Nr. 328
Versammlung der Magier Entscheidung für oder gegen die Herren der Festung von Marianne Sydow
Sicherheitsvorke...
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Nr. 328
Versammlung der Magier Entscheidung für oder gegen die Herren der Festung von Marianne Sydow
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist nur ein gedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der ehemalige Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FESTUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Beherrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die In vasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah men, haben Atlan und Razamon, denen sich inzwischen drei Gefährten angeschlos sen haben, das Zentrum der Dunklen Region erreicht und den harten Kampf um das Goldene Vlies siegreich bestanden. Während unsere Helden sich anschließend in Richtung FESTUNG auf den Weg machen, blenden wir um zur Großen Barriere von Oth. Die Meister der Magie, die dort leben, sind unruhig und besorgt, denn die Herren der FESTUNG stellen Forderungen an sie. Ob diese Forderungen erfüllt werden oder nicht – darüber entscheidet die VERSAMMLUNG DER MAGIER …
Versammlung der Magier
3
Die Hautpersonen des Romans:
Copasallior - Der Weltenmagier beruft eine Versammlung ein.
Koratzo - Der Stimmenmagier kämpft für die Unabhängigkeit derer von Oth.
Opkul, Querllo, Wa, Ssissnu und Haswahu - Koratzos Freunde und Gefährten.
Glyndiszorn - Der Knotenmagier wird zur Schlüsselfigur.
Nur-Links - Anführer der Seelenlosen.
1. Glyndiszorn liebte die Ruhe und die Ein samkeit. Es war ihm schon immer schwerge fallen, die Nähe anderer Wesen zu ertragen. Hinzu kam sein Aussehen. Auf die anderen wirkte er eher lächerlich als bedeutend – es sei denn, jemand wußte, welche Fähigkeiten in diesem Magier steckten. Glyndiszorn war so dick, daß er fast kugelrund aussah. Seine Haut war rot wie die eines gekochten Kreb ses, und seine schwarzen Haare waren im mer strähnig. Seine keifende Stimme reizte unweigerlich zum Lachen. Wer es jedoch wagte, über Glyndiszorn zu lachen, mit dem geschahen oft Dinge, die überhaupt nicht komisch waren. Unter diesen Umständen empfand Glyn diszorn die Stille innerhalb des Knotens als paradiesisch. Niemand störte ihn. Vor eini ger Zeit – er hätte nicht sagen können, wie lange es her war, denn ihm fehlte jeder Ver gleich – war Koratzo, der Stimmenmagier, in die ORSAPAYA vorgedrungen. Glyndis zorn hoffte, daß er von nun an ungestört blieb. Die Drohung, daß der Große Knoten sich plötzlich ausdehnen und die ganze Bar riere von Oth erfassen würde, mußte einfach wirken. Glyndiszorn streckte sich behaglich aus. Er schwebte in einem halbdunklen Etwas, von dem zahllose Linien wegführten. Und jede Linie zeigte in einen anderen Raum, in ferne oder nahe Zeiten, in unbekannte Räu me und Universen. Der Ort war ideal für Be obachtungen aller Art. Nur eines störte den Magier: Die nahe Zu kunft, das, was in der Barriere und über haupt in Pthor geschehen sollte, blieb ver schwommen und undeutlich.
Er wußte bereits, daß es auf Pthor Verän derungen geben würde. Koratzo spielte eine wichtige Rolle für die Zukunft der Magier. Aber Glyndiszorn vermochte nicht zu erken nen, was Koratzo genau unternehmen wür de. Ebensowenig vermochte er zu sehen, wie es den Herren der FESTUNG erging. Diese Umstände ärgerten ihn, weil sie sich nicht mit seiner Neugier vertrugen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bewoh nern von Pthor hatte er keine Angst vor den Herren der FESTUNG. Sie konnten ihm nichts anhaben, denn wenn die Situation kri tisch wurde, brauchte er nur einen Schritt zu tun, um sich hinter einer »Falte« zu verber gen. Auch das Schicksal der anderen Magier war ihm völlig gleichgültig. Er brauchte sie nicht. Nur die Neugier plagte ihn sehr. Darum konzentrierte er alle Kraft auf die Verbin dung zu dieser einen Zeitspur. Er merkte nicht, daß er darüber die Kontrolle über an dere, wichtige Bereiche vernachlässigte. Erst als die Ruhe in diesem seltsamen Raum durch ein unheilvolles Rauschen ge stört wurde, merkte Glyndiszorn, daß etwas nicht in Ordnung war. Zuerst sah es ganz harmlos aus. Auf eini gen Linien sah er Lichtpunkte und kleine dunkle Nebelwolken. Er wandte sich diesen Linien zu, und mit seinen magischen Fähig keiten beseitigte er die Störungen ohne Schwierigkeit. Aber inzwischen waren ande re Linien von Punkten und Nebeln besetzt. Glyndiszorn brachte sie zum Verschwinden. Er sah in die andere Richtung. Dort waren die Punkte wieder da, und sie waren größer und näher. Glyndiszorn schlug sie zurück. Drehte sich um und entdeckte, daß auf der Gegenseite dasselbe geschah. So geriet er allmählich buchstäblich ins Rotieren.
4 An eine sorgfältige Untersuchung der Zu kunft Pthors war von da an nicht mehr zu denken. Glyndiszorn hatte alle Hände voll zu tun, um den Knoten stabil zu halten. Das behagte ihm gar nicht. Er haßte es, zu ir gendeiner Tat gezwungen zu werden. Darum faßte er schließlich den Plan, den Knoten aufzulösen. Bei dem Durcheinander, das jetzt um ihn herum herrschte, kam er gar nicht mehr zum Nachdenken. Da war ihm die Gondel der ORSAPAYA schon lieber – auch wenn er dort ständig mit Störungen zu rechnen hatte, weil Copasallior, der Welten magier, unbedingt mit ihm reden wollte. Glyndiszorn vollführte die magischen Ge sten, die ihn in die normale Welt zurückbe fördern sollten. Er hatte in dieser Beziehung noch niemals einen Fehlschlag erlebt. Aller dings waren die Knoten, die er früher er schaffen hatte, auch nicht so groß und kom pliziert wie dieser gewesen. Als er wider Erwarten nicht in die alte Zeit zurückstürzte, war Glyndiszorn sehr er staunt. Hatte er ein Zeichen vergessen? Das war leicht möglich, weil er sich immer noch auf die Abwehr der Punkte und Nebel kon zentrieren mußte. Er hatte keine Ahnung, was sich hinter diesen Erscheinungen ver barg, aber es war gewiß nichts Gutes. Sehr sorgfältig wiederholte er Schritt für Schritt alles, was ihn nach draußen bringen mußte. Wenn er die Verbindung zwischen sich und dem Knoten löste, mußte sich der künstliche Schnittpunkt von Raum und Zeit linien von selbst auflösen. Leider geschah nichts. Jetzt wurde Glyndiszorn allmählich unru hig. Immer mehr Punkte tauchten um ihn herum auf. Sie drängten sich gegenseitig dem Knoten entgegen, in dem es jetzt nicht mehr still war. Das Rauschen und Pfeifen, Glucksen und Rumpeln machte den Knoten magier noch nervöser. Wie sollte er bei die sem Lärm die magische Verbindung ent flechten? Wütend raffte er seine Kräfte zusammen und vollführte einen gewaltigen Schlag, der alle Linien auf einmal leerfegte. Sofort kehr-
Marianne Sydow te auch wieder Ruhe ein. »Na also«, murmelte Glyndiszorn und be gann von neuem mit der Prozedur der Ent flechtung. Aber für seine Sinne waren die Angriffs punkte plötzlich nicht mehr greifbar. Seine magische Gesten stießen ins Nichts. Die be freienden Laute kehrten als spöttisches Echo zurück, ohne in der unsichtbaren Mauer des Raumes auch nur ein Loch entstehen zu las sen. Glyndiszorn war ratlos. Das war ihm noch nicht passiert. Er überlegte, warum er ausge rechnet jetzt versagte. Hatte jemand eine an dere Magie erfunden, mit der er Glyndiszorn festhalten konnte? In der Barriere von Oth gab es vierhun dertfünfzig Magier. Da Glyndiszorn sehr zu rückgezogen lebte, wußte er nicht, ob sich einer von ihnen mit der Knotenmagie be schäftigte. Er glaubte aber nicht daran, daß eine fremde Magie im Spiel war. Das hätte bedeutet, daß der andere stärker und klüger war als Glyndiszorn. Ein so wichtiger Ma gier wäre aber dem Besitzer der ORSAPA YA nicht verborgen geblieben. Es mußte an ihm selbst liegen. Es war si cher, daß er keinen Fehler beim Versuch der Entflechtung gemacht hatte. Die Konse quenz erschreckte ihn so sehr, daß er nicht einmal die Punkte sah, die die günstige Ge legenheit nutzten und mitten in jene Sphäre sprangen, die Glyndiszorn als Knoten be zeichnete. Um den Magier herum entstand ein wah res Feuerwerk aus Funken, die in allen Far ben glänzten. Glyndiszorn schlug instinktiv um sich. Er vergaß die magische Abwehr, und noch mehr Leuchtpunkte gelangten in die Sphäre, wo sie sofort zerplatzten. Glyndiszorn war der Panik nahe. Nur mühsam riß er sich soweit zusammen, daß er einen Schlag gegen jene Punkte führen konnte, die sich noch auf den Linien durch Zeit und Raum befanden. Die anderen, die sich als Funken überall verteilt hatten, saßen im Knoten fest. Glyndiszorn bemerkte ent setzt, daß sie an den magischen Wänden zu
Versammlung der Magier wachsen begannen. Es war, als würden sie die Kraft der Begrenzung in sich aufneh men. Der Magier gelangte zu der Überzeu gung, daß diese Punkte den Versuch unter nahmen, die Wand zu durchbrechen. Die Dinger wirkten zielstrebig und durchaus in telligent. Glyndiszorn hatte längst festge stellt, daß fremde Lebensformen für ihn un kenntlich wurden, sobald sie auf eine der von ihm geschaffenen Linien gerieten. Es war also vorstellbar, daß die langsam an schwellenden Lichtgebilde in Wirklichkeit grausame Monstren waren. Verzweifelt versuchte Glyndiszorn noch einmal, den Knoten auszulöschen. Und wie der scheiterte er. Es gab nur noch eine Möglichkeit, die Punkte wenigstens für einige Zeit aufzuhal ten. Mit einem Ruck ließ der Knotenmagier die Wände zurückweichen. Die Lichtdinger verloren die Verbindung und schwebten hilflos herum. Mit einem Schlag beförderte Glyndiszorn die meisten von ihnen wieder auf die Linien, wo sie schnell davontrieben. Ein paar entwischten ihm und setzten sich wieder an den Wänden fest. Glyndiszorn hoffte aber, diese wenigen Lichtpunkte be herrschen zu können. Nur eines bereitete ihm Sorgen. Der Kno ten zeigte deutlich die Tendenz, sich immer weiter auszudehnen. Glyndiszorn spürte, daß seine Kräfte nachließen. Er hatte sich zu lan ge den Einflüssen innerhalb der Sphäre aus gesetzt. Der Rückweg war ihm verschlossen. Wenn er sehr viel Glück hatte, gelang es ihm wenigstens, den Knoten zu stabilisieren. Das, was man sich als Gerücht in der Barrie re von Oth erzählte, war eingetroffen. Glyn diszorn war der Gefangene seiner eigenen Magie. Ohne fremde Hilfe würde er nicht mehr in die normale Welt zurückkehren. Eine Hoffnung blieb ihm. Koratzo, der Stimmenmagier, hatte es fertiggebracht, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Leider hat te Glyndiszorn dem Störenfried deutlich zu verstehen gegeben, daß er in Ruhe gelassen werden wollte. Trotzdem rechnete Glyndis
5 zorn damit, daß Koratzo zurückkehrte. Die Frage lautete nur, wann das gesche hen würde.
* Als die Magier vor sehr langer Zeit die Barriere von Oth in magische Bezirke auf teilten, um von nun an in diesem Gebiet ih ren Forschungen nachzugehen, trafen sich in den düstersten Tälern und Schluchten die Seelenlosen. Das waren weißhäutige, humanoide We sen, die im Verborgenen lebten, und von de nen offenbar selbst die Herren der FE STUNG nicht recht wußten, was sie eigent lich den ganzen Tag über trieben und woher sie gekommen waren. Den Magiern wurde freigestellt, wie sie mit diesen Leuten ver fahren wollten. Einige Magier verlangten, daß alle Seelenlosen getötet oder aus der Barriere verjagt werden sollten. Sie wurden überstimmt. Es war keineswegs so, daß die Magier sich bei ihrer Entscheidung von Gefühlsdu seleien oder gar der Achtung vor intelligen tem Leben leiten ließen. Sie versprachen sich von der Existenz der Seelenlosen sch licht und einfach gewisse Vorteile. Die stummen Bewohner der tiefsten Täler mach ten den Magiern ohnehin den Wohnraum nicht streitig. Viele kamen im Lauf der Zeit als Diener bei diesem oder jenem Magier unter. Sie erledigten alle groben Arbeiten, hielten die neutralen Wege in Ordnung und machten sich auch sonst sehr nützlich. An dere bewachten die Grenzen der Bar riere und sorgten dafür, daß neugierigen Guurpeln oder sonstigen Leuten die Lust am Abenteu er schnell wieder verging. Und ein großer Teil wohnte noch immer zwischen den Grenzen der einzelnen Bezirke in Gegenden, die selbst die Bewohner der dunklen Täler für absolut lebensfeindlich hielten. Da die Seelenlosen stumm waren, konn ten sie auf die Fragen nach ihrer Herkunft nicht antworten. Und die Magier zerbrachen sich darüber auch nicht lange die Köpfe. Sie
6 hatten Wichtigeres zu tun. Während Glyndiszorn sich bemühte, sei nen großen Knoten unter Kontrolle zu hal ten, gab es für die anderen vierhundertneun undvierzig Magier Aufregung genug. Copasallior rief zum Treffen im Tal der Schneeblume auf. Damals, als sie nach Pthor kamen, hatten sie sich dort versammelt und die Entschei dung getroffen, die Reisen dieses merkwür digen Landes mitzumachen. Die Herren der FESTUNG erlaubten den Magiern, in der Barriere von Oth zu leben und ihren For schungen nachzugehen. Der einzige Haken an der Sache war, daß die Magier ihren Gastgebern alle Erkenntnisse und Erzeugnis se, besonders natürlich alle Waffen zu über lassen hatten. Das Tal der Schneeblume war seither ein geradezu heiliger Ort. Aus der Botschaft des Weltenmagiers ging leider nicht hervor, wel che Themen er bei dem Treffen zu erörtern gedachte, aber es war jedem klar, daß Copa sallior sie nicht an diesen traditionsbelade nen Ort rufen würde, um dort über Nichtig keiten zu sprechen. In der ganzen Barriere schwirrte es nur so von Gerüchten. Jeder behauptete, die Wahr heit zu kennen – und jeder erzählte dann et was anderes. Die Magier kramten ihre Mas ken hervor, denn sie mochten es nicht, wenn andere sich ihr Gesicht zu genau einprägten. Sie wußten schließlich am besten, wie sich solche Kenntnisse anwenden ließen. Dann packten sie ihre wichtigsten Besitztümer zu sammen – meistens handelte es sich um die Utensilien, mit denen sie die Macht ihrer ei genen Magie am wirkungsvollsten zur Schau stellen konnten –, versiegelten ihre oft absonderlichen Behausungen mit allen magischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, und machten sich auf den Weg. Den Seelenlosen blieb das natürlich nicht verborgen. Die Diener saßen plötzlich ohne ihre Herren in der Gegend herum und wuß ten nichts mit sich anzufangen, weil nie mand ihnen Befehle erteilte. Die Zeit der Unschlüssigkeit ging allmählich vorüber,
Marianne Sydow und die weißhäutigen Diener begaben sich zu ihren wilden Brüdern, um sie über die Veränderungen zu informieren. Sie waren wirklich stumm. Aber das hin derte sie nicht daran, andere Seelenlose her beizuholen und eine Versammlung abzuhal ten. Sie sprachen nicht mit den Mündern, sondern mit den Händen. Und sie wußten leider nur zu genau, woher sie kamen und warum sie gezwungen waren, trotz der Ma gier in der Barriere zu bleiben und sich dort in den düstersten Schluchten zu verbergen. Sie waren nämlich Verbannte. Man hatte sie in Aghmonth hergestellt. Das war schon lange her. Die Herren der FESTUNG glaubten endlich das Problem gelöst zu haben, wie sie zu absolut treuen und zuverlässigen Dienern gelangten. Die Kelotten machten sich sofort an die Arbeit. Natürlich gingen sie zu Anfang nicht immer richtig vor, und so entstanden allerlei künst liche Wesen, von denen sich manche als wahre Bestien entpuppten. Bis schließlich die Seelenlosen erfunden wurden. Sie galten als hochentwickelte Produkte, auch wenn sie durch einen Konstruktions fehler stumm blieben. Den Herren der FE STUNG lag ohnehin nichts daran, sich mit ihren Dienern zu unterhalten. Die Kelotten stellten Tausende von Seelenlosen im Auf trag der FESTUNG her, und alles wäre in bester Ordnung gewesen, wenn nicht einige Bewohner von Aghmonth geradezu besessen nach immer neuen Möglichkeiten zur Er schaffung künstlichen Lebens gesucht hät ten. Eines Tages war der erste Dello fertig. Und der konnte sprechen. Er konnte auch andere Dinge tun, von denen die Seelenlo sen nichts verstanden. Die Herren der FESTUNG waren begei stert. Sie verlangten mehr Dellos, und die Seelenlosen merkten schnell, worauf diese Entwicklung hinauslief. Sie litten zwar unter ei ner gewissen geistigen Beschränktheit, aber so dumm, wie mancher glaubte, hatte man sie doch nicht konstruiert. Sie oder die Dellos – auf lange Sicht war nur für eine Art
Versammlung der Magier von Dienern Platz in der FESTUNG. Die Seelenlosen schnappten sich kurzent schlossen ihre sprechenden Konkurrenten und brachten sie ausnahmslos um. Leider hatten sie den Arbeitseifer der Ke lotten unterschätzt. Innerhalb kürzester Zeit kamen neue Dellos aus Aghmonth, und die Herren der FESTUNG, die die Seelenlosen natürlich durchschaut hatten, rächten sich für den Mord an ihren Dienern auf eine für sie typische Art und Weise: Sie ließen alle Seelenlosen betäuben und in die Große Bar riere von Oth bringen, wo damals allerlei Ungeheuer hausten. Den Seelenlosen wurde mitgeteilt, daß sie die Barriere nie mehr ver lassen durften. Manche versuchten es trotzdem. Sie meinten, jedes Schicksal sei besser, als sich von den Bestien der Berge zerreißen zu las sen. Sie hatten sich geirrt. Man brachte sie nach Aghmonth, wo sich die Kelotten mit Begeisterung über sie hermachten, um am lebenden Objekt allerlei Studien anzustellen. Mit der Zeit lernten die Seelenlosen, wie sie sich die Ungeheuer vom Hals halten konnten. Sie träumten sogar davon, alle rei ßenden Bestien auszurotten und die Barriere für sich zu erobern. Da kamen die Magier. Die Seelenlosen begriffen, daß sie gegen diese Leute nichts ausrichten konnten. So waren sie gezwun gen, sich mit ihnen zu einigen. Die Seelenlo sen machten dabei kein schlechtes Geschäft. Trotzdem haßten sie ihre neuen Herren, und dieser Haß lebte immer noch. Die Kelotten hatten nämlich die Seelenlosen die relative Unsterblichkeit verliehen – sie legten großen Wert darauf, nur wirklich gute und haltbare Ware an die FESTUNG zu liefern. Das war der Grund dafür, daß überall in den Schluchten und düsteren Höhlen ganze Horden von Seelenlosen auf ihre stumme Weise aufgeregte Diskussionen führten. Um zu einer optimalen Entscheidung zu gelan gen, gingen sie nach dem Ausscheidungs prinzip vor: Nacheinander wurden alle un brauchbaren Vorschläge eliminiert, bis end lich zwei Hauptmeinungen übrigblieben.
7 Die beiden Seelenlosen, die diese brauchba ren Vorschläge gemacht hatten, traten zu ei nem letzten Streit gegeneinander an. Der Dialog, den sie führten, läßt sich aus der Zeichensprache ungefähr so übersetzen: »Ich werde eine Botschaft an die Herren der FESTUNG senden. Wenn sie erfahren, daß wir sie vor großen Gefahren bewahrt ha ben, werden sie uns reich belohnen und die Verbannung aufheben.« »Ich bin anderer Meinung. Die Magier wollen die Herren betrügen, das wissen wir. Ich hörte sie über Glyndiszorn sprechen, den Magier, der durch das Nichts geht. Er hat et was Neues erfunden. Sicher ist es eine Waf fe, von der man in der FESTUNG nichts weiß. Ich werde sie stehlen und zu den Her ren bringen.« »Du wirst an die magische Waffe nicht herankommen. Glyndiszorn wird dich zer schmettern, ehe du sein Luftschiff auch nur zu sehen bekommst.« »Das ist ein Irrtum. Glyndiszorn ist wie alle Magier auf dem Weg zum Tal der Schneeblume.« »Dann hat er magische Sperren errichtet.« »Nein. Einige von uns kamen am Gnor den vorbei. Die Sperren sind gefallen.« »Ich glaube trotzdem nicht, daß wir die magische Waffe wegschaffen können. Ich stimme dafür, eine Botschaft zu senden.« »Man würde den Boten abfangen, ehe er auch nur Zbahn erreicht hat. Die Herren der Festung werden ihn gar nicht erst anhören, sondern sofort den Kelotten übergeben. Nein, wir brauchen die magische Waffe. Sie zur FESTUNG zu bringen, ist sehr einfach. Sie befindet sich in Glyndiszorns Luftschiff. Wir wissen, daß man diese Fahrzeuge steu ern kann. Wir brauchen nur die Trossen zu kappen und zur FESTUNG zu fliegen. Wenn wir mit der ORSAPAYA und der Waffe dort eintreffen, werden die Herren uns anhören müssen. Nur so gewinnen wir ihre Gunst zurück!« »Keiner von uns hat je ein Luftschiff ge steuert.« »Aber einige waren als Diener dabei, als
8 die Magier diese Fahrzeuge in die Barriere brachten und an ihren Plätzen verankerten. Sie haben genug gesehen.« Der andere Seelenlose sah sich um und entdeckte an mehreren Stellen das Zeichen der Zustimmung. Er wußte, daß er verloren hatte, aber er unternahm einen letzten Ver such. »Es kann nicht schaden, beide Wege zu gehen. Wir werden das Luftschiff erobern. Ein Bote soll uns vorauseilen und die Herren der FESTUNG verständigen.« »Damit würden wir nur einen aus unserer Mitte dem sicheren Tod preisgeben. Es gibt zu viele Hindernisse auf diesem Weg. Au ßerdem käme der Bote nicht schnell genug vorwärts. Selbst wenn es ihm gelänge, ein Yassel zu bändigen, wären wir mit dem Luftschiff viel früher am Ziel. Er könnte al so gar nichts ausrichten.« Der Seelenlose, der die Idee mit dem Bo ten gehabt hatte, gab auf. Die Argumente seines Gegners waren zu stark. »Wir sollten darüber sprechen, wie wir das Luftschiff schnell und sicher erobern können«, signalisierte er. Auch diese Frage wurde in langen Ge sprächen gelöst. Schwierigkeiten bei der Planung ergaben sich vor allem daraus, daß die Seelenlosen erstens keine Namen hatten und zweitens untereinander völlig gleichbe rechtigt waren. Die Kelotten hatten keinen von ihnen mit Fähigkeiten ausgestattet, die ihn zum Anführer der geisterbleichen Armee gemacht hätten. Sie hatten sich über dieses Problem früher nie den Kopf zerbrochen. Wozu brauchten sie Namen? Wenn es dar um ging, bei einem Magier zu dienen, wech selten die Seelenlosen einander ab, ohne daß ihr jeweiliger Arbeitgeber das auch nur be merkte. Denn die Seelenlosen sahen alle gleich aus. So dauerte es geraume Zeit, bis man sich wenigstens darüber einig war, wer an dem Diebstahl der ORSAPAYA teilnehmen soll te. Und noch viel länger wurde diskutiert, bis der Seelenlose bestimmt war, der den an deren sagen durfte, was sie zu tun hatten.
Marianne Sydow Es war der einzige unter ihnen, den man mit niemandem verwechseln konnte. Er hat te nämlich bei einem Kampf mit einem gräßlichen Ungetüm den rechten Arm einge büßt. Jetzt kam er als erster von allen Seelenlo sen sogar zu einem Namen. Man nannte ihn Nur-Links. Unter seiner Führung machten sich zwan zig weiße Gestalten auf den Weg zum Gnor den.
2. Fünf Tage waren vergangen, seitdem Co pasallior die Magier von Oth zum Treffen im Tal der Schneeblume gerufen hatte. Es würde noch einige Zeit dauern, bis alle sich dort versammelt hatten. Nur die höchsten Magier verfügten über Transportmittel, die sie schneller als die sehnigen Beine eines Yassels über die Berge trugen. Koratzo war mit seinen Freunden und dem Heraskawanu auf dem Crallion geblie ben, obwohl Haswahu, der Luftmagier, viel lieber in die Tronx-Kette zurückgekehrt wä re. Aber selbst der ängstliche Haswahu sah schließlich ein, daß das nur Zeitverschwen dung gewesen wäre. Außerdem behandelte Copasallior seine Gäste ungewöhnlich freundlich. An diesem Morgen trafen nacheinander die mächtigsten Magier ein, denn bevor er im Tal der Schneeblume der Versammlung seinen Vorschlag unterbreitete, wollte Copa sallior sich Rückendeckung bei seinen eng sten Vertrauten verschaffen. Zum erstenmal war Koratzo bei einer solchen Diskussion anwesend. Der Stimmenmagier beobachtete Copasal liors Verbündete aufmerksam. Parlzassel, der Tiermagier, ließ sich wie immer von einem Riesenvogel zum Crallion bringen. Er war ein rothaariger Riese. Im Gegensatz zu vielen anderen Magiern hatte Parlzassel einen unverwüstlichen Humor. Zur Zeit war er allerdings weniger zu Spä ßen aufgelegt.
Versammlung der Magier »Glonnis wird immer schwächer«, teilte er Copasallior statt einer Begrüßung mit. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Wenn ich nur wüßte, was mit ihm los ist.« »Er hat lange nicht aus dem Dämmersee getrunken«, gab Copasallior zu bedenken. Parlzassel nickte nachdenklich. Als nächster Gast erreichte Breckonzorpf die Höhlen am Gipfel des Crallion. Der Wettermagier wirkte noch düsterer als sonst. Das war kein Wunder, denn vor wenigen Tagen hatte er sein Luftschiff verloren. Nur der Donnerwagen war ihm geblieben. Vier schwarze Großkatzen saßen darin und be wachten das Fahrzeug. Kolviss, der Traummagier, landete schnaufend und fauchend. Er sah wie eine große, blaue Qualle aus und konnte sich nur mit seinen sehr intensiven Gedanken ver ständlich machen. Wortz, der Lebensmagier, tauchte einfach auf und stand klein, küm merlich und scheinbar schüchtern jedem im Weg. Jarsynthia, die Liebesmagierin, sorgte wie immer für Verwirrung. Niemand wußte, wie sie wirklich aussah. Diesmal kam sie als flatterndes Ungeheuer, das plötzlich aus der Luft herabstieß und den armen Kolviss fast zu Tode erschreckte, weil das Quallenwesen annehmen mußte, das Ungetüm wolle ihn auffressen. Als Jarsynthia sich laut lachend in eine junge Frau verwandelte, begann Par lzassel wüst zu fluchen, denn sein Reitvogel hatte die Flucht ergriffen. Da Malvenia auf dem Crallion geblieben war und Glyndiszorn offensichtlich immer noch keine Lust hatte, seinen Großen Kno ten zu verlassen, war die Versammlung voll ständig. Copasallior gab das Zeichen, und sie begaben sich in die Halle der Beratung. Koratzo merkte, daß die anderen ihn teils mißtrauisch, teils neugierig beobachteten. Er tat, als wäre es ihm gleichgültig. Natürlich fragten sich alle, warum ausgerechnet er heute anwesend war. Koratzo war der An führer der Magier aus der Tronx-Kette, und diese galten als Rebellen, die ständig ver suchten, sämtliche Traditionen auf den Kopf zu stellen.
9 »Was ist mit Glyndiszorn?« fragte Wortz, sobald sie an einem runden Tisch mit durch sichtiger Platte Platz genommen hatten. Er hatte Copasallior angesprochen. Zur allge meinen Verwunderung forderte der Welten magier ausgerechnet Koratzo auf, die Frage zu beantworten. Koratzo berichtete kurz, auf welch kom pliziertem Weg er einen Kontakt zu Glyn diszorn hergestellt hatte. Er hütete sich sehr, dabei seine magischen Fähigkeiten beson ders herauszustellen, denn diese hohen Ma gier reagierten auf solche Dinge außeror dentlich empfindlich. Außerdem hatte er das Gefühl, es sei besser, diese Leute über seine wirkliche Macht im Unklaren zu lassen. Um so ausführlicher berichtete er von dem Großen Knoten und der Botschaft, die Glyn diszorn ihm mit auf den Weg gegeben hatte. »Nun gut«, murmelte Breckonzorpf dü ster, als Koratzo seinen Bericht beendet hat te. »Mit Glyndiszorn dürfen wir also in der nächsten Zeit nicht rechnen. Eine andere Frage, Copasallior. Warum hast du zum Treffen im Tal der Schneeblume aufgeru fen?« Der Weltenmagier setzte zu einer Antwort an, aber Kolviss kam ihm mit seiner Gedan kenstimme zuvor. »Sollten wir nicht dafür sorgen, daß diese Frage im engen Kreis erörtert wird? Wie leicht können Außenstehende zu einer Ge fahr werden!« Der Stimmenmagier lächelte. Die offen sichtliche Beleidigung konnte ihn nicht tref fen. »Koratzos Anwesenheit ist aus verschie denen Gründen notwendig«, sagte Copasal lior und legte alle sechs Hände flach auf die Tischplatte. »Ihr kennt die Anweisung, die die Herren der FESTUNG erteilt haben. Wir sind bei unserem letzten Treffen zu der Überzeugung gelangt, daß es nicht ratsam ist, sich in die Auseinandersetzung zwischen den Herren und den Odinssöhnen hineinzie hen zu lassen. Die Frage, die wir damals nicht lösen konnten, betraf unsere eigene Si cherheit.«
10 »Daran hat sich leider nichts geändert«, seufzte Parlzassel. Copasallior griff das Stichwort dankbar auf. »Du liebst die Tiere, die du deine Familie nennst«, wandte er sich an den Tiermagier. »Ich weiß, wie schwer es dir fallen wird, sie in einen mörderischen Kampf zu schicken.« »Mörderisch?« fragte Parlzassel wütend. »Sinnlos ist er, und das ärgert mich so!« »Nehmen wir an, du wüßtest einen Weg, dem Kampf auszuweichen und dennoch der Rache der Herren zu entgehen«, fuhr Copa sallior unbeeindruckt fort. »Wie würdest du dich entscheiden?« »Dumme Frage. Ich habe keine Lust, mei ne Familie für einen so überflüssigen Kampf zu opfern.« »Wie steht es mit euch?« fragte Copasalli or. »Durch die drei Technos habe ich die SARKA und einen Teil meiner Waffen ein gebüßt«, murmelte Breckonzorpf. »Ich könnte zwar ein Unwetter erzeugen, aber mit dem, was sich in dem Speicher befand, gäbe es keinen Vergleich. Ich fürchte, die Herren der FESTUNG würden mich entwe der für einen Versager oder für einen Sabo teur halten. Nein, lieber würde ich allerlei Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, als mich an dem Kampf zu beteiligen.« »Ich kann dir nicht zustimmen«, meldete sich Wortz. »Ich fürchte mich nicht vor den Herren der FESTUNG, und meine magi schen Kräfte würden zweifellos die Schlacht entscheiden. Die Odinssöhne sind zwar un sterblich wie wir, aber gegen mich haben sie keine Chance. Sie würden als hilflose Greise die FESTUNG erreichen.« »Das denkst du«, bemerkte Jarsynthia spöttisch. »Vorher würde ich sie in abgrund tiefe Verwirrung stürzen. Meine Gesänge haben nichts an Wirksamkeit verloren.« »Malvenia?« Die Kunstmagierin blickte unsicher auf. Koratzo wußte, daß sie das Gesetz der FE STUNG gebrochen hatte. Sie hatte einen der Herren dargestellt. Dafür würde man sie tö-
Marianne Sydow ten. Sie ließ sich jedoch nicht davon abbrin gen, daß die Kunst frei zu sein hatte. Sie war notfalls sogar bereit, für ihre Überzeugung zu sterben, obwohl damit niemandem gehol fen war. »Ich kann weder für noch gegen die Her ren sprechen«, sagte sie zögernd. »Meine Magie taugt nicht zum Kämpfen. Ich habe keine Waffen. Aber ich finde, wir sind den Herren der FESTUNG etwas schuldig. Sie haben uns immer beschützt. Jetzt sind wir an der Reihe. Ich bin dafür, sie zu unterstüt zen.« Copasallior warf ihr mit seinen riesigen Basaltaugen einen merkwürdigen Blick zu. Malvenia senkte den Kopf. Jetzt kam es auf den Traummagier an. Da Koratzos Stimme nicht zählte, würde seine Entscheidung den Ausschlag geben. Kolviss war sich dessen bewußt. Er ließ die anderen zappeln und dachte lange über das Problem nach. »Bevor ich mich entscheide«, sagte er dann, »möchte ich wissen, was du eigentlich vorhast, Copasallior. Wie willst du uns vor der Rache schützen?« Das war der wunde Punkt. Copasallior und Koratzo hatten sehr konkrete Vorstel lungen darüber, wie sie die Barriere in eine uneinnehmbare Festung verwandeln wollten. Aber Glyndiszorn, der in diesem Plan die Hauptrolle spielte, ahnte noch nicht, was man von ihm zu verlangen gedachte. Es kam darauf an, den Knotenmagier vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dem Beschluß aller Magier konnte er sich nicht entgegenstellen. Wenn es aber nicht einmal gelang, in diesem engen Kreis für Einigkeit zu sorgen, wie schwierig mußte es dann erst werden, im Tal der Schneeblume eine Entscheidung zu er zwingen? »Wir werden später darüber sprechen«, wich Copasallior aus. »Ich versichere euch, daß der Plan perfekt ist. Keine Macht der Welt wird uns etwas anhaben können. Aber ihr müßt euch entscheiden.« »Das ist keine Antwort, Weltenmagier!« konterte Wortz scharf. »Kolviss hat eine korrekte Frage gestellt, die ich nachdrück
Versammlung der Magier lich unterstützen möchte. Warum weichst du aus?« Copasallior warf dem Stimmenmagier einen hilfesuchenden Blick zu, aber Koratzo schüttelte kaum merklich den Kopf. Er wuß te, was der Weltenmagier von ihm erwarte te: Er sollte die Kraft seiner Magie einset zen, um die anderen zu einer Einigung zu zwingen. Koratzo wußte jedoch, daß dies das letzte Mittel sein mußte. Im äußersten Notfall wür de er nicht zögern, alle Magier von Oth auf diese Weise zu beeinflussen. Aber seine Heilssprache, die Frieden und Glück bringen sollte, war noch nicht voll entwickelt. Wenn er dennoch einen durchschlagenden Erfolg erzielen wollte, mußte er die Magier über rumpeln. Um keinen Preis wollte er sie jetzt schon warnen. »Es tut mir leid«, seufzte Copasallior. »Warum vertraut ihr mir nicht?« »Weil es uns stutzig macht, daß du plötz lich diesen Rebellen in deiner Nähe dul dest«, bemerkte Jarsynthia spitz. »Wer weiß, wozu er dich überredet hat? Reden soll ja seine große Stärke sein. Bis jetzt allerdings habe ich davon noch nichts gemerkt.« Koratzo blieb ruhig und gelassen. Als er sich dazu entschlossen hatte, bis zum Auf bruch ins Tal der Schneeblume auf dem Crallion zu bleiben, war ihm klar gewesen, daß er mit Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Er begriff immer noch nicht, warum Copa sallior mehr oder weniger versteckt zu ihm hielt, nachdem er ihn lange Zeit seinen Haß nur zu deutlich hatte spüren lassen. »Das ist meine Sache!« sagte der Welten magier, und man merkte es seiner Stimme an, daß er sich nur mühsam beherrschte. »Koratzo vertritt die Magier der Tronx-Ket te. Auch sie müssen dem Plan zustimmen.« »Dann hättest du eigentlich auch Karsja nor aus den dunklen Tälern herbeirufen müssen«, konterte Jarsynthia. »Ich habe ihn gerufen, aber er ist meinem Ruf nicht ge folgt.« »Er wäre sicher gerne gekommen«, sagte Wortz sanft. »Leider sitzt er in einer Licht
11 blase gefangen. Das ist Querllos Werk. Ko ratzo und seine Freunde haben einen Kampf mit den Bewohnern der dunklen Täler her aufbeschworen.« »Karsjanor wußte, daß Koratzo in mei nem Auftrag zur ORSAPAYA reiste!« zischte der Weltenmagier wütend. »Er hat den Angriff auf die Gruppe veranlaßt, und jeder von uns weiß, daß es ihm dabei nur um Wa ging. Es ist sein Pech, daß er verloren hat.« »Ich finde es rührend, wie du Koratzo in Schutz nimmst«, murmelte Jarsynthia. Co pasallior war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Im letzten Augenblick besann er sich darauf, daß es ein Fehler war, auf solche Bemerkungen einzugehen. Damit schürte er das Mißtrauen der anderen nur noch. »Ich warte immer noch auf deine Ent scheidung, Kolviss«, sagte er schweratmend. »Für mich«, teilte das Quallenwesen ge danklich mit, »gilt dasselbe wie für Jarsyn thia und Wortz. Ich habe durchaus die Mit tel, um die Odinssöhne aufzuhalten, und ich brauche mich daher nicht vor den Herren der FESTUNG zu fürchten. Trotzdem werde ich nicht in den Kampf eingreifen.« »Was soll das?« krächzte Wortz wütend. »Meine Entscheidung ist gefallen«, erklärte Kolviss gelassen. »Ich kann sie dir jedoch nicht erklären. In diesem Punkt geht es mir wie dem Weltenmagier.« Wortz und die Lie besmagierin starrten Kolviss fassungslos an. Der Traummagier erhob sich sanft pulsie rend von seinem Platz und schwebte dem Ausgang der Höhlenwohnung entgegen. »Komm zurück!« rief Jarsynthia, als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. »So geht es nicht, Kolviss!« Alle hörten das spöttische Lachen, das der Traummagier in seinen Gedanken produzier te. »Du siehst, daß es geht«, sagte Kolviss, bevor er endgültig verschwand.
* »Wir haben gewonnen«, sagte Copasallior
12 nachdenklich. »Aber es war knapp. Ich fürchte, wir werden einige Schwierigkeiten haben, um unsere Pläne durchzusetzen.« »Unsere Pläne?« fragte Koratzo lächelnd. Sie standen alleine auf dem Plateau vor den Höhlen. Es war später Nachmittag. Die anderen Magier hatten den Crallion verlas sen, um sich für das große Treffen vorzube reiten. Wortz und Jarsynthia würden natür lich versuchen, möglichst viele Verbündete zu finden. Copasallior setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, winkte dann aber mit einer sei ner sechs Hände ab. »Lassen wir das«, murmelte er. »Wir sind Feinde und werden es auch bleiben. Es hat sich nichts geändert, bis auf die Tatsache, daß wir in dieser Angelegenheit zusammen arbeiten müssen. Nur ich habe möglicher weise die Macht, eine Entscheidung zu er zwingen. Und du bist der einzige Magier, der Glyndiszorn selbst in seinem Großen Knoten erreichen kann. Machen wir uns also nichts vor.« »Ich pflege mich immer an die Tatsachen zu halten, Weltenmagier«, antwortete Korat zo gelassen. Er hörte schnelle Schritte und drehte sich um. Opkul kam aufgeregt aus der Höhle ge rannt. »Ich habe einundzwanzig Seelenlose ent deckt«, berichtete er hastig. »Sie marschie ren auf verborgenen Pfaden zur ORSAPA YA.« »Seelenlose«, murmelte Copasallior ver ächtlich. »Du wirst viele von ihnen ent decken, wenn du dir den Crallion genau an siehst. Sie können ganz nützlich sein. Wenn sie nur nicht so dumm wären!« »Du irrst dich, Weltenmagier«, behaupte te Opkul. »Deine Diener haben sich zu ihren Freunden in die düsteren Schluchten zurück gezogen.« »Was sagst du da? Willst du etwa behaup ten, ich wäre nicht einmal mehr dazu fähig, ein paar Seelenlose in Zaum zu halten? Ihr genießt zwar das Gastrecht hier am Crallion, aber das gibt euch noch lange nicht das
Marianne Sydow Recht …« »Opkul hatte nicht die Absicht, dich zu beleidigen, Weltenmagier!« sagte Koratzo scharf. »Ganz im Gegenteil! Opkul, was hast du noch entdeckt?« Der Magier mit dem Fernblick war sicht lich erschrocken über Copasalliors unerwar teten Ausbruch. Etwas unsicher berichtete er. »Es ging vor ein paar Tagen los. Jene Seelenlosen, deren Herren in Richtung Treffpunkt aufbrachen, verließen ohne einen Befehl die magischen Bezirke. Dann gab es in vielen Schluchten Versammlungen. Von dort wurden einzelne Seelenlose zu weiteren Diskussionen geschickt.« »Sie können nicht diskutieren«, fuhr Co pasallior dazwischen. »Sie sind stumm.« »Sie haben aber eine Zeichensprache«, er klärte Koratzo beschwichtigend. »Wir wis sen das, weil wir sie schon oft beobachtet haben. Wir dulden sie nicht bei uns in der Tronx-Kette, weil wir glauben, daß sie sich nur verstellen, wenn sie als gehorsame Die ner auftreten. In Wirklichkeit hassen sie uns.« »Es gibt keinen Beweis dafür, daß du recht hast«, wehrte Copasallior schroff ab. »Noch nicht«, gab Koratzo zu. »Aber das kann sich ändern. Wie ging es weiter, Op kul?« Copasallior entfernte sich demonstrativ, blieb aber in Hörweite. »Nun, es schien, als redeten sie über sehr wichtige Dinge. Es war offensichtlich schwer für sie, zu einer Entscheidung zu kommen. Ich sah einen Teil der abschließen den Diskussion. Leider kenne ich nur ein paar von ihren Handzeichen, aber ich bin si cher, daß es um die FESTUNG ging – und um ein Luftschiff.« »Der Kerl hat geträumt!« sagte Copasalli or laut, ohne sich umzudrehen. »Die Seelen losen wissen gar nicht, daß es die FE STUNG gibt.« »Ich wollte, ich wäre einmal Weltenma gier«, erklärte Koratzo im selben Tonfall. »Dann könnte ich behaupten, alles zu wis
Versammlung der Magier sen, und müßte niemals etwas dazulernen.« Copasallior fuhr herum. Über einige Schritte Entfernung starrte er Koratzo mit seinen unheimlichen Augen an. Der Stim menmagier hielt den Blicken stand. »Vor langer Zeit«, sagte er schließlich, »kamen wir in die Barriere und fanden die Seelenlosen. Man bot uns an, sie entweder zu vernichten oder sie zu verwenden, wie es uns gefiel. Aber niemals schlugen uns die Herren der FESTUNG vor, die Seelenlosen umzusiedeln, wie sie es mit vielen anderen Gruppen auf Pthor mehrmals taten. Wa rum?« »Wie ich dich kenne, kennst du die Ant wort bereits«, knurrte Copasallior mißmutig. »Nein. Aber es gibt gewisse Zusammen hänge. In Aghmonth zum Beispiel weiß man, daß die Seelenlosen existieren, aber man spricht nicht über sie. Und deine treuen Diener haben niemals den Versuch gemacht, die Barriere zu verlassen, obwohl das Leben für sie hier oft recht hart ist. Sie bilden keine Familien und haben keine Nachkommen.« »Ich habe mich mit diesen Dingen nie mals befaßt«, gab der Weltenmagier betrof fen zu. »Bist du sicher? Sie sehen alle gleich aus, und ich dachte immer, nur die Männer kommen zu uns herauf, um für uns zu arbei ten. Wenn es aber stimmt, und sie wirklich keine Nachkommen haben …« »… sind sie unsterblich«, vollendete Ko ratzo den Satz, der dem Weltenmagier nicht über die Lippen wollte. »Sie könnten Dellos sein, sozusagen die ersten Versuche der Ke lotten, die perfekten Diener herzustellen.« »Dellos, die sich als untauglich erweisen, werden vernichtet.« »Wer weiß. Das gilt heute. Früher mag es anders gewesen sein.« »Das sind Vermutungen. Ich bin sicher, daß die Seelenlosen absolut harmlos sind. Mich hat noch keiner angegriffen. Wenn ich einem befehlen würde, hier von der Brü stung in die Tiefe zu springen, würde er es tun.« »Nur ist jetzt leider keiner deiner Diener mehr da, um auf diese Weise seinen Gehor
13 sam zur Schau zu stellen«, bemerkte Korat zo lächelnd. »Sie haben den Gnorden erreicht«, misch te Opkul sich ein. »Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Sie wollen zur ORSAPA YA.« Koratzo beobachtete den Weltenmagier. Es war für Copasallior sehr schwer, wenig stens ein paar der alten Vorurteile zu über winden. Da war das Mißtrauen den Leuten aus der Tronx-Kette gegenüber. Sie waren seit jeher seine Gegner gewesen. Nicht alle, denn einige gehörten zu seinen besten Freunden, bis zu dem Zeitpunkt, als sie be griffen, was die Herren der FESTUNG den fremden Planeten antaten. Und da war die Sache mit Koratzo … Copasallior gab sich einen Ruck. Er muß te die Erinnerungen abschütteln. Es ging vor allem um Malvenia. Sie durfte nicht sterben, und um sie zu retten, brauchte er Glyndis zorns Großen Knoten. Copasallior war fest entschlossen, im äußersten Notfall sogar ge gen den Willen der anderen Magier zu han deln. »Also gut«, sagte er. »Koratzo, wir beide werden die Angelegenheit klären!«
3. Da sie es mit Seelenlosen zu tun hatten, wollten sie sich nicht nur auf ihre Magie verlassen. In den Höhlen des Weltenmagiers gab es viele Waffen. Copasallior hatte den größten Teil davon von fremden Planeten herbeigeschafft. Er beobachtete Koratzo, der scheinbar ratlos vor der riesigen Sammlung stand. Er wartete darauf, daß der Stimmen magier ihn um Rat fragte, und lächelte tri umphierend, als Koratzo ein fast zierliches Schwert hochhob. »Damit wirst du es bei den Seelenlosen schwer haben«, behauptete Copasallior gön nerhaft. »Nimm lieber diese Waggu. Mit der brauchst du nicht einmal zu zielen. Es reicht, wenn der Lähmstrahl deine Gegner streift.« Copasallior hielt dem Stimmenmagier die Waffe hin. Auf das Schwert achtete er nicht.
14 Koratzo hielt es so ungeschickt in der Hand, daß niemand einen Angriff erwartet hätte. Um so überraschter war Copasallior, als das Schwert blitzschnell nach oben zuckte und die Waggu durchschlug. Fassungslos be trachtete er die beiden Hälften des Strahlers. »Es liegt an der Klinge«, erklärte Koratzo beiläufig. »Sie besteht aus einem Material, das ich besonders leicht beeinflussen kann. Trotzdem hast du recht. Damit könnte ich zwar kämpfen, aber es gäbe Tote und Ver wundete. Nehmen wir lieber Waggus.« »Wenn die Seelenlosen sich gegen uns stellen, dürfen sie nicht auf Gnade hoffen. Es ist gefährlich, solchen Leuten gegenüber Rücksichtnahme walten zu lassen. Damit er muntern wir sie höchstens zu weiteren An griffen.« »Das mag sein. Aber noch wissen wir nicht, was die Seelenlosen vorhaben. Wir brauchen sie lebend, damit sie uns ihre Pläne verraten können.« »Du vergißt schon wieder, daß sie stumm sind!« »Und du vergißt, mit welcher Art von Magie ich mich befasse. Ich werde sie zum Reden bringen, verlaß dich darauf!« Copasallior gab nach und holte für jeden eine Waggu. Dann ging er schweigend vor an. Koratzo wußte, daß der Weltenmagier sich ärgerte. Copasallior mochte es nicht, wenn man ihm widersprach, und er haßte es, wenn jemand in seinen Entscheidungen einen Fehler entdeckte. Um möglichst schnell ans Ziel zu kom men, bestiegen sie Saisja, Copasalliors eiser nes Yassel, das mit der doppelten Last mü helos fertig wurde. Es trug sie in rasender Geschwindigkeit den Crallion hinunter und über den Paß zu Glyndiszorns Berg. Opkul hatte ihnen den Ort, an dem die Seelenlosen sich befanden, genau beschrieben und auch ausgekundschaftet, welchen Weg die An greifer vermutlich nehmen würden. Copasal lior ließ Saisja langsamer gehen und hielt Ausschau nach Spuren. Er fand nichts. »Dein Freund scheint sich geirrt zu ha ben«, sagte er mißmutig. »Warum bin ich
Marianne Sydow nur auf diesen Unsinn hereingefallen? Ein Angriff der Seelenlosen – das ist doch ein ausgemachter Schwindel. Was wolltet ihr damit erreichen?« Koratzo antwortete nicht. Er schwang sich von Saisjas Rücken und sah sich aufmerk sam um. Die Seelenlosen hatten sich im Lauf der Zeit an ihre Schluchten und Höhlen so sehr gewöhnt, daß sie das offene Gelände scheuten. Sie mußten in der Nähe sein, denn Opkul hatte sich noch niemals geirrt, wenn er seinen Fernblick anwendete. Der Weg zur ORSAPAYA führte an die ser Stelle über eine nur schwach geneigte Geröllhalde. Das Luftschiff war etwa zwei hundert Meter höher auf einem Plateau ver ankert, in dessen Mitte sich ein See befand. Es war un wahrscheinlich, daß es unter dem Geröll Hohlräume gab, und auch weiter oben war das Gelände viel zu übersichtlich, als daß die Seelenlosen sich dort hätten ver bergen können. Aber es gab noch einen anderen Weg, auf dem man die ORSAPAYA erreichen konnte. Koratzo selbst hatte ihn vor wenigen Tagen benutzt, weil es glatter Wahnsinn gewesen wäre, in dem von den Technos ausgelösten Sturm hier draußen herumzulaufen. Aber der Kamin begann viel weiter unten, und der Einstieg lag mindestens zweihundert Meter westlich vom Beginn des Weges. Opkul hat te die Seelenlosen am Hang entdeckt und darum angenommen, sie würden den beque men Pfad benutzen. Koratzo drehte sich nachdenklich um. Dort drüben stand Saisja unbeweglich wie ein Denkmal. Aber vorher, als sie im rasen den Lauf den Weg entlanggedonnert war, mußte man das Trampeln der stählernen Hu fe viele Kilometer weit gehört haben. Ge genüber lag der Crallion, und genau dort, auf der Ostflanke, verlief die Serpentinen straße, über die sie gekommen waren. Der Stimmenmagier kam zu dem Schluß, daß die Seelenlosen sofort gemerkt hatten, daß Copasallior ihretwegen unterwegs war. Ihnen war genug Zeit geblieben, zurückzu laufen und sich in der Nähe des Kamins zu
Versammlung der Magier verbergen. Inzwischen waren sie wieder un terwegs, und sie würden sich nicht anstren gen müssen, denn die von der Höhlenmagie rin Wa geschaffenen Kletterhilfen waren noch vorhanden. Koratzo rannte zu Saisja und schwang sich hinter dem Weltenmagier auf den Rücken des eisernen Yassels. »Wir müssen nach oben«, sagte er. »Und zwar schnell. Ich fürchte, die Seelenlosen haben uns zu früh bemerkt und stecken jetzt in diesem Kamin, von dem ich dir erzählt habe. Kannst du Saisja dazu bringen, etwas weniger Lärm zu machen?« Copasallior war längst nicht davon über zeugt, daß die Seelenlosen tatsächlich in der Nähe waren, aber er ging schließlich kein Risiko ein, wenn er Koratzo den Gefallen tat, bis zur ORSAPAYA zu reiten. Um das Trommeln von Saisjas Hufen zu dämpfen, brauchte er nur auf eine Stelle am Halsan satz zu drücken. Die Robotbürger von Wol terhaven hatten beim Bau des eisernen Yas sels an alles gedacht. Unter Saisjas Hufen bildeten sich Schwebepolster, die wie Copa salliors Flugfelder funktionierten. Das eiser ne Yassel raste lautlos dem Hochtal und der ORSAPAYA entgegen. Kurz vor dem Ziel hielt Copasallior an. Sie verständigten sich mit einem kurzen Blick und schlichen das letzte Stück des Weges entlang. Sie konnten das Luftschiff bereits sehen, und selbst den Weltenmagier beschlich ein unbehagliches Gefühl beim Anblick des düsteren Schleiers, der die OR SAPAYA umgab. Inzwischen war es Abend geworden, und nur die höchsten Bergspitzen glänzten noch im Licht der tiefstehenden Sonne. Die bei den Magier hatten einige Mühe, dem steini gen Pfad zwischen haushohen Felsbrocken zu folgen, ohne dabei verräterische Ge räusche zu erzeugen. Koratzo hielt seine Waggu schußbereit in der Hand. Copasallior dagegen ließ die Waffe immer noch stecken. Damit wollte der Weltenmagier demonstrie ren, für wie unwahrscheinlich er es hielt, daß sie hier oben auf Seelenlose trafen.
15 Als sie den letzten Felsbrocken erreicht hatten, gab es ein schwirrendes Geräusch. Es kam vom Plateau. Koratzo hielt den Welten magier zurück, der gerade aus der sicheren Deckung des Felsens heraustreten wollte. »Ich kenne das Geräusch«, flüsterte Ko ratzo aufgeregt. »Jemand hat den Eingang der Transportröhre geöffnet.« »Vielleicht ist es Glyndiszorn«, raunte Copasallior hoffnungsvoll. »Er könnte es sich anders überlegt haben und doch an un serem Treffen teilnehmen wollen.« »Das halte ich für unwahrscheinlich. Er stens braucht er nur durch eine seiner Falten zu gehen, um das Tal der Schneeblume zu erreichen, und daher ist es überflüssig, daß er sich schon jetzt auf den Weg macht. Zweitens kann er den Großen Knoten nicht verlassen, ohne ihn vorher aufzulösen. Die düstere Wolke um die ORSAPAYA ist aber noch vorhanden.« »Wir werden nachsehen«, entschied Co pasallior. Sie benutzten die magische Energie, die es überall in der Barriere gab, um sich vor den Blicken anderer Wesen zu schützen. Auf diese Weise konnten sie sich nahezu un sichtbar machen. Koratzo zweifelte aller dings daran, daß solche Mittel auch den See lenlosen gegenüber wirkten. Die bleichen Wesen hatten mehrmals bewiesen, daß sie gegen einfachere Formen der Magie unemp findlich waren. Sie hatten die Deckung kaum verlassen, da sahen sie sie. Sie standen um die Trans portröhre herum. Koratzo zählte neunzehn Seelenlose, von denen einer den rechten Arm verloren hatte. Das hieß, daß zwei von diesen Wesen auf dem Weg in die Gondel der ORSAPAYA waren. Copasallior war wie erstarrt, als er er kannte, daß Koratzo ihn wirklich nicht hatte hereinlegen wollen. Hinzu kam der Schock der Erkenntnis, daß er – wie die meisten an deren Magier auch – die Seelenlosen unter schätzt hatte. Die Situation war eindeutig. Glyndiszorn hatte niemals einen Seelenlosen auf dem Gnorden geduldet. Diese Wesen
16 waren also wirklich gegen den Willen des Knotenmagiers hier eingedrungen. Während der Weltenmagier noch Mühe hatte, diese Neuigkeiten zu verdauen, brach te Koratzo die Waggu in Anschlag. Im sel ben Augenblick wurde er von den Seelenlo sen entdeckt. Wie auf ein geheimes Kommando drehten sie sich alle gleichzeitig um. Sie sahen Ko ratzo an, und das bewies dem Stimmenma gier, wie berechtigt seine Befürchtungen wa ren. Er löste die Waggu aus und traf zwei Seelenlose, die dicht beieinander gestanden hatten. Die Seelenlosen spritzten auseinander. Sie hatten sich Speere und klobige Schwerter beschafft. Der Einarmige vollführte wütende Gesten und schlug sein Schwert gegen eine straff gespannte Trosse. Ein Dröhnen wie von einem gigantischen Gong hallte über das Plateau. Die Seelenlosen hatten sich gut auf das Unternehmen vorbereitet. Sie teilten sich blitzschnell in zwei Gruppen, von denen die eine zu den Trossen rannte und damit be gann, die Verankerungen zu lösen. Die an deren wandten sich gegen Copasallior und Koratzo. »Sie wollen die ORSAPAYA stehlen!« rief der Stimmenmagier wütend und riß da mit Copasallior aus dem Bann der Verwun derung. Ein Speer zischte auf sie zu. Die beiden Magier wichen nach unterschiedlichen Rich tungen aus. Die Waggus zischten, aber in zwischen hatten die Seelenlosen sich so ge schickt verteilt, daß jeder Schuß nur einen von ihnen treffen konnte. Zu allem Überfluß zeigte es sich, daß sie sich flink und sicher selbst im steilen Fels bewegen konnten. Bin nen Sekunden waren drei von ihnen in den Brocken am Rand des Plateaus verschwun den. Copasallior und Koratzo hatten keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Früher hatten die Seelenlosen gegen die Bestien der Berge gekämpft. Sie hatten in der Zwischenzeit nichts verlernt. Die beiden Magier hatten genug damit zu tun, den Spee-
Marianne Sydow ren auszuweichen und die Gegner mit den Waggus zu lähmen, die mit ihren Schwer tern blitzschnelle Ausfälle unternahmen. Co pasallior hatte sich geirrt, als er annahm, ein leichter Streifschuß würde ausreichen, um diese Gegner außer Gefecht zu setzen. Die Seelenlosen verdauten jeden Treffer, wenn die lähmende Energie nicht gerade den Schädel oder die Herzgegend erreichte. Nach einigen Minuten war erst die Hälfte der zweiten Gruppe ausgeschaltet. Die See lenlosen lagen in der sicheren Deckung zer borstener Kristallsäulen und schleuderten von dort aus Speere und Steine nach den Magiern. Die anderen arbeiteten wie rasend an den Verankerungen der ORSAPAYA. »Bist du immer noch der Meinung, wir sollten um jeden Preis ihr Leben schonen?« fragte Copasallior bitter. Koratzo blickte zu den Trossen hinüber und schüttelte den Kopf. »Wenn sie die ORSAPAYA fliegen las sen, gibt es eine Katastrophe«, murmelte er. »Das auch. Aber vor allem verlieren wir Glyndiszorn und seinen Großen Knoten. Los, wir werden ihnen zeigen, worauf sie sich eingelassen haben!« Der Weltenmagier sprang auf und hob die Hände. Sofort rasten zwei Speere auf ihn zu, aber sie prallten wenige Meter vor ihm ge gen ein unsichtbares Hindernis. Inzwischen brachte Koratzo mit seinen magischen For meln die Reste der Kristallsäulen zum Klin gen. Sie begannen zu vibrieren und strahlten unerträgliche Hitze aus. Entsetzt verließen die Seelenlosen ihre Verstecke. Sobald sie für Copasallior sichtbar waren, bannte er sie durch einige Gesten an ihren Platz. Er stellte fest, daß die Speerspitzen und Schwerter aus einem Metall geschmiedet waren, das man in unteren Schluchten in dicken Adern fand. Das war gut, denn über dieses Material ver mochte er zu herrschen. Die anderen Seelenlosen an den Veranke rungen des Luftschiffes hatten aufgehört zu arbeiten. Wie gebannt starrten sie zu den Magiern hinüber. Sie krümmten sich vor Entsetzen, als die Speere und Schwerter in
Versammlung der Magier den Händen ihrer Freunde aufglühten. Die Gegner des Weltenmagiers versuchten, die Waffen von sich zu schleudern. Es ging nicht. Das Glühen wurde stärker und hüllte sie ein. Für kurze Zeit sah man noch die Sil houetten der Seelenlosen in den Glutwolken. Dann erlosch das Licht, und die Kämpfer waren samt ihren Waffen verschwunden. Copasallior warf triumphierend die Arme hoch. Im gleichen Augenblick sah Koratzo hinter dem Weltenmagier die drei Seelenlo sen, die sich schon zu Beginn des Kampfes abgesondert hatten. Sie hoben die Schwer ter, und Copasallior war keine drei Meter von ihnen entfernt. Eine Warnung wäre zu spät gekommen. Copasallior beherrschte das Metall nur dann, wenn er es mit seinen Basaltaugen sehen konnte. Schon vor langer Zeit hatte Koratzo sich geschworen, jene schrecklichen Laute nie mals als Waffe zu benutzen, wie es in der Stimmenmagie in einem dunklen Zeitalter üblich gewesen war. Jetzt warf er die guten Vorsätze über Bord. Er schrie die unver ständlichen Worte den Seelenlosen entgegen und legte genug Macht hinein, um nicht nur diese drei, sondern auch die zweite Gruppe zu vernichten. Die Wirkung war gräßlich. Die Seelenlo sen erstarrten auf der Stelle und schrumpften dann rasend schnell zusammen. Was von ih nen übrigblieb, sah wie eine vertrocknete Wurzel aus. Damit war die Entscheidung ge fallen. Koratzo senkte niedergeschlagen den Kopf. Schon jetzt bedauerte er es, daß er sich zu einer so abscheulichen Tat hatte hinreißen lassen. Erstaunlicherweise schien Copasallior zu verstehen, was in dem Stimmenmagier vor ging. Er legte Koratzo mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Du hattest keine andere Wahl«, stellte er fest. »Es sei denn, du hättest es zugelassen, daß sie mich töteten.« Die beiden Magier sahen sich schweigend an. Irgend etwas war in diesen Minuten ge
17 schehen. Jeder einzelne Magier von Oth hät te es zwar nicht gebilligt, aber verstanden, wenn Koratzo dem Weltenmagier jede Hilfe verweigert hätte. Copasallior hatte den Ma gier aus der Tronx-Kette oft genug gedemü tigt. Und Koratzo hatte dem Weltenmagier seinerseits Schwierigkeiten bereitet, wo im mer es in seiner Macht lag. Der kurze Augenblick gegenseitigen Ver ständnisses war vorüber, als aus der Trans portröhre zur ORSAPAYA lautes Fauchen drang. Instinktiv warf Koratzo sich nach vorne und brachte damit den Weltenmagier zu Fall. Einen halben Meter über ihnen brachte ein fingerdicker Energiestrahl die Felsen zum Schmelzen. Koratzo drehte sich vor sichtig auf die Seite und entdeckte die bei den letzten Seelenlosen. Sie standen im Ein gang zur Röhre. Sie mußten gemerkt haben, was sich hier unten abspielte. Und sie waren weit besser bewaffnet als ihre Freunde. Die Strahler, die sie in den Händen hielten, stammten mit absoluter Gewißheit von den Technos. Dieses Metall war für Copasallior unan greifbar. Es blieb auch keine Zeit mehr, einen herumliegenden Speer gegen die See lenlosen einzusetzen. So kam es, daß Koratzo zum zweitenmal die zerstörende Abart der Stimmenmagie einsetzen mußte. Wenigstens konnte er dies mal dafür sorgen, daß die beiden Seelenlo sen einen schnellen Tod starben. Ein Laut genügte, und sie schossen sich gegenseitig nieder. Als auch das vorüber war, stand Koratzo auf und kehrte schweigend zu Saisja zurück, die jenseits der Felsbarriere wartete. Copasallior folgte dem Stimmenmagier nicht gleich. Er kontrollierte zuerst die Tros sen und deren Verankerungen. Die Seelenlo sen waren sehr stark. Es war ihnen gelun gen, einige Trossen zum Teil zu lösen. Co pasallior beseitigte die Schäden. Nachdenk lich sah er dann zur ORSAPAYA hinauf. Er hatte das Gefühl, als sei der dunkle Schleier noch undurchsichtiger geworden.
18 Das Luftschiff war kaum noch zu erkennen. Allerdings war es jetzt ohnehin fast finster, und so war es möglich, daß er sich irrte. Ihm war klar, daß die Seelenlosen es wie der versuchen würden. Spätestens dann, wenn alle Magier im Tal der Schneeblume versammelt waren, konnten sie sicher sein, daß sich ihnen niemand mehr in den Weg stellte. Offenbar hatten sie keine Ahnung, in welche Gefahr sie sich und ganz Pthor brachten, wenn sie das Luftschiff von die sem Platz entfernten. Eine so schwere Stö rung mußte dazu führen, daß Glyndiszorn die Kontrolle über den Großen Knoten ver lor. Copasallior wagte es nicht, sich die Fol gen auch nur vorzustellen. Er fragte sich, was die Seelenlosen mit dem Luftschiff anzufangen gedachten. Be stand ihr Plan darin, einfach den Magiern einen Streich zu spielen und ihnen Schaden zuzufügen? So dumm konnten selbst diese Wesen nicht sein. Abgesehen davon mußten sie da mit rechnen, daß die Magier sich rächten. Ihm fiel ein, was Koratzo über die Seelenlo sen gesagt hatte, und er nickte unwillkürlich. So gesehen, war das Vorgehen der Seelenlo sen logisch. Sie wußten von den Herren der FESTUNG und sie wollten deren Gunst zu rückerobern. Was war besser dazu geeignet, als eine bisher geheime Waffe aus der Bar riere von Oth? Dem Weltenmagier lief es kalt den Rücken hinunter, als er daran dachte, wie sorglos er sich oft in Gegenwart von Seelen losen über alles mögliche unterhalten hatte. Wieviel wußten diese Burschen? Ahnten sie am Ende sogar, daß die Magier sich von den Herren der FESTUNG lossagen wollten? Auf dem Crallion schützte Copasallior seine Schätze durch besonders starke Sper ren und Bannsprüche, die selbst für einen anderen Magier kaum zu überwinden waren. Jarsynthia hatte es trotzdem geschafft, aber das lag vermutlich darin, daß sie ständig ihre Ges talt veränderte. Reichten die Sperren für die Seelenlosen aus? Copasallior fühlte sich plötzlich sehr unsicher. Er hatte keinen sei-
Marianne Sydow ner Diener beim Stehlen erwischt, und er war sicher, daß kein Seelenloser jemals in die Hallen der Wunder eingedrungen war. Aber vielleicht lag das nur daran, daß diese bleichen Wesen ihre Tarnung um jeden Preis aufrechterhalten wollten, bis der Tag ge kommen war, an dem sie losschlagen konn ten. Copasallior wußte sich keinen anderen Rat, als den Eingang zur Transportröhre mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu versiegeln. Dann kehrte er nachdenklich zu Saisja zurück. Koratzo saß etwas abseits auf einem Stein und starrte vor sich hin. »Es wird Zeit«, sagte Copasallior leise. Der Stimmenmagier erhob sich schwei gend. Auf dem Ritt zur Höhlenwohnung sprach er kein einziges Wort. Und als sie das Ziel erreicht hatten, ging Koratzo ohne einen Gruß an seinen Freunden vorbei, um den für ihn bestimmten Raum aufzusuchen. »Was ist passiert?« fragte Wa besorgt. Copasallior bedachte die Höhlenmagierin mit einem seltsamen Blick. »Er war gezwungen, ein paar Seelenlose zu töten«, erklärte er zögernd. Er sah, daß Wa zusammenzuckte und erschrocken den Mund öffnete. Querllo, der Zwerg mit der Rindenhaut, wandte sich abrupt ab und ging in die Höhle, um Koratzo zu suchen. Opkul und Haswahu sahen aus, als wären sie einem Gespenst begegnet. Nur Ssissnu, der Schlan genmagier, zeigte keine Gemütsbewegung – was aber nichts zu bedeuten hatte, weil die ses bepelzte Kugelwesen ohnehin kein Ge sicht im üblichen Sinn besaß. Eine plötzliche Wut überkam den Welten magier. »Was starrt ihr mich so an?« schrie er. »Er hat getötet, na und? Er hat seine Magie eingesetzt, um einen gefährlichen Gegner zu beseitigen. Was ist daran so aufregend? Habt ihr in der Tronx-Kette verlernt, daß Kampf und Tod zum Leben gehören?« Sie drehten sich schweigend um und lie ßen ihn einfach stehen. Diese Narren! dachte Copasallior wütend. Sie sind total verweichlicht. Dieses ganze
Versammlung der Magier Gerede von der positiven Magie kann mir gestohlen bleiben. Und Koratzo ist ein noch größerer Narr. Und wenn er mir hundertmal das Leben gerettet hätte. Die ganze Bande ist verrückt! Er ging wütend in seine Höhle, wo ein paar Kristallkugeln sanftes Licht verbreite ten. Der Stimmenkristall neben der Tür rea gierte sofort auf sein Erscheinen und begann eine freundliche Melodie zu summen. In ei nem ersten Impuls wollte Copasallior das Ding zum Schweigen bringen, dann aber ließ er sich resignierend auf sein Lager fal len. An einer anderen Stelle innerhalb des Höhlenkomplexes sagte Querllo zu seinen Freunden: »Es geht ihm schon besser. Koratzo braucht nur etwas Ruhe. Morgen ist er wie der in Ordnung. Er hatte übrigens keine an dere Wahl. Das heißt, er hätte sich an seine eigenen Gesetze halten können, aber dann wäre Copasallior jetzt tot.« »Ich glaube nicht, daß ich in diesem Falle vor Trauer zerflossen wäre«, meinte Wa är gerlich. »Dieser Weltenmagier ist es nicht wert, daß Koratzo seinetwegen …« »Das reicht!« sagte Querllo scharf. »An diesem Tag sind genug böse Worte gefallen. Und was Koratzo angeht: Dies ist allein sei ne Angelegenheit. Ich für meinen Teil habe auch genug.« Die anderen sahen sich bedrückt an und verzogen sich in ihre Zimmer.
4. Glyndiszorn hatte gar nichts von dem Kampf bemerkt, der sich unmittelbar unter dem Luftschiff abspielte. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Der Knoten benahm sich, als wolle er seinem Herrn und Meister mit aller Gewalt das Gruseln beibringen. Immer wieder tauchten auf den einzelnen Linien Dinge auf, die in die Sphäre dräng ten. Glyndiszorn schleuderte sie jedesmal zurück. Aber er wußte, daß seine Kräfte bald nachlassen würden. Was sollte dann gesche
19 hen? Dieser verflixte Knoten wollte sich aus dehnen. Er benahm sich fast wie ein lebendes Wesen. Glyndiszorn gab nicht viel auf Ahnungen, aber er war sicher, daß der Pro zeß am ehesten dadurch zum Stillstand ge bracht wur de, daß er den Knoten wachsen ließ. Und er glaubte zu wissen, daß das Ge bilde sich nicht über die Grenzen der Barrie re hinweg ausdehnen würde. Das mußte mit der magischen Energie zusammenhängen, die es überall in den Bergen gab. Glyndiszorn überlegte sogar, ob eine der Linien in eine ebenfalls von der Magie be herrschte Welt führte. Das wäre eine Erklä rung für die bisher unbekannten Vorgänge gewesen. Durch diese Überlegungen änderte sich leider nichts an der Tatsache, daß der Druck immer stärker wurde, während Glyndiszorns Macht schrumpfte. Der Knotenmagier gelangte an einen Punkt, an dem ihn seine Ehre als Magier un wichtig wurde. Er hätte gerne um Hilfe ge rufen, aber wußte ja, daß niemand ihn hören konnte. Wo blieb nur dieser Stimmenma gier? Copasallior gab sich doch sonst nicht so schnell zufrieden. Eine Zurückweisung vertrug der Weltenmagier nicht. Warum be mühte er sich nicht um einen zweiten Kon takt? Die Punkte waren schon wieder da, und wieder entwischten dem Knotenmagier eini ge, um sich an den Wänden der Sphäre fest zusaugen. Die, die bereits mit dem ersten Schub hereingekommen waren, glichen jetzt den Kristallkugeln, die die meisten Magier als Beleuchtungskörper benutzten. Mehr zufällig erhaschte Glyndiszorn ab und zu einen Blick auf das, was am anderen Ende der Linien lag. Dabei entdeckte er einen Magier, der auf einem großen, schnee weißen Yassel ritt. Er trug eine Maske, und das Tier wurde durch Sichtblenden daran ge hindert, zur Seite zu schauen. Das war auch notwendig, denn der Magier ritt über eine schmale, schwankende Brücke. Glyndiszorn konnte sich nicht daran erinnern, ein solch
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unsicheres Gebilde in der Barriere gesehen zu haben. Dagegen war sogar Was Kristall band, das die Tronx-Kette mit den dunklen Tälern verband, ein solides Bauwerk. Für einen Augenblick war Glyndiszorn von dem Bild fasziniert. Er wußte nicht, in welche Zeit er sah, aber er glaubte, in dem Reiter Koratzo zu erkennen.
* In den Schluchten der Seelenlosen herrschten Furcht und Verwirrung. Der mühsam ausgetüftelte Plan war fehlgeschla gen. Es war nicht mehr daran zu denken, den Herren eine neue magische Waffe zu präsen tieren und dadurch alle Seelenlosen aus der Verbannung zu befreien. Im Gegenteil: Eine andere, wesentlich greifbarere Gefahr war heraufbeschworen worden. Als die beiden Magier auftauchten, hatte Nur-Links sofort begriffen, daß es aus und vorbei war. Dennoch hatte er das Zeichen zum Angriff gegeben. Im Gegensatz zu sei nen Kameraden wußte Nur-Links, daß die Seelenlosen gegen die Magier keine Chance hatten. Er hatte sie also wissentlich dem Tod preisgegeben. Er hatte sie geopfert, um selbst im Kampfgetümmel unbemerkt dav onschleichen zu können. Jedes andere Volk hätte ein solches Ver halten zumindest scharf verurteilt. Die See lenlosen dagegen waren der Ansicht, daß Nur-Links im Gegenteil sehr geschickt ge handelt hatte. Niemand war in der Nähe gewesen, der von der Niederlage der Gruppe hätte berich ten können. Die Seelenlosen in den Tälern hätten zweifellos nach einiger Zeit Späher ausgeschickt, um festzustellen, was aus dem ganzen Unternehmen geworden war. Die Seelenlosen gingen davon aus, daß die Ma gier das Luftschiff von nun an ständig bewa chen ließen. Die Späher wären also ah nungslos in die Falle gelaufen. Indem NurLinks seine Freunde im Stich gelassen hatte, rettete er sein Leben und das der eventuellen
Späher. Nur-Links hatte sogar an Ansehen gewon nen. Man feierte ihn wie einen Helden, weil er den Magiern entwischt war. Schließlich ließ man Nur-Links in Ruhe und beschäftigte sich mit der Frage, wie es weitergehen würde. Die Magier waren sehr beschäftigt. Überall waren welche anzutref fen. Sie kamen auf ihren Yassels oder auf seltsamen Fahrzeugen, ließen sich von ge zähmten Bestien tragen oder reisten mit Hil fe ihrer seltsamen Fähigkeiten auf andere Weise durch die Barriere. Ihr Ziel war den Seelenlosen bekannt. Man wußte auch, daß eine Abstimmung bevorstand. In wenigen Tagen mußte das alles vorbei sein. Dann wiederholte sich alles in umge kehrter Reihenfolge. Und wenn die Magier ihre Behausungen betraten, begann der Zeit raum, der den Seelenlosen eine Menge Kummer bereitete. Die Nachricht vom Angriff auf das Luft schiff mußte schon jetzt wie ein Lauffeuer durch die Barriere gehen. Wenn die Magier die Seelenlosen trotzdem immer noch in Ru he ließen, dann lag das sicher nur daran, daß sie zur Zeit mit ihren eigenen Problemen be schäftigt waren Aber später – so dachte man in den Schluchten – war kein Seelenloser mehr seines Lebens sicher. Die Magier wür den sie alle umbringen. Die Macht dazu war vorhanden. Nur-Links beobachtete die Diskussion über diese Dinge aufmerksam. Er hatte das alles schon erkannt, als er über die Flanken des Gnorden vor den schrecklichen Magiern geflohen war. Die Tatsache, daß seine Freunde erst jetzt begriffen, was ihnen be vorstand, stärkte sein ohnehin gewachsenes Selbstbewußtsein. Als die Diskussion an einen toten Punkt gelangte, stand er auf. Jetzt mußte die Frage gelöst werden, wie sich die Seelenlosen vor den Magiern retten konnten. Nur-Links war fest davon überzeugt, daß nur er fähig war, den rettenden Ausweg zu finden. »Wir werden die Barriere verlassen«, kündigte er in der Zeichensprache an.
Versammlung der Magier Ungläubiges Staunen herrschte rundher um. »Wohin sollen wir gehen?« fragte der, der bis dahin das Wort geführt hatte. »An den einzigen Ort, an dem uns weder die Magier, noch die Herren der FESTUNG etwas anhaben können.« »Ich kenne diesen Ort nicht.« »Wir gehen nach draußen«, erklärte NurLinks seelenruhig. Die Idee war ihm schon viel früher ge kommen, aber er mußte sich nach den Re geln richten, die bei seinen Artgenossen gal ten. Für ihn war alles sonnenklar. Auch die Seelenlosen hatten gemerkt, daß es auf die sem Planeten Schwierigkeiten gab. Die Her ren der FESTUNG kamen nicht zum Zuge. Die Horden der Nacht rasten – von wilder Angriffswut erfüllt – über die Ebene von Kalmlech und drangen immer häufiger über die für sie geltenden Grenzen hinaus vor. Wenn die Seelenlosen sich also auf der äu ßeren Welt verbargen, waren sie für die Her ren der FESTUNG unerreichbar. Und die Magier – das war bekannt – verließen nur in den seltensten Fällen die Barriere. Nur-Links konnte nicht ahnen, daß die Terraner Schutzschirme errichtet hatten, die mit den Mitteln der Magie nicht zu durch dringen waren. Er ahnte natürlich, daß es ir gendeine Sperre gab. Anders ließ es sich nicht erklären, daß die fremde Welt nicht längst Bekanntschaft mit den Horden der Nacht gemacht hatten. Aber Nur-Links lebte in der Großen Barriere von Oth. Sperren gab es hier auf Schritt und Tritt. Die Seelenlosen hatten längst gelernt, mit solchen Hindernis sen fertig zu werden. Er war daher fest da von überzeugt, daß sie auch die Grenze am Rand ungehindert zu überschreiten ver mochten. »Das ist Wahnsinn!« signalisierte ein an derer Seelenloser aufgeregt. »Die Herren der FESTUNG werden uns bemerken und die Ungeheuer auf uns het zen!« behauptete ein anderer. »Und die Magier werden beobachten, daß wir uns sammeln«, stellte der nächste fest.
21 »Dann vernichten sie uns alle auf einen Schlag!« Nur-Links war bis vor kurzem ein Diener des Tiermagiers Parlzassel gewesen. Das war ein Grund dafür, daß er besser über den Rand von Pthor im Bereich der Barriere in formiert war als die meisten anderen Seelen losen. Parlzassel hatte ihn nämlich jedesmal, wenn Pthor eine neue Welt berührte, zum Fuß der Barriere geschickt. Oft genug hatte Nur-Links direkt am Wölbmantel gestanden und beobachtet, welche Lebensformen drau ßen vorhanden waren. Und mehrere Male war er sogar mit dem Magier losgezogen, um Wesen einzufangen, die später in Parlz assels »Familie« eingegliedert wurden. »Wie ihr wißt, kenne ich mich am Rand gut aus«, sagte Nur-Links also. »Pthor ist diesmal von Wasser umgeben. Es scheint sich um ein riesiges Meer zu handeln.« Nur-Links hatte im Grunde genommen nicht die leiseste Ahnung, was man sich un ter einem Meer vorstellen sollte. Er wieder holte nur das, was er von Parlzassel gehört hatte. Der Tiermagier war ein angenehmer Dienstherr, und der einarmige Seelenlose hatte nie ein böses Wort von ihm gehört. Im Gegenteil, Parlzassel bemühte sich immer wieder, seinem stummen Diener allerlei nützliche Dinge beizubringen. Hätte Parlzas sel gewußt, daß ausgerechnet Nur-Links den Angriff auf die ORSAPAYA geführt hatte, so wäre er sicher sehr enttäuscht gewesen. Er hatte eben nie begriffen, wer oder was die Seelenlosen waren. »Was nützt uns das Wasser?« fragte der, der Nur-Links am nächsten war. »Es schützt uns vor jeder Entdeckung«, behauptete Nur-Links. »Denn es ist Wasser von der fremden Welt. Die Magier werden es mit ihren Blicken nicht durchdringen kön nen, und die Herren der FESTUNG werden sowieso nicht auf uns achten, weil sie andere Sorgen haben.« »Man müßte wissen, wie groß die Entfer nung zwischen Pthor und dem nächsten Land ist«, schlug jemand vor. »Ja«, stimmten andere zu. »Wenn wir
22 nicht aufpassen, verirren wir uns und ertrin ken.« »Wir sind fähig, uns lange genug im Was ser aufzuhalten, um ganz Pthor zu umrun den«, teilte Nur-Links ärgerlich mit. »Das sollte reichen. Oder glaubt ihr, diese Welt wäre noch größer?« Die Seelenlosen schwiegen verwirrt. Sie konnten sich in der Tat keine Welt vorstel len, die größer als Pthor war. Zwar hatten sie gelernt, daß ihr Land andere Welten besuch te und sie nach dem Willen der Herren be einflußten, aber das war graue Theorie. Au ßerdem hatten sie niemals Gelegenheit ge habt, sich jenseits des Wölbmantels umzuse hen. Selbst von Pthor hatten sie nur höchst unzureichende Vorstellungen, denn außer Aghmonth, der FESTUNG und der Barriere von Oth kannten sie nichts. Sie wußten aber aus Erfahrung, daß sie es in der Tat sehr lange im Wasser aushielten. Sie waren unempfindlich gegen die Ausküh lung, hatten ein extrem geringes Schlafbe dürfnis und verfügten über ungeahnte Reser ven an Kraft und Ausdauer. »Was haltet ihr von meinem Vorschlag?« fragte Nur-Links mit herausfordernden Ges ten. Die anderen reagierten unterschiedlich. Einige Seelenlose stimmten Nur-Links spon tan zu. Das lag vermutlich daran, daß sie oft genug bei den Magiern gedient hatten, um deren Macht richtig einschätzen zu können. Sie hatten Angst, und der Plan verhieß Si cherheit. Eine zweite Gruppe verlangte wei tere Aussprachen, ehe die Entscheidung ge fällt wurde. Das waren die ewig zögernden, von denen Nur-Links noch nie viel gehalten hatte. Sie standen jedem im Weg, der ir gendeine Neuerung einführen wollte. Und dann gab es natürlich Gegner des Planes. »Wir wissen, daß eine Sperre ganz Pthor umschließt«, teilte einer von ihnen NurLinks mit. »Wie willst du sie überwinden?« »Wir haben gelernt, mit Sperren jeder Art umzugehen«, wies Nur-Links den Vorwurf zurück. »Das sind magische Sperren, wie es sie fast nur hier in der Barriere von Oth gibt. Ich glaube nicht, daß die Außenwelt eben-
Marianne Sydow falls den Gesetzen der Magie gehorcht. Ich hörte, daß Pthor solche Welten nur selten besucht. Antimagische Sperren kennen wir nicht, und darum fürchte ich, daß dein Plan völlig unbrauchbar ist.« »Ich werde die Sperre durchbrechen«, be hauptete Nur-Links selbstbewußt. »Du traust dir allerhand zu«, gab sein Gegner spöttisch zurück. »Ich hörte Copa sallior sagen, daß selbst die Herren der FE STUNG es bis jetzt noch nicht geschafft ha ben, den Weg nach draußen zu öffnen.« Nur-Links hielt es für angebracht, eine Demonstration seiner Klugheit zu bieten. Die Schlucht, in der die Diskussion statt fand, lag zwischen den magischen Bezirken. Mehrere Grenzen stießen hier aneinander. »Ich werde euch zeigen, wie ich es ma chen werde«, verkündete Nur-Links und re gistrierte zufrieden, daß die anderen ihm ha stig folgten. Er ging bis zu einer magischen Sperre, die man weder sehen noch anfassen, dafür aber deutlich spüren konnte. Die See lenlosen hatten von den Magiern gelernt, solche Sperren zu überwinden. Das war not wendig, wenn man die bleichen Wesen als Diener verwenden wollte. Sie mußten oft Botengänge für die Magier durchführen, da diese vor jedem Kontakt mit ihresgleichen zurückschreckten, aus praktischen Gründen aber trotzdem auf Verbindungen angewiesen waren. »Das ist eine magische Sperre«, erklärte Nur-Links mit einigen Gesten. Die anderen sahen ihn zweifelnd an. Warum erzählte er ihnen Dinge, die jeder wußte? Nur-Links lä chelte abfällig. Sie konnten eben alle nicht logisch denken! Er hob einen Stein auf und wandte sich wieder an seine Artgenossen. »Dieser Stein ist magisch kaum beein flußt«, erklärte er etwas mühsam, weil er die Hand nicht frei hatte. »Man könnte also be haupten, daß er ein antimagisches Werkzeug ist.« »Werkzeug!« gestikulierte sein Diskussi onsgegner höhnisch. »Dieser Stein da?« »Mit einem Stein kann man jemandem
Versammlung der Magier den Schädel zertrümmern«, stellte NurLinks nüchtern fest. »Dann benutzt man ihn als Waffe. Wenn ich mit dem Stein einen Kletterhaken in den Felsen treibe, ist er ein Werkzeug. Paßt auf!« Er schleuderte den Stein, und es geschah das, womit jeder gerechnet hatte. Der Stein prallte von der magischen Sperre ab und fiel zu Boden. »Ein antimagisches Werkzeug kann eine magische Sperre nicht durchbrechen«, stellte Nur-Links fest. »Dort drüben stehen ein paar Hütten. Ihre Wände sind aus Steinen und Lehm gebaut worden. Man kann sie also durchaus als antimagische Sperren bezeich nen. Um auf die andere Seite einer solchen Mauer zu kommen, reicht es nicht, wenn wir die magischen Gesten vollführen.« »Du willst uns für dumm verkaufen, wie?« fragte sein Gegner. »Warum, glaubst du wohl, bauen wir Türen und Fenster ein?« Nur-Links lächelte siegessicher. Er hob den Stein wieder auf. »Was passiert, wenn ich ihn gegen so eine Mauer werfe?« fragte er. »Dummkopf! Wenn die Wand fest genug ist, passiert gar nichts. Ist sie dünn, so durchschlägt der Stein sie.« »Genau das meine ich«, verkündete NurLinks triumphierend. »Ein antimagisches Werkzeug kann eine antimagische Sperre durchschlagen. Genau so werden wir die Grenze zur Außenwelt durchdringen!« Das klang logisch. Die Seelenlosen sahen sich verlegen an. Nur-Links sonnte sich in seinem Triumph. »Wir wissen nicht, wie stark die Sperre ist«, gab sein Gegner zu bedenken. Seine Gesten wirkten viel bescheidener als vorher. »Wahrscheinlich bedarf es gewaltiger Kräf te, um eine Öffnung zu schaffen. Die Herren der FESTUNG …« Nur-Links unterbrach ihn heftig. »Die Herren der FESTUNG halten sich an die Gesetze der Magie«, behauptete er. »Sie sind wahrscheinlich noch gar nicht auf die Idee gekommen, antimagische Mittel einzu setzen. Und was die Stärke der Mauer be
23 trifft: Damit wird es nicht weit her sein. Die Bewohner der Außenwelt hatten wenig Zeit, diese Sperre zu errichten. Wenn sie es trotz dem fertiggebracht haben, ganz Pthor einzu schließen, so müssen sie hastig gearbeitet haben. Jeder von uns hat genug Kraft, die Mauern unserer sorgfältig gearbeiteten Häu ser mit der Faust zu durchschlagen. Glaubst du wirklich, die lächerliche Sperre dort draußen könnte uns überfordern?« Der andere verzichtete auf eine Antwort. Was Nur-Links vorbrachte, klang gut und logisch. Nur ahnte der Seelenlose ver schwommen, daß diese Interpretation der Sperre, die sogar die Herren der FESTUNG vor Probleme stellte, nicht ganz korrekt sein mochte. Leider war es Zeitverschwendung, solche Bedenken zu formulieren, denn mitt lerweile waren fast alle vom Plan des Einar migen begeistert. Der immer noch widerstre bende Seelenlose hielt sich zurück. Während die anderen bereits darüber diskutierten, was man in die Außenwelt mitnehmen sollte, grübelte er lange Zeit darüber, wo der Fehler liegen mochte. Es war sein Pech, daß er zu wenig von der Antimagie verstand. Antima gie hatte für ihn immer etwas mit Materie zu tun. Und antimagische Sperren konnten de mentsprechend nur Mauern sein. Energeti sche Schutzschirme kamen in seinem Wis sen nicht vor. Den anderen ging es genauso. Nur eine Frage tauchte noch auf, die sogar Nur-Links für kurze Zeit in Verlegenheit brachte: Was erwartete die Seelenlosen in der Außenwelt? Würden die dort lebenden Wesen die Eindringlinge nicht sofort angrei fen? Konnte man da draußen überhaupt exi stieren? Nur-Links überspielte die Unsicherheit, die ihn bei diesen Einwänden überfiel, mit einer ebenso verlockenden wie einfachen Idee. »Um zum Rand zu kommen«, erklärte er, »müssen wir durch mehrere magische Bezir ke. Die Magier haben nur das mit auf die Reise genommen, was sie für notwendig hielten. Es blieben eine Menge Waffen zu rück. Die nehmen wir mit. Wir werden Bo
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ten zu allen tiefen Schluchten schicken und unsere Freunde auffordern, es auch so zu machen. Diese Waffen werden uns in der Außenwelt bestimmt helfen. Mit ihnen wer den wir uns wehren, falls man uns angreift. Wir werden ein paar Täler für uns erobern, in denen wir leben können. Niemand wird es dann noch wagen, uns zu stören.« Die Seelenlosen starrten ihn überwältigt an. Die verlockende Vision eines herrlichen Lebens in Freiheit riß alle in ihren Bann. Was für ein Plan! Sie würden niemanden mehr zu fürchten brauchen. Die Herren der FESTUNG konnten ihnen nichts mehr anha ben, und sie waren nicht mehr gezwungen, für irgend jemanden unbequeme Arbeiten zu verrichten. Wenig später brachen die ersten Seelenlo sen in kleinen Gruppen auf, um sich später mit allen anderen am Rand zu einer gewalti gen Streitmacht zu sammeln.
5. Seit dem Kampf um die ORSAPAYA wa ren mehrere Tage verstrichen. Koratzo hatte sich von seinem Schock erholt. Copasallior vermied es, den Stimmenmagier an seine Tat zu erinnern. Er durfte Koratzo und des sen Freunde nicht verärgern, denn er war auf ihre Hilfe angewiesen. Inzwischen waren die Magier fast voll zählig im Tal der Schneeblume eingetroffen. Auch in diesem Punkt profitierte Copasal lior von seinen Gästen aus der Tronx-Kette. Für Opkul war es ein Kinderspiel, den Ver sammlungsort zu beobachten. Er hielt den Weltenmagier ständig auf dem laufenden. So erfuhr Copasallior, daß Jarsynthia und Wortz eine ganze Reihe von Magiern gegen den Weltenmagier aufgehetzt hatten. Gegen den großen Plan würden besonders die Be wohner der dunklen Täler stimmen – Querl lo hatte sie inzwischen aus der Gefangen schaft entlassen. Dann war da die Gruppe der kleinen, düsteren Männer, die südlich vom Tal der Käfer hausten. Sie lebten in un mittelbarer Nähe des Lebensmagiers, und
auch Parlzassel war ihr mächtiger Nachbar. Sie wollten es mit keinem von den beiden verderben. Wenn es hart auf hart ging, wür de ihr Urteil sich danach richten, wer bereits die meisten Stimmen auf sich vereinigte. »Was ist mit den Seelenlosen?« fragte Copasallior den Magier mit dem Fernblick. »Haben sie sich wieder beruhigt, oder müs sen wir mit weiteren Übergriffen rechnen?« »Ich weiß nicht«, murmelte Opkul unsi cher. »Sie halten überall ihre Versammlun gen ab. Boten werden durch die Schluchten geschickt. Einige kleine Gruppen sind unter wegs. Es sieht aus, als wollten sie zum Rand.« »Merkwürdig«, stellte Copasallior fest. »Am Rand gibt es nichts, was die Seelenlo sen gebrauchen könnten.« »Vielleicht haben sie Angst bekommen und versuchen, Pthor zu verlassen«, sagte Koratzo. »Nach dem Zwischenfall mit der ORSAPAYA müssen sie damit rechnen, daß wir uns rächen werden, oder sie zumindest nicht mehr in die magischen Bezirke lassen. In ihren Schluchten gibt es wenig Nahrung.« »Pthor verlassen!« schnaubte Copasallior verächtlich. »Nicht einmal ein Seelenloser wäre so dumm, das zu versuchen. Abgese hen davon werden sie niemals durch die Sperre kommen.« »Wer weiß?« murmelte Koratzo. Er sah nach dem Stand der Sonne und stand auf. »Ihr wollt doch wohl nicht mit diesem anti magischen Ungestüm im Tal der Schneeblu me erscheinen?« fragte Copasallior entsetzt, als die Magier aus der Tronx-Kette nachein ander im Heraskawanu verschwanden. »Wir werden das Fahrzeug am Rand des Tales stehenlassen«, versicherte Koratzo spöttisch. »Die zarten Gemüter unserer lieben Freunde sollen nicht durch den Anblick des Heraska wanus verletzt werden. Aber wir werden ihn benutzen, denn er hat uns gute Dienste gelei stet.« Copasallior wandte sich demonstrativ ab, als der metallene Wurm sich in Bewegung setzte. Auf seinen Stelzenbeinen eilte der Heraskawanu zum Rand des Plateaus und
Versammlung der Magier lief dann emsig wie ein Tausendfüßler die Serpentinenstraße entlan Der Weltenmagier fand das Ding abscheulich. Der Anblick die ser Konzentration antimagischer Fertigkei ten widerte ihn an. Er verstand Koratzo und die anderen nicht. Die Leute aus der TronxKette waren eben doch recht merkwürdig. Copasallior seufzte und ging in die Höhle, um Malvenia davon zu unterrichten, daß auch er sich jetzt auf den Weg machte. In der Zelle der freien Gedanken rief er nach ihr. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß sie sich nicht melden würde. War sie ebenfalls schon unterwegs? Op kul hatte nichts davon erwähnt. Der Weltenmagier zuckte mit den Schul tern und ging zu Saisja. Er ärgerte sich, weil er das eiserne Yassel eigenhändig ins Freie bringen mußte. Sonst hatten die Seelenlosen für alles gesorgt. Copasallior dachte mit Un behagen an die Zukunft. Woher bekam er neue, zuverlässige Diener? Am Crallion gab es noch viel zu tun, bis die Spuren des Un wetters beseitigt waren. Und auch sonst brauchten die Wälder Pflege. Copasallior hatte nicht die geringste Lust, das alles selbst zu erledigen. Wenn wenigstens Malvenia sich endlich entschließen könnte, bei ihm auf dem Cralli on zu bleiben! Erstens konnte er sie dann besser unter Kontrolle halten, und dadurch würde verhindert, daß sie sich noch einmal über die Gesetze hinwegsetzte. Zweitens wäre es angenehm gewesen, sie in der Nähe zu wissen. Copasallior gab das Grübeln auf, als Sais ja den Fuß des Crallion erreichte. Er lenkte das eiserne Yassel auf eine neutrale Straße, die an mehreren magischen Bezirken ent lang direkt ins Tal der Schneeblume führte. Schon nach wenigen Minuten sah er vor sich einen mit wehenden Tüchern verhangenen Karren. Er schnaufte ärgerlich. Er war so spät wie möglich aufgebrochen, um unterwegs niemandem zu begegnen. Nun hatte er sich doch verrechnet. Wütend zerrte er seine Maske hervor und schob sie über das Gesicht. Er ließ Saisja
25 langsamer gehen, aber der Karren rollte mit so niedriger Geschwindigkeit dahin, daß er ihn trotzdem bald eingeholt hatte. »Ha, der Weltenmagier!« erklang hinter den wehenden Tüchern eine krächzende Stimme. »Ich hatte gehofft, daß wir uns be gegnen. Mir wirst du dein kleines Geheim nis doch nicht verbergen wollen, oder? Du weißt, daß du mir vertrauen kannst! Warum hast du uns ins Tal der Schneeblume be stellt?« Copasallior sah die Deichsel des Karrens und die rote, ziemlich kleine Echse, die sich mit dem Wagen abmühte. »Du wirst warten müssen, Upak«, sagte er verächtlich. »Im Tal wirst du es mit allen anderen zusammen erfahren.« »Das ist nicht nett von dir!« kicherte Upak und schlug die Tücher zurück. Copa sallior machte hastig ein paar abwehrende Zeichen gegen die Einflüsse fremder Magie. Bei Upak konnte man nie wissen, was im nächsten Augenblick geschah. Seine Magie war zwar relativ unbedeutend, aber sie konnte sehr lästig werden. »Keine Angst«, meinte Upak gönnerhaft. »Ich werde dir nichts tun.« »Das würde ich dir auch nicht raten«, knurrte Copasallior. »Du solltest deinem schuppigen Freund besseres Futter geben, Fleckenmagier, sonst erreichst du das Ziel erst, wenn die Entscheidung längst gefallen ist!« Upak, ein dürres Wesen, das weder Mann noch Frau, sondern von beidem etwas war, wollte sich ausschütten vor Lachen. Copa sallior wiederholte vorsichtshalber die magi schen Zeichen und fügte noch ein paar hin zu, deren Wirkung stärker war. Upak bekam daraufhin einen Lachkrampf, und plötzlich schoß sein Karren blitzschnell davon. Copasallior fluchte erbittert, als er fest stellte, daß Upak sich auf den eisernen Yas sel konzentriert hatte. Saisja war mit roten und grünen Flecken bedeckt. Copasallior wußte, daß diese scheinbar harmlosen Flecken binnen kurzer Zeit den ganzen kom plizierten Mechanismus zerfressen konnten.
26 Er sprang auf die Straße und brach mit hasti gen Gesten den Bann der Magie. Upaks Flecken fielen zu Boden und krochen wie bunte Fladenwesen davon. Der Weltenma gier vernichtete sie, denn er wußte, daß sie ihm sonst immer wieder an dieser Stelle auf lauern würden. »Die Raben sollen dich fressen!« brüllte er dem Karren nach, der längst außer Sicht geraten war. Saisja tänzelte wie ein echtes Yassel. Co pasallior sah sich mißtrauisch um und schwang sich hastig in den Sattel. Er hätte einen anderen Weg wählen sollen. Jetzt war es zu spät. Er mußte zwangsläufig mit allen Magiern zusammentreffen, die noch unter wegs waren. Weit hinter sich entdeckte er Feslers Sänf te. Natürlich hatte der Knochenmagier ein paar Skelette zu seinen Trägern bestimmt, um dadurch seine Macht zu demonstrieren. Copasallior legte keinen Wert darauf, sich mit Fesler unterhalten zu müssen. Er trieb Saisja an. Trotzdem entdeckte er wenig spä ter zwei mit rasender Eile ausschreitende Skelette neben sich. »Wohin so eilig, Weltenmagier?« rief Fesler ihm zu. Copasallior ignorierte diese dumme Frage und ließ Saisja noch schneller laufen. Die Gerippe hielten mühelos mit. »Ich wollte Malvenia einen Besuch ab statten«, behauptete Fesler. Er mußte schrei en, um sich trotz der donnernden Hufe und klappernden Knochenfüße verständlich zu machen. »Ich mußte ja sowieso am Eistal vorbei. Sie scheint Schwierigkeiten zu ha ben. Das hätte ich nicht von dir gedacht, Weltenmagier. Als ihr treuer Lebensgefährte solltest du allen Kummer von ihr fernhal ten!« Copasallior legte wütend die Hand auf Saisjas Hals. Die Schwebepolster unter den Hufen verliehen dem eisernen Yassel zu sätzliche Geschwindigkeit. Feslers Skelette kamen nicht mehr mit, und der Weltenma gier atmete erleichtert auf, als das Geschrei des Knochenmagiers hinter ihm verklang.
Marianne Sydow Zum Glück war es bis zum Tal der Schneeblume nicht mehr weit. Er hoffte, oh ne weitere Zwischenfälle das Ziel zu errei chen. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht ganz. Kurz vor dem Tal rauschte es über ihm, und als er nach oben blickte, sah er Sri ka, die Verbundmagierin. Sie trug ihr Feder hemd, und die zahllosen scharfen Messer, die sie daran befestigt hatte, glänzten in der Sonne. Copasallior konnte Srika nicht ausstehen. Sie war ein häßliches Riesenweib, und ihre Magie war schlicht und einfach scheußlich. Sie zerlegte Lebewesen aller Art in ihre Ein zelteile und setzte sie dann willkürlich wie der zusammen. Copasallior wunderte sich darüber, daß Srika keines ihrer Monstren mitgenommen hatte. Die Verbundmagierin beschränkte sich darauf, ein paarmal dicht an Copasallior vor beizufliegen. Der Weltenmagier beherrschte sich hervorragend. Jedesmal schien es, als würden die Messer ihn berühren, aber Srika wagte es nicht, einen ernstgemeinten Angriff durchzuführen. Sie blieb schließlich hinter ihm zurück. Copasallior erreichte das Tal. Zwischen ein paar schützenden Felsen entdeckte er den Heraskawanu. Er ritt hinüber. Koratzo und die anderen hatten es sich neben dem Fahrzeug bequem gemacht. Copasallior freute sich darüber, endlich wieder einiger maßen vernünftige Leute zu sehen. Er ver barg dieses Gefühl jedoch sorgfältig. »Worauf wartet ihr noch?« fragte er bar sch. »Auf den Beginn der Aussprache«, erwi derte Koratzo gelassen. »Es sind noch nicht alle Magier versammelt. Wir werden zur Stelle sein, wenn es soweit ist. Bis dahin bleiben wir lieber hier. Es gefällt uns nicht, was jetzt im Tal geschieht.« Copasallior zögerte. Am liebsten hätte er ebenfalls noch gewartet, aber er wußte, daß er sich damit eine Blöße gab. Das konnte verheerende Folgen nach sich ziehen. »Gib auf dich acht, Weltenmagier«, sagte Opkul, als Copasallior Saisja wendete. »Im
Versammlung der Magier Tal wartet etwas auf dich, was dich sehr er schrecken wird.« »Was ist es?« fragte Copasallior automa tisch. »Ich kann es nicht genau erkennen«, wich Opkul aus. »Woher weißt du dann, daß es mich er schrecken wird?« erkundigte der Weltenma gier sich ärgerlich. Opkul antwortete nicht. Copasallior ritt um die Felsen herum. Als er das von Nebelschwaden verhüllte Etwas er blickte, daß in der Mitte des Tales auf einem improvisierten Sockel stand, traf ihn fast der Schlag. Fassungslos starrte er Malvenia an, die sich ihm in den Weg gestellt hatte.
* Malvenia hatte seit jenem Abend, an dem das schreckliche Unwetter ausgebrochen war, pausenlos über ein Problem nachge dacht, für das es scheinbar keine Lösung gab. Nur ein unglücklicher Zufall hatte dazu geführt, daß Copasallior – lange, bevor der richtige Zeitpunkt gekommen war – Malve nias Geheimnis durchschaute. Bis dahin wußte nicht einmal der Ghorghs, daß Malve nia einen Herrn der FESTUNG in einer Sta tue abgebildet hatte. Als der Sturm kam, fürchtete die Kunstmagierin das Schlimmste für dieses neue Werk, und sie tat alles, um die Statue zu schützen – obwohl sie wußte, daß sie damit ihr eigenes Todesurteil aus sprach. Sie hatte alle Sperren vernachlässigt, um sich mit ihrer ganzen Kraft dem Schutz der Statue zu widmen. Dadurch hatte Copasalli or seit langer Zeit zum erstenmal den Platz im Eistal frei überblicken können. Natürlich war ihm das noch verschleierte Kunstwerk aufgefallen, und nachdem er erst einmal Verdacht geschöpft hatte, kam er schnell da hinter, was Malvenia vor ihm verbergen wollte. Nun saß der Weltenmagier in der Zwickmühle, denn einerseits liebte er Mal venia und war daher bereit, alles zu tun, um ihr das Leben zu retten, andererseits begab
27 er sich selbst in Gefahr, wenn er das Verbre chen nicht meldete. Malvenia hatte lange nach einem Ausweg gesucht. Sie konnte die Statue vernichten, dann war das Problem gelöst. Aber gerade das war ihr unmöglich. Sie war fest davon über zeugt, daß sie als Künstlerin das Recht hatte, alles abzubilden, was sie wollte. Die Mei nung derer, die von der FESTUNG aus ganz Pthor beherrschten, war ihr in diesem Zu sammenhang völlig egal. Die Kunst hatte frei zu sein. Wenn sie sich jetzt den uralten Gesetzen beugte, würde sie es immer wieder tun. Sie konnte auch abwarten. Copasallior plante irgend etwas, was die Barriere von Oth gegen den Rest des Landes abschließen sollte. In diesem Fall brauchte Malvenia die Herren der FESTUNG nicht mehr zu fürch ten. Aber auch diese Lösung sagte ihr nicht zu. Und so verfiel sie auf die Idee, die Statue ins Tal der Schneeblume zu schaffen. Es war ein glücklicher Zufall, daß sich gerade jetzt die Magier dort versammelten. Malvenia wollte, daß alle ihre Statue sahen. Dann wa ren sie auch alle Mitwisser, die genau wie Malvenia ihr Leben verwirkt hatten. Das, so dachte die Kunstmagierin, würde jedem einzelnen klarmachen, wofür sie kämpfte. Malvenia hoffte, daß die Magier sich dann zu ihrer Freiheit bekannten. Sie wußte, daß sie damit Koratzo indirekt unterstützte. Im Gegensatz zu dem Stimmenmagier je doch interessierte Malvenia sich nicht dafür, was mit den Waffen geschah, die in die FE STUNG gebracht wurden. Als Copasallior auftauchte, ging sie ihm herausfordernd entgegen. Der Weltenmagier war starr vor Schrecken. Die anderen Magier hatten in zwischen gemerkt, daß etwas Ungewöhnli ches geschah. Es wurde still im Tal. Copasallior ließ sich schwerfällig von Saisjas Rücken gleiten.
28 »Was hast du dir dabei gedacht?« fragte er ärgerlich. Malvenia warf trotzig den Kopf zurück. »Ich bin daran gewöhnt, meine Probleme selbst zu lösen. Alle sollen die Statue sehen. Dann werden wir sehen, ob jemand den Mut hat …« Copasallior war mit zwei schnellen Schritten bei ihr und hielt ihr den Mund zu. »Du hast wohl den Verstand verloren«, flüsterte er drohend. »Es ist besser, wenn du jetzt ganz still bist!« Malvenia dachte nicht daran, diesem Rat zu folgen. »Ich habe …«, rief sie laut, und dann be wegte sie zwar immer noch den Mund, aber kein Laut war zu hören. Copasallior setzte sie grimmig auf Saisjas Rücken. Malvenia war über das, was mit ihr geschah, so ent setzt, daß sie sich nicht wehrte. Copasallior verließ eilig das Tal und ritt zum Heraska wanu. »Danke«, sagte er verlegen. »Deine Hilfe kam im richtigen Augenblick.« Koratzo winkte ab. »Das Ding steht immer noch an seinem Platz«, gab er zu bedenken. »Inzwischen dürften alle versammelten Magier neugierig genug sein, um die Sperren aufzuheben.« »Sie werden sich die Zähne ausbeißen«, versicherte Copasallior. »Diese Hülle ist nämlich mein Werk. Trotzdem müssen wir die Statue wegbringen. Hast du eine Idee?« Malvenia redete immer noch, aber solan ge Koratzo ihr nicht die Stimme zurückgab, konnte niemand verstehen, was sie sagte. Copasallior achtete kaum noch auf die Kunstmagierin. Er sah Koratzo gespannt an. Der Stimmenmagier dachte nach. Dann sah er Wa an. »Möglich wäre es«, sagte die Höhlenma gierin nachdenklich. »Es gibt eine Verbin dung zum Eistal. Allerdings würde es eine Weile dauern. Der Fels dort unten ist nicht sehr beweglich.« »Wie lange?« fragte Koratzo. »Zwei oder drei Tage mindestens. Wie mag sie das schwere Ding überhaupt herge-
Marianne Sydow bracht haben?« Copasallior erkannte, daß Koratzo die an deren über Malvenias Werk informiert hatte. Normalerweise wäre er dem Stimmenmagier deswegen böse gewesen, aber jetzt erschien es ihm als vorteilhaft, auf diese Weise Ver bündete gefunden zu haben. Koratzo beobachtete Malvenias Lippen. »Jarsynthia hat es für sie getan«, erklärte er nach einigen Sekunden. Copasallior ballte seine sechs Hände zu Fäusten. »Weiß die Liebesmagierin, was sich unter der Hülle befindet?« »Malvenia hat es ihr nicht gesagt«, stellte Koratzo fest. »Aber Jarsynthia wußte, daß sie mit dem Transport der Statue gegen dei nen Willen verstieß.« Copasallior sah den Stimmenmagier miß trauisch an. Trieb Koratzo vielleicht doch ein falsches Spiel mit ihm? Wollte er die Mächtigen von Oth gegeneinander aufhet zen? »Ein paar versuchen es schon«, sagte Op kul, der immer noch das Tal der Schneeblu me beobachtete. »Bis jetzt hatten sie keinen Erfolg. Komisch, jetzt, wo sie neugierig ge worden sind, haben sie ganz vergessen, daß sie sich gegenseitig nicht leiden können.« »Sie können der Sperre nichts anhaben«, wiederholte Copasallior. Er fühlte sich eini germaßen hilflos. Malvenia hatte ihn restlos überrumpelt. Er verstand nicht, warum sie ihm das angetan hatte. »Breckonzorpf könnte das Ding doch mit dem Donnerwagen wegschaffen«, schlug Haswahu vor. »Wenn er seine Katzen aus nahmsweise zu Hause läßt, ist genug Platz vorhanden.« »Breckonzorpf wird nichts in seinen Don nerwagen laden«, gab Wa zu bedenken, »wenn er nicht weiß, was er überhaupt vor sich hat. Man könnte ihn einweihen, denn es spielt kaum noch eine Rolle, ob er es erfährt oder nicht. Aber wahrscheinlich wird er sich weigern, eine so gefährliche Statue zu trans portieren.« Koratzo stand ärgerlich auf. »Wir sollten nicht noch mehr Zeit ver
Versammlung der Magier schwenden«, meinte er. »Jarsynthia hat die Statue hergebracht, sie wird sie auch wieder ins Eistal zurückbefördern.« Hinter ihm kicherte es. Er drehte sich um und sah eine mit wehenden Schleiern beklei dete junge Frau. Jarsynthia bedachte Korat zo mit einem Feuerwerk von herausfordernden Blicken. Der Stimmenmagier blieb un beeindruckt. »Du irrst dich, mein Kleiner«, sagte die Liebesmagierin schließlich. »Es war Malve nias sehnlichster Wunsch, die Statue da drü ben aufzustellen. Darum habe ich ihr gehol fen. Warum sollte ich ihr nun weh tun, in dem ich alles rückgängig mache?« Copasallior sah aus, als wollte er sich auf die Liebesmagierin stürzen. »Malvenia wünscht jetzt aber, daß du ge nau das tust«, behauptete Koratzo gelassen. »So? Davon hat sie mir nichts gesagt. Wie ich sehe, ist sie im Augenblick gar nicht fä hig, zu mir zu sprechen.« »Sie wird es tun«, versprach Koratzo. Gleichzeitig stieß er Haswahu an und warf Copasallior einen beschwörenden Blick zu. Sie hatten sich nicht absprechen können. Trotzdem arbeiteten sie zusammen, als wäre es niemals anders gewesen. Haswahu um hüllte Malvenia mit dem Atem des tiefen Schlafes. Copasallior sorgte dafür, daß die Kunstmagierin dennoch wach wirkte und sich bewegte. Und Koratzo lieh der Frau ei ne Stimme. »Bring die Statue zurück!« sagte Malve nia. »Jetzt, sofort!« Jarsynthia starrte Malvenia mißtrauisch an. »Ihr wollt sie und mich betrügen«, mur melte sie. »Ich spüre, daß etwas um Malve nia herum ist. Ihr habt sie gezwungen, ihren Wunsch rückgängig zu machen.« »Beweise es!« forderte Koratzo verächt lich. »Steig ab, Malvenia«, bat Jarsynthia sanft. »Komm, gib mir deine Hand, damit ich dir helfen kann!« Die anderen beobachteten atemlos, wie die Kunstmagierin von Saisjas Rücken stieg.
29 Ssissnu, der Schlangenmagier, rollte plötz lich ein Stück zur Seite. Die Pelzkugel konn te nicht nur magische Sperren überbrücken, sondern sie auch mit absoluter Sicherheit aufspüren. Er wußte, daß Jarsynthia nicht in ihrer wirklichen Gestalt vor ihnen stand. Sie war überhaupt nicht anwesend, sondern hat te nur eine Projektion geschickt. Der Schlangenmagier durchschaute das üble Spiel in dem Augenblick, als die Pro jektion Malvenia berührte. Er hatte keine Zeit, die anderen auf sein Vorhaben vorzu bereiten. Niemand merkte, wie er sich den beiden Frauen näherte. Plötzlich zuckte ein blaßblauer Lichtstrahl zwischen der Projek tion und dem Schlangenmagier auf. Fast gleichzeitig gab es auf der anderen Seite der Felsen empörte und enttäuschte Schreie. Ssissnu sackte zusammen, und Jarsynthia war plötzlich verschwunden. Copasallior verlor für einen Augenblick die Kontrolle über Malvenias Körper. Querpo und Koratzo fingen die Kunstmagierin gerade noch recht zeitig auf. »Was ist passiert?« fragte Copasallior verstört. »Die Statue ist verschwunden!« rief Op kul triumphierend. »Sie war niemals im Tal der Schneeblu me«, verbesserte Ssissnu. Seine Stimme klang erschöpft. »Malvenia hat sich täu schen lassen. Das Ding im Tal war eine Pro jektion. Ich spürte ein starkes magisches Band zwischen Malvenia, dem Trugbild der Statue und des Bildes, das wir für Jarsynthia hielten. Ich habe das Band gesprengt. Selbst wenn Malvenia es noch einmal versuchen möchte, wird die Liebesmagierin es schwer haben. Die Verbindung wurde im Eistal ge schlossen. Hier, wo viele magische Ströme aufeinandertreffen, wird es nicht funktionie ren. Jetzt entschuldigt mich bitte. Ich muß mich ein bißchen ausruhen.« Sie sahen der Pelzkugel nach, die hinter dem Heraskawanu verschwand. »Was machen wir mit ihr?« fragte Haswa hu nervös. »Wir geben sie frei«, sagte Copasallior
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Marianne Sydow
düster. »Ich glaube nicht, daß es noch mehr Ärger geben wird.« Malvenia blinzelte verwirrt. Copasallior erklärte ihr, was geschehen war. »Es war von Anfang an sinnlos«, sagte er. »Jarsynthia konnte nur das im Tal sichtbar machen, was sie selbst gesehen hatte. Und das war eine Hülle aus dichtem Nebel. Hin ter diesem nachgeahmten Etwas steckte nur Luft, keine Statue.« Malvenia drehte sich wortlos um und ging den Weg zurück. Copasallior blickte ihr nach. Er wußte, daß das Problem noch längst nicht gelöst war. Und die anderen Magier würden ihm ebenfalls eine Menge Scherereien bereiten. In normalen Zeiten war es angenehm, der Weltenmagier zu sein, aber wenn es eine Krise gab … Er sah Koratzo an und lächelte plötzlich. Es war das erstemal gewesen, daß er mit anderen Magiern so eng zusammengearbei tet hatte. Er hatte nicht geglaubt, daß er überhaupt dazu fähig wäre. Jetzt wußte er, daß in einem solchen Verbund unterschiedli cher Fähigkeiten die wirkliche Macht lag. Keiner von ihnen hätte es allein geschafft. Für alle zusammen war es fast ein Kinder spiel gewesen. »Wir sehen uns im Tal«, sagte er. »Später, wenn alle versammelt sind.« Er fühlte sich bedeutend wohler. Seine Selbstsicherheit kehrte zurück. Er war noch lange nicht soweit, daß er Koratzo und die anderen zu seinen Freunden rechnete, aber er wußte, daß er sich auf sie verlassen konn te. Von Copasalliors bisherigen Gefährten konnte davon – bis auf eine oder zwei Aus nahmen – keine Redesein. »Er hätte sich wenigstens bedanken kön nen«, murmelte Haswahu mißmutig, als Co pasallior hinter den Felsen verschwand.
6. Endlich waren alle eingetroffen. Nur zwei fehlten in dieser Versammlung. Den Steinernen hatte bei einem Kampf mit zwei Fremden und zwei Guurpeln das
Schicksal ereilt. Parlzassel hatte es von den Riesenvögeln erfahren, die den Steinernen zu begleiten pflegten. Niemand trauerte um den Vogelmagier. Er war nicht gerade be liebt gewesen, und seine Magie wurde als unbedeutend eingeschätzt. Marxos, ein Mann aus der Tronx-Kette, hatte die Barriere verlassen, um einigen Rät seln auf den Grund zu gehen. Als Opkul ihn zum letztenmal hatte entdecken können, be fand er sich in der Nähe der Eisküste. Das war schon ziemlich lange her, und da Opkul keine neuen Spuren gefunden hatte, mußte man annehmen, daß auch Marxos tot war. Um ihn trauerten wenigstens die Bewoh ner der Tronx-Kette. Für die anderen war Marxos ein echter Rebell, mindestens so schlimm wie Koratzo selbst. Der Stimmenmagier blieb unwillkürlich stehen, als er das Tal der Schneeblume über schauen konnte. Die Magier waren auch hier darauf be dacht, mit niemandem in Berührung zu kommen. So hatte sich jeder seinen eigenen, winzigen Bezirk geschaffen, in dessen Mit telpunkt entweder ein Fahrzeug oder eine schnell errichtete Hütte stand. Und natürlich wollte niemand auf die ihm zustehenden Klimabedingungen und ähnliche Dinge ver zichten. Das Tal war zu einem genauen Ab bild der Großen Barriere im Kleinformat ge worden. Selbst die neutralen Straßen waren vorhanden, die schmalen Pfade zwischen den Bezirken. Jeder Magier hatte sich bemüht, seinen Bezirk besonders prächtig zu gestalten und so die Bedeutung seiner Magie herauszu streichen. Karsjanors Heim erkannte man zum Bei spiel an der makellosen Struktur des hohlen Kristalls, in dem er hauste. Der Boden sei nes Bezirks war mit Juwelen aller Art über krustet. Dort wuchsen kristallene Bäume und Blumen aus Malachit und Rubin. An den Grenzen waren die Waffen Karsjanors postiert: Spitze Kristallnadeln, die jeden Eindringling fingen und ganz nach Wunsch töteten, lähmten oder auf der Stelle auflö
Versammlung der Magier sten. Der Kristallmagier konnte solche Na deln auch mit seiner Schleuder erzeugen, die eine wirklich gefährliche Waffe darstellte und sogar das Interesse der Herren der FE STUNG geweckt hatte. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge hatten sich die niedrigeren Magier am Rand des Tales niedergelassen. Bezeichnender weise sah es dort am prächtigsten aus. Das lag daran, daß die stärkeren Magien sich nicht so leicht präsentieren ließen. Opkul zum Beispiel hatte kaum eine Möglichkeit, seinen Fernblick zu demonstrieren, ohne daß er ihn eben ausübte. Dementsprechend nüchtern sah es dort aus, wo die wirklich mächtigen Magier sich niedergelassen hatten. Copasallior hatte ganz darauf verzichtet, einen Bezirk zu er richten. Er wohnte in einer kleinen, steiner nen Hütte. Saisja stand regungslos neben dem Eingang. Parlzassel hatte zwar etliche Mitglieder seiner »Familie« mitgebracht, aber das war kein Ausdruck der Macht, son dern schlichte Gewohnheit. Er brauchte sei ne Tiere und fühlte sich nicht wohl, wenn er längere Zeit hindurch von ihnen getrennt war. Breckonzorpf fand samt seinen schwar zen Großkatzen im Donnerwagen Unter schlupf. Wortz und Jarsynthia waren auf grund ihrer besonderen Fähigkeiten nicht gezwungen, sich ständig im Tal aufzuhalten. Sie kamen und gingen, wie es ihnen paßte, und beanspruchten gar keinen Platz für sich. Kolviss hatte sich darauf beschränkt, sich in einen feuchtigkeitsspendenden Nebel zu hül len, weil das seinen Bedürfnissen entsprach. Nur Malvenia tanzte aus der Reihe. Sie hatte einem etwa fünf Meter hohen Felsen die Form des Einhornhauses verliehen und rundherum saftiges Gras für ihr Yassel wachsen lassen. »Da drüben ist unser Platz«, sagte Wa ne ben dem Stimmenmagier. Koratzo atmete unwillkürlich auf. Die Magier aus der Tronx-Kette bildeten eine Gruppe, die schon von weitem dadurch auffiel, daß es dort keine eifersüchtig abge schirmten Bezirke gab. Der Platz, auf dem
31 Koratzos Freunde sich eingerichtet hatten, war dennoch isoliert. Die anderen Magier scheuten die Nähe der »Rebellen«. Zum Glück brauchten sie nicht die neutra len Pfade zu benutzen. Einige Leute, die Ko ratzo nicht ausstehen konnten, hätten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dem verhaßten Stimmenmagier eine Lehre zu er teilen. Je näher sie ihren Freunden kamen, desto freundlicher wurde die Umgebung. Zwi schen den Felsen wuchs sonst nur zähes Gras. Dazwischen breiteten sich heimtücki sche, stachelige Polster aus, die einen bren nenden Saft verspritzten, wenn man ihnen zu nahe trat. Jetzt jedoch tauchten bunte Blüten auf. Dicke Moospolster umgaben kleine, klare Teiche, in denen sich eine bun te Vielfalt von Tieren tummelte. Der Lager platz selbst wurde von blühenden Sträuchern eingerahmt. Es gab sogar ein paar Bäume. Antharia, die Pflanzenmagierin, und einige andere Mitglieder der Tronx-Gruppe hatten das alles geschaffen – binnen weniger Tage war ein kleines Paradies entstanden. Man hatte dreißig Hütten errichtet. Eine diente nur symbolischen Zwecken, weil Marxos wohl kaum ausgerechnet jetzt auf tauchen würde. Der Platz zwischen den kreisförmig angeordneten Hütten war mit sauberem Sand bedeckt. In der Mitte loderte ein Feuer, und es roch nach gebratenem Fleisch und wilden Früchten. Howath eilte der Gruppe entgegen. »Wo ist der Heraskawanu?« fragte er be sorgt. »Habt ihr ihn auch nicht verloren? Läuft er noch? Sind seine Beine gesund?« »Alles in Ordnung«, erwiderte Koratzo beschwichtigend. »Er steht vor dem Tal. Wir haben ihn gegen alles, was unseren lieben Freunden einfallen könnte, abgesichert.« Howath war damit noch lange nicht zu frieden, aber inzwischen waren die anderen aufmerksam geworden. Koratzo und die an deren mußten mehrmals berichten, was in zwischen alles geschehen war. Dann erst kam man zum wichtigsten Thema. »Was sollen wir eigentlich hier?« fragte
32 Howath. Sie hatten beschlossen, solange nichts zu verraten, bis Copasallior offiziell den Vor schlag unterbreitete, den Großen Knoten da zu zu benutzen, die Große Barriere gegen ganz Pthor abzuschließen. Sie wußten, daß ihre Freunde dieses Unternehmen unterstüt zen würden. Sie schwiegen nicht aus Miß trauen, sondern wegen der anderen Magier, die alles versuchen würden, um Neuigkeiten über die Rebellen zu erfahren. »Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Koratzo darum. »Du wirst es in weniger als einer Stunde erfahren. Copasallior wird euch alles erklären.« »Copasallior«, murmelte Howath verächt lich. »Mir scheint, du vertraust dem Welten magier inzwischen mehr als uns.« »Unsinn!« fuhr Querllo dazwischen. »Sei nicht so neugierig.« »Ich bin nicht neugierig!« wehrte Howath empört ab. »Ich weiß nur gerne, woran ich bin. Außerdem ist es eine Unverschämtheit, uns alle so von der Arbeit abzuhalten. Die Grenzen …« »Sie sind doppelt und dreifach abgesi chert worden, wie ich dich kenne«, unter brach Koratzo den Feuermagier seufzend. »Es ist auch niemand da, der in die TronxKette eindringen könnte, weil alle Magier in diesem Tal sind.« Während er das sagte, fiel ihm ein, daß Howath sich nicht ganz zu Unrecht Sorgen machte. Die Seelenlosen führten etwas im Schilde. Sie hatten sich zwar nie in der Tronx-Kette blicken lassen, weil sie genau wußten, daß sie dort unerwünscht waren. Aber sie gingen mühelos von einem Bezirk in den anderen. Opkul spürte, welche Sorgen den Stim menmagier plagten. Er gab ihm ein beruhi gendes Zeichen. Bis jetzt hatte er keine See lenlosen im Bereich der sieben Gipfel ent deckt. Koratzo hatte auch gar keine Zeit, sich länger mit diesen Dingen zu beschäftigen. Ein Gongschlag drang bis in den letzten Winkel des Tales. Copasallior trat vor seine
Marianne Sydow Hütte und ging feierlich zu dem quadrati schen Felsen, von dem aus er schon einmal, vor sehr langer Zeit, zur gemeinsamen Bera tung aufgerufen hatte. In den winzigen, ma gischen Bezirken wurde es still. Die Leute aus der Tronx-Kette nahmen ihre Plätze auf einem Felsenband ein. Der feierliche Augen blick weckte Erinnerungen. Koratzo blickte traurig auf das Durcheinander im Tal hinab. Damals hatte es keine Bezirke gegeben, in denen sich jeder verschanzte. Die Magier hatten frei miteinander gesprochen. Natür lich gab es Feindschaften, aber sie wurden nicht mit so heimtückischen Mitteln ausge tragen, wie es heute der Fall war. Wir haben es weit gebracht, dachte Korat zo bitter. Wir sind gekommen, weil man uns Freiheit versprach. Jetzt müssen wir vor den Herren der FESTUNG zittern, und unsere Freiheit besteht darin, daß die meisten von uns nur für sich leben. Sie sind kaum noch fähig, miteinander zu reden. Wir sprechen zwar alle dieselbe Sprache, aber wir haben das Zuhören verlernt. Copasallior beschränkte sich in seiner Re de auf das Wesentliche. Der Tag Ragnarök war nahe. Die Magier hatten die Aufforderung erhalten, die Herren der FESTUNG mit allen Mitteln bei dem be vorstehenden Kampf zu unterstützen. Copa sallior brauchte nicht zu erklären, was das für jeden einzelnen bedeutete. Magische Waffen ließen sich nicht einsetzen wie ein Waggu. Sie erschöpften sich in ihrer Wir kung und waren dann oft für immer wertlos. »Wir haben die Wahl«, erklärte Copasalli or. »Wir können in die Schlacht ziehen. Wir können es aber auch bleiben lassen.« In den Bezirken breitete sich Unruhe aus. Der Weltenmagier ließ den anderen Zeit, sich etwas abzureagieren, dann hob er seine sechs Arme. Schlagartig wurde es wieder still. »Glyndiszorn hat einen Großen Knoten entwickelt«, fuhr er fort. »Er hat dem Stim menmagier Koratzo gegenüber erklärt, daß er die Große Barriere von Oth mit diesem Knoten umschließen kann. Damit wird jeder
Versammlung der Magier Kontakt zu allen anderen Teilen von Pthor unterbrochen. Niemand kann herein, und niemand kann hinaus. Innerhalb des Knotens sind wir unangreifbar, selbst für die Herren der FESTUNG. Darüber sollt ihr abstim men. Wie ich bereits sagte: Ihr habt die Wahl!« Copasallior verließ den Felsen und ging zu seinem Haus zurück. Bevor er durch die Tür ging, drehte er sich um und blickte für einige Sekunden zu den Magiern aus der Tronx-Kette hinüber. Zuerst herrschte absolutes Schweigen im Tal der Schneeblume. Die Magier waren wie betäubt von dem, was sie gehört hatten. Co pasalliors kühner Vorschlag stellte ihre Welt förmlich auf den Kopf. Der Gedanke, sich den Herren der FESTUNG zu entziehen, war an sich bereits ungeheuerlich. Sich aber zusätzlich endgültig von der Außenwelt ab zuschließen – das war unvorstellbar. Und dann kam das, womit Koratzo ohne hin gerechnet hatte. Wortz stand plötzlich auf dem Felsen. Das unscheinbare Männlein wurde zuerst gar nicht bemerkt. Erst, als auch Jarsynthia dort oben auftauchte, wurden die Magier aufmerksam. »Nun wißt ihr es«, sagte Wortz nüchtern. Seine knirschende Stimme war überall deut lich zu hören. »Ich spreche hier für mich selbst. Ich habe mich davon überzeugen können, daß Copasalliors Plan praktisch durchführbar ist. Dennoch halte ich das Ganze für Wahnsinn. Copasallior mag den Kampf um die FESTUNG am Tag Ragnarök scheuen. Das ist seine Sache. Wenn er Angst hat, muß er das mit sich selbst abmachen. Seine Magie wird ohnehin nicht den Aus schlag geben. Ich sehe hier viele Magier, die es verstehen, wirkliche Waffen zu schaffen und sie auch einzusetzen. Die bereit sind, zu kämpfen. Die noch wissen, was Treue be deutet. Bezeichnenderweise trifft das gerade auf den großen Teil derer zu, deren Magie von Copasallior und einigen anderen Leuten als minderwertig bezeichnet wird. Ich selbst werde dem Ruf der FESTUNG folgen. Ich
33 bin sicher, daß ich nicht alleine den Tag Ragnarök erleben werde.« Als Wortz schwieg, trat Jarsynthia vor. »Der Lebensmagier hat eigentlich schon alles gesagt«, erklärte sie. »Ich möchte nur hinzufügen, daß auch ich meine Kräfte für die FESTUNG einsetzen werde.« Damit zogen die beiden sich zurück. Ko ratzo wußte natürlich, was Wortz und Jar synthia mit diesem Auftritt bezweckten. Zwei der mächtigsten Magier stellten sich an die Spitze derer, die vor der radikalen Isola tion zurückscheuten. Gleichzeitig ermutigten sie ausgerechnet die Leute, die sich seit je her unterschätzt fühlten. Koratzo hätte dem Lebensmagier nicht zugetraut, daß er mit so viel Geschick vorging. Die kleinen Magier waren die potentiellen Verbündeten eines jeden, der sich gegen Co pasallior stellte. Karsjanor war der nächste, der auf dem Felsen erschien. »Drei Stimmen haben wir gehört«, rief der Kristallmagier herausfordernd. »Was sa gen die anderen Mächtigen, die immer ge glaubt haben, die Geschicke aller Magier zu bestimmen? Werden auch sie sich feige in Glyndiszorns Knoten verkriechen?« »Dieser Narr!« murmelte Querllo wütend. Drüben richtete sich Parlzassel inmitten seiner Tiere auf. »Wenn du deinen Mut messen willst!« schrie er Karsjanor zu, »dann komm her. Selbst wenn du mit der Kristallschleuder in der Hand gegen mich antrittst, werde ich dir mit großem Vergnügen den Hals umdrehen. Und keines meiner Tiere wird an diesem Kampf teilnehmen, du Wicht!« Karsjanor fuhr auf. Die Hand mit der Kri stallschleuder zuckte in die Höhe. »Koratzo!« flüsterte Wa entsetzt. »Schnell. Tu etwas!« Aber der Stimmenmagier brauchte dies mal nicht die schrecklichen Laute der Ver nichtung einzusetzen. Bevor Karsjanor die Schleuder in die rich tige Position gebracht hatte, schlug ein Blitz dicht neben ihm in den Felsen ein. Der Kri
34 stallmagier sank halb betäubt auf die Knie. »Genauso würde es dem Gegner der FE STUNG am Tage Ragnarök ergehen!« er klärte Breckonzorpf düster. Sein Flammen speer glühte unheimlich. »Ich fürchte mich wahrhaftig nicht vor einer Prügelei mit den Odinssöhnen, deren Waffen sowieso nichts als Spielzeuge sind. Aber ich werde der Schlacht fernbleiben. Und ich rate euch al len, es ebenfalls zu tun. Gerade die, deren Magie du, Karsjanor, am lautesten minder wertig und überflüssig genannt hast, werden nämlich mehr verlieren, als die Sache wert ist.« Karsjanor richtete sich mühsam auf. Unsi cher blickte er zu dem nachgeahmten Ein hornhaus hinüber. Aber Malvenia ließ sich nicht blicken. Kolviss lichtete kurz den Nebel um seinen blauen Quallenkörper. »Nur Narren kämpfen um etwas«, ertönte seine Gedankenstimme, »das ihnen keinen Nutzen bringt. Wenn Ragnarök wirklich kommt, haben die Herren der FESTUNG ausgespielt. Daran können auch wir nichts ändern. Kommt es dagegen nur zu einem einfachen Kampf, dann braucht die FE STUNG unsere Hilfe nicht, denn mit den Odinssöhnen werden selbst die Dellos fertig. Aber eines sollten wir nicht vergessen: Nach dem Tage Ragnarök werden neue Herrscher in die FESTUNG einziehen. Wir kennen sie nicht. Wir wissen auch nicht, wie sie sich uns gegenüber verhalten werden. Es ist vor stellbar, daß sie uns entweder in ihren Dienst zwingen oder uns aus der Barriere vertrei ben. Bis wir wissen, woran wir sind, könnte Glyndiszorn die Kontrolle über den Großen Knoten verlieren. Dann gibt es keine Mög lichkeit mehr, unsere Freiheit zu bewahren, indem wir uns von der Außenwelt abschlie ßen.« Koratzo nickte anerkennend. Der Traum magier hatte seine Argumente geschickt ge wählt. Karsjanor versuchte noch einmal, bei den anderen Gehör zu finden, aber im Au genblick achtete niemand auf ihn. Niederge schlagen verließ er den Felsen. Dafür lande-
Marianne Sydow te Srika dort oben. Die riesige Frau im Fe derkleid wartete geduldig, bis die hitzigen Diskussionen abrissen. »Bei diesen klugen Reden kam niemals zur Sprache, was hinterher passiert!« rief sie. »Angenommen, wir entscheiden uns für den Großen Knoten. Was wird dann aus uns? Gut, die Herren der FESTUNG können uns gestohlen bleiben. Wir haben unsere Freiheit und auch unsere Ruhe. Mir ist nicht klar, wozu wir Freiheit und Ruhe unter die sen Bedingungen überhaupt noch brauchen? Wozu arbeiten, wenn wir unter uns sind?« »Hör doch auf!« schrie jemand dazwi schen. »Was du Arbeit nennst …« »Jede Magie hat ihren Wert!« schrie Srika erbost. »Aber in der ganzen Barriere gibt es nicht ein einziges lebendes Wesen, das be reit ist, das Werk eines anderen Magiers an zuerkennen. Macht und Anerkennung ge winnen wir nur bei denen, die draußen woh nen! Denkt doch an den Wächter der Dunklen Region. Er bewundert die Magier. Der Trank, den wir ihm geschickt haben, ist nur für ihn wichtig. Von uns könnte keiner etwas mit dem Zeug anfangen. Und wie steht es mit der Seelenwaage in Orxeya? Wo kannst du, Breckonzorpf, deine Macht be weisen, wenn nicht in der Wüste Fylln? Dort zittern die Parias vor deinen Werken. Wir brauchen die Wesen da draußen, denn ohne sie ist unsere Magie nutzlos. Ja, Koratzo, hör mir nur zu! Das gilt auch für dich. Ob wir den Bewohnern von Pthor helfen oder sie vernichten, das ist alles eins. Du hältst mich für ein bösartiges Ungeheuer, weil du von meiner Magie nichts verstehst. Aber ich kenne deine Träume. Und nun frage ich dich: Wie willst du denen da draußen deine positive Magie zukommen lassen, wenn wir alle in diesem Knoten eingesperrt sind?« »Laß sie doch reden!« murmelte Antharia ärgerlich. Koratzo erhob sich trotzdem. »Glyndiszorn wird uns helfen, Verbin dung zu schaffen«, behauptete er. »Wir wer den nur am Anfang wirklich auf uns selbst angewiesen sein. Außerdem sprach niemand davon, die Große Barriere für immer und
Versammlung der Magier ewig in diesen Zustand zu versetzen.« »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« fragte Srika mit schriller Stimme. »Das ist schade. Vielleicht hättest du für Copasallior ein paar Stimmen gewinnen können. Aber meinetwegen, schweige dich ruhig aus. De sto eher werden wir alle zu einer vernünfti gen Lösung kommen.« »Dieses bösartige alte Weib!« knurrte Haswahu wütend. »Koratzo, das darfst du ihr nicht durchgehen lassen. Bitte, sag mir, daß ich sie schlafen lassen darf!« »Nein!« sagte der Stimmenmagier gelas sen. »Srika hat selbst in den dunklen Tälern keine Freunde. Sie kann nichts ändern.« »Den Eindruck habe ich nicht«, murmelte Wa besorgt. »Sie hat sogar recht. Viele Ma gier können nur durch die Leute von drau ßen eine Bestätigung ihrer Fähigkeiten er warten.« Koratzo sah ein, daß das stimmte. Er war förmlich dazu gezwungen, denn unter den Magiern brach Tumult aus. Viele drängten zum Felsen und hinderten sich gegenseitig daran, von dort oben zu reden. Was sie woll ten, war klar. »Sie werden den Plan ablehnen«, stellte Antharia resignierend fest. »Früher oder später«, murmelte Koratzo, »werden sie einsehen, daß wir gar keinen anderen Weg nehmen können. Aber bis da hin könnte es zu spät sein. Jeder will zu Wort kommen, und keiner hört dem anderen richtig zu. Sie werden bis in alle Ewigkeit diskutieren, wenn nichts dazwischen kommt.« Querllo deutete auf die Hütte des Welten magiers. »Copasallior könnte ihnen ruhig ein biß chen ins Gewissen reden«, meinte er. Als hätte er damit ein Stichwort gegeben, trat der Weltenmagier vor die Tür. Er sah sich um und ging mit einer verächtlichen Geste noch einmal zum Rednerfelsen. Trotz der allgemeinen Aufregung zogen sich die anderen Magier respektvoll zurück und ga ben den Weg frei. »Ich habe nicht viel zu sagen«, erklärte
35 Copasallior. »Nur dies: Wie Koratzo bereits sagte, werden wir für Verbindungen zur Au ßenwelt sorgen. Damit dürften alle Einwän de hinfällig werden.« Er wollte noch weitersprechen, aber die Magier schrien so laut durcheinander, daß keiner den anderen zu verstehen vermochte. Koratzo sah sich das eine Zeitlang an, dann kam er zu dem Schluß, daß er dem Welten magier helfen mußte. Seine Heilssprache al lerdings wagte er auch jetzt nicht einzuset zen. Sie war noch in der Entwicklung begrif fen – Koratzo fürchtete, daß allerlei uner wünschte Nebenwirkungen auftraten, wenn er seine magischen Worte gebrauchte. Immerhin aber hatte er die Möglichkeit, für Ruhe zu sorgen. Der Weltenmagier sollte Gelegenheit haben, seine Rede ungestört fortzusetzen. Koratzo schickte seine Stimme an einen Punkt in der Mitte des Tales. Um die hun dert Meter über dem Boden bildete sich ein Stimmzentrum, und von dort kam plötzlich ein tiefes, gleichmäßiges Pochen, das überall im Tal zu hören war. Fast schlagartig wurde es stiller. Einzelne Magier schrien immer noch protestierend aufeinander ein, dann kamen auch sie zur Ruhe. Koratzo nickte zufrieden und ließ das Pochen einige Sekunden lang auf alle ein wirken. Als er das Stimmenzentrum auflö ste, herrschte absolute Ruhe. »Über die Verbindung nach draußen«, fuhr Copasallior so ruhig fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, »wird jeder von euch Gelegenheit haben, seine Magie durch ihre Wirkung auf Fremde weiterhin aufzuwerten. Mehr noch: Durch die von Glyndiszorn erzeugte Sperre, die jedem nicht magisch denkenden Wesen absolut un verständlich erscheinen muß, wird die ge samte Barriere von Oth für die Bewohner der Außenwelt noch geheimnisvoller er scheinen. Das kommt jedem einzelnen Ma gier zugute. Unser Einfluß wird also durch die Erweiterung des Knotens nicht gemin dert. Man wird uns für mächtiger als je zu vor halten.«
36 Copasallior kehrte zu seinem Platz zu rück. Sekundenlang blieb es noch ruhig. Aber dann zeigte sich, daß die Magier durch Koratzo zwar gezwungen waren, dem Wel tenmagier zuzuhören, daß aber nur wenige diese Gelegenheit genutzt hatten. Die Diskussion ging weiter und nahm bald wahrhaft groteske Formen an. Als es dunkelte, stand der Rednerfelsen längst nicht mehr im Mittelpunkt. Jetzt stritten die Ma gier untereinander. Jeder versuchte, seine Macht zu demonstrieren. Die absurdesten Schauexperimente wurden ausgeführt, um die Macht des jeweiligen Magiers zu de monstrieren. Das eigentliche Problem geriet in Vergessenheit. Koratzo beobachtete diese Entwicklung düster und schweigend. »Sie werden sich niemals entscheiden«, sagte Querllo bitter. »Eher bricht der Wölb mantel um Pthor zusammen, als daß sie sich auch nur in einem Punkt einigen können.« »Dann solltet ihr nachhelfen«, bemerkte jemand. Koratzo hatte diese Stimme noch niemals gehört. Überrascht drehte er sich um. Hinter ihm stand ein Zwerg, der so bunt und abenteuerlich gekleidet war, wie man es selbst in der Großen Barriere von Oth nicht oft sah. Der kleine Mann mit dem weißen Haar und dem zerknitterten Gesicht beob achtete den Stimmenmagier und drehte da bei irgendeinen Gegenstand zwischen den Fingern. »Wer bist du?« fragte Koratzo verwun dert. »Sindro«, erwiderte der Kleine lakonisch. »Ich kenne dich nicht. Du gehörst nicht zu den Magiern. Wie bist du ins Tal der Schneeblume gekommen?« Sindro lächelte und setzte das Ding, das er in den Händen hielt, an die Lippen. Eine flüchtige Tonfolge erklang. Sie erinnerte Koratzo an die Gesänge Jarsynthias und an die Musik des Vogelmagiers. Die Stimme des kleinen Instruments schlich sich in sein Gehirn und setzte sich dort fest. Es schien, als würden seine Gedanken verschluckt –
Marianne Sydow dennoch erkannte er ganz klar, daß dieser Zwerg nichts Böses im Sinn hatte. Koratzo fühlte sich plötzlich frei. Es war, als hätte er bis zu diesem Augenblick eine schwere Last getragen, von der er gar nichts ahnte. »Spiel weiter«, bat er, als Sindro sein In strument sinken ließ. »Nein«, sagte der Zwerg leise, aber be stimmt. »Du brauchst es nicht. Ihr Magier seid ein komischer Haufen. Ihr seid mächtig genug, um über ganz Pthor zu herrschen. Ihr könntet die Herren der FESTUNG davonja gen. Statt dessen streitet ihr euch über Klei nigkeiten. Warum seht ihr nicht die Zusam menhänge? Warum reicht euer Blick nicht über die Grenzen der Barriere hinaus?« Koratzo schwieg. Was der Zwerg sagte, war sogar für ihn, den sie immer den »Rebellen« nannten, ungeheuerlich. Die Herren der FESTUNG davonjagen? »Also gut«, murmelte Sindro resignie rend. »Ich hätte wissen müssen, daß es kei nen Sinn hat. So schnell kann man euch nicht ändern. Trotzdem – wenn ihr nicht bald etwas unternehmt, gibt es eine Kata strophe.« »Was sollen wir tun?« fragte Koratzo rat los. »Denk mal nach«, empfahl Sindro spöt tisch. »Strenge dein Gehirn an. Zähle zwei und zwei zusammen und mach etwas daraus. Herrje, was soll ich denn noch sagen? Mehr kann ich mir wirklich nicht erlauben! Was seid ihr für Magier? Ihr habt das Wichtigste vergessen!« Sindro wedelte wütend mit den Händen, und plötzlich war er verschwunden. »Halt!« rief Koratzo. »Bleib hier!« Aber Sindro tauchte nicht mehr auf. »Hast du jemals etwas von ihm gehört?« fragte der Stimmenmagier seinen Freund. »Ich weiß nicht«, murmelte Querllo unsi cher. »Kann sein, aber ich bin mir nicht si cher. Es gibt ein paar seltsame Gerüchte. Aber er muß ein Magier sein. Alles deutet darauf hin.« »Vielleicht wollte Jarsynthia uns nur einen Streich spielen. Sicher kann sie auch
Versammlung der Magier diese Gestalt annehmen und uns täuschen.« »Das war nicht die Liebesmagierin«, wi dersprach Querllo energisch. »Da bin ich mir ganz sicher.« Koratzo war verwirrt. Obwohl seine Ge danken oft gegen die starre Ordnung der Magier verstießen, brachte Sindro sein Welt bild ins Wanken. Es durfte ihn nicht geben. Seit undenkbaren Zeiten lebten vierhundert fünfzig Magier in der Barriere. Manchmal kam der eine oder der andere durch einen Unfall ums Leben, wie es gerade jetzt mit dem Steinernen und Marxos geschehen war. Dann sorgten die Sterblichen dafür, daß die Lücke ausgefüllt wurde. Aber niemals gab es einen vierhunderteinundfünfzigsten Ma gier. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Für Marxos und den Steinernen gab es noch keinen Ersatz. Alle Magier waren hier versammelt. Sindro gehörte nicht dazu. Und doch kannte und beherrschte er die Gesetze der Magie. Sindro war überzählig! Das war eine Erkenntnis, die den Stim menmagier fast umwarf. So etwas hatte es noch nie gegeben! Sollte er Copasallior benachrichtigen? Er war der Weltenmagier – vielleicht wußte er sogar, was Sindro war und woher er kam. Dann wurde ihm klar, daß die Antwort auf diese Fragen längst nicht so wichtig war, wie das, was sich im Tal abspielte. Er zer brach sich den Kopf darüber, was Sindro mit seinen Andeutungen gemeint hatte. »Ich wollte«, seufzte Wa neben ihm, »wir bekämen Besuch aus der FESTUNG. Dann würden diese Narren wenigstens für einige Minuten den Mund halten.« Koratzo warf den Kopf zurück und lachte. Das war die Lösung! Warum war er nicht früher darauf gekommen?
7. Überall in der Barriere von Oth machten sich die Seelenlosen auf den Weg zum Rand. Sie gingen durch die tiefen Schluchten,
37 die uralten Höhlen, die sich unter den Ber griesen zu Hallen und breiten Wegen verei nigten, oder, wenn es keine andere Deckung mehr gab, durch die wilden Flüsse, die ihren zähen Körpern nichts anhaben konnten. Nur-Links, der beinahe automatisch der Anführer seiner Gruppe geworden war, sah sich vor ein besonderes Problem gestellt. Der kürzeste Weg vom Gnorden zum Rand führte nämlich direkt am Tal der Schneeblume vorbei. Und vor dem Tal hatte Nur-Links eine höllische Angst. Nie hatten die Magier einem Seelenlosen erlaubt, die ses Tal zu betreten oder sich auch nur in sei ne Nähe zu begeben. Inzwischen erwartete man von Nur-Links, daß er jedes Problem im Handumdrehen löste. Abgesehen davon galt der Einarmige mittlerweile als Experte, wenn es sich um den Umgang mit den Magi ern handelte. Er hatte – in den Augen seiner Artgenossen – bewiesen, daß er sich über al le Vorurteile und Traditionen hinwegsetzte. Wenn Nur-Links seinen Status behalten wollte, durfte er sich um das Tabu des rät selhaften Tales nicht kümmern. Man erwar tete von ihm, daß er seelenruhig die auch dort vorhandenen Geheimgänge benutzte. Der bloße Gedanke ließ Nur-Links ent setzt zusammenfahren. Er sagte sich immer wieder, daß kein Magier die Seelenlosen zu Gesicht bekommen würde, weil sie schließ lich nicht durch massiven Fels blicken konn ten. Trotzdem gelang es ihm nicht, seine Angst vor dem Tal der Schneeblume zu ver drängen. Er beschloß, seine Leute auf einem Um weg zum Rand zu führen. Dazu brauchte er eine gute Ausrede, oder sie kamen ihm auf die Schliche. Wenn er seine Seelenlosen zunächst nach Osten und dann zum Rand führte, kamen sie durch das Eistal. Abgesehen davon, daß die Kunstmagierin Malvenia wie alle anderen an der Versammlung teilnahm, hatten die See lenlosen in ihrem Bezirk nichts zu befürch ten. Und südlich vom Eistal gab es einige Bezirke, in denen man mit großer Wahr scheinlichkeit Waffen finden würde. Unter
38 halb des Tales der Schneeblume dagegen führte ein unbewohnter Landstrich wie ein Korridor zum Rand. Dort gab es keine Beu te. Nur-Links atmete heimlich auf, als seine Artgenossen nach einigem Überlegen und Diskutieren seinen Vorschlag als gut und nützlich aufnahmen. Schließlich wollten sie nicht die einzige Gruppe sein, die am Ende mit leeren Händen dastand. Der Marsch zum Eistal war ein Kinder spiel, denn fast alle Seelenlosen dieser Gruppe waren den Weg schon so oft gegan gen, daß sie beinahe jeden einzelnen Stein kannten. Am Rand des Tales gab Nur-Links das Zeichen zum Anhalten. Er ging alleine weiter, wie es einem Anführer geziemte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Von einem verwitterten Felsen aus be trachtete er die Eisfelder und die schmalen Wege, das alte Einhornhaus und die YasselWeide. Er stellte fest, daß Malvenias Diener, der Ghorghs, die Abwesenheit seiner Herrin offensichtlich zu einem Ausflug genutzt hat te, denn es fehlten zwei Yassels, und Malve nia – das wußten die Seelenlosen – hatte nur eines mitgenommen. In Nur-Links erwachte angesichts dieser Situation sofort der Wunsch, sich näher mit dem Eistal zu befassen. Er eilte zu seinen Leuten und teilte ihnen seine Erkenntnisse mit. »Wir werden das Einhornhaus durchsu chen«, erklärte er zum Schluß. »Sicher wer den wir dort Waffen finden. Vielleicht keine magischen, aber ein paar gute Schwerter ha ben auch ihren Wert.« Das sahen alle ein. Eine halbe Stunde später tappten Seelen lose durch alle Räume des dreißig Meter ho hen Hauses. Sie durchsuchten es bis in den letzten Winkel. Je länger es dauerte, desto unruhiger wurde Nur-Links. Bis auf ein paar Küchenmesser fand man nämlich nichts, was sich als Waffe gebrauchen ließ. Eine solche Niederlage durfte er nicht auf sich sitzen lassen. Als seine Leute sich um ihn versammel-
Marianne Sydow ten, kam ihm die rettende Idee: Draußen auf dem Platz der Statuen hatte man noch nicht nachgesehen. Die Begeisterung für die Einfälle des Ein armigen war zwar stark gesunken, aber sie folgten ihm mehr oder weniger willig nach draußen. Nur-Links hatte vorher die Statuen gar nicht beachtet, weil er sie für wertlose Spielerei hielt. Jetzt klammerte er sich ver zweifelt an die Hoffnung, es ließe sich doch etwas mit ihnen anfangen. Um so schlimmer traf ihn der Schock, als er die Trümmer er blickte. Viele Statuen waren bei dem Sturm völlig zerstört worden. Die, die noch standen, sa hen nicht so aus, wie man sich ein magi sches Kunstwerk vorstellte. Nur-Links fürchtete sogar, daß die Dinger zusammen fielen, sobald man sie berührte. Nur eine Stelle in diesem Trümmerfeld wirkte verheißungsvoll. Dort stand zwar kei ne Statue, aber es gab einen Ball aus einer nebelartigen Substanz. Darunter mochte sich allerhand verbergen. Nur-Links ahnte, daß er seinen Führungs anspruch verlor, sobald sich herausstellte, daß er sich auch jetzt irrte. »Wir werden den Nebel durchdringen«, beschloß er. »Die Kunstmagierin hat etwas darin ver steckt. Sicher bewahrt sie in diesem Nebel etwas Wertvolles auf.« Die anderen Seelenlosen waren davon nicht ganz überzeugt. Aber schließlich kam es auf die paar Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an. Man brauchte nur in den Nebel hineinzugehen und nachzusehen. Sperren dieser Art waren den Seelenlosen vertraut. Nur-Links machte schweren Herzens den Anfang. Er war so fest davon überzeugt, die Nebelwand mühelos durchschreiten zu kön nen, daß er die Durchlässigkeit der Sperre nicht einmal mit der vorgestreckten Hand prüfte. Die Folge seines Leichtsinns war, daß er mit dem Kopf gegen eine Wand prall te, die ebensogut aus massivem Gestein hät te bestehen können. Das war selbst für einen Seelenlosen zu
Versammlung der Magier viel. Nur-Links trug zwar keine ernsthafte Verletzung davon, aber er verlor das Be wußtsein.
* Der Einarmige hatte sich geirrt, als er an nahm, der Ghorghs würde die Abwesenheit seiner Herrin ausnutzen, um seinen Vergnü gungen nachzugehen. Der Gnom war ein überaus treuer Diener. Nur auf Malvenias ausdrücklichen Befehl hin hatte er das Eistal verlassen. Sie hatte ihn angewiesen, zum Karsion zu reiten und dem Wettermagier Breckonzorpf eine Nachricht zu überbrin gen. Der Ghorghs – er hatte keinen anderen Namen – war nicht besonders intelligent. Er kam nicht darauf, daß er Breckonzorpf un möglich am Karsion finden konnte, weil das Treffen im Tal der Schneeblume stattfand. Er erkannte auch nicht, daß er einem Trug bild aufgesessen war. Jarsynthia hatte die Gestalt der Kunstma gierin angenommen, um den Ghorghs für ei nige Zeit aus dem Eistal zu locken. Malve nia wußte davon und war einverstanden. Jar synthia hatte immerhin versprochen, die ver hüllte Statue zum Versammlungsort zu brin gen. Dazu – so hatte die Liebesmagierin er klärt – brauchte sie einen direkten und inten siven Kontakt mit dem Kunstwerk. Der Ghorghs stellte dabei ein Hindernis dar. Malvenias Diener hatte den schnellsten Yassel genommen. Dennoch brauchte er fast zwei Tage, bis er die Stelle erreichte, an der vorher die SARKA verankert gewesen war. Der Ghorghs zügelte sein Reittier und warte te respektvoll darauf, daß Breckonzorpf kam und nach dem Grund seines Erscheinens fragte. Mehrere Stunden vergingen. Allmählich wurde der Ghorghs unruhig. Auch wenn er auf Malvenias Befehl hin handelte, hatte er es eilig, wieder ins Eistal zu kommen. Ande rerseits hatte er Angst vor Breckonzorpf. Der würde den Gnom hart bestrafen, wenn der Ghorghs sich aufdringlich benahm.
39 Aber dann kam die Dunkelheit. Am Kar sion gab es nirgends ein Licht. Kein Laut wies daraufhin, daß Breckonzorpf in der Nä he war. Der Ghorghs beschloß, den Wettermagier zu suchen. Er rechnete sogar damit, Breckonzorpf hilflos zwischen den Felsen zu finden, denn auch ein Magier konnte einen Unfall erleiden oder sonst in Schwie rigkeiten geraten. Er suchte zuerst die Höhlen ab. Dort war Breckonzorpf nicht. Der Ghorghs wurde mutiger und durchstreifte die Umgebung – zum Glück brauchten seine Augen sehr we nig Licht. Der Ghorghs kannte auch keine Müdigkeit. Es kam nur alle paar Jahre vor, daß er in eine Starre verfiel, die ihn für eini ge Tage zu völliger Untätigkeit verdammte. Als der Morgen graute, war Malvenias Die ner sicher, daß Breckonzorpf sich nicht in seinem Bezirk aufhielt. Für den Ghorghs war diese Erkenntnis ei ner Katastrophe gleichzusetzen. Er konnte seinen Auftrag nicht erfüllen. Was würde Malvenia von ihm denken? Durfte er es überhaupt wagen, ihr nach diesem Mißerfolg unter die Augen zu treten? Nur zögernd trat der Gnom den Rückweg an. Er fühlte sich entsetzlich elend – bis zu dem Augenblick, da er zum erstenmal wie der einen Blick in das Eistal zu werfen ver mochte. Da unten waren Seelenlose, viele Seelen lose, und sie versuchten, das verhüllte Kunstwerk zu stehlen! Für den Ghorghs, der mit einiger Mühe imstande war, bis zwanzig zu zählen, stellte Nur-Links' Gruppe eine ganze Armee von Feinden dar. Jeder andere hätte sich ange sichts einer so erdrückenden Übermacht zu rückgehalten. Dem Ghorghs kam nicht ein mal der Gedanke daran. Im Gegenteil: Die Seelenlosen kamen dem Gnom gerade im richtigen Moment in die Quere. Hier hatte er eine Möglichkeit, sein Versagen auszuglei chen. Er trieb das Yassel zu höchster Eile an. Während des rasenden Rittes machte der
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Ghorghs seine Schleuder bereit. Zum Glück hatte er die Wartezeit am Karsion dazu be nutzt, seinen Vorrat an brauchbaren Steinen aufzufüllen. Die Seelenlosen merkten gar nicht, was da auf sie zukam. Sie konzentrierten sich völlig auf die unerklärlich starke magische Sperre, hinter der jetzt auch der hartnäckig ste Zweifler unter ihnen zumindest eine ge fährliche Waffe vermutete. Der Ghorghs hätte also durchaus eine Chance gehabt, die sen Kampf für sich zu entscheiden. Leider ging im letzten Moment sein Tem perament mit ihm durch. Als der erste Stein davonsauste, gegen den Kopf eines Seelenlosen prallte und die sen auf der Stelle zusammenbrechen ließ, brüllte Malvenias Diener in wilder Freude auf. Seine Gegner fuhren herum, sahen den Reiter und hechteten hinter die umherliegen den Trümmer anderer Statuen. Von dort aus nahmen sie den Ghorghs unter Beschuß.
* Als Nur-Links erwachte, hörte er Kampf lärm um sich herum. Es war Glück für den Einarmigen, daß er zwar wieder bei Bewußt sein war, sich jedoch nicht bewegen konnte. Er lag völlig ungeschützt vor dem Podest, und jede Bewegung hätte den Ghorghs auf merksam gemacht. So jedoch blieb dem Seelenlosen nichts weiter übrig, als liegenzubleiben und zu lau schen. Er hörte Steine poltern und dazwischen das Schwirren einer Schleuder. Damit wußte er bereits genug. Der Ghorghs benutze eine solche Waffe. Er war also zurückgekehrt. Nur-Links wunderte sich für einen Au genblick darüber, daß der Kampf so lange dauerte. Auch die Seelenlosen besaßen sol che Schleudern. Dann fiel ihm ein, daß der Ghorghs gepanzert war. Eine dicke Horn schicht umhüllte ihn. Nur die Sinnesorgane und die Innenseiten der Gelenke waren un geschützt. Der Einarmige sah seine große Chance.
Er wußte, daß er längere Zeit ohne Bewußt sein gewesen war. Seine Artgenossen hatten inzwischen sicher alles unternommen, was sich gegen eine magische Sperre tun ließ. Als Nur-Links vorsichtig blinzelte, sah er, daß der neblige Ball unversehrt an seinem Platz ruhte. Sie würden weder den Nebel durchdringen, noch den Ball von der Stelle rühren können. Nur-Links hatte diese Schlacht bereits verloren. Der Ghorghs bot ihm eine gute Gelegenheit, seine Führungs ansprüche dennoch zu behalten. Nur-Links hatte gegenüber den anderen Seelenlosen den Vorteil, sich in Ruhe einen Plan zurechtlegen zu können. Die Stein schleuder des Ghorghs arbeitete pausenlos, und die Gegner des Gnomen waren gezwun gen, nur für einen Augenblick aus der Deckung hochzuschnellen und hastig Steine oder Speere zu schleudern. Daher trafen sie so gut wie nie. Der Einarmige hatte eines der im Ein hornhaus gefundenen Küchenmesser an sich genommen. Es war schärfer als alles, was die Seelenlosen zu erzeugen wußten. Ganz langsam verlagerte er sein Gewicht und roll te auf die Seite. Der linke Arm wurde frei. Das Messer hielt er bereits in der Hand, ver barg es aber noch hinter dem Rücken, um den Ghorghs auf keinen Fall zu warnen. Ge duldig wartete er auf den Moment, in dem sein Gegner sich eine Blöße gab. Der Ghor ghs hatte sein Gesicht hinter einer eisernen Maske verborgen. Die Absicht des Einarmi gen, auf eines der Augen zu zielen, war da mit undurchführbar. Aber dann traf ein Wurfgeschoß der See lenlosen den Ghorghs am Kopf. Unwillkür lich hob der Gnom die Hand. Für einen Au genblick war die rechte Achselhöhle unge schützt. Nur-Links blieb eiskalt, als er das Messer warf. Der Ghorghs schrie auf und hielt sich nur mit Mühe auf dem Rücken des Yassels. Die anderen Seelenlosen sahen so fort ihre Chance, verließen ihre Deckung und drangen mit den Speeren auf den Gno men ein. Der Ghorghs, der vom Schmerz halb be
Versammlung der Magier täubt war, ließ die Schleuder fallen. Eine Speerspitze durchdrang den gepanzerten Handrücken. Zwei Seelenlose griffen nach den Zügeln des Yassels, andere versuchten, den Ghorghs aus dem Sattel zu ziehen. In diesem Augenblick begriff Malvenias Diener, daß es mit ihm aus war, sobald er den eisigen Boden berührte. Er verstand nicht, warum die Seelenlosen ihn töten woll ten. Sie hatten sich immer friedlich verhal ten. Er mußte weg von diesem schrecklichen Ort. Durch den Hornpanzer hindurch spürte er die weißen, merkwürdig kalten Hände, die an ihm zerrten. Wütend trat er um sich. Sein Fuß traf das Gesicht eines Seelenlosen. Das stumme Wesen brach lautlos zusammen. Es gelang ihm, die Beine frei zu bekommen. Er rammte die Hacken in die Flanken des Yas sels und hielt sich fest, obwohl bei jeder Be wegung eine Welle von Schmerzen durch seinen Körper raste. Fast wäre er aus dem Sattel geschleudert worden, als das Tier wunschgemäß reagierte. Es erhob sich auf die Hinterbeine, und die beiden Seelenlosen mußten die Zügel freige ben und zurückweichen, wenn sie nicht un ter die scharfen Hufe geraten wollten. Das Yassel handelte fast selbständig, nachdem der Ghorghs ihm das erste Zeichen gegeben hatte. Es raste zunächst geradeaus, mitten in die Gruppe der Seelenlosen, die entsetzt zur Seite sprangen. Dann galoppierte es in ei nem weit geschwungenen Bogen zum Ein hornhaus. Der Ghorghs sah seine Umgebung nur noch undeutlich durch einen roten Schleier hindurch. Er war dem Yassel dankbar, denn in einer weniger weiten Kurve hätte er sich nicht mehr im Sattel halten können. Das Tier schien zu spüren, wie es um seinen Reiter bestellt war. Vor den Stufen, die zum Ein hornhaus hinaufführten, verharrte es zit ternd, dann überwand es sein Mißtrauen und kletterte vorsichtig die Treppe hinauf. Direkt vor dem Eingang hielt es an. Der Ghorghs zwang sich dazu, zuerst das Messer heraus
41 zuziehen, das immer noch in seiner Achsel höhle steckte. Er spürte das Blut, das sofort aus der Wunde schoß, aber er konnte sich leichter bewegen. Mühsam schwang er sich aus dem Sattel. »Jage sie weg!« krächzte er, als er unten war. Dann brach er zusammen. Er sah nicht mehr, wie das Yassel davon stürmte und zu den Seelenlosen zurückkehr te. Diese hatten sich gerade von dem ersten Schrecken erholt. Nur-Links gab das Zei chen zum Aufbruch, und niemand hatte et was dagegen einzuwenden, das Eistal schleunigst zu verlassen. Kaum hatte man die Waffen eingesammelt, da tauchte das Yassel auf. Es schnaubte wild und erweckte einen so furchterregender Eindruck, daß die Seelenlosen Hals über Kopf davonliefen. Das Yassel verfolgte sie bis an den Rand des Eistals, dann kehrte es zu dem Ghorghs zurück. Es wieherte leise, aber Malvenias Diener antwortete nicht mehr. Das Yassel senkte den Kopf. Seine Nüstern spürten den Geruch des Todes. Entsetzt warf das Tier sich herum und floh zu seinen Artgenossen.
8. Opkul hatte das Drama beobachtet, das sich im Eistal abspielte, aber er behielt seine Kenntnisse für sich. Dem Ghorghs konnte niemand mehr helfen, und die Seelenlosen waren wieder auf dem Weg zum Rand. Mal venia würde noch früh genug vom Tod ihres Dieners erfahren. Gemeinsam mit den anderen Magiern aus der Tronx-Kette hatte Opkul dafür zu sor gen, daß niemand etwas von den Vorberei tungen erfuhr, die Querllo und Koratzo in zwischen trafen. Die Entscheidung würde in wenigen Minuten fallen. Damit niemand auf die Idee kam, Koratzo oder den Lichtmagier mit den kommenden Geschehnissen in Ver bindung zu bringen, mußten beide Männer ihre Arbeit vor den Augen aller Magier ver richten. Hätten sie sich ausgerechnet zu die
42 sem Zeitpunkt zurückgezogen, so wäre das Täuschungsmanöver sofort geplatzt. Opkul atmete auf, als über dem Tal der Schneeblume ein leuchtender Punkt auf tauchte. Manche Magier waren so in ihre Streitgespräche vertieft, daß sie gar nichts merkten. Aber als der Lichtfleck sich aus dehnte und dabei an Leuchtkraft zunahm, wurde es schlagartig still. Alles starrte nach oben. Ausgerechnet in diesem Augenblick tauchten Wortz und Jarsynthia auf dem Red nerfelsen auf. »Die Herren der FESTUNG sind gekom men«, rief Wortz, »um alle vernünftigen Magier in ihren Ansichten zu bestärken!« »Sie werden uns bestrafen!« schrie Kars janor entsetzt. »Nein!« behauptete Jarsynthia sanft. »Sie werden uns lediglich beweisen, daß Copa sallior unrecht hat. Sie haben uns niemals gezwungen, gegen unsere Überzeugung zu handeln. Sie wissen längst über alles Be scheid. Um uns zu bestrafen, käme keiner von ihnen zu uns, denn das wäre ihrer nicht würdig.« Das war zweifellos richtig. Die Magier starrten andächtig nach oben. Welche Ehre, daß die Herren der FESTUNG an der Dis kussion der Magier teilnehmen wollten. Op kul rieb sich angesichts dieser Situation zu frieden die Hände. Besser hätte es gar nicht kommen können. Wortz und Jarsynthia ahn ten nicht, welchen Gefallen sie den Leuten aus der Tronx-Kette mit ihrem Auftritt getan hatten. Der Lichtfleck dehnte sich jetzt schneller aus. Die Magier gerieten in den Bann der Erscheinung. Der kritische Punkt war erreicht. Opkul und Haswahu beobachteten besorgt die zum Teil sehr fremdartigen Wesen im Tal. Sobald einer der Magier den winzigen Unterschied zwischen Querllos Lichtwolke und einem echten »Herrn der FESTUNG« bemerkte, mußte der Luftmagier ihn betäu ben. Aber vorläufig ging alles gut. Der Leucht erscheinung fehlte zwar der starke mentale Druck, der sonst jedes lebende Wesen lähm-
Marianne Sydow te, aber das schien niemandem aufzufallen. Allerdings wäre wohl auch niemand auf die Idee verfallen, einen Auftritt dieser Art in Zweifel zu ziehen. Was Koratzo und Querllo jetzt geschehen ließen, stellte einen so unge heuerlichen Verstoß gegen die Gesetze von Pthor dar, daß selbst Opkul eine Gänsehaut bekam. Als die Lichtwolke die richtige Größe und Helligkeit erreicht hatte, klang eine dumpfe Stimme auf, die scheinbar direkt aus dem Glutball kam. In Wirklichkeit hatte Koratzo dort oben ein Stimmenzentrum geschaffen. Er nannte diesen Vorgang »Übersprechen«. »Magier von Oth!« sagte die Stimme. »Ragnarök ist nicht mehr fern. Die Große Barriere wird an diesem Tag in große Ge fahr geraten. Berge werden an Ragnarök zerbersten, und Schluchten werden sich auf tun. Darum haben wir beschlossen, euch, die ihr unsere mächtigsten Verbündeten seid, zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Die frühere Eisküste soll eure neue Heimat wer den, bis die Große Barriere von Oth sich be ruhigt hat. In wenigen Tagen werden Dellos mit Transportmitteln bei euch eintreffen. Sorgt dafür, daß bis dahin jeder auf den Auszug aus der Barriere vorbereitet ist, aber nehmt keine unwichtigen Dinge mit, denn es ist höchste Eile geboten. Ragnarök ist nicht mehr abzuwenden.« Obwohl Opkul und die anderen aus der Tronx-Kette genau wußten, daß das Ganze ein Täuschungsmanöver war, fühlten sie ei ne dumpfe Furcht in sich aufsteigen. Den Magiern unten im Tal ging es noch viel schlechter. Stumm nahmen sie die Anwei sung zur Kenntnis und regten sich nicht, während die Lichtwolke schrumpfte und schließlich verschwand. Und auch dann dau erte es mehrere Minuten, bis die ersten ent setzten Rufe aufklangen. Dann allerdings brach ein Tumult los, wie Querllo und die anderen ihn noch nie erlebt hatten. Alles schrie durcheinander, und Wortz, der immer noch auf dem Rednerfelsen stand, wurde von niemandem mehr beachtet. Ko ratzo lächelte spöttisch, als er sah, wie der
Versammlung der Magier Lebensmagier verzweifelt auf Jarsynthia einredete. »Dieses Spiel habt ihr verloren«, murmel te er vor sich hin. »Hoffentlich«, meinte Querllo. Endlich verschaffte Wortz sich Gehör. Und da stellte sich heraus, wie schnell der Lebensmagier die Fronten wechselte, wenn sich ein Presti geverlust abzeichnete. »Wir werden die Barriere von Oth um keinen Preis verlassen!« schrie Wortz. »Diesmal sind die Herren der FESTUNG zu weit gegangen! Jeder Felsen hier wurde von magischen Strömungen durchzogen. An kei nem anderen Ort werden wir so erfolgreich arbeiten können. Wenn die Herren uns vor den Folgen des Tages Ragnarök nicht zu schützen vermögen, müssen wir selbst für unsere Sicherheit sorgen!« »Wenn wir uns weigern, mit den Dellos zu fliehen«, rief Karsjanor dazwischen, »werden sie uns bestrafen. Was sollen wir tun?« »Ich gebe zu, daß ich Copasalliors Plan für absolut verfehlt hielt«, sagte Wortz et was ruhiger. »Aber die Situation hat sich ge ändert. Nach dieser Herausforderung bleibt uns nur ein Ausweg: Der Große Knoten!« Für einige Augenblicke blieb es still. Plötzlich sprang Karsjanor über die Grenzen seines Bezirks und warf die Arme hoch. »Der Große Knoten!« schrie er begeistert. »Er wird uns schützen. Nicht nur vor den Herren der FESTUNG, sondern auch vor Ragnarök. Wir sind gerettet!« Die anderen stimmten in seine begeister ten Rufe ein, und Koratzo fürchtete bereits, es würde weitere Verzögerungen geben und eine Diskussion mit umgedrehten Vorzei chen könnte entstehen. Aber als Copasallior auf den Rednerfelsen trat, verstummten die Magier. Koratzo konnte sich lebhaft vorstel len, welche Gefühle den Weltenmagier in diesem Augenblick bewegten. Sicher hatte er inzwischen erkannt, daß seine Macht über diese Leute viel geringer war, als er sich stets ein geredet hatte. Ob er auch durch schaut hatte, daß sie alle einem Trick zum
43 Opfer gefallen waren? Koratzo hoffte, daß Copasallior noch nichts wußte. Wenn es nach ihm ging, wür de der Weltenmagier auch niemals etwas von diesem Spiel erfahren. Es mochten in der Zukunft Situationen entstehen, in denen Copasallior selbst nur durch derartige De monstrationen zum Einlenken gezwungen werden konnte. Koratzo mußte immer wie der an die beiden Fremden denken, die Op kul in der Dunklen Region erspäht hatte. Ei ne dunkle Vorahnung sagte ihm, daß sie noch eine wichtige Rolle in der Geschichte Pthors spielen würden. Nach allem, was Op kul berichtet hatte, kannten die beiden zwar nicht die Gesetze der reinen Magie, aber ihr Verhalten in verschiedenen Situationen be wies, daß ihre Weltanschauung der des Stimmenmagiers sehr ähnlich war. Wenn Koratzos Ahnung Wirklichkeit wurde und diese Fremden die Herrschaft über Pthor an traten … Aber nein. Es war noch zu früh, um an ei ne Zusammenarbeit mit diesen Fremden zu denken, auch wenn eine solche Aussicht noch so verlockend war. »Ihr wollt also doch den Großen Knoten«, sagte Copasallior oben auf dem Felsen. Sei ne Stimme klang verächtlich, aber die Ma gier waren viel zu egozentrisch, um jetzt Schuldgefühle zu entwickeln. »Ich werde selbst zu Glyndiszorn gehen!« bot Wortz an. »Ich begleite dich!« schrie Karsjanor. »Ich auch!« rief Srika und erhob sich in die Lüfte. »Meine Kräfte werdet ihr brau chen können!« »Keiner von euch wird zur ORSAPAYA gehen!« fuhr Copasallior dazwischen. »Mir scheint, vorhin hat niemand richtig zugehört, als ich euch erklärte, worum es geht. Es gibt nur einen Magier, der auch nur die leiseste Chance hat, zu Glyndiszorn durchzudringen, und das ist Koratzo aus der Tronx-Kette!« »Koratzo?« fragte Karsjanor empört. »Willst du eine so wichtige Mission einem Rebel …« Er unterbrach sich mitten im Wort, als
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Copasallior drohend alle sechs Hände hob. »Du redest zu viel, Karsjanor!« sagte Co pasallior drohend. »Glaubst du, ich weiß nicht, was ihr in der letzten Zeit in den dunklen Tälern getrieben habt? Du kannst von Glück sagen, daß eure Pläne von vorn herein zum Scheitern verurteilt waren, denn hättet ihr sie ausführen können, so hätte das das Ende aller Magier von Oth bedeutet!« Karsjanor schrumpfte förmlich in sich zu sammen. »Koratzo!« »Ich bin bereit, Weltenmagier«, sagte der Mann aus der Tronx-Kette ernst. »Wenn du einverstanden bist, werde ich mich mit eini gen Freunden sofort auf den Weg machen.« Copasallior nickte ihm zu. Der Weltenma gier hätte gerne noch ein paar Worte mit Ko ratzo gewechselt, aber er wußte zu genau, daß er damit das Mißtrauen der anderen schüren würde. Scheinbar unbeteiligt sah er zu, wie der Stimmenmagier sich mit fünf Begleitern aus dem Tal entfernte. Er hoffte, daß alles gut ging. Koratzos Mission war al les andere als ungefährlich.
* Der Heraskawanu war wieder unterwegs und rumpelte auf seinen Stelzen über die neutralen Wege. Koratzo hatte dieselben Magier als Begleiter ausgewählt, die schon vorher mit ihm zum Gnorden gefahren wa ren. Zwar hatte sich damals herausgestellt, daß Haswahus Nerven nicht die besten wa ren, aber er wollte kein Risiko eingehen. Diese Gruppe war inzwischen hervorragend aufeinander eingespielt. Die Fahrt verlief ereignislos. Sie wechsel ten sich in der Steuerung des metallenen Un getüms ab und nutzten die Zeit, um sich aus zuruhen. Für Neuigkeiten sorgte nur Opkul. Er berichtete, daß die beiden Fremden mit ihren Begleitern aus der Dunklen Region entkommen waren und tatsächlich das Gol dene Vlies erobert hatten – ein Umstand, der Koratzos geheime Hoffnungen noch bestärk te. Die Odinssöhne würden die Festung in
spätestens zwei Tagen erreichen. Dann muß te es sich herausstellen, ob Ragnarök ein Märchen war oder nicht. Und die Seelenlo sen versammelten sich am Rand südlich der Barriere. Sie planten also tatsächlich den Ausbruch aus ihrer Welt. Mit welchen Ab sichten sie nach draußen gingen, war unver kennbar: Sie hatten unterwegs alles einge sammelt, was sie als Waffen erkannt hatten. Unter normalen Umständen hätte diese stumme Armee für die Außenwelt eine Be drohung dargestellt, und Koratzo wäre bereit gewesen, alles daranzusetzen, um die See lenlosen aufzuhalten. Aber Koratzo wußte, daß die Sperren aus antimagischer Energie auch für diese Wesen undurchdringlich wa ren. Er fragte sich, was die Seelenlosen un ternehmen würden, wenn sie das ebenfalls erkannten. Würden sie in die Barriere zu rückkehren? Es war später Nachmittag, als sie das Hochplateau erreichten. Sie erschraken, als sie die ORSAPAYA endlich zu sehen beka men. Die dunkle Wolke rund um das Luftschiff hatte sich weiter ausgedehnt. Aber das war nicht das Schlimmste. In den rußig wirkenden Schleiern beweg ten sich schattenhafte Dinge. Ab und zu wurden grauenhafte Wesen sichtbar. Riesige Pranken zuckten durch die Luft, bis sie wie der von der Dunkelheit aufgesogen wurden. Die Köpfe gigantischer Ungeheuer starrten auf die Ankömmlinge herab. »Da kommt niemand mehr hindurch«, flü sterte Wa entsetzt. »Glyndiszorn muß den Verstand verloren haben, daß er das zuläßt! Wenn er noch länger wartet, werden diese Wesen entkommen!« »Das ist sicher nicht seine Absicht«, be merkte Querllo. »Ich fürchte, es ist genau das eingetroffen, was man sich in der Barrie re erzählte: Der Knotenmagier hat die Kon trolle über dieses Gebilde verloren.« »Wir müssen fliehen«, stieß Haswahu hervor. »Es wäre glatter Wahnsinn, sich mit denen da oben einzulassen!« »Wir haben einen Auftrag erhalten«, sagte
Versammlung der Magier Koratzo scharf. »Und wir werden ihn erfül len. Wir haben es schon einmal geschafft.« »Das war etwas anderes«, wehrte Wa em pört ab. »Da gab es diese Wesen noch nicht.« »Nein, aber Breckonzorpfs Unwetter tob te um uns herum, und ich glaube nicht, daß die halbstofflichen Gestalten da oben ge fährlicher als der Orkan sind. Abgesehen da von müssen wir sowieso um jeden Preis ver suchen, Glyndiszorn zu erreichen. Was er jetzt treibt, ist entschieden zu gefährlich.« »Er mag sich vor dem Weltenmagier da für verantworten«, murmelte Haswahu är gerlich. »Warum sollen ausgerechnet wir unser Leben riskieren?« »Weil nur wir etwas ausrichten können«, fuhr Querllo den Luftmagier an. »Bis das Ding da oben von selbst zusammenbricht, kann schon die halbe Barriere verwüstet sein. Willst du dich in irgendeinem Loch verkriechen und warten, bis der Spuk vorbei ist?« Haswahu schwieg beschämt. Er nahm sich vor, den anderen zu beweisen, daß er nicht der Feigling war, für den sie ihn hiel ten. »Wir sehen uns jetzt erstmal die Trans portröhre an«, bestimmte Koratzo. Als sie den Heraskawanu verließen, hör ten sie das unheimliche Brausen und Dröh nen, von dem die geisterhaften Erscheinun gen rund um die ORSAPAYA begleitet wur den. Ab und zu drangen auch Schreie und lautes Fauchen aus der Hülle heraus. Die Magier duckten sich unwillkürlich. Es war, als senke sich eine riesige Felsplatte lang sam auf sie herab. Haswahu begann zu zit tern. Er mußte sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen. Koratzo ging voran. Es war ihm nicht an zusehen, wie er die Situation beurteilte. An der Transportröhre blieb er stehen. Eine knappe Handbewegung veranlaßte die Tür, sich zu öffnen. Eine Wolke dunkler Schatten quoll den Magiern entgegen. Sie erinnerten sich an ih re erste Begegnung mit diesen Dingern und
45 wichen hastig zurück. Nur Haswahu blieb stehen. Er war vor Schreck wie gelähmt. Ehe die anderen einzugreifen vermochten, hatten die Schatten den Luftmagier ein gehüllt. Erst jetzt begann Haswahu, sich zu weh ren. Er tat es instinktiv und setzte das ein, was er am besten beherrschte: Seine Magie. Blitzartig bildete sich um ihn herum eine Glocke, die ihn vor den Schatten schützte. Zu seinem Entsetzen ließen sich die dunklen Dinger dadurch nicht verjagen. Im Gegenteil, sie stürzten sich förmlich auf die Glocke. Und dann glaubte Haswahu, seinen Augen nicht trauen zu dürfen: Die Schatten lösten sich auf. Für die anderen war der Vorgang noch er schreckender als für den Luftmagier selbst. Aus der Transportröhre strömten immer neue Schatten herbei, um sich rund um den jetzt unsichtbaren Luftmagier zu versam meln. »Er stirbt«, stammelte Wa. »Wir müssen ihm helfen!« Sie wollte losrennen, aber Koratzo hielt sie am Arm fest. »Sieh genau hin!« befahl er. »Haswahu lebt. Diese dunkle Hülle müßte inzwischen mindestens zehnmal so groß sein wie am Anfang. Er steht da drin und sorgt dafür, daß die Schatten sich auflösen.« Die Höhlenmagierin setzte zu einem Pro test an, aber inzwischen hatte der Zustrom der Schatten nachgelassen und jeder konnte sehen, daß Koratzo recht hatte, denn die Hülle um den Luftmagier wurde zusehends dünner. Schon nach einer Minute konnten sie Haswahu sehen. Er stand regungslos da, die Augen weit aufgerissen, und es schien, als atme er kaum. Koratzo sah zum Eingang der Transport röhre hinüber. Ein kleines, rundes Schatten gebilde tauchte dort auf. Er lief hin – das Ding ignorierte ihn und strebte geradewegs auf den Luftmagier zu. Augenblicke später war es spurlos verschwunden. »Das ist unsere Chance«, sagte er zu den anderen. »Die Schatten werden uns nicht
46 mehr belästigen. Es scheint, als hätte sich Haswahu in eine Falle für diese Dinger ver wandelt.« »Ich habe eher den Eindruck, daß Haswa hu selbst in einer Falle sitzt«, murmelte Wa skeptisch. »Warum bewegt er sich nicht?« »Mit ihm ist alles in Ordnung«, versicher te Querllo. »Etwas Ähnliches hat er schon früher gemacht. Wenn wir zurückkommen, wecken wir ihn auf.« »Wenn wir zurückkommen«, betonte die Höhlenmagierin vielsagend. Koratzo wandte sich irritiert nach ihr um. Natürlich hatten sie alle Angst vor dem, was sie auf dem Weg zu Glyndiszorn erwartete. Aber ausgerechnet Wa sagte es so offen? Der Stimmenmagier hatte Wa schon in den unglaublichsten Situationen erlebt, und sie war immer kaltblütig und besonnen geblie ben. Spontan beschloß er, Wa hier auf dem Plateau zurückzulassen. Und was war mit den anderen? Koratzo blickte zu der düsteren Wolke hinauf. Opkuls Fernblick vermochte das Ge bilde nicht zu durchdringen. Querllos Licht magie war in diesem Fall ebenfalls nutzlos. Also blieb nur noch Ssissnu übrig, der Schlangenmagier. Er konnte starke Schirme durchdringen. Mit seiner Hilfe mochte es gelingen, durch den Mantel der Dunkelheit in die Gondel des Luftschiffs vorzudringen. »Wir beide gehen jetzt hinauf«, sagte Ko ratzo zu der Pelzkugel. »Alle anderen blei ben hier.« Natürlich protestierten sie. Zum Glück fiel dem Stimmenmagier ein brauchbares Argument ein. »Ihr müßt die ORSAPAYA beobachten«, sagte er. »Wenn eine Änderung eintritt, gebt ihr uns Bescheid. Und wenn es schiefgeht, müßt ihr sofort Copasallior benachrichtigen. Ich hoffe, dem Weltenmagier fällt irgendein Trick ein, mit dem wir den Plan doch noch verwirklichen können.« Er ließ ihnen keine Zeit, noch länger dar über nachzudenken. Innerhalb der Transportröhre stieß er sich
Marianne Sydow mit den Füßen vom Boden ab und schwebte nach oben. Es war anders als in der Halle der Stimmenkristalle. Dort spürte er die Kräfte, die ihn trugen. Hier fühlte er sich hilflos dem magischen Feld ausgeliefert, das Glyndiszorn errichtet hatte. Als er sich um sah, entdeckte er Ssissnu, der ihm in knap pem Abstand folgte. Einmal huschte ein Schatten an ihm vorbei. Etwa dreißig Meter unterhalb der Tür, durch die man in die Gondel gelangte, stie ßen sie auf einen schwarzen Schleier, der die ganze Röhre ausfüllte. »Wir müssen hindurch«, sagte Koratzo leise. »Ssissnu, du mußt einen Durchgang für mich schaffen.« Der Schlangenmagier verankerte sich schweigend mit einem Tentakel an der Röh renwand, dann konzentrierte er sich auf das Hindernis. Fasziniert beobachtete Koratzo, wie sich die schleierähnliche Sperre nach oben beulte. Langsam drang Ssissnu weiter vor. Die Dinge, die sich hinter dem Schleier befanden, bewegten sich unruhig. Sie dräng ten um den entstehenden Schlauch innerhalb ihres Mediums heran und versuchten, die Wand wieder zu glätten. Noch war Ssissnu stärker – sein Schlauch wuchs weiter und stieß endlich an die Außenhülle der ORSA PAYA. »Los!« flüsterte Ssissnu erschöpft. »Mach schnell!« Koratzo stieß sich ab. Er beeilte sich, so gut es ging, aber er kam trotzdem viel zu langsam voran. Er hing buchstäblich in der Luft. Normalerweise konnte man seine Ge schwindigkeit in dieser Röhre dadurch erhö hen, daß man sich an den Wänden abstieß. Aber Koratzo war von diesem düsteren Me dium umgeben, und er hütete sich, es zu be rühren. Ssissnus Kräfte ließen nach. Koratzo er kannte es daran, daß die Röhre enger wurde. Er vollführte Schwimmbewegungen und starrte dabei verzweifelt die Tür an. Wenn sich der schwarze Schleier vor ihr schloß, war die Chance vertan. »Nur noch ein kleines Stück, Ssissnu!«
Versammlung der Magier sagte er beschwörend. »Ich habe es gleich geschafft.« Wahrscheinlich hörte der Schlangenma gier ihn gar nicht. Koratzo erschrak, als die Wände mit einem Ruck noch ein Stück nä her kamen. Er zweifelte nicht daran, daß Ssissnu am Ende war. Wenn der Schlauch zusammenbrach, bevor er die Tür geöffnet hatte, war Koratzo verloren. Er zog die Beine an den Leib und stieß sich dann mit aller Wucht von der schwar zen Wand des Schlauches ab. Ein wilder Schmerz zuckte von den Füßen her durch seinen ganzen Körper, aber gleichzeitig flog er wie ein Geschoß nach oben. Halb betäubt hielt er sich an einem Riegel fest. Er krümmte sich vor Schmerzen zusammen und brachte dadurch den Riegel in die richtige Stellung. Vor ihm schwang die Tür auf. Er ließ sich in die Gondel fallen und rollte über den weichen Bodenbelag. Als er in Richtung Tür sah, hörte er ein un heilverkündendes Rauschen. Er riß sich zu sammen, kam taumelnd auf die Beine und wäre fast wieder gestürzt, als die Schmerzen in nie gekannter Intensität zurückkehrten. Mit einem Schrei warf er sich nach vorn, schlug im Sturz die Faust gegen die Tür und sank hilflos wimmernd in sich zusammen. Das geschah genau in dem Augenblick, an dem Ssissnu zusammenbrach. Er hatte seine letzten Kräftereserven mobilisiert, um den Schlauch aufrechtzuerhalten. Dabei war ihm klargeworden, daß er dieses Abenteuer mit dem Leben bezahlen mußte. Das düstere Etwas entpuppte sich als unbekannte magi sche Kraft. Jetzt begriff er, warum Glyndis zorn den Großen Knoten nicht längst aufge löst hatte. Und gleichzeitig wurde ihm klar, was den Bewohnern der Großen Barriere be vorstand, wenn Koratzo sein Ziel nicht er reichte. Was immer es auch sein mochte, was diesen »Knoten« mit Leben erfüllte – es würde erst dann Ruhe geben, wenn es auch den letzten magischen Bezirk umschließen konnte. Koratzo brauchte mehrere Minuten, um sich soweit zu erholen, daß er sich in der
47 Gondel umsehen konnte. Auch hier war es düster, aber eine letzte Sperre des Knotenmagiers verhinderte, daß die Gondel den unbekannten Kräften zum Opfer fiel. Koratzo erschrak, als er den dunklen Ball in der Mitte des Raumes sah. Im Gegensatz zu der draußen sichtbaren Wolke hatte sich dieses Gebilde verkleinert. Über seine tief schwarze Oberfläche zuckten hellblaue Blit ze. Lebte Glyndiszorn am Ende gar nicht mehr? Koratzo verfluchte in Gedanken die Magier und deren Vorliebe für sinnlose Dis kussionen. Mühsam konzentrierte er sich. Wenigstens wußte er diesmal, was er zu tun hatte. Er atmete auf, als Glyndiszorn sich so fort nach dem ersten Ruf meldete. »Ich dachte schon, du würdest niemals kommen!« keuchte der Knotenmagier er schöpft. »Hör zu, Koratzo, mir bleibt keine Zeit für lange Erklärungen. Du mußt mich hier herausholen. Da ist ein Gerät, du kannst es leicht erkennen, es ist aus dreiunddreißig Kristallkugeln zusammengesetzt. Um den Knoten aufzulösen …« »Ich werde ihn nicht auflösen!« unter brach Koratzo den Knotenmagier. Glyndis zorn schwieg verwirrt. »Was soll das?« frag te er schließlich. »Du hast gesagt, du könn test den Großen Knoten so weit ausdehnen, daß er die ganze Barriere umschließt. Stimmt das?« »Ja, aber ich verstehe nicht …« »Es ist viel geschehen, Glyndiszorn. Rag narök steht bevor. Die Herren der FE STUNG haben uns aufgefordert, uns an dem Kampf zu beteiligen. Im Tal der Schneeblu me wurde entschieden, daß die Magier mit dieser Auseinandersetzung nichts zu tun ha ben. Du weißt, welche Konsequenzen wir befürchten müssen. Darum hat man mich hierher geschickt. Die Magier bitten dich, mit Hilfe des Großen Knotens die Barriere von der Außenwelt abzuschließen.« Eine Weile blieb es still. »Noch vor kurzer Zeit hätte ich jetzt einen Lachkrampf bekommen«, sagte Glyndiszorn
48 dann. »Es wäre nicht nur eine Kleinigkeit für mich gewesen, den Knoten anschwellen zu lassen, sondern es hätte sogar eine Er leichterung für mich dargestellt. Der Knoten will nämlich wachsen. Es ist irgendeine Kraft in ihm. Ich fürchte, eine meiner Ver bindungen hat einen Kontakt zu einer frem den magischen Kraft hergestellt. Ich habe al les getan, um den Knoten wieder in meine Gewalt zu bekommen. Jetzt hat diese komi sche Macht mich als Störfaktor erkannt. Ich bin isoliert. Es wird immer enger hier drin, und ich habe jede Verbindung zu den RaumZeit-Linien verloren.« »Heißt das, daß der Beschluß der Magier zu spät kam?« »Wenn ich hier hinauskönnte«, sagte Glyndiszorn nachdenklich. »Mit meinen Ge räten wäre es vielleicht zu schaffen.« »Ich werde die Geräte bedienen!« verkün dete Koratzo. Der Knotenmagier lachte dumpf. »Was verstehst du von Geräten, Stimmen magier? Bedenke, daß der winzigste Fehler unweigerlich zu einer Katastrophe führen wird.« »Dann solltest du darauf achten, daß dei ne Anweisungen keinen solchen Fehler er möglichen«, erwiderte Koratzo ärgerlich. »Du hast recht«, gab Glyndiszorn resi gnierend zu. »Wahrscheinlich würde diese fremde Kraft mich auch trotz der Geräte nicht freigeben. Fangen wir an.« Koratzo hatte Mühe, sich auf die unge wohnte Arbeit zu konzentrieren, denn er stens durfte er den Kontakt zu Glyndiszorn niemals unterbrechen, und zweitens schmerzten seine Füße immer noch abscheu lich. Glyndiszorns Geräte waren merkwürdiger als alles, was Koratzo in dieser Hinsicht bis her gesehen hatte. Vor jedem Handgriff war tete er auf die Anweisungen des Knotenma giers. Er hatte keine Ahnung, wozu die ver schiedenen Teile dienten, die er bewegte oder anstieß, von ihrem Untergrund löste oder auch nur mit seinem Atem wärmte. Aber in dem Bewußtsein, daß das Schicksal
Marianne Sydow aller Magier buchstäblich in seinen Händen lag, bemühte er sich um äußerste Präzision. Nach kurzer Zeit war er bereits in Schweiß gebadet. Dann kam der Augen blick, in dem Glyndiszorn triumphierend verkündete: »Die Linien sind wieder da. Ich spüre den Knoten! Er zieht gewaltig. Tritt jetzt zurück, Koratzo. Es ist soweit. Ich werde dieses Monstrum von der Kette lassen!« Jetzt plötzlich bekam der Stimmenmagier Angst. Was würde geschehen, wenn diese Dunkelheit durch die Barriere raste? Mußte nicht alles Leben davon vernichtet werden? Und würden die Ungeheuer, die in der Hülle um die ORSAPAYA tobten, nicht immer weiter hinausdrängen, um über die Bewoh ner von Pthor herzufallen? Er sah, wie der dunkle Ball sich bewegte und duckte sich. Er war auf alles gefaßt. Und dann war es ganz anders. Mit einem puffenden Geräusch löste sich die schwarze Kugel auf, und Glyndiszorn stand plötzlich in der Gondel. Gleichzeitig wurde es vor den Fenstern hell. Koratzo sah staunend, daß die Sonne bereits untergegangen war. Die frem den Sterne der Welt, auf der Pthor Halt ge macht hatte, waren deutlich zu sehen. Er drehte sich nach dem Knotenmagier um. »Hast du …« Glyndiszorn nickte. »Der Große Knoten hat sich ausgedehnt. Niemand kann von nun an die Barriere ver lassen, aber es kann auch keiner mehr zu uns vordringen.« Koratzo mußte sich räuspern, weil ihm die Stimme zu versagen drohte. »Wie lange wird es dauern?« »Nun, bevor ich in diese Welt zurückfiel, gelang es mir, die Verbindung zu der frem den Macht zu unterbrechen und die Kreatu ren zu verjagen, die trotz meiner Abwehr maßnahmen in die Sphäre gelangten. Der Große Knoten steht wieder unter meiner Kontrolle. Ich spüre ihn genau. Er hat sich beruhigt, und ich denke, daß ich ihn jetzt auch wieder auflösen könnte – wenn die Magier das wünschen.« »Ich hoffe, daß sie im Tal der Schneeblu
Versammlung der Magier me ihre Lektion gelernt haben, Knotenma gier«, sagte Koratzo nachdenklich. »Solange die Herren der FESTUNG über Pthor herr schen, werden die Magier es sicher vorzie hen, in einem Knoten zu leben.« Glyndiszorn lachte schallend. Koratzo reichte ihm die Hand. »Ich muß gehen«, murmelte er. »Die an deren werden sich schon Sorgen machen, und Copasallior ist manchmal auch recht un geduldig.« »Ich hoffe, wir werden uns bald wiederse hen.« Koratzo sah den Knotenmagier überrascht an. Glyndiszorn erkannte, daß er einen Feh ler gemacht hatte. Er war drauf und dran, seinen schlechten Ruf zu verspielen. Er konnte diesem Rebellen doch nicht verraten, daß Koratzo ihm allein deshalb sympathisch war, weil er nicht über Aussehen und Stim me des Knotenmagiers gelacht hatte! »Du hast mir immerhin einen kleinen Ge fallen getan«, murmelte er unwirsch. »Geh jetzt. Ich habe zu tun.« Koratzo drehte sich um. Glyndiszorn sah es nicht, daß er verständnisvoll lächelte, während er zur Tür ging. So waren sie nun mal, die mächtigsten der Magier. Bei jedem freundlichen Wort, das ihnen herausrutschte, fürchteten sie, ihre Macht zu verlieren. Die Transportröhre war hell erleuchtet. Koratzo sah Ssissnus reglosen Körper. Glyn diszorn und seinesgleichen gerieten samt ih ren oft seltsamen Ansichten in Vergessen heit. Der Stimmenmagier schwebte so schnell er konnte zu seinem Freund hinab. »Ssissnu!« sagte er beschwörend. »Komm zu dir. Es ist alles gut gegangen!« Der Schlangenmagier antwortete nicht, und als Koratzo das Pelzbündel berührte, merkte er, daß Ssissnu tot war. Minutenlang war er unfähig, irgend etwas zu tun. Seit undenkbar langen Zeiten waren sie Freunde gewesen. Koratzo hatte Mühe, zu begreifen, daß das vorbei war. Schließlich löste er den Tentakel, der sich immer noch an eine Strebe klammerte, lud sich Ssissnu auf die Schultern und schwebte
49 nach unten. Er hatte Angst vor dem, was er erfahren würde. Querllo kam ihm entgegen. »Wa ist tot«, sagte er leise. Koratzo zuckte wie unter einem Schlag zusammen. »Was ist mit ihm?« fragte Querllo und deutete auf den Schlangenmagier. Koratzo antwortete nicht. Später stand er vor Was Leiche. »Sie ist dir gefolgt«, erklärte Opkul unsi cher. »Wir wollten sie zurückhalten, aber es ging nicht. Sie wollte dich nicht im Stich lassen. Und dann – ist sie abgestürzt. Für kurze Zeit hörte Glyndiszorns Schwebefeld auf, zu existieren.« Koratzo schien gar nichts zu hören. Nach einer Weile drehte er sich abrupt um und ging entlang des Sees auf die Gipfelwand des Gnorden zu. Die anderen sahen ihm nach, bis er zwischen den Felsen ver schwand. Dann brachten sie Wa und Ssissnu in einer Kammer des Heraskawanu unter. Da der Crallion sich in Sichtweite befand, unterrichtete Querllo den Weltenmagier über den Ausgang des Unternehmens. Die glü henden Buchstaben, die er am Himmel er scheinen ließ, würde man in vielen Teilen der Barriere sehen können. Kurz vor Mitternacht kehrte Koratzo zu rück. Er sprach immer noch nicht. Als er sich vor die Steueranlage des Heraskawanu setzen wollte, schob Opkul ihn zur Seite. Der Metallwurm rumpelte in die Nacht hin aus. Sie hatten den Auftrag der Magier erfüllt und damit auch einen Teil dessen erreicht, worauf sie seit langem hinarbeiteten: Die Herren der FESTUNG hatten keinen Einfluß mehr auf das Leben in der Großen Barriere von Oth.
9. Am selben Abend erreichten die Seelenlo sen den Rand. Vor ihnen lag das Meer. Die Sicht war schlecht, denn über dem Wasser trieb dichter Nebel.
50 Nur-Links, der mit seinen Leuten einen wahren Gewaltmarsch vollführt hatte, um das Ziel rechtzeitig zu erreichen, sah sich stolz nach allen Seiten um. Soweit er sehen konnte, säumten Seelenlose das Ufer. Sie waren fast ausnahmslos bewaffnet. Schwer ter und Speere blitzten auf, die Ketten schwerer Kampfkugeln klirrten. Der Einarmige atmete tief durch, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Es pflanzte sich mit rasender Geschwindigkeit bis in alle Buchten der Barriere fort. Die Seelenlosen waren gute Schwimmer. Die schweren Waffen und das, was sie sonst noch mit sich schleppten, behinderten sie nicht. Sie strebten schnell und zielstrebig von der Küste fort. Dann tauchte vor ihnen – unsichtbar, aber für die Seelenlosen deutlich markiert – der Wölbmantel auf. Nur-Links wurde für einen Augenblick unsicher. Gemeinsam mit dem Tiermagier hatte er diese Wand mehrmals durchstoßen, und es war ihm nichts passiert. Aber er erin nerte sich daran, daß Parlzassel oft von der unheilvollen Wirkung des Wölbmantels er zählt hatte. Er trat ins Wasser und sah sich um. Zuerst dachte er an eine Sinnestäuschung. Oder war der Nebel dichter geworden? Die Barriere von Oth war verschwunden. Nur-Links stellte fest, daß sich kein See lenloser mehr zwischen ihm und dem Rand befand. Lautlos tauchte er und schwamm zu rück. Dreißig Meter von der Küste entfernt hielt er an. Nein, es lag nicht am Nebel. Eine düstere Wand erhob sich da, wo das Wasser gegen die Felsen hätte stoßen sollen. Nur-Links er innerte sich plötzlich an den Überfall auf die ORSAPAYA und an die dunkle Wolke, die das Luftschiff umgeben hatte. Genauso sah diese Wand vor ihm aus. Er schwamm noch näher heran, spürte Grund unter den Füßen und watete über scharfkantiges Geröll bis an die Wand her an. Er hatte sich nicht getäuscht. Hier gab es eine magische Sperre. Sie endete genau auf der Wasserlinie. Und als Nur-Links versuch-
Marianne Sydow te, sie zu durchschreiten, stieß er auf eine Watteschicht, die ihn festhielt. Es war, als trete er auf der Stelle. Der Seelenlose begriff, daß die Sperre un durchdringlich war. Sein großer Plan, in die Außenwelt vorzu dringen, kam ihm plötzlich ziemlich frag würdig vor. Unbewußt war er immer von der Voraussetzung ausgegangen, daß die See lenlosen jederzeit in die Barriere zurückkeh ren konnten, falls sich Schwierigkeiten erga ben. Wo waren überhaupt die anderen? Hatte niemand außer ihm bemerkt, was inzwi schen geschehen war? Er geriet in Panik. Blindlings stürzte er sich ins Wasser und schwamm bis zum Wölbmantel. Kein Seelenloser war zu sehen. Nur-Links verdammte seine ankonstruierte Stummheit. Er schlug in rhythmischen Ab ständen mit der flachen Hand auf das Was ser. Die Seelenlosen hatten ein außerordent lich gutes Gehör, und sie verständigten sich oft mit solchen Schlägen, die in bestimmten Gesteinsadern selbst drei Schluchten weiter noch deutlich hörbar aus dem Felsen dran gen. Niemand antwortete ihm. Er überlegte, ob alle anderen bereits die Außenwelt erreicht hatten. Aber er war als erster hinausgeschwommen, und zumindest auf dem Rückweg zur Barriere hätte er den einen oder anderen Nachzügler treffen müs sen. Hatten sie die Gefahr schneller erkannt? Oder hatte die magische Sperre sie zurück gerissen? Vielleicht hatte es ihn nur deshalb nicht erwischt, weil er dem Wölbmantel zu nahe gewesen war. Nur-Links kehrte noch einmal um. Er suchte zwischen den Steinen im flachen Wasser nach Spuren. Dann glaubte er, einen Hinweis gefunden zu haben. Ein Messer lag im Wasser, und seine Spitze deutete landein wärts. Der Einarmige warf sich mehrmals gegen die Sperre, aber er holte sich dabei nur ein paar blaue Flecken. Erschöpft setzte er sich
Versammlung der Magier auf einen nassen Felsen und dachte nach. Wo waren seine Artgenossen jetzt? Jenseits der magischen Sperre? Dann hatte es für Nur-Links keinen Sinn, den Ausbruch in die Außenwelt zu riskieren. Oder jenseits der anderen Begrenzung? Wenn er nur wüßte, wann sie aus seinem Sichtbereich verschwunden waren! Es muß te in dem Augenblick geschehen sein, in dem er über den Wölbmantel nachgedacht und sich dann nach der Barriere umgesehen hatte. Nur-Links sprang ins Wasser und schalt sich einen Narren. Wieviele Seelenlose wuß ten denn überhaupt etwas über den Wölb mantel? Nur wenige hatten Pthor überhaupt jemals verlassen, im Dienst der Magier und meistens als deren Begleiter. Und welcher Magier außer Parlzassel würde seinem stum men Diener mehr erzählt haben, als dieser brauchte, um seine Arbeit zu erledigen? Er selbst hatte gezögert, während die an deren einfach weitergeschwommen waren, der heißersehnten Freiheit entgegen. Also war er sogar zurückgeblieben. Wenn die ma gische Sperre fähig gewesen wäre, die See lenlosen in den Bereich der Barriere zu zie hen, hätte es gerade Nur-Links erreichen müssen. Die Angst trieb ihn vorwärts. Er mußte sich beeilen, oder er verlor den Anschluß. Natürlich würde er die Seelenlosen wieder finden, aber wenn er zu spät kam, würde er seine Rolle als Anführer ausgespielt haben. Diesmal zögerte er am Wölbmantel nicht. Er durchstieß ihn. Und er merkte nichts, was ihm hätte Sorgen bereiten sollen. Sein Ge dächtnis funktionierte ausgezeichnet. Er schöpfte neuen Mut. Weiter draußen sah er einen Schaumstreifen. Er lachte. Da mit war bewiesen, daß er richtig vermutet hatte. Die Eingeborenen der Außenwelt hat ten eine jämmerliche Sperre errichtet, einen Unterwasserwall, an dem sich die Wellen brachen. Die Herren der FESTUNG erkann ten das in ihrer Sturheit natürlich nicht. Er erreichte den Schaumstreifen und stell te fest, daß es noch eine zweite Grenze die
51 ser Art gab. Eines mußte man den Bewoh nern der Außenwelt lassen: Sie schienen fleißig zu sein. Nur-Links erreichte den zweiten Schaumstreifen und tastete mit den Füßen nach Grund. Selbst ein Seelenloser wußte, daß man im Wasser nur mit beträcht lichem Aufwand senkrechte Wände errich ten konnte. Seine Füße stießen ins Leere. Vor Schreck schluckte er Wasser, hustete und langte blindlings in den Schaum hinein, um sich an der Mauerkante festzuhalten. Aber unter dem Schaum gab es auch nichts. Und als er tiefer hineingriff, stieß er mit der Hand gegen eine glatte Wand. Er riß sich zusammen. Die Wand konnte nicht so hoch sein, daß er sie nicht zu über steigen vermochte. Um ihn herum gab es nur das leise Plätschern der Wellen. Er wußte, daß kein Seelenloser in der Nähe war. Wo hin sollten sie aber gegangen sein, wenn nicht auf die andere Seite der Mauer? Es war sehr dunkel. Über ihm lag der Ne bel, und er konnte nicht einmal die Sterne sehen. Der Schaum leuchtete schwach. NurLinks richtete sich im Wasser auf und tastete an der Wand empor, so weit er reichen konnte. Nichts. Sie war glatt und fugenlos. Es gelang ihm, den Wurfhaken vom Gür tel zu lösen. Mit den Zähnen hielt er das Sei lende fest, dann schleuderte er den Haken in die Höhe. Er war sicher, das das Ding an der Wand entlangsauste, aber es gab überhaupt kein Geräusch dabei. Der Haken fand keinen Halt und klatschte ins Wasser. Für ein paar Sekunden war Nur-Links wie betäubt. Die Magier konnten solche Sperren errichten. Sie hatten mit dem Ding im Meer natürlich nichts zu tun, denn das hätten die Herren der FESTUNG nicht geduldet. NurLinks kam zu dem deprimierenden Schluß, daß es auch in der Außenwelt Magier gab. Sie mußten sehr mächtig sein, wenn die Her ren von Oth sie nicht überwinden konnten. Und die anderen Seelenlosen? Es gab einen Platz in Pthor, an dem sich alle möglichen Völker herumtrieben – den Blutdschungel. Schlimmer als in der Barrie
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re konnte es dort auch nicht zugehen. Und wenn sie Glück hatten, wurden sie nicht ein mal entdeckt, zumal die FESTUNG mit wichtigeren Problemen zu kämpfen hatte als mit der Frage, wohin die Seelenlosen ver schwunden waren. Nur-Links wandte sich nach Westen. Er strebte schräg der Küste entgegen und folgte ihr dann, ohne das tiefe Wasser zu verlassen. Nach einer Stunde sah er vor sich etwas im Wasser treiben. Es war eine hölzerne Trinkschale, wie die Seelenlosen sie benutz ten. Er war also auf der richtigen Spur. We nig später wurde er müde. Er wunderte sich darüber, denn so schnell erschöpften sich seine Kräfte sonst nicht. Augenblicke später sah er die weißen Körper, die zwischen den Felsen am Ufer trieben und von der sanften Dünung geschaukelt wurden. Noch während er hinschwamm, wurde er immer schwächer. Und dann begriff er, was geschah. Die Seelenlosen hatten zu lange in der Großen Barriere von Oth gelebt. Sie waren gar nicht wirklich unsterblich, aber die ma gischen Strömungen hatten ihnen Kraft und nie endendes Leben verliehen. Wir hätten die Außenwelt niemals er reicht, dachte Nur-Links enttäuscht, und von da an dachte er gar nichts mehr.
* Die Herren der FESTUNG waren ratlos. Trotz mehrfacher Aufforderung hatten die Magier von Oth sich nicht gemeldet. Die Herren zögerten die Entscheidung lange hin aus, aber schließlich ließ es sich nicht umge hen, einen Dello loszuschicken, um nach dem Rechten zu sehen. Auf keinen Fall durf ten die Diener der Herren Verdacht schöp fen. Wenn die Magier sich wirklich von der FESTUNG abgewandt hatten, würde es Un ruhe geben. Der Dello kehrte schnell zurück. Er be richtete von einer dunklen Wolke, die die gesamte Barriere umhüllte. Anschließend starb der Diener, denn die Herren konnten sich auf seine Verschwiegenheit wohl kaum verlassen. Betroffen erkannten sie, daß sie am Tage Ragnarök nicht auf die Unterstützung der Magier rechnen durften. Ihre mächtigsten Waffen waren dadurch nicht einsatzfähig.
E N D E
ENDE