen das Ringschiff und die
Planetenoberfläche geschoben.
230
Fliegende Schilde...
Gisol wollte Gutter darauf hinweisen, daß damit bestenfalls ein Aufschub gewonnen war.
Wenn die Zyzzkt Ernst machten...
Aber Gutter sprach bereits wieder leise und eindringlich in sein Armbandgerät.
Wenige Herzschläge später stellte der Ringraumer seine Salven
ein.
Gutter senkte den Arm. Seine Augen blitzten und ließen ihn um Jahrzehnte jünger aussehen.
Und dann wurde Gisol Zeuge, wie der Ringraumer übergangslos wieder in den Himmel hinauf
stieß...
... und aus dem Sichtfeld verschwand.
Die Schiffe der Pscheriden aber behielten ihre Posiüon über der Stadt bei.
»Wie haben Sie das geschafft?«
Gisol gab sich keine Mühe, seinen unverhohlenen Respekt durchklingen zu lassen.
Und Gutter gab sich keine Mühe zu verhehlen, daß er sich im Glanz seiner strategischen
Meisterleistung sonnte.
»Ich habe über Relais direkt zu den Zyzzkt im Ringschiff gesprochen«, verriet er.
Gisol nickte. »Und die waren so erschrocken, daß sie nichts Eiligeres zu tun hatten als zu
verschwinden.«
Gutter ging auf den gutmütigen, von Erleichterung angestachelten Spott nicht ein. »Ich habe
mit dem Einsatz aller Bordwaffen gedroht, für den Fall, daß sie sich nicht zurückziehen.« Er
bleckte die Zähne. »Und ich meinte wirklich aller Waffen.«
Nach und nach dämmerte Gisol, was der Pscheride damit ausdrückte.
Der Einsatz schmutziger Waffen hätte zur völligen Verstrahlung des Planeten geführt - und
damit wäre er auch für die Zyzzkt
231 wertlos geworden.
Blieb eine zentrale Frage, die Gisol sich auch nicht zu stellen scheute: »Was hätten Sie getan,
wenn die Drohung nicht gefruchtet hätte?«
Gutter sah ihn lange und ruhig an. Schließlich machte er eine Geste, die sämtliche anderen
Generäle mit einbezog: »Sie können fragen, wen Sie wollen, jeder hier wird Ihnen eines
bestätigen.«
»Und was?« Gisol ahnte die Antwort schon im voraus - und bereute bereits, sie provoziert zu
haben.
»Daß ich immer mein Wort halte. Ungeachtet aller Konsequenzen.«
Gisol hob das, was von Alsop noch übrig war, eigenhändig in die Kühlbox, die er von Gutter erbeten hatte. Als sich der Deckel schloß, rollte eine Welle der Verachtung durch Gisols Denken. Nicht Verachtung für Alsop, sondern für seine Mörder, die Zyzzkt. Sie waren eine Nemesis für alle Völker Oms. Wohin sie ihr Augenmerk richteten, gab es nur noch Not, Tod und Leiden! Gisol hatte von den biblischen Plagen gehört - Geschichten, die in der technologielosen Zeit der Menschen auf Terra entstanden waren und über deren Wahrheitsgehalt er sich kein Urteil bilden konnte. Aber die Erzählung von der Heuschreckenplage, die über das Land Ägypten gekommen war, hatte ihn beeindruckt. Diese Heuschrecken erinnerten ihn unwillkürlich an die Zyzzkt. Gedankenlos waren sie über bestellte Felder hereingebrochen, über kultiviertes Land, und hatten es rigoros kahlgefressen. Ohne einen Gedanken an das Morgen zu verschwenden, daran, wie andere -und sie selbst - auf diesem Land künftig die Grundlagen ihres Lebens finden sollten. Nach dem selben Prinzip lebten und handelten auch die Zyzzkt, nur auf einem ungleich höheren technischen Niveau. Ihre Intelli 232 genz machte die Sache nur noch schlimmer, unentschuldbarer. Irdische Heuschrecken waren
ausschließlich instinktgeleitet, und ihr unseliger Drang zur Vermehrung und
Nahrungsaufnahme hinterließ verwüstete Gebiete, ohne daß diese Zerstörung fremden Le
bensraums ihr Vorsatz war.
Die Zyzzkt jedoch wollten die Ureinwohner der von ihnen überrannten Planeten ausrotten.
Wollten allen Lebensraum für sich - und jeden Störenfried beseitigen. Nicht unbedingt
kurzfristig oder mit Brachialgewalt, aber doch in einem für sie akzeptablen Zeitraum und mit
allen Mitteln.
Die ruhig drastisch sein durften.
Die Leben kosteten.
Unzählige Leben auf inzwischen unzähligen Welten!
Der alte Haß kroch wieder in Gisol hervor. Die alten Erinnerungen an das eigene Leid, die
eigene Not, den Tod vieler, die ihm nahegestanden hatten...
Die schlichte Box verriet nicht, was sich in ihr befand.
»Was soll mit ihm geschehen. Hoher?« fragte General Gutter. Er hatte darauf bestanden,
Gisol zum Flash zu begleiten.
Gisol zögerte kurz, dann erzählte er dem Pscheriden von Alsops letztem Wunsch, bevor er
aufgehört hatte, gegen den unausweichlichen Tod anzukämpfen.
Gutter dachte darüber nach. »Eine Sonne«, sagte er schließlich. »Eine Sonne als Grab... ich
bin sicher, er hat, was denjenigen angeht, der dafür sorgen soll, daß sich dieser Wunsch erfüllt,
die beste Wahl getroffen. Hoher!«
Gisol schwieg. Er gab letzte Anweisungen an ein paar Umstehende, wie sie die Box zu
behandeln hatten, dann folgte er Gutter, der ihm den Fortschritt der Evakuierungsmaßnahmen
zeigen wollte.
Ein winziger Prozentsatz der Gesamtbevölkerung würde sich vor dem zu erwartenden Zorn
und der Rückkehr der Zyzzkt in Sicherheit bringen können.
Und auch diese wenigen nur, wenn Gutters Vorhaben funktio
233 nierte.
Denn niemand wußte, wieviel Zeit sich die Zyzzkt lassen würden, um auf die Demütigung -
nichts anderes war eine verlorene Schlacht aus ihrer Sicht - zu reagieren...
Es war gigantisch.
Nichts, was Gisol auf Pscherid erwartet hätte. Am allerwenigsten hier...
Der unterirdische Hangar war taghell und schattenlos ausgeleuchtet. Stimulierte Photonen
erfüllten die Luft, wurden mit jedem Zug eingeatmet. Ungefährlich, aber nützlich. Gisol stellte
sich kurz vor, wie es in seinen Lungen irrlichterte.
»Wie viele?« fragte er, den Blick nach oben gerichtet. »Wie viele davon gibt es? Oder ist es
das einzige?«
Gutter verneinte. »Wir werden zehn Millionen Pscheriden unterbringen können, um mit ihnen
unsere Heimat zu verlassen - zehn Millionen, verteilt auf acht Schiffe identischer Bauart...«
Acht Schiffe.
Und das, zu dem Gutter den »Schlächter« geführt hatte, ragte vor ihnen auf wie ein Gebirge
aus Stahl! Eine zylindrische Konstruktion, deren Durchmesser rund 2,5 Kilometer betrug, bei einer Dicke von knapp einem Kilometer. Diese »Scheibe« ruhte momentan auf dem Boden aus schwarzer Kunststofflegierung, die robust genug war, um selbst die Hitzeströme eines mit Plasmatriebwerken startenden Schiffes fast schadlos zu überstehen. Aber ebensogut hätte sich der Boden in flüssige Lava verwandeln können. An eine Rückkehr war nicht gedacht. Nicht in absehbarer Zukunft jedenfalls. »Jedes Fluchtschiff ist in zehn Decks unterteilt«, sagte Gutter. »Wenn Sie mir in die Bordzentrale folgen würden. Hoher, dort haben wir einen Komplettüberblick.« 234 »Wie konnten diese Giganten vor den Zyzzkt verborgen werden? Haben die nicht überall ihre Spione?« fragte Gisol beeindruckt. Er hatte andere Giganten in noch ganz anderen Größenord nungen gesehen - aber in Relation zur Entwicklungsstufe der Pscheriden übertrafen diese Schiffe, von denen es laut Gutter insgesamt acht gab, vielleicht sogar die Schiffe der worgunschen Er-ron-Klasse. Auch wenn sie - anders als die Erron-Station, der Gisol vor der Abreise aus der Milchstraße einen Besuch abgestattet hatte* - einem fast banalen Zweck dienten: Sie waren Archen, nichts anderes als Überlebensarchen, mit denen ein winziger Prozentsatz der Pscheridenbevölkerung vor dem drohenden Zugriff der Zyzzkt bewahrt werden sollte. Vor der Versklavung und der gezielten Ausrottung. Gutter ging nicht darauf ein, und Gisol wurde den Verdacht nicht los, daß auch ihm genau das Sorge bereitete. Was, wenn die Zyzzkt die geheimsten Pläne der Pscheriden längst kannten? Wenn sie sie nur in Sicherheit wiegten - und längst bereit waren zuzuschlagen? Vielleicht warteten sie nur, bis sich die Schiffe aus ihren unterirdischen Verstecken erhoben gefüllt mit Millionen Lebewesen, die dem Alptraum zu entkommen hofften? »Wie sieht es mit der Bewaffnung aus?« fragte der Worgun. Gutter gab heisere Laute von sich, die Gisol an das bittere Lachen eines Terraners erinnerten. »Bei allem Respekt, Hoher, aber wer die Zyzzkt kennt, der weiß, daß ihnen mit Waffen nicht die Stirn zu bieten ist - zumindest nicht mit Waffen, wie wir sie besitzen. Das Hauptaugenmerk bei diesen Schiffen wurde darauf gerichtet, möglichst viele Pscheriden möglichst komfortabel zu befördern. Und mit komfortabel meine ich nicht etwa luxuriös. Das wäre nicht zu verantworten, nein, ich meine komfortabel im Sinne
•
Siehe REN DHARK Sonderband 20, »Das Nano-Imperium«
von erträglich. Denn niemand weiß, wie lange wir durchs All reisen müssen. Keine Welt in Om scheint mehr sicher, und femflugtauglich sind diese Schiffe nicht - den Leerraum zwischen den Galaxien können sie nicht überwinden.« Während Gutters Ausführungen hatten sie sich ins Innere des gewaltigen Schiffes begeben, und Gisol registrierte tausend Details, denen er sich unter anderen Umständen sehr viel ausführlicher gewidmet hätte. Aber der Sinn stand ihm nicht danach. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab zu Alsop - oder dem, was jetzt noch von ihm übrig war - der jetzt in einer dunklen, klimatisierten Box ruhte, die den Verwesungsprozeß eindämmte. Aber nichts, gar nichts konnte mehr die erloschenen Gedanken, das verschwundene Bewußtsein des Cyborgs zurückholen. Wie würde Dhark die Nachricht aufnehmen? »Ihr habt sie als Generationenschiffe ausgelegt?« fragte er, als sie einen Expreßlift betraten, von dem Gutter erwähnte, daß er nur dem Führungskommando des Schiffes vorbehalten war. Die künftigen Passagiere - eigentlich die Bewohner - besaßen andere, größer dimensionierte Aufzüge, um bei Bedarf zwischen den jeweils hundert Meter hohen Etagen zu pendeln. Bevor sie an einem der Wohndecks vorbeikamen, passierten sie die Antriebsebene und die Zone der hydroponischen Gärten, in denen alles an Frischnahrung angepflanzt wurde, was auf Dauer unverzichtbar und nicht durch synthetische Nahrung zu ersetzen war (außerdem wurde hier ein Großteil des benötigten Sauerstoffs erzeugt und im Schiff freigesetztes Kohlendioxid »gewaschen«). Danach folgten Wohndeck eins bis fünf sowie eine Ebene, die als Reserve für zu erwartenden Bevölkerungszuwachs angelegt worden war. Daran schloß sich eine Zone, die Werkstätten und Labors vorbehalten war. Zuletzt passierten Gisol und Gutter das Deck, auf dem die Lebenserhaltungssysteme untergebracht waren. Als der Lift stoppte und sich die Kabine öffnete, traten sie quasi in das elfte Stockwerk hinaus.
Es befand sich auf der Oberseite der zylindrischen Scheibe - eine Art Kuppel, die die Kommandozen 236 trale beinhaltete. Hier herrschte reges Treiben. Dennoch registrierten die anwesenden Pscheriden die Ankunft der beiden Besucher. Die meisten grüßten militärisch, nur ein paar wenige taten, als wären sie in ihre Arbeit vertieft. Für Gisol ein Zeichen dafür, daß General Gutter und die Macht, die er repräsentierte, nicht nur Sympathisanten hatte. Alles andere wäre aber auch die eigentliche Überraschung gewesen. Der Offizier führte Gisol zu einem Pult, von dem aus sich eine Phalanx von Bildschirmen überblicken ließ. Sie gaben sowohl das Innere der geheimen Werft wieder als auch die Umgebung an der Oberfläche. Der Herstellungsort des Giga-Schiffes lag unter der Planetenoberfläche verborgen. Über dem zweigeteilten Deckenschott waren Felsattrappen angehäuft worden, die vor dem Start weggesprengt werden würden. Und dieser Start würde dann erfolgen, wenn alle Insassen an Bord waren. »Wie weit ist das Evakuierungsprogramm?« fragte Gisol. »Und nach welchen Kriterien wurden die Pscheriden eigentlich ausgesucht, denen es vergönnt ist, ihre bedrohte Heimat zu verlassen?« In Gutters Blick schlich sich Mißtrauen - und erst da begriff Gisol, daß er den wunden Punkt des Unternehmens berührt hatte. Natürlich - die eingeschränkte Aufnahmekapazität der acht Raumer war der Knackpunkt des ehrgeizigen Projekts. »Höre ich einen Vorwurf aus der Frage, Hoher?« fragte Gutter sichtlich gereizt. »Nein, ich frage dies völlig wertfrei«, erwiderte der Worgun. »Ich weiß, daß Sie in einer Zwickmühle stecken, Gutter. Bei den Bleiseen von Malogh, ich habe nie erwartet, daß die Pscheriden die Möglichkeit besitzen, ihre gesamte Heimatwelt zu evakuieren. Aber... nach welchen Maßstäben wurden diejenigen ausgewählt, die die Chance erhalten, an Bord zu gehen? Wenn Sie nicht darüber sprechen wollen...« »Es ist kein Geheimnis«, schnarrte Gutter. »Ich habe nichts zu 237 verbergen. Niemandem liegt sein Volk mehr am Herzen als mir. Ich wünschte, wir hätten hundert dieser Archen. Aber schon diese acht waren ein kaum zu bewältigender Kraftakt. Alle Beteiligten, die dieses Wunder... ich kann es nicht anders sagen... bewirkten, gingen an ihre Grenzen. Zumal wir die Schiffe für den Fall der Fälle bauten - ein Fall, von dem niemand klar wußte, ob er überhaupt jemals traurige Realität werden würde. Aber wir waren gewarnt durch die Vorgänge draußen in der Galaxis. Vom Treiben der Zyzzkt, ihrem rechtlosen, unbarmherzigen Joch, das sie über unzählige Planeten verhängten. Wir wollten gerüstet sein wenigstens um unser Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Was immer eines Tages - heute! - geschehen mochte, wir wollten wenigstens einen Grundstock in Sicherheit bringen können,
der es uns ermöglichen würde, unsere Art am Leben zu erhalten. Und vielleicht...«
»Vielleicht?«
»... eines fernen Tages, in besseren Zeiten, wieder hierher nach Pscherid zurückzukehren.
Wenn nicht in dieser Generation, dann in der nächsten, der übernächsten oder...« Er
verstummte.
Gisol wurde von einer Woge des Mitgefühls überrollt. So emotional, so zugänglich hatte er
den General bislang noch nicht erlebt. Er spürte, wie schwer es dem Mann fiel, dies
zuzulassen -aber ebenso fühlte er, daß es Gutter wichtig war, von ihm, dem Hohen, richtig
verstanden und beurteilt zu werden.
Dieser Pscheride haßte die Zyzzkt - aber er haßte sie aus demselben nachvollziehbaren Grund,
aus dem auch Gisol die Unterdrücker der Worgun haßte.
Weil sie keinen Respekt vor anderem Leben hatten.
Weil sie ihren Lebensraum von allen intelligenten Spezies »säubern« wollten, die nicht Zyzzkt
waren!
Die Insektoiden waren die Geißel, das Krebsgeschwür Oms, und wenn man sie gewähren ließ,
dann würden sie ihre Doktrin ausdehnen, davon war Gisol überzeugt. Würden sie ausdehnen
auf jede andere erreichbare Galaxis, die Milchstraße, Andromeda...
238 len Stemenballungen dieses Clusters! Wenn man sie gewähren läßt. Wenn!
Er war entschlossener denn je, sein Möglichstes dazu beizutragen, daß es soweit nie kommen und daß auch Om von dieser Krankheit geheilt werden würde - auch wenn ihm klar war, daß er allein dies nie vollbringen konnte. Aber er war und fühlte sich auch gar nicht allein... Gutter sagte: »Wir wissen von Vorfällen in der Galaxis, wo Zyzzkt Planeten eroberten und die einheimische Intelligenzen zwar nicht unmittelbar umbrachten, aber doch durch drastisch ver schlechterte Lebensbedingungen für die Ureinwohner dafür sorgten, daß sie über kurz oder lang ausstarben. Die Zyzzkt gestanden ihnen nur noch winzige Reservate zu, in denen sie zusammengepfercht dahinvegetierten. Wenn ihre Religion es zuließ, begingen viele so Geknechtete Selbstmord, die Mehrzahl aber starb an gebrochenem Herzen und aus Angst, manche auch unter direkter Gewalteinwirkung. Die Zyzzkt sind nicht zimperlich. Ihre Folter methoden sind überall gefürchtet.« Gutter machte eine kurze Pause. Sein Blick strich durch die Kommandokuppel des Evakuierungsraumers, aber Gisol hatte den Eindruck, als würde der General nichts von dem, was er dort sah, wirklich wahrnehmen. Er weilte in Gedanken irgendwo anders -vielleicht blickte er sorgenvoll in die unmittelbare Zukunft. Vielleicht fragte er sich, was mit den Pscheriden passieren würde, die sie auf ihrer angestammten Welt zurücklassen mußten. Es stand zu befürchten, daß die Zyzzkt mit Straf aktionen reagieren würden, sobald sie herausfanden, daß einem Teil der Bewohner die Flucht gelungen war. Diejenigen, die keinen Platz auf den acht Schiffen fanden, würden also womöglich in doppelter Hinsicht büßen müssen... Gisol sprach keinen seiner Gedanken laut aus. Geduldig wartete er darauf, daß Gutter fortfuhr. Und so geschah es auch. Sein Blick fand nach einer Weile aus unbekannter Ferne zurück, und mit verhaltener Stimme setzte er seine Rede dort fort, wo er aufgeört hatte. »Es geht eine Sage in Om...« Er räusperte sich. Seine Augen... Seine Augen waren plötzlich gerötet, als wären Äderchen darin geplatzt. Unter welchem Druck mochte dieser Mann stehen? Und wie viel von diesem Druck machte er sich selbst? »Es geht die Sage...« wiederholte er, als müßte er noch einmal Anlauf nehmen, »vom >Heerzug der Heimatlosen^.. haben Sie je davon gehört. Hoher?« Gisol verneinte. Seine Haut schien sich zu kräuseln. In seinem Mund breitete sich Trockenheit aus, und er wünschte sich etwas zu trinken. Wasser. Einfach nur Wasser. Aber er wollte Gutter nicht aus dem Konzept bringen. Der General wirkte nicht nur redebedürftig wie selten, sondern auch angeschlagen wie selten. »Es soll sich um eine Art Raumschiffkarawane handeln... um einen gewaltigen Flüchtlingszug. Alle Beteiligten stammen von Planeten, die von den Zyzzkt unterworfen wurden. Die ihre Heimat nur verließen, um noch einen letzten Schimmer von Hoffnung zu wahren, unter dem erbarmungslosen Terrorregime, das ihnen aufgezwungen wurde, nicht als Volk ausgerottet zu werden. Nicht von der Bildfläche und von den Karten Oms zu verschwinden und nur noch verwehende Erinnerung für ein, zwei Generationen bei anderen Völkern zu sein, ehe auch diese letzte Spur eines Tages verwischt...« Gutter hielt inne. »Manchmal frage ich mich, ob die Zyzzkt wirklich wissen, was sie tun. Anderen antun. Ob sie es wirklich und wahrhaftig wissen.« »Daran gibt es für mich keinen Zweifel«, sagte Gisol. »Nein«, murmelte Gutter. »Für mich auch nicht. Eigentlich...« Er strich über seine Uniform. Betrachtete die Rangabzeichen. Betrachtete den Worgun an seiner Seite. »Der >Heerzug der Heimatlosen^..« kam er wieder auf den Ausgangspunkt seiner Rede zurück. »Er brachte unsere Führung auf die Idee, Vorkehrungen für den schlimmsten aller Fälle zu treffen. Präventivmaßnahmen sollten ergriffen werden, und es war unser Glück, daß anfangs noch nicht überschaubar war, welchen Aufwand es in der Praxis bedeu 240 tete, auch nur ein einziges Schiff der angedachten Evakuierungsflotte zu erbauen. Mit diesem Wissen im Vorfeld wäre das Unternehmen vielleicht schon in seinen Anfängen gescheitert. So aber... so aber gelang uns wenigstens der Bau von acht... acht Archen, von denen Sie eine hier sehen. Ist sie nicht... wunderbar? Ist sie nicht ein phantastisches Zeugnis dafür, was wir Pscheriden alles hätten leisten können... noch hätten leisten können, wenn es niemals Zyzzkt gegeben hätte?« Gisol hatte nicht vor, Gutter zu widersprechen. Auch wenn er Worgun-Leistungen kannte, die diese armseligen acht Schiffe weit in den Schatten stellten. Für die Pscheriden war es ein Kraftakt ohnegleichen, und er hatte nicht das Recht, ihn zu schmalem. »Ja«, sagte er. »Eine großartige Leistung.« »Sie haben nach dem Auswahlkriterium gefragt«, erwiderte Gutter. Er schien nun wieder fest
im Jetzt verwurzelt zu sein, in der aktuellen Situation. Sein Blick maß kritisch das Treiben um sie herum. »Nun, welche Regierung hätte anders gehandelt, andere Maßstäbe angelegt als unsere? Seit langem gibt es streng durchexerzierte Evakuierungspläne, die in diesem Moment überall auf dem Planeten umgesetzt werden. Die Elite der Pscheriden verläßt ihre Häuser, ihre Familien, ihre Freunde und alles, was sie ein Leben lang aufgebaut hat, um sich zu den ihnen zugeteilten Schiffen zu begeben.« Gutter blickte Gisol tief in die Augen. »Es wird einen kleinen Prozentsatz geben, der das Opfer eines Abschieds... denn natürlich bringen auch diejenigen Opfer, für die ein Platz in den Archen vorhanden ist... nicht erbringen will. Der lieber hier auf Pscherid bleibt, ganz gleich, wie bald es Zyzzkt-Schiffe vom Himmel regnen wird; ganz gleich, wie das Joch der Tyrannen aussehen wird... aber dafür ist vorgesorgt. Auch dafür gibt es Regelungen. Ausfälle auf der ersten Liste werden durch Namen von Ersatzlisten kompensiert. Die Zahl steht: zehn Millionen. Zehn Millionen Pscheriden werden ihre Welt verlassen, um zu verhindern, daß wir als Art aussterben!« 241 Gisol hielt diese Pläne für außerordentlich vernünftig und in die" ser extremen Situation für mehr als angemessen. Er betrachtete die Angelegenheit mit den Augen eines Worgun. Eines Bewohners dieser Galaxis, der selbst die Knute der Zyzzkt zu spüren bekommen hatte. Deshalb fiel es ihm leicht, die Pläne der Pscheriden zu akzeptieren... mehr noch: gutzuheißen. Wenn Pscherid erst einmal unter der Herrschaft der Zyzzkt erstickte, konnten die ursprünglichen Herren des Planeten nichts mehr für ihr Volk tun. Je besser aber die Geretteten in den Archen ausgebildet waren - wenn Gisol es richtig verstanden hatte, sprach Gutter von der intellektuellen Führungsschicht und von den sonstigen besonders Befähigten, die vorrangig Platz an Bord der Schiffe finden sollten - desto besser waren die Aussichten für künftigen Widerstand. Gutter träumte von einer Rückkehr nach Pscherid... irgendwann. Das spürte Gisol. Er brauchte den General nur anzusehen. Gutter träumte von einer Rückkehr und einer Befreiungsschlacht! Vermutlich würde es beim Träumen bleiben. Die Chance, siegreich aus einem solchen Konflikt hervorzugehen, war verschwindend gering. Im Grunde genommen konnte den Pscheriden - den Pscheriden, die entkamen - nichts Schlimmeres passieren, als daß sie Gutters Traum teilten...
Der nächste Tag verlief nach einem genau festgelegten Plan. Colonel Huxley und Dr. Berger hielten kurze Ansprachen, erklärten, was vorgefallen war, mit wem man es bei den Gönn zu tun hatte, woher sie kamen, den Grund der Seuche, mit der sich die komplette Mannschaft der CHARR infiziert hatte... Schließlich übernahm Jumir das Wort. Er sprach sehr überzeugend, wenn auch mitunter grammatikalisch falsch und mit merkwürdigen Betonungen einzelner Worte, was zu ungewollten Heiterkeitsausbrüchen führte. Er schloß, indem er im Namen seiner Regierung auf Külä 242 'mit der er sich inzwischen aus seinem biologischen Raumboot über Funk in Verbindung gesetzt und der er einen Zwischenbericht abgegeben hatte) die Besatzung der CHARR um Entschuldigung bat. Lee Prewitt war dazu auserkoren, den angenehmeren Teil zu übernehmen. »Da nun alles geklärt ist«, sagte er, und die Bordverständigung übertrug seine Worte bis in den hintersten Winkel der CHARR, »hat sich die Leitung dieses fabelhaften Schiffes bereiterklärt, eine kleine Feier zu geben. Sie findet in der Hauptmesse statt. Heute abend Punkt sieben Uhr. Getränke gehen aufs Haus. Ich bitte nur, daß nicht alle auf einmal das Büffet stürmen, das unser hervorragender Koch aus den dehydrierten Rationen zubereiten wird. Sonst steht die Wache, deren Dienst normal weitergeht, vor leeren Schüsseln.« Verständlicherweise hob das die Laune auf dem Schiff. Und am Abend herrschte eine Stimmung in der CHARR wie schon lange nicht mehr. Die Feier, deren drei Hauptpersonen stundenlang unzählige Fragen beantworteten, ziemlich viel tranken, ohne eine Wirkung zu zeigen, und eine Menge menschlicher Kontakte anknüpften, war rundheraus ein voller Erfolg. Als die Ausgelassenheit mehr und mehr einem Höhepunkt zustrebte, zogen sich die drei Gorm mit Huxley, Tantal, dem Meeg Meenor und Lee Prewitt in den neben dem Leitstand der CHARR gelegenen Bereitschaftsraum des Kommandanten zu einer intimeren Runde zurück. »Hier sind wir doch etwas ungestörter«, sagte Huxley und öffnete die oberen Knöpfe seiner Uniformjacke.
Ein Decksmaat teilte Getränke aus und zog sich dann diskret zurück.
Es war eine merkwürdige, aber auch in gewisser Weise denkwürdige Zusammenkunft. Wesen,
die aus Kulturen stammten, die Hunderte von Lichtjahren voneinander entfernt waren, saßen
im Mikrokosmos eines Raumschiffes zusammen und waren in der Lage, sich zu verständigen.
243 Irgendwann sagte Jomir: »Terraner, was mich wundert ist, wie ihr euch in diesem Schiff wohlfühlen könnt, das doch gänzlich aus leblosem Material besteht?« »Was ist daran unverständlich?« fragte der Erste Offizier. »Ihr verwendet in eurem Schiff doch auch >totes< Material? Unsere Untersuchungen haben gezeigt, daß euer Antrieb aus metallischen Komponenten besteht, und für die Außenhülle setzt ihr ein Metall ein, das wir Aluminium nennen.« »Das sind nur Notbehelfe«, ließ ihn der Gönn wissen. »Unsere weisen Männer arbeiten schon seit geraumer Zeit an der Entwicklung neuer Pflanzenkapseln, die in der Lage sein werden, der Weltraumkälte zu widerstehen.« »Laß mich zusammenfassen und sag mir, ob wir richtig verstanden haben, was du uns erklärt hast«, sagte Lee Prewitt ruhig. »Ihr habt also nichts rein Technisches, keine Maschinen, Fabriken, Beförderungsmittel? Auf eurer Welt leben nach deinem eigenen Bekunden elf Milliarden Einzelwesen. Um dieses Gemeinwesen am Leben zu halten, muß die Infrastruktur gigantisch sein. Und ihr wollt das alles ohne technische Hilfsmittel bewältigen? Greifen wir nur ein Beispiel heraus, das der Beförderung. Wie bewältigt ihr es? Welche Transportsysteme stehen euch zur Verfügung? Schienenfahrzeuge? Flugzeuge?« »Terraner«, fragte Jamir interessiert, »was sind Flugzeuge?« »Maschinen, die sich durch die Luft bewegen und Güter und Passagiere befördern.« »Dafür setzen wir Riesenvögel ein«, war die überraschende und gleichermaßen lakonische Antwort. Prewitt vernahm Jamirs Erklärung mit einigem Unglauben, doch dann rief er sich ins Gedächtnis, daß er keine terranischen Maßstäbe anwenden durfte; Külä war nicht nur ein fremder Planet, er besaß zudem eine andere Evolutionsgeschichte. Nach allem, was ihnen bisher an Informationen zugegangen war, zeichnete sich ab, daß der Entwicklungsstand der Gorm in etwa dem der Terraner um das Jahr 2040 entsprach, eher noch etwas früher. Allerdings, und 244 tuch das kristallisierte sich schnell heraus, hatte ihre Evolution eine andere Richtung eingeschlagen. Gorm waren geniale Manipulatoren von Fauna und Flora. Dort, wo andere Arten Maschinen einsetzten, benutzten sie genetisch veränderte Plauzen, Tiere oder auch Kombinationen aus beidem. Ihre Flugzeuge waren gezüchtete Supervögel ohne eigenes Bewußtsein, gesteuert von implantierten Hybridrechnern aus Bio- und Silliziumkomponenten. Dennoch schienen sie konventionelle Technik nicht grundsätzlich abzulehnen - wenn sie sie für ihre Zwecke umformen konnten. »Nach dem, was wir inzwischen wissen«, schaltete sich Frederic Huxley ein, »scheint man auf Külä die besten Medikamente und Heilmittel zu produzieren, die sich ein Mediziner oder Biologe wünschen kann. Mein medizinischer Leiter ließ mich wissen, daß ihr ausgezeichnete Zellforscher und in biologischen Mutationen bewandert sein müßt. Ist das Tradition?« »So ist es«, sagte Jumir. Mittlerweile kam er ohne Translator aus. »Weshalb fragst du?« »Wir sind zwar in gewisser Weise auch Soldaten«, sagte Huxley, »aber doch mehr Forscher und Suchende. Wir suchen ständig nach neuen Erkenntnissen, danach, wie sich Zivilisationen entWikkelt haben oder warum sie untergingen. Erzähle uns doch etwas über eure Zivilisation, die so ganz anders scheint, als wir es gewohnt sind.« »Wie seid ihr es denn gewohnt?« »Nun«, Huxley suchte nach einer Möglichkeit, es kurz und prägnant auf den Punkt zu bringen. »Auf Terra beispielsweise verlief die Entwicklung der Zivilisation ziemlich geradlinig. Nach den dunklen Jahrhunderten des vorindustriellen Zeitalters verschrieben wir uns konsequent dem technischen Fortschritt. Ob stets zum Guten, wird von manchen bezweifelt - aber immerhin brachte dieses Streben nach immer perfekterer Technik uns bis hierher.« Er schwieg einen Moment, um dann fortzufahren: »Wenn ich mir die Konfiguration eures Raumfahrzeugs ansehe, scheint ihr einen gänzlich anderen Weg gegangen zu sein.« »Das siehst du richtig, Kommandant Huxley. Mit deiner Erlaubnis habe mich in eurem Geschichtsarchiv umgesehen - ihr verändert die Natur und euch selbst mit totem Material. Mit Metallen und Kunststoffen. Wir leben mit der Natur im Einklang, nicht gegen sie. Wir bringen sie dazu, uns zu Diensten zu sein.« »Bedeutet das auch, daß ihr untereinander keine Auseinandersetzungen ausgefochten habt,
keine Kriege kanntet?« begehrte Lee Prewitt zu wissen. »O nein! Wir machten vermutlich die gleichen Erfahrungen durch wie jede andere sich entwickelnde Zivilisation auch. Auch auf Külä hatten wir unsere dunklen Zeitalter, nur unterschieden sie sich von den euren...« Und Jumir berichtete den gebannt lauschenden Zuhörern von den Zuständen, die vor tausend Jahren auf seiner Welt geherrscht hatten: Auch auf Külä war fmsterstes Mittelalter wie auf der Erde. Auf den Kontinenten hatten sich unzählige Kleinstzivilisationen gebildet. Die Gorm des Mittelalters waren mutige, rücksichtslose Geschlechter; düstere, karge Burgen auf schroffen Bergen waren ihre Heimat. Die waffenstarrenden Stämme waren in pausenlose Machtkämpfe verwickelt. Aber anders als auf der Erde hatten die Gorm von Beginn an auf Biologie gesetzt, nicht auf lebloses Material wie Steine oder Metall. Ihre Burgen waren auch nicht aus totem Holz erbaut, sondern die Mauern lebten ebenso wie das Holz der Palisadenanlagen, das mit besonderen Biotechniken, die damals noch als »Magie« galten, von den Meistern, den Baum sprechern, zu minutenschnellem Wachstum in der gewünschten Form angeregt wurde. Als Jumir eine Pause machte, fragte Lee Prewitt: »Hattet ihr etwa auch eure Heldensagen, eure Geschichten von Königen und schönen Prinzessinnen, von Verrat und Hinterlist, und daß das Schlechte nicht zwangsläufig vom Guten besiegt wird? Gibt es gar in eurer Historie Legenden von unbesiegbaren Helden?« »Das hatten wir«, bestätigte Jumir. »Eines der dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit ereignete sich vor etwa eintausend Son 246 fiumläufen, als die fremden Teufel in ihrem fliegenden Berg auf unsere Welt kamen und uns
zu versklaven suchten, wäre da nicht Länder von Perth gewesen.«
»Länder von Perth?« Huxley zog fragend die Brauen hoch.
»Der gormsche Siegfried von Xanten vermutlich«, raunte Lee Prewitt.
»Es ist eine längere Geschichte«, warnte Jamir mit unüberhör-barem Ernst.
»Wir haben Zeit«, versetzte Huxley. »Wie könnten wir den heutigen Tag besser beschließen,
als mit einer guten und spannenden Geschichte.«
»Nun, wenn du darauf bestehst, Terraner Huxley...«
Es war wieder Jumir, der zu erzählen begann. Es war eine faszinierende Geschichte, die er zu
Gehör brachte, und sie schien auf eine ganz und gar merkwürdige Art in ihrem letzten Teil mit
den Ereignissen verknüpft zu sein, denen die CHARR und ihre Besatzung beinahe zum Opfer
gefallen waren.
DIE SAGA VOM EDLEN RITTER LANDÖR
Der stemenüberkrustete Himmel spannte sich über die bewehrte Stadtanlage Tediruun in der
Provinz Verdanaa.
Der Wind war zu Beginn der Nacht eingeschlafen; die Luft, die in den Gassen zwischen den
aus massiven Baumstämmen gewachsenen Häusern zirkulierte, stank nach allem, wonach eine
Stadtanlage nur stinken konnte, deren Abfälle von den Bewohnern einfach aus den
astlochartigen Öffnungen gekippt wurden, die als Fenster dienten.
Der Fremde, ein Gorm von einhundertneunzig Zentimetern Größe, im zweiten Drittel seines
Lebens stehend, mit den verschlossenen Gesichtszügen der Nordprovinzler, rümpfte
schniefend die Nase. Er legte vorsichtshalber die Hand an den Griff der Streitkeu
le und stieß mit dem Fuß die Tür zur Herberge auf.
Der Luftzug ließ die Öllichter wild flackern und blaken.
247
Der Wanderer trat ein; er mußte sich bücken, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Hinter ihm krachte die schwere Bohlentür in das primitive
Schloß zurück.
Der Schankraum war nur unwesentlich höher als der Türstock. Hätte er eine Feder auf seinem
ledernen Barett getragen, hätte er den dicken Ruß von den pechschwarzen Balken gekehrt, die
die Decke trugen. Unter den wenigen Besuchern war er ein Riese.
Der Wirt sah dem Fremden mit neugierigem Gesicht entgegen.
»Der Herr scheint müde und durstig«, sagte er und deutete auf einen geflochtenen Stuhl in der
Nähe des glosenden Feuers.
»So ist es«, erwiderte der Fremde und setzte seinen Sattelsack ab. »Einen Becher Tee, aber rasch!« »Sofort.« Der Wirt, ein dickbäuchiger Gönn aus den südlichen Provinzen, mit einem kahlen Kopf und gewaltigen, buschigen Brauen, musterte schnell und, wie er meinte, unauffällig den neuen Gast. Er war ein Wurmreiter und so angezogen und bewaffnet, wie es sich nur die reichen Adligen des Nordens leisten konnten. »Tee aus den grünen Blättern des Ochoostrauches?« fragte er. »Aus dessen grünen Blättern!« bestätigte der Fremde. Mit einem devoten Nicken kehrte der Wirt hinter den Tresen zurück und begann mit Schalen und Kannen zu hantieren, während sich der neue Gast in der Gaststube umsah. Für die Verhältnisse der Stadt war der Schankraum überraschend sauber. Die runden Tische waren blankgescheuert, der Boden mit gebrannten Ziegeln belegt. Nur die niedrige Decke war schwarz verräuchert. »Bitte, Herr«, sagte der Wirt. Mit einem einzigen Zug stürzte der Fremde den warmen Tee hinunter, wischte mit einer schmutzigen Hand über den Mund und klopfte mit einem Geldstück an die Tischkante. Beflissen war der Wirt zur Stelle und griff nach der Münze, aber die Hand des Fremden legte sich noch schneller darauf. 248 »Ein weiterer Becher, Herr?«
»Nicht im Moment.«
»Womit kann ich Euch dann dienen, Herr? Mit einer meiner zahlreichen Töchter vielleicht?
Eine ist wohlgenährter als die andere.«
»Bei den fremden Teufeln«, sagte der Fremde erschrocken und schlug das Zeichen, das Unheil
abwendete. »Nein!«
»Womit dann?« Der Wirt schien ehrlich bekümmert.
»Ich suche Hoschjar.«
Der Wirt runzelte die Stirn und fragte zurück: »Den Eremiten?«
Der Fremde knurrte ungeduldig: »Habt Ihr es mit den Ohren, beim siebenschwänzigen
Sharl?«
Jetzt beeilte sich der dicke Wirt mit der Antwort. Der Fremde machte einen Eindruck, der sich
nicht erklären ließ; er schien ein gefährlicher, harter und ungeduldiger Adeliger zu sein, der
nur ungern und selten spaßte und noch weniger mit sich spaßen ließ.
»Es sollen nur vier Tagesritte von hier sein, bergauf, bis zur Schlucht der tosenden Wasser.
Dort, so sagt man, befindet sich die Höhle Hoschjars.«
»Sagt man es, oder weiß man es?«
Wie zufällig legte der Fremde die Hand auf den blankpolierten Knauf seiner Streitkeule.
»Dir werdet ihn dort finden - wenn er sich finden lassen will«, war die Antwort des Wirts.
»Könntet Ihr mir den Weg beschreiben?«
»Ich nicht«, bedauerte der Wirt. »Ich war nie dort.«
»Wer könnte es denn?«
Der Wirt drehte sich herum und deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf den Rücken eines
Mannes, der auf einem Faß neben dem Feuer saß und mit einem der Schankmädchen
schäkerte, das, ihrem Umfang nach zu urteilen, sicher eines der zahlreichen Wirtstöchter war.
»Da fragt Ihr am besten diesen Nichtsnutz von Kerl dort!« Er rief: »He,Thedje!«
Der Angerufene drehte sich langsam um.
Es war ein schmalschultriger Gönn, der in der typischen Kleidung der reisenden Händler
steckte. Das lange, schwarze Haupthaar war zu mehreren Zöpfen geflochten, in denen kleine
Schmucksteine steckten. Die großen runden Ohren waren an vielen Stellen durchbohrt. Durch
die Löcher waren farbige Lederriemen gezogen.
»Dieser Taugenichts, der die Hände nicht von meinen Schank-mädchen lassen kann, ist
Thedje der Händler«, murrte der Wirt.
»Gut.« Der Fremde hob die Hand und gab das Geldstück frei, das er einer kleinen Tasche im
breiten Gürtel entnommen hatte. Der Wirt schielte über die Tischkante, die Tasche war
prallgefüllt.
»Noch einen Tee, Herr?« fragte er diensteifrig und ergeben.
»Ja, diesmal mit viel hochprozentiger Essenz. Aber wartet, bis ich mit dem Händler einig
geworden bin.«
Der Adlige stand auf, durchquerte den düsteren Schankraum und ging auf den Händler Thedje
zu.
»Dir seid«, sagte er, »Thedje aus der Gilde der Händler. Trifft das zu?«
Der Gorm grinste breit und zeigte zwei Reihen spitz zugefeilter Zähne, die ganz grün waren
vom vielen Kauen der Ochooblätter.
»Das ist richtig. Mit wem rede ich?«
»Ich bin Ritter Landör aus der Provinz Perth. Darf ich Euch an meinen Tisch einladen?«
»Warum nicht?« Der Händler erhob sich so schnell, daß die Schankmaid von seinem Schoß
fiel und auf den Ziegelboden plumpste. Er beachtete ihr Gezeter nicht weiter und folgte
Landör zurück zum Tisch, an dem der Ritter wieder Platz genommen hatte. Der Wirt kam mit
dem vollen Teebecher und stellte ihn vor dem Adligen nieder.
»Darf ich Euch zu einer Schale Tee einladen, Händler Thedje?« erkundigte sich Ritter Landör.
»Ich danke Euch, edler Herr«, sagte der Händler. »Gem.«
Landör machte dem Wirt ein entsprechendes Zeichen und deu
250 tete auf die Tischplatte vor Thedje. Der Wirt nickte und verschwand erneut in der Küche.
»Ein fahrender Ritter seid Ihr also«, begann Thedje. »Nun weiß ich, daß die nordländischen
Leute aus der Provinz Perth als edle Herren und wehrhafte Kämpen versch... äh, bekannt sind.
Fürwahr, Herr, welch dorniger Weg führt Euch hierher in diese unbedeutende Stadt?«
»Der Weg des Wissens.«
»Wie ich schon sagte, ein domiger Weg, den Dir da beschritten habt, edler Herr. Alsdann, was
begehrt Ihr von mir zu wissen?« Der Händler lehnte sich zurück und zeigte in einem Grinsen
seine Zähne.
»Eine Auskunft.«
»Auch damit handle ich«, bestätigte Thedje. Er musterte den Ritter. Der Fremde, der sich
Landör von Perth nannte, trug die wehrhafte Tracht des Wurmreiters: eine hüftlange Jacke aus
grob gewirktem Stoff mit Lederbesatz aus den Häuten der Sharl, schlanke Stiefel aus gelbem
Wurmleder. Der breite Gurt trug eine Streitkeule, deren dunkle Befleckung vom häufigen
Gebrauch sprach.
Am linken Unterarm war ein Messer aus dem seltenen Eisenmetall in einer Lederscheide und
mit Riemen dergestalt befestigt, daß der Griff zur Hand wies. Alles deutete darauf hin, daß
dieser edle Wurmreiter ein guter Kämpfer war.
»Worüber wollt Ihr Auskunft haben?«
»Über einen Magier, den Eremiten Hoschjar. Man sagt. Ihr wüßtet den Weg zu seiner
Einsiedelei?«
Thedje räusperte sich und antwortete ausweichend: »Hm, ja, ein weiter, beschwerlicher Weg.«
Der Edle aus Perth begann zu fluchen.
»Kennt Ihr ihn, oder wie soll ich Euer Gestammel deuten?«
Ohne wirklich erschrocken zu sein, beeilte sich Thedje zu sagen:
»Gemach, gemach, edler Herr. Ich kenne ihn, aber ohne meine Hilfe werdet Dir ihn wohl
kaum finden. Zahlt Ihr?«
Der edle Ritter Landör aus der Provinz Perth runzelte die Brauen über den großen, dunklen
Augen, die den Gönn zu eigen waren.
»Ich zahle«, versicherte er dann. »Was verlangt Ihr?«
»Dreißig Silberstücke«, sagte der Händler, »oder das Samenkorn eines Lebensbaumes.«
»Ich biete siebzehn und kein Samenkorn.«
Der Händler runzelte verdrießlich die Stirn.
»Siebenundzwanzig, Ritter aus Perth -- Ihr beschämt Euch und Euren Stamm, wenn Ihr so
feilscht.«
»Das laßt meine Sorge sein, Händler! Zwanzig!«
Thedje seufzte zum Steinerweichen.
»Fünfundzwanzig, edler Herr. Bedenkt die glückliche Fügung, daß Ihr gerade mich getroffen
habt.«
»Und Ihr solltet bedenken, daß meine Geduld nicht ewig währt. Was haltet Ihr von einem
kräftigen Hieb meiner Streitkeule?«
»Wenig, Edler Ritter, wenig. Vierundzwanzig?«
Landör von Perth streckte seine Hand aus und sagte: »Zweiund-zwanzig - abgemacht?«
»Abgemacht. Zweiundzwanzig Silberstücke.«
Sie wechselten einen Händedruck, der gleichbedeutend mit einem schriftlich fixierten Vertrag
war.
»Darf ich Euch jetzt zu einem Krug Wein einladen, Herr?« fragte Thedje
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, meinte Landör. »Aber wollt Dir mir nicht den Weg
erklären?«
»Gemach, Herr Ritter.« Thedje grinste und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die
Teeschalen sprangen. »Wirt! Einen Krug vom besten und zwei Becher!«
»Sofort!«
Landör von Perth stärkte sich mit einem gewaltigen Schluck Wein, wischte sich den Mund mit
der schmutzigen Hand, holte tief Luft und sagte: »Den Weg, Händler, den Weg.«
Thedje räusperte sich und erwiderte: »Es ist wirklich eine glückliche Fügung, daß Ihr gerade
mich getroffen habt.«
252
»Ihr wiederholt Euch«, sagte der Adelige aus dem Norden. »Seid Ihr sicher, daß Ihr mich nicht übers Ohr gehauen habt?« Er krümmte seine Hand einwärts und hatte plötzlich den Dolch in den Fingern. Noch ehe sich der Händler von seinem heißen Erschrek-ken erholt hatte, hieb der Ritter die Spitze in die Tischplatte. Thedje faßte sich wieder und versicherte: »In der Tat, ich bin es. Ich habe gerade heute eine Karawane zusammengestellt und begebe mich morgen beim ersten Licht auf eine längere Reise zu den mittleren Provinzen. Die von mir erwähnte glückliche Fügung will es, daß ich zwei Tage lang der Straße folge, die in die Berge und zu Hoschjar führt, ehe ich mich nach Süden wende. Ihr könnt Euch mir anschließen, bis sich unsere Wege trennen. Während der Reise habe ich Euch mit dem Rest Wegs vertraut gemacht, so daß Ihr den Eremiten nicht verfehlen könnt.« »Wo sind Eure Lastwürmer?« »In einer Karawanserei an den Stadtpalisaden. Warum fragte Dir?« »Ist dort auch ein Platz für mich?« fragte Landör und sah zu, wie der Wirt die letzten Tropfen in die Becher laufen ließ. »Warum wollt Ihr Euch das antun?« mischte der sich jetzt ein. »Eine Karawanserei ist nicht der richtige Ort für einen edlen Ritter. Wollt Ihr nicht hier in meiner Herberge zur Nacht bleiben, Herr? Ich habe einen vorzüglichen Raum für Gäste wie Euch.« »Wenn er nicht zu verlaust ist.« »Wo denkt Ihr hin?« entrüstete sich der Wirt. »Meine Herberge ist die sauberste in der ganzen Stadt. Selbst der Burgherr übernachtet hier, wenn er in der Stadt weilt. Das Bad ist gerade befeuert, Ihr könnt euch darin entspannen, ehe Ihr Euch zur Ruhe begebt.« »Nun denn«, Landör gähnte unvermittelt, »so will ich Euer Angebot annehmen. Ich bin seit dem Morgengrauen ununterbrochen im Sattel gewesen. Es wird Zeit, daß ich auf einem weichen Lager zur Ruhe komme.« Der Wirt nickte verständnisvoll. »Es mag zwar nicht den An schein erwecken, aber wir sind wirklich das beste Haus am Platz. -Tarkg! Du verdanaaischer Tranbeutel!« schrie er plötzlich in Richtung der Küche. »Bring sofort den Reitsack des edlen Ritters nach oben in das Fürstenzimmer und zeige ihm die Badekammer!« Nach diesem stimmgewaltigen Ausbruch grinste er zufrieden und wandte sich dem Ausschank zu. Länder von Perth stand auf. »Wir sehen uns im Morgengrauen«, sagte er zu Thedje gewandt. »Pünktlich zum zweiten Schrei des Surath«, nickte der Händler, »brechen wir auf. Ob mit oder ohne Euch.« »Wenn Dir das tut, werdet Ihr nicht lange Freude an Eurer Reise haben, mein Wort darauf«, mahnte Landör grimmig. »Bedenkt wohl, wir haben einen Vertrag.« »Selbstverständlich, Herr Ritter«, beeilte sich Thedje zu sagen. »Es ist nur eine stehende Redensart unter uns Händlern.« Ritter Landör ließ sich von dem jungen Burschen sein Schlafgemach zeigen - ein großer, überraschend gut eingerichteter Raum. Er hängte die Streitkeule air einen Klampen und bedeutete dem Jungen, den Sattelsack auf dem Boden abzustellen, ließ sich den Weg zum Bad zeigen, warf ihm ein kleines Stückchen Silber zu und scheuchte ihn hinaus. Dann ging er über einen erbärmlich knarzenden Steg auf die kleinen Baderäume zu, die in einem Anbau hinter der Herberge untergebracht waren. Er entledigte sich seiner Kleider, schüttelte sie aus und legte sie säuberlich zusammen auf einen Hocker. Schließlich setzte er sich auf die Holzbank in dem großen Trog. Heißes Wasser wusch den Schmutz von seinem Körper, aus den Haaren. Wohlig entspannt kroch er nur wenig später unter die groben Decken seines Lagers. Sekunden darauf war Ritter Landör aus der Provinz Perth eingeschlafen.
254
12.
Die Karawanserei an der Stadtpalisade unterschied sich in nichts W jenen, die Landör aus anderen Städten kannte. Gebrüll und eschrei der Treiber und Wurmlenker erfüllten die Luft ebenso wie das Gekeife der Weiber. Der scharfe Geruch von Dörrfisch und gegerbten Häuten aus den Lagerschuppen unten am Fluß vermischte sich mit dem beißenden Moschusgestank der Lastwürmer in ihren Pferchen. Im frühen Licht von Kimiks Auge lenkte Landör seinen Reitwurm mit einer Miene durch die Menge, die seiner Stellung als Ritter gerecht war. Die Erwachsenen wichen devot vor ihm und seinem goldhaarigen Wurm zurück, nur die Banden rennender Kinder ließen sich nicht von seinem Auftreten beeindrucken. Er kam an einigen Feuern vorüber, um die Männer und Frauen herumlungerten, und der eine oder andere schaute auf. Aber in keinem der Blicke schien mehr als träge Neugier zu liegen. Die Palisaden, die die Stadt gegen Überfälle schützen, sahen solide und glatt aus. In der Nacht mußte sich einer der riesigen, schwerfälligen Vierfüßler losgerissen und die Stadtpalisade demoliert haben. Landör sah, wie sich die lädierte Stelle in der massiven Holzmauer gerade selbst regenerierte und rasch wieder in die Höhe wuchs. Er nickte anerkennend; die Stadt Tediruun mußte einen ausgezeichneten Baumsprecher besitzen. Der Händler Thedje hatte seine Lasttiere, graue, träge Würmer ohne inneres Feuer, am Südausgang der Karawanserei versammelt. »Ich war schon in Sorge«, begrüßte er lautstark den Ritter aus der Nordprovinz, »ob Ihr es schafft, rechtzeitig hier zu sein.« »Was wollt Ihr«, schrie der Ritter zurück und deutete nach Osten, »die Sonne ist gerade zwei Handbreit über dem Horizont.« »Dann nichts wie los! Nur der frühe Vogel frißt den Wurm...« Landör lächelte reserviert wie jemand, der den Sinn der Worte 255 nicht begriff, aber es nicht zeigen wollte. Er hatte noch nie in seinem Leben von einem
Vogel gehört, der in der Lage gewesen wäre, einen Wurm zu fressen.
Zumindest nicht die Würmer, die er kannte.
Dieser Vogel, von dem Thedje gesprochen hatte, mußte gewaltig sein. Gewaltiger als
zehn Surath zusammen. Landör entschied für sich, daß dieser Händler ein Aufschneider sein mußte und eines wachsamen Auges bedurfte. »Worauf wartet Ihr, edler Sproß einer sicher reizenden Mutter und eines heldenhaften Vaters? Der Tag hat nicht beliebig viele Stunden, wir müssen uns sputen, wollen wir noch vor Einbruch der Nacht über die Schlucht der Toten kommen.« Landör stieß einen Fluch aus und trieb seinen Wurm mit kurzen Stößen der Fersen ans Ende des Zuges. Die kleine Karawane zog durch die Stadt auf das Haupttor zu, durch das man mußte, wollte man die Palisadenumzäunung der breit wuchernden Ansiedlung am Ufer des Flusses hinter sich lassen. Fußgänger mit schweren Lasten auf den Rücken stellten sich der Reihe nach vor der Wachbude an, um ihr Gepäck inspizieren zu lassen. Ein Dutzend Männer ritt auf flugunfähigen Laufvögeln durch das Tor, ohne daß die Wächter sie aufhielten; ihre ledernen Hämische wiesen sie als Bedienstete des Burgherrn aus, dessen Zitadelle auf dem Hügel durch die Bäume schimmerte. Sie trugen Flammstöcke über den Schultern und zeigten grimmige Mienen. Sie schienen in Eile zu sein, trieben ihre Suraths mit scharfen Ha kenstöcken zu noch schnellerer Gangart an. Kreischend und fluchend wichen die Stadtbewohner zur Seite, als die wilde Jagd an ihnen vorüberstob. Thedje schien den Wachleuten freundschaftlich verbunden zu sein. Sie machten keine Anstalten, seine Karawane aufzuhalten, geschweige denn, die Lasten zu durchsuchen. Erst im letzten Moment sah Ritter Landör den kleinen Beutel mit Silberstücken, der blitzschnell seinen Besitzer wechselte. Er grinste abfällig. 256 Als sie das Tor passiert hatten, setzte sich Landör an die Spitze. r gab seinem Wurm die Zügel frei und lehnte sich in dem hohen Sattel zurück, der seinen Rücken bis zum Nacken vor Pfeildomen aus dem Hinterhalt schützte. Das Scharren der Wurmringe auf dem Boden und das Knarren der Lastgeschirre und Sättel waren die Laute, zu denen die Karawane sich über den ausgefahrenen Karrenweg nach
Süden bewegte.
Eine Stunde später war die Stadt am Fluß längst hinter den vielen Biegungen der
gewundenen Landstraße verschwunden.
Es mußte in der Nacht geregnet haben. Der Boden war übersät von tiefen Eindrücken -
anscheinend stammten sie von den schwerfälligen, mächtigen Vierfüßlern, die lange
Gespanne zogen.
Die Spuren wurden mit fortschreitender Entfernung weniger; offenbar waren die Gespanne
links und rechts zu den Gehöften abgebogen, die mitunter aus der Ferne herüber grüßten.
Kimiks Auge trocknete jedoch rasch den Boden, und die Karawane kam schneller voran.
Irgendwann am Nachmittag schloß der Händler zu dem Ritter auf.
Ihm war langweilig, vermutlich.
Oder er war auf Geschichten aus.
Händler waren immer scharf auf Geschichten. Damit konnten sie die Gäste in den vielen
Herbergen am Rande der Karawanenstraßen unterhalten, gegen klingende Münze natürlich.
Auf diese Weise verbreiteten sich Nachrichten über das Land, von Ort zu Ort, von Stadt zu
Stadt.
»Nun sagt schon, edler Ritter aus Perth, weshalb seit Dir so versessen darauf, Hoschjar zu
besuchen? Es geht die Rede, er sei kein sehr umgänglicher Magier.«
Landör ließ eine ganze Weile verstreichen, ehe sagte: »Meine Geschichte wird Euch ob ihrer
Länge langweilen.«
»Wir haben Zeit«, versetzte Thedje, »zwei volle Tage.«
»Nun, dann...«
257 Erwartungsvoll rückte sich der Händler im Sattel zurecht. Seine Augen hatten einen gierigen Schimmer; es gab keinen Gönn, der sich freiwillig eine gute und lange Geschichte entgehen ließ. »Beginnt, edler Nordländer«, sagte er eifrig. »Dir habt in mir den aufmerksamsten Zuhörer, dessen seid versichert.« »Nun, so sei es. Ich bin also Eures Mitgefühls sicher, Händler. Also ich will Euch berichten, wie das grausame Schicksal es wollte, daß ich mich von den reifbedeckten Wäldern des Nordens hierher begeben habe. Es begab sich vor einiger Zeit, daß ein Fremder am Tor der Burg meines Vaters Einlaß begehrte. Mein Vater, König der Provinz Perth, gastfreundlich und großzügig wie kein anderer Edler des Nordens und mit einer schönen Tochter, meiner Schwester Herbfaith, gesegnet, nahm den Fremden an seinem Hof auf und beherbergte ihn ganze zwei Monde lang. Der Fremde war ein gar trefflicher Erzähler von erfundenen Geschichten, aber das merkte ich erst, als es zu spät war. Er behauptete, als Baumsprecher ein Meister seines Faches zu sein. Und mein Vater, in ständige Händel mit dem König von Thuur verwickelt, war blind vor Freude, einen jungen, starken Magier in seinen Dienst nehmen zu können.« »Wie war der Name dieses Scharlatans?« fragte der Händler, als Länder für einen Moment verstummte. »Er nannte sich... Milligan. Pah!« der Prinz aus dem Norden spuckte voll Verachtung in den Straßenstaub. »Nie gehört«, sagte der Händler. »Wir auch nicht, glaubt mir, wir auch nicht. Aber er zeigte uns ein paar Beweise seines angeblichen Könnens. Die Konstruktion des Frauenturms hatte unter den letzten Winterstürmen gelitten, und er besprach sie, so daß sie wieder in die alte Form wuchs. Er ließ einen neuen Verteidigungswall um den alten wachsen, höher und stärker - und machte meiner Schwester den Hof. Bedenkt! Ein Baumsprecher wagte es, seine Augen zu einer Prinzessin zu erheben!« »Im Ernst?« entführ es Thedje. Er schüttelte entrüstet den Kopf, 258 die Zöpfe nur so flogen. »Auf welche Zinne eurer Burg habt • seinen Kopf gespießt?«
Länder winkte betrübt ab. »Hätte ich es nur getan.«
»Was hat Euch abgehalten?«
»Dir vernehmt es sogleich.«
Länder von Perth stärkte sich mit einem neuerlichen Schluck Wein, kreuzte die Füße vor
dem Sattelknauf und sagte: »Natürlich ist meine Schwester, ein einfältiges Frauenzimmer
von einundzwanzig Sommern, den Schmeicheleien und Schwüren dieses Taugenichts
erlegen.«
»Jetzt verstehe ich Euer Betrübnis, edler Herr. Aber was ist weiter geschehen? Habt Ihr den Verführer Eurer gewiß ausnehmend schönen Schwester zum Duell herausgefordert?« »Das blieb mir leider verwehrt. Als ich eines Tages von der Jagd zurückkehrte, fand ich meinen gramgebeugten Vater vor, der mir mit stockender Stimme berichtete, daß meine Schwester zusammen mit dem ruchlosen Verführer die Feste verlassen hatte. Das war vor sechs Monden. Ich schwor auf meines Vaters Streitkeule, Rache zu nehmen für diese Schmach. Seitdem verfolge ich die beiden durch alle Ländereien. Ich erkundigte mich in allen Städten und Dörfern nach dem ruchlosen Paar, ohne ihm jedoch näherzukommen. Da ich nicht bis ans Ende meiner Tage im Sattel sitzen kann, habe ich beschlossen, Hilfe zu suchen. Man berichtete mir von Hoschjar, einem Eremiten und Magier, der mit einem Blick in den Brunnen flüchtende oder vermißte Personen aufzuspüren in der Lage wäre. Dies ist die ganze Geschichte.« »Eine schöne Geschichte edler Herr. Dir könnt mir gewiß noch mehr Einzelheiten darüber berichten.« Lander von Perth winkte ab. Er gähnte lauthals. »Heute nicht mehr, Händler Thedje. Vielleicht morgen wieder.« Er trieb mit einem Fersenstoß seinen Reitwurm zu einer schnelleren Gangart an. Der Händler fiel etwas zurück, und so entging ihm das Grinsen des jungen Ritters, der eben zur Bildung einer weiteren Legende an den Feuern der Wirtshäuser beigetragen hatte. 259
Denn alles, was er erzählt hatte, war erstunken und erlogen. Landör erfreute Händler Thedje auch noch am folgenden Tag mit einer frei erfundenen Geschichte. Dann trennten sich endlich ihre Wege. Die Karawane war noch eine Weile zu sehen, dann verschwand sie hinter einer Biegung Landör war sicher, den geschwätzigen und über alle Maßen neugierigen Händler nie mehr zu sehen. Eine kurze Zeit begegneten ihm noch Gönn mit großen Bündeln auf dem Rücken, doch dann war er allein auf dem Weg in die Berge und zu Hoschjar. Verdanaas Bäume ragten hier mehr als vierzig Mannlängen empor. Der Waldboden war mit dichtem Rankengewirr und famähnlichen Gräsern überwuchert, so dicht, daß sie den Adligen an eine grüne Wasserfläche erinnerten. Der Wald selbst redete mit vielfältigen Stimmen. Landör war fortwährend von einem nie endenden Lärm umgeben. Von Kreischen und schrillem Zetem, von heiserem Krächzen ebenso wie von melodischen Gesängen bunter Vögel und dem Zirpen von Insekten. In den dichten Baumkronen raschelte und flatterte es ohne Unterlaß. Aber es gab auch die modrigen Gerüche einer schmarotzenden, verfaulenden Vegetation. Der Weg fiel leicht ab. Üppig von dichter Vegetation bewachsen, verlief der Hang nach unten, um nach etwa zweihundert Metern wieder anzusteigen. Der Wald wurde dichter; von oben drang zwar Sonnenlicht durch das Laub, aber auf seinem Weg nach unten wurde es so vielfach gebrochen und gestreute daß am Waldboden nur ein grünblaues Halbdunkel vorherrschte. Plötzlich schwand das Sonnenlicht. Schlagartig breitet sich eine fahle Dämmerung aus. Es wurde merklich kühler. Dann begann Regen zu fallen. Er stürzte in einer Stärke aus den Kronen der Bäume, als stünde man unter einem Wasserfall. Binnen Augenblicken war Landör bis 260 auf die Haut durchnäßt. Der Regen war eiskalt. Und er hörte ebenso unvermittelt wieder auf, wie er begonnen hatte. Allerdings regneten die Bäume noch ein Weile nach; kleine Äste, Laub und faustgroße Insekten kamen mit dem Wasser von oben herab und bildeten eine schmierige Schicht, über die der Wurm des Adeligen dahinglitt wie über Morast. Bis zur Dunkelheit schaffte sein Reitwurm noch die Strecke bis zu jener Grenze, wo der feuchte Dschungel vom Baumbewuchs der höheren, trockeneren Region abgelöst wurde. Eingedenk möglicher Gefahren schlug Landör von Perth sein Nachtlager zwischen den Astgabeln eines riesigen, wild verschlungenen Baumes auf. Im letzten Licht spannte er das mitgeführte Schlafnetz zwischen den Ästen auf. Er aß eine Kleinigkeit und trank ein paar
Schlucke aus dem Weinschlauch, ehe er sich zur Ruhe begab. Mit in den Nacken
verschränkten Händen lag er im Netz, starrte ins Dunkel über sich. Durch die Zweige schim
merten die Sterne, und er dachte an seine Schwestern Herbfaith, Naultos und Onrald, an
seine Brüder Lorson und Laviak, und an seinen Vater Fredmä von Perth. Er hätte weinen
mögen über die Tatsache, daß sie nun alle tot waren. Aber ein Mann weinte nicht. Und
schon gar nicht ein Ritter aus den Nordprovinzen.
Langsam döste er ein.
Seine Augen schlössen sich.
Im Einschlafen hörte er noch ein wildes Fauchen, dem ein langgezogener Todesschrei folgte.
Die Raubtiere Küläs gingen auf ihren nächtlichen Beutezug.
Die Sonne stand kaum eine Handbreit über dem Horizont, als Landör von Perth bereits wieder im Sattel saß und weiterritt. Gegen Mittag nahm der Wind an Stärke zu und jagte langgestreckte Wolkenformationen über den Himmel. Der Hochwald 261 beugte sich ächzend unter den Böen. Äste brachen krachend und scheuchten ganze Scharen von gefiederten Räubern auf, die krächzend und zeternd aufflogen. Langsam änderte die Landschaft ihr ErscheinungsbildJe weiter und höher er in die Berge kam. Blinzelnd sah er zum Himmel auf; das Licht der zwischen den Wolkenlücken hervorscheinenden Sonne erzeugte seltsame Effekte. Die Zeichen, daß er sich Hoschjars Domizil näherte, wurden deutlicher; auf dem Boden waren die Eindrücke von Wurmringen zu erkennen, die sicher von Lastraupen stammten, mit denen Bauern oder Händler Versorgungsgüter zu dem weisen Eremiten brachten. Eine halbe Stunde später traversierte sein edler Kampfwurm einen sanft geneigten Hang, eine Lichtung im Wald. Auf der gegenüberliegenden Seite machten dunkle Bäume wuchtigen Felsen Platz. Landör hörten das Plätschern eines schmalen Wasserlaufs. Er lenkte seinen Reitwurm auf das Geräusch zu. Der Bach kam unter einem Dickicht hervor, strömte über bemooste Steine und bildete vor den Felsen einen flachen Tümpel, ehe er weiterfloß. Im Osten fiel die Lichtung in Form eines Abbruchs steil ab; dort stürzte das Wasser über die Kante. Im Westen lag ein Pferch, in dem sich zwei graugrüne Lastraupen träge bewegten. Er war am Ziel. Er glitt von seinem Reittier und schlang die Zügel um einen knorrigen Pfosten. Der Wurm begann sofort am Rand des Pferches die roten Blüten eines gelbblättrigen Strauches zu fressen. Zwischen drei uralten, kantigen Felsblöcken in Form eines Tores führte ein Fußweg zu einem Ziel, das hinter Hecken verborgen lag. Für einen Augenblick zögerte Landör, einzutreten. Dann hatte er sich entschlossen, der Herausforderung nicht auszuweichen und ging Schritt um Schritt weiter. Er passierte zwei langgestreckte Mauern aus dichtem Gebüsch. Sie sahen aus, als hätte sie ein 262 .Gärtner beschnitten. Doch als er näher an die Zweige und Blätter heranging, mußte er feststellen, daß das Astwerk ineinander ver-| krallt war. Ein seitliches Durchdringen schien unmöglich, denn Äste, Domen und farbenprächtige Blüten bildeten ein vemetztes System von federnder Härte. Über dem Pfad berührten sich Baumkronen, so daß er sich wie durch einen Tunnel bewegte. Vereinzelt hingen Ranken aus dem Geäst herab und pendelten leicht im Wind. »Meister Hoschjar, wo seid ihr?« rief Landör und wischte eine der Ranken beiseite, die sich vor seinem Gesicht bewegte. Wie auf ein unhörbares Signal hin glitt ein ganzer Vorhang von Ranken aus der Höhe herab, legte sich um ihn und hievte ihn in die Luft. j Landörs Verblüffung währte nur kurz. Sich ruhig verhaltend - er lefand sich immerhin zwei Mannlängen über dem Boden - sagte er laut: »Laßt diese Spielchen, Meister, sie sind Eurer nicht würdig. Ich will Euch kein Leid, was ich brauche, ist Eure Hilfe.« »Wer braucht meine Hilfe?« tönte eine hohle Stimme von ir ndwoher. »Landör, Sohn des Königs von Perth.« »Ein Edler aus den Nordprovinzen. Ihr seit weit weg von Zuhause.« »Aus gutem Grund«, versicherte Landör. »Aus gutem Gr...« Urplötzlich gaben ihn die
Ranken frei. Da er damit gerechnet hatte, kam er auf seinen Füßen auf, federte in den Knien durch und richtete sich wieder auf, ohne daß ihm der Fall aus der Höhe geschadet hätte. Ein Rascheln und Seufzen und Knarren hüb an; die Mauern der Hecke wichen zur Seite und gaben den Blick auf eine Lichtung frei, in deren Mitte sich ein Fremdkörper erhob: ein niedriger, runder Bau aus mächtigen Quadersteinen, von einer ebenfalls steinernen Dachkonstruktion wie von eine Kuppel gekrönt. Steine...! »Erstaunlich«, sagte Landör mit erhobener Stimme und schritt auf den alten Gönn zu, der ihm von der Terrasse entgegensah. 263
Er hatte ein graues, fast weißes Gesicht mit unzähligen Falten. Sein langes, ebenfalls weißes
Haar trug er offen, es fiel ihm bis auf die Schultern. Unter den grauschwarzen Brauen
musterten rote Augen den Ankömmling.
»Was ist erstaunlich?« fragte er, als der Ritter von Perth vor ihm stand.
Landör wies auf das Haus hinter dem Magier. »Das da«, meinte er. »Kein besprochenes
Baumhaus!« Hoschjar zuckte die Schultern unter dem grobgewebten, grauschmutzigen
Umhang, unter dem er ebensolche Beinkleider und eine schenkellange Jacke trug, die von
einer geflochtenen Ranke gegürtet war.
»Es gibt kein Gesetz auf Külä, edler Herr, das uns Eremiten verbietet, nicht in Steinhäusern
wohnen zu dürfen. Aber kommt herein, seid mein Gast.« Er drehte sich um. »Ihr habt einen
weiten Weg hinter euch, sicher seid Ihr hungrig und durstig.« Das war keine Frage, sondern
eine Feststellung.
Landör hatte sich in der Quelle hinter dem Haus gewaschen und dann eine Kleinigkeit,
hauptsächlich Früchte und Nüsse, mit dem Magier gegessen.
Jetzt saßen sie beim Wein zusammen, während draußen die Nacht über die Welt kam.
»Nun sagt schon, edler Ritter aus Perth, weshalb seid Dir so versessen darauf, mich
kennenzulernen?«
Landör ließ eine Weile verstreichen, ehe er sagte: »Es ist eine etwas umfangreiche
Geschichte.«
»Laßt sie mich dennoch hören. Ihr habt in mir einen aufmerksamen Zuhörer, dessen seid
versichert.«
»So sei es. Also will ich Euch berichten, wie das grausame Schicksal es wollte, daß ich mich
von Perth nach Verdanaa begeben habe. Es begann vor vielen Monden. Die Armee des Königs
264 von Thuur belagerte die Feste meines Vaters. Anfangs konnten wir ihr Paroli bieten, zeitweise sah es sogar danach aus, als könnten i^wir sie zurückschlagen. Wir hatten hervorragende Baumsprecher in unseren Reihen, die in rascher Eile jede zerstörte Wallanlage wieder wachsen ließen...« Landör verstummte in der Erinnerung an die Geschehnisse, die ihn sichtlich bewegten. »Die Geschichte beginnt gut, edler Herr«, sagte Hoschjar und warf Landör den Weinschlauch zu. »Nehmt einen Schluck und befeuchtet Eure inzwischen gewiß trockengewordene Kehle. Dann berichtet weiter, ich bin schon ganz begierig.« Landör setzte den Schlauch an und nahm einen gewaltigen Schluck des harzigen Weins. »Hört also weiter...« Landör schilderte, während Hoschjar es nickend zur Kenntnis nahm, wie der Kampf hin und her tobte, mit wechselnden Erfolgen für die Kontrahenten. Feuer war der größte Feind für Befestigungsanlagen aus lebendem Holz, weshalb Angriffsund Verteidigungsstrategien auf der Entwicklung großer Pflanzen basierten, die heiß brennende Bio-gasfontänen von erheblicher Reichweite erzeugen konnten. Brachen Brände aus, wurden sie durch speziell gezüchtete, in weitläufigen Volieren gehaltene Großvögel bekämpft, die mit Wasser gefüllte Blasen aus Pflanzenstoffen auf die Feuer fallen ließen und sie so löschten. »Was geschah dann?« fragte der Magier, als Landör für einen Moment schwieg. »Dann... dann kam unversehens ein fliegendes Ungeheuer aus dem Himmel und landete zwischen den Linien. Schrecklich anzusehende Teufel traten heraus. Ohne Gesichter. Gehüllt in etwas, wa', nicht zu beschreiben war. Ohne Verzug eröffneten sie das Feuer auf uns, aus merkwürdigen Stöcken, die Blitze verschleuderten, die die Getroffenen in Flammen aufgehen und vor unseren Augen in Windeseile verbrennen ließen. Es war schrecklich... obwohl die Armee König Thuurs und unsere Streitmacht sich au
genblicklich in ungewohnter Einigkeit gegen den unbekannten, gnadenlosen Feind wandten, war das Unheil nicht mehr aufzuhalten. Die fürchterlichen Teufel waren unverwundbar, keine unserer Waffen vermochte sie zu berühren. Sie brachen jeden Widerstand und töteten alle, die sich ihnen in den Weg stellten. Nicht genug, sie verbrannten die Feste meines Vaters bis auf den Grund, töteten ihn, meine Schwestern und Brüder und auch König Thuur mit all seinen Kämpen bis auf wenige, die sie in ihren fliegenden Berg schleppten. Darunter auch mich, der
ich als einziger der Familie der Perth das Massaker überlebt hatte. Erspart mir. Euch Einzel heiten der Hölle zu schildern, in die man uns Gefangene trieb und in der man uns gemeinen Verhören unterzog.« Landör beugte sich nach vom, stützte den Kopf in die Hände und schien in Gedanken die gräßlichen Ereignisse noch einmal zu sehen. Schließlich fuhr er mit leiser Stimme fort: »Bald schon redeten die fremden Teufel in unserer Sprache. Sie verkündeten eine neue Epoche unter ihrer Herrschaft und verlangten unbedingten Gehorsam. Der fliegende Berg verbrachte uns in das Tal der tausend Teiche, und wir wurden ausgesandt, allen Gönn zu verkünden, daß sie von nun an Sklaven seien und zu gehorchen hätten...« »Aber Ihr hattet Besseres zu tun, als Euch zu Handlangem der gesichtslosen Teufel zu machen, oder?« »In der Tat«, bekräftigte Landör. »Ich entzog mich ihrem Einfluß und beobachtete aus der Feme ihre Aktivitäten. Ich sah Merkwürdiges: Die Teufel ließen von der versklavten Bevölke rung die Fischteiche zu flachen Gewässern umbauen, in denen sie jenes grüne Zeug anpflanzten, das die Bauern und Fischer ihrem Federvieh als Futter geben. Ich glaube, es dient ihnen als Nahrung für sich selbst.« »Brrr...« Hoschjar schüttelte sich, griff nach dem Weinschlauch und nahm ein paar tiefe Züge; der rote Saft rann ihm aus den Mundwinkeln. Nach einem kräftigen Rülpser sagte er: »Kimiks Auge möge sie verbrennen!« 266 »Wenn es nur so einfach wäre«, erwiderte Landör.
Sie schwiegen.
Nach einer Weile meinte Hoschjar: »Und was ist nun Euer Begehr, edler Herr? Daß Ihr nur
wegen meines Weines gekommen seit, kann ich wohl zu Recht ausschließen.«
»Ich will Rache nehmen für den Tod, den die gesichtslosen Teufel über meine Familie, über
unsere Leibeigenen und all die anderen gebracht haben. Aber mit meinen Waffen kann ich
nichts gegen die Ungeheuer ausrichten. Da helfen nur Zauberkräfte, die ich nicht besitze. Dir
aber wohl, großer Magier. Ich vernahm von Samen der Macht, die Ihr besitzen sollt. Könnt Ihr
mir davon geben?«
Hoschjar fixierte den jungen Adligen mit seinen roten Augen. »Was versprecht ihr Euch
davon?«
Landörs Lächeln war gnadenlos, als er erwiderte: »Den Tod der ärgsten Feinde der Gorm.«
Der Magier kratzte sich im Genick. »Große Worte eines jungen Heißsporns. Aber sei's drum,
ich gebe Euch die Samen der Macht. Versteht Ihr denn damit umzugehen?«
»Ein wenig. Es ist wie Baumsprechen, oder?«
»Hmm - in gewisser Weise. Wer hat Euch unterrichtet?«
»Am Hofe meines Vaters gab es einen Kundigen namens Zel-saar. Er lehrte mich einiges über
die Kunst des Baumsprechens.«
»Ein Eleve des Wissens seid Ihr?« Erstaunen sprach aus Hosch-jars Worten. »Wollt Dir, daß
ich Euch weiter unterrichte?«
»Später«, gab Landör zu verstehen. »Erst wenn ich Rache an den Mördern meiner Familie
genommen habe.«
»Nun gut«, erwiderte Hoschjar. »Mein Angebot bleibt bestehen. In der Zwischenzeit erlaubt
mir, daß ich Euch bei Eurem Tun beobachte.«
»Wie wollt Ihr das anstellen?«
»Indem ich bei Euch bleibe - wenn Ihr einverstanden seid mit meiner Begleitung!«
Landör von Perth überlegte keine Sekunde. »So sei es«, bekräf
tigte er. »Wann brechen wir auf?«
Hoschjar schüttelte das weiße Haupt über die Ungeduld der Jugend und erwiderte seufzend:
»Gewährt uns wenigstens vier Stunden Schlaf. So erholen sich Körper, Geist und Verstand,
und alle drei werden unverzichtbar sein bei unserem Kreuzzug gegen die gesichtslosen
Teufel.«
Der Wind hatte aufgefrischt und türmte die Wolken am blauen Himmel zu wahren Gebirgen
aus Weiß und Grau, als sie am nächsten Morgen ihre Reitwürmer bestiegen und den
Bergrücken entlang nach Süden ritten, wobei der Weg sich allmählich in die Täler
hinabsenkte.
Stunde um Stunde verging.
Meister Hoschjar war kein versierter Wurmreiter. Und sein Lastwurm kein edles Reittier. Das
Tier krümmte sich und bog seinen haarigen Leib so hoch, daß der Magier zeitweise in luftiger
Höhe schaukelte. Aber die Erzählungen Landörs und die Aussicht auf ein paar ereignisreiche Tage hatten aus dem bedächtigen, hochgeistigen Eremiten einen Mann werden lassen, der förmlich über sich hinauswuchs. Dennoch: Noch nie in seinem an Erlebnissen reichen Leben hatte Länder eine solch phantasievolle Auswahl an Flüchen und Beschwörungen und flehentlichen Bitten gehört. Jetzt eben, während der junge Adlige mit scharfen Augen den Weg vor ihnen absuchte, schrie Hoschjar seinen Wurm mit einer Lautstärke an, die man bis Perth hätte hören müssen. »Du nichtsnutziges Stück Wurm«, schrie er, »wenn du nicht gleich Ruhe gibst und dich gesittet aufführst, hacke ich dich in Stücke und werfe dich den siebenschwänzigen Sharl zum Fraß vor - gehorche endlich!« »Dir solltet etwas Ruhe geben, Meister Hoschjar. Hier sind des öfteren schon die gesichtslosen Teufel gesichtet worden«, sagte Lander und setzte sich im Sattel zurecht. »Wenn Ihr weiter sol 268 chen Lärm macht, kann ich sie nicht hören und entsprechend reagieren.«
»Laßt sie nur kommen, wir werden sie gebührend empfangen«, versicherte Hoschjar grimmig,
noch immer aufgebracht über seinen unbotmäßigen Wurm.
»Wie Ihr meint, Meister.« Länder zuckte mit den Schultern, lok-kerte seine Streitkeule im
Gürtel und sondierte scharfäugig die Umgebung.
Der Weg verbreitete sich jetzt merklich, und Landör trieb seine Rennraupe zur schnelleren
Gangart an; er verhakte die Stiefel in den Bügeln, als die wellenförmigen Bewegungen seines
Reittieres zunahmen. Hinter sich hörte er das Fluchen und Schimpfen Hoschjars, der auf
seinem Lastwurm alle Mühe hatte, nicht den Anschluß zu verlieren.
Sie machten keine Rast an diesem Tag.
Langsam sank das Auge Kimiks hinter ihren Rücken tiefer, und die Schatten zwischen den
Bäumen des Waldes wurden dunkler und länger. Und immer wieder, wenn der Weg einen
Bogen machte, sah Landör eine waagerechte grüne Fläche aus der Tiefe herauf-schimmem,
durchsetzt mit kleinen Wasserflächen. Nach der letzten Biegung konnte er sehen, daß sie sich
auf dem letzten Bergkamm über einem sanft abfallenden Tal befanden, genauer gesagt über
einer langgezogenen Senke - dem Tal der tausend Teiche.
Dort erhob sich der riesige fliegende Berg der gesichtslosen Teufel inmitten einer
kreisförmigen, ebenen Fläche. Sein Gipfel befand sich fast auf Kammhöhe, so hoch ragte er in
den Himmel Küläs. Senkrecht stiegen Rauchsäulen aus den Kaminen der Pischersiedlung am
Ufer des großen Teiches, in dem einmal Fische gezüchtet worden waren. Jetzt diente er,
ebenso wie die Kette der anderen im Talgrund, zur Aufzucht von grünen Algen. Nahrung für
die Teufel.
»Machen wir erst einmal Rast«, schlug Landör vor. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten.
Hoschjar tat es ihm nach, allerdings weniger gewandt und mit Schnaufen und Ächzen.
Neben dem Weg/der von hohen Bäumen gesäumt und deshalb aus der Luft vollkommen
unsichtbar war, rieselte eine Quelle. Sie trieben ihre Würmer etwas tiefer in den Wald, wo sie
sich sofort über Sträucher und Blüten hermachten, und kehrten zur Quelle zurück.
»Was tun wir?« fragte Länder und wusch sich Hände und Gesicht in dem kühlen Naß.
»Was können wir tun?« stellte Hoschjar die Gegenfrage. »Oder anders gefragt: Was wollt Dir
tun?«
»Ich... still!« raunte Länder plötzlich. »Wir sind nicht allein! Dort! Seht Ihr?«
Hoschjar duckte sich hinter die Büsche und blickte in die Richtung, in die der Adlige zeigte.
Der gesichtslose Teufel hob sich kaum vor dem Hintergrund der Bäume ab. Sein gesamter
Körper war von graugrünen, fest anliegenden Tüchern (eine andere Bezeichnung fiel Hoschjar
nicht ein) umhüllt. Der große, in die Länge verzerrte Kopf schimmerte schwarz und zeigte
keinerlei Einzelheiten, als trüge er einen Helm, der ihn ganz umschloß. Da, wo das Gesicht
sein sollte, war eine völlig glatte, spiegelnde Fläche. Er bewegte sich durch den Wald, als
wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmtem, wobei er sich dem Versteck der beiden Gönn
näherte. Den tödlichen Feuerstock trug er an einem breiten Gürtel, der mit kleinen Beuteln
und Täschchen gespickt war.
»Eine günstige Gelegenheit, junger Ritter«, flüsterte der Eremit. »Werft ein Samenkorn der
Macht, wenn er an jenem Baum dort vorbei kommt!«
Länder nickte, griff in den Beutel aus Sharlleder und nahm eines der Kömer zwischen die
Finger.
Dann wartete er ein paar Augenblicke - und warf das Köm aus seiner Deckung heraus in
Richtung Baum, während er im Geist die dazu gehörende Beschwörung formulierte.
Das Ergebnis kam so plötzlich, daß er erschrak.
Aus dem Boden um den Baum schössen Wurzeln wie Lanzen 270
empor, brachten den gesichtslosen Teufel zu Fall. Und noch ehe dieser reagieren und sich aus
dem Gefahrenbereich begeben konnte, hatten sie sich um seinen Körper, um seine
Gliedmaßen geschlungen, preßten ihn auf den Boden. Gleichzeitig neigte sich der riesige
Stamm mit erstaunlicher Schnelligkeit, stürzte auf ihn herab und erdrückte ihn mit seinem
enormen Gewicht.
Ein bläulich knisterndes Feld erschien über dem Körper, und die beiden Gorm konnten sehen,
daß es den Rumpf nicht berührte; ein merkwürdiger Geruch breitete sich aus. Es roch, als wäre
ein Blitz in metallhaltiges Gestein eingeschlagen.
Es knisterte stärker, untermalt von einem Winseln so gerade an der Schwelle des Hörbaren.
Etwas wurde ungemein belastet -überlastet.
Dann schien das Gewicht des Baumes zu hoch für das schützende Feld zu sein. Es erlosch mit
einem letzten Flackern und Sprühen, und der Stamm senkte sich mit seinem ganzen Gewicht
direkt auf den Körper des gesichtslosen Teufels.
Ein tiefes Stöhnen wurde laut.
Verstummte wieder.
Landör und Hoschjar warteten atemlos ein paar Augenblicke, ehe sie hinüberliefen und sich
mit gebotener Vorsicht dem Teufel näherten, der nur noch mit dem Oberkörper unter dem
Stamm hervorschaute.
»Da! Seht nur, junger Ritter!« machte der Magier Landör aufmerksam.
Ein eisenharter Ast hatte das »Gesicht« des Teufels getroffen;
über die glatte Fläche zogen sich Sprünge wie bei einem angeknacksten Spiegel. Darunter
zeigte sich Bewegung.
Landör krümmte die Finger. Der Dolch glitt in seine Hand, er setzte die Spitze an und hebelte
die geborstene Platte auf. Dann griff er zu und entfernte die Reste wie die Eierschalen eines
Su-rath.
»Bei Kimiks Auge!« stöhnte er, als er sah, was ihm da entgegenblickte: Der Kopf eines
Insekts von tiefblauer Farbe.
271
Und es lebte noch!
Der junge Ritter sah sich von halbkugelförmigen Facettenaugen fixiert, die ihm Schauder über
den Rücken jagten. Kreatürliche Angst und tiefes Erschrecken durchströmten ihn.
Dann fühlte er nur noch Zorn.
Zorn, der sich brennend seinen Weg bahnte.
Er schwang die Streitkeule hoch über den Kopf, bereit, zuzuschlagen.
Der schreckliche Mund mit den sich schnell bewegenden Man-dibeln öffnete sich. »Ich werde
dich töten«, kam eine Stimme wie aus einem tiefen Gefäß, unterlegt von einer zweiten,
unverständlichen »Stimme«, die klang, als würde jemand mit einem spitzen Gegenstand über
eine Steinplatte kratzen.
»Das haben schon andere versucht«, antwortete Lander, »ohne Erfolg. Du wirst keine
Gelegenheit dazu bekommen. Tod allen Teufeln!«
Ein merkwürdiges Geräusch ertönte.
Abgehackt.
Stoßartig.
Wie... wie Lachen?
Der blaue Teufel lachte!
Landör schlug seine Streitkeule mit aller Wucht auf den Insektenschädel.
In diesem Moment erfuhren die beiden Gorm den Grund des Lachens. Seine Worte hatten nur
den Grund gehabt, sie davon abzulenken, daß er den Feuerstock aktivierte. Was er damit
bezweckte, blieb unklar, denn der blaue Teufel tötete sich damit nur selbst. Der Hitzestau
unter dem Baum zerkochte ihn förmlich. Landör und Hoschjar hechteten zur Seite weg, als
sich ein blaues Leuchten halbkugelförmig über die Stelle erhob und dann ringförmig wie eine
Welle über sie hinwegfuhr. Der Explosionsdruck riß Zweige und Blätter von den Bäumen, und
für Augenblicke erstarb jedes Geräusch im Wald, ehe das Gezeter und Geschrei der Vogelwelt
mit unverminderter Stärke erneut einsetzte.
272
Die Reste des umgestürzten Stammes brannten lichterloh. Hoschjar sprach einen Zauber und warf ein paar Samenkörner; aus den großen, trompetenförmigen Blütenkelchen eines benachbarten Baumes ergoß sich eine Flüssigkeit, die das Feuer erstickte. Wenig später stieg nur noch schwacher Rauch auf, der sich unter den Kronen der Bäume verteilte und sich auflöste. »Versteht Ihr, Meister Hoschjar, was diese blauen Teufel auf Külä suchen? Geht es nur um Nahrung?« Der Magier wiegte den Kopf. Seine roten Augen sahen nachdenklich auf die Brandstelle; von dem fremden Teufel war nichts mehr übrig. »Nein«, gestand er. »Zumindest nicht ausschließlich darum. Schade, daß ich keine Gelegenheit hatte, ihn näher zu untersuchen. Diese...«, er suchte nach den richtigen Worten, »diese Schutzrüstung, in der er gekleidet gewesen war, verrät mir allerdings, daß er und seinesgleichen eine andere Umgebung vorzuziehen scheinen.« »Wie meint Ihr das?« zeigte sich der junge Ritter verwundert. Hoschjar entfernte ein Insekt aus seinem Haupthaar. Er betrachtete es kurz, ehe er es zerdrückte. »Habt Dir des Nachts schon mal in den Himmel gesehen und Euch gefragt, was die vielen Lichter bedeuten, die dort zu sehen sind, wenn keine Wolken den Blick trüben?« Der Eremit und Ritter Landör hatten sich inzwischen daran gemacht, ihre Reitwürmer zu suchen, die, von der Explosion erschreckt, tiefer in den Wald gelaufen sein mußten. Sie waren bemüht, den Himmel, den Wald und die Umgebung in ihrer Nähe gleichzeitig im Auge zu behalten. »Es sind Sterne«, sagte der junge Ritter Landör verwundert. »So jedenfalls erklärten es mir die Hofastrologen meines Vaters.« »Was sind Sterne?« Schweigen. Schließlich sagte Landör. »Wegmarken am Himmel, damit wir auch in der Nacht nach Hause finden, wenn wir in der Fremde sind.« »Hmm«, brummte der Eremit. »Die Astrologen an Eurem Hof haben es nicht verdient, so genannt zu werden. Ich...« Er verstummte, weil in diesem Moment ein lautes Singen vernehmlich wurde und etwas Großes, Schwarzes über den Baumwipfeln dahinflog. »Ein fliegendes Auge der fremden Teufel«, sagte Landör alarmiert. »Offensichtlich hat man die Explosion registriert und kommt jetzt nachschauen, was vorgefallen ist. Ich habe einige dieser Exkursionen verfolgen können, als ich noch im fliegenden Berg im Kerker saß. Wir sollten uns ein Versteck suchen. Sie werden nicht lockerlassen, befürchte ich. Außerdem sind sie immer zu mehreren.« Wie auf ein geheimes Zeichen erschienen in diesem Moment zwei weitere fliegende Augen der blauen Teufel und begannen ihre Suchkreise zu ziehen. Das erste kehrte zurück und schloß sich ihnen an. »Sie werden landen und das Gebiet weitläufig absuchen«, verkündete der junge Adlige. Seine Stimme hatte einen leicht hysterischen Klang. »Gemach, junger Freund«, beruhigte ihn Hoschjar. »Sie werden uns keinesfalls aufspüren.« »Schnell, sagt, wie wollt Dir das vermeiden?« Aus einem der fliegenden Augen fielen dunkle Gestalten und schwebten zwischen den Bäumen auf den Waldboden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hoschjar jedoch schon eine kleine Kostprobe seines umfangreichen Könnens gegeben. Der Eremit hatte mit einem seiner speziellen Samenkörner in Minutenschnelle einen hohlen Baum um sie herum wachsen lassen. Stumm harrten sie in ihrem Versteck aus, bis sie sicher waren, daß sich die blauen Teufel zurückgezogen hatten. Dann machten sie sich wieder daran, ihre Reittiere zu suchen. Plötzlich blieb Hoschjar stehen und packte seinen Begleiter am Arm, was dieser einigermaßen verwundert registrierte. 274
»Wißt Ihr, Edler von Perth, woran mich die blauen Teufel erinnern?« »Ihr seht mich neugierig, Meister Hoschjar! Vermutlich werdet Ihr es mir gleich mitteilen.«
»Habt Ihr seinen Kopf gesehen? Die blauen Teufel sind Insekten. Versteht Ihr! Ins
Riesenhafte veränderte Insekten. Und was macht man mit Schädlingen? Man vernichtet sie«,
beantwortete Hoschjar sich seine Frage selbst. »Und ich, ich habe das entsprechende
Schädlingsvemichtungsmittel Junger Herr«, verkündete er triumphierend.
Jumir schloß: »Es ist nicht überliefert, auf welchem Weg das Insektenvernichtungsmittel, die
genveränderten Sporen, in die Nahrungskette der blauen Teufel gelangte. Daß sie infiziert
wurden, darüber berichtet die Legende. Auch darüber, daß nach recht kurzer Zeit der
fliegende Berg sich in den Himmel erhob und nie mehr gesehen wurde. Es ist weiter nicht
überliefert, wo Landör von Perth abgeblieben ist, aber der Eremit zog um die ganze Welt und
verkündete den Ruhm des jungen Ritters mit beredten Worten.
So wurde der Edle Landör aus der Provinz Perth zum größten Helden unserer Geschichte, und
der Eremit Hoschjar zum Begründer einer Glaubensgemeinschaft, der zufolge kein Gönn
einem anderen etwas tun darf, solange die Teufel vom Himmel kommen können. Hoschjars
Bewegung wurde so dominierend, daß sich unser Volk in einem langwierigen Prozeß der
Selbstfindung vor etwa 400 Jahren zu einer einzigen, planetenweiten Gesellschaft zusam
menschloß.
Wir heutigen Gönn können uns Nationalstaaten, wie sie bei euch Terranem noch immer
üblich scheinen, überhaupt nicht mehr vorstellen.«
»Eine faszinierende Geschichte«, bekannte Lee Prewitt, als Jumir schwieg.
»Wie alle guten Geschichten«, bestätigte Frederic Huxley. »Und vor allem, weil es sich dabei
keineswegs um eine Legende, sondern um wirkliches Geschehen handelt, nicht wahr, Jumir?«
»Ja«, erwiderte der Gönn. »Sie hat natürlich im Laufe der Zeit ihre Eigendynamik entwickelt,
hat Veränderungen erfahren, Ausschmückungen, Verzerrungen. Aber vor etwa 30, 40 Jahren
sind Astronomen in der Kongregations-Bibliothek von Tediruun darauf gekommen, daß die
Legende wahr sein und die Landung einer fremden Spezies aus dem All zum Kern haben
könnte. Letztendlich führte es dazu, daß wir ein Raumfahrtprogramm entwickelten, um
Gewißheit zu erlangen. Vor fünf Jahren schickten wir erstmals unbemannte Sonden auf die
Reise zu den nächstgelegenen Planeten - und fanden ausgerechnet hier, auf unserem
Nachbarplaneten etwas, das nicht natürlichen Ursprungs sein konnte.«
»Das Wrack!«
»Das Wrack«, bestätigte Jumir Lee Prewitts Vermutung. »Die Vorbereitungen zum ersten
bemannten Raumflug waren erst vor sechs Monden abgeschlossen. Dann machten meine
Gefährten und ich uns auf die lange Reise. Wir entdeckten das Wrack - und euch... und
erlangten die Gewißheit, daß es tatsächlich intelligentes Leben im All gibt.«
»Und was werdet ihr mit diesem Wissen anfangen?« kam Tantals Kunststimme aus dem
Translator.
»Uns auf eine sich rapide verändernde Zukunft einstellen«, erwiderte Jumir. »Nichts wird
mehr so sein, wie es vor unserem Abflug gewesen ist.«
»Was ist das?«
Ren Dhark drehte den winzigen Datenträger zwischen den Fingern. Es war ruhig in der
Zentrale der POINT OF - beinahe zu ruhig.
»Nichts«, sagte er. »Alles.«
276 Sein Freund Dan tippte sich an die Stirn. »Du redest, als hättest du von Shantons
Geheimvorräten genascht.« Er grinste, konnte seine innere Anspannung aber nicht
vertuschen. Auf seinem Kinn prangte ein verräterischer Fleck, der immer dann sichtbar
wurde, wenn er nervös war.
Insider wußten das.
Dhark war ein Insider. Keiner kannte Dan Riker besser - wahrscheinlich nicht einmal seine
Frau.
»Die Zeit des Redens ist vorbei«, erwiderte er. »Jetzt müssen Taten sprechen. Du weißt, was
wir mit Gisol verabredet haben. Wir sind die Lebensversicherung dieser Verzweifelten. Wenn
wir versagen...«
»... was aber nicht der Fall sein wird...«
»... werden die Zyzzkt den Tod von Abermillionen Pscheriden für Propagandazwecke
ausschlachten - soviel ist sicher.«
»So weit wird es nicht kommen«, versicherte Riker noch einmal im Brustton der
Überzeugung.
»Nein«, stimmte Dhark zu. »Aber dann muß gesichert sein, daß uns die Schiffe unserer
winzigen Flotte gehorchen - alle Schiffe. Und dafür ist der hier da...« Er hielt den
Datenspeicher hoch, der nicht größer und dicker als eine Münze war. »Wir werden sehen, ob
er alles enthält, was nötig ist.«
»Nötig wofür?«
Dhark sagte es ihm.
Die Häuser standen in Flammen. Rauch lag in der Luft, fetter, beißender Qualm.
Sie hatten die Nachtsichtgläser genommen und waren einen Hügel hinaufgestiegen, hinter
dem das Dorf lag.
Überall war Geschrei. Überall lagen Tote. Und überall dazwischen krochen Pscheriden, die
keine Kraft mehr hatten, sich aufrechtgehend in Sicherheit zu bringen.
Wobei es diese Sicherheit wahrscheinlich in weitem Umkreis nicht mehr gab.
Selbst wir sind in Gefahr, dachte Verriak. Sie werden uns...
»Da!« keuchte Kirrta. »Diese Bestien!«
Verriak folgte ihrem ausgestreckten Arm. Der Morgen dämmerte. Graues Licht schien aus
dem Boden zu kriechen. Die Sonne würde erst in einer guten Stunde am Horizont aufgehen.
Unten im Dorf bewegten sich schwerbewaffnete Zyzzkt mit beispielloser Brutalität. Verriak
wurde den Verdacht nicht los, daß sie das Dorf erst komplett mit schwach dosierten - bewußt
schwach dosierten - Lähmstrahlen bestrichen und danach erst gestürmt hatten.
So gut wie keine Gegenwehr schlug ihnen entgegen.
Was sie nicht hinderte, ihre Greueltaten zu begehen.
Mehr als einmal mußte Verriak Kirrta festhalten, weil sie Anstalten machte, sich über den
Hügelkamm zu schwingen und auf die Mörder zuzurennen.
Unbewaffnet, mit bloßen Fäusten.
Verriak besaß ihre einzige Waffe - aber sie war ein Spielzeug gegen das, was er in den Klauen
der Wimmelwilden entdeckte.
»Warum?« stieß Kirrta neben ihm hervor. »Warum tun sie das?«
Es ist ihre Art, lag es ihm auf der Zunge zu antworten. Aber er verkniff es sich. Statt dessen
sagte er: »Komm - laß uns gehen. Wir müssen sehen, daß wir uns in Sicherheit bringen. Hier
droht uns dasselbe Schicksal wie den Bewohnern von...«
Sie stieß ihn von sich. »Wir müssen ein anderes Fahrzeug finden. Eines, das uns schneller
nach Hause bringt zu...« Sie stockte. »Dort unten im Dorf sind Fahrzeuge, wie ich sie meine.
Mit dem Goover haben wir keine Chance, nach Pscheridorr zurückzukehren.«
Er rieb sich die Schulter. »Wer weiß, wie es dort aussieht«, seufzte er. »Vielleicht gibt es die
Hauptstadt bereits nicht mehr. Auf der Herfahrt brachen die Radiosendungen jedenfalls völlig
ab. Das kann daran liegen, daß die Wimmelwilden ein Störfeld akti
278 viert haben - aber es mag auch bedeuten, daß sie Pscheridorr bereits in Schutt und Asche
gelegt haben. Wenn sie dort ebenso rigoros vorgehen wie in dem Dorf da...«
Kirrta schien ihn gar nicht zu hören. Sie lag immer noch bäuchlings hinter dem Hügelkamm
und hielt nun wieder das Femglas vor die Augen gepreßt. Die Restlichtverstärkung half
immer noch, die Dinge dort unten klarer zu sehen.
»Sei kein Narr!« fauchte Verriak sie an.
»Verschwinde!« giftete sie zurück. »Ich brauche dich nicht. Ich schaffe es auch allein!«
Ein bitteres Lachen lag ihm auf der Zunge. Aber er wußte, daß er damit alles nur noch
schlimmer gemacht hätte.
»Was ist?« fragte sie nach einer Weile. »Wolltest du nicht gehen?«
»Ich bleibe«, sagte er.
»Und warum?«
»Das«, erwiderte er dumpf, »würdest du, fürchte ich, nicht verstehen.«
13. Der Strom der Pscheriden, die unter die Evakuierungskriterien fielen, riß in den folgenden beiden Tagen erst zum Abend hin ab. Die geheimen Basen, in denen die Archen entstanden waren, lagen alle gut getarnt unter der Ebene vor Pscheridorr - und dorthin ging die Reise all derer, die nach dem Willen der Obrigkeit die Freiheit behalten und überleben sollten. Obwohl sie im schlimmsten Fall ein planetengroßes Gefängnis gegen eines von der Größe ihrer Schiffe tauschen -werden, dachte Gisol. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Verständnis, das er durchaus für die Belange der Pscheriden aufbrachte, und einer wachsenden Skepsis. Nach seiner Einschätzung bot Om kaum eine Zuflucht, die von den Zyzzkt nicht binnen kürzester Zeit aufgespürt werden konnte. Mittlerweile waren die Ortungstechniken so stark verfeinert, daß Gerüchte umgingen, die Zyzzkt hätten längst jeden Planeten innerhalb Oms mit für Sauerstoffatmer idealen Lebensbedingungen katalogisiert. Ein weiteres Gerücht besagte, daß sie ein ausgeklügeltes Wamsystem auf all diesen Welten installiert hatten, das sofort ansprach, wenn sich ein Raumschiff näherte. Falls dem so war, würden die Besatzungen der Archen entweder gezwungen sein, die Schiffe als langfristigen Lebensbereich zu akzeptieren - oder sehr rasch von den Zyzzkt wieder eingefangen werden. Im günstigsten Fall... Wenige Stunden vor Abschluß der Evakuierung erfuhr Gisol von General Gutter, daß sich die militärische Führung selbst nicht an Bord der Archen, sondern in die letzten intakten pscheridischen Kampfraumer begeben würde. Gutter lud ihn ein, ihn dort zu besuchen. Er hatte einen der insgesamt nur zehn existierenden Kampfraumer zum Flaggschiff der Eskorte erklärt, die die Archen auf ihrer Reise begleiten sollten. ^80
Gisol, der zuvor überlegt hatte, ob er mit seinem Flash in die immer noch um die Hauptstadt tobenden Kämpfe eingreifen sollte, sagte zu. Gutter gab ihm die Koordinaten, und der Worgun flog einen der schutzschirmgesicherten Hangars an. Nachdem er sich identifiziert hatte, wurde ein Fenster in den Schirm geschaltet -nur für einen Sekundenbruchteil, aber länger benötigte Gisols Hash für die Passage auch nicht. Er parkte in der Nähe der geöffneten Schleuse des Schlachtschiffs, stieg aus... ... und war regelrecht erleichtert, den Flash, in dem er nicht al-teine gekommen war, verlassen zu können. Alsop hatte ihn begleitet. Gisol hatte die Box nicht wieder geöffnet, seit er die verstümmelten Überreste des terranischen Cyborgs darin verstaut hatte. Er spürte die Nähe des Toten durch die Wände des Gefäßes hindurch, und es war mit die unangenehmste Erfahrung, die er je gemacht hatte. Gleichzeitig aber lehnte er es ab, die sterblichen Überreste für die Dauer seines Aufenthalts bei den Pscheriden anderswo zu deponieren. Er wollte nicht, daß sie verlorengingen. Er hatte Alsop ein Versprechen gegeben. Und ein Versprechen bedeutete für einen Worgun mindestens so viel wie für einen Menschen. Nachdem er den Flash verschlossen und gesichert hatte, ging Gisol mit langsamen Schritten auf die offene Schleuse zu. Er erkannte die dort wartende Gestalt schon aus der Entfernung. Gutter ließ es sich offenbar nicht nehmen, ihn persönlich in Empfang zu nehmen. Das Schiff war wesentlich kleiner als die Archen, dennoch strahlte es etwas aus, was Gisol mit traumwandlerischer Sicherheit selbst bei der fremdartigsten Konstruktion eines Raumers zu erkennen imstande war: Macht. Sie sind nicht so hilflos, wie ich anfangs glaubte, dachte er. Sie hatten nur nie Gelegenheit, in einem Maße aufzurüsten, wie es nö-^8 gewesen wäre, um den Zyzzkt wirklich gefährlich werden zu können. Tausend dieser Schiffe, und die ewigen Aggressoren hätten sich zumindest in acht nehmen und dreimal überlegen müssen, ob dieser Planet ihnen die Verluste "wert gewesen wäre, die sie dann zu erwarten gehabt hätten. Es war reine Spekulation, aber es tat ihm gut, den Pscheriden diese mit einem großen »Wenn« versehene Stärke zuzubilligen. »Willkommen«, sagte Gutter. Aus der Feme tönte unablässig Lärm. Die Front war zurückgedrängt worden, aber immer noch ungemütlich nah. Der General zeigte sich davon jedoch nicht beunruhigt. »Alles läuft nach Plan und im Zeitrahmen«, erklärte er Gisol unaufgefordert. »Kommen Sie - kommen Sie, bitte.« Er dirigierte den Worgun in seine private Kabine an Bord der PSCHERIDORR. Sie bewegten sich durch Gänge aus Stahl und begegneten einem Heer von Besatzungsmitgliedem, denen allen große Anspannung anzumerken war. Auch sie würden Pscherid vielleicht nie mehr wiedersehen. Auch sie besaßen eine hohe Zahl von Blutsverwandten und Freunden auf dem Planeten, die keinen Platz an Bord der Archen gefunden hatten und zurückbleiben würden. Auch die PSCHERIDORR bestärkte Gisol in der Ansicht, daß die Pscheriden weit weniger rückschrittlich waren, als er es noch bis vor kurzem angenommen hatte. Wenige Jahrzehnte ungestörter Entfaltung hätten ihnen vermutlich genügt, ihre Kultur hin zu einem gefestigten Stemenreich zu entwickeln... ... aber genau diese Aussichten hatten sie vermutlich zum Ziel der Zyzzkt gemacht. Ihre Klugheit, ihre Ambitionen waren ihnen zum Verhängnis geworden. Die Zyzzkt duldeten keine selbstbewußten, selbstbestimmten Reiche innerhalb Oms. Sie sahen sich als einzige legitime Macht und bekämpften jeden potentiellen Rivalen, wo immer sie auf ihn trafen. Gutters Kabine war überraschend gemütlich eingerichtet und gab mehr über das Innenleben des Generals preis, als er bei seinen offiziellen Auftritten auch nur ahnen ließ. 282 'in sentimentaler Knochen, urteilte Gisol nach einem kurzen Blick. Unglaublich, was er hier an Erinnerungen angehäuft hat. Das Schiff muß ihm schon länger als Kommandostelle dienen. Alles hier... riecht nach Museum. Es wurde nicht erst gestern hierher verbracht. »Erstaunt?« fragte Gutter und bot Gisol einen Platz auf einer abenteuerlich geformten
Sitzgelegenheit an, die sich wider Erwarten als ausgesprochen bequem erwies.
Gutter deutete Gisols Mimik richtig. Ja, er war überrascht - aber auf positive Weise.
Mit einer Geste wies er auf verschiedene Gegenstände, die in vitrinenartigen Gestellen lagen,
punktbeleuchtet. »Woher haben Sie all das? Nicht von Pscherid, oder?«
»Nein. Ich war ja nicht immer Vollzeitsoldat«, antwortete Gutter. »Ich meine: Die Situation
war nicht immer so, daß ich rund um die Uhr zur Verfügung stehen mußte. Man entwickelt
Leidenschaften - das Töten gehörte nie dazu, auch wenn Sie das vielleicht nicht glauben mögen. Das Töten ist ein schmutziges, manchmal aber notwendiges Geschäft... wohingegen das hier...« er holte weit mit den Armen aus »... zwar auch viel mit Tod zu tun hat, aber keinem, bei dem ich oder ein anderer Pscheride die Hände im Spiel hatte.« Er seufzte. »Artefakte. Ich sammele Artefakte von anderen Welten Oms. Welten, die ich selbst besuchte oder von denen ich über die Verkäufer der Gegenstände erfuhr, die mich so faszinierten, daß ich sie erwerben mußte... haben Sie jemals einen ähnlichen Drang verspürt? Diese Faszination des völlig Fremden, das man schon spürt, wenn man es in Händen hält. Wenn man die Augen schließt und sich vorzustellen versucht, welche Bedeutung der Gegenstand, den man berührt, einst hatte...« Gisol war regelrecht perplex. »Sie sind ja ein richtiger Romantiker, General!« Er lächelte schwach. »Im Nebenberuf. - Etwas zu trinken?« Gisol nahm das Angebot dankend an. Kurz darauf nippte er an 283 einem schweren Kristallglas, in dem sich ein zähes, sirupartiges Getränk befand, von dem Gutter behauptete, daß es sinneserwei-temde Inhaltsstoffe besäße, aber keine Droge sei. Gisol blieb skeptisch, weil diese Behauptung aus seiner Sicht ein Widerspruch in sich war. Mit äußerster Vorsicht nippte er an seinem Glas... und war überrascht, als er die erfrischende, einfach nur unglaublich wachmachende Wirkung schon beim ersten Tropfen verspürte, der seine Lippen benetzte. »Keine Droge?« Gutter verneinte. »Ein traditionelles Erfrischungsgetränk. Es wird aus Krautern und der Milch des Vognuls hergestellt. Das Vognul ist ein Raubtier, das vor langer Zeit in freier Wildbahn lebte, heute aber nur noch in speziellen Einrichtungen gehalten wird - um seine Milch zu erhalten. Sie ist nicht synthetisch herzustellen. Alle diesbezüglichen Versuche scheiterten, obwohl die Zusammensetzung natürlich bis aufs letzte analysiert wurde... beinahe bis aufs letzte, wie ich einschränken muß. Denn etwas fehlt der synthetisierten Milch ganz offenbar eben jene vitalisie-rende Wirkung, die Sie bei Ihrem Getränk feststellen können. Unsere Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel...« Er stockte. »Wie Sie merken, könnte ich mich stundenlang über vieles unterhalten, das nichts mit Kriegshandwerk zu tun hat. Leider ist dafür keine Zeit.« »Wann werden wir aufbrechen?« fragte Gisol, der immer wieder neue, faszinierende Objekte in der Kabine entdeckte. Hier waren Exponate aus mindestens hundert Welten gelagert. Ein Museum, wahrhaftig... »In weniger als drei Stunden. Die Archen melden das Erreichen ihrer vorgesehenen Kapazitätsgrenze. Wir werden also zum abgemachten Zeitpunkt starten können. Pünktlich. Niemand weiß besser als ich, was davon abhängt, das Zeitfenster zu treffen.« »Korrekt«, sagte Gisol. »Dann wird es jetzt also ernst. Noch sehr viel ernster als bisher. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Volk, daß das Unternehmen gelingt, Gutter. Daß alle Anstrengung am Ende nicht 284 •nst gewesen ist...«
»Das klingt nicht sehr optimistisch, Hoher.«
Gisol nickte. »Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, das
i sein. Der Planet ist von Zyzzkt-Verbänden eingeschlossen, von mehreren hundert
Ringschiffen. Auch wenn sie nicht im Vollbetriebsmodus arbeiten, muß beim Start der
Archen alles, was wir vorgesehen haben, um den Ring der Belagerer zu durchbrechen,
reibungslos funktionieren. Alles, General. Und wer wüßte besser als Sie, daß Pläne selten...
eigentlich nie... bis aufs i-Tüpfelchen so umsetzbar sind, wie sie auf dem Papier aussehen...«
»Sie machen mir Mut, Hoher.« Gutter wirkte nicht im mindesten niedergeschlagen. Es klang
auch nicht ironisch, als er noch einmal bekräftigte: »Sie machen mir wirklich Mut - und Sie
werden überrascht sein, wie perfekt alles abläuft.«
Gisol nickte. »Ich hätte nichts dagegen. Wir haben zwanzig Ringschiffe zur Verfügung, um
einen Korridor freizukämpfen. Drei Stunden... das ist verdammt kurz. Sind Sie sicher, daß...«
In diesem Augenblick heulte ein Alarmton durch die PSCHERI-DORR.
Und im nächsten Moment schlug auch schon draußen, wo der H Flash parkte, etwas ein.
Eine Bombe.
Eine neue Heimtücke der Zyzzkt!
Sie hatten so lange gewartet, bis sie keine Wimmelwilden mehr im Dorf wahrgenommen hatten. Und auch danach hatten sie noch eine Zeitlang gewartet - darüber war es Nacht geworden und wieder Tag, Nacht und wieder... »Ich gehe jetzt«, sagte Kirrta. Sie hatte sich wieder einigermaßen gefangen, trat ihm nicht mehr so aggressiv gegenüber wie noch bei ihrer Ankunft. Sie hatten wieder miteinander geredet - auf dem Höhepunkt ihres Aus 285 einanderdriftens hatten sie sich plötzlich und auch für sie beide völlig unerwartet aufeinander
zubewegt.
Immer in der Angst, von den Zyzzkt aufgespürt zu werden, waren sie enger zusammengerückt
- ohne diese Nähe als etwas Furchtbares zu empfinden wie zuletzt im Tauchboot.
»Alles wird gut«, hatte Kirrta letzte Nacht geflüstert, als sie sich ganz nahe gekommen waren.
So nah wie schon lange nicht mehr.
»Ja«, hatte er erwidert, »alles wird gut.«
Und es auch geglaubt. Gehofft...
Er blickte den Hang hinunter, wo die Brände erloschen waren und von wo der Wind den
Geruch von erkalteter Asche herübertrug.
»Nein«, sagte er entschieden. »Wir gehend
Sie richteten sich auf und stiegen vorsichtig nach unten. Hie und da ragten die Reste von
Häusern empor - wie verkohlte Skelette. Überall verstreut lagen Leichen. Insgesamt aber
schienen es Ver-riak erstaunlich wenige Opfer zu sein. Er hatte mit mehr gerechnet.
Vor ihnen stoben Schwärme von Fliegen auf - aber nur kurz, dann senkten sie sich wieder
nieder.
Verriak haßte Xam-Fliegen. Sie lebten vom Tod. Wie die Zyzzkt. Und auch wenn sie nicht
mit demselben Vorsatz handelten, wenn sie ihre Nahrung nicht selbst umbrachten, war der
Ekel vor ihnen doch unbeschreiblich.
Vielleicht, weil sie dieses Sekret absonderten. Dieses Sekret, das die Leichen von Tieren oder
Pscheriden (die Xam machten keinen Unterschied) wie ein grünschillemder Film überzog und
den Verwesungsprozeß noch beschleunigte.
Gleichzeitig legten die Xam ihre Eier in das faulende Heisch...
»Bist du sicher, daß sie fort sind?«
Kirrtas Stimme zitterte. Hier unten, in unmittelbarer Nähe zu den stummen Zeugen der
zyzzktschen Grausamkeit, wirkte alles noch viel bedrückender, viel erschütternder als vom
Hügel aus betrachtet.
»Du hast selbst gesehen, daß sie abzogen.«
286 Vielleicht war es nur... ein Täuschungsmanöver.« »Wozu? Um uns zwei armseligen Gestalten irrezuführen?« Er winkte ab. »Wenn sie von uns gewußt hätten, hätten sie uns auch bekommen und den Garaus gemacht. Unser Glück war, daß sie sich mit den Bewohnern des Dorfes zufriedengaben, das sie schon vor unserer Ankunft mit Lähmstrahlen beschossen haben müssen. Dadurch war auszuschließen, daß jemandem die Flucht über die Dorfgrenze hinaus gelang. Andernfalls hätten sie mit Gewißheit auch die nähere Umgebung in Augenschein genommen, und dann...« ... wären wir jetzt nicht hier und würden uns darüber unterhalten.« »Genau.« Sie hielten auf den Gleiter zu, der am Dorfrand stand und der so gut wie keinen - zumindest keinen äußerlichen - Schaden davongetragen hatte. Warum die Zyzzkt ihn ungeschoren gelassen hatten, war ein Rätsel, denn ansonsten hatten sie nur verbrannte Erde hinterlassen. »Das gefällt mir nicht«, sagte Verriak. »Je näher wir dem Ding |P kommen, desto weniger gefällt es mir.« Nicht einmal Kirrta widersprach, obwohl der Gleiter der Grund war, weshalb sie so lange auf dem Hügel ausgeharrt hatten. »Eine Falle?« fragte sie. »Kann sein.« »Du meinst, sie könnten ihn präpariert haben?« »Es würde zu ihnen passen«, sagte er. »Oder?« »Wie wollen wir es herausfinden, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen?« »Überhaupt nicht. Uns bleibt nur die Wahl, das Risiko einzugehen - oder es sein zu lassen.« »Dann werde ich dieses Risiko eingehen«, sagte Kirrta. »Ohne mich wärst du schon umgekehrt, zurück am See.« »Wir werden es so halten wie oben auf dem Hügel«, erwiderte 287 »Und wie?«
»Zusammen«, sagte er. »Wir werden es zusammen riskieren.«
In dem Moment, als sie sich in Bewegung setzten, bemerkte Verriak etwas aus den
Augenwinkeln. Auch... Bewegung.
Er hielt inne, dann stieß er Kirrta zu Boden, wirbelte herum -und richtete den Lauf der
lächerlichen kleinen Waffe auf einen...
Verriak und Kirrta trauten ihren Augen nicht.
... Pscheriden!
Verriak ließ verblüfft die Waffe sinken.
Ringsum tauchten mehr und mehr zerlumpte Gestalten auf - wie aus dem Nichts. Manche
hatten Gliedmaßen verloren, und die amputierten Stellen, die Stümpfe, sahen nur notdürftig
versorgt aus.
Verriak begriff rasch, daß es sich um Dorfbewohner hapidelte. Sie mußten sich vor den
Zyzzkt versteckt haben - aber wo? Wo, daß die Wimmelwilden sie nicht gefunden hatten?
»Wer seid ihr?«
Ein Mann war vorgetreten. Er hob beide Hände und signalisierte, daß er unbewaffnet war.
»Wie heißen Sie?« fragte Kirrta. ;
Er beäugte sie mißtrauisch. »Tariek - und ihr?«
»Das ist Verriak, mein Mann - ich bin Kirrta.«
»Was tut ihr hier? Wißt ihr nicht, daß... ?«
Verriak blickte besorgt in die Richtung, aus der immer noch Kampflärm drang. »Führt uns in
euer Versteck. Reden wir dort weiter. Hier scheint es mir zu gefährlich...« Beiläufig
registrierte er, daß sich eine der zerlumpten Gestalten dem Gleiter näherte. Vielleicht der
Besitzer.
Damit wäre dein schöner Plan dahin, Kirrta, dachte Verriak. Er bedauerte es nicht. Fast war
er erleichtert. Die Dörfler, einfache Bauern, würden den wertvollen Gleiter nicht hergeben,
niemals -für kein Geld der Welt.
Tariek schaute an Verriak und Kirrta vorbei und rief: »Laß das, Nekron! Komm zurück -
dafür ist später noch...«
Der Rest seiner Worte erstarb ihm auf den Lippen.
288 Der Pscheride Nekron hatte die Einstiegsluke des großen Glei-ers geöffnet, und sofort
entwich... ja, was? Es erinnerte an die
faustdick, und es hatte frappierende Ähnlichkeit mit der Schädelpartie eines Zyzzkt.
Und es besaß Beine.
Nein, korrigierte sich Verriak - es bediente sich einer anderen Methode der Fortbewegung,
wie eine Raupe. Der metallisch schimmernde Körper kontrahierte und extrahierte in
blitzschnellem Wechsel. Und ebenso blitzschnell huschte ein jedes der Objekte auf die
Pscheriden zu.
Als Erstes erwischte es denjenigen, der den Gleiter aufgemacht hatte. Und diejenigen, die
Zeugen des Geschehens wurden, wußten danach, was auch ihnen blühte.
Wenn sie nicht noch schneller als die Metallbiester waren.
Der Pscheride am Gleiter hatte das von ihm freigesetzte Grauen zunächst stumm vor
Schrecken beobachtet. Doch jetzt lösten sich erste Schreie aus seinem Mund - abgehackt, als
presse sich immer wieder eine unsichtbare Hand vor seine Lippen. Dazu hüpfte und vollführte
er einen grotesken Tanz, dessen Ursache Verriak erst bei genauem Hinsehen erkannte.
Eines der Metallgeschöpfe hatte sich an ihm festgeklammert, ihn entweder angesprungen oder
war an ihm emporgeklettert -schneller, als er es hatte abwehren können.
Und jetzt... jetzt war es überhaupt nicht mehr abzuschütteln, hatte sich mit irgend etwas an ihn
geheftet, nicht nur an die äußere, zerlumpte Kleidung, sondern durch deren Stoff hindurch.
Stacheln? Widerborsten?
Ganz gleich wie es seinen Halt wahrte, die meßbare Wirkung war, daß es sich nicht mehr
lösen ließ, egal was der Unglückliche versuchte.
»Warte!« rief Verriak. Er wollte auf den Pscheriden zueilen, aber Kirrta hielt ihn zurück.
»Laß! Oder willst du, daß es dir so ergeht wie ihm?« Sie zeigte
289 auf den Bedrängten und dann auf den Strom von Biestern, der sich rasend schnell auf sie zubewegte. Auf sämtliche Bewohner der Siedlung! Verriak zielte mit seiner Handwaffe und nahm das vorderste Metallwesen aufs Köm. Der erste Schuß, den er abfeuerte, ging fehl, riß nur eine Furche in den Boden und schleuderte Tropfen des verflüssigten Kunststoffs, aus dem der befestigte Untergrund bestand, gegen die heranrückenden Biester.
Die sich davon nicht aufhalten, nicht einmal beeindrucken ließen. Der nächste Schuß aus der Laserwaffe traf. Das Zielobjekt wurde in rötlichen Widerschein gehüllt. Es sah aus, als würde es sich langsam auflösen. Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Es stabilisierte sich urplötzlich wieder und reflektierte den anhaltenden Strahl zurück in den Biaster, den Verriak in seiner Faust hielt! Mit einem lebensrettenden Impuls schleuderte er ihn weit von sich. Er explodierte noch in der Luft. Instinktiv warfen sich die Pscheriden, die es beobachtet hatten, zu Boden. Eine Druckwelle und Splitter pfiffen über sie hinweg, verletzten aber wie durch ein Wunder niemanden. Sofort rappelte sich Verriak wieder hoch und half auch Kirrta auf die Beine. Seinen entschuldigenden Blick erwiderte sie mit einem Ausdruck, der ihn tröstete. Du konntest es nicht ahnen... Als Verriak sich umsah - und im gleichen Augenblick registrierte, daß Nekrons Schrei verstummt war - bemerkte er, daß es doch ein Opfer gegeben hatte. Der befallene Pscheride war von einem Splitter der explodierten Waffe in den Hals getroffen worden, taumelte haltlos - und fiel in diesem Augenblick erschlafft zu Boden. Geschockt stand Verriak da.
In diesem Moment rief Tariek: »Folgt mir! Schnell!«
Kirrta faßte ihn am Arm und zog ihn mit sich hinter Tariek her, der bereits mit den anderen,
ohne länger zu warten, vorausgeeilt war. Verriak folgte wie eine willenlose Marionette.
290 »Wie konnte das passieren?!«
Gutter war aufgesprungen, durchquerte mit raumgreifenden Schritten die mit Artefakten
vollgestopfte Kabine und aktivierte einen Tischbildschirm. Binnen weniger Sekunden war er
als autorisiert erkannt worden, sich in die taktischen Rechner des Schiffes einzuklinken -
weitere Sekunden später erschien auf dem kleinen Monitorfeld eine gestochen scharfe
dreidimensionale Wiedergabe der Außenwelt. Durchlaufen wurde das Bild von endlosen
Schrift-und Zahlenkolonnen, die Aufschluß über das Geschehen gaben.
Gisol war hinter Gutter getreten und brauchte dessen Erklärungen nicht mehr abzuwarten.
Inzwischen beherrschte er die Sprache der Pscheriden perfekt.
Und beglückwünschte sich zu seiner Vorsichtsmaßnahme, die den Rash vermutlich gerettet
hatte.
Im unmittelbaren Umfeld warf die Piste Blasen. Hohe thermische Kräfte hatten auf sie
eingewirkt.
»Was...?« Mehr als dieses Wort verließ nicht Gutters Mund. Er lehnte sich schwer gegen die
Kante des Tisches, der im Boden verankert war.
»Sofort die Schildfrequenz modifizieren lassen!« riet Gisol ihm.
Gutter drehte halb den Kopf. »Wir könnten tot sein«, sagte er. Es klang nicht geschockt, nur...
erstaunt. »Es muß eine Art femgesteuerte Bombe gewesen sein, der es irgendwie gelungen ist,
den Schutzschirm zu durchdringen, oder...«
»Oder?«
»... oder könnte es sein, daß sie mit Ihnen hereingekommen ist, Hoher? Daß sie den winzigen
Moment abgepaßt hat, als wir die Lücke schalteten...? Nein«, gab er sich sofort selbst die
Antwort, »nein, das ist Unsinn. Sie haben es geschafft, den Schirm zu knakken. Sie...«
Über ein mitgeführtes Gerät nahm Gisol Verbindung zum Flash
291
auf, zur dortigen Gedankensteuerung.
Analyse! verlangte er.
Die lag Augenblicke später vor.
Gisol wandte sich wieder an Gutter, der mit der Schiffsführung kommunizierte. Aber nur
kurz. Dann wandte er sich wieder Gisol zu.
»Wie ich es mir gedacht habe«, sagte der Worgun. »Ein vermutlich femgesteuertes Geschoß,
das von einem eigenen Schutzschirm umgeben war. Der Hyperkalkulator an Bord des Flash
stimmt mit mir überein, daß dieser Schild genau auf die Energiefrequenz des Schirms der
PSCHERIDORR abgestimmt war und ihn so ungehindert durchdringen konnte... die Zyzzkt
lernen schneller, als uns lieb sein kann. Die andere Möglichkeit wäre die,
daß sie Quellen angezapft haben, die sie mit Informationen versorgen...«
»Verräter?« fragte Gutter leichenblaß.
»Es ist nur eine Möglichkeit. Andererseits traue ich den Zyzzkt zu, daß sie auch ohne
Unterstützung in der Lage sind, einen Schild zu knacken. Damit sieht die Lage schon wieder
ganz anders aus. Muß ich an meine pessimistische Prognose erinnern? Sie könnte nun
schneller eintreten, als uns lieb ist. Wenn wir nicht aufpassen, wird kein einziges Schiff den
Planeten verlassen. Geben Sie sofort Warnung an alle anderen Kampfraumer und die Archen
heraus:
Sie müssen ihre Schilde modifizieren. Ich helfe Ihnen dabei. Wir haben nicht einmal mehr
drei Stunden Zeit dazu - es kommt auf jede Minute an!«
»Worauf wollen Sie hinaus. Hoher?«
»Darauf, daß ich diesen Angriff für einen Test halte.«
»Test?« »Ja, und er ist den Zyzzkt gelungen. Was sie darin bestärken wird, nun unverzüglich zum
wirklichen Angriff zu blasen.«
»Sie meinen, sie werden jedes unserer Schiffe mit diesen neuartigen Fernlenkwaffen
attackieren?«
»Wollen wir untätig abwarten, ob es soweit kommt?«
292 Gutter verneinte. Er straffte sich. Dann erteilte er Befehle, die der veränderten Situation Rechnung trugen. Das Geräusch war unheimlich. Das Geräusch, mit dem die Biester ihnen folgten.
Sie schabten über den Belag der Straßen. Sie klackerten mit irgendwelchen unsichtbaren
Extremitäten, viel zu winzig, um erkennbar zu sein.
Im Laufen drehte sich Verriak mehrmals um...
... und sah, wie ihr Vorsprung rapide zusammenschmolz.
»Dort!«
Verriak folgte Kirrtas Ruf und sah gerade noch Tariek in einem Gebäude - der Architektur
nach zu urteilen ein Versammlungshaus - verschwinden. Er hatte die anderen Dörfler vor sich
hergetrieben und quasi die Nachhut gebildet, sah man von Verriak und Kirrtaab.
Das Paar mobilisierte noch einmal alle Kräfte und legte an Tempo zu.
Wenig später erreichten sie die Öffnung, warfen sich über die Schwelle und hörten, wie hinter
ihnen die Tür zugeschlagen wurde.
Sie blieben stehen.
Tariek stand neben der Tür und aktivierte ein elektronisches Verriegelungssystem. Das
Knacken, mit dem Bolzen aus dem Türblatt in den Rahmen sprangen, erinnerte an das
Klackem der Verfolger.
Die Tür bestand aus robustem Kunststoff, dennoch schien ihr Tariek zu mißtrauen.
»Weiter!« rief er den beiden zu - und erst jetzt bemerkten sie, daß sie allein mit dem Dörfler
in einem Vorraum standen. Die anderen hatten sich offenbar tiefer ins Gebäude
zurückgezogen. »Los! Los!«
293 Verriak konnte sich nicht von der Tür losreißen. Irgend etwas dort faszinierte ihn.
Und da bildete sich auch schon ein winziges Loch, das rasch größer wurde. Eine Art
Beißwerkzeug wurde sichtbar, und dann begriff Verriak, wie sich das Biest zuvor an Nekron
festgehalten hatte...
Kirrta gab einen erstickten Schrei von sich.
Er warf sich herum und rannte gemeinsam mit ihr hinter Tariek her. Durch einen kurzen Flur,
der in einen weiteren Raum mündete, der sich nicht verschließen ließ, und weiter in den
nächsten Gang, das nächste Zimmer...
... bis Tariek stehenblieb.
Abrupt.
Mitten im Raum.
Verriak und Kirrta schlössen auf, während aus der Richtung, aus der sie gekommen waren,
schabendes Geräusch anschwoll.
Sofort fiel Verriak auf, daß der kunstvoll verzierte, aus farbigen Steinchen zusammengesetzte
Boden überall naß glänzte. Als hätte jemand einen Behälter voll Wasser ausgeschüttet.
Wasser... es war geruchlos und klar wie reines Brunnenwasser...
»Ah...« sagte Tariek. »Die anderen haben es schon vorbereitet...«
Er bückte sich und berührte eine bestimmte Stelle des mosaikverzierten Bodens. Eine Öffnung
bildete sich. Treppenstufen wurden sichtbar. Alles war matt erhellt.
Es bedurfte keiner Aufforderung. Verriak ließ Kirrta den Vortritt, dann folgte auch er. Tariek
harrte noch kurz aus. Er hatte etwas aus einer Tasche seiner Kleidung gezogen. Etwas, das er
plötzlich weit von sich schleuderte. Dann sprang er die Stufen hinab.
Verriak und Kirrta sahen über der Öffnung in der Decke eine Stichflamme aufleuchten - dann
schob sich bereits wieder die Platte des getarnten Zugangs davor.
Tariek trat zu ihnen und sagte: »Wir wollen hoffen, daß es etwas
294 nützt.« Sie stiegen tiefer hinab.
Bis sie das befestigte Gewölbe erreichten, in dem die anderen mit bangen Gesichtern
warteten.
Verriak begriff, daß sie sich hier bereits vor den Wimmelwilden verkrochen hatten. Überall
lagen Essenreste herum und leere Trinkbehälter.
Er tauschte einen Blick mit Kirrta, setzte sich mit ihr auf den Boden und zog sie eng an sich
heran. Sie zitterte. Und er auch, wie er erst jetzt feststellte.
Seine Gedanken wanderten zurück, und das Bild der Tür stieg wieder in seinem Bewußtsein
empor.
Die Tür, durch die sich die Metallbiester gefressen hatten.
Würden sie ihnen auch hier herunter folgen?
Er lauschte angespannt in die Stille und glaubte, ein Klackem zu hören...
14. »Sie kommen!«
»Nein... nein!«
»Doch. Ich kann sie hören. Genau hören. Verriak, belüg mich nicht. Du hörst sie doch auch,
oder?«
Er war nicht in der Lage, es länger zu leugnen. Er senkte den Kopf. »Ja... ich glaube. Aber...«
»Tariek!«
Tariek reagierte nicht auf ihren Zuruf. Er stand etwas entfernt inmitten einer Gruppe von
Dorfbewohnern, die heftig, aber leise aufeinander einredeten. Zu leise, um zu verstehen,
worum genau es ging. Daß die freigesetzte Gefahr, diese unglaublichen Metallbiester, das
Thema waren, stand außer Zweifel.
»Wir müssen fliehen«, drängte Kirrta ihren Mann.
»Und wohin?« fragte Verriak. Er lachte, aber dieses Lachen entsprang purer Verzweiflung. /
»Du hattest recht«, hauchte sie. »Wir hätten zum Boot zurück sollen. Wir hätten abtauchen
und in die Tiefe zurückkehren sollen. Dort unten hätte uns niemand behelligt. Unsere Vorräte
hätten noch Wochen gereicht. Aber ich... ich bin schuld, wenn wir jetzt sterben!«
»Niemand ist schuld - außer den Wimmelwilden! Diese Bestien!«
Tariek kam zu ihnen. »Wir haben Waffen«, sagte er. »Aber wir wissen nicht, ob wir sie
einsetzen sollen. Wir bringen uns damit selbst in Gefahr.«
»Was für Waffen?«
Er beschrieb sie Verriak. Dieser riß die Augen auf vor Verblüffung. »Woher habt ihr die?«
Tarleks Offenheit steigerte sein Staunen noch. Er erzählte in knappen Sätzen, daß sie sich
nicht wirklich als Bauern ihren Lebensunterhalt verdient, sondern in Wirklichkeit vom Dorf
aus
296 rfälle in die nähere Umgebung gestartet und andere Siedlungen überfallen hatten. Dabei waren
die Ffaar-Schocker zum Einsatz gekommen.
Ffaar-Schocker!
Nicht nur Kirrta, auch Verriak war schockiert über die Skrupel-losigkeit des Mannes, den er
vor Sekunden noch für einen harmlo-sen Bauern gehalten hatte.
»Dir habt... getötet? Andere Pscheriden? Nur um euch zu berei-fchem?«
Tarleks Mund war nur ein Strich. Er hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Schließlich teilte
sich der Mund wie eine Wunde. »Ihr müßt euch in den äußersten Winkel des Kellers
zurückziehen - zu den Frauen und Kindern. Meine Männer und ich werden diese Dinger
erwarten! Wir hatten gehofft, sie mit dem Feuer von unserer Spur ablenken zu können - aber
sie sind unglaublich.«
»Du glaubst, sie können uns wittern?« fragte Verriak nervös.
»Genau das. Und jetzt geht!«
Verriak schob Kirrta in die angegebene Richtung, blieb selbst aber noch bei Tariek stehen.
»Wieso glaubst du, ihnen mit den Ffaar-Schockem beikommen zu können?«
»Glauben!« Tariek machte eine abfällige Geste, während er eine der Waffen, von denen er gesprochen hatte, auffing - ein anderer hatte sie ihm zugeworfen. Ein nun offenstehender Wandschrank, der die ganze Zeit über von der Gruppe verdeckt gewesen war, wurde nun sichtbar. Ein ganzes Arsenal von Handwaffen, Gewehren und Granaten befand sich darin. Ein Blick genügte, um Verriak davon zu überzeugen, daß die Schocker hier auf dem engen Raum die einzigen Waffen waren, die überhaupt eingesetzt werden konnten - und auch diese nur unter Vorbehalt. Laser wären noch in Frage gekommen. Aber sie hatten alle gesehen, was das Biest, das Nekron zum Verhängnis geworden war, mit Laserenergie angestellt hatte... nein. Die einzige, vage erfolgversprechende Option hieß Ffaar. Ffaar legte sämtliche elektronischen und elektromagnetischen 297 Systeme lahm, auf die es abgefeuert wurde. Sämtliche Elektrizität.
Es traf keine Unterscheidungen, und genau darin lag die Gefahr begründet. Die Gefahr für
den Schützen selbst und für alle, die sich in seiner Nähe aufhielten.
Ffaar-Schocker waren nicht restlos ausgereift. Immer wieder kam es zu Fällen, in denen
sie unbeabsichtigt streuten. Das hieß, sie richteten ihre blockierenden Felder nicht nur
gegen das anvisierte Ziel, sondern eventuell auch gegen die Schützen selbst. Und sie legten
absolut jede Form von Elektrizität lahm.
Auch Gehirne, dachte Verriak mit Schaudern. Auch das, was P sehenden am Leben erhält!
»Verriak... komm!«
Er achtete nicht auf sie. An Tariek gewandt, verlangte er: »Gib mir auch einen Schocker. Für
alle Fälle. Falls die Biester bei euch durchbrechen. Ich will...« Er sprach jetzt so leise, daß nur
Tariek ihn verstehen konnte.»... ich will gerüstet sein. Im Notfall töte ich uns damit selbst,
bevor diese kleinen Ungeheuer über uns herfallen!«
In Tarleks Augen leuchtete es kurz auf. Er gab einem seiner Männer ein Zeichen. Dann
formierte er seine Bandenmitglieder und beachtete Verriak nicht länger, der zum Schrank ging
und sich zusätzlich mit einer Granate ausrüstete. Für alle Fälle.
Das Klackem war jetzt ganz nah.
Sie ließen sich Zeit. Als ahnten sie, daß ihre Beute nicht mehr entkommen konnte.
Kirrta klammerte sich eng an Verriak. »Was hast du mit der
Waffe vor? Ich weiß, was Ffaar ist. Was es bedeutet. Du willst
doch nicht...?«
Ihre Kombinationsgabe war ihm beinahe schon unheimlich. »Du hast gesehen, was mit dem
Mann passierte, den Tariek Ne
kron nannte.«
298 ie schaute nur fassungslos, sagte kein Wort mehr.
Niemand im Keller sprach noch ein Wort. Alles wartete.
Und das, was sie fürchteten, kam.
Nebeneinander, wie eine organisierte Armee, schoben sich plötzlich etliche der mörderischen
Gebilde einer hochentwickelten Technologie über die Schwelle, gerieten ins Licht. Ihre
Hüllen
ETiimmerten so rein, so sauber... daß sich Verriak unwillkürlich rstellte, wie sie vielleicht
schon in wenigen Momenten - falls ? Pscheriden versagten - blutbesudelt sein würden...
»Jetzt!« schnappte Tariek.
Und seine Männer ließen sich nicht bitten. Ihre Waffen spien eine Schockwelle gegen die
Biester aus weichem, dehnbarem Metall!
Knisternde, blaugeäderte Energie stob den seltsamen Konstruktionen entgegen...
... und brachte ihren Vormarsch zum Stillstand.
Verriak konnte vor Erleichterung kaum atmen; zugleich rechnete er damit, daß Ausläufer der
Schockwelle vielleicht auch sie selbst trafen.
Falls die Biester auch diese Attacke zurückwarfen, wie das eine Ding, das Nekron befallen
hatte, dann...
Nichts dergleichen geschah.
Es rückten auch keine Angreifer nach; die Schockwelle mußte weit in den Gang hinaus
gegriffen haben, und es bestand Hoffnung, daß wirklich restlos alle Zyzzkt-»Geschenke«
erfaßt worden waren.
Tariek gab Zeichen, das Feuer einzustellen. Seine Männer gehorchten teils widerwillig. Einige
waren noch immer nicht überzeugt, es geschafft zu haben, und Verriak konnte es ihnen nicht verdenken. Er erhob sich - und zog Kirrta in der Bewegung mit in den Stand. Sie drückte ihn einmal ganz fest und ließ ihn dann zu Tariek und den anderen Bewaffneten gehen. »Ihr habt uns gerettet«, sagte Verriak und reichte ihm den
299 Schocker zurück.
»Behalte ihn. Vielleicht werdet ihr ihn noch...«
Trotz der gewechselten Worte war es immer noch lähmend still im Raum. Deshalb war das
Knistern auch sofort hörbar. Das Knistern, das alle erstarren ließ.
Die Blicke schnellten wie an einem Gummi zurück zu den ausgeschalteten Biestern.
Zunächst war nicht erkennbar, was geschah - aber es gab keinen Zweifel, daß das
besorgniserregende Geräusch von dort kam.
Lösten sie sich auf? Hatte Ffaar sie nicht nur lahmgelegt, sondern auch begonnen, sie zu
zersetzen? Oder... war zu befürchten, daß sie gleich mit ähnlicher Wucht und Heimtücke
explodieren würden wie das eine Ding oben an der Oberfläche?
»Verschwinden wir hier! Schnell!«
Es war Verriak, der es rief - und zugleich heftig Kirrta zu sich winkte. Sie gehorchte ohne
Zögern. Und ohne Tarleks Antwort abzuwarten, griff sie nach Verriaks Hand und zog ihn mit
sich zum Ausgang des Kellerraumes. Wo die immer lauter knisternden Konstruktionen lagen.
Immer noch reglos lagen, aber jetzt schwebte etwas Unausgesprochenes über ihnen - etwas,
das es möglich erscheinen ließ, daß sie sich gleich wieder in Bewegung setzen würden, aus
ihrem Schlaf... nicht aus ihrem Tod wieder erwachten.
Verriak ertappte sich dabei, daß er von ihnen wie von etwas Lebendigem dachte.
Es gefiel ihm nicht.
Es gefiel ihm nicht, daß er Höllenängste ausstand, als er gemeinsam mit Kirrta durch die
Lücken zwischen den Metalleibem stakste.
Er hörte, wie die Dörfler ihnen folgten. Tariek rief heiser Befehle. Auch er mißtraute dem
gerade noch sicher geglaubten Erfolg.
»Schneller!« keuchte Kirrta.
Als ihm bewußt wurde, daß sie ihn zog, erwachte er aus seiner
300 täubung und übernahm die Führung.
Sie hatte recht: Alles hing davon ab, daß sie schnell handelten.
Sie hatten das Ende des Ganges fast erreicht, die nach oben führenden Stufen, als hinter ihnen
erste Schreie ertönten. Keine Rufe, sondern Schmerzensschreie.
Verriak blickte über die Schulter und sah, wie einige der Hüllen aus Metall wieder in
Bewegung kamen und sich gegen die Dörfler wandten.
An dem ein oder anderen klebten sie schon...
Wir hätten keine Minute mehr zögern dürfen, dachte Verriak.
hd er wußte, daß es nur Kirrtas Geistesgegenwart zu verdanken war, jetzt nicht noch dort
hinten zu sein, dort, wo der Tod gerade Ernte hielt...
Eine Stimme übertönte plötzlich alle anderen.
Tariek!
Als Verriak sah, wie er die Waffe gegen etwas richtete, das an seinem Bein haftete, gab er die
Rolle des Zuschauers endgültig auf. Seine Hand schloß sich stählern um die von Kirrta. Er
mißachtete ihren Aufschrei, zog sie nur mit aller Kraft weiter.
Die Treppe hinauf.
Oben war die von außen getarnte Luke fast verschwunden. Sie wirkte regelrecht aufgefressen.
Verriak stemmte sich hindurch und reichte Kirrta die Hand nach unten. Sie griff danach.
Er riß sie regelrecht durch das Loch. Daß sie sich verletzte, war nebensächlich. Unten geschah
in diesem Moment genau das, was er hatte kommen sehen. Tariek hatte den Ffaar-Schocker
ausgelöst. Ungeachtet derjenigen, die um ihn herumstanden - und ungeachtet seiner selbst.
Der Schmerz, den das Biest an seinem Körper auslöste, mußte ihn um den Verstand gebracht
haben. Er feuerte, obwohl dieses Feuer...
Kirrta landete neben ihm am Boden, als die Ausläufer der ungezielten Entladung aus der
Öffnung flammten.
30
Irisierendes Licht.
Verriak wußte, daß auch nur ein flüchtiges Streifen dieser Welle sofort sämtliche
elektrischen Prozesse in seinem oder Kirrtas Körper gestoppt hätte...
»Das war knapp!«
Er rappelte sich auf. Das Licht versiegte. Es war totenstill. Das Geschrei unten hatte
aufgehört. Als hätte jemand das Kellergewölbe binnen einer Sekunde mit erstarrendem
Plastikbeton ausgegossen.
»Raus hier!« keuchte Verriak. Kirrta konnte aus eigener Kraft laufen, und so rannten sie
durch die Räume und Gänge, durch die sie Tariek bei ihrer Ankunft gefolgt waren, bis
sie ins Freie gelangten.
In der Feme: Schlachtenlärm.
In unmittelbarer Nähe: nichts. Keine Bewegung, kein Geräusch.
Wir haben es geschafft! dachte Verriak fast ungläubig. Etwas in ihm weigerte sich
immer noch, es zu glauben.
Sie gönnten sich keine Pause, eilten dorthin zurück, wo alles begonnen hatte. Diese
ganze entsetzliche Treibjagd, bei der sie das gejagte Wild gewesen waren, war vorüber.
Aber er sollte bald erkennen, daß er sich irrte...
Der Großgleiter, aus dem die Zyzzkt-Waffe gekrochen war, stand noch immer so da,
wie sie ihn zurückgelassen hatten. Und davor lagen die zerrissenen Reste Nekrons.
»Mir wird übel...« stöhnte Kirrta.
Verriak hatte selbst das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Aber er überging es.
»Riskieren wir es?«
Sie zögerte.
»Die Alternative wäre unsere Schweberplatte, mit der wir es allerdings höchstens noch
mal zurück zum See schaffen würden...« sagte er.
302 Eine Weile hatte er den Eindruck, als würde sie diese Möglichkeit vorziehen. Doch
dann lief sie auf den Gleiter zu. »Sie sind alle raus. Er ist leer. Alles andere ergäbe
keinen Sinn. Sie hatten sich uns an die Fersen geheftet. Und es soll sich doch
wenigstens ein bißchen gelohnt haben, was wir gerade durchgemacht haben, oder?«
Er teilte ihre Ansicht, sonst hätte er sie aufgehalten. Mit allen Mitteln. So aber folgte er
ihr.
Der Frachtraum, durch den sie einsteigen mußten, bot Platz für Ware oder etwa zehn
Pscheriden. Vom in der Steuerkanzel waren zwei Sitze, auf denen Verriak und Kirrta
Platz nahmen. Nirgends waren Spuren der Zyzzkt-Hinterlassenschaft zu entdecken. Die
Luft im Inneren schien rein.
Verriak verschloß als erstes den Einstieg.
Dann startete er den Motor, eine Mischung aus Antigrav- und Plasmatriebwerk.
Dumpfes Brummen erfüllte die Kanzel. Durch die Verglasung war die Umgebung so
klar zu sehen, als stünden sie noch im Freien.
»Na dann...«
Verriak umfaßte die Lenkung und wollte Schub geben.
In diesem Moment schlug ein Blitz ein.
Ein blauer, lautloser Blitz, der an der Außenhaut des Gleiters wie Wasser von einem
Wachstuch abzuperlen schien.
Geblendet schlössen Verriak und Kirrta die Augen.
Das Brummen erstarb.
Als sie wieder sehen konnten, erkannten sie, daß der Motor verstummt und sämtliche
Instrumentenanzeigen erloschen waren.
Durch die Kanzelverglasung sahen sie mehrere Dorfbewohner auf sie zuwanken; Tariek
war nicht darunter. Aber zwei, drei der wankenden Gestalten waren bewaffnet. Mit
Ffaar-Schockem.
Erst in diesem Augenblick realisierte Verriak, daß sie damit geschossen hatten. Auf den
Gleiter.
Und der einzige Grund, weshalb er und Kirrta noch lebten, war,
303 daß das Gehäuse offenbar wie ein schützender Käfig füngiert hatte. Die Bordelektronik war lahmgelegt worden - die Gehirne der Insassen nicht.
Zeit, sich darüber zu freuen, blieb ihnen nicht. Schon beim nächsten konzentrierten
Beschuß konnte genug Energie durchschlagen und alles beenden.
Doch statt dessen geschah etwas anderes.
Ein gepanzertes Fahrzeug stieß von oben herab und landete genau zwischen dem Gleiter
und den Dorfbewohnern.
Luken öffneten sich, Zyzzkt quollen hervor.
Binnen weniger Augenblicke war der Gleiter umstellt, und ein einzelner Wimmelwilder
trat an die Scheibe heran und klopfte mit seiner Klaue dagegen.
Verriak begriff sofort, was er wollte. Genau wie Kinta.
»Aussteigen«, hauchte sie. »Er will, daß wir aussteigen.«
Verriak nickte. »Tun wir, was er verlangt.«
Sie hatten keine Chance mehr, aber wenigstens die wollten sie nutzen.
Der Himmel sah nach Regen aus.
»Es tut mir leid«, sagte Kirrta. »Es tut mir so leid.«
Sie gab sich immer noch die Schuld an ihrem Schicksal.
Verriak faßte ihre Hand. Die andere berührte das, was er am liebsten vergessen hätte.
»Ihr werdet sterben«, eröffnete ihnen der Zyzzkt. »Wir haben keinen Befehl, Gefangene
zu machen. Nicht hier.«
Die Kälte seines Exoskeletts strahlte bis in den entferntesten Winkel von Verriaks
Körper. Er war außerstande, etwas zu erwidern. Kirrta fing an zu schluchzen. Aber sie
bettelte nicht um ihr Leben. Trotz der Tränen war sie stark. So stark.
Der Zyzzkt gab einen verächtlich klingenden Laut von sich.
304 Dann hob er ein Gerät, in dem Verriak keine Waffe erkennen konnte - keine ihm
bekannte jedenfalls. Er bemerkte nicht einmal, daß der Zyzzkt das unbekannte Gerät
auslöste, sonst hätte er früher reagiert. So aber überraschten ihn die aufgehenden
Sonnen ebenso wie
So viele Sonnen wie Dörfler.
Kalte Sonnen, die sich auf engstem Radius bildeten und die Körper in ihre Atome
auflösten, begleitet von einem zischenden Geräusch und dem Gestank verkohlenden
Fleisches.
Der Zyzzkt hatte die »Biester«, die sich an den Körpern der Pscheriden festgesetzt und
sie in willenlose Marionetten verwandelt hatten, zur Selbstvemichtung gebracht.
Was für Bestien, dachte Verriak.
Er war sprachlos.
Und zögerte nicht länger.
Als der Zyzzkt sich ihnen wieder zuwandte und seinen Satz wiederholte: »Ihr werdet
sterben... keine Gefangenen...« nickte Verriak, sagte: »Wie recht du hast!« und machte
die Granate scharf.
Er blickte Kirrta in die Augen. Sie ahnte von nichts. Sie hatte unsagbare Angst, aber in
seinem Blick schmolz sie für einen kurzen Moment dahin.
Und dieser Moment war der letzte, den sie erlebten.
Von der unsichtbar über ihnen schwebenden Drohne bemerkten weder sie noch die
Zyzzkt etwas.
Auch sie wurde von der Wucht der freigesetzten Energie zerrissen.
15. »Falls es noch den geringsten Zweifel an der Rechtmäßigkeit unseres Eingreifens
gegeben hat«, sagte Ren Dhark dumpf, »dann dürfte er hiermit restlos beseitigt sein.«
Genau wie die anderen in der Zentrale anwesenden Mitglieder der Führungsmannschaft
hatte er die Szenen betrachtet, die in die Bildkugel eingeblendet worden waren.
Filmsequenzen, von Aufklärungssonden übertragen, die im Tammodus die
verschiedenen Kampfgebiete Pscherids überflogen.
Augen und Ohren der Expedition.
Unbestechliche Zeugen.
Besonders die zuletzt gesehenen Bilder hatten Ren Dhark ins Mark getroffen. Ein Dorf
mit Zivilbevölkerung - offenbar attakkiert von den Zyzzkt, die unbekannte, raupenartige
Roboter zum Einsatz gebracht hatten.,. »Die Entwicklung solcher Waffen ist schon verachtenswert genug - aber sie gegen unschuldige Zivilisten zum Einsatz zu bringen... ich habe mich lange geweigert, in den Zyzzkt erbarmungslose Monster zu sehen. Aber sie machen es einem schwer, ihnen dasselbe Recht auf Leben zuzuerkennen, wie ich es jedem ihrer Opfer überall und jederzeit zubilligen würde!« Harte Worte aus Dharks Mund. Aber niemand, der sie hörte, zuckte auch nur zusammen oder fühlte sich zu Widerspruch veranlaßt. Selbst Dan Riker, den die Entschlüsse seines Freundes mehr als einmal überrascht hatten, schwieg, nickte nur beipflichtend. Sie hatten gerade Frauen und Kinder sterben sehen. Zusammengetrieben von seltsamen kleinen Maschinen und im Sperrfeuer einer Armee von Zyzzkt endend. Sie hatten nicht die Anfänge dieser Aktion mitbekommen, aber das Ende genügte, um einen schrecklichen Verdacht zu nähren. Die Zyzzkt töten nicht nur absolut bedenkenlos, sie scheinen so 306 gar Spielchen mit ihren Opfern zu spielen... Er war immer noch restlos erschüttert.
Sein Blick streifte die Chronoeinblendung in der holographischen Kugel.
»Gleich ist es soweit«, sagte er. Sein Blick wechselte von Konsole zu Konsole, von
Tino Grappa an der Ortung zu Anja am Checkmaster bis hin zu seinen engsten
Führungsoffizieren und Dan Riker.
Dem Freund. Der ihm zunickte.
Selten waren sie so einmütig in einer Sache gewesen wie in dieser.
Sie haben es nicht anders verdient, besagte dieses Nicken.
Und Ren Dhark wußte, daß es die Wahrheit war. Er griff in die rechte Hosentasche und
holte das münzkleine Etwas hervor, das der Schlüssel war. Oder es sein sollte.
Zum Sieg.
Die Situation über dem Planeten war beinahe ebenso prekär wie auf der Oberfläche.
Auch wenn die Zyzzkt davor zurückschreckten, ihre Ringschiffe zum Einsatz zu
bringen, befand sich Pscherid doch vollständig in ihrem Würgegriff.
Der Orbit war voller Ringe, in denen sich die Herren Oms befanden.
Eine mehr als zwanzigfache Übermacht, konstatierte Dhark.
Noch zögerte er. Noch war der Moment, der in Absprache mit Gisol und dem
Pscheridengeneral Gutter getroffen worden war, nicht erreicht.
Aber nicht mehr lange, dann...
Dhark nickte seinem Freund Dan zu, erhob sich von seinem Kommandositz und ging
energischen Schrittes zum Checkmaster. . Anja blickte ihn fragend an, aber er erklärte
nicht, was er vorhatte.
307 Riker wußte es, aber auch er schwieg. Mit einer geübten Bewegung schob Dhark den winzigen Datenspeicher, in dem sich die
von Gisol erhaltene Autorisierung befand, in das Lesegerät.
Es akzeptierte das Medium auf Anhieb.
M-Technologie begann mit M-Technologie zu kommunizieren -auf einer Ebene, die
Menschen nicht zugänglich war.
Aber die Resultate waren Dhark zugänglich.
Die Stimme des Checkmasters meldete sich in seinem Bewußtsein: Vernetzung
abgeschlossen!
Dhark nickte, drehte sich um und wollte zu seinem Platz zunickkehren. Anja hielt ihn
auf. »Was waren das für Daten?«
Er sah sie emst an. »Wichtige Daten. Es war eine Signatur Gi-sols. Er hat sie mir für
den Fall der Fälle überlassen.«
»Und der wäre?«
»Der wäre jetzt eingetreten. Die Autorisierung erlaubt es dem Checkmaster,
Kommandogewalt auch auf die Schiffe von Gisols Verband auszuüben. Unsere zehn
sind beliebig vemetzbar, wie dir bekannt ist. Aber um auch Gisols EPOY und die
anderen neun Ringschiffe einzubeziehen, bedarf es Gisols Erlaubnis. Die hat er hiermit
erteilt.«
»Du meinst, der Checkmaster kann die Schiffe jetzt fernsteuern?«
Dhark schüttelte den Kopf. »Nein. So ist es nicht. Die Einheiten bewahren ihren
autarken Status, werden situationsabhängig selbst mittels ihrer Hyperkalkulatoren
entscheiden, welche Strategie während des Einsatzes am erfolgversprechendsten und
effektivsten ist. Der Checkmaster erteilt die Grundeinsatzbefehle, die dann von den
Bordgehimen der Gisol-Einheiten selbständig umgesetzt werden.«
»Das klingt kompliziert.«
»Ist es auch.« Er lächelte. »Aber genau deshalb glaube ich an den Erfolg.«
»Und der sieht wie aus?«
308 »Er sieht so aus, daß es auch in Zukunft freie Pscheriden geben wird - zunächst einmal
ziemlich genau zehn Millionen.«
Die Minuten verrannen wie Sekunden. Und aus Minuten wurden Stunden.
Fieberhaft arbeitete Gisol über einen abgeschirmten Funkkanal mit den Pscheriden
zusammen an der Modifikation ihrer Schutzschilde. Die wenigen Daten, die der Flash
hatte ermitteln können, waren keine sehr tragfähige Grundlage - aber ihnen stand nichts
anderes zur Verfügung.
Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte Gisol, als drei Stunden später immer noch kein
Angriff auf die Schlachtschiffe der Pscheriden erfolgte.
Die Zyzzkt ahnten nichts vom bevorstehenden Fluchtversuch der Generationenschiffe.
Vielleicht ließen sie sich deshalb Zeit, feilten an ihrer Lenkwaffe, feilten an deren
Treffsicherheit...
... oder hatte die Bombe den Flash und nicht die PSCHERIDORR treffen sollen?
Alles war möglich in diesem Krieg ohne Regeln.
Falsch, dachte Gisol nach Ablauf der mit Dhark vereinbarten Frist. Eine Regel scheint
es zu geben, sonst gäbe es \vohl längst keinen einzigen lebenden Pscheriden mehr auf
diesem Planeten:
Die Zyzzkt setzen nur Waffen ein, die den Lebensraum nicht gefährden. Diese Welt soll
ihnen, "wie viele davor, nach dem Sieg helfen, den eigenen Bevölkerungsdruck zu
lindern.
Was würde geschehen, wenn den Zyzzkt eines Tages keine Ausweichwelten mehr
blieben?
Was würde mit den sich unkontrolliert weiter auf unzähligen Welten vermehrenden
Insektoiden passieren?
Würden sie beginnen, sich gegenseitig umzubringen?
Gisol befand sich in seinem Flash und in Gesellschaft des Toten, als es losging.
309 Als sich die getarnten Hangartore über den Archen öffneten. Als acht von zehn
Schlachtkreuzern der Pscheriden aufstiegen und jeweils einer von ihnen über jedem
Startpunkt der Millionenschiffe Position bezog, bereit, seine Waffen zum Einsatz
bringen.
Die Zyzzkt schienen darauf nur gewartet zu haben.
Plötzlich waren sie da.
Ihre Ringschiffe rasten zu Dutzenden auf Pscherid herab, der Hauptstadt entgegen.
Und Gisol dachte: Wenn es keinen Verräter unter den Pscheriden gibt, dann haben wir
es zumindest mit hochmotivierten Wimmelwilden zu tun.
Sie haben geduldig gewartet. Sie müssen geahnt haben, daß die Pscheriden noch nicht
den letzten Trumpf ausgespielt haben.
Und jetzt sind sie da.
Jetzt werden sie ein Exempel statuieren, das sich wie ein Lauffeuer in Orn verbreiten
wird...
... wenn es gelingt.
Er hoffte, daß Dhark und alle, die Gisol auf der Habenseite dieses
Himmelfahrtskommandos verbuchte, nicht ebenso von der Entschlossenheit der Zyzzkt
überrascht wurden wie er.
Am Himmel über Pscheridorr entflammten die ersten Feuer.
Fanale der Vernichtung.
Und die Millionenschiffe steuerten genau darauf zu...
Gisol begleitete das Flaggschiff, die PSCHERIDORR. Er begleitete den Kampfraumer,
der erst kurze Zeit nach den Archen und ihren Eskortschiffen gestartet war, in seinem
Flash auf Parallelkurs - und unter Intervallschutz.
Zuvor hatte er sich von Gutter verabschiedet. Dessen Befürchtung, die Zyzzkt könnten
den Start verhindern und schon zur Großoffensive blasen, noch bevor eine Arche ihr
Versteck verlassen hatte, hatte sich nicht bewahrheitet. Die jetzige Situation aber
310 entsprach in etwa dem Szenario, mit dem sie hatten rechnen müssen, und das war
schlimm genug.
Von den Hunderten im System kreuzenden Zyzzkt-Ringraumern konzentrierten sich
mittlerweile die meisten über dem Planeten -und hier über Pscheridorr, wo das
Startfenster der Archen lag.
Und wo deren mit terranischen KFS-Schirmen vergleichbaren Schilde längst ins
Kreuzfeuer geraten waren.
Noch hielten sie stand. Aber die Entlastung mußte bald, sehr bald zur Geltung kommen,
sonst...
Gisol nahm Kontakt zur POINT OF auf, die immer noch ebenso getarnt war wie die
restlichen Expeditionsschiffe. Er teilte den Terranern mit, daß er unterwegs zur EPOY
sei.
Ren Dhark reagierte höchstpersönlich. »Gisol! Gib Gas, alter Junge! Unser
Checkmaster ist ja gut und schön, aber dich im Kommandostand der EPOY zu wissen,
macht die Sache zum Kinderspiel...!«
Das bezweifelte Gisol stark - auch wenn er nicht wußte, was ihm Dhark mit »Gib Gas!«
hatte sagen wollen...
Plötzlich war alles anders.
Plötzlich fielen sämtliche Zweifel, sämtliche Nervosität der vergangenen Tage von der
Mannschaft der POINT OF ab!
Ren Dhark selbst schien eine Art Metamorphose durchzumachen. Via
Gedankensteuerung war er mit dem Schiff und dem Checkmaster verschmolzen. Und
via Gedankensteuerung bekam er jedes taktische Manöver mit, das der Checkmaster in
die Hyperkalkulatoren des EPOY-Verbandes einspeiste - und jedes Manöver, auf das
die neun Schiffe des POINT OF-Verbandes eingeschworen wurden.
Der Checkmaster wurde zum großen Schlachtenlenker - und Dhark war, wie alle
anderen Besatzungsmitglieder, fast zur Untätigkeit verurteilt.
Ein passiver Beobachter.
Aber stets mit der Option, einschreiten zu können, wenn er das Gefühl hatte, daß etwas
schief lief.
Das Zwiegespräch mit Gisol war eine willkommene Abwechslung - es dauerte auch nur
wenige Sekunden. Dann galt Dharks ganze Konzentration wieder den zwanzig Schiffen,
die autark agierten und doch im Verbund.
Vemetzte Operationen hatte Dhark mehr als einmal befohlen und mitgemacht - aber
diesmal gingen sie einen Schritt weiter. Diesmal bewahrten die Einheiten ihre
Eigenständigkeit, um auf individuelle Weise auf sich verändernde Bedingungen zu
reagieren. Unsichtbar, unortbar ging es in Schleichfahrt auf genau berechnete
Positionen.
Zwanzig Phantome bezogen Stellung in tausend Kilometer Höhe über Pscheridorr.
Zwanzig Phantome teilten die in Frage kommenden Ziele unter sich auf.
Und noch bevor Gisol an Bord seiner EPOY gegangen war, entluden sich bereits Mix-4,
Hy-Kon, Dust-, Nadelstrahl und Wuchtkanonen, säuberten den Startkanal, in den die
Archenschiffe der Pscheriden vorstießen und entfesselten eine Raumschlacht, die den
Zyzzkt unvergeßlich werden sollte.
Sie waren hoffnungslos in der Unterzahl...
... und dennoch nicht unterlegen.
Staunend ließ sich Gisol einen Statusbericht seines Hyperkalkulators geben. Die EPOY
hatte ihn wieder, und die EPOY verlieh ihm ein Gefühl von Macht. Er fragte sich, wie
die EPOY im direkten Kräftemessen mit der POINT OF abgeschnitten hätte.
Prinzipiell schien das Schiff der Terraner die größere Gefechtskapazität zu besitzen.
Allein der Checkmaster bedeutete einen Faktor, der schlachtentscheidend sein konnte.
312 Andererseits traute sich Gisol zu, Möglichkeiten aus seiner EPOY herauszukitzeln, von
denen die Terraner bis dato nichts ahnten. Jeder simple S-Kreuzer (wie die Menschen
ihre erbeuteten Ringschiffe nannten) verfügte in seiner Basisausführung bereits über
Geheimprogramme und Reserven, die der Worgun noch nicht enthüllt hatte. Noch
immer nicht.
Es gab Geheimnisse, die erst gelüftet werden sollten, wenn die Basis von Freundschaft
und unerschütterlichem Vertrauen getragen wurde.
War dies inzwischen der Fall?
Oberflächlich betrachtet, ja. Aber Gisol hatte sich angewöhnt, extrem hohe Maßstäbe
anzusetzen. Nur deshalb lebte er noch. Nur deshalb war es dem Rebellen immer wieder
gelungen, durch das Netz der Zyzzkt zu schlüpfen.
Nein.
Die Zeit war noch nicht reif, um restlos alles offenzulegen.
Gisol konzentrierte sich auf die Zyzzkt-Schiffe, die wie Raubvögel auf die startenden
Archen der Pscheriden herabschossen.
Gisol beließ neun von zehn Schiffen unter dem strategischen Oberbefehl des
Checkmasters...
... und löste das zehnte - die EPOY - sanft wieder aus dem Verbund, lenkte es
»manuell« via Gedankensteuerung.
Und aktivierte die Waffe, welche die Zyzzkt mit am meisten fürchteten.
Den Intervallfresser!
Aktivierte ihn zusammen mit Megon*...
An Bord der PSCHERIDORR wurde General Gutter Zeuge des »Säuberungsschlags«,
der für ihn ebenso aus dem Nichts kam wie
für die Besatzungen der Zyzzkt-Raumer.
Die Tamfelder seiner Verbündeten waren beeindruckend.
Gutter wünschte sich eine eigene Rotte solcher Schiffe. Phantome!
Mit solchen unsichtbaren Räumern hätte er die Zyzzkt in den äußersten Winkel des
Universums davongejagt...!
Er wußte, daß es Träumerei war.
Aber niemand an Bord der PSCHERIDORR ahnte, daß er insgeheim ein Träumer war.
Außer Gisol hatte nie jemand seine Privatkabine betreten...
Die Verbindung zu sämtlichen Archen, sämtlichen Eskortschiffen bestand
ununterbrochen. Und jeden Moment rechnete Gutter mit einer Hiobsbotschaft.
Spätestens beim Anblick der Millionenschiffe mußten die Zyzzkt sich deren Sinn und
Zweck zusammenreimen können. Spätestens jetzt mußte ihnen klargeworden sein, daß
sie es sich nicht leisten konnten, die Bevölkerung einer Metropole auf diese Weise den
Belagerungsring um Pscherid durchbrechen zu lassen.
Es würde sich in ganz Om verbreiten. Der Nimbus der Ünbe-siegbarkeit würde schwer
darunter leiden...
»Und genau so wird es kommen! Genau so!« sprach sich Gutter selbst Mut zu.
Offiziere drehten sich zu ihm um. Offiziere musterten ihn verwirrt.
Er kanzelte sie mit einer herrischen Geste ab.
Treffer um Treffer hagelte in die Schutzschilde der PSCHERIDORR. Die Zyzzkt
schienen aus allen Richtungen zu kommen -und die Zahl ihrer Schiffe wollte nicht
enden.
Die Wahrheit ist, dachte Gutter, daß wir keine Chance haben. Sie werden uns
abschießen wie...
Die PSCHERIDORR schüttelte sich unter mehreren Treffern gleichzeitig.
Vorübergehend kamen Beharrungskräfte durch. Gutter wurde tief in seinen Spezialsitz
gepreßt. Gurte verhinderten, daß er mit einem der nächsten Beben, die das
Schlachtschiff
314
hliefen, durch den Raum geschleudert wurde.
Auf dem Panoramaschirm wurden zwei Zyzzkt-Ringe sichtbar, die die PSCHERIDORR
ins Visier genommen hatten.
Ebenfalls sichtbar waren die Archen und die übrigen Begleitschiffe des »Trosses der
Verzweifelten«.
Welche Ironie, dachte Gutter, während er seine Befehle ins Rund brüllte, wenn mein
Schiff das einzige wäre, das zerstört würde und ich nicht die Chance erhielte, den
Neuanfang mitzuerleben.
Der Gedanke stimmte ihn traurig, lenkte ihn aber nicht nachhaltig ab. Und er war nicht
von Angst begleitet. Gutter hatte vergessen, was Angst war. Schon vor langer, langer
Zeit.
Auf seine Direktive hin, wurden die Strahlkanonen auf den Zweierpulk ausgerichtet, der
Salve um Salve auf die PSCHERIDORR abfeuerte.
»Schildstatus?«
Die Antwort, die er erhielt, war nicht dazu angetan, Zuversicht zu verbreiten.
Gutter blieb eiskalt.
»Jetzt!« bellte er und wartete auf das Entlastungsfeuer aus den eigenen Geschützen.
Doch in diesem Augenblick brach der Schutzschirm unter erneutem, hochkonzentrierten
Beschuß zusammen - und die nächste, allesvemichtende Doppelsalve brandete der
PSCHERIDORR bereits entgegen.
Es war ein weitgehend ungewohntes Gefechtsszenario.
Auch für Ren Dhark.
Ein wenig fühlte er sich in die Position der Grakos versetzt -auch diese hatten mit
Phantomangriffen, mit ihren Schattenstationen, Terra vor nicht allzu langer Zeit an den
Rand der Katastrophe gedrängt...
Es war schwer, gegen unsichtbare Gegner zu bestehen.
315
Und es sollte auch schwer sein, unmöglich!
Die Bilder der Aufklärungssonden hatten einen fast heiligen Zorn in Dhark geschürt,
den er nur mit Mühe in vertretbare Bahnen kanalisieren konnte.
Es wäre zuviel gesagt gewesen, daß er die Zyzzkt für ihr erbarmungsloses Tun haßte -
aber er empfand eine tiefe Abneigung gegen diese Spezies, deren Handeln weder
nachvollziehbar noch verzeihlich war.
Aber es gab keinen Gerichtshof, vor dem sich die Zyzzkt jemals würden verantworten
müssen. Es sei denn, es würde in femer Zukunft gelingen, ihr explosionsartiges
Wachstum einzudämmen und ihnen ihren Einfluß zu nehmen.
Wie? dachte er kopfschüttelnd. Wie sollte das gelingen?
»Ren?« Dan Riker bemerkte, daß ihn etwas über den aktuellen Kampf hinaus
beschäftigte.
Aber er winkte ab.
Keine Zeit für Diskussionen - auch nicht mit dem Freund, der zahllose Krisen mit ihm
ausgestanden und mit ihm gelöst hatte.
Immer wieder griff Dhark selbst korrigierend in die Entscheidungen des Checkmasters
ein; immer dann, wenn die Manöver zwar unübertreffliches strategisches Geschick
beinhalteten, aber andere Komponenten vermissen ließen, die ihnen nur das Bauch
gefühl einhauchen konnte.
Es war eine seltsame Art, eine Entscheidungsschlacht über Pscherid zu führen, aber
Dhark war entschlossen, nicht alles dem Checkmaster zu überlassen.
Vor ihm, in der Bildkugel, wurde das gesamte Raumsegment abgebildet, in dem sich die
Schlacht abspielte. Die unsichtbaren eigenen Einheiten waren grün markiert, die
gegnerischen Zyzzkt-Ringe rot... und dazwischen bewegten sich von der Planetenkugel
noch insgesamt 18 blaue Punkte weg, davon acht gelb umrandet hervorgehoben: die
Archen.
Vorhin waren es noch 19 gewesen, aber Gisols Flash hatte sich inzwischen iü die EPOY
eingeschleust.
316
Auch er griff jetzt - in Abstimmung mit dem Checkmaster und mit Dhark - in das
Schlachtgetümmel ein.
Insgesamt zwanzig Schiffe, die auf keinem Ortungsschirm der Zyzzkt auftauchten,
wurden von insgesamt drei Strategen dirigiert.
Und die »Choreographie« brachte die Zyzzkt nicht nur in arge Bedrängnis...
... sie schien zu einem Desaster für die selbsterklärten Herren von Om zu werden...
Gisols Schiffe setzten unter anderem Mix-4 ein, die POINT OF Hy-Kon und die neun S-
Kreuzer ihre Wuchtkanonen!
In althergebrachten Kriegsschiffen, wie Terra sie vor der Übernahme von
Mysteriousraumem besessen hatte, wäre eine solch komplexe, untereinander
abgestimmte Schlachtenführung nicht ohne Verluste durch fehlgeleitetes eigenes Feuer
möglich gewesen.
»Friendly Fire« hatten die Strategen vergangener Zeiten die Verluste genannt, die durch
eigene Kräfte hervorgerufen worden waren.
»Friendly Fire« gab es im Kampf über Pscherid nicht. Nicht ein einziges Mal. Im
Gegenteil. Jedes einzelne beteiligte Schiff war so perfekt auf die anderen abgestimmt,
daß es bei plötzlich auftretender Gefährdung einer Einheit durch zufälligen Zyzzkt-
Beschuß sogar noch die Zeit fand, helfend einzuschreiten.
Hie und da kam es zu solchen Zufallstreffern - die nicht ganz dem Zufall zuzuschreiben
waren.
Die Zyzzkt mochten vieles sein, aber dumm waren sie nicht. Auch wenn sie die unter
ihnen wütenden Schiffe selbst nicht visuell oder ortungstechnisch wahrnahmen, so
erkannten sie doch mitunter die Quellkoordinaten, von denen aus Dust-, Nadel- oder
Strichpunktstrahlen auf ihre Ziele zujagten.
Und diese Koordinaten nahmen sie natürlich unter eigenes
317
Feuer.
Es bedurfte höchster Vorsicht und hakenschlagender Ortswechsel, um dem Gegenfeuer
zu entgegen...
... nicht immer mit Erfolg.
Ein ums andere Mal flackerten auch Intervallfelder der Expeditionsflotte. Die Zyzzkt
verfügten selbst über Mix-4 - und damit brachten sie Intervalle sogar zum Kollabieren,
was zur Vernichtung hätte führen können.
Aber es gab ja auch noch die KFS-Schilde - als Doppelabsicherung, die in solchen
Fällen griff.
Dennoch... die Lage wurde zunehmend bedrohlicher. Auch wenn gerade die
terranischen Wuchtkanonen enorme Lücken in die Phalanx der Zyzzkt-Ringe rissen.
Selbst wenn die Expeditionsraumer im Vollbetriebsmodus agierten, die Zyzzkt aber...
»Verdammt!« Dhark erwachte wie aus einer Trance. Die Verbindung zur
Gedankensteuerung entglitt ihm kurz.
»Was ist?« fragte Dan Riker.
Dhark verwies ihn auf einen bestimmten Abschnitt in der Bildkugel. »Da! Jetzt wird's
brenzlig!«
Und Riker verstand, was sein Freund ihm sagen wollte - verstand es anhand der
Manöver, die ein kleiner Pulk von Zyzzkt-Schiffen ausführte...
... mit traumhafter Wendigkeit, die nur einen Rückschluß zuließ:
Auch die Zyzzkt verfügten über einige wenige Einheiten, die vollbetankt mit Tofirit
waren.
Vielleicht hatten sie sie bewußt in der ersten Phase der Schlacht zurückgehalten. Jetzt
aber...
»Sieh nur!« rief Riker. Und zeigte dorthin, wo gerade eines der blaumarkierten Schiffe,
die vom Planeten weg zu fliehen versuchten, von ausgerechnet zwei Ringen der gerade
entdeckten Eliteeinheiten der Zyzzkt aufs Köm genommen wurde.
»Wir müssen etwas tun!«
Aber das tat schon ein anderer...
318
Gisol fühlte sich Gutter gegenüber immer noch verpflichtet -aus dem persönlichen
Kennenlernen heraus hatte sich ein anderes Verhältnis zwischen ihnen aufgebaut als
zwischen Wildfremden.
Als die PSCHERIDORR unter bedrohliches Feuer geriet, handelte der Worgun
geistesgegenwärtig...
... und kam gerade noch rechtzeitig, um die Folgen des Totalausfalls von Gutters Schild
zu kompensieren.
Mix-4 riß die Schilde der Zyzzkt-Raumer auf - Nadelstrahl regte die Schiffszelle zur
Umwandlung in pure Energie an.
Eines der Schiffe explodierte, das andere drehte ab.
Trotz Vollbetriebsmodus, unter dem es zu fliegen schien!
Der Kampf gegen Phantome war nicht jedermanns Sache...
Gisol übermittelte noch eine Grüßsequenz an Gutter, dann eilte er wieder zum Rand des
»Korridors«, den die Expeditionsflotte für die Pscheridenschiffe freizuhalten versuchte -
und in den die beiden Zyzzkt-Raumer vorgestoßen waren.
Die Schlacht wogte hin und her.
Erst Minuten waren seit dem Start der Archen vergangen - die aber Zeit benötigten. Die
nur langsam an Fahrt gewannen und noch immer kein genügend hohes Tempo erreicht
hatten, um gefahrlos für ihre wertvolle Fracht in die Transition gehen zu können.
Kommt schon, kommt! dachte Gisol. Er hatte selten unter solcher Anspannung
gestanden. Selten war es um so viel gegangen...
Die EPOY schüttelte sich unter einem Mix-Treffer.
Verblüfft sog Gisol die dazugehörigen Daten in sich auf.
Und begriff.
Sein Tamfeld war erloschen.
Umgeben von Zyzzkt-Einheiten, die gegen den bislang unsichtbaren Wall von
Phantomgegnem anrannten, war er plötzlich sichtbar geworden.
319 Falls die Zyzzkt ähnlich koordiniert vorzugehen imstande waren wie der Expeditions verband, würden sie gleich das Feuer aus mehreren Schiffen gleichzeitig auf ihn eröffnen. Und dann...
Dhark erkannte die Gefahr in dem Moment, als der Checkmaster Alarm schlug. Er war immer noch mit der EPOY verknüpft, auch wenn das Schiff des Worgun weitgehend autark operierte. Ausfall des Tarnfeldes bei Einheit elf! meldete die Gedankensteuerung. Elf war die EPOY. Elf durfte nicht verlorengehen! Unter keinen Umständen! Selbst unabkömmlich, beorderte Dhark via Checkmaster die Hälfte aller S-Kreuzer zu Gisols Koordinaten. Und dort spien die Wuchtkanonen Tod und Verderben gegen die Ringe der Zyzzkt, die in der EPOY leichte Beute gesehen hatten. Direkte Treffer auf einem in sein Intervallum gehülltes Schiff waren mit Wuchtkanonen zwar nicht möglich. Aber der Intervallschild unterbrach deren Röhrenstrahl und führte dazu, daß die To-firitkugeln lichtschnell ins Normaluniversum zurückfielen... ... wo sie sich in Folge des naturgesetzwidrigen Zustands sofort und vollständig in Energie auflösten. Die Folge waren Entladungen von solcher Stärke, daß die Intervalle von nicht im Vollbetriebsmodus arbeitenden Zyzzkt-Rau-mem schon nach wenigen solcher Treffer nicht nur zusammenbrachen, sondern auch das dahinterliegende Schiff mit in den Unter gang rissen. So trennte sich die Spreu vom Weizen. So wurde klar erkenntlich, welche Zyzzkt-Schiffe die größte Bedrohung darstellten. Vollbetriebsmodus - bei eigenen Einheiten ein Glück, beim Gegner ein Horror für die Expedition aus der Milchstraße! 320 Die S-Kreuzer verschafften Gisol zwar eine Atempause, mußten aber gleichzeitig erkennen, daß die Zyzzkt über weit mehr VB-Kapazität verfügten als zunächst erhofft. Rasch konzentrierte sich das Feuer auf das Aufspüren der Phantome, die der EPOY zu
Hilfe geeilt waren. Gisol gewann wertvolle Momente...
... und war so plötzlich wieder verschwunden, daß Dhark, der immer ein Auge auf den
Worgun hatte, im ersten Moment fürchtete, er sei der Vernichtung zum Opfer gefallen.
R Doch die Werte, die unmittelbar eingingen, belehrten ihn eines Besseren: Die
EPOY war wieder in ihr Tamfeld gehüllt, das nun hoffentlich stabil blieb.
Dhark wollte einen Spruch an Gisol richten.
In diesem Moment begann die Situation zu kippen.
An mehreren Stellen gleichzeitig brachen Zyzzkt-Einheiten in den Korridor ein, durch
den die Pscheridenschiffe verzweifelt versuchten, auf Transitionsgeschwindigkeit zu
kommen.
Und die Zyzzkt eröffneten sofort das Feuer auf die Generationenschiffe. Mit einer
solchen Heftigkeit, daß es Dhark akzeptieren mußte, ob er wollte oder nicht: Ihr
Versuch, die fluchtwilligen Pscheriden vor der Vernichtung zu bewahren, würde
scheitern.
Die Übermacht der Zyzzkt war zu gewaltig...
Auch General Gutter war viel zu lange Soldat, um die Zeichen der Zeit zu mißdeuten.
Aus! dachte er. Sie haben es versucht, und ohne sie hätten wir überhaupt keine Chance
gehabt - aber offenbar haben auch sie die Entschlossenheit dieser Monster
unterschätzt...
Er wollte noch immer nicht sterben, aber er wußte, daß es nun unausweichlich war.
Die Millionen von Zivilisten an Bord der Archen mochten im-noch hoffen, sie sollten es
- bis zu ihrem letzten Atemzug! -
321 aber Gutter sah klar.
Sein Blick fand noch einmal zu dem schönsten Planeten im Universum zurück, seiner
Heimatwelt. In diesem Augenblick wünschte er sich, dort unten zu sein, um dort zu
sterben, wo er geboren worden war.
Doch die Zyzzkt scherten sich nicht um solche Wünsche.
Immer mehr ihrer Ringe durchbrachen die unsichtbare Grenze und stießen zu den
Archen und deren Begleitschiffen vor.
Und eröffneten das Feuer, dem kein Schild auf Dauer widerstehen würde.
Es brauchte mehr als ein Wunder, um Millionen Pscheriden vor dem sicheren Tod zu
bewahren.
Aber das Unerwartete geschah. Es trat ein in Form eines Funkspruches, der an Bord der
PSCHERIDORR ebenso empfangen wurde wie auf den Einheiten der Expeditionsflotte
- und dort, wohin er in erster Linie gerichtet war: bei den Zyzzkt.
Es hatte keine Absprache mehr zwischen der Pscheridenregie-rung und Gutter gegeben.
Was sie den Zyzzkt nun anbot, kam für ihn ebenso überraschend wie für die Besucher
aus der fernen Galaxis Milchstraße. Ein Angebot, über das die Zyzzkt vielleicht
nachdachten, was sie aber zunächst nicht zu erkennen gaben. Salve um Salve schlug in
die Schutzschirme der Archen ein. Die noch standhielten. Noch...
Der Planet hatte soeben die totale Kapitulation angeboten - unter der Bedingung, daß
die Zyzzkt die Fluchtschiffe ziehen ließen.
Und woran weder Gutter noch Ren Dhark noch Gisol in diesem Moment, in dieser
Situation geglaubt hätten, geschah.
Lange Sekunden nach dem Versenden des Kapitulationsangebots stellten die Zyzzkt
jegliches Feuer ein und zogen sich zurück.
Sie zogen sich zurück!
Unglaube wich frenetischen Begeisterungsausbrüchen an Bord
322 der Archen. Wenig später führten die Fluchtschiffe ihre erste koordinierte Transition
durch.
Das Echo der Strukturerschütterungen fand seinen Widerhall auch an Bord der POINT
OF, wo in diesem Moment...
... das Schott der Zentrale fauchend aufglitt und Ren Dhark dem eintretenden »Menschen« entgegenblickte: Gisol in seiner Jim-Smith-Gestalt. Er hatte seinen Wechsel zur POINT OF angekündigt - aber nicht den Grund dafür. Dhark war so unvorbereitet wie jeder andere Anwesende - aber konnte man in solchen Angelegenheiten überhaupt vorbereitet sein? »Gisol...« Menschen wichen dem Worgun in Menschengestalt aus, öffneten ihm eine Gasse inmitten des hektischen Treibens, das nach wie vor im Herzen der POINT OF herrschte. Dhark hatte eine Stemensog-Etappe zu den Koordinaten befohlen, wo der dritte Sprung der Fluchtflotte enden würde. Von dort aus sollte die Reise über noch mehrere andere Sprungetappen hinweg fortgesetzt werden, um sicherzustellen, daß den Zyzzkt keine Verfolgung mehr möglich sein würde. Nicht nur Dhark mißtraute dem Einlenken der Zyzzkt, die inzwischen mit ihrer halben Flottenstärke auf Pscherid gelandet waren. An ausgesuchten Orten. Für Small Talk blieb also keine Zeit. Und es war vom ersten Augenblick an klar, daß Gisol nicht zum Plaudern kam. »Was ist das?« begrüßte ihn Dhark, als er die Kühlbox bemerkte, die der Worgun unter dem Arm trug. Es sah fast aus, als käme Gisol gerade von einem Ausflug ins Grüne zurück. Gisol deponierte die Box wortlos vor Dhark am Boden, richtete sich wieder auf und blickte ihn mit einer Trauer an, wie Dhark sie 323 noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte. »Zwei Männer gehen«, sagte er schließlich tonlos, »einer kehrt zurück.« Zum erstenmal, seit die Auseinandersetzung mit den Zyzzkt im Pscheridensystem ihrem Höhepunkt entgegengegangen war, wurde sich Dhark bewußt, daß er lange nichts mehr von Al-sop gehört hatte. Und kaum formte sein Gehirn den Namen Alsop und rief sich die dazugehörige Person in Erinnerung, schien es in Gisols Augen aufzublitzen. Als könnte er Gedanken lesen. »Was ist passiert?« Dhark trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Von irgendwoher näherte sich Dan Riker, blieb aber in respektvollem Abstand stehen. Allmählich merkten alle innerhalb der Zentrale, daß dies keiner der schon gewohnten Besuche von »Jim Smith« war. Gisol schilderte sachlich die Umstände, unter denen Alsop erst brutalst verstümmelt worden war und sich schließlich selbst entschlossen hatte, seinem hoffnungslosen Zustand ein Ende zu bereiten. Nicht unerwähnt ließ Gisol auch Alsops letzten Wunsch. »Eine Sonne«, echote Dhark, mehr nicht. Als könnte er sich an dem Gedanken festhalten und Trost daraus ziehen, daß der gerade gehörte Wunsch noch einmal die Größe desjenigen unterstrich, der gestorben war. Ein Gefährte, der ihn nur wenige Jahre begleitet und ihm dabei doch ein unverzichtbarer Freund geworden war. Auf andere Weise als Dan Riker, denn es konnte nur einen »besten« Freund geben. Aber es gab viele gute Freunde, auf die er sich ebenso bedingungslos verlassen hätte -und von diesen war nun einer gegangen. Für immer. An einen Ort, von wo es keine Wiederkehr gab. Macht und Ohnmacht, Sieg und Niederlage, das erkannte Ren Dhark in diesem Augenblick schmerzlich, hingen eng beisammen. Er war... im tiefsten Sinne des Wortes... untröstlich.
324
Da war sie wieder, die verkarstete Wüste: unbarmherzig, gelbraun, hitzeflimmemd, schon jetzt, drei Stunden nach Sonnenaufgang. Lem Foraker an den Kontrollen des ersten Gefährts griff in die rusttasche seiner Kombi und setzte die dunklen Gläser auf. Cap-tain Sybilla Bontempi saß schweigend neben ihm. Im Fahrgast-|raum hielten sich zwei von Forakers Soldaten
auf, Märt Siverts und Poul Gafflet, sowie die beiden Nogk-Mutanten Tantal und So-ron.
Das Steuer des zweiten Gleiter, der zirka zwanzig Meter versetzt hinter ihm flog,
bediente Lee Prewitt. Seine Passagiere waren die drei Gönn, die an der Mission
teilnehmen durften - sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme, wie sich der Colonel
ausgedrückt hatte - und einige Meegs, darunter Meenor.
Die beiden schweren Gleiter bewegten sich gut fünf Meter über dem Sand dahin; der
Bodeneffekt erzeugte hinter ihnen lange Wirbel von Staub und Dreck.
Obschon sie wußten, was sie erwartete, nämlich ein leeres Schiff, waren alle auch
diesmal bewaffnet.
Binnen Minuten hatten die Gleiter die relativ geringe Entfernung von etwa zweitausend
Meter überwunden.
Foraker flog eine weitausholende Kurve und umrundete das Wrack mehrmals.
Nichts hatte sich seit ihrem letzten Besuch verändert.
Nur ihre Spuren waren vom beständig wehenden Wind verwischt worden.
Neue waren keine hinzugekommen.
Die Funkverständigung schlug an.
Lern Foraker schaltete die Anlage ein.
Prewitts Gesicht im Karree auf der Konsole und seine Stimme aus der Phase.
»Landen, Lern!« ordnete er an.
Foraker bestätigte.
Seine Männer kontrollierten ihre Waffen, die Ausrüstung.
Lern Foraker setzte den Gleiter innerhalb des mächtigen Schattenwurfs auf, den das
ellipsenförmige Wrack auf den Boden zeichnete.
Zuerst stiegen die Soldaten aus und sicherten das Gelände; unter den Sohlen ihre Stiefel
wirbelte feiner Staub empor. Dann folgten die anderen. Zum Schluß entfaltete der
Roboter seine Stelzglieder und senkte sich mit Hilfe seines A-Gravfeldes auf den
Boden. Das spinnenbeinige, selbständig operierende Hochleistungsgerät war eine
wandelnde Kraftstation; Tantal hatte sie von Chief Erkinnson angefordert und mit Hilfe
seiner Ei-Brüder einige Modifikationen daran vorgenommen. Er erhoffte sich dadurch,
den seit 1000 Jahren inaktiven Hauptrechner des fremden Wracks wenigstens halbwegs
wieder zum Leben erwecken zu können.
Prewitts Gleiter sank unweit von ihnen auf den Boden.
Die Gruppen vereinigten sich und stapften durch den lockeren Sand auf das
Raumschiffwrack zu. Ihre Schritte hinterließen tiefe, kraterähnliche Spuren, als sie die
angewehte Düne hinaufkletterten, die sich bis zur mittleren Schleuse auftürmte, welche
von innen heraus aufgesprengt worden war, wie sie bereits bei ihrem ersten - und
äußerst folgenschweren - Besuch festgestellt hatten. Das zerstörte und verbogene
Schleusenportal lag am Fuß der Düne halb im Sand eingegraben.
Vor der Schleusenöffnung blieb Sybilla Bontempi plötzlich stehen. Sie sah Lern
Foraker an, er starrte zurück.
Beide hatten den gleichen Gedanken.
Und das war auf ihren Gesichtern zu lesen.
Mit ihrem Eindringen vor vier Tagen hatten sie die Seuche in die CHARR getragen.
Daß sie zu diesem Zeitpunkt nichts von dem lauernden Tod im Innern des Wracks
wissen konnten, machte die Sache nicht erträglicher.
»Entweder ihr geht weiter, oder ihr macht Platz«, ertönte Pre
i
326 witts leicht spöttische Stimme. »Dir beiden kommt mir vor wie Lot und sein zur Salzsäule erstarrtes Weib.« Die beiden fuhren auseinander und beeilten sich, ins Innere zu gelangen. Getröstet von dem Wissen, daß sie diesmal nicht mit der heimtückischen Seuche kontaminiert werden würden. Noch am gestrigen Nachmittag hatte Jumir unter dem Schutz von Forakers Männern das Innere des Wracks mit seinen Viren geimpft; es waren keine Sporen mehr am Leben, wie Jumir versicherte, der sein Meßgerät abfragte. Entschlossen drangen die beiden Gruppen in das Wrack ein. Durch die geborstene äußere Hülle schien das helle Sonnenlicht ins Innere und verteilte sich in flirrenden Bahnen. Flugsand knirschte unter ihren Sohlen; manche Räume waren davon nahezu bis unter die Decke gefüllt, vor allem jene, die unmittelbar hinter den Schiffswandungen lagen. Im Wrack schienen sich die Geister der toten Besatzung herumzutreiben, aber es war nur der Wind, der klagte und seufzte, als wäre er ein lebendiges Wesen. Das Meeg-Team, außer Meenor, der bei den Terranem und den Kobaltblauen blieb,
nahm sich erneut der Triebwerkssektionen an, die sie beim ersten Besuch nur unvollkommen erkundet hatten. Sie wollten vor allem herausfinden, weshalb die Meiler nicht hochgegangen, sondern merkwürdigerweise abgeschaltet worden waren. Lee Prewitt und die anderen drangen rasch von Deck zu Deck nach oben. Der zentrale Achsschacht erwies sich noch immer als unüberwindliches Hindernis. Fast senkrecht stehend und ohne Energie war er nur eine riesige, leere Röhre, in der nicht einmal Handgriffe oder ähnliche Vorrichtungen ein Weiterkommen ermöglichten. Im Wrack herrschte eine dumpfe Hitze. Bald waren die Terraner von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, während Gönn und Nogk derlei Unbill nicht zu kennen schienen. Zielstrebig bewegten sich die Gruppen mit einiger Schnelligkeit durch die geborstene Seitenkorridore, durch Lagerräume und leere 327 Kammern dem Weg folgend, den sie schon einmal zurückgelegt hatten.
Ziel war die Zentrale des unbekannten Wracks mit ihrem Hauptrechner.
Schließlich erreichten sie das Hauptdeck.
Vor Tagen hatten sie sich noch mit Hilfe eines Laserschweißers Zugang zum hermetisch
verschlossenen Leitstand verschaffen müssen.
Das entfiel jetzt.
Ein kräftiger Tritt Siverts ließ die bei ihrem damaligen Rückzug nur lose angelehnte
Platte ins Innere poltern.
Die Öffnung war groß genug, um ohne anzuecken ins Innere zu gelangen.
Obwohl sie wußten, was sie erwartete - nämlich nichts - traten sie mit einem nicht zu
leugnenden Unbehagen ein.
Der große Leitstand glich in Anordnung und Verteilung von Instrumentenkonsolen und
Kontursitzen entfernt dem eines Nogk-schiffes.
»So also sieht es im Innern des >Fliegenden Berges< aus, den Länder gesehen hat«,
ließ sich Jumir vernehmen.
»Was davon noch übrig ist«, bemerkte Lee Prewitt.
»Und das sind wohl die erbärmlichen Reste der blauen Teufel?«
Er deutete auf die auf dem Boden und in den Sitzen herumliegenden Reste der
Uniformen.
»Es hat den Anschein«, bestätigte Kommandant Huxleys Stellvertreter Lee Prewitt und
wartete auf die nächste Frage der Gönn. Die nach den Leichen nämlich. Aber weder
Jumir noch seine Gefährten stellten sie. Und die zu Staub zerfallenen Überreste waren
seit dem gewaltsamen Öffnen der Zentrale längst in alle Winde verstreut worden - im
wahrsten Sinn des Wortes.
»Wenden wir uns doch dem Grund dieser Mission zu und widmen uns dem
Bordrechner«, drangen Tantals Impulse in verbaler Form aus seinem scheibenförmigen
Translator, der vor seiner Brust baumelte. »Vielleicht läßt sich etwas über dieses Schiff
her
328 ausfinden, woher es kam, welchen Auftrag es zu erfüllen hatte.« Entschlossen fegte er die verrotteten Reste einer ehemaligen Uniform vom Polster und glitt in den Sitz vor der Hauptkonsole, die sich als solche durch ihre Größe und exponierte Position erkennen ließ. Kleine Lichtblitze schienen in seinen Facettenaugen zu explodieren, als er den Blick auf die Phalanx der Sichtschirme richtete, deren Oberflächen durchweg alle zerstört waren; die würde er niemals mehr zum Leben erwecken können. Aber vielleicht den in der Konsole eingelassen Monitor; seine Oberfläche sah noch intakt aus. Plötzlich ertönten Geräusche. Das Echo brach sich in dem leeren Schiff. Die beiden Raumsoldaten und Lern Foraker griffen augenblicklich nach ihren Waffen, um sie dann mit einem etwas verlegenen Lachen wieder wegzustecken, als sie Lee Prewitts Kopfschütteln sahen. l Es waren die Meegs im Heckbereich des Wracks, die den Lärm verursachten, der durch den leeren Zentralschacht bis in die Spitze des Ellipsoids getragen wurde. Tantal hatte keine Sekunde seine Tätigkeit unterbrochen. Seine Reptilienfinger berührten die Kontrollen: Symbole unbekannter Art, eingelassen in große, flexible Tastaturen, die wider Erwarten dem Druck seiner Fingerspitzen noch nachgaben. »Erwartest du wirklich, da durchzublicken?« fragte Lee Prewitt und betrachtete die seltsam geformten Bedienelemente, die dreiek-kigen Instrumente, Schalter und
Schaltkreise, die unter der flexiblen Oberfläche eingelassen waren. »Das erwarte ich«, versetzte der Kobaltblaue, und seine Facettenaugen suchten in der verwirrenden Konstruktion die Schnittstelle, die bei Ausfällen der Energieerzeuger eine externe Energie-Zufuhr ermöglichte. Eine Sicherheitsmaßnahme, die üblicherweise bei Schiffsrechnem Standard war - heutzutage! Ob das schon vor 1000 Jahren gegolten hatte, mußte sich erst noch herausstellen. Der Nogk-Mutant fand, was er suchte. Und das relativ schnell, was Prewitts Mißtrauen und Argwohn noch mehr anwachsen ließ. Langsam gelangte er zu der Überzeugung, daß Tantal nicht in allen Dingen die Wahrheit sagte. Ihm kam es so vor, als wüßte Tan tal sehr viel mehr, als er ihnen gegenüber eingestand. »Hilfst du mir, Mensch-Foraker?« wandte sich der Kobaltblaue an den Taktischen Offizier. »Ich brauche... Saft? Sagt ihr Terraner so?« »Das hast du richtig erkannt«, meinte Lern Foraker und grinste, während er an dem Vielzweckroboter das entsprechende Programm aktivierte. Der Roboter fuhr einen dünnen, flexiblen Handlungsarm aus, an dessen Spitze sich ein selbstprogrammierender, vielfach gezackter Kontakt befand, der mit der Schnittstelle in Verbindung trat. Kleine, knisternde Entladungen bildeten sich, als der Roboter begann, die Sequenzen für den Energiebedarf durchzurechnen. Nach einer Weile piepste er und schickte einen Stromstoß durch die Zuleitung in den Hauptrechner. Dann noch einen zweiten. Nach dem dritten lief etwas in der zerstörten Kommandozentrale mit einem tiefen, langgezogenen Seufzen an; es schien, als erwache jemand aus einem langen, langen Schlaf. Dann erhöhte sich die Geräuschfrequenz, wie es für anlaufende Computersysteme typisch war. Auf dem Schirm erschien ein Muster von fremdartigen Symbolen, die entfernt an eine graphische Benutzeroberfläche erinnerten. »Du meine Güte«, sagte Sybilla Bontempi fast ehrfürchtig und blickte an Forakers breitem Rücken vorbei auf die Konsole. »Schaut euch mal den Monitor an!« »Du scheinst ihn zum Leben erweckt zu haben«, sagte Lern Foraker bewundernd. »Und das nach hundert Dekaden der Inaktivität... Oh, ich hätte wohl meinen Mund halten sollen«, entfuhr es dem Taktischen Offizier der CHARR, als der Schirm einfach erlosch. »Was ist jetzt?« fragte die Anthropologin. »Vermutlich hat Tantal nur die falsche Taste gedrückt«, meinte 330 Lee Prewitt ungerührt. »Kann jedem mal passieren. Muß nichts heißen.«
Tantal schwieg zu den Kommentaren und führte seine blauen Finger erneut über die
Kontrollen.
Lee Prewitt konnte sich nicht helfen, aber er fühlte sich von dem Kobaltblauen
vorgeführt. Obwohl der Nogk-Mutant ständig darauf beharrte, nichts über den fremden
Raumer und seine ehemalige Besatzung zu wissen, agierte er an der Konsole, als kenne
er sie in und auswendig. Dennoch blieb der Schirm dunkel.
Aber...
»... kubjai... majiaa... aradhujn... hon...«
Sybilla Bontempi erschauderte, als sie die fremde Stimme hörte, die aus den Abgründen
der Zeit plötzlich zu sprechen begann.
»Was ist das? Kannst du dir einen Reim darauf machen, Tantal?«
»Worte des Kapitäns - vermutlich«, erwiderte der Nogk-Mutant nach einigem Zögern.
»Du verstehst sie?« fragte Prewitt gedehnt.
Der Kobaltblaue wiegte den monströsen Insektenschädel. »In Bruchstücken«, bekannte
er und stoppte die Abspielung.
Soron fügte erklärend hinzu:
»Es ist eine alte Sprache, deren Ursprung ebenso im Dunkeln liegt wie das Volk, das sie
gesprochen hat.«
»Und was sagt er, der Kapitän dieses Schiffes?« verlangte Lee Prewitt von Tantal und
Soron zu wissen
Die aber schwiegen, während die Fremdvölkerexpertin unschlüssig meinte: »Loon - das
bedeutet doch >Alt< in eurer Sprache. Richtig?«
»Es bedeutet aber auch >Ahnen<, >Vorfahren<«, ließ Meenor plötzlich verlauten. »Ich
meine, ich hätte diese Sprachfamilie schon einmal in einem unserer sehr alten Archive
gehört.«
»Reicht es aus, um zu verstehen, was dieser Kapitän zu sagen hat?«
Meenors Antwort war ebenso einfach wie vielsagend: »Ja. Es
handelt sich um das Logbuch des Schiffes.«
»Zumindest um Bmchstücke davon«, schränkte Tantal ein. Wieder dieses Zögern.
»Dann laß sie uns hören«, verlangte der Erste Offizier der CHARR, »diese
Bruchstücke!« Eine angestrengt wirkende Falte bildete sich zwischen seinen Augen.
Tantal versenkte sich in jene kontemplative Starre, die typisch für Nogk war, wenn sie
sich einer Situation gegenübersahen, deren Lösung gewisse Probleme bereitete.
Schließlich aktivierte er die verbalen Aufzeichnung erneut.
»Keine visuelle Datei?« wunderte sich Lern Foraker.
»Nur Audio«, bestätigte der Kobaltblaue. »Hilfst du mir?« wandte er sich an den Meeg-
Sprachexperten.
Gemeinsam interpretierten sie die bruchstückhaften Aufzeichnung des fremden
Kapitäns, aus denen die letzten Tage des Schiffes hervorgingen.
Es war eine Chronik des Sterbens.
Das Verhängnis war augenscheinlich nicht plötzlich über das Schiff gekommen,
sondern vorhersehbar gewesen.
Leidenschaftslos übersetzte Tantal das wenige, und wo er nicht weiterkam, kam ihm
Meenor zur Hilfe...
... nach der Landung auf diesem für sie idealen Wüstenplaneten erkrankten binnen
kürzester Zeit Teile der Besatzung.
... als erkennbar wurde, daß extrem aggressive Sporen dafür verantwortlich waren,
gegen die kein Gegenmittel zu finden war, ordnete der Kapitän an, Sprengladungen in
den Sektionen zu zünden, in denen es schon Kranke gab.
... das Schiff wurde nach und nach immer mehr zerstört, die Krankheit jedoch breitete
sich weiter aus und erreichte schließlich die Kommandozentrale, in die sich Offiziere
und der Kapitän zurückgezogen und verschanzt hatten.
332 ... um das Einschleppen der Seuche auf seine Heimat zu verhindern, zerstörte der Kapitän als letzten Akt die entsprechenden Speicher im Bordrechner...
»... dabei ist er wohl gestorben«, sagte Tantal, »die Einträge des Logbuchs brechen hier ab. Mehr gibt die Audiodatei nicht her. Der Rechner ist bis in die virtuellen Speicher hinein gelöscht.« »Würdest du es trotzdem weiter versuchen?« bat Lee Prewitt. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß da gar nichts mehr sein soll!« ^ »Wie du wünscht, Mensch-Prewitt.« Draußen hatte die Sonne ihren Zenith überschritten, als es zur Gewißheit wurde: Die Speicher des Bordrechners enthielt keine verwertbaren Informationen mehr. »Also kein Hinweis darauf, von wo das Schiff gekommen sein könnte«, sagte Lee Prewitt. Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. »Wir müssen uns wohl geschlagen geben«, ließ Tantal in seiner bildhaften Sprache verlauten. »Das müssen wir nicht!« Der Einwurf kam aus der Gruppe der Meegs, die die Maschinenräume des Wracks inspiziert hatte und eben wieder in der Zentrale erschien. Kryym, ein nogksches Pendant zu ChiefErkinnson, hatte die letzten Worte Tantals noch gehört. In den Facettenaugen des näherkommenden Meeg-Wissenschaftlers schien es zu irrlichtem. Prewitt wußte, daß das nicht stimmen konnte - die Physiognomie der eierlegenden Reptilieninsekten gab das einfach nicht her - aber dennoch schien es den Anschein zu haben, als läge Triumph auf dem Libellengesicht des Meeg. Prewitt faßte ihn scharf ins Auge. »Ihr könnt den Beweis dafür antreten?« »Ich denke, das können wir.« Der Erste Offizier der CHARR ging Kryym ein, zwei Schritte entgegen. »Womit?« Der Meeg machte eine Geste in Richtung seiner Artgenossen, seine Fühlerpaare wippten. »Wir haben uns ausführlich in die Konfiguration der Sprungtriebwerke vertieft und festgestellt, daß sie ähnlich wie unsere arbeiten«, kam seine Kunststimme aus dem Translator.
Irgendwie überrascht mich das überhaupt nicht, durchzuckte es Lee Prewitt. »In unseren Raumschiffen überwacht ein redundantes System die Arbeit der Sprungtriebwerke; jeder Vorgang wird mehrfach abgespeichert. Sollte der Hauptrechner ausfallen, bleibt immer noch die Möglichkeit, auf die sekundären Arbeitsspeicher in den Maschinenzentralen zuzugreifen, um so an die Koordinaten des letzten Hyperraumsprungs zu gelangen...« »Das ist mir von der CHARR bekannt«, wagte der 1.0. einzuwerfen. »Natürlich, Erster Offizier Prewitt. Verzeih, wenn ich den Eindruck erweckt habe, du wärst nicht kompetent.« Lee Prewitt winkte ab. »Berichte einfach weiter, Kryym!« »Wir haben etwas ähnliches in den Maschinenräumen dieses Wracks gefunden«, kamen die Signale des Meeg, und er hielt etwas hoch. Prewitts und die Blicke der anderen hingen wie gebannt an einem metallenen Gegenstand, der in seiner Form unschwer zuzuordnen war: ein Modul zur Datenspeicher-Abfragung. Der 1.0. der CHARR wagte kaum zu atmen. »Und?« erkundigte er sich. »Was enthält er?« Der Meeg bewegte rasch die Fühler. Die Erregung, die er empfand, wurde durch weitere semitelepathische Bildimpulse unterstrichen. »Wir haben den Inhalt der Speicher nur übertragen. Systematisch durchsuchen können wir diese erst an Bord der CHARR. Aber erste Einsichten haben ergeben, daß der Inhalt aus Sprungdaten besteht, die von der Löschung des Hauptrechners nicht betrof 334 fen wurden.«
»Damit ist unsere Mission hier erfüllt«, sagte Prewitt wie erlöst. »Kehren wir zurück...«
Die akribische Auswertung des Arbeitsspeichers aus dem namenlosen Wrack brachte
die Koordinaten des letzten Hyperraum-Sprunges ans Tageslicht, der über eine Distanz
von 1249 Lichtjahre geführt hatte. Den Ausgangspunkt dieses Sprunges anzufliegen,
war das nächste Ziel der CHARR. In dem Ellipsenraumer lief alles wieder seinen
gewohnten Gang; auf den Decks machte sich jene versteckte Geschäftigkeit breit, die
einen baldigen Aufbruch signalisierte.
Jumir und seine Gefährten erschienen in der Zentrale, in der Huxley von seinem
Kommandosessel aus die Vorbereitungen zum Start verfolgte.
»Auch wir werden starten«, sagte der Gönn. »Man erwartet unsere Heimkehr.«
Heimkehr! Huxley lächelte dünn. Wie sich das anhörte aus dem Mund einer zwar
humanoiden, aber dennoch völlig fremdartigen Spezies. »Wie lange habt ihr für eure
Reise hierher gebraucht?« erkundigte er sich und richtete seinen Blick auf Jumir.
»Sechs mal die Zeit, die der Mond Küläs für einen Umlauf benötigt.«
»Hm, ein halbes Jahr also«, nickte der Colonel. »Was haltet ihr davon, wenn ich eure
Reise verkürze auf, sagen wir, wenige Minuten?«
Sein Erstaunen nur mühsam verbergend, sagte der Gorm: »Dazu seid ihr Terraner
fähig?«
»Das ist kein Problem«, versicherte Huxley.
»Wie soll das gehen?« fragte Jumir verblüfft.
»Euer Einverständnis vorausgesetzt, nehmen wir euer kleines Schiff an Bord. Für die
CHARR ist die Entfernung von hier nach
335 Külä nur ein Katzensprung.«
»Katzensprung...?« Jomirs fremdartiger Mimik war nicht zu entnehmen, was ihn
bewegte, aber sicher signalisierte sie Unverständnis.
»Damit bezeichnen wir lächerlich geringe Entfernungen«, erklärte der 1.0.
»Wollt ihr von hier zusehen, wie wir euer Schiff aufnehmen, oder möchtet ihr schon
vorher an Bord gehen?«
Sie würden es vorziehen, das Manöver aus der sicheren Distanz der Leitzentrale zu
verfolgen, ließ Jumir Huxley wissen.
»Wie ihr wollt. - Traktorkontrolle?«
»Sir?« Der zuständige Cheftechniker blickte vom Sichtschirm. »Bringen Sie das Schiff
unserer Gäste in Hangar IIv2.«
»Verstanden.«
Eine Außenbordkamera übermittelte das Geschehen in die Leitzentrale.
Sanft wie eine Feder hob sich das kleine Schiff der Gorm unter dem Zug der
Traktorstrahlen vom Boden, schwebte nach oben, vorbei an der gewölbten
Außenwandung des riesigen Ovoids, und wurde schließlich in einen der äußeren
Bootshangars gezogen. Dort wurde es mit Fesselfeldem unverrückbar verankert.
»Wir überlassen euch die Beseitigung des Relikts aus eurer Vergangenheit«, wandte
sich Huxley an die drei Gorm und deutete auf das Wrack, das in der Allsichtsphäre in
einem gesonderten Ausschnitt in Großaufnahme zu sehen war. »Ist das in eurem Sinn?«
»Das ist es«, bestätigte Jumir. »Wir werden vermutlich ein Mahnmal daraus machen -
aber die Entscheidung liegt beim Prätendenten unserer Regierung.«
»Wie üblich«, nickte Huxley, und ein Lächeln nistete sich in seine Mundwinkel ein.
»Mister Prewitt. Alles an Bord?«
»Mann und Maus an Bord und alle Schotten dicht«, spulte der Erste Offizier das alte
Ritual ab. »Es herrscht ablandiger Wind.«
»Dann bringen Sie uns von hier weg, 1.0., den Kurs kennen
336 Sie.« »Aye, Sir!« A-Grav brachte die CHARR durch die Lufthülle des Planeten. In einer Höhe von 580 Kilometern befand sie sich weit außerhalb der Atmosphäre; dort legte sie einen vollen Stopp hin. Jumir und seine Gefährten konnten Laute der Überraschung nicht vermeiden, als sie in den Bugfeldem der Allsichtsphäre urplötzlich den 200 Meter langen, pfeilförmigen Druckkörper der FO I auftauchen sahen, die ihr Dunkelfeld deaktiviert hatte und sichtbar geworden war. Der gewaltige Hangar des Ellipsenschiffes öffnete sich, und wenig später sank die FO I auf ihre Bettungen im Inneren der CHARR. Geräuschlos schloß sich das große Schott in der golden schimmernden Druckhülle. Das Schiff beschleunigte erneut und jagte mit knapp Unterlichtfahrt in einer weitgeschwungenen Parabel auf den Planeten Külä zu, dessen Position zur Zeit hinter Kimik lag. Es dauerte exakt sieben Minuten... »Da haben Sie den Planeten, Skipper!« sagte Lee Prewitt seufzend. »Ein grün-blaues Juwel. Sieht verdammt wie die Erde aus. Ein prächtiger Bursche.« »Unterdrücken Sie Ihren Überschwang, Lee«, sagte Huxley belustigt »und bringen Sie uns bis auf eine Höhe von 15 Kilometern hinunter.« Er studierte die Teilvergrößerung, die sich aus der Allsichtsphäre in den Vordergrund schob und einen Raumhafen auf der Oberfläche zeigte; die planetaren Koordinaten hatte ihm Jamir, der Astrogator des Astronautenteams, während des kurzen Fluges genannt. Dann wandte er sich an die Gorm. »Hier trennen sich unsere Wege«, ließ er sie wissen. »Wir haben noch eine weite Strecke vor uns, ihr jedoch seid zu Hause. Wir werden euch auf eurem Raumhafen absetzen. Erzählt, was ihr gesehen habt. Berichtet, daß die blauen Teufel endgültig in der Vergangenheit begraben liegen. Verkündet allen, daß die Gorm nicht allein im Weltraum sind, sondern Teil einer riesigen Völkerfamilie unterschiedlichster Spezies. Manche gut, manche weniger freundlich. Wie es der universellen Natur entspricht. Ich werde unsere Regierung auf der Erde informieren, sie wird mit eurem Prätendenten in Kontakt treten. Ich bin sicher, man wird einen Botschaf ter schicken, wenn es gewünscht wird. Und jetzt, lebt wohl... Mr. Foraker, begleiten Sie unsere drei Besucher zu ihrem Boot.« »Aye, Sir.«
»Ich hasse Abschiede, gleich welcher Art« sagte Frederic Hux-ley zu seinem Ersten, während er auf der Hauptsichtsphäre verfolgte, wie der Traktorstrahl das Boot der ersten Astronauten Küläs sanft auf der Fläche des Raumhafens der Hauptstadt Te-diruun absetzte. »Aber vielleicht kehren wir irgendwann zurück. Schon um zu sehen, was Jumir und sein Volk in der Zwischenzeit an Veränderungen geschaffen haben.« »Sie werden nicht weit kommen auf der galaktischen Bühne, ohne umfassende Revidierung ihrer jetzigen Kultur und einem rigorosen Umbau der
Raumschiffstechnologie«, meinte Lee Prewitt pragmatisch.
»Nein, das werden sie nicht«, gab Huxley halblaut zur Antwort, »denn auch ich kann
mir nicht vorstellen, wie sie mit ihren lebenden Raumschiffen Transitionen durchführen
wollen. Aber ohne eine effiziente Sprungtechnologie werden sie den Dunstkreis ihres
Systems niemals verlassen.«
»Vielleicht schaffen sie es doch«, meldete sich Maxwell zu Wort. »Jetzt, wo sie in
Kontakt zur galaktischen Zivilisation gekommen sind. Möglich, daß ihre Entwicklung
dadurch eine Wendung erfährt. Wer weiß...«
Huxley sah in die Runde, dann kehrte sein Blick zurück.
Er nickte seinem Ersten Offizier zu.
»Starten Sie, Lee.«
»Wohin, Skipper?«
338 »Erst mal hinaus in den Raum!« Huxley deutet auf die Allsichtsphäre, die die Sterne dieses Astes der Milchstraße zeigte. »Dann weiter zu den Koordinaten, die wir in dem Wrack gefunden haben. Folgen wir einfach der Spur Turr-Aans. Ich bin fest davon über zeugt, daß wir finden, was er gesucht hat.« »Aye, Skipper!« Die CHARR, jene winzige metallene Blase, die ihre eigene menschliche Zivilisation mit sich führte, beschleunigte und verschwand in den Tiefen des Universums, als hätte sie nie existiert.
17. Zwanzig Ringschiffe beendeten die Stemensog-Etappe und sahen sich achtzehn pscheridischen Einheiten gegenüber, davon acht gigantischen Archen. Dhark stellte sofort eine Verbindung her. Gisol hatte sich wieder an Bord der EPOY begeben. Die Rollen waren verteilt. Und die Sorge um eine Verfolgung seitens der Zyzzkt immer noch gegeben. Ab diesen Koordinaten würden auch die Expeditionsschiffe transitieren. Von hier aus sollten fast ohne zeitliche Verzögerung noch etliche weitere schon vorprogrammierte Sprünge durchgeführt werden, um absolut sicherzugehen, daß die Zyzzkt die Spur verloren... ... aber die Nachricht, die Ren Dhark erwartete, als er mit Gutter in Kontakt trat, war ernüchternd und warf sämtliche Zeitpläne über den Haufen. »Ich wünschte, ich könnte Besseres vermelden«, sagte der General zerknirscht, »alles lief so gut für uns. Aber Wunder wiederholen sich offenbar nicht, und Glück ist ein launischer Czerk.« Dhark fragte nicht, was ein Czerk sei, aber er verlangte Aufklärung für Gutters Schwarzseherei. »Eine der Archen«, erhielt er zur Antwort. »Ein Triebwerksschaden. Momentan ist eine Transition damit nicht möglich. Wir arbeiten fieberhaft an der Reparatur, aber ich mißtraue den Zyzzkt. Sie können jeden Augenblick...« »Wir alle mißtrauen ihnen«, unterstrich Ren Dhark. Und dachte: Verdammt! In diesem Augenblick meldete Grappa von seiner Konsole aus: »Ortung!« Zyzzkt! Der Gedanke kam zwangsläufig. Dhark zwang sich dennoch, Ruhe zu bewahren. 340 »Details!«
Grappa holte bereits Atem. »Eine höchst ungewöhnliche Strukturerschütterung - rund
580 Lichtjahre von unserer Position entfernt.«
Dhark stellte eine Verbindung zu Gisol her. »Hast du es auch aufgefangen?«
»Ja.«
»Und?«
»Ich habe solche Werte noch nie gesehen...«
Zum zweitenmal in kurzer Folge dachte Dhark: Verdammt! Und fügte hinzu: Verdammt,
verdammt!
In diesem Augenblick trat Manlius, einer der drei römischen Offiziere, hinter Grappa
und schaute ihm über die Schulter.
Offenbar hatte Manlius Grappas Äußerungen als Aufforderung verstanden, sich
einzubringen.
Und das tat er nun auch.
Unaufgefordert.
Aber niemand dachte daran, ihm dies übelzunehmen.
Zumal er zu wissen schien, wovon er redete: »Das typische Muster eines transitierenden
Worgun-Großkampfschiffes«, sagte er. »Ich kenne es von meiner Ausbildung her. Eine
Centmeile Durchmesser...« Er winkte Aulus und Nuntius zu sich, die seine
Einschätzung bestätigten.
»Diese Dinger sind so gewaltig«, ergänzte Aulus Manlius' Ausführungen, »daß selbst
eine einfach Transition bei ihnen mehrere Sekunden dauert. Während normale
Raumschiffe praktisch ohne Zeitverzögerung durch den Hyperraum springen, müssen
diese Giganten ihn regelrecht überwinden.«
Ren Dhark stöhnte, hinterfragte den soeben gehörten Größenbegriff Centmeile nicht,
sondern dachte nur: Das Glück ist wirklich ein launiges Czerk. Und unsere
vorübergehende Strähne ist definitiv zu Ende!
Er zweifelte nicht daran, daß die geortete Erschütterung des Raum-Zeitgefüges Unheil
für sie bedeutete.
341
Großes Unheil.
Die Zyzzkt schienen ihre Spur aufgenommen zu haben...
Schnell verteilte er seine Instruktionen an beide Flottenverbände. Ring- und
Pscheridenraumer bezogen defensive Positionen um die Archen herum, wobei auch
diese noch einmal eine Formation einnahmen, in deren Mitte des Evakuierungsschiff
mit dem defekten Sprungtriebwerk dahintrieb.
Danach wurde ihre Geduld auf keine lange Probe gestellt.
Sie kamen.
Kein Worgun-Großkampf schiff zwar (zumindest noch nicht), aber immerhin fünf
Zyzzkt-Ringraumer...
... die augenblicklich auf Angriffskurs gegen die Archen gingen.
Ihr offenbar vorrangiges Ziel, das die höchste Opferzahl versprach...
Die Angreifer wurden sofort unter Feuer genommen.
Diesmal waren die Rollen gegenüber der Situation im Pscheri-densystem vertauscht,
diesmal befanden sich die Ring- und Pscheridenraumer klar in der Übermacht!
Doch die Zyzzkt flogen bei ihrer Annäherung an die Evakuierungsschiffe einen
geradezu halsbrecherischen Kurs, und verstanden es dabei immer wieder geschickt, dem
direkten Kampf und den für sie brenzligsten Situationen aus dem Weg zu gehen. Sie
umschwärmten die Archen, ohne sich auf eine Schlacht einzulassen...
Die Art und Weise, wie sie sich bewegten, ließ nur den Schluß zu, daß es sich bei ihnen
um Ringschiffe im Vollbetriebsmodus handelte.
Einheiten eines Eliteverbandes.
Und das Großkampfschiff, dessen Sprung man angemessen hatte? War es auf dem Weg
hierher? Benötigte es mehrere Etappen? Waren die fünf Angreifer Teil der
Beibootflotte?
342 Momentan war es ein Geplänkel, das zwischen den Zyzzkt-Rin-gen und den
Expeditionsschiffen, die wieder auf Tammodus geschaltet hatten, ausgetragen wurde.
Alles schien von Seiten der Zyzzkt darauf hinauszulaufen, Zeit zuschinden und die
Pscheriden so lange an diesen Ort zu binden, bis Verstärkung eintraf.
Wußten sie vom Problem mit dem Sprungtriebwerk der einen Arche?
Dhark bezweifelte es. Aber es hätte auch nichts geändert.
Über einen abhörsicheren Kanal kommunizierte er unentwegt mit Gisol und Gutter, der
ihn über den aktuellen Stand in Sachen Reparatur auf dem laufenden hielt.
Sie war beinahe beendet, behauptete der General.
Beinahe!
Dhark hatte plötzlich eine Idee. Bevor er sich damit an Gisol oder die Pscheriden
wandte, besprach er sich mit den Römern...
... die ihm die Machbarkeit seines Vorhabens bestätigten.
Unter besonders günstigen Bedingungen zumindest, schränkte der sofort danach
befragte Checkmaster ein.
Dhark war entschlossen, das Glück noch einmal in die Pflicht zu nehmen. Czerk hin,
Czerk her.
Niemand lobte ihn für seinen Geniestreich.
Nicht solange nicht bewiesen war, daß er auch tatsächlich funktionierte!
Dhark konnte damit leben. Er betete, daß der Einfall, der ihm gekommen war, ihnen ein
wenig Luft verschaffen würde - genug, um sich der Schwächen, die die
Pscheridenschiffe offenbarten, vielleicht annehmen und sie korrigieren zu können.
Hier war das nicht möglich.
Und um anderswohin zu gelangen, mußte das lädierte Evakuie
rungsschiff wenigstens noch einmal springen können.
Und noch ein Faktor mußte hinzukommen. Einer, der nicht von ihnen beeinflußbar war,
nicht wirklich. Sie konnten nur hoffen, daß sich zeitnah wiederholte, was vorher
geschehen war...
Das Katz-und-Maus-Spiel mit den fünf Zyzzkt-Ringen, die zweifellos längst
Unterstützung angefordert hatten, ging weiter.
Jeden Moment konnte sich die Übermacht der Expeditionseinheiten zur Ohnmacht
wandeln...
Dann endlich und fast nicht mehr erwartet, kam die Nachricht von Gutter, daß die
Reparatur abgeschlossen sei.
Wieder zog der Troß das Tempo an.
Dhark verschärfte den Feuerdruck auf die Zyzzkt, um sie auf Distanz zu halten.
Der Troß beschleunigte auf zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit und hielt dieses
Tempo konstant.
Die Zyzzkt mochten sich fragen, worauf sie noch warteten. Aber das erfuhren sie erst in
dem Moment, als das nicht beeinflußbare Ereignis eintrat.
Als 580 Lichtjahre entfernt das ehemalige Worgun-Großkampf-schiff erneut sprang -
auf seiner vermutlich letzten Etappe hierher, zu diesen Koordinaten!
Wenn es rematerialisierte und sie immer noch da waren..»
Dhark dachte den Gedanken nicht zu Ende.
Die Erschütterung orten und selbst transitieren war eins. Der Checkmaster koordinierte
den Sprung sämtlicher Einheiten. Nur er war dazu in der Lage, auch die
Navigationsrechner der Pscheriden mit einzubinden.
Alle Schiffe transitierten zum exakt gleichen Zeitpunkt - 38 Einheiten.
Nein, 39!
Denn das Worgunschiff, eine Centmeile groß, war das Neunund-dreißigste, das, wie
Dhark erfahren hatte, seiner immens hohen Masse wegen ein »etwas anderes«
Transitionsverhalten an den Tag legte.
344 Und darauf baute seine ganze Idee.
Einmal auf die Gewalt der Erschütterung in der Struktur des Kosmos, den ein solcher
Gigant auslöste -- und zum anderen auf die Dauer.
Denn der Transitionsschock sollte die Erschütterungen, die 38 andere Schiffe zeitgleich
auslösten, übertünchen!
Und während das ehemalige Giga-Schiff der Worgun durch den Hyperraum sprang,
entmaterialisierten die Ring- und Pscheriden-schiffe.
Nur die Zyzzkt-Ringe blieben zurück.
Und das AU bebte.
»Sechshundert«, sagte Dan Riker. »Sechshundert Lichtjahre liegen zwischen ihnen und uns. Und wenn du recht hattest, bleibt es dabei. Wenn nicht...« Sofort nach dem Rücksturz in den Normalraum waren auf sämtlichen Pscheridenschiffen die Energieerzeuger auf das absolute Minimum heruntergedrosselt worden.
Auf den Ringschiffen war dies nicht nötig. Dort griff der Segen römischer Tamtechnik. Nach bangen Minuten lieferte die Passivortung ein beruhigendes Resultat: Offenbar hatten die Zyzzkt tatsächlich die Spur verloren - sonst hätten sie sich keine unnötige Zeit gelassen, wären inzwischen selbst wieder transitiert. Zu den Koordinaten, bei denen sie eine Erschütterung angemessen hatten. Aber dazu waren sie offenbar nicht in der Lage gewesen. Das ankommende Großkampfschiff hatte in genau dieser Sekunde sämtliche anderen Erschütterungen des Raum-Zeitgefüges überlagert... »Und nun?« fragte Riker. »Wir können uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Ich traue diesen Teufeln alles zu. Auch daß sie uns eben doch noch aufspüren. Und sei es nur durch einen un 345 seligenzufall...« Dhark widersprach nicht. »Du hast Recht. Wir sind im Zugzwang. Und auch wenn wir für den Moment sicher sein sollten, ist die Situation untragbar. Wir sind praktisch an Ort und Stelle gefesselt, solange nicht die bedingungslose Funktionsfähigkeit der Pscheriden-Triebwerke - speziell die der Archen - gesichert ist. Es bedarf mindestens zehn unmittelbar hintereinander erfolgender Sprünge, um die Zyzzkt auch auf konventionelle Weise abzuschütteln. Das aber, fürchte ich, machen die Triebwerke der Evakuierungsschiffe nicht mit. - Was folgern wird daraus?« »Daß wir genau daran arbeiten müssen?« »Exakt!« Dhark lächelte, obwohl es ihm schwerfiel, denn noch immer lag Alsops Tod wie ein Schatten über ihm. »Ich wußte, wir verstehen uns.« Er gab die entsprechenden Befehle.
Sie trafen sich an Bord des Evakuierungsschiffes, das am heftigsten mit Triebwerksproblemen zu kämpfen gehabt hatte. Sie - das waren Ren Dhark, Are Doom, einige terranische Techniker, Gisol, die Römer Manlius, Aulus und Nuntius sowie General Gutter, der von der PSCHERIDORR herübergewechselt war. Die Erklärung, warum die pscheridischen Kampfschiffe mit keinen Transitionsproblemen zu kämpfen hatten, fand sich rasch: Zweifellos hatte Gutters Volk beim Bau der Archen Großartiges geleistet - aber das Hauptaugenmerk auf Raum und Lebensqualität für die künftigen Bewohner gelegt. Die Archen waren ja eigentlich fliegende Städte, keine bloßen Raumschiffe. Vernachlässigt hatte man dabei zum Nachteil der jetzigen Situation aber die Triebwerke, die nicht für Höchstleistungen ausgelegt waren. Nicht annähernd. »Eine Schande!« brummte Gutter immer wieder. 346 »Richtig! Eine Mordsschande!« scheute sich Are Doom nicht, auch noch Öl ins Feuer zu gießen. »Da ist hier draußen, fernab jeder Werft, nichts zu machen. Die Dinger müßten vollkommen umkonstruiert und optimiert werden... sinnlos. Abhaken.« Dhark warf ihm einen tadelnden Blick zu. Wußte er nicht, was er da sagte? Hatte er vergessen, daß es allein in diesem angeschlagenen Schiff um mehr als eine Million Pscheriden ging? Insgesamt also um gut zehn Millionen, denn auch die anderen Schiffe würden spätestens bei der dritten oder vierten Transition in Folge mit Ausfallerscheinungen zu kämpfen haben. Und schließlich ausfallen. Um dann leichte Beute für die anrückende Zyzzkt-Streitmacht zu werden... »Vorschläge, wie wir es doch schaffen können, uns von hier fortzubewegen - ohne es zu riskieren, daß wir den Feind auf uns aufmerksam machen und zu uns locken?« fragte Dhark in die Runde. »Are? Beschränkt sich Ihre Analyse nur auf die Dinge, die nicht gehen?« Er wußte, wie er ihn kriegen konnte. Und tatsächlich fühlte sich der Sibirier in seiner Ehre gekränkt. »Nein«, knurrte er. »Ich wüßte schon einen Ausweg...« »Und der wäre?« Er blickte von Aulus über Nuntius zu Manlius und sagte: »Römische Tamtechnik.«
Wie nicht anders zu erwarten erhob Manlius sofort Einspruch. »Bedaure, ich will keine
Illusionen zerstören, aber... Schiffe dieser Größe haben wir noch niemals getarnt. Es
gibt keine Erfahrungswerte. Außerdem wäre die Entwicklung der dafür erforderlichen
Aggregate nur auf Terra Nostra möglich. Und ich sehe keinen Weg, da hinzukommen.
Gäbe es diesen Weg, brauchten wir die Tamtechnik erst gar nicht...«
Dhark haßte diese Form von Logik - aber sie war nicht zu widerlegen.
Er wollte etwas erwidern, als ihn über Armbandvipho eineNachricht erreichte. Das
winzige Konterfei von Dan Riker, der auf der POINT OF geblieben war, wurde
sichtbar. »Ren!«
»Was ist? Sag nicht, daß...«
»Ich muß es aber sagen, Ren! Verdammt, niemand weiß, wie es passiert ist, aber...«
»Aber was?«
»... eines der Schiffe ist verschwunden. Fast unbemerkt und spurlos.«
»Eines der Schiffe? Einer unserer S-Kreuzer?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Eine der Archen. Eben war sie noch da, und dann...«
Dhark hörte kaum noch zu. Er sah General Gutters Gesicht, der mitgehört hatte und
kreidebleich geworden war, und er wußte nicht, was er sagen sollte. Eine lange Zeit
sagte niemand auch nur ein Wort. Das Entsetzen über das Verschwinden von über einer
Million Pscheriden war in aller Augen zu lesen.
Was war passiert?