Kierkegaard Studies Monograph Series 14
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Kierkegaard Studies Monograph Series 14
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the
Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser
Monograph Series 14 Edited by Hermann Deuser
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Jochen Schmidt
Vielstimmige Rede vom Unsagbaren Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser Monograph Series Volume 14 Edited by Hermann Deuser
The Foundation for the Søren Kierkegaard Research Centre at Copenhagen University is funded by The Danish National Research Foundation.
앝 Printed on acid-free paper which falls within the guidelines of the ANSI 앪 to ensure permanence and durability.
Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Internet at ⬍http://dnb.ddb.de⬎.
ISBN-13: 978-3-11-018633-8 ISBN-10: 3-11-018633-0 ISSN 1434-2952 © Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin All rights reserved, including those of translation into foreign languages. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopy, recording or any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher. Printed in Germany Disk conversion: OLD-Satz digital, Neckarsteinach Cover design: Christopher Schneider, Berlin
Meiner Mutter Dem Andenken meines Vaters
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2005 von der Evangelisch Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für Ermutigung und Hilfe bin ich sehr dankbar. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gerhard Sauter hat mich seit dem ersten Tag meines Studiums engagiert und freundschaftlich begleitet, in Lehre und Forschung eingeführt und mein Dissertationsprojekt betreut. Prof. Dr. Günter Bader danke ich für das Zweitgutachten, vor allem jedoch dafür, dass er sich meiner Vorhaben angenommen hat. Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost hat mich als Wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt und mir Gelegenheit gegeben, meine Überlegungen zur Rede vom Glauben in der Lehre auf die Probe zu stellen. PD Dr. Michael Roth hat in vielen Gesprächen meinen theologischen Werdegang begleitet. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich mit einem Promotionsstipendium unterstützt; ich danke insbesondere „meinem“ Vertrauensdozenten Prof. Dr. Carl-Friedrich Bödigheimer. Prof. John Webster (jetzt Aberdeen), der als Tutor in Oxford die Vorarbeiten für mein Dissertationsprojekt begleitete, und Prof. Paul Fiddes (Oxford) haben mir wichtige Anstöße gegeben. Für eine Resonanz zur literaturtheoretischen Dimension der Arbeit danke ich dem Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld). Joakim Garff, PhD, und Dr. Jon Stewart durfte ich während eines Kurzaufenthalts am „Kierkegaard Research Centre“ in Kopenhagen konsultieren. Dr. h. c. Niels-Jørgen Cappelørn hat dem Verlag das im Anhang abgedruckte Bild von Napoleon zur Verfügung gestellt. Ihm und Prof. Dr. Dr. h. c. Hermann Deuser danke ich für die Aufnahme des Buches in die „Kierkegaard Studies“. Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich meiner Mutter, Dr. Sibylle Schmidt, Anja Stadler, Vikarin Stephanie Kramer und Vikarin Katja Moscho. Die Vorbereitung der Arbeit zur Drucklegung hat Dr. Albrecht Döhnert mit großer Geduld und Umsicht dirigiert. Johanna Breidenbach – auch aufrichtige Dankesadressen entkommen am Ende kaum der Sprödigkeit konventionell situierter Rede,
VIII
Vorwort
und man lese diese Zeilen durch das hoffentlich fruchtbare Ungenügen an der Begrenztheit unserer Sprache hindurch, von dem sogleich manches mehr zu sagen sein wird – Johanna danke ich, dass sie den Autor dieses Buches freundlich ansieht. Jochen Schmidt Glasgow, im Advent 2005
Inhalt A Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1 Rede vom Unsagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2 Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit: Denkvoraussetzungen „postmoderner“ Religionsphilosophie . .
9
1.1 „Postmoderne“, „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“ und „Vielstimmigkeit“: Arbeitsdefinitionen .
9
1.2 Jacques Derrida: „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“, „Signatur Ereignis Kontext“ und der Gedanke der Vielstimmigkeit . . . . .
10
1.2.0 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 „Signatur Ereignis Kontext“. . . . . . . . . . . . . . . . .
11 16
1.3 Zusammenfassung: Die ‚Zitathaftigkeit‘ von Sprache und die Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren . . . . . . . .
25
2.0 Einführende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
2.1 Jacques Derrida: „Wie nicht sprechen. Verneinungen“
28
2.1.1 Zur doppelten Struktur von Derridas Vortrag: „Antwort“ und „Wiederholung“ . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 „Antwort“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 „Wiederholung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Pseudo-Dionysius’ „Über die Mystische Theologie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
28 30 36 42
X
Inhalt
2.1.4 Zusammenfassung: „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ und die vielstimmige Rede vom Unsagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
2.2 John D. Caputo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
2.2.1 Gott – Das Unmögliche. „Religion ohne Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Martin Heidegger – Jacques Derrida. Zwischen Sendung und Entzug . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Abraham – Johannes de Silentio – Jacques Derrida. Zwischen „Messianismus“ und „messianischer Struktur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Jacques Derrida – Meister Eckhart. Zwischen Dekonstruktivismus und Neuplatonismus . . . . . 2.2.5 Friedrich Nietzsche – Emmanuel Levinas. Pseudonyme Vielstimmigkeit als „Poesie der Verpflichtung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Kritik und Würdigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
2.3 Thomas Carlson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
2.3.1 Theologie – Thanatologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Martin Heidegger – Pseudo-Dionysius Areopagita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Kritik und Würdigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80 83 87
2.4 Graham Ward . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5
52 56
63
66 74
„Postmoderne Theologie des Wortes“ . . . . . . . . Sprachphilosophie – Redephilosophie . . . . . . . . „Verhandlung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Barth – Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . Kritik und Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 93 94 96 99
3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
1.0 Vorbemerkung: „Negativität“, „Vielstimmigkeit“ und die Interpretation des frühen pseudonymen Werks Søren Kierkegaards. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Inhalt
XI
1.1 Zur Aufgabe einer literarischen Interpretation von „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
1.1.1 Der Gegenstandsbereich der Interpretation . . . 1.1.2 Zur Methode der Interpretation: „Vielstimmigkeit“ und „Negativität“ . . . . . . . . . 1.1.3 Negativität, Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 111 121
1.2 „Negativität“. Phänomene der Negativität im Spiegel von Kierkegaards Betrachtungen zur literarischen Ästhetik 122 1.2.1 Konstitution von Bedeutung durch das Scheitern von Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Zusammenfassung: Die Entstehung des Zweitsinns durch das Scheitern des Erstsinns . . . . . . . Exkurs 2: Kierkegaard und die negative Theologie nebst einigen Bemerkungen zu Kierkegaards Verhältnis zur Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122 129
130
1.3 „Mehrstimmigkeit“ und „Vielstimmigkeit“: Phänomene der bedeutungsvollen Spaltung der Rede im Spiegel von Kierkegaards Betrachtungen zur literarischen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
2.0 Einführende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
2.1 „Entweder/Oder“: Klang und Gravitation . . . . . . . . . .
141
2.1.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren. . . . . 2.1.1 Die Motivik des Klangs in der kontrastierenden Darstellung des Ästhetikers und des Gerichtsrats 2.1.2 Die Motivik der Gravitation in der kontrastierenden Darstellung des Verführers, des Ästhetikers und des Gerichtsrats . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
148 157
2.2 „Die Wiederholung“: Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160
144
2.2.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren. . . . . 160 2.2.1 Die Motivik des Klangs in Bezug auf den jungen Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
XII
Inhalt
2.2.2 Die Motivik des Klangs in Bezug auf Constantin Constantius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2.2.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.3 „Furcht und Zittern“: Gravitation . . . . . . . . . . . . . . . .
181
2.3.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren . . . . 2.3.1 Die Motivik der Gravitation in der kontrastierenden Darstellung des Ritters der Unendlichkeit und Abrahams als des Glaubensritters . . . . 2.3.2 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
3 Vielstimmigkeit/Interpseudonymität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog . . . . . . . . . . . . . . . .
199
1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
2.1 Literatur und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
2.2 Hermeneutik und Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . .
222
2.3 Sprache und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
3 Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B Dekonstruktivismus und „postmoderne“ Theologie und Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 225
Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 1: „Napoleon“, anonym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Vorrichtung zum Erlernen der Schwimmkunst auf dem Lande. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Systematische Übersicht über Phänomene der Mehrund Vielstimmigkeit (Intra- und Interpseudonymität) in „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“
243 243
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
184 189
230 236
244
245
„Da ist etwas mir so unerklärlich Glückliches in der Antithese: Climacus: Anti-Climacus, ich erkenne so ganz mich selbst und mein Wesen darin, dass, wenn jemand anders es erfunden hätte, ich glauben wollte, er habe heimlich mein Wesen beobachtet. Der Verdienst ist nicht meiner, denn ich habe ursprünglich nicht daran gedacht.“ Søren Kierkegaard (Pap. X2 A 195)
A Einführung A.1 Rede vom Unsagbaren Jeder verständige Versuch, von Gott zu reden – jedes solche Reden also, das sich kritisch seiner Bedingungen und Grenzen bewußt ist – muß mit dem Bekenntnis der unbegreiflichen, weil alle unsere Begriffe übersteigenden Erhabenheit Gottes beginnen und enden. Man muß damit beginnen, weil das erhabene Geheimnis, das wir Gott nennen, dem Redenden ebenso wie allen Geschöpfen immer schon nah ist und allem Begreifen zuvor unser Dasein umgibt und trägt, daher auch immer schon die oberste Bedingung aller Besinnung darauf und jedes begreifenden Nachvollzugs ist. Enden aber muß alle Gotteserkenntnis mit dem Bekenntnis zu seiner unbegreiflichen Erhabenheit, weil jede Aussage von Gott, sofern sich in ihr ein Bewußtsein davon ausdrückt, wovon sie redet, über sich selbst hinausweist. Zwischen jenem Anfang und diesem Ende bewegt sich der Versuch vernünftiger Rechenschaft über unser Reden von Gott.1
Mit diesen Worten steckt Wolfhart Pannenberg die Grenzen ab, innerhalb derer Theologie seiner Auffassung nach zu operieren hat: Reden von Gott, das sich auf seine Grenzen versteht, beginnt und endet mit dem Bekenntnis „der unbegreiflichen, weil alle unsere Begriffe übersteigenden Erhabenheit Gottes“. Die Unbegreiflichkeit Gottes ist dementsprechend für Pannenberg keine Herausforderung, der sich Theologie in ihrem konkreten Vollzug (ständig) zu stellen hätte: In Pannenbergs Parenthese wird implizit das Reden von der Unbegreiflichkeit Gottes selbst aus dem „verständigen“ Versuch der Rede von Gott ausgeklammert.2 1 2
Pannenberg Systematische Theologie, Bd. 1, 365 (Hervorhebungen J. S.). Mir ist bewusst, dass ich die zitierte Passage von Pannenberg, indem ich sie ‚beim Wort nehme‘, entgegen der Intention Pannenbergs auslege. Allerdings meine ich, auf eine Konsequenz aus der von Pannenberg formulierten Direktive für die Rede von Gott hinzuweisen, die sich nicht durch eine Berufung auf die anders geartete Intention Pannenbergs bestreiten lässt und die auf einen Sachverhalt hinweist, der in Pannenbergs Systematischer Theologie auch an anderen Stellen aufgezeigt werden könnte.
2
A Einführung
Die vorliegende Arbeit unternimmt den ‚unverständigen‘ Versuch, die Möglichkeiten der Überschreitung der Grenzen des Sagbaren auszuloten. Der angestrebten „Grenzüberschreitung“ bzw. „Indiskretion“3 liegt nicht die Auffassung zugrunde, dass es innerhalb der Grenzen des Sagbaren keine Rede vom Glauben an Gott geben könnte. In der vorliegenden Arbeit wird aber die Frage gestellt, was geschieht, wenn das Moment der Unbegreiflichkeit und der Unsagbarkeit Gottes nicht gleichsam als negatives Vorzeichen vor (bzw. hinter) unsere theologische Rechenschaft gestellt wird, sondern die Rede selbst konstituieren soll. Diese Frage bildet den Horizont der gesamten Arbeit. Wenn die Unsagbarkeit die Rede konstituieren, also weder als Metaqualifikation der Rede zugeschrieben noch als Erwartung an die Rede herangetragen werden soll, dann müssten sich der Rede immanente Eigenschaften benennen lassen, die zumindest die theoretische Möglichkeit eröffnen, dass Unsagbares zur Sprache kommt. Im Laufe der Arbeit wird sich herausstellen, dass solche der Sprache immanente Eigenschaften auf der Ebene der Form zu suchen sind. Gesucht wird also eine Form der Rede, die den Anspruch erheben kann, als Rede (qua einer bestimmten formalen Gestalt) Unsagbares zur Sprache zu bringen.4 In der theologischen Diskussion wird der Versuch solch einer Grenzüberschreitung oftmals als entbehrlich – oder eben als „unverständig“ – angesehen. Damit sich meine Arbeit nicht in Polemik verstrickt, bevor sie beginnt, versage ich mir, meine Rückfragen an alle einzelnen mir bekannten Gestalten des Einwands gegen das Anliegen meiner Arbeit zu formulieren5, und konzentriere mich auf die Ent3
4
5
Vgl. den gleich lautenden Titel von Thomas Carlsons Studie („Indiscretion. Finitude and the Naming of God“, s. u. Abschn. B.2.3). Gegenstand meiner Überlegungen ist die Sprache des Glaubens an Gott und nicht in erster Linie die Rede von Gott. Zumindest die aufgewiesene Grenze, vor die sich theologisches Reden gestellt sieht, gilt aber m. E. hier wie dort in gleicher Weise. – „Sprache des Glaubens“ ist im doppelten Sinne als gen. obj. und gen. subj. aufzufassen, wenn auch die erstere Bedeutung überwiegt: In den pseudonymen Werken Søren Kierkegaards, denen sich der zweite Hauptteil dieser Arbeit zuwendet, ist der Glaube der (allerdings unverfügbare) „Gegenstand“ der Rede – wenngleich es diese Rede vom Glauben wohl gar nicht geben würde, wenn der Glaube nicht die Sprache suchen würde. – Die Unterscheidung von „Rede“ und „Sprache“ wird in der vorliegenden Arbeit nicht eigens erörtert, da ständig beide Perspektiven eingenommen werden: die tatsächliche Verwendung von Sprache durch (literarische) loquentes personae und die Implikationen, die sich aus dieser Verwendung von Sprache für die Beurteilung von deren Potential ergeben. Auch eine ausführliche Erörterung der Diskussion religiöser Sprache unterbleibt. Nur einige Andeutungen seien hier angebracht: In der theologischen Diskussion über religiöse Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Sprachdenken v. a. des späten Wittgenstein von großer Bedeutung. Der wohl bekannteste unter denjenigen
A.2 Vielstimmigkeit
3
wicklung meiner konstruktiven These zur vielstimmigen Rede vom Unsagbaren. Diese These wird im Gespräch mit mehreren an die Theologie angrenzenden Disziplinen entwickelt, v. a. mit Philosophie und Literaturwissenschaft. Die Beiträge aus den hinzugezogenen Disziplinen stehen teils zur Theologie, teils zueinander in einem spannungsvollen Verhältnis. Damit diese Spannungen die Einheit des vorzutragenden Gedankens nicht sprengen, wird, sofern nötig, zwischen jenen Aspekten eines hinzugezogenen Gedankens, die aufgegriffen werden, und jenen Aspekten, über die kein Urteil fallen soll, unterschieden.
A.2 Vielstimmigkeit Die Suche nach einer Beschreibung von sprachlichen Operationen, die es ermöglichen, dass Sprache ihr eigenes Vermögen überschreitet, hat mich zu der so genannten „postmodernen“ bzw. „dekonstruktivistischen“ Religionsphilosophie geführt. Denn hier besteht ein kontinuierliches Interesse daran, Grenzen, die dem Denken und dem Sprechen auferlegt zu sein scheinen, in bestimmter Art und Weise zu überschreiten. Da das mittlerweile breite und differenzierte Feld der Rezeption „postmodernen“ Denkens in Theologie und Religionsphilosophie im Denkern, die das Sprachdenken des späten Wittgenstein in den Dienst theologischer Arbeit gestellt haben, ist George Lindbeck. Lindbecks Auffassung nach kann das Lernen einer Religion mit dem Lernen von Grammatik verglichen werden; Grammatik gibt den Rahmen dessen an, was sinnvoll in einer Sprache gesagt werden kann (Lindbeck Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, 121ff.). Lindbeck plädiert dafür, dem ‚Außen‘ Priorität gegenüber dem ‚Innen‘ einzuräumen: „Der Text absorbiert sozusagen die Welt und nicht die Welt den Text […].“ (A. a. O., 172; vgl. a. a. O. 61f.98) Lindbecks Beitrag ist nun insofern problematisch, als der Wahrheitsanspruch des Glaubens im Gegensatz zur „theologischen Beschreibung“ nicht ausschließlich intrasystematisch, -semiotisch, und -textuell (a. a. O., 165) bzw. -systematisch (a. a. O., 150) sein kann. Vielmehr werden Glaubende doch immer annehmen, dass die angenommenen Glaubensinhalte auch jenseits des religiösen Sprachspiels und der Lebensform wahr sind. Hierin besteht nun m. E. die grundsätzliche Problematik einer jeden theologischen Rezeption von Wittgensteins Denken, da das Selbstverständnis der Glaubenden mit einer Beschreibung des Glaubens im Sinne Wittgensteins nur schwer vereinbar sein dürfte. Dies wird z. B. angesichts von Phillips’ rhetorischer Frage deutlich, die suggeriert, Glaubende hätten keinen Grund, nicht anzunehmen, dass Gott nicht ebenfalls stürbe, wenn die ‚religiösen Bilder‘ von Gott stürben (Phillips Death and Immortality, 78; vgl. zur Problematik einer theologischen Rezeption von Lindbeck und Philipps Eibach-Danzeglocke Theologie als Grammatik? Die Wittgensteinrezeption D. Z. Phillips’ und George A. Lindbecks und ihre Impulse für theologisches Arbeiten, v. a. 72.174ff.193f. Eibach-Danzeglocke betont das heuristische bzw. diagnostische Potential Wittgensteinschen Denkens für die Theologie).
4
A Einführung
Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend dargestellt werden kann, galt es, solche Beiträge auszuwählen, die einen konstruktiven Beitrag zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit zu leisten versprechen. Eine Übersicht über die „postmoderne“ Theologie und Religionsphilosophie6 loziert die in dieser Arbeit betrachteten Beiträge der drei Religionsphilosophen bzw. Theologen John D. Caputo, Thomas Carlson und Graham Ward in der sie umgebenden Forschungslandschaft. Innerhalb dieser Übersicht wird deutlich, dass Jacques Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ in der Diskussion „postmoderner“ Theologie und Religionsphilosophie einen ständigen Bezugspunkt darstellt. Daher wird der Darstellung von Beiträgen aus der „postmodernen“ Religionsphilosophie ein Referat dieses Vortrags vorangestellt.7 Derridas Vortrag setzt wiederum die Kenntnis einiger Begriffe und Motive voraus, die er hier ohne Erläuterung verwendet. Dies betrifft insbesondere den Gedanken der (von Differenz konstituierten) ‚Wiederholbarkeit‘ als der theoretischen Grundlage von „Vielstimmigkeit“, die die Substruktur des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ darstellt. Dem Referat dieses Vortrags ist daher wiederum eine Erläuterung zweier früherer Texte Derridas vorangestellt, aus deren Perspektive sich die argumentative Substruktur von „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ erschließt.8 Mit diesen Forschungsberichten und Lektüren ist der Weg geebnet für eine Interpretation des konstruktiven Beitrags „postmoderner“ Religionsphilosophie bzw. Theologie, den John D. Caputo9, Thomas Carlson10 und Graham Ward11 geleistet haben. Innerhalb der Analyse der Beiträge dieser drei Denker ist zu zeigen, dass jene bereits erwähnten Gedanken bzw. Gedankenkomplexe der „differenten Wiederholung“ und „Vielstimmigkeit“ nicht nur für Derrida, sondern auch für die genannten angelsächsischen Denker (in jeweils unterschiedlicher Weise) von zentraler Bedeutung sind. So stellt denn auch die schließlich vorgeschlagene Theorie der Sprache des Glaubens den Gedanken der Vielstimmigkeit in den Mittelpunkt.12 Mit diesem Vorschlag einer 6
S. u. Abschn. B.2.0. S. u. Abschn. B.2.1. 8 S. u. Abschn. B.1.2. Diesem Abschnitt wird wiederum eine arbeitshypothetische Definition der Begriffe „Postmoderne“, „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“ und „Vielstimmigkeit“ vorangestellt (s. u. Abschn. B.1.1). 9 S. u. Abschn. B.2.2. 10 S. u. Abschn. B.2.3. 11 S. u. Abschn. B.2.4. 12 S. u. Abschn. B.3. 7
A.2 Vielstimmigkeit
5
Theorie der Sprache des Glaubens soll das Ziel des ersten Hauptteils der Arbeit erreicht sein.13 Der zweite Hauptteil entwickelt eine Interpretation des frühen pseudonymen Werks Søren Kierkegaards. Diese Interpretation soll zeigen, dass Kierkegaards (frühes pseudonymes) Werk als eine schriftstellerische Praxis verstanden werden kann, in der die besagte Theorie (implizit) realisiert ist. Nun wäre es zwar denkbar, eine genetische Linie von Kierkegaards Praxis der Mitteilung zu zeitgenössischen Theorien der Mitteilung bzw. der Konstitution von Bedeutung nachzuzeichnen.14 Aus zwei Gründen soll dies in der vorliegenden Arbeit jedoch unterbleiben: Zum einen ist die argumentative Basis für die Behauptung einer solchen genetische Verbindung m. E. zu schmal, als dass eine solche Behauptung der Interpretation von Kierkegaards Schriften zu Grunde gelegt werden könnte. Zum anderen ist dergleichen auch nicht notwendig: Selbst wenn die zeitgenössischen Theorien der Mitteilung in gar keinem genetischen Zusammenhang mit Kierkegaards Denken stehen würden, spräche nichts dagegen, diese Theorien als heuristisches Mittel in den Dienst einer Interpretation von Kierkegaards Schriften zu stellen. Statt eine genetische Linie von Kierkegaards Praxis der Mitteilung zu zeitgenössischen Theorien zu ziehen, konzentriere ich mich daher auf die strukturellen Übereinstimmungen zwischen der schriftstellerischen Praxis Kierkegaards und jenen dekonstruktivistischen Denkerfahrungen, die im Hintergrund der vorgeschlagenen Theorie der Sprache des Glaubens stehen. Offensichtlich steht eine solche Kierkegaardinterpretation in Spannung zur etablierten (v. a. der theologischen) Kierkegaardrezeption. In der Theologie werden Kierkegaards Schriften meist als propositionale Rede in den Blick genommen. Die Legitimität einer solchen Kierkegaardinterpretation soll in dieser Arbeit nicht bestritten werden. Wenn aber die Aufgabe gestellt wird, Kierkegaards Schriften auf der Suche nach der Möglichkeit einer Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren in den Dienst zu nehmen, und wenn in diesem Unterneh13
14
Mein Vorschlag steht in einem differenzierten Verhältnis zur „negativen Theologie“, die oft als Bindeglied von Theologie und Dekonstruktion angesehen wird (vgl. Abschn. B.3; vgl. ferner die beiden Exkurse). Michail M. Bachtin könnte als eine entscheidende Vermittlungsinstanz angesehen werden. Zu Bachtin s. u. Abschn. C.1.1.2; vgl. zum Verhältnis von Bachtin und Kierkegaard Fryszman „Kierkegaard and Dostoyevsky Seen Through Bakhtin’s Prism“, und zum Verhältnis von Bachtin und Dekonstruktion z. B. Meyler Art. „Bakhtin, Mikhail“, 26; Waldenfels Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, 156ff.
6
A Einführung
men die Form der Rede in den Blick genommen werden soll, dann scheint es nicht hinreichend zu sein, Kierkegaards Schriften als propositionale Texte zu interpretieren. Infolgedessen ist es notwendig zu fragen, ob und wie sich die vorzunehmende Kierkegaardinterpretation durch Erkenntnisse anderer wissenschaftlichen Disziplinen profilieren (nicht: „legitimieren“) lässt.15 Dabei ist auf zwei Konzeptionen aus der Literaturwissenschaft näher einzugehen: Auf Wolfgang Isers Beschreibung der Funktion von Negativität in der Konstitution von Sinn im Akt des Lesens und auf Michail M. Bachtins Erhellung der vielstimmigen Natur des Romans.16 In Kierkegaards Schriften selbst finden sich Bemerkungen zur literarisch-ästhetischen Relevanz sowohl der Negativität17 als auch der bedeutungsvollen Spaltung der Rede in mehrere Stimmen, d. h. der Mehr- bzw. der Vielstimmigkeit.18 Durch diese Überlegungen ist die Methode der in dieser Arbeit vorzunehmenden Interpretation von Kierkegaards frühen pseudonymen Schriften näher gekennzeichnet. Nach einer Begründung der Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Arbeit werden Kierkegaards Schriften „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ so interpretiert, dass zunächst die Verwendung der literarischen Strategie der „Mehrstimmigkeit“ innerhalb jeder einzelnen dieser Schriften erkennbar wird (Intrapseudonymität).19 Mehrstimmigkeit wird durch die Analyse der jeweils verschieden nuancierten Verwendung bestimmter literarischer Motive (Klang und Gravitation) in den besagten Schriften sichtbar gemacht. Damit ist der gedankliche Höhepunkt der vorliegenden Arbeit vorbereitet, welcher in einer Interpretation des Wechselspiels der drei pseudonymen Schriften untereinander als einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren besteht (Interpseudonymität).20 Schließlich werden die Ergebnisse gebündelt und ein Ausblick formuliert.21 Das komplexe Verhältnis von Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit wird in einem der Arbeit als Anhang beigefügten Schema dargestellt, das ungeachtet aller mit der Form eines Schemas einhergehenden Vereinfachungen eine kartographische Orientierung über das in der vorliegenden Arbeit beschrie15 16
17 18 19 20 21
S. u. Abschn. C.1.1.2. Im Rahmen dieser kurzen Betrachtung wird auch ein Blick auf die entsprechenden Bemühungen in der Kierkegaardforschung geworfen. S. u. Abschn. C.1.2. S. u. Abschn. C.1.3. S. u. Abschn. C.2; vgl. Abbildung 3. S. u. Abschn. C.3. S. u. Teil D.
A.2 Vielstimmigkeit
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bene Gefüge von Mehr- und Vielstimmigkeit in Kierkegaards Schriften von 1843 geben soll.22
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S. u. Abbildung 3.
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit: Denkvoraussetzungen „postmoderner“ Religionsphilosophie B.1.1 „Postmoderne“, „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“ und „Vielstimmigkeit“: Arbeitsdefinitionen Zunächst soll eine erste Orientierung über die Begriffe „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“, „Wiederholung“ und „Vielstimmigkeit“ gegeben werden, die in der vorliegenden Arbeit einen ständigen Bezugspunkt darstellen.1 Der Begriff „Postmoderne“ wird in dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt, weil die Undeutlichkeit dieses inflationär gebrauchten Wortes dessen unbefangene Verwendung verbietet2; als Oberbegriff für eine Gruppe zeitgenössischer Strömungen in Theologie und Religionsphilosophie, die bei aller Differenziertheit doch gewisse gemeinsame Charakteristiken aufweisen, ist das Wort „postmodern“ allerdings von zumindest relativem Nutzen. Diese Arbeit wird sich jedoch mit der Problematik dieses Begriffs nicht eingehender auseinandersetzen, sondern den Begriff der „Dekonstruktion“ als Terminus für eine – präziser beschreibbare – Praxis, die im weites1
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Dekonstruktion ist mit der „Destruktion“ philosophischer Tradition, die Heidegger unternahm, genetisch verwandt. Vgl. Heidegger Sein und Zeit, 19ff., v. a. 22. Jedoch unterscheidet sich „Dekonstruktion“ darin von „Destruktion“, dass Derrida keine neuen, anderen Absoluta an die Stelle der überkommenen stellt, sondern jede Hierarchisierung des Denkens selbst radikal in Frage stellt (Birns Art. „deconstruction“, 85; vgl. kritisch zur dekonstruktivistischen Kritik an Heideggers Gedanken der Destruktion Gadamer „Destruktion und Dekonstruktion“, 368). Am ehesten dürfte die These von Lyotard, unter „Postmoderne“ sei „unter extremer Vereinfachung“ die „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ zu verstehen, einen gemeinsamen Nenner der verschiedenen Konnotationen des Begriffs der „Postmoderne“ darstellen (vgl. Lyotard Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 14). Vgl. ferner die Definitionen von „postmodernism“ und „postmodernity“ bei Ward (Hg.) The Postmodern God: A Theological Reader, xxivff.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
ten Sinne in die „Epoche“ der „Postmoderne“ gehört, in den Vordergrund stellen. Die geisteswissenschaftlichen (und künstlerischen) Strömungen, die „Dekonstruktion“ praktizieren, werden unter den Begriff „Dekonstruktivismus“ gefasst. In den Diskursen aus dem Bereich des Dekonstruktivismus begegnet häufig das Motiv der „Vielstimmigkeit“. Unter „Vielstimmigkeit“ ist das aus einer unvermeidlichen und sich immer schon am Werke befindenden Spaltung jeder Rede und jedes Diskurses resultierende Verfasstsein der Rede zu verstehen, welches durch „Dekonstruktion“ offen gelegt wird. Derrida selbst hat – gleichsam im Irrealis – eine „Definition“ der Dekonstruktion formuliert, die auf diese Vervielfältigung von Sprache Bezug nimmt: Wenn ich das Risiko eingehen müßte – Gott behüte mich davor –, eine einzige knappe, elliptische und sparsame Definition der Dekonstruktion als ein Losungswort auszugeben, so würde ich einfach, ohne einen Satz zu bilden, sagen: mehr als eine Sprache/ nichts mehr, was einer Sprache angehört (plus d’une langue).3
In Derridas Texten „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ und „Signatur Ereignis Kontext“ wird der Zusammenhang von Dekonstruktion und der Spaltung der Rede in ‚mehr als eine Sprache‘ deutlich. Es handelt sich bei diesen beiden Arbeiten um Relektüren philosophischer Texte, die auf dem Wege der immanenten Kritik die Unvermeidbarkeit einer Vielfalt von Sprachen und Stimmen zeigen bzw. zeigen zu können beanspruchen. B.1.2 Jacques Derrida: „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“, „Signatur Ereignis Kontext“ und der Gedanke der Vielstimmigkeit B.1.2.0 Vorbemerkung Vor der Interpretation der beiden Texte Derridas „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ und „Signatur Ereignis Kontext“ soll die Funktion dieses Arbeitsschritts in der Architektur der Arbeit genauer bestimmt werden. Wie bereits angedeutet, steht das Verständnis von Derridas späterem Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“4 am Horizont der beiden folgenden Textanalysen. Zwar thematisiert Derrida in seinen im Folgenden zu erörternden Texten Problembereiche, die auch für theologische Arbeit unmittelbar relevant sind, v. a. die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit und der 3 4
Derrida Mémoires. Für Paul de Man, 31f. S. u. Abschn. B.2.1.
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
11
Möglichkeit des Gelingens von Kommunikation. Im Interesse meiner Derridalektüre stehen jedoch weder die Legitimität von Derridas Schlussfolgerungen, noch deren unmittelbare Konsequenzen für geisteswissenschaftliches und theologisches Arbeiten. Denn nicht die von Derrida die Möglichkeit von Wahrheit und von selbstidentischem Sinn betreffenden erörterten Fragen, sondern Derridas Denken selbst, d. h. ein typisches Strukturmoment desselben soll verdeutlicht werden, da dieses Strukturmoment die Substruktur des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ darstellt. So werden zwar einzelne Anfragen an Derridas Gedankengang formuliert, ich betone aber, dass diese nicht den Horizont der folgenden beiden Unterabschnitte darstellen. Auch verhält es sich nicht so, als sollten die folgenden Abschnitte die epistemologischen, hermeneutischen o. ä. Voraussetzungen für meine im darauf Folgenden zu entfaltenden Gedanken zur Sprache des Glaubens exponieren. Denn die am Ziel des vorliegenden Teils stehende Formulierung einer Theorie der Sprache des Glaubens5 hat ihrerseits den Status eines heuristischen Mittels. Die Interpretation von Kierkegaards Werk aus der Perspektive dieser Theorie der Sprache des Glaubens versucht zu zeigen, dass dieses heuristische Mittel zu bemerkenswerten Entdeckungen verhilft, die Kierkegaards Schriften als Modell für die Rede vom Unsagbaren wahrnehmbar werden lassen. Die nachstehenden Untersuchungen fragen folglich, welchen heuristischen Ertrag Derridas Lese- und Denkerfahrungen bieten könnten. Gefragt wird nicht, ob Derridas Kritik an überkommenen Konzeptionen beanspruchen kann, diese ein für allemal abzulösen. Selbst wenn Derrida solch einen Anspruch erhoben hätte (was mir nicht der Fall zu sein scheint), erschiene es mir sinnvoll, zu prüfen, was Derridas Texte tatsächlich leisten können, und nicht, ob sie einem geradezu totalitären Anspruch genügen, alles zuvor Gedachte abzulösen.6 B.1.2.1 „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ B.1.2.1.1 Schrift als Bedingung der Möglichkeit idealer Objektivität In seiner Schrift „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ diskutiert Derrida die Beilage III7 zu Husserls Schrift „Die 5 6
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S. u. Abschn. B.3. Vgl. zu Derridas Verhältnis zur (philosophischen) Tradition z. B. die Bemerkungen bei Derrida Als ob ich tot wäre, 31.33; s. u. Abschn. B.2.2.6. Die Beilage III bezieht sich auf die zu Beginn der Krisisschrift vorgetragenen Überlegungen Husserls unter der Überschrift „,Reine Geometrie‘“ (Husserl Die Krisis der
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Krisis der europäischen Wissenschaften“. Husserl fragt in dieser Beilage, wie eine „ideale Objektivität“ möglich sei. Mit Bezug auf die Erfahrung der Evidenz einer geometrischen Einsicht als einem bzw. dem exemplarischen Beispiel für ideale Objektivität (HG 88ff.) werden die Bedingungen der Möglichkeit idealer Objektivität erörtert, denn: Die ideale Objektivität der Geometrie ist absolut und ohne jede Einschränkung. (HG 95)8
Alle Kontingenz ist in der idealen Objektivität der Geometrie beseitigt. Es ist gleichgültig, welches Subjekt einer geometrischen Evidenz gewahrt, da diese zu jeder Zeit und an jedem Ort dieselbe bleibt. Jedoch stellt sich das Problem, dass diese (vermeintlich) ideale Objektivität zunächst nur in der Erfinderseele existiert. Ein Geometer entdeckt eine Evidenz, aber diese muss in die Sprache eingehen, damit sie als zunächst egologische subjektive Evidenz (HG 83) tatsächlich ideale Objektivität beanspruchen kann: Nur „mittels der Sprache, in der sie sozusagen ihren Sprachleib erhält“, kommt die Idealität zu ihrer Objektivität. (HG 101)9
Mit „Sprache“ meint Husserl hier eine objektive, geradezu weltumfassende Wissenschaftssprache (HG 109). Nun vermag, so Husserl, die mündliche Rede allein die ideale Objektivität nicht zu sichern, 8
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europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, 21ff.) im Rahmen seiner Darstellung von Galileis „Mathematisierung der Natur“ als einer Gestalt bzw. der Urform der „Idee eines rationalen unendlichen Seinsalls mit einer systematischen, es beherrschenden rationalen Wissenschaft“ (a. a. O., 19ff.). Als „Geometer“ suchen „wir“, so Husserl, danach, das Invariante an wirklich erfahrenen, empirisch anschaulichen Körpern und ihren Beziehungen annäherungsweise zu ergründen (a. a. O., 22f.). „Wir“ können über die im Zuge dieses Strebens entstehenden „sedimentierten Bedeutungen“ der „Limes-Gestalten“ später verfügen, „ohne daß ihre Sinnbildung explizit erneuert werden müßte; sie werden aufgrund sinnlicher Verkörperung, z. B. durch Sprache und Schrift, schlicht apperzeptiv erfaßt und operativ behandelt.“ (A. a. O., 23) An diesen Gedanken der Möglichkeit eines Verfügens über Erkenntnisse ohne Erneuerung bzw. Reaktivierung der ihnen zu Grunde liegenden Evidenzerfahrungen knüpft die Beilage III an. In der Sprache hingegen (gemeint ist eine natürliche Sprache im Gegensatz zu einer streng wissenschaftlichen Sprache) ist ideale Objektivität nicht zu finden: Das Wort „Löwe“ (vgl. Husserl Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Beilage III, 368) ist nicht universal übersetzbar, man muss so etwas wie einem Löwen begegnen, um eine Anschauung von „Löwe“ zu haben (HG 94). Ein „Löwe“ ist daher keine Verstandesgegenständlichkeit, sondern ein Gegenstand der Rezeptivität; die Objektivität des Wortes „Löwe“ ist eine gebundene, gebunden nämlich an die Wahrnehmung des jeweiligen Subjekts (ebd.). Derrida zitiert Husserl, a. a. O., 369.
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
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weil sie auf die Gemeinschaft der Sprechenden mit denen, die die Rede hören, beschränkt ist. Die Schrift dagegen ist losgelöst vom Sprecher und von den Hörern, in ihr kann sich die Evidenz von der Gemeinschaft, die an ihr partizipiert, emanzipieren (HG 116). Ohne die endgültige Objektivierung, die die Schrift erlaubt, bliebe jede Rede in der faktischen und aktuellen Intentionalität eines sprechenden Subjekts oder einer Sprechergemeinschaft gefangen. (HG 117)10
Jedoch ergibt sich angesichts der Notwendigkeit von Schrift eine fundamentale Aporie: Die Schrift ist zugleich – wie gezeigt – Bedingung der Möglichkeit idealer Objektivität und – wie nun zu zeigen ist – Bedingung der Unmöglichkeit idealer Objektivität. B.1.2.1.2 Schrift als Bedingung der Unmöglichkeit idealer Objektivität Derrida stimmt mit Husserl hinsichtlich der soweit referierten Gedanken überein, zieht aus ihnen jedoch eine radikal anders geartete Konsequenz. Ausgangspunkt des dekonstruktiven Einspruchs Derridas ist die Tatsache, dass der Sinn von Schrift sich verdunkeln kann, dass Schrift ihren Sinn auch „verlieren“ kann. Denn Schrift kann weiterbestehen, wenn die Intentionalität des Verfassers unerkennbar geworden ist. Das Schweigen prähistorischer Arkana und versunkener Zivilisationen, das Begrabensein verlorengegangener Intentionen und gehüteter Geheimnisse, die Unlesbarkeit der steinernen Inschriften verraten den transzendentalen Sinn des Todes: das, was ihn mit der Absolutheit intentionalen Rechts mitten im Augenblick ihres Scheiterns vereint. (HG 118)11
Diese Möglichkeit des ,Weiterlebens‘ der Schrift ohne die Intention des Schreibers bedingt nun eine fundamentale Spaltung des Sinns: Um beanspruchen zu können, „Wahrheit“12 zu sein, muss der Sinn in 10
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Vgl. Husserl, a. a. O., 367ff., v. a. 371: „Es ist die wichtige Funktion des schriftlichen, des dokumentierten sprachlichen Ausdrucks, daß er Mitteilungen ohne unmittelbare oder mittelbare persönliche Ansprache ermöglicht, sozusagen virtuell gewordene Mitteilung ist. Dadurch wird auch die Vergemeinschaftung der Menschheit auf eine neue Stufe erhoben. Schriftzeichen sind, rein körperlich betrachtet, schlicht sinnlich erfahrbar und in ständiger Möglichkeit, intersubjektiv in Gemeinsamkeit erfahrbar zu sein.“ Einen ähnlichen Gedanken formuliert, so impliziert Derrida, bereits Platon in der Schriftkritik im „Phaidros“ (s. u. Anm. 18). Mit „Wahrheit“ ist hier offensichtlich eine Erkenntniswahrheit bzw. eine logische Wahrheit gemeint, die, so formuliert de Vries, darin besteht, „daß sich das Denken dem seienden Sachverhalt angleicht.“ (Vgl. de Vries Art. „Wahrheit. II. Bedeutungsmannigfaltigkeit“, 448)
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
die Welt eingehen; Sinn muss gleichsam in der Raum-Zeitlichkeit deponiert werden können. Doch wird gerade dadurch der Wahrheitssinn gefährdet, weil er mit der Vergänglichkeit der Welt dahingehen kann (HG 123). Darin meint Derrida, den „transzendentalen Sinn des Todes“ zu gewahren: Bereits in der Evidenzerfahrung ist die Notwendigkeit von deren Vergemeinschaftung und infolgedessen die Notwendigkeit von deren Verschriftlichung und durch diese wiederum die Möglichkeit der Auflösung ihrer Identität als einer wahrheitsfähigen Erfahrung, also die Möglichkeit ihres „Todes“, gegeben. Zwar will Husserl, so Derrida, glauben, dieser Sachverhalt stelle kein Problem dar. Im ersten Buch der „Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie“ hatte Husserl dargelegt, der Weltsinn sei jeder kontingenten Existenz entzogen und unabhängig von der Totalität der Welt (HG 12713). Husserl meint, auch wenn alle geometrischen „Dokumente“ vernichtet wären, könne das die geometrische Wahrheit nicht gefährden. Derrida widerspricht, indem er nochmals die konstitutive Funktion der ‚leiblichen‘ Schrift für die Wahrheit hervorhebt: Wir wären völlig überzeugt, wenn Husserl hier […] die Schrift als sinnliches Phänomen betrachtete. Aber wurden wir nicht eben belehrt, daß die Schrift – sofern sie die absolute Objektivität der Wahrheit begründet oder zu ihrer Begründung beiträgt – nicht nur einfach konstituierter sinnlicher Körper, sondern ebenso konstituierender Leib, intentionale Ursprünglichkeit eines Hier-Jetzt der Wahrheit ist? (HG 129)
Wenn nun aber die schriftliche ‚Leiblichkeit‘ zur Möglichkeit von Wahrheit konstitutiv dazugehört, dann bleibt die Wahrheit radikal gefährdet. Aber da der Sinn, um der Weltlichkeit [d. h. dem Gebundensein an ein empirisches Subjekt – J. S.] zu entgehen, zunächst in der Welt versammelt und in der sinnlichen Raum-Zeitlichkeit deponiert werden können muß, wird seine reine intentionale Idealität, d. h. sein Wahrheitssinn, notwendig gefährdet. (HG 123)
Wahrheit wäre zwar noch zu retten, wenn die Weitergabe von Erkenntnissen in univoker Sprache geschehen würde. Husserls Vorstellung nach kann jeder Mensch eine schriftlich niedergelegte Evidenz aufnehmen und so deren ursprünglichen Sinn wieder beleben.14 In einer solchen Reaktivierung wäre die Kontingenz der Sprache über13
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Derrida verweist hier auf Husserl Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 103. Vgl. Husserl Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, 372; vgl. HG 63.
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
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wunden. Bedingung für eine derartige Weitergabe identischer Wahrheitserkenntnis ist allerdings, dass der Geometer eine eindeutige Sprache verwendet (HG 133). Husserl muss daher absolute Univozität postulieren, d. h. einen Aussagemodus, der identisch wiederholbar ist.15 Derrida wendet wiederum ein: Absolute Univozität wäre nur möglich, wenn der Gegenstand vor aller Kultur läge (HG 137). Doch hat Derrida deutlich gemacht, dass sich die Wahrheit des Gegenstands erst in der Sprache und damit erst in der Kultur konstituieren kann, und infolgedessen der Äquivozität nicht zu entgehen vermag. […] [K]urzum, der Akt sprachlicher Formulierung selber führte beide, Sache und Wahrnehmung, von Anfang an in eine Kultur ein und damit in ein Netz sprachlicher Relationen und Oppositionen, die das Wort mit lateralen und virtuellen Intentionen oder Remineszenzen auflüden. Äquivozität ist das Geburtsmal aller Kultur. (HG 137)
Wenn Husserl also im Rahmen des Gedankengangs der „Beilage III“ fordert, dass alles, was zur wissenschaftlichen Aussage gebracht werden solle, immerfort identisch wiederholbar sein müsse, dann ist es eben diese uneinholbare Voraussetzung, die Husserls Erwägungen zur Möglichkeit einer idealen Objektivität problematisch werden lässt. Die Möglichkeit einer Weiterverwendung von schriftlich niedergelegten, „sedimentierten“ (und als solche die Geschichte konstituierenden16) Erkenntnissen ohne Reaktivierung der ursprünglichen Intention bedingt eine immanente Aporie, in der sich jeder Versuch der Wahrheitssicherung verfängt. Die berechtigte Forderung nach Wiederholbarkeit wird so zur Anfrage an die Möglichkeit selbstidentischer Wahrheit. Mit dieser Infragestellung ist der Ausgangspunkt für den Aufweis jener irreduziblen Vielstimmigkeit markiert, welcher in der „postmodernen“ Philosophie und Religionsphilosophie von fundamentaler Bedeutung ist. Auf die Rückfragen, die an Derridas Ausführungen zu richten wären, ist unten näher einzugehen.17 Zuvor soll jedoch der zweite Text betrachtet werden, in dem der theoretische Hintergrund von Derridas Gedanken der Vielstimmigkeit besonders gut greifbar ist, nämlich Derridas Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie. In dieser Auseinandersetzung begegnet eine Gedankenbewegung, die unmittelbar
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Vgl. Husserl, a. a. O., 373; vgl. auch a. a. O., 372.383; HG 138. „Geschichte ist von vornherein nichts anderes als die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung.“ (Husserl, a. a. O., 380) S. u. S. 23ff.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
in den Kern von Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ führt, nämlich die Bewegung von der Kritik an einer überkommenen Sichtweise zur Beschreibung der Bedingung des Gelingens einer „performativen Aussage“; es handelt sich dabei um eine Bewegung, die zugleich eine Gefahr und eine Chance konstatiert. Diese positive Möglichkeit ist die der Vielstimmigkeit als der Folge der Spaltung der Rede: der Spaltung in eine (vermeintlich) originäre und eine das Gesagte entgegen der Intention des Sprechers/Autors zitierende Stimme. B.1.2.2 „Signatur Ereignis Kontext“ B.1.2.2.1 Abwesenheit des Senders – Unmöglichkeit des selbstidentischen Sinns einer Mitteilung Die Aporie, die Derrida hinsichtlich der Möglichkeit objektiver Wahrheit aufzuzeigen sucht, wird in Derridas späterem Text „Signatur Ereignis Kontext“ erneut erörtert. Hier legt Derrida einen Einspruch gegen verschiedene Bedeutungstheorien ein, die den Gedanken der Abwesenheit seiner Ansicht nach nicht (hinreichend) beachten. Im Vordergrund steht dabei die kritische Lektüre von Austins Sprechakttheorie, den weiteren Horizont bilden die für die philosophische Tradition charakteristische Repräsentationstheorie, die z. B. von Condillac vertreten wird, und eine sich daran anschließende Reflexion über das Wesen des Zeichens als solchem. Nach Auffassung des französischen Philosophen und Volkswirtschaftlers Étienne Bonnot de Condillac (1715-1780) ist Schrift eine Weiterentwicklung von Malerei, durch die die Imagination von realen Dingen ausgedrückt werden sollte (SEK 20f.). Sprache scheint dann im Dienst einer „ökonomischen, homogenen und mechanischen Reduktion“ (SEK 21) zu stehen. Derrida wendet gegen Condillacs Repräsentationstheorie ein, hier würden die Abwesenheit des Empfängers und des Senders entkräftet. So gilt Repräsentation Condillac lediglich als Supplement von Anwesenheit. Die Repräsentation supplementiert in der Regel die Anwesenheit. Indem sie aber alle Momente der Erfahrung, soweit sie mit der Zeichengebung zu tun hat, verknüpft […], wird dieser Vorgang der Supplementierung nicht als Unterbrechung der Anwesenheit, sondern als fortgesetzte, homogene Wiederherstellung und Modifikation der Anwesenheit in der Repräsentation dargestellt. (SEK 21)
Diese Auffassung bezeichnet Derrida als „ideologisch“, ein Vorwurf, den er zugleich gegen eine „mächtige philosophische Tradition“ erhebt, die von derselben Idee beherrscht wird, „das Zeichen sei eine
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
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Repräsentation der Idee, die selbst wiederum die wahrgenommene Sache repräsentiert.“ (SEK 23) Derrida macht dagegen geltend, dass die Abwesenheit konstitutiv in das Funktionieren der Schrift (und der Kommunikation überhaupt) eingreift: Die Abwesenheit von Sender und Empfänger ist nicht lediglich eine Modifikation von Anwesenheit; Abwesenheit ist keine entfernte, in ihrer Repräsentation idealisierte Anwesenheit, sondern es besteht eine Absolutheit der Abwesenheit. Ein geschriebenes Zeichen wird in Abwesenheit des Empfängers vorgebracht. Wie kann man diese Abwesenheit näher bestimmen? Man könnte sagen, dass in dem Augenblick, in dem ich schreibe, der Empfänger im Feld meiner gegenwärtigen Wahrnehmung nicht anwesend sein muss. Aber ist denn diese Abwesenheit nicht nur eine entfernte Anwesenheit, eine aufgeschobene oder – in der einen oder anderen Form – in ihrer Repräsentation idealisierte Anwesenheit? Es scheint nicht so, oder zumindest müssen diese Distanz, dieser Abstand, diese Verzögerung, diese différance zu einer bestimmten Absolutheit der Abwesenheit gebracht werden können, damit die Struktur der Schrift, vorausgesetzt die Schrift existiert, sich konstituiert. (SEK 24)
Abwesenheit konstituiert Schrift, weil eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus lesbar wäre, nicht als Schrift gelten könnte; Abwesenheit ist keine Modifikation von Anwesenheit, vielmehr ist die Möglichkeit „des Todes“ in die Struktur des Zeichens eingeschrieben (SEK 24f.).18 Diese Radikalisierung des Gedankens der Abwesenheit betrifft nun auch die Funktion, die die Intention des Senders im Kommunikationsgeschehen einnimmt, genauer, die sie nicht einnehmen kann: Da es nicht so sein darf, dass das Bewusstsein und die Absicht des Senders im Augenblick des Vollzugs der Mittei-
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In diesem Zusammenhang bezieht sich Derrida auf Platons Schriftkritik im Phaidros: „Dieses wesentliche Abgleiten, das sich der Schrift als iterativer Struktur verdankt, die von jeder absoluten Verantwortung, vom Bewußtsein als Autorität letzter Instanz abgeschnitten ist, verwaist und seit ihrer Geburt vom Beistand des Vaters getrennt ist, genau das wurde von Platon im Phaidros verurteilt.“ (SEK 26) Derrida bezieht sich auf die Rede des Thamus an Theut. Theut, der Erfinder der Buchstaben (Phaidr. 274d), meint, die Schrift diene als ein Mittel für Verstand und Gedächtnis (μνμης). Thamus jedoch erwidert: „O kunstreicher Theut, einer versteht, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses [μνμης], weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen [π’ λλοτρ ων τπων], nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnert werden. Nicht also für das Gedächtnis [μνμης], sondern für die Erinnerung [πομνσεως] hast du ein Mittel erfunden.“ (Phaidr. 274e-275a [Hervorhebung J. S.], vgl. auch die Verweise auf den Phaidros bei Derrida G 70.87.120)
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
lung verfügbar sein müssen19, und da das Verschriftlichte in (gegenüber dem System der Produktion) andere Systeme eingetragen werden können muss, ist der Code, der diese Verschriftlichung regelt, zugleich Bedingung der Möglichkeit und der Unmöglichkeit von Schrift als einem System, das Sinn konservieren können soll. Gleichzeitig enthält ein geschriebenes Zeichen eine Kraft zum Bruch mit dem Kontext, das heißt der Gesamtheit der Anwesenheiten, die den Moment seiner Einschreibung organisieren. Diese Kraft zum Bruch ist nicht ein zufälliges Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst. Wenn es sich um den sogenannten „realen“ Kontext handelt, ist das, was ich eben behauptete, nur allzu offensichtlich. Zu diesem vorgeblich realen Kontext gehören eine gewisse „Gegenwart“ der Einschreibung, die Anwesenheit des Schreibers bei dem, was er geschrieben hat, die ganze Umgebung und vor allem die Intention, das Sagen-Wollen, die zu einem gegebenen Augenblick seine Einschreibung beseelt. Es gehört zum Zeichen, juridisch lesbar zu sein, selbst wenn der Augenblick seiner Produktion unwiederbringlich verloren ist und selbst wenn ich nicht weiß, was sein mutmaßlicher Autor-Schreiber bewußt oder absichtlich sagen wollte, als er schrieb, das heißt es seinem wesentlichen Abgleiten überließ. Wenn es sich nun um den semiotischen und internen Kontext handelt, so ist die Kraft zum Bruch keineswegs geringer: Aufgrund seiner wesensmäßigen Iterabilität kann man ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefaßt oder gegeben ist, herausnehmen, ohne daß es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genau genommen alle Möglichkeiten der „Kommunikation“ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es anderen Ketten einschreibt oder es ihnen aufpfropft. Kein Kontext kann es abschließen. Noch irgendein Code, wobei Code hier gleichzeitig die Möglichkeit und die Unmöglichkeit der Schrift, ihrer wesensmäßigen Iterabilität (Wiederholung, Andersheit) ist. (SEK 27f.)
Wiederholbarkeit als eine zugleich mögliche und unmögliche Bedingung der Möglichkeit von Identität bedingt eine Spaltung – eine Spaltung des Zeichens und, wie später dargelegt werden wird, eine Spaltung des Performativs. Nur wenn das Zeichen abgelöst von der Bedeutungsintention funktionieren kann, in Abwesenheit des Referenten und des Signifikats, kann es überhaupt seine Zeichenfunktion ausüben. Da die Ablösung von der Bedeutungsintention (als dem Konstitutivum der Identität des Zeichens) Bedingung seiner Nicht-Identität ist, ist die Bedingung der Möglichkeit der Identität zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit der Identität. Betrachten wir ein beliebiges Element der gesprochenen Sprache, eine kleine oder große Einheit. Erste Bedingung seines Funktionierens: seine Lokalisierung hinsichtlich eines bestimmten Codes; aber ich ziehe es vor, hier den Begriff des Codes, der mir unsicher erscheint, nicht zu sehr zu beanspruchen; sagen wir, daß eine gewisse Selbstidentität dieses Elements (Zeichen, Zeichen und so weiter) seine Erkennung und Wiederholung erlauben 19
Derrida bestreitet nicht, dass die Intention des Senders im Vollzug einer Mitteilung theoretisch verfügbar sein kann, sondern legt lediglich dar, dass die theoretische Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden darf, dass die Intention abwesend ist.
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
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muß. Durch empirische Variationen des Tonfalls, der Stimme und so weiter, eines gewissen Akzents vielleicht, muß man die Identität einer, sagen wir, signifikanten Form wiedererkennen können. Warum ist diese Identität paradoxerweise die Spaltung oder Ablösung von sich selbst, die aus diesem Lautzeichen ein Graphem machen wird? Weil nämlich diese Einheit der signifikanten Form nur durch ihre Iterabilität konstituiert wird, durch die Möglichkeit, in Abwesenheit nicht nur ihres „Referenten“, was sich von selbst versteht, wiederholt zu werden, sondern auch in Abwesenheit eines bestimmten Signifikats oder der aktuellen Bedeutungsintention, wie jeder anwesenden Kommunikationsintention. (SEK 29)
B.1.2.2.2 „Zitathaftigkeit“ als ‚normale Anomalie‘ der Sprache Die Notwendigkeit, dass eine sprachliche Einheit unabhängig von der Bedeutungsintention funktionieren können muss, erörtert Derrida nun auch mit Bezug zur mündlichen Rede anhand der Möglichkeit der Zitation: Ein Zeichen kann gerade dadurch als Zeichen funktionieren, dass es (ggf. auch entgegen der Intention seines ursprünglichen Verwenders) zitiert werden und dadurch seiner ursprünglichen Bedeutungsintention verlustig gehen kann (SEK 32). Dieser Gedanke der ,Zitathaftigkeit‘ bereitet nun den Boden für Derridas Kritik an Austins Sprechakttheorie, die Derrida in Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kontext“ entfaltet. Performative Kommunikation im Sinne Austins verlangt nach einem erschöpfend beschreibbaren Kontext, zu dessen Konstituenten auch die Intention (des Sprechers) zählt. So nennt Austin in seiner Theorie der Sprechakte Beispiele für Situationen, in denen Sprechakte auf Grund eines Konflikts mit den kontextuellen Bedingungen scheitern. Ganz allgemein gesagt, ist es immer nötig, daß die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere Handlungen vollziehen – seien es nun „psychische“ oder „geistige“ Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern. Wenn ich ein Schiff taufen will, ist es zum Beispiel wesentlich, daß ich dazu bestimmt bin. Wenn ich (christlich) heiraten will, ist es wesentlich, daß ich nicht bereits mit einer noch lebenden Frau verheiratet bin, die geistig gesund und nicht von mir geschieden ist; und so weiter. Damit eine Wette abgeschlossen wird, ist es ganz allgemein nötig, daß jemand die Wette annimmt (und dazu muß er sagen: „Die Wette gilt“). Und ich mache wohl kaum ein Geschenk, wenn ich sage: „Ich schenke es dir“, es aber nicht übergebe. So weit, so gut.20 20
Austin Zur Theorie der Sprechakte, 31; zitiert nach SEK 35. Der in der deutschen Ausgabe von „Signatur Ereignis Kontext“ zitierte Text weicht geringfügig von der Ausgabe ab, auf die verwiesen wird (John Langshaw Austin Zur Theorie der Sprechakte, dt. Bearbeitung v. E. von Savigny, Stuttgart 21998 (Nachdruck der 2. Aufl.) [1962 u. 1975]; vgl. SEK 242 Anm. 16). Zitiert wird hier nach der genannten Ausgabe. Hervorhebungen folgen dem Textsatz des englischsprachigen Originaltextes (John Langshaw Austin How to do things with words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, hg. v. J. O. Urmson u. M. Sbisà, Oxford 21975 [1961], 8f.).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Austin räumt in seiner Vorlesung zwar ein, dass Sprechakte dem Misslingen ausgesetzt sind: dass sie „verunglücken“ können, wenn Bedingungen, die einem Gelingen des Sprechakts vorausgesetzt sind, nicht gegeben sind. Doch klammert Austin dieses Risiko als zufälliges, äußeres Risiko aus (SEK 36). Eben diese Ausklammerung der Möglichkeit des Misslingens ist Gegenstand von Derridas Kritik. Derrida entwickelt seine Kritik in Auseinandersetzung mit dem folgenden, von Austin selbst in seiner „Theorie der Sprechakte“ angeführten Beispiel: Unter den Möglichkeiten des Misslingens befindet sich auch die Möglichkeit, dass ein Text zitiert wird, etwa von einem Schauspieler auf der Bühne – eine Möglichkeit, die Austin als „abnormal und parasitär“ bezeichnet. Derrida gibt die entsprechende Passage aus Austins Vorlesung wieder: Zweitens sind unsere Performative als Äußerungen [auch21] gewissen anderen Übeln ausgesetzt, die alle Äußerungen befallen können. Und auch sie schließen wir für unsere Untersuchung in voller Absicht aus, obwohl eine umfassendere Theorie sie einschließen könnte. Ich meine zum Beispiel folgendes: In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst [Hervorhebung J. D.], und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär. Das gehört zur Lehre von der Auszehrung der Sprache. All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus. Ganz gleich, ob unserer performativen Äußerungen glücken oder nicht, sie sollen immer unter normalen Umständen getan sein.22
Derrida sieht in dieser Ausklammerung eine Bewegung, die für die (abendländische) philosophische Tradition insgesamt charakteristisch ist. Auch die Schrift ist, so Derrida, in Bezug auf ihr Verhältnis zur gesprochenen Sprache immer wie ein „Parasit“ behandelt worden (SEK 38). Gegen diese Ausklammerung der Möglichkeit parasitären Befalls23
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22 23
In der deutschen Übersetzung des englischsprachigen Originals ist das englische Wort „also“ ausgelassen. Austin, a. a. O., 43f., vgl. SEK 37f. Vgl. Derrida „Lim Inc a b c …“, 146. – Frank reformuliert zustimmend – und gegen Searles Kritik (vgl. Searle „Reiterating the Differences. A Reply to Derrida“, 205) – die Argumentation Derridas mit dem Hinweis darauf, dass wohl kaum ein Logiker behaupten würde, „B sei, weil es aus A folge, ‚uneigentlich‘, ‚anormal‘ oder ‚parasitär‘“ (Frank Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, 510). Der Begriff der logischen Möglichkeit schließe ein, „daß die ‚Norm‘ nicht einfach in Quarantäne gebracht und von den Parasiten des Anormalen isoliert werden könnte (sonst handelte es sich um eine Eventualität, nicht um eine logische Möglichkeit).“ (A. a. O., 510f.)
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
21
wendet Derrida ein, dass die (potentiell von der Autorintention abweichende) Zitation keine Anomalie sei, sondern in jedem Sprechen und Schreiben immer schon walte: Gibt nicht Austin, indem er die allgemeine Theorie dieser strukturellen Parasitierung ausschließt und doch beansprucht, die Fakten und Ereignisse der gewöhnlichen Sprache zu beschreiben, eine teleologische und ethische Bestimmung als gewöhnlich aus (Eindeutigkeit der Aussage – von welcher er an anderer Stelle eingesteht, daß sie philosophisch ein „Ideal“ bleibt (Theorie der Sprachakte, S. 93) – Selbstpräsenz eines totalen Kontexts, Transparenz der Intentionen, Anwesenheit des Sagen-Wollens in der absolut einzigartigen Eindeutigkeit eines speech act und so weiter)? Denn ist nicht schließlich das, was von Austin als Anomalie, Ausnahme, „unernst“ ausgeschlossen wird, nämlich das Zitat (auf der Bühne, in einem Gedicht oder im Selbstgespräch) die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – vielmehr einer allgemeinen Iterabilität – eine paradoxe, aber unvermeidliche Konsequenz – daß ein gelungener Performativ gezwungenermaßen ein „unreiner“ Performativ ist […]? (SEK 38f.)
Die Behauptung der Möglichkeit eines vollständig präsenten und durchsichtigen Sprachaktes bezeichnet Derrida als Idealisierung. ‚Zitathaftigkeit‘ gilt Derrida daher nicht als Anomalie, sondern als Möglichkeitsbedingung von Kommunikation, genauer, als Bedingung der Möglichkeit und Bedingung der Unmöglichkeit der Konstitution von Sinn (in der Sprache) zugleich.24 Die Spaltung lässt sich dann umgekehrt, so suggeriert eine (rhetorische) Frage Derridas, auch als „positive“ Möglichkeit der performativen Aussage bezeichnen. Diese Bewegung einer Wendung von der Kritik zur Formulierung einer „positiven“ Möglichkeit der performativen Aussage ist für die vorliegende Arbeit höchst bedeutsam, insofern die Formulierung einer solchen Wendung in einer entscheidenden Formulierung aus Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ eine Analogie hat.25 Die 24
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Es handelt sich hier um eine für Derrida typische Denkfigur. Vgl. z. B. Derrida „Den Tod geben“, 353 und ders. Falschgeld. Zeit Geben I, 22ff. – Ein weiteres Phänomen, in welchem die Abwesenheit der Intention waltet, und in dem die Bedingung der Möglichkeit Bedingung der Unmöglichkeit ist, ist, so Derrida, die Signatur, deren Echtheit nur vermittels ihrer Iterierbarkeit identifizierbar wird. „Um zu funktionieren, muß eine Signatur eine wiederholbare, iterierbare, imitierbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion loslösen können.“ (SEK 43) Waldenfels sieht in diesem Phänomen eine Analogie zu der Kierkegaardschen „indirekten Mitteilung“ (Waldenfels Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, 37). S. u. Abschn. B.2.1.4. Auch in der „Grammatologie“ deutet Derrida in Bezug auf die oben erörterte Notwendigkeit der Schrift für die Konstitution idealer Objektivität solch eine Bewegung von der Kritik zu einer dialektischen Negativität an: „Aber wenn Husserl uns mit der einen Seite seines Textes die Negativität der Krise nicht als bloßen Zerfall zu denken gibt, dann müßte doch der Krisenbegriff gerade auf das hinterfragt
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
letzten Sätze von Derridas unten zu erörterndem Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ sollen an dieser Stelle proleptisch wiedergegeben werden, damit die Verwandtschaft der beiden Texte „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ und „Signatur Ereignis Kontext“ in Bezug auf diesen Gedanken deutlich wird. Die betreffende Formulierung in „Signatur Ereignis Kontext“ lautet: Ich gehe jetzt die Dinge von der Seite der positiven Möglichkeit und nicht mehr nur vom Mißerfolg an: Wäre eine performative Aussage möglich, wenn kein Zitat als Double die reine Einmaligkeit des Ereignisses spaltete, von sich selbst trennte? (SEK 39 [Hervorhebung J. S.])
Man vergleiche diese (rhetorische?) Frage mit den letzten Sätzen des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“: Vielleicht gäbe es gar kein Gebet, gäbe es gar nicht die reine Möglichkeit des Gebetes ohne dieses, welches wir als eine Bedrohung oder eine Kontamination erahnen: die Schrift, der Code, die Wiederholung, die Analogie oder die – zumindest augenfällige – Vielfältigkeit der Adressen, die Initiation. Wenn es eine rein reine Erfahrung des Gebetes gäbe, bräuchte man dann noch die Religion und die Theologien, die affirmativen oder die negativen? Bräuchte man dann noch ein Supplement für das Gebet? Aber wenn es kein Supplement gäbe, wenn das Zitat nicht das Gebet falten/beugen würde, sich nicht der Schrift gemäß faltete/der Schrift beugte/in die Schrift schickte, eine Theiologie, wäre sie möglich? Eine Theologie, wäre sie möglich? (WNS 109f. [Hervorhebungen J. S. – Übersetzung geändert])
Der Sinn dieser Passage wird unten deutlich werden.26 An dieser Stelle soll lediglich die Strukturanalogie der Denkfiguren hervorgehoben werden: In den beiden zuletzt zitierten Passagen wird eine ‚Deformierung‘ bzw. ‚Kontaminierung‘ der „reinen“ Sprache durch das Zitat beschrieben. Die Ähnlichkeit zwischen dem letzten Satz aus Derridas Vortrag zur negativen Theologie „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ und der im Anschluss an die Kritik an Austin vollzogenen Wendung Derridas bereitet den Gedanken einer positiven Möglichkeit vielstimmiger Rede vor, deren Formulierung am Ziel des vorliegenden Teils steht.
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werden, was ihn an eine dialektische und teleologische Bestimmung der Negativität bindet.“ (G 72) S. u. Abschn. B.2.1.
B.1 Differente Wiederholung und Vielstimmigkeit
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B.1.3 Zusammenfassung: Die ,Zitathaftigkeit‘ von Sprache und die Vielstimmigkeit Die Frage nach der Stringenz von Derridas Argumentation mag an einigen Stellen einer eingehenderen Prüfung bedürfen. Es kann jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht in erster Linie darum gehen, zu erörtern, ob Derridas Einwände gegen die Argumentationen von Husserl und Austin zwingend sind. Vielmehr ist zu zeigen, dass Derridas ‚Beobachtungen‘ zu Einsichten führen, die sich für die in der vorliegenden Arbeit gestellte Frage (auch vermittels ihrer Wirkungsgeschichte in der Religionsphilosophie) als hilfreich erweisen. Im Rahmen einer knappen Zusammenfassung soll lediglich angedeutet werden, welche Wege eine Erörterung der Validität von Derridas Ausführungen beschreiten könnte. Derrida nimmt, Husserl folgend, die Frage in Augenschein, unter welchen Bedingungen eine Evidenzerfahrung beanspruchen kann, „wahr“ zu sein. Dabei setzt er voraus, dass „wahr“ nur sein kann, was über das Subjekt und über einen bestimmten Kreis von Kommunikanten hinaus Geltung beanspruchen, d. h. allgemeingültig sein kann.27 Weiterhin geht Derrida davon aus, dass eine schriftliche Äußerung auch ohne Gegenwart der Intention ihres Autors verständlich sein muss. Dies scheint mir evident zu sein, denn andernfalls hätte Schrift keine Funktion, die sie von der Mündlichkeit zu unterscheiden vermöchte.28 Hieraus wiederum meint Derrida folgern zu müssen, dass zumindest die theoretische Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass Schrift auch gegen den intendierten Sinn verwendet wird, positiv formuliert: dass die Möglichkeit immer bestehen bleiben muss, dass Schrift auch entgegen der Intention ihres Urhebers bzw. Autors rezipiert wird.29 Ob es sich bei diesem Schluss um eine (notwendige Konsequenz aus der besagten) Beobachtung handelt oder um eine Behauptung, kann wiederum kontrovers diskutiert werden: Ist der Schluss aus der Notwendigkeit der möglichen Abwesenheit des Autors 27
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Vgl. zur Forderung nach „Allgemeingültigkeit“ von Wahrheit z. B. de Vries Art. „Wahrheit. II. Bedeutungsmannigfaltigkeit“, 448. „Schrift ist ersichtlich nur dort und dann sinnvoll, wo und wenn Kommunizierende räumlich und/oder zeitlich abwesend sind.“ (Hörisch Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen, 75) Hörisch teilt die Auffassung von Derrida, dass auch in gesprochener Sprache Abwesenheit eine konstitutive Funktion ausübt (ebd.). Vgl. Derridas Verweis auf Platons Schriftkritik (s. o. Anm. 18).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
auf die Notwendigkeit der Möglichkeit einer den Autorsinn entstellenden Rezeption des Geschriebenen eine notwendige Konsequenz aus der Beobachtung oder nur eine Behauptung? Husserls Postulation einer apriorischen, „schlechthin unbedingte[n], über alle historischen Faktizitäten hinausreichende[n] Evidenz“30, welche Univozität der Sprache ermöglichen würde, bedürfte ferner einer Widerlegung, die weiter ausholte als jene, die von Derrida angedeutet wird, sonst bleibt Derridas Voraussetzung, Sprache und Kultur seien eine fortwährend Äquivozität generierende Matrix, wiederum eine Behauptung.31 Auch in Bezug auf die Kritik an Austins Sprechakttheorie ließen sich Rückfragen formulieren. So könnte Derridas Zeichenbegriff kritisch geprüft werden: Derrida hatte ausgeführt, nur wenn das Zeichen abgelöst von der Bedeutungsintention, von der ‚Beseelung‘ mit einem bestimmten „Sagen-Wollen“ funktionieren könne, in Abwesenheit des Referenten und des Signifikats, könne es überhaupt seine Zeichenfunktion ausüben.32 Es stellt sich ein ähnliches Problem wie oben in Bezug auf Husserl, d. h. die Frage, welche Schlussfolgerung die Möglichkeit der Ablösung des Geschriebenen von der Intention des Autors nach sich zieht.33 Und noch ein letzter Hinweis: Während Husserl den Anspruch, dem seine Überlegungen möglicherweise nicht genügen können, tatsächlich erhoben hat, wird Austins Sprechakttheorie an einem Ideal gemessen, dem diese gar nicht zu entsprechen trachtet: an dem Ideal eines totalisierenden Wissens, das restlos in die Einheit seiner reflexiven Vergegenwärtigung überführt werden kann. Derrida unterstellt möglicherweise zu Unrecht, dass dies in der Sprachpraxis möglich sein müsste bzw. von den Sprechakttheoretikern für möglich gehalten wird.34
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Husserl, a. a. O., 381. Derridas Kritik an Husserl ist entscheidend darauf angewiesen, dass Derrida Husserls Auffassung, es gebe einen Modus der Aussage, der „immerfort identisch wiederholbar“ sei (Husserl, a. a. O., 373 [s. o. S. 15), bestreiten kann, jedoch scheint mir diese Bestreitung nicht argumentativ eingeholt zu werden. Vgl. SEK 27f.; s. o. Anm. 18; s. o. S. 18f. Hiergegen richtet sich auch Searles Kritik an Derridas Kritik der Sprechakttheorie: „Iterability – both as exemplified by the repeated use of the same word type and as exemplified by the recursive character of syntactical rules – is not as Derrida seems to think something in conflict with the intentionality of linguistic acts, spoken or written, it is the necessary presupposition of the forms which that intentionality takes.“ (Searle „Reiterating the Differences. A Reply to Derrida“, 208) Vgl. Menke Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, 224ff.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Diese Überlegungen sind hier abzubrechen. Denn Ziel des vorliegenden Abschnitts ist, wie bereits gesagt wurde, nicht eine Prüfung der Validität von Derridas Argumentation, sondern die Vorbereitung des Gedankens der Vielstimmigkeit: Vielstimmigkeit im Sinne Derridas ist ein Verfasstsein des Denkens und Sprechens, in dem nicht mehr eine Stimme allein spricht, sondern Bedeutung durch das Inund Gegeneinander einer Vielfalt von Sprachen und Stimmen konstituiert wird.35 Der Gedanke der „Vielstimmigkeit“ ist in den wiedergegebenen Überlegungen impliziert, insofern jede Wahrheit beanspruchende und folglich in Sprache zu „kleidende“36 Intention und jeder identifizierbare Sprechakt notwendigerweise die Möglichkeit in sich tragen, in einer Art und Weise verwendet – zitiert – zu werden, durch die die „ursprüngliche“ Bedeutung ausgehöhlt wird. Daher verläuft ein Spalt durch jede Wahrheit und durch jeden Sprechakt: Die Möglichkeit der differenten, verfälschenden Wiederholung bzw. der Zitation geht immer schon mit jeder sprachlichen Einheit einher. Jede originäre sprachliche Einheit ist immer schon in sich selbst und in ihre sie (potentiell verfremdend) zitierende „Zweitstimme“ gespalten. Nun vermutet Derrida, dass diese Spaltung der Rede die Rede erst ermögliche.37 Von dieser bemerkenswerten Wendung der Gedankenführung, der Wendung von der Kritik zum Aufweis einer positiven Möglichkeit, geht ein entscheidender Anstoß für die hier zu entwickelnde Theorie der Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren38 aus. Die folgende Analyse von Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ wird die weitreichenden Implikationen andeuten, die diese Wendung für eine Theorie der Sprache des Glaubens hat.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren B.2.0 Einführende Bemerkungen Im Folgenden ist nach einem Blick auf die Forschungssituation, in welcher sich der Dialog von Dekonstruktion, Theologie und Philosophie befindet, Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ vor dem Hintergrund des gewonnenen Einblicks in Derridas Denken 35 36
37 38
Vgl. die Arbeitsdefinition zu Beginn des vorliegenden Abschnitts (s. o. S. 9f.). Vgl. zur Erörterung des Gedankens, die Schrift „kleide“ das gesprochene Wort auch G 62. S. o. S. 22f. S. u. Abschn. B.3.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
zu analysieren. Sodann soll an drei Beispielen gezeigt werden, wie das in diesem Vortrag zentrale Motiv der Vielstimmigkeit in einzelnen religionsphilosophischen bzw. theologischen Entwürfen (teils explizit, v. a. aber implizit) aufgenommen wird. Die theologische Rezeption „postmodernen“ bzw. dekonstruktivistischen Denkens (im angelsächsischen Sprachraum)39 bildet ein sehr breites Spektrum.40 Die zuweilen anzutreffende Auffassung, „postmodernes“ Denken sei stets nihilistisch oder atheistisch oder rede einer „postmodernen Beliebigkeit“ das Wort, ist unzutreffend.41 Radikal 39
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41
Ich konzentriere mich auf die Rezeption dekonstruktivistischen Denkens im angelsächsischen Sprachraum. Derridas Denken hat seine Wirksamkeit besonders in der nordamerikanischen Literaturtheorie entfaltet, infolgedessen ist auch die theologische Rezeption dekonstruktivistischen Denkens im angelsächsischen Sprachraum ausgeprägter als jene im deutschen Sprachraum. Vgl. zur Rezeption dekonstruktivistischen Denkens im deutschen Sprachraum v. a. Zeillinger Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida; Valentin Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida. Vgl. die Übersicht über das Spektrum „postmoderner“ Theologie Vanhoozer (Hg.) Cambridge Companion to Postmodern Theology. Vanhoozer nennt sieben Typen „postmoderner“ Theologie, die jeweils in einem Beitrag vorgestellt werden: „AngloAmerican postmodernity: a theology of communal practice“, „Postliberal theology“, „Postmetaphysical theology“, „Deconstructive theology“, „Reconstructive theology“, „Feminist theology“ und „Radical orthodoxy“ (vgl. Vanhoozer „Theology and the condition of postmodernity: a report on knowledge (of God)“, vii.20). Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf Beiträge, die den Bereichen „Postmetaphysical Theology“ und „Deconstructive Theology“ zugeordnet werden können. Zu den exponierten Vertretern dieser Strömung gehören u. a. Graham Ward und Thomas Carlson; die entsprechenden Beiträge in der genannten Publikation werden auch von diesen beiden Autoren vorgestellt (Carlson „Postmetaphysical theology“; Ward „Deconstructive theology“). – John D. Caputo begegnet in dieser Aufstellung nicht, da Caputos Arbeit eher der „postmodernen“ Religionsphilosophie als der „postmodernen“ Theologie zuzuordnen ist: Caputo assoziiert mit „Theologie“ die (von ihm vielfach kritisierte) „griechische“ Tradition, die er mit „Religion“ kontrastiert (vgl. PT 28; vgl. ferner zur Gegenüberstellung von „Religion“ und „Theologie“ durch Caputo PT 328, zur Kritik an „hellenistischer“ Gotteslehre PT 336 und zur Kritik an der „Theologie“ PT 111.289; R 116). – Zur Übersicht über Positionen der „postmodernen“ Theologie und Religionsphilosophie vgl. ferner Ward (Hg.) The Postmodern God. A Theological Reader; ders. (Hg.) The Blackwell Companion to Postmodern Theology; Valentin „Das Echo Derridas in der angelsächsischen Theologie“. Caputo erörtert und kritisiert in dem Band „Deconstruction in a Nutshell“ Gestalten simplifizierender und unsachgemäßer Polemik gegen den Dekonstruktivismus (vgl. Caputo DNJD v. a. 36ff.74ff.). Caputo erläutert hier u. a., dass die vermeintlich dekonstruktivistische (oder „postmoderne“) Maxime „anything goes“ eine Entstellung der Intention der Dekonstruktion darstellt (a. a. O., 37.78). Dekonstruktion bedeute keinesfalls, alles zu sagen, was einem gerade in den Kopf komme, wie absurd und lächerlich es auch immer sein möge (a. a. O., 79).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
27
skeptische bzw. skeptizistische Autoren wie z. B. Mark C. Taylor, der atheistischem Denken nahe steht42, repräsentieren nur eine von vielen Facetten des Dialogs von „postmodernem“ Denken auf der einen und Religion und Theologie auf der anderen Seite. John D. Caputo, der zu den einflussreichsten Figuren „postmoderner“ Religionsphilosophie gehört, nimmt eine theologie- und religionskritische Haltung ein, strebt dabei aber eine ‚Rehabilitierung‘ von Religion an43 und grenzt sich deutlich z. B. von Mark C. Taylor ab. Thomas Carlson weist Analogien von („postmoderner“) Philosophie und Theologie auf, die darin ihre Pointe haben, dass Theologie aus der Perspektive von philosophischer Skepsis nicht kritisiert, sondern um Bedeutungsvalenzen bereichert wird.44 Kevin Hart hat eine Studie zur transzendentalen Begründung theologischer Aussagen vorgelegt, die Einsichten aus der Dekonstruktion in den Dienst einer nicht-metaphysischen Theologie stellt.45 Graham Ward integriert dekonstruktivistische Gedanken in theologische
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43 44 45
In seiner Studie „Erring“ stellt Taylor fest, dass abendländisches Denken – auf je verschiedene Weise vor und nach der Aufklärung (Taylor Erring. A postmodern a/theology, 83f.) – in allen Bereichen von Kultur, Theologie und Philosophie durch exklusive Oppositionen gekennzeichnet ist: Stets werden die Identität, Eigentlichkeit, das vermeintlich Ursprüngliche zum Zwecke der Selbstvergewisserung um den Preis der Unterdrückung des „Anderen“ affirmiert (a. a. O., 23.29ff. u. a.). Taylors Buch unternimmt es, diese vermeintliche Stabilität von Oppositionen immanent als widersinnig und vergeblich aufzuweisen (a. a. O., 46ff.136.162 u. a.) und in parasitärer Weise von innen auszuhöhlen (a. a. O., 112). Ziel ist es (scheinbar), den Leser (dazu zu animieren, sich) dem „göttlichen Milieu“ („Divine Milieu“) zu öffnen. Dabei dient Derridas Begriff der écriture als Paradigma für die Wahrnehmung des „göttlichen Milieus“ als einer Art universalen Textes, in dessen Relationalität alle Subjekte restlos aufgehen (a. a. O., 112ff.). Ob Taylors Begründung seiner Thesen zu überzeugen vermag, erscheint mir zweifelhaft. Denn die von ihm vorgetragenen Betrachtungen vermögen die Beweislast für die propagierte These nicht zu tragen: Taylor referiert Phänomene der Relationalisierung von Identität (z. B. a. a. O., 46ff. mit Verweis auf Hegel und Husserl; a. a. O., 108ff. mit Verweis auf Derrida); aus den referierten ‚identitätstheoretischen Krisenphänomenen‘ allein folgt aber keine Generalthese über die Wirklichkeit von der Art, wie sie von Taylor vorgetragen wird. Die Problematik von Taylors „Erring“ besteht ferner in der Tendenz dieses Werkes, den Gottesgedanken durch das Denken Gottes als „Schrift“ neu konstituieren zu wollen (vgl. zu diesem Problem auch Caputo PT 14), und, so Caputo, den dekonstruktivistischen Gedanken der „Unentscheidbarkeit“ von Atheismus und Theismus durch eine Entscheidung gegen den Theismus zu unterlaufen (vgl. Putt „What do I love when I love my God? An interview with John D. Caputo“, 158). S. u. Abschn. B.2.2. S. u. Abschn. B.2.3. Hart The Trespass of the Sign. Deconstruction, Theology and Philosophy, xxxv.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Arbeit46; Paul Fiddes zeigt, wie dekonstruktivistisches Denken in den Dienst literaturtheologischer und dogmatischer Arbeit gestellt werden kann.47 Die Bewegung der „Radical Orthodoxy“ – der auch Graham Ward angehört – bemüht sich um eine Rekonstruktion bzw. Repristination v. a. mittelalterlicher Philosophie und Theologie in kritischer Auseinandersetzung mit zeitgenössischem – auch dekonstruktivistischem – Denken.48 In der vorliegenden Arbeit soll zunächst Jacques Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ erörtert werden, weil eine Vielzahl bedeutsamer Studien zu Dekonstruktion und Theologie bzw. Religionsphilosophie auf diesen Vortrag rekurrieren.49 B.2.1 Jacques Derrida: „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ B.2.1.1 Zur doppelten Struktur von Derridas Vortrag: „Antwort“ und „Wiederholung“ Es handelt sich bei Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ um einen komplexen und schwierigen Text. Die besondere Her46 47
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S. u. Abschn. B.2.4. In seiner literaturtheologischen Studie zur Eschatologie bezieht sich Fiddes auf die dekonstruktivistischen Gedanken der Kritik von „Gegenwart“ und des Aufschubs von Bedeutung (Fiddes The Promised End. Eschatology in Theology and Literature, 32ff.236ff.). Vgl. Milbank / Ward / Pickstock (Hgg.) Radical Orthodoxy. A New Theology. Ein herausragendes Werk aus der Bewegung der „Radical Orthodoxy“ ist Pickstocks Studie „After Writing“, in der Pickstock das „räumliche“ („spatial“) mit dem liturgischen Subjekt bzw. mit liturgischer Sprache kontrastiert. In der westlichen Geistesgeschichte, so führt sie aus, hat die systematische Überordnung des Schreibens über die Sprache die Verräumlichung und so die Zerstörung von Zeit nach sich gezogen. Zeit wurde in diesem „unliturgischen“ Denken von einem abstrakten Raum kolonisiert, der alles der Unterscheidung von außen und innen, Subjekt und Objekt, aktiv und passiv unterwarf (Pickstock After Writing. On the Liturgical Consummation of Philosophy, 47ff.). Das moderne und das postmoderne Subjekt teilen so das Insistieren auf Autonomie und Selbstidentität (a. a. O., 199). In der Feier des Abendmahls dagegen wird die Gegenüberstellung von Leben und Tod durch das Geben des Todes als Leben überwunden (a. a. O., 263). Vgl. Caputo PT 26ff.; DNJD 92ff.; Carlson I 214ff.; Davies „Soundings. Towards a theological poetics of silence“, 215ff.; Fiddes The Promised End. Eschatology in Theology and Literature, 239ff.; ders. „The quest for a place which is a ‘non-place’: the hiddenness of God and the presence of God“, 41; Hart The Trespass of the Sign. Deconstruction, Theology and Philosophy, 284ff.; Lesch „Wer hat Angst vor Dekonstruktion? Jacques Derridas Herausforderung der Theologie“, 31ff.43f.; Marion „In the Name. How to Avoid Speaking of ‘Negative Theology’“; Taylor „nO nOt nO“, pass.; Valentin Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, 177ff.; Ward BDLT 252ff.; ders. „Deconstructive theology“, 81; ders. Theology and Contemporary Critical Theory, 17; Zeillinger Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida, 156ff.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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ausforderung an seine Interpreten besteht darin, dass dieser Vortrag auf (mindestens) zwei Ebenen zugleich operiert, d. h. auf einer primär inhaltsbezogenen und auf einer primär situationsbezogenen Ebene: Der Ausgangspunkt bzw. die Situation und der Gegenstand des Vortrags ist die gegen Derrida erhobene Anklage, Derrida wiederhole die Strategien negativer Theologie. Diese Verwicklung von Situation und Gegenstand soll in wenigen Sätzen angedeutet werden, damit der Einstieg in Derridas Vortrag erleichtert wird. Besagte Anklage, die gegen Derrida vorgebracht wurde, bestimmt insofern die Situation, als Derrida die Situation des Vortrags als Situation des Antworten-Müssens, des Geboten-Seins einer Antwort (z. B. auf diese Anklage), interpretiert.50 Dem Anderen kann, so Derrida, nie adäquat geantwortet werden, weil der Andere immer fremd und entzogen bleibt. Dieses Entzogensein des Anderen steht wiederum zur Unnennbarkeit Gottes – und insofern zur negativen Theologie – in einem Verwandtschaftsverhältnis. Die Anklage veranlasst weiterhin eine Besinnung auf den Begriff der „Wiederholung“, derer Derrida angeklagt wurde. In seiner Besinnung auf die „Wiederholung“ weist Derrida auf die irreduzible Wiederholbarkeit aller Rede hin. Der Hinweis auf die Wiederholbarkeit der Rede ist nun aber keine allein kritische (oder apologetische) Bewegung. Vielmehr vollzieht Derrida in seiner Besinnung auf diese Wiederholbarkeit eine Wendung von der Kritik zum Aufweis einer positiven Möglichkeit, die jener Wendung analog ist, die bereits in Derridas Text über Austins Sprechakttheorie begegnete; Derrida spricht von einer Gefahr, die glücklicherweise und unglücklicherweise auch eine Chance ist.51 Diese positive Möglichkeit besteht darin, dass die Wiederholung, wenn sie in den Text verwoben wird, die Möglichkeit eröffnet, dass zumindest das Gedächtnis der Fremdheit des Anderen gewahrt wird – eben jener Fremdheit, der mit keiner Antwort adäquat entsprochen werden kann. In diesem Spannungsfeld von Situation und Inhalt, von Kritik auf der einen und dem Aufweis einer positiven Möglichkeit auf der anderen Seite soll im Folgenden der Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ wahrgenommen werden.52 50
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Durch diese Thematisierung wird die Situation des Vortrags, d. h. die Situation des Antworten-Müssens, zu dessen „Sujet“ im doppelten Sinne von „Thema“ und „Anlass“. S. o. Abschn. B.1.2.1 u. B.1.2.2; vgl. auch die Erwähnung einer „Bedrohung“ einer Kontamination in den letzten Sätzen des Vortrags (WNS 109; s. u. S. 47). In der angelsächsischen, „postmodernen“ Religionsphilosophie wurde dieser Text, wie bereits erwähnt, häufig rezipiert (s. o. Anm. 49). Jedoch fehlt hier m. E. durchgehend die Beachtung der besonderen Struktur des Vortrags, insofern der Text als diskursive
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
B.2.1.2 „Antwort“ In seinem Vortrag stellt Derrida sich der an ihn gerichteten Anklage, er „wiederhole“ die Strategien negativer Theologie. Einmal unterstellt – aufgrund einer approximativen Hypothese –, die negative Theologie bestehe darin anzunehmen, jedes Prädikat, ja alle prädikative Sprache, bleibe dem Wesen, in Wahrheit der Überwesentlichkeit Gottes, inadäquat, und infolgedessen könne allein eine negative („apophatische“) Attribution den Anspruch erheben, sich Gott anzunähern, uns auf eine schweigend erfahrene Anschauung Gottes vorzubereiten, so wird man alsdann – über eine mehr oder weniger haltbare Analogie – bestimmte Züge, die Familienähnlichkeit der negativen Theologie wiedererkennen in jedem Diskurs, der in beharrlicher und regelmäßiger Weise bei dieser Rhetorik der negativen Bestimmung Zuflucht zu nehmen scheint und dabei endlos/ziellos die apophatischen Warnungen und Mahnungen vervielfältigt: dies, was X geheißen wird (zum Beispiel der Text, die Schrift, die Spur, die différance, das Hymen, das Supplement, das Pharmakon, das Parergon, und so weiter), dies „ist nicht“ dieses noch jenes, nicht sinnlich noch intelligibel […]. Ich habe soeben mit Absicht Beispiele aufgenommen, die mir nahe und, wie man glauben könnte, vertraut sind. Zweier Gründe wegen. Zum einen hat man mich sehr bald dessen angeklagt […], in einer Landschaft, in der man sich gut auszukennen glaubt, ständig die Vorgehensweisen der negativen Theologie zu wiederholen. (WNS 10f. [Hervorhebung J. S.])
Derrida zeichnet zunächst verschiedene Formulierungen dieser Anklage nach (WNS 13ff.), und trägt dann in zwei Phasen seine Antwort vor.53 In der Ersten dieser beiden Phasen überwiegt eine schroffe Zurückweisung: Nein, das, was ich schreibe, gehört nicht der „negativen Theologie“ an. […] [N]ein, ich würde davor zurückschrecken, das, was ich vorzubringen habe, unter den geläufigen Titeln der negativen Theologie einzuschreiben, genau aufgrund dieser ontologischen Überbietung durch die Hyper-Essentialität, die man genauso bei Dionysius am Werk finden kann wie zum Beispiel bei Meister Eckehart […]. (WNS 16f.)
Diese Zurückweisung entfaltet Derrida wiederum in zwei Schritten. Zunächst stellt er fest, dass die negative Theologie von Axiomen wie dem der „unzerstörbare[n] Einheit des Wortes“ und dem der „Autorität 53
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Erörterung betrachtet wird. Gegen eine Auffassung des Vortrags als einer ‚einstimmigen‘ Entwicklung einer These verwahrt Derrida sich jedoch ausdrücklich in seiner Erwiderung auf Jean-Luc Marions Kritik: „First, Marion constantly refers to what I said about negative theology as if I had a thesis, phrased in one form through a single voice […]. Now I think that if time permitted I could show that my texts are not a thesis on a theme. They have a pragmatic aspect, a performative aspect that would require another kind of analysis.“ (Derrida „Responsevortrag zu: J.-L. Marion, In the Name. How to Avoid Speaking of ‘Negative Theology’“, 43 [Hervorhebungen J. S.]) Die zwei Phasen sind den beiden später im Vortrag erörterten Gestalten der Vielstimmigkeit, der (kritisierten) zentripetalen (s. u. S. 38ff.) Vielstimmigkeit auf der einen und der (befürwortend aufgenommenen) zentrifugalen (s. u. S. 45ff.) Vielstimmigkeit auf der anderen Seite, analog.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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des Namens“ ausgehe, die selbst Gegenstand dekonstruktiver Überprüfung seien (WNS 17). Näherhin verweist er darauf, dass die scheinbaren Negationen in der negativen Theologie durch Affirmationen, durch das Denken einer „Hyper-Essentialität“54 jeweils wieder überboten werden (WNS 18f.; vgl. WNS 80).55 Von solchem hyperessentialistischen bzw. hyperaffirmativen Denken will Derrida das, was die Topoi „différance“, „Spur“ etc. sagen sollen, deutlich unterschieden wissen (WNS 19). Die zweite Phase der Antwort hebt dagegen die Ähnlichkeiten zwischen Dekonstruktion und negativer Theologie hervor, welche durch eine Analyse der Situation des Vortrags aufgespürt werden: Dadurch, dass Derrida von den Bewegungen der negativen Theologie fasziniert gewesen war und doch eine Identifizierung von negativer Theologie und Dekonstruktion stets zurückgewiesen hatte, wurde es ihm „geboten“, von der negativen Theologie zu sprechen – und an diesem ‚Gebotensein‘ selbst knüpft Derrida in seiner ‚Stellungnahme‘ zur negativen Theologie an.56 So wie ich immer fasziniert gewesen bin von den der negativen Theologie zugesprochenen Bewegungen, die zweifellos niemals fremd sind gegenüber der Erfahrung der Faszination überhaupt, so galt, was auch immer ich unternahm, um die Angleichung eines Denkens der Spur oder der différance an irgendeine negative Theologie zurückzuweisen, meine Antwort einem Versprechen/einer Verheißung gleich: eines Tages wird es geboten sein aufzuhören zu vertagen, eines Tages wird es geboten sein zu versuchen, sich direkt zu diesem Sujet zu erklären und endlich von der „negativen Theologie“ selbst zu sprechen – einmal angenommen, eine solche Sache existierte. (WNS 24f.)
Diese situative Gegebenheit, welche darin besteht, dass Derrida meinte, auf die von einem Anderen gegen ihn vorgebrachte Anklage antworten zu müssen, führt zu einer Betrachtung des Versprechens gegenüber dem Anderen. Diese Betrachtung ist wiederum zuinnerst mit der negativen Theologie selbst verbunden. Das Bindeglied zwischen der Situation des Vortrags und der negativen Theologie ist die Situation eines vorgängigen Müssens, gegenüber welchem das „Sub54
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56
Das Denken einer „Hyper-Essentialität“ zeichnet sich dadurch aus, dass „jenseits aller positiven Prädikation, jenseits jeglicher Verneinung, jenseits gar noch des Seins, irgendeine Überwesentlichkeit, ein Sein jenseits des Seins zurückbehalten“ zu werden scheint (WNS 17; zu der hier angesprochenen Sequenz von affirmativer und negativer Theologie und dem, was jenseits dieser beiden ist, vgl. WNS 39f.; s. u. Exkurs 1), dass also zwischen dem Sein und dem Jenseits des Seins ein ausreichend homologer oder analoger Bezug aufrechterhalten wird (WNS 61; vgl. hierzu auch Derridas Kritik an Levinas’ Denken einer „analogischen Kontinuität“ [s. u. Anm. 60]). Dem entspricht die Zurückweisung einer zentripetalen Vielstimmigkeit, in der die Vielfalt der Stimmen von einem Zentrum kontrolliert wird (s. u. S. 45ff.). Vgl. zum ‚Gebotensein‘ („il faut“) auch WNS 23f.30.46, ferner Derridas Rede vom „Geheiß“, das verpflichtet (WNS 56).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
jekt“57 immer „zu spät“ kommt. Hier deutet sich erneut das Ineinander von Sujet und Situation des Vortrags an. Noch bevor ich begann, diesen Vortrag vorzubereiten, wußte ich, daß ich über die „Spur“ zu sprechen wünschte in ihrem Bezug zu dem, was man, mitunter mißbräuchlich, die „negative Theologie“ nennt. Genauer, ich wußte, daß in Jerusalem ich es würde tun müssen. Doch wie verhält es sich hier mit einem solchen Müssen? Und wenn ich sage, ich wußte, es tun zu müssen – ein Müssen vor dem ersten Wort, ist das möglich? –, bei der man einige Mühe haben dürfte mit der Situierung, und dies wird vielleicht heute mein Thema sein. (WNS 9)58
Den Gedanken der Unmöglichkeit der adäquaten Antwort entfaltet Derrida im Horizont einer Besinnung auf den Begriff des „Versprechens“, welches dem Reden vorausgeht, und auf welches die Rede gleichwohl angewiesen bleibt. Ich werde also von einem Versprechen, aber auch im Versprechen sprechen. Die Erfahrung der negativen Theologie hängt vielleicht an einem Versprechen, dem des anderen, das ich halten muß, weil es mich verpflichtet, da zu sprechen, wo die Negativität die Rede in ihre absolute Verknappung führen müßte. […] Wenn folglich ich vom Versprechen spreche, werde ich ihm gegenüber keine metasprachliche Distanz einhalten können. Die Rede über das Versprechen ist im voraus ein Versprechen: im Versprechen. Ich werde also nicht von diesem oder jenem Versprechen sprechen, sondern von genau dem, das uns so notwendig wie unmöglich mit seiner Spur in die Sprache einschreibt – vor der Sprache. Sobald ich den Mund öffne, habe ich bereits versprochen, oder eher noch, früher noch, das Versprechen hat das ich ergriffen, welches verspricht, zum anderen zu sprechen, etwas zu sagen, durch das Sprechen zu bejahen oder zu bestätigen – an der äußersten Grenze zumindest dies: daß man schweigen müßte, und zwar schweigen von dem, was man nicht sagen kann.59 Man könnte es im voraus wissen. Dieses Versprechen ist älter als ich. (WNS 28f.; vgl. WNS 23)
In der Rede vom „Anderen“, gegenüber dem zu schweigen sei, klingt ein Motiv an, das bei Levinas60 eine prominente Rolle spielt: Dem 57
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Der Begriff des „Subjekts“ selbst steht bereits in Spannung mit dem hier Darzustellenden; ich setze diesen Begriff – ebenso wie den Begriff „Maxime“ (s. u. S. 37) – in Anführungszeichen, um diese Spannung anzuzeigen. Später greift Derrida diesen Gedanken erneut auf: „De facto habe ich im Moment des Versprechens, eines Tages von der negativen Theologie zu sprechen, bereits begonnen, es zu tun. Aber dies ist nur das verworrene Anzeichen einer Struktur, die ich später analysieren möchte. Bereits versprochen habend, gleichsam wider Willen, wußte ich nicht, wie ich dieses Versprechen würde halten können.“ (WNS 26) Diese Anspielung an Wittgensteins zuvor zitierten (WNS 23) Paragraph 7 des Tractatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus, 85) kommt der Auffassung dieser Sentenz durch Blanchot sehr nahe: „Le ‚mysticisme‘ de Wittgenstein, en dehors de sa confiance dans l’unité, viendrait de ce qu’il croit que l’on peut montrer là où l’on ne pourrait parler. Mais, sans langage, rien ne se montre. Et se taire, c’est encore parler. Le silence est impossible. C’est pourpuoi nous le désirons. Écriture (ou Dire) précédant tout phénomène, toute manifestation ou monstration: tout apparaître.“ (Blanchot L’écriture du désastre, 23; vgl. Carlson I 227 Anm. 36).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Anderen gegenüber müsste man schweigen, weil dies die einzige Art und Weise wäre, dessen Inkommensurabilität zu achten.61 Mit dem Anderen zu reden, beinhaltet stets die Gefahr, dass der Andere der Sprache untergeordnet und seine Einzigartigkeit missachtet wird. Vor einem jedem Sprechen mit dem Anderen – sofern das Sprechen im eigentlichen Sinne als Sprechen mit dem Anderen zu gelten beanspruchen können soll – muss daher das Eingeständnis ‚stattgefunden‘ haben, dass der Andere in der Intelligibilität der gemeinsam verwendeten Sprache nicht aufgeht62, dass der Andere stets fremd bleibt.63 Das 60
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Das differenzierte Verhältnis von Derrida und Levinas kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend erörtert werden. Da Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ jedoch Levinas’sche Gedanken aufgreift, sind wenigstens einige Bemerkungen zu Derridas Kritik an Levinas in seinem frühen Aufsatz „Gewalt und Metaphysik“ anzubringen. Derridas Kritik an Levinas richtet sich vor allem auf den Begriff des „Unendlichen“ in Levinas’ „Totalität und Unendlichkeit“: Das Unendliche, das im Angesicht des Anderen gleichsam phänomenalisiere, sei, so Derrida, bei Levinas als „positive Fülle“ gedacht; es bestehe eine analogische Kontinuität zwischen Gott und dem Angesicht des Anderen, die nur über die Analogie des Seins vermittelt werden könne (SD 165.216f.; vgl. hierzu auch Ward BDLT 185; Caputo AE 18.63.123ff.; PT 20f.). Da Levinas’ Denken auf diesen ontologischen Voraussetzungen aufruht, wird seine Arbeit in dasselbe Denken eingeschrieben, über das Levinas hinausschreiten wollte. Diese Kritik Derridas an Levinas bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Levinas’sche Denkprojekt von Derrida für gescheitert erklärt würde. Vielmehr ist das Interesse, das Derrida in seiner Lektüre von Levinas’ Text offen legt, identisch mit dem leitenden Thema von „Wie nicht sprechen. Verneinungen“: Levinas und Derrida ringen beide mit der Frage, wie von etwas geredet werden kann, das in der überkommenen philosophischen Begrifflichkeit, ja überhaupt in der überkommenen Sprache nicht ausgedrückt werden kann, weil die von der philosophischen Begrifflichkeit bzw. von der Sprache transportierten Auffassungen (v. a. das Denken des „Außen-Innen“ [vgl. SD 136f.172]) dem Zur-Sprache-Bringen des zu Sagenden ständig zuwiderlaufen (vgl. SD 122.169.182). Derrida würdigt Levinas’ intensive Bemühungen um eine Sprache bzw. Schreibweise (vgl. SD 139.146.226), die, u. a. (wie auch die Sprache Derridas) mit Negationen (von Negationen) operierend (vgl. SD 139; vgl. Derrida „Eben in diesem Moment findest du mich“, 53), um eine solche unmögliche Konstitution von Bedeutung ringt (s. u. S. 51f.). M. E. kann Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ als eine Fortführung eben dieses Ringens um Sprache aufgefasst werden. Vgl. zum Schweigen und zur Antwort bzw. „Nicht-Antwort“ auch Derridas Nachruf auf Levinas (Derrida Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, 145f.). Die Theorie des polyphonen Romans, die im Laufe dieser Arbeit mit den hier referierten Einsichten Derridas in Zusammenhang zu bringen ist (s. u. Abschn. B.3 und C.1.1.2), gründet in einer ähnlichen Wahrnehmung der Nicht-Verobjektivierbarkeit des Menschen: „Im Menschen ist immer etwas, was nur er selbst im freien Akt der Selbsterkenntnis und der Rede darlegen kann, was nicht einer veräußerlichenden, in seiner Abwesenheit getroffenen Bestimmung unterliegt.“ (Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 66) Diesen Gedanken hat Caputo in seiner Studie „Against Ethics“ sehr prägnant formuliert: „By the time one has said that something is ineffable, or that one cannot say a thing
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Versprechen, gegenüber dieser Erkenntnis treu zu bleiben, muss jedem Sprechen vorausgehen, so die Inkommensurabilität des Anderen geachtet werden soll. Denn im Sprechen ist es immer schon zu spät; wenn das Sprechen begonnen hat, ist die verhängnisvolle Subsumption des Einzelnen unter ein konventionelles System bereits im Gang. Dieser Schweigen geheißende Vorbehalt angesichts der Unfähigkeit der Sprache, dem Anderen in seiner Andersartigkeit gerecht zu werden, gilt unabhängig davon, in welchem Maße auch immer die sprachliche Verständigung gelingt oder zu gelingen scheint.64 Die Situation des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ ist also davon geprägt, dass der Sprecher zur Antwort herausgefordert ist, zur Rechenschaft gegenüber dem Anderen bzw. zur Antwort auf den „Ruf“ des Anderen. Diese Antwort ist insofern unmöglich, genauer: diese Antwort wird insofern von einem irreduziblen Moment des Unmöglichen heimgesucht, als die Antwort gegenüber dem vorgängigen und inkommensurablen „Ruf des anderen“65 immer verspä64
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thing, one has already been speaking for some time and one has already said too much.“ (AE 75) Die Verspätung ist dadurch bedingt, dass, wie bereits angedeutet, die in der Sprache transportierten und das Denken normierenden (mit Barthes zu sprechen: „faschistischen“) Muster bereits in jeder Sprache enthalten sind, also auch in jeder Sprache, die sich kritisch zu diesen verhalten will. Die Intention poststrukturalistischen Denkens ist es, dieser Macht der Sprache entgegenzutreten (vgl. Sexl „Formalistisch-strukturalistische Theorien“, 170). Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen erschließt sich eine spätere Passage des Vortrags, in der explizit vom „Ruf des anderen“ (also von einem Topos, der bei Levinas von fundamentaler Bedeutung ist) die Rede ist: „In dem Moment, wo die Frage ‚wie nicht sprechen?‘ (how to avoid speaking?) sich stellt und sich in allen ihren Modalitäten artikuliert, mag es sich um die logisch-rhetorischen Formen des Sagens oder um die einfache Tat, daß man spricht, handeln, ist es bereits, wenn man das sagen kann, zu spät. Es stellt sich gar nicht mehr die Frage, nichts zu sagen. Selbst wenn man spricht, um nichts zu sagen, selbst wenn eine apophatische Rede sich des Sinns oder des Gegenstands benimmt, findet sie Statt. Das, was diese eingeleitet/verpflichtet (engagé) oder möglich gemacht hat, hat Statt gefunden. […] Dieser Ruf des anderen, der stets bereits dem Sprechen vorangegangen, dem er also niemals ein einziges Mal gegenwärtig gewesen ist, er kündigt sich im voraus an als ein Rückruf.“ (WNS 52f.) Vgl. zum Gedanken einer in der Gegenwart nicht aufgehenden Vergangenheit auch Levinas: „[Die Verantwortung] ist Spur einer Vergangenheit, die sich der Gegenwart und der Vorstellung verweigert, Spur einer unvordenklichen Vergangenheit: Gerade durch das Gute ist die Verpflichtung zur unaufhebbaren, unumkehrbaren, unwiderlegbaren, auf keine Wahl zurückgehenden Verantwortung keine Gewalt, Gewalt, die einer Wahl zuwiderlaufen würde […]. Es ist ein Wert, der sich nie als Thema anbietet, der weder gegenwärtig ist noch vorgestellt wird und der älter ist als das Prinzip, weil er sich nicht thematisieren läßt und nicht anfängt. In einer unvordenklichen Vergangenheit ohne Gegenwart ist er durch die Ambiguität und Antiquität der Spur [dennoch] nicht-abwesend.“ (Levinas Humanismus des anderen Menschen, 77f.)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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tet bleibt. Der Sprechende spricht immer bereits im Rückruf an den in der Antwort nicht einholbaren Ruf des Anderen. Gegenwärtig ist der Andere nur als Spur, daher muss nun aber die Spur des Anderen, die ständig vom Verlust bedroht ist, unbedingt bewahrt werden. Der Gedanke, die Spur des Anderen sei zu wahren, führt den Vortrag über die negative Theologie zu einer Neubesinnung auf den Begriff der „Wiederholung“, die paradoxerweise zugleich ‚Gefahr und Heilung‘ ist, da sie es ermöglicht, die Erinnerung an das zu wahren, das in der Sprache nicht aufgehen kann. Anwesend ist die Einzigartigkeit lediglich als „Spur“ bzw. als „Asche“66, als das, das durch die Wiederholung dazu gebracht wurde, sich auszustreichen, und so im Modus des Ausgestrichenen negativ kraft der Wiederholung gegen die nivellierende Tendenz der Wiederholung besteht. Dieses stets vorausgesetzte Ereignis, dieses einzigartige Statt-gefunden-haben, das ist denn auch für jede Lektüre, jede Interpretation, jede Poetik, jede Literaturkritik dieses, welches man geläufig das Werk nennt: zumindest das bereits-da eines Satzes, die Spur eines Satzes, dessen Einzigartigkeit irreduzibel und dessen Referenz unerläßlich bleiben sollte in einem gegebenen Idiom. Eine Spur hat Statt gefunden. Selbst wenn die Idiomatizität notwendig verlorengehen oder sich kontaminieren lassen muß durch die Wiederholung, die ihr einen Code und eine Intelligibilität bewahrt, selbst wenn sie es nur dahin bringt, sich auszustreichen, wenn sie nur im Ausgestrichen-werden ankommt, wird die Ausstreichung Statt gefunden haben, und wäre es durch Asche. Es gibt da Asche. (WNS 54f.)67
Die „Spur“ ist der Modus eines ‚Gegenwärtigseins‘, das nicht durch die sprachliche Repräsentation einem die Einzigartigkeit nivellierenden (Sprach)System subsumiert wird. Asche als eine oder die Gestalt der Spur erinnert im Modus der ostentativen Nichtrepräsentation an das Unrepräsentierbare, welches unvermeidlich durch die geregelte Sprachverwendung, durch den Code kontaminiert wird, und sich doch erfolgreich gegen die Einverleibung in die Sprache zur Wehr setzt: 66
67
Der Herausgeber von „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ verweist in einer Anmerkung zu der im Folgenden zitierten Passage (ohne Seitenbeleg) auf Derridas Schrift „Asche und Feuer“ (vgl. WNS 122 Anm. 25). Tatsächlich findet sich auch hier der Gedanke einer Einzigartigkeit, die den Verlust überdauert: „Wer ist Asche? Wo ist sie? Wo treibt sie sich zu dieser Stunde herum? Wenn der Gleichklang den Eigennamen im Allgemeinbegriff zurückhält, dann war genau da die Asche, wo eine Person verschwunden ist, aber ein Ding da ist, das die Spur bewahrt und zugleich verliert. Das ist die Asche: das, was bewahrt, um gerade nichts zu bewahren, wobei es den Rest der Verschwendung weiht; und das ist nicht mehr jemand, der verschwunden ist und da Asche hinterläßt, sondern nur sein Name, der aber unleserlich ist.“ (Derrida Asche und Feuer, 17.19) Den Gedanken einer „Einzigartigkeit eines idiomatischen Ereignisses“ spricht Derrida – in Konfrontation mit der „geregelten Allgemeinheit eines Schemas“ – auch in seinem Aufsatz Chǀra an (Ch 134).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Wenn die aus Wiederholungen konstituierte Sprache das Einzigartige nicht ausdrücken kann, dann kann das Einzigartige nur als die Spur phänomenalisieren, die bleibt, wenn die Sprache sich selbst (als einheitliches System) ausgestrichen hat. Ebendies geschieht durch die (differente) Wiederholung bzw. durch die Vielstimmigkeit. Dieses inmitten der Selbstzerstörung von Sinn Sinn generierende Potential der Wiederholung gilt es nun näher zu erläutern. B.2.1.3 „Wiederholung“ B.2.1.3.1 Wiederholung als Gefahr und Chance Bevor der Gedanke der Wiederholung selbst erörtert werden kann, soll die argumentative Verbindung des Gedankens der „Wiederholung“ mit dem bislang Erörterten verdeutlicht werden. Der Begriff „Wiederholung“ stellt einen zweiten Strang des Vortrags dar: Derrida sieht sich (u. a.) mit der Anklage konfrontiert, er wiederhole Strategien der negativen Theologie. Seine Analyse der Formulierung dieser Anklage zieht sich durch den gesamten Vortrag. Der letzte Satz der betreffenden Passage, auf die bereits eingegangen wurde68, sei zur Erinnerung nochmals zitiert: […] Zum einen hat man mich sehr bald dessen angeklagt […], in einer Landschaft, in der man sich gut auszukennen glaubt, ständig die Vorgehensweisen der negativen Theologie zu wiederholen. (WNS 10f. [Hervorhebung J. S.])
Die Wiederholung ist für die negative Theologie ebenso bedeutsam wie für Sprache als solche; eine Gemeinsamkeit, in der eine, vielleicht gar die entscheidende Verbindung zwischen der negativen Theologie und dem Denken Derridas begründet liegt. Derrida legt dar, dass die negative Theologie immer davon gefährdet ist, in eine mechanische Wiederholung ihrer selbst zu entarten. Die negative Theologie würde sich, so Derrida, (nur) durch das Gebet gegen diese Gefahr einer mechanischen Wiederholung sichern können; das Gebet könnte als Anrede an den Anderen die „Eigentlichkeit“ bzw. Ursprünglichkeit der negativen Theologie wahren. Nun verhält es sich aber so, dass auch das Gebet – so wie jede Sprache – zitierbar und wiederholbar ist. Ich werde gleich versuchen zu zeigen, worin sie [die negative Theologie] zumindest den Anspruch erhebt, sich nicht mit einer dem Simulakrum und der Parodie, der mechanischen Wiederholung ausgesetzten Technik verwechseln zu lassen. Sie würde ihr durch das Gebet entgehen, das den apophatischen Aussagen vorausgeht, und durch die 68
S. o. S. 30.
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Adresse an den anderen, an dich, in einem Moment, der nicht nur die Präambel oder die methodische Schwelle der Erfahrung ist. Natürlich lassen sich auch das Gebet, die Anrufung, die Apostrophe nachahmen, ja sie bieten sich sogar – wie widerwillig auch immer – als geeignet an für die auf Wiederholung aufbauende Technik. Ich werde zum Schluß auf diese Gefahr, die glücklicherweise und unglücklicherweise auch eine Chance ist, zurückkommen.69 Doch wenn die Gefahr unvermeidlich ist, so darf sich die Anklage, die sie sich zuzieht, nicht auf die Apophatik der negativen Theologie begrenzen. Sie kann auf alle Sprache, ja auf alle Bekundung überhaupt ausgedehnt werden. Die Gefahr ist eingeschrieben in die Struktur der Marke/der Markierung. (WNS 12)
An dieser Stelle ist das soweit Dargestellte kurz zusammenzufassen. Die Anklage, Derrida wiederhole die Strategien negativer Theologie, durchwebt in (mindestens) zweierlei Gestalt – und auf mehreren Ebenen – den gesamten Text: Erstens sieht Derrida sich durch diese Anklage „des“ Anderen zu einer Rechenschaft über „Wiederholung“ und „negative Theologie“ herausgefordert, die an entscheidender Stelle auf das „Gebet“ rekurriert. Zweitens ist Derridas Versuch der Rechenschaft gegenüber dieser Anklage, sein Versuch, diese Pflicht zur Rechenschaft zu erfüllen, von derselben Verspätung heimgesucht, wie ein jeder Versuch, die Authentizität der negativen Theologie vermittels des Gebets zu sichern: Die Verpflichtung im Angesicht des Anderen bleibt immer unerfüllbar, weil jede „Antwort“ den Anderen der Sprache unterwirft. Gibt es aber weder eine unmittelbare Berührung mit dem Anderen noch eine Sicherung der Authentizität der (negativen) Theologie (noch irgendeiner anderen Rede), dann bleibt allein die Möglichkeit, die Sprache offen zu halten für das (den) Andere(n), indem verhindert wird, dass Sprache und Denken sich in sich selbst verschließen. Nur so kann die Spur geachtet werden, als die der Andere allein gegenwärtig sein kann.70 Das dekonstruktivistische Verfahren besteht daher darin, der „Maxime“ „mehr als eine Sprache“71 folgend nach einer Vervielfältigung der Rede zu suchen, welche verhindert, dass die Rede sich gegen den Einbruch des Anderen immunisiert und so zu einer ewigen Wiederholung ihrer selbst entartet. Das Antidot gegen Wiederholung, die sich anschickt, Alterität zu verschlingen, ist also nicht die Vermeidung der Wiederholung, sondern die exzessive Inszenierung der Wiederholung. Diese manifestiert sich in vielstimmiger Rede, d. h. genauer: in einer zentrifugalen Vielstimmigkeit, die von
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S. u. S. 46f. Zu diesem Gedanken der Gefahr der Mechanizität der Struktur der „Marke“ bzw. des Zeichens s. o. Abschn. B.1.2.2. Vgl. Derrida Mémoires. Für Paul de Man, 31f. (s. o. Abschn. B.1.1).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
einer zentripetalen Vielstimmigkeit zu unterscheiden ist.72 Dies ist nun darzulegen, indem Derridas Gedanke der Vielstimmigkeit als einer Konsequenz der Wiederholbarkeit nachvollzogen wird. Abstrakt gesprochen stellt sich, soviel sei vorweggenommen, der Zusammenhang von „Wiederholung“ und „Vielstimmigkeit“ wie folgt dar: „Wiederholung“ bedeutet, dass einer vermeintlich originären, selbstidentischen Stimme weitere Stimmen an der Seite stehen, die die vermeintlich originäre Stimme „wiederholen“, jedoch so, dass sie das ursprüngliche innere Gespaltensein der vermeintlich originären Stimme exponieren.73 Vielstimmigkeit ist das Verfasstsein der Sprache, in dem auseinander hervorgehende und doch „heterogene“ Stimmen in bedeutungskonstitutiver Art und Weise zusammen, genauer: gegeneinander klingen. B.2.1.3.2 Vielstimmigkeit als zentripetale Sprachenvielfalt Die dezentrierende Wirksamkeit der Wiederholung verdeutlicht Derrida, indem er drei Paradigmen negativer Theologie betrachtet: Ein griechisches (Platon, WNS 55ff.), ein christliches, welches „nicht aufhört, griechisch zu sein“ (Pseudo-Dionysius, WNS 71ff.), und eines, das weder griechisch noch christlich ist (Heidegger, WNS 94ff.).74 Innerhalb dieser Betrachtung arbeitet er zwei verschiedene Arten von Vielstimmigkeit heraus. In seinen Lektüren zum ersten Paradigma betrachtet Derrida zwei verschiedene Tropiken der Negativität (WNS 59). Der Begriff „epekeina tes ousias“, des „Jenseits des Seins“ in Platons Politeia geht, so Derrida, von Annahmen über die Integrität des Seins aus, die gerade zu der Art von Annahmen gehören, mit deren Überprüfung Dekonstruktion den Anfang machen müsste (WNS 58). Denn die Negationen stehen in dieser Tropik der Negativität im Dienst einer hyperessentialistischen Affirmation, deren Gültigkeit selbst zur Disposition zu stellen wäre. In den Umschreibungen der χρα im Timaios hingegen sind zwei Sprachen am Werke, von deren ersteren dies ebenfalls gilt, von deren zweiten jedoch nicht. Die erste Sprache hebt ihre eigenen Negatio72
73 74
Diese Unterscheidung erinnert an Bachtins Ausführungen zu den zentripetalen und zentrifugalen Kräften der Sprache. Während jedoch Bachtin diese Kräfte in den faktischen Gesetzmäßigkeiten des sozialen bzw. politischen Lebens ansiedelt (zentripetal wirken die Kräfte „ideologischen Lebens“, zentrifugal wirken die der Einheitssprache entgegengesetzten, differenzierenden Kräfte [vgl. Bachtin Die Ästhetik des Wortes, 164ff.]), richtet sich Derridas Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten von Sprache überhaupt. S. o. Abschn. B.1.2. Auf Derridas Ausführungen zu Heidegger gehe ich in der folgenden Darstellung nicht ein, da sie den Gedanken m. E. nicht entscheidend voranbringen.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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nen auf und reintegriert die Rede in die Ontologie; die vermeintliche Mehrstimmigkeit kollabiert so in Einstimmigkeit. Die eine dieser Sprachen vervielfältigt sicher die Verneinungen, Mahnungen, sich in acht zu nehmen, die Vermeidungen, die Umwege, die Wendungen/Tropen, doch in der Absicht, das Denken der khora in das Eigentum der Ontologie und der platonischen Dialektik in ihren dominantesten Schemata zurückzuführen. (WNS 65)75
Dies äußert sich darin, dass von der khora in dieser Sprache zwar gesagt wird, sie sei weder intelligibel noch sinnlich, dass in dieser Sprache aber zugleich von ihr gesprochen wird, als ob sie ein Gemischtes sei. Daher kommt es zu einer Vervielfältigung der Figuren bzw. Metaphern, in denen (positiv) von der khora gesprochen wird. Bei dieser Vervielfältigung handelt es sich um die Multiplikation der Redefiguren, nicht aber um eine Auffächerung bzw. Auffaltung der Rede in heterogene Stimmen. Das weder – noch wird mit Leichtigkeit ein sowohl – als auch, dieses und jenes zugleich. Daher die Rhetorik des Übergangs, die Vervielfältigung der Figuren, die man traditionell als Metaphern interpretiert: Gold, Mutter, Amme, Sieb, Behältnis, Abdruckträger, und so weiter. (WNS 66)76
Die andere Sprache bzw. Geste spricht von der khora so, dass in den Gedanken der khora ein „irreduzibler Zwischenraum“ eingeschrieben wird, ein irreduzibles „weder – noch“, so dass es nicht mehr möglich ist, khora im Rahmen einer übergeordneten Ontologie zu reartikulieren oder in Metaphern von der khora zu sprechen. Das weder – noch läßt sich nicht mehr in ein sowohl – als auch zurückverwandeln. Von nun an wären besagte „Metaphern“ nicht nur inadäquat, weil sie den in die khora eingeschriebenen sinnlichen Formen Figuren entleihen, die ohne Trefflichkeit sind, um die khora selbst zu bezeichnen. Sie wären keine Metaphern mehr. Wie die gesamte Rhetorik, die deren systematisches Netz bildet, ist der Begriff der Metapher aus dieser platonischen Metaphysik hervorgegangen, aus der Unterscheidung des Sinnlichen und des Intelligiblen, aus der Dialektik und dem Analogismus, den man zusammen mit ihr vererbt bekommt. (WNS 67)
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Die Schreibweise „khora“ ist der französischen Transskription von χρα entlehnt. In der Übersetzung von Derridas späterem Aufsatz „Chǀra“ hingegen haben die Herausgeber sich für die Schreibweise „chǀra“ entschieden. Die vorliegende Arbeit verwendet der Einfachheit halber – abgesehen von Zitaten aus dem Text „Chǀra“ – die Schreibweise „khora“. Vgl. Tim. 48eff. – In seinem Aufsatz Chǀra verweist Derrida darauf, dass beinahe alle Interpreten des Timaios „ohne jede Beunruhigung“ von Metaphern, Bildern und Vergleichen sprechen, obgleich diese doch auf der Unterscheidung von Sinnlichem und Intelligiblem beruhen, die durch den Gedanken der khora gerade in Frage gestellt werden soll (vgl. Ch 128, vgl. ferner Ch 133f.142f. zur Metaphorik von „Mutter“ und „Amme“ in der Rede von der khora).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Diese Spannung zweier Stimmen, einer (letztlich) affirmativen und einer (irreduzibel) negativen, verdeutlicht Derrida durch seine Lektüre von Pseudo-Dionysius und Meister Eckhart. Um den Unterschied hervorzuheben, verwende ich im Folgenden die Unterscheidung zwischen einer „zentripetalen“, d. h. einer entvielfältigenden Vielfalt von Stimmen auf der einen und einer „zentrifugalen“, d. h. einer irreduziblen vervielfältigenden Vielfalt von Stimmen. Zunächst spürt Derrida das bereits angesprochene hyperessentialistische Moment im Denken von Pseudo-Dionysius und Meister Eckhart auf; später wird deutlich, dass in Pseudo-Dionysius’ Schrift „Über die Mystische Theologie“ eine zentrifugale Vielstimmigkeit am Werke ist, die dieser zentripetalen Vielstimmigkeit zuwiderläuft.77 Die zuerst zu betrachtende zentripetale Vielstimmigkeit ist dadurch charakterisiert, dass die negierende Stimme im Dienst einer hyperaffirmativen Stimme steht: Das Prinzip des Guten ist jenseits des Seins, aber es transzendiert auch das Gute (680b78). Gott ist das Gute, welches das Sein transzendiert. Diese „Logik“ ist auch die des „ohne“, auf die wir gerade zu sprechen kamen in den Zitaten des Meister Eckehart, der den heiligen Augustin („Gott ist weise ohne Weisheit, gut ohne Gutheit, gewaltig ohne Gewalt“) […] zitiert. In der Negativität ohne Negativität dieser Aussagen über eine Transzendenz, die nichts anderes und alles andere ist als das, was sie transzendiert, dürften wir das Prinzip der Entvielfältigung der Stimmen und der Diskurse, der Entaneignung und Wiederaneignung von Aussagen erkennen können, bei dem die fernsten die nahesten erscheinen und umgekehrt. Ein Prädikat kann stets ein anderes Prädikat verdecken, ja sogar die Blöße einer Abwesenheit jeglichen Prädikats, so wie der – mitunter unerlässliche – Schleier einer Bekleidung imstande ist, zugleich zu verheimlichen und genau dieses sichtbar zu machen, was er verheimlicht, und es so im selben Zug anziehend macht. Dadurch genau kann die Stimme einer Aussage eine andere verdecken, die sie nur zu zitieren scheint, ohne sie zu zitieren, indem sie sich selbst als eine andere Gestalt, als ein Zitat der anderen darstellt. (WNS 80)79 77 78
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S. u. S. 45ff. Derrida bezieht sich auf die folgenden Sätze aus „Die Namen Gottes“: „Und nun wollen wir zuerst […] den […] Namen ‚der Gute‘ [γαωνυμ αν; S. 138 Z. 2] betrachten, nachdem wir die erzgütige und übergute und alle ihre gütigsten Vorsehungsakte offenbarende Dreifaltigkeit angerufen haben. Es geziemt sich nämlich, daß wir zuerst mit unseren Gebeten zu ihr als Prinzip der Güte hingeführt werden [π’ ατν ς γααρχ αν νγεσαι; S. 138 Z. 4f.] und uns ihr in höherem Grade nähern und hierbei in die sehr gütigen Gaben, die sich bei ihr gründen, eingeweiht werden. Denn sie selbst ist zwar allem nahe, nicht alles aber ist ihr nahe. […] Sie selbst nämlich existiert nicht an einem Ort, so daß sie von irgend etwas abwesend wäre oder von den einen zu den anderen Dingen ginge.“ (DN 680b; S. 138 Z. 1-10) Vgl. zum Motiv des „Schleiers“ und des „Verschleierns“ auch WNS 21.35f. – Bei Meister Eckhart heißt es: „Sant Augustinus sprichet: got ist wîse âne wîsheit, guot âne güete, gewaltic âne gewalt.“ (Meister Eckharts Predigten, Die deutschen Werke, DW I, 147)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Das „ohne“, welches eine verborgene Affirmation darstellt, vergleicht Derrida mit einem Schleier, der ein Prädikat – z. B. das Prädikat „Sein“ – nur verheimlicht, um es anziehend zu machen, und es eben dadurch affirmiert, statt es zu negieren.80 Diese Entvielfältigung der Stimmen ist dadurch bedingt, dass das Gebet einen stabilen Referenten voraussetzt, auf den es ausgerichtet ist, einen Referenten, der nur verschleiert wird, um affirmiert zu werden. Die Negationen in der Rede, welche Gegenstimmen zu sein scheinen, werden auf diese Weise in Meister Eckharts Schrift einem einheitlichen Redeziel und -duktus untergeordnet. So legt Derrida dar, dass Meister Eckhart Stimmen wie Schalen oder Felle über seine eigene Stimme legte, nur um sie dann wieder abzuziehen. Ohne eigens von den Argumenten zu sprechen, die er gegen seine inquisitorischen Richter zu entwickeln hatte („Sie bewerten alles als Irrtum, was sie nicht verstehen …“), setzte die Strategie seiner [Meister Eckharts – J. S.] Predigten die Vielfältigkeit der Stimmen und Schleiern, die er wie Schalen oder Felle darüberlegte oder wegzog, ins Werk und thematisierte und erforschte so selbst eine Quasi-Metapher bis zu dieser äußersten Enthüllung, bei der man niemals sicher ist, ob sie die Blöße Gottes sehen läßt oder die eigene Stimme des Meister Eckehart hören läßt. Quasi stella matutina, die den Kölner Richtern soviele Vorwände liefert, stellt vierundzwanzig Meister – vereint, um von Gott zu sprechen – zur Schau (Liber 24 philosophorum des Pseudo-Hermes Trismegistos). Eckehart wählt eine ihrer Behauptungen aus: „daß Gott etwas ist, das notwendig über dem Sein sein muß … (got etwaz ist, daz von nôt über wesene sîn muoz).“ (I, 195) Indem er auf diese Weise von dem spricht, wovon einer dieser Meister spricht, kommentiert er mit einer Stimme, bei der nichts mehr zu entscheiden gestattet, daß es nicht die seinige ist. (WNS 81f.)81
80 81
Vgl. zu dieser Verwendung des „ohne“ WNS 18.15.17.39f. Literaturtheoretisch ließe sich dieses Phänomen einer irreduziblen Verwobenheit eigener und fremder Rede als jene Gattung der „hybriden Konstruktion“ bezeichnen, in der die fremde Rede „ohne irgendwelche formalen Merkmale der fremden – direkten oder indirekten – Rede“ eingeführt wird (Bachtin Die Ästhetik des Wortes, 194), so dass ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten angehört (a. a. O., 195; vgl. a. a. O., 213.244). – Ein vergleichbares Phänomen „geschichteter“ Rede beobachtet Derrida in Platons Timaios. Derrida zeigt hier eine sich gemäß einer „Verschachtelung von Diskursen narrativen Typs“ (Ch 148) entfaltende Inszenierung, die „von einer Reihe fiktionaler Relais“ (Ch 150f.) getragen wird, die auf insgesamt sieben Instanzen der textuellen Fiktion siedelt: Im Timaios (F[iktionsebene] 1) wird die am vorangegangen Tag stattgehabte Unterhaltung rekapituliert (F 2), innerhalb derer eine Zusammenfassung der Eigenschaften des idealen Staates versucht wurde (F 3; vgl. Ch 158f.; Derrida verweist auf Tim. 17a-19b). Jedoch schreitet der Diskurs an dieser Stelle nicht, wie zu erwarten wäre, endlich zur Wirklichkeit vor (Ch 160); vielmehr erklärt sich der junge Kritias bereit (F 4), den Bericht von einer Erzählung zu geben, deren Inhalt allerdings wiederum der Bericht einer Erzählung des alten Kritias (F 5) über eine Gespräch mit Solon ist (F 6), innerhalb dessen Solon von einem Gespräch mit einem ägyptischen Priester gesprochen hatte (F 7; vgl. Ch 158ff. mit Verweis auf Tim.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Die Vielfalt der Stimmen ist bei Meister Eckhart nach Derridas Interpretation also eine lediglich strategische Vielfalt. Von dieser strategischen Vielfalt bleibt unberührt, dass sein Denken an einer „ÜberWahrheit“ ausgerichtet ist, die selbst jenseits dieser Vervielfältigung der Stimmen steht. Aber sehen Sie nun, was „ein heidnischer Meister“ sagt: daß die Seele, die Gott liebt, „ihn unter dem Felle der Gutheit nimmt“ […], doch die Vernunft oder Vernünftigkeit […] zieht dieses Fell ab und nimmt Gott in seiner Nacktheit […]. In den Zeilen, die zu zitieren ich mich anschicke, scheint ein gewisser Wert von Entschleierung, von Bloßstellung, von Wahrheit als dem Jenseits der Bekleidung letztzweckendlich und am Ende der Rechnung die gesamte Axiomatik dieser Apophasis auszurichten. Zwar kann man hier nicht in aller Strenge von Wert und Axiomatik sprechen, da diese, was den apophatischen Gang anordnet und regelt, gerade über das Gute oder die Gutheit hinausgeht. Aber es gibt dennoch eine Regel oder ein Gesetz: man muß über den Schleier und die Bekleidung hinaus gehen. Ist es willkürlich, diese Entschleierung, die vielleicht keine Entschleierung des Seins mehr wäre, noch Wahrheit oder Über-Wahrheit zu nennen? Ich glaube nicht. […] (WNS 82f.)
Wie bereits angedeutet, ist in Pseudo-Dionysius Schrift „Über die Mystische Theologie“ eine zentrifugale Vielstimmigkeit am Werke, die dieser zentripetalen Vielstimmigkeit zuwiderläuft. Um dies verdeutlichen zu können, soll die Gedankenbewegung der Pseudo-Dionysischen Schrift in einem Exkurs erläutert werden. Exkurs 1: Pseudo-Dionysius’ „Über die Mystische Theologie“ Die Schrift „Über die mystische Theologie“ zielt in die Richtung eines Ereignisses, das im Folgenden als „mystische Theologie“82 bezeichnet werden soll. Diese mystische Theologie vollzieht sich in oder am Ende eines Dreischritts, insofern sie sich zur negativen The-
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20a-d). Diese Vervielfältigung der Stimmen als Vervielfältigung fiktiver Ebenen scheint der Unbestimmbarkeit der khora zu entsprechen (vgl. Ch 136; zur Vielstimmigkeit in der Rede von der khora vgl. wiederum WNS 65ff. [s. o. S. 39]). „Mystische Theologie“ ist von der „negativen Theologie“ darin unterschieden, dass „negative Theologie“ (verstanden als Oberbegriff für affirmative und negative Theologien) aus sprachlichen Vollzügen besteht, mystische Theologie sich hingegen jenseits sprachlicher Vollzüge ereignet. Ruh führt aus, der terminus technicus „mystische Theologie“ spreche „das Eigentliche der [in Pseudo-Dionysius’ Text „Über die Mystische Theologie“ – J. S.] vorgetragenen Lehre aus, und das ist die Gotteserkenntnis und -erfahrung […] in der Dunkelheit.“ (Ruh Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, 62; vgl. Stolina Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, 22)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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ologie als Negation der Negation83 verhält: Mystische Theologie ist das telos, in dessen Richtung die affirmativen und die negativen Theologien drängen, wenngleich ihr Drängen letztlich (als mundane84 und unzureichende85 Operation) sein Ziel nicht aus sich heraus erreichen kann. Dieses Drängen wird in einer Reihe von – teils analogen86 – Sequenzen beschrieben, an deren Ende jeweils die mystische Theologie steht: Die affirmativen, „kataphatischen“ Theologien setzen Aussagen (τιναι/καταφσκειν σεις87), die negativen Theologien sprechen (Aussagen) ab bzw. verneinen (φαιρε"ν/ποφσκειν88), die mystische Theologie „ist“ (eine Vereinigung mit der transzendenten Ursache) jenseits aller absprechenden und thetischen Rede (π#ρ π$σαν κα% φα ρεσιν κα% σιν89). Die affirmative Theologie ist (vergleichsweise) beredt (πολυλογτερος90), die negative
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84 85 86
87 88 89 90
Vgl. Stolina, a. a. O., 17; Striet Offenbares Geheimnis, 58; vgl. ferner Carlson I, 185ff. Die Formel „Negation der Negation“ ist dann irreführend, wenn sie so aufgefasst wird, als würden zwei Negationen bezeichnet, die auf derselben (d. h. einer diskursiven) Ebene anzusiedeln sind. Denn zwar vollzieht sich die erste Negation der negativen Theologie als sprachliche Operation, die Negation der Negation jedoch, die mystische Theologie, sprengt, wie noch näher zu zeigen sein wird, die Grenzen der Sprache. Die Negation der Negation ist keine formale Negation innerhalb der Sprache, sondern eine Negation der formallogisch konzipierten Sprache und ihrer Repräsentationsfunktion überhaupt. Negation der Negation ist also nicht als Aufhebung der Negation im Sinne Hegelscher Dialektik zu verstehen, sondern als Negation ohne Wiederkehr. Carlson verwendet den Begriff „hyper-negation“: „If kataphatic theology operates through affirmations deriving from caused beings, and if apophatic theology operates through the negation of such affirmations and a movement beyond the beings on which they depend, mystical theology makes use of ‘hyper-’ (περ-) terms which, strictly speaking, remain neither affirmative nor negative but point beyond the alternative between affirmation and negation.“ (I 186f.) Die beiden konkurrierenden Konzeptionen einer ökonomischen und einer nicht-ökonomischen Negation hat Derrida in seiner Studie zu Bataille „Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus“ erörtert (SD 380ff.). Vgl. Stolina, a. a. O., 23f. Vgl. Striet, a. a. O., 58. Die Analogizität gilt nicht in jeder Hinsicht zwischen allen Sequenzen. So entspricht die Sequenz Kataphasis–Apophasis nicht der Sequenz ästhetische Theologie–noetische Theologie, da kataphatische und apophatische Theologien sich jeweils noetisch und ästhetisch vollziehen können. Die folgende Darstellung ist daher nicht als eine erschöpfende Systematik zu verstehen, sondern als Exposition der dreigliedrigen Taktung der „Mystischen Theologie“. MT 1000B; S. 143 Z. 4ff. MT 1000B; S. 143 Z. 5ff. MT 1000B; S. 143 Z. 7; vgl. WNS 40. MT 1033B; S. 147 Z. 4.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Theologie ist Wortkargheit (βραχυλογ α91), die mystische Theologie ist Wortlosigkeit (λογ α92/'φωνος93).94 Die ästhetische Theologie spricht in Metonymien, d. h. Übertragungen vom Sinnlichen auf das Göttliche (α( π) τν α*σητν π% τ+ ε"α μετωνυμ αι95), die noetische Theologie spricht in „Theonymien“, d. h. in Übertragungen von Worten aus dem Bereich des Intelligiblen (τ,ς νοητ,ς εωνυμ ας96), die mystische Theologie gehört zum nicht-Intelligiblen (νοησ α97). Die affirmative Theologie ist eine absteigende Bewegung (κοδος98) von Prädikationen, die eher zutreffen (ζω/ γα1της99), zu Prädikationen, die weniger zutreffen (ρ/λ ος100). Die negative Theologie ist eine aufsteigende Bewegung ('νοδος101) von Absprechungen, die eher zutreffen (ο κραιπλη/μ,νις102), zu Absprechungen, die weniger zutreffen (ο λγεται/νοε"ται103).104 Der mystischen Theologie entspricht weder eine auf- noch eine absteigende Bewegung, sondern ein Eintauchen bzw. eine Vereinigung (ε*σδεσαι105/2νωσις106). Zur mystischen Theologie führt keine Sprache – weder hinauf noch hinab. Vielmehr wird die Dreieinigkeit im Gebet bzw. im Beten (ε3χεσαι107) um Geleit zur Gotteskunde angerufen.108 Es ist der Status des Gebets bzw. des Betens in der dreifach getakteten „Mystischen Theologie“ des Pseudo-Dionysius, auf den sich Derridas Aufmerksamkeit richtet.
91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104
105 106 107 108
MT 1033C; S. 147 Z. 9. MT 1033C; S. 147 Z. 9. MT 1033C; S. 147 Z. 13. Vgl. auch die Trias πολλογος – βραχλεκτος – 'λογος (MT 1000B; S. 143 Z. 10f.). MT 1033B; S. 146 Z. 12; vgl. WNS 21f. MT 1033A; S. 146 Z. 11. MT 1033C; S. 147 Z. 10. MT 1033C; S. 147 Z. 11. MT 1033C-D; S. 147 Z. 19f. MT 1033D; S. 147 Z. 20. MT 1033C; S. 147 Z. 13. MT 1033D; S. 147 Z. 20. MT 1033D; S. 147 Z. 20f. Diesem Gedanken liegt das neuplatonische Modell von πρ1οδος und πιστροφ zugrunde (vgl. Stolina, a. a. O., 13f.; Ruh, a. a. O., 56). MT 1000C; S. 143 Z. 16. MT 997B; S. 142 Z. 8. MT 997B; S. 142 Z. 5. MT 997A-B; S. 141 Z. 1-S. 142 Z. 5.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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B.2.1.3.3 Vielstimmigkeit als zentrifugale Sprachenvielfalt Mit diesem Exkurs ist der Weg für das Verständnis von Derridas Interpretation dieses Textes geebnet: Das beschriebene Drängen der (kataphatischen und apophatischen) Stimmen der negativen Theologie strandet nur scheinbar an dem Gebet als einem Ort, der als „transzendentes Signifikat“ über das Spiel der Sprache erhaben bliebe. Denn das Gebet wird selbst zitiert. So wird die beschriebene dreigliedrige Bewegung, die durch die Sprache aus der Sprache heraus- und in ein übersprachliches Signifikat hineindrängt, im Text der „Mystischen Theologie“ dadurch konterkariert, dass Pseudo-Dionysius sein eigenes Gebet zitiert. Überwesentliche (hyperousiè) und übergöttliche (hyperthèe) und übergute (hyperagathè) Trinität (Trias), du, die du die christliche göttliche Weisheit lenkst (theosophias), führe uns nicht nur über jedes Licht hinaus, sondern noch jenseits der Nicht-Erkenntnis bis zum höchsten Gipfel der mystischen Schriften […]. Dies ist mein Gebet (‘Emoi men oun tauta eukhtô). Für dich, lieber Timotheus, lasse nicht davon ab, dich in mystischer Schau zu üben […]. (MT 997A-B; S. 141 Z. 1-S. 142 Z. 5, zitiert nach WNS 85; vgl. hierzu auch WNS 20)
Durch die Zitation des Gebets, durch dessen Verwendung in der Sprache, die aus wiederholbaren Codes besteht, fällt die „Mystische Theologie“ in die Sprache zurück in eben demselben Moment, da sie sich anschickte, im Gebet mit dem Übersprachlichen verbunden zu werden.109 Um es in der oben beschriebenen Trias der Mystischen Theologie zu formulieren110: In dem Moment, in dem der Betende in das Wortlose ('λογ α111; 'φωνος112) eintauchen sollte, hebt die wortreiche (πολυλογτερος113; πολυλογ1ς114) Rede erneut an, jedoch so, dass die Alogie in die Polylogie, das Unsagbare in das Sagbare verwoben115 ist. 109
110 111 112 113 114 115
In einem anderen Zusammenhang formuliert Caputo prägnant, in jedem Versuch, Gott (selbst) zu intendieren, stoße der Denkende auf das Wort „Gott“ und werde so in die Signifikantenkette zurückgeschleudert: „Every time the intentional arrow was aimed at God, it came up with ‘God,’ which sends us skidding back to something else in the chain of signifiers.“ (MRH 255) Caputo wendet hier die Einsicht der Semiotik an, dass jedes Signifikat, also auch das neuplatonische „Eine“, selbst ein Signifikant ist (MRH 256; s. u. Abschn. B.2.2.5). S. o. S. 42f. MT 1033C; S. 147 Z. 9. MT 1033C; S. 147 Z. 13. MT 1033B; S. 147 Z. 4. MT 1000B; S. 143 Z. 10f. Vgl. Ep 1105D; S. 197 Z. 12: „συμππλεκται τ4 5ητ4 τ) 'ρρητον“. Derrida verweist in seinem Vortrag auf diese Formulierung, allerdings in einem anderen Zusammenhang (WNS 46).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Die Bewegung, die Pseudo-Dionysios vollzieht, indem er sein Gebet zitiert, ist für Derridas gesamten Vortrag von wesentlicher Bedeutung. Wir erinnern uns, dass Derrida eingangs dargelegt hatte, die negative Theologie könne der leeren, mechanischen Wiederholung nur durch das Gebet entgehen, welches aber seinerseits im Zitat wiederholt werden könne.116 Jetzt legt Derrida dar, wie Gebet, Zitat und Wiederholung im Text des Pseudo-Dionysius in einer Art und Weise ineinander verwoben sind, die für negative Theologie bzw. für Theologie überhaupt von grundstürzender Bedeutung ist: Die Wiederholung ist unvermeidlich, daher gilt es aber, Wiederholung nicht zu diskreditieren, sondern die Bedeutungskonstitution in bzw. durch Wiederholung, Zitation und die Vervielfältigung der Stimmen gerade zu suchen. Die Vervielfältigung der beschriebenen Art findet dort statt, wo Pseudo-Dionysius seine eigene Stimme zitiert und so seine eigene Rede in Zitation und Anrede spaltet: Er zitiert seine Anrede an Gott und führt sie fort, indem er Timotheus anredet. Nachdem er gebetet hat (schreibt er, lesen wir), stellt er sein Gebet dar. Er zitiert es, und ich habe soeben sein Zitat zitiert. Er zitiert es innerhalb dessen, was eigentlich eine Apostrophe ist an den Empfänger, Timotheus. […] Derjenige, der darum bittet, von Gott geführt zu werden, wendet sich einen Augenblick zu einem anderen Empfänger, um seinerseits ihn zu führen. Nicht, daß er sich einfach abwendet von seinem ersten Empfänger, der in Wahrheit die erste Ursache seines Gebetes ist und ihn bereits führt. Gerade weil er sich nicht abwendet von Gott, kann er sich Timotheus zuwenden und von einer Adresse zur anderen übergehen, ohne die Richtung zu wechseln. […] Das Gebet, das Zitat des Gebetes und die Apostrophe, von einem dich zum anderen, weben so – so heterogen diese auch scheinen mögen – denselben Text. Es gibt Text, weil es diese Iteration gibt. (WNS 86f.)
In diesem Gedanken kommt die unumgängliche Paradoxie zur Sprache, in die jeder Text und damit auch die negative Theologie verfangen ist: Die zitathafte Wiederholbarkeit ist zugleich die Bedingung der Konstitution von Bedeutung und Bedingung der Unmöglichkeit der Konstitution selbstidentischer Bedeutung.117 Auch das Gebet entkommt dieser Wiederholbarkeit nicht – jedoch ist Zitathaftigkeit des Gebets nicht (allein) dessen Krise, sondern Bedingung einer unmöglichen Möglichkeit der Benennung des Anderen. Gibt es dem Geschehen selbst äußerlich bleibende Kriterien, um zu entschieden, ob Dionysios zum Beispiel das Wesen des Gebetes verdarb oder im Gegenteil vollendete, indem er es zitierte, und zuvorderst, indem er es für Timotheus schrieb? Hat man das Recht zu denken, daß das Gebet – reine Adresse am Rand des Schweigens, fremd je116 117
S. o. S. 36ff. S. o. Abschn. B.1.2 u. B.1.3.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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dem Code und jedem Ritus und folglich jeder Wiederholung – niemals durch eine Notation oder durch die Bewegung einer Apostrophe, durch die Vervielfältigung der Adressen, von seiner Gegenwart abgewendet werden dürfte? Daß es jedes Mal nur einmal Statt findet, und daß es niemals aufgezeichnet und niedergelegt werden dürfte? Aber vielleicht ist auch das Gegenteil richtig. Vielleicht gäbe es gar kein Gebet, gäbe es gar nicht die reine Möglichkeit des Gebetes ohne dieses, welches wir als eine Bedrohung oder eine Kontamination erahnen: die Schrift, der Code, die Wiederholung, die Analogie oder die – zumindest augenfällige – Vielfältigkeit der Adressen, die Initiation. Wenn es eine rein reine Erfahrung des Gebetes gäbe, bräuchte man dann noch die Religion und die Theologien, die affirmativen oder die negativen? Bräuchte man dann noch ein Supplement für das Gebet? Aber wenn es kein Supplement gäbe, wenn das Zitat nicht das Gebet falten/beugen würde, wenn das Gebet nicht faltete/beugte, sich nicht der Schrift gemäß faltete/der Schrift beugte/in die Schrift schickte, eine Theiologie, wäre sie möglich? Eine Theologie, wäre sie möglich?118 (WNS 109f. [Übersetzung geändert])
Damit „schließt“ sich – zumindest auf der Ebene des Gedankengangs des Vortrags – der Kreis: Das Gebet ist Bedingung der Möglichkeit, negative Theologie von einer mechanischen, leeren Wiederholung zu unterscheiden. Das Gebet aber ist seinerseits notwendigerweise wiederholbar. Gerade in der „Vervielfältigung der Adressen“ führt die Zitation des Gebets des Pseudo-Dionysius dazu, dass sein Text „Über die Mystische Theologie“ sich von einem Hyperessentialismus unterscheidet, der in einer zentripetalen Entvielfältigung der Stimmen alle Negationen in den Dienst einer übergreifenden Affirmation stellt. Innerhalb der Pseudo-Dionysischen „Mystischen Theologie“ wird die Instabilität der kataphatischen und der apophatischen Theologien zwar, so meint Derrida, zunächst restabilisiert, indem die im Gebet angerufene „Ursache“119 als Referent des „legein“ (vgl. WNS 54f.) gesichert wird. Doch auch diese „Sicherung“ des Referenten durch das Gebet bleibt ihrerseits nicht von der Heimsuchung durch Wiederholbarkeit und Zitathaftigkeit verschont: Vom Gebet selbst muss geredet werden, da andernfalls die Betenden der Isolation anheim fallen und sich der Möglichkeit einer jeden Tra-
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Die Formulierung „wäre sie möglich“ greift offensichtlich (in stark veränderter Form) die eingangs gestellte Frage wieder auf: „[…] Doch wie verhält es sich hier mit einem solchen Müssen? Und wenn ich sage, ich wußte, es tun zu müssen, noch vor dem ersten Wort dieses Vortrags, so nennen ich beim Namen bereits eine einzigartige Vorgängigkeit des Müssens – ein Müssen vor dem ersten Wort, ist das möglich? –, bei der man einige Mühe haben dürfte mit der Situierung, und dies wird vielleicht heute mein Thema sein.“ (WNS 9 [Hervorhebung J. S.]; s. o. S. 32) Derrida bezieht sich auf Pseudo-Dionysius’ Rede von der „πντων α*τ α“.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
ditionsbildung begeben würden.120 Wird Gebet aber in Sprache gefasst, dann fällt es derselben Entropie anheim, aus der es ursprünglich einen Ausweg bahnen sollte. Vor diesem Hintergrund kann der eingangs angedeutete Zusammenhang von Situation und „Sujet“ des Vortrags verdeutlicht werden: Wenn in Bezug auf den Anderen gesprochen wird, dann droht Wiederholung die unverfügbare Einzigartigkeit des Anderen in dem System von durch Wiederholbarkeit funktionierenden sprachlichen Codes einzuebnen, welches Sprache konstituiert121, und das jede Einzigartigkeit eines Bezeichneten in der Wiederholbarkeit und Rekontextualisierbarkeit der Zeichen untergehen lässt.122 Jedoch gibt es keine Sprache und folglich keine Theologie ohne Wiederholung. Auch die Anrede an den Anderen muss diese mit der Sprache einhergehende Gefährdung auf sich nehmen; auch das Gebet vermag die Theologie nicht vor mechanischer Wiederholung zu bewahren. Kann nun Wiederholung nicht vermieden werden, dann – und darin besteht die fundamen120
121 122
Der hier angesprochene Konflikt lässt sich auf das Problem der Traditionsbildung beziehen: Erst betet der Areopagit, dann zitiert er sein Gebet. Erst spricht der Areopagit im Gebet zu Gott, dann spricht er von seinem Gebet. Damit wird zu einem verfügbaren Stück Text degradiert, was gerade noch Gebet, authentische Innerlichkeit zu sein schien. Doch ist dies eine unausweichliche Konsequenz der „Wiederholbarkeit“: Damit Pseudo-Dionysius mit Gott nicht allein bleibt, muss er nach außen treten, muss er sein Gebet aus der Abgeschiedenheit und inneren Stimmigkeit nach außen, an die Stätten der streitbaren Sprechenden tragen, es zitieren und damit verraten. Der Areopagit muss das Gebet in Sprache kleiden, die an einen anderen gerichtet ist. Wenn ein Gebet, wenn überhaupt irgendein Gedanke in Sprache gekleidet wird, geht authentische, originale Bedeutung verloren und fällt jener Entropie der Sprache anheim, die oben beschrieben wurde (vgl. Abschn. B.1.2.2). Wird das Gebet aber nicht in Sprache gekleidet, dann gibt es gar keine Bedeutung, die nicht in der radikalen Privatheit des einzelnen Subjekts gefangen bleibt. Damit der Betende nicht in radikaler Privatheit von der Gemeinschaft ausgeschlossen bleibt, muss er sich an einen anderen Menschen richten können, muss er sein Gebet, das er in Innerlichkeit gesprochen hat, in der Sprache an einen anderen Menschen richten. Dabei aber wird das Gebet verfremdet, wird Zitat, wird aus der Unmittelbarkeit, in die es gehört, herausgelöst. Nun ist zu fragen: Sollte das unterbleiben, sollte Gebet in der Innerlichkeit verborgen bleiben, um von dieser Verfremdung verschont zu werden? Dann gäbe es vielleicht keine Theologie und keine Glaubensgemeinschaft. Es gilt daher, diese notwendige Spaltung in mehrere Stimmen in Kauf zu nehmen: die Stimme des Gebets selbst und die andere Stimme, die das Gebet zitiert. Diese Widersprüchlichkeit, diese Reibung der Stimmen ist notwendig, wenn sowohl die Einzigartigkeit der subjektiven Erfahrung als auch die Notwendigkeit der Kommunikation Beachtung finden soll. S. o. S. 35f. S. o. Abschn. B.1.2.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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tale Wendung in Derridas Gedankengang – dann muss Wiederholung gerade so inszeniert werden, dass die Wiederholung als Störung ihrer selbst wirksam wird, als eine Störung, welche an das inkommensurable Einzigartige erinnert. Das Inkommensurable wird als Spur vergegenwärtigt, indem die Inadäquatheit der Sprache ins Bewusstein gerufen wird. I. a. W.: Ist Wiederholung unvermeidbar, dann muss sie gegen sich selbst gerichtet werden, so dass sie daran gehindert wird, den Diskurs gegen das Inkommensurable zu verschließen. Dies geschieht, wenn das Zitat das Gebet „faltet“, und so die Rede in eine Mehrzahl konfligierender Stimmen auseinander faltet, so dass eine zentrifugale Stimmenvielfalt entsteht, die durch die Krise der Sprache, durch den Verlust ihrer organisierenden Mitte hindurch Bedeutung generiert. In einer Zusammenfassung soll dieser Gedanke nun verdeutlicht werden. B.2.1.4 Zusammenfassung: „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ und die vielstimmige Rede vom Unsagbaren Vor dem Hintergrund der voran stehenden Ausführungen erschließt sich die Bedeutung des Titels von Derridas Vortrag: Die Frage „Wie nicht sprechen“ ist die Frage danach, wie vermieden werden kann, unangemessen zu sprechen (vgl. WNS 30). Die erste Antwort Derridas lautet, dass es immer bereits „zu spät“ ist, die Komplikationen zu vermeiden, die mit der Sprache einhergehen. Sind die Aporien der Sprache aber unumgänglich, dann muss innerhalb der Funktionalität der Sprache nach Möglichkeiten gesucht werden, die Begrenzungen der Sprache zu überschreiten; soll sich diese Überschreitung mit den Mitteln der Sprache ereignen, dann müsste es sich um einen Vorgang handeln, in dem die Sprache gleichsam sich selbst aufsprengt. Dies geschieht, indem die Wiederholung, die ein Benennen des Inkommensurablen unmöglich macht, gegen die Sprache selbst gerichtet wird, damit Sprache eine Bewegung in Richtung des von ihr verdrängten Inkommensurablen machen kann. Auf Kierkegaard vorausgreifend – oder auf das Denken der Frühromantik zurückverweisend, das wiederum gerade in dieser Hinsicht sowohl mit Kierkegaards Denken als auch mit dem der Dekonstruktion übereingeht123 – könnte man formulieren, dass die Wirklichkeit nur durch dieselbe Wirklichkeit vernichtet werden kann.124 Die Frage Derridas, ob eine Theologie möglich wäre, wenn nicht das Zitat das Gebet faltete/beugte, ist nicht als eine Bestreitung der Mög123 124
S. u. Exkurs 2. Vgl. BI 267 / SKS 1,300; s. u. Abschn. C.3.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
lichkeit (negativer) Theologie aufzufassen. Vielmehr kann diese Frage suggerieren, dass (negative) Theologie nicht möglich ist ohne „Zitation“, d. h. ohne die irreduzible Spaltung der Rede in verschiedene Stimmen. Positiv formuliert bedeutete dies aber, dass Theologie Derridas Auffassung nach dann, wenn die Rede sich derart spaltet, möglich sein könnte.125 Dies impliziert die Notwendigkeit einer Vielstimmigkeit, die einer pluralistischen, egalitären Mehrheit von Stimmen darin entgegengesetzt ist, dass die Unmöglichkeit adäquater Prädikation das (unerfüllbare) Verlangen nach dem Nennen des Unnennbaren gerade antreibt. So bezieht auch Pseudo-Dionysius’ Text „Über die Mystische Theologie“ seine Kraft gerade daraus, dass eine Berührung mit dem „Einen“, eine Berührung also, in der Sprache („endlich“) obsolet wäre, unendlich aufgeschoben wird. Dieser Aufschub faltet die Rede auseinander in eine irreduzible, von unerfüllbarem Verlangen nach Aufhebung ihrer selbst getriebene Vielstimmigkeit. Diese Vielstimmigkeit vollzieht sich als unaufhörliche Vervielfältigungen der Stimmen durch Zitation126, gerade weil eine Rückkehr zu einer ursprünglichen Einstimmigkeit unmöglich ist, und weil ein Vergessen ebendieser Unmöglichkeit einen unerträglichen Verlust darstellen würde. Um es mit einem Bild aus der Mechanik auszudrücken: Das zentripetale Kreisen der Wiederholung wird exponiert, amplifiziert und derart beschleunigt, dass es durch zentrifugale Fliehkräfte dezentriert wird.127 Der Unmöglichkeit einer übersprachlichen, wortlosen Berührung mit dem Anderen soll eine exzessive, zentrifugale128 Vielstimmigkeit entgegengestellt werden. Dies hat grundsätzliche Konsequenzen für die Beurteilung von Sprache in der negativen Theologie: Sprache, so wird von den Denkern negativer Theologie geurteilt, ist Gott (zunächst) unangemessen. 125
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Zwar besteht keine Notwendigkeit für die Theologie, beanspruchen zu können, Derridas Auffassung nach ‚möglich zu sein‘ – jedoch scheint es mir immerhin erstrebenswert, zeigen zu können, dass Theologie in den Augen dieses überaus kritischen und skeptischen Denkers „bestehen“ kann, so wenig sie es auch muss. Vgl. zum Zusammenhang von „Vielstimmigkeit“ und „Zitation“ auch Derrida Auslassungspunkte. Gespräche, 397; Waldenfels Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, 156ff. Zu diesen Termini s. o. S. 40f. – Ein ähnliches Bild verwendet Caputo in seiner Studie „Against Ethics“: „What would it sound like if Heidegger’s powerful homophonic voice […] were disturbed by a little dissonance and jewgreek polyphony? […] Do you ever get tired of hearing the same poem read to you again and again? Could a fugue be centrifugal, heading out in every different direction at once […]?“ (Caputo AE 151 [Hervorhebungen J. S.]) So wird der Sinn der Metapher einer zentrifugalen Vielstimmigkeit deutlich: Zentrifugale Kräfte werden dann amplifiziert, wenn eine Masse mit zunehmender Geschwindigkeit um ihr eigenes Zentrum kreist.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Die Einheit Gottes kann in der diversifizierten Sprache keine Wohnung nehmen. Die dadurch notwendig werdende Überschreitung der Grenze der Sprache im hier gemeinten Sinne kann nun gerade nicht derart geschehen, dass – etwa im Gebet – die Sprache auf ein transzendentes Signifikat ausgerichtet würde.129 Vielmehr muss die Diversität der Sprache in Zitat und Vielstimmigkeit gerade gegen die Sprache ins Werk gesetzt werden130, damit in der Sprache das der Sprache Inkommensurable aufleuchten kann. So verstanden wäre negative Theologie eine zielgerichtete Selbstzerstörung der Sprache.131 Derridas Vortrag zur negativen Theologie führt so zu der Wahrnehmung der Struktur der „Mystischen Theologie“ – sowohl der Struktur des Pseudo-Dionysischen Textes „Über die Mystische Theologie“ als auch der Struktur einer als „Mystischen Theologie“ zu bezeichnenden Form der Theologie bzw. einer „negativen Theologie132“. Es handelt 129
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Ob Derrida Pseudo-Dionysius zu Recht des „Hyper-Essentialismus“ zeiht, kann in dieser Arbeit dahingestellt bleiben. Nicht die Konsequenzen für die Interpretation des Corpus Dionysiacum stehen im Interesse dieser Arbeit, sondern die Implikation von Derridas These, Theologie müsse „vielstimmig“ sein. Der Gedanke der Vielstimmigkeit ist dementsprechend auch ein leitendes Motiv von Derridas Schrift „Außer dem Namen“, in der Derrida sich erneut mit der negativen Theologie auseinander setzt. Die Schrift setzt mit der Forderung nach Vielstimmigkeit bereits ein: „Nicht mehr einer, verzeihen Sie, man muß immer mehr als einer sein, um zu sprechen, dazu braucht es mehrere Stimmen … – Ja, da stimme ich ihnen zu, und das gilt in besonderer, sagen wir in exemplarischer Weise, wenn es um Gott geht …“ (AN 65). In den Schriften des Angelus Silesius gewahrt Derrida eine hyperkritische Stimme auf der einen und einer belehrenden, maschinellen Stimme auf der anderen Seite (AN 96f.). Das Verhältnis dieser beiden Stimmen zueinander scheint ein Verhältnis des „Exemplarismus“ (vgl. AN 107) zu sein, welcher die Entscheidung bezüglich der Ursprünglichkeit der einen oder der anderen Stimme unmöglich werden lässt. – Vgl. zur literarischen Strategie der Vielstimmigkeit bei Derrida auch Caputo PT 43.346 (Anm. 36); ders. „Either–Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony“, 30; Carlson „Postmetaphysical theology“, 71; Derrida Auslassungspunkte. Gespräche, 396ff.; ders. Apokalypse, 28.59f.62ff.; Fiddes The Promised End. Eschatology in Theology and Literature, 34; Ward BDLT 193 Anm. 9; ders. „Deconstructive theology“, 86f.; ders. Theology and Contemporary Critical Theory, 13; Zeillinger Nachträgliches Denken. Skizze eines philosophisch-theologischen Aufbruchs im Ausgang von Jacques Derrida, 192, v. a. Anm. 413. Vgl. Derrida AN 85. – Turner fasst den Apophatizismus des Areopagiten in diesem Sinne zusammen: „It is on the other side of both our affirmations and our denials that the silence of the transcendent is glimpsed, seen through the fissures opened up in our language by the dialectical strategy of self-subversion.“ (Turner The Darkness of God. Negativity in Christian Mysticism, 45) „Negative Theologie“ ist der gebräuchliche Ausdruck für die gesamte Strategie des Pseudo-Dionysius, genau genommen ist jedoch „negative Theologie“ nur ein Moment der „Mystischen Theologie“ (s. o. Exkurs 1, v. a. Anm. 82).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
sich um die Struktur einer sich vervielfältigenden und gerade so zentrifugal über ihre eigenen Grenzen hinausdrängenden Sprache. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht darin, in Kierkegaards Schriften nach Analogien zu dieser Struktur zu suchen. Zuvor jedoch sind drei Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum näher zu betrachten, die sich um theologische bzw. religionsphilosophische Anwendungen von dekonstruktivistischen Denkfiguren bemüht haben.
B.2.2 John D. Caputo B.2.2.1 Gott – Das Unmögliche. „Religion ohne Religion“ John D. Caputo ist wohl der gegenwärtig Bekannteste unter denjenigen Denkern, die zwischen Dekonstruktivismus und Religionsphilosophie einen Zusammenhang herstellen.133 Caputos umfassendes Œuvre kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden, vielmehr soll ein – allerdings m. E. für Caputo besonders charakteristischer – Gesichtspunkt seines Denkens hervorgehoben werden. Dieser Gesichtspunkt ist der Gedanke bzw. die literarische Strategie einer ‚unentscheidbaren Analogie‘, die wiederum mit der Vielstimmigkeit in Verbindung steht. Vor der Erörterung von Caputos Werk mit Konzentration auf diesen Gesichtspunkt ist eine kurze Übersicht über sein Werk zu geben. Caputo selbst beschreibt das Interesse seiner Forschung als ein zweifach gegliedertes: Auf der einen Seite arbeitet Caputo an dem, was er als eine „radikaler konzipierte Hermeneutik“ bezeichnet. Unter „Hermeneutik“ versteht Caputo die Unausweichlichkeit von Interpretation (MRH 3), die Notwendigkeit, Welt und Bedeutung zu konstruieren. Eine „radikaler konzipierte Hermeneutik“ („hermeneutics more radically conceived“) betont die radikale Fragwürdigkeit einer jeden Weltkonstruktion; sie bezieht sich auf die Situation, in der „wir“ uns finden, sobald „wir“ den „Traum“ eines reinen Sinns aufgegeben und die Unausweichlichkeit einer Vielfalt von Bedeutungen („meanings“) anerkannt haben (vgl. MRH 2.84f.). Ein zweiter Schwerpunkt von Caputos 133
Das Wort „Theologie“ verwendet Caputo mit kritischem Ton: „Theologie“ scheint Caputo zu „griechisch“, zu dogmatisch bzw. totalisierend zu sein (vgl. PT 28.289. 328; vgl. R 116). Ungeachtet dessen hat Caputo zu dem „Blackwell Companion to Postmodern Theology“ und zu einer Sammlung zur christlichen Theologie und Postmoderne (hg. v. M. Westphal) Aufsätze beigesteuert (Caputo „The Poetics of the Impossible and the Kingdom of God“; ders. „Toward a Postmodern Theology of the Cross: Heidegger, Augustine, Derrida“).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Arbeit ist im Raum zwischen Dekonstruktion und Religion angesiedelt: Caputo sucht im Lichte von Dekonstruktion nach einem „radikaleren“ Verständnis von Religion (als dem überkommenen); zu diesem Zweck erforscht er die religiösen und spezifisch messianischen Motive, die der Dekonstruktion innewohnen und sie antreiben.134 Die literarische Strategie, kraft derer Caputo diese Gedanken vorträgt, ist die einer unentscheidbaren bzw. fluktuierenden Analogie, welche von Caputo selbst (implizit) als Vielstimmigkeit bezeichnet wird. Diese „unentscheidbare Analogie“ besteht darin, dass (mindestens) zwei heterogene Stimmen so zusammen zur Sprache gebracht werden, dass keiner der Stimmen Priorität zugeordnet, sondern vielmehr ein Zustand der irreduziblen Vielfalt von Perspektiven und Stimmen inszeniert wird.135 Dies soll nun im Zuge eines Gangs durch das spätere Werk Caputos nachvollzogen werden. Die früheste Schrift Caputos, die hier beachtet wird, ist „Radical Hermeneutics“; Caputo selbst hat in einem Interview zu erkennen gegeben, dass er (erst) in dieser Schrift seine eigene Stimme gefunden habe.136 134
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Caputos Derrida-Studie The Prayers and Tears of Jacques Derrida. Religion without Religion ist vielleicht das bekannteste Werk im Forschungsfeld der „postmodernen“ Religionsphilosophie. Der Titel dieses Buches ist von den folgenden Worten aus Derridas Selbstporträt inspiriert: „[D]u hast dein Leben damit verbracht, einzuladen zu rufen zu versprechen, zu hoffen zu seufzen zu träumen, anzurufen herbeizurufen herauszufordern, zu konstituieren zu zeugen zu erzeugen, zu nennen vorzuladen aufzufordern vorzuschreiben zu befehlen, zu opfern […].“ (Derrida „Zirkumfessionen. Neunundfünzig Perioden und Paraphrasen geschrieben in einer Art innerem Rand zwischen dem Buch Geoffrey Benningtons und einem Werk in Vorbereitung (Januar 1989-April 1990)“, 322; vgl. PT xviiif.) „I am always writing with both hands, as Jacques would say, always writing two different texts, the one painting the dark side, the great cosmic stupidity, which steals over me with a merciless persistence and keeps me awake at night, while the other one is about a Jewish deconstructor named Yeshua […].“ (Caputo „Hoping in hope, hoping against hope“, 140) Vgl. zu Theorie und Praxis einer Rede kraft Vervielfältigung der Stimmen (bzw. Sprachen) AE 129ff. (vgl. den Begriff „plurivocity“ AE 209); vgl. ferner PT 26f.29.42ff. Caputos Auffassung nach ist Vielstimmigkeit bei Derrida kein Instrument und keine Technik („device or technique“), sondern das Bekenntnis der Unmöglichkeit einer Aneignung, der Unmöglichkeit, die Kontrolle über einen Dialog oder einen Monolog zu gewinnen (vgl. PT 346f. Anm. 36). Wenn in der vorliegenden Arbeit von Caputos literarischer „Strategie“ gesprochen wird, dann ist immer im Blick zu behalten, dass „Strategie“ keine Bemächtigung des Diskurses meint, sondern eine Redeform, die in einer bestimmten Weise in Worte zu kleiden sucht, was wesentlich unverfügbar und infolgedessen auch nicht technisch handhabbar ist (s. u. Abschn. C.3). Putt „What do I love when I love my God? An Interview with John D. Caputo“, 151. Entsprechend dieser Schwerpunktsetzung ist ein anderer Teil der Arbeit von Caputo von nur marginalem Interesse: Besonders in der frühen Phase seines Schaffens stellt
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Zentraler Begriff in Caputos Denken ist der Begriff des „Unmöglichen“, der nun näher erläutert werden soll. Im Anschluss an Climacus’ Äußerung137, seine Aufgabe bestehe darin, alles schwieriger – und nicht leichter – zu machen, führt Caputo aus, seine Lebensaufgabe bestünde darin, alles „unmöglich“ zu machen.138 Das Unmögliche ist jenes, das sich auf Grund der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung nicht ereignen kann. Das Unmögliche anzustreben bedeutet, diese Grenzen anzuerkennen – und sich dann über die Grenzen hinwegzusetzen139; das Unmögliche geschieht, obwohl es unmöglich ist. But of course the impossible happens, which is the import of the story of the Virgin Mary.140 So it is not simply or absolutely impossible, like “p and not-p,” which would reduce it to incoherence, but what the French philosopher Jacques Derrida calls “the impossible,” meaning something whose possibility we did not and could not foresee, something that eye has not seen, nor ear heard, that has never entered into the mind of human beings (I Cor 2,9). (R 10)141
Das „Unmögliche“, so Caputo im Anschluss an Derrida, ist kein negativer Begriff, sondern meint die Unterbrechung dessen, was Menschen für möglich halten, ein Aufgerissenwerden des Selbstidentischen für das Andere. In diesem Sinne ist „Gott“ ein Name des Unmöglichen. By the impossible Derrida clearly does not mean impossible strictu sensu, the simple modal opposite of the possible, but the more-than-possible, the transgression, the chance, the aleatory, the breach, the rupture, the passage to the limits, the ébranler and the solicitation of the same. The possible is not other, not other enough, not enough at all. The desire of deconstruction for the more-than-possible impossible is a passion that it shares with apophatic theology. Theology and deconstruction share a common passion and desire, a common désir de Dieu and désir de l’impossible and amor dei (a famous double genitive). […] Everything comes down to what is called the impossible, or tout autre, under whatever name it goes or comes, God, for example. (PT 51)142 137
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die Beschäftigung mit Heidegger einen Schwerpunkt von Caputos Forschung dar (vgl. Caputo The Development of the Concept of Grund in Heidegger’s Thought, 1968 [unveröffentlicht]; ders. The Mystical Element in Heidegger’s Thought, New York 1976; ders. Heidegger and Aquinas. An Essay on Overcoming Metaphysics, New York 1982; ders. Demythologizing Heidegger, Bloomington 1993). Vgl. AUN I,177f. / SKS 7,171f.; vgl. RH 2. Vgl. Caputo „Looking the Impossible in the Eye: Kierkegaard, Derrida, and the Repetition of Religion“, 1. Vgl. a. a. O., 2. Caputo bezieht sich auf Lk. 1,37 (R 6). Vgl. Caputo „The Poetics of the Impossible and the Kingdom of God“, v. a. 474ff. Die letzten Worte dieses Zitats sind eine Anspielung an Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“. In der englischen Fassung des Aufsatzes heißt es: „In every prayer there must be an address to the other as other; for example – I will say, at the risk of shocking – God.“ (Derrida „How to Avoid Speaking: Denials“, in: Coward /
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Obwohl Caputo „Gott“ und „tout autre“ als Namen des Unmöglichen bezeichnet, besteht er darauf, dass kein (syllogistisches) Urteil über die Identifikation von „tout autre“ und „Gott“ gefällt werden könne.143 Caputo weist die Möglichkeit, (irgend)eine bestimmte Rede von „Gott“ könne irgendeiner anderen Rede von „Gott“ gegenüber bevorzugt werden, zurück. Seine Besinnung auf Derridas Formulierung „Religion ohne Religion“ zielt gerade darauf, die Bestimmtheit einer konkreten bzw. konventionellen Religion auszuhöhlen. [Derrida] has broken one deal to make another, broken one pact to form another, been a Jew sans Judaism “sans continuité mais sans rupture,” in order to enter into a new alliance, a new covenant (convenire) with the incoming (invenire), which “repeats” […] the movements of the first covenant in a religion without religion. Deconstruction repeats the structure of religious experience […], i. e., of a specifically biblical, covenantal, Abrahamic experience, according to the strange logic of Blanchot’s sans, which is no simple negation. (PT xxf.; vgl. PT 128)144
Religion versteht Caputo als ‚Pakt mit dem Unmöglichen‘, als ‚Bund mit dem Unrepräsentierbaren‘ (PT xx); „Religion ohne Religion“ versteht Caputo als eine Fortführung der Religion nach der Ausstreichung jeglicher Exklusivität145, d. h. ohne die Dogmen, Riten, be143
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Foshay (Hgg.) Derrida and Negative Theology, 73-142, 110 [Hervorhebung J. D.]; vgl. PT 293) Caputo spielt verschiedentlich auf diesen Satz an, indem er Bestandteile des Satzes übernimmt bzw. die auffällige Satzkonstruktion in eigenen Äußerungen imitiert (vgl. PT 233.323). Vgl. Caputo „Looking the Impossible in the Eye: Kierkegaard, Derrida, and the Repetition of Religion“, 8. Caputo bezieht sich auf Derrida „Den Tod geben“, 377 (s. u. Anm. 145) und auf Derrida Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, 228f.: „Wenn der messianische Appell einer universalen Struktur eigen ist, jener irreduziblen Bewegung einer Öffnung auf die Zukunft hin, also der Erfahrung selbst und ihrer Sprache […], wie soll man ihn dann mit den Figuren des abrahamitischen Messianismus denken? Stellt er seine abstrakte Verwüstung oder seine ursprüngliche Bedingung dar? War der abrahamitische Messianismus nicht nur eine exemplarische Präfiguration, der auf dem Grund der Möglichkeit, die wir hier zu benennen versuchen, gegebene Vorname? Aber warum sollten wir dann den Namen, den Begriff, oder zumindest das Adjektiv bewahren (messianisch sagen wir lieber als Messianismus, da wir eher die Struktur einer Erfahrung als eine Religion bezeichnen wollen), dort wo keine Figur des Ankommenden, selbst wenn er oder sie sich ankündigt, vorherbestimmt, präfiguriert, mit einem Vornamen versehen werden dürfte? […] Welche der beiden Wüsten wird zuerst auf den anderen hingezeigt haben? Können wir uns ein atheologisches Erbe des Messianismus vorstellen? Gibt es, im Gegensatz dazu, ein konsequenteres?“ Den Begriff einer Wiederholung von Religion ohne Religion verwendet Derrida in seinem Text „Den Tod geben“: „[…] [M]an kann, Unterschiede durchaus in Rechnung haltend, behaupten, daß ein bestimmter Hegel, Kierkegaard ohne jeden Zwei-
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
stimmten Glaubensauffassungen und Praktiken, die historisch identifizierbaren Religionen eignen.146 Caputo zeigt, dass Dekonstruktion auf der einen und (eine) bestimmte Religion auf der anderen Seite – in Caputos Darstellung besonders das Judentum – zwei Stimmen darstellen, von denen keine auf die andere reduziert werden darf. „Wiederholung“ bedeutet die Neubelebung bzw. die Weiterexistenz eines Konzepts unter Bedingungen, die so radikal verändert sind, dass sie die Identität des zu Wiederholenden aushöhlen.147 Caputos Projekt einer ‚Wiederholung von Religion ohne Religion‘ zielt also darauf, (eine) Religion so zu denken, dass sie trotz der Streichung der Exklusivität als einem Konstituenten ihrer Identität (weiter)besteht. An einigen exponierten Beispielen ist zu zeigen, wie Caputos Denken sich vollzieht. B.2.2.2 Martin Heidegger – Jacques Derrida. Zwischen Sendung und Entzug Caputos Denken hat darin seine Pointe, dass zwei (oder mehrere) Konzepte oder Stimmen in ein „unentscheidbares“ Analogieverhältnis zueinander gesetzt werden, in dem diese Konzepte einander unabschließbar stören, ohne dass je entschieden werden könnte, dass ein Konzept gegenüber einem konkurrierenden Konzept Recht behielte. Diese wechselseitige Störung wirkt jenem Dogmatismus entgegen, den Caputo unbedingt vermeiden möchte. Die erste Formulierung einer konsequent die Unentscheidbarkeit148 der Analogie in den Vor146
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fel, und ich würde sogar provozierend sagen, auch Heidegger, dieser Tradition angehören, die darin besteht, vom Dogma ein un-dogmatisches Doppel, ein philosophisches, metaphysisches, in jedem Fall ein denkerisches Doppel vorzulegen, das ohne Religion die Möglichkeit der Religion ‚wiederholt‘.“ (Derrida „Den Tod geben“, 377) – In einem Interview bekennt sich Derrida selbst dazu, eine „Religion ohne Religion“ zu ‚haben‘: „MD [Mark Dooley]: But are you comfortable saying that you have a ‘religion without religion’? JD [Jacques Derrida]: ‘Yes.’“ (Dooley „The Becoming Possible of the Impossible. An Interview with Jacques Derrida“, 32) Caputo „Hoping in hope, hope against hope“, 142; vgl. allerdings Caputos differenzierende Bemerkungen zur Irreduzibilität konkreter historischer Religionen (ebd.; a. a. O., 129; s. u. Anm. 170). S. o. Abschn. B.1.2.1. Caputos Begriff des „Unentscheidbaren“ impliziert, dass es keine sichere Grundlage gibt, von der ausgehend eine richtige Entscheidung hinsichtlich einer Konkurrenz konfligierender Perspektiven (v. a. philosophischer Art) abgeleitet werden könnte. Durch die Bestreitung der Möglichkeit einer Entscheidung im Sinne einer eindeutigen Deduktion wird jedoch die Notwendigkeit der Entscheidung gerade nicht bestritten, sondern vielmehr bekräftigt: „He [Richard Kearney – J. S.] consistently reduced unde-
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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dergrund stellenden Analogie149 hat Caputo in seinem Band „Radical Hermeneutics“ vorgelegt. Ausgangspunkt von „Radical Hermeneutics“ ist die dem Menschen gestellte Aufgabe, das „Fließen“ und die mit diesem einhergehende Schwierigkeit150 menschlicher Existenz zu meistern (RH 1ff.209ff.271 u. a.) bzw. zu bewahren (RH 293).151 Die zentrale Metapher152 des „Fließens“ findet bei Caputo keine eindeutige Definition; „Fließen“ meint in etwa die Flüchtigkeit menschlicher Zeit153 in dem Sinne, in dem Kierkegaard (bzw. Kierkegaards Pseudonym Constantin Constantius) sie formuliert (RH 2f.154), und die ihr 149
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cidability to indecision, instead of recognizing that undecidability is precisely the condition of possibility of a decision. The opposite of undecidability is not a decision or decisiveness but rather programmability. If you get rid of undecidability you would not get a decision but a computer program. […] Undecidability means that human judgement and decision-making are required, which means entering into an idiosyncratic situation that is not covered by rules and universals.“ (Caputo „Abyssus Abyssum Invocat“, 125f.; vgl. AE 4) So gilt Caputo die Unentscheidbarkeit auch nicht als das letzte Wort, sondern als das erste (vgl. PT 19). Bereits die frühere Heideggerstudie The Mystical Element in Heidegger’s Thought entwickelt eine Analogie zwischen Heidegger und Meister Eckhart, in der Caputo das Moment des Disanalogischen betont (vgl. Caputo The Mystical Element in Heidegger’s Thought, 143f.). Die Schwierigkeit („difficulty“) des faktischen Leben wiederum ist Caputos Auffassung nach ein Ausdruck einer postmodernen „theologia crucis“, die Caputo meint, bei Heidegger und Derrida impliziert zu sehen (vgl. Caputo „Toward a Postmodern Theology of the Cross: Heidegger, Augustine, Derrida“; Caputo verweist in seiner Erläuterung der „theologia crucis“ v. a. auf Art. 19 und 21 der Heidelberger Disputation [Caputo, a. a. O., 212]). Vgl. zum Begriff des „Fließens“ auch MRH 242. – Zum Denkprojekt einer „radikalen Hermeneutik“ insgesamt vgl. Martinez (Hg.) The Very Idea of Radical Hermeneutics. Martinez bezeichnet „flux“ als „master metaphor“ von Caputos „radical hermeneutics“ (a. a. O., 6); Sallis stellt fest, der ganze Diskurs von Caputos „Radical Hermeneutics“ sei von dem Begriff des „Fließens“ bestimmt – worin, so Sallis, ein Problem bestünde, da das Wort „flux“ verwendet werde, als sei es eine vom Himmel gefallene unhinterfragbare Gabe und nicht selbst ein Begriff, der durch die Opposition gegenüber der Permanenz zu verstehen ist (Sallis „John D. Caputo, Radical Hermeneutics. Repetition, Deconstruction and the Hermeneutic Project, Bloomington 1987 [Rezension]“, 188f.). Caputo erwidert, das Wort „flux“ sei nicht innerhalb der binären Opposition von Sein und Werden zu verstehen, sondern als „Archie-Fließen“ („archi-flux“), als Begriff des „Fließens“ unter Ausstreichung (Caputo „Toward an American Pragrammatology: A response to Prof. Sallis“, 191). Vgl. zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz bei Caputo auch dessen Gegenüberstellung von Gadamer und Derrida, in welcher er die Berufung auf die Endlichkeit menschlicher Existenz als Gemeinsamkeit der beiden herausstellt (MRH 43ff.). Caputo verweist auf die ersten Zeilen von Kierkegaards Schrift „Die Wiederholung“ (vgl. W 1ff. / SKS 4,9; vgl. hierzu auch Caputo „Kierkegaard, Heidegger, and the Foundering of Metaphysics“).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
korrespondierende Unabschließbarkeit denkerischer Daseinsbewältigung.155 Diese Flüchtigkeit bedingt den Verlust von Sinn, der den Anstoß der radikalen Hermeneutik darstellt (RH 271; vgl. RH 278). Caputo erläutert, wie Kierkegaard, Husserl, Heidegger und Derrida die Herausforderung annehmen, vor die sich der Existierende durch das Fließen gestellt sieht. Die Reflexion über die Bewältigung des Fließens kulminiert im Gedanken einer Oszillation zwischen Derridas Dekonstruktion, die alles scheinbar Stabile als freies Spiel von differentiellen Wiederholungen156 exponiert, und Heideggers Gedanken einer Sendung, die sich als unaufhebbar verborgene und zugleich den Menschen bestimmende offenbart. In dieser Oszillation loziert Caputo seine „radikale Hermeneutik“ (vgl. RH 5). Derrida’s deconstructive work issues in a grammatological exuberance which celebrates diversity, repetition, alteration.157 Heidegger’s deconstructive work issues in a
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Im Vorwort zu einem Sammelband mit Beiträgen über Caputos „Radical Hermeneutics“ bringen Caputo und Martinez diese Schwierigkeit faktischen Lebens mit Anspielungen an eine Gedichtzeile von Robert Frost plastisch zum Ausdruck: „For factical life, there are always miles to go before we sleep.“ (Caputo / Martinez „A Philosophical Propaedeutic: on the Very Idea of Radical Hermeneutics“, 20) „There is always a Frostian sense in my cold, frosty hermeneutics – of the miles to go before I sleep, of the promises to keep.“ (Caputo „Toward an American Pragrammatology: A response to Prof. Sallis“, 191) Caputo arbeitet den Gedanken der „Wiederholung“ bei Kierkegaard, Husserl, Heidegger und Derrida heraus: Kierkegaard, so Caputo, fordert die Konstitution der Existenz durch eine linear nach vorne gerichtete Wiederholung als einer Bewegung, qua derer das Subjekt sich gleichsam in das Fließen hineinstürzt. Mit der Wiederholung im konventionellen Sprachgebrauch hat diese Bewegung nur ihre lineare zeitliche Ausrichtung gemeinsam, welche invertiert wird: Weil sich eine Wiederholung im Sinne einer rückwärts gewandten recollectio, einer Wiederherstellung von Vergangenem, als unmöglich erweist, bedarf es einer Wiederholung als einer nach vorne gerichteten Bewegung, die sich gleichsam in die Ungewissheit stürzt, die mit der Kontingenz des Zukünftigen gegeben ist. Im Unterschied zu Kierkegaard beabsichtigte Husserl, so Caputo, Wiederholung als lineare Bewegung rückwärts, als recollectio, zu denken. Tatsächlich hatte Husserl aber die radikale Entdeckung gemacht, dass das ‚Fließen‘ unausweichlich ist. Der Husserlsche Versuch, die Konstitution von Bedeutung zu beschreiben, führt in der Derridaschen Lesart in eine Aporie. Scheitert in dieser Weise die Konstitution von Identität, so ist das einzig „Bleibende“ das Fließen, die irreduzible Möglichkeit differenter Wiederholung (RH 138ff.; vgl. die summarischen Bemerkungen zur Wiederholung in DNJD 102). Durch diese Kritik legt Derrida, so Caputo, das dionysische Moment in Husserl frei (RH 145f.; zu Derridas dekonstruktiver Lektüre von Husserl s. o. Abschn B.1.2.1). Bei Ward findet sich eine fast identische Formulierung: „Différance issues into a liturgical movement celebrating repetition and the conflict of opposites.“ (Ward BDLT 231)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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meditative stillness, which could not be alert to the play in which all things are swept, but it is stunned by the power of the sweep and culminates in a deep sense of the play in which mortals play out their allotted time. And what I call radical hermeneutics will not let either the Heideggerian or the Derridaen gestures win the day, will not entrust full authority to either, but in a conniving way – and it is said that Hermes was also a conniver, and we know that solicitude means making bribes – keeps subverting one with the other. Just when thinking is lost in solemn stillness, when it is beginning to take itself seriously, dissemination bursts open the scene with its disruptive laughter. Even so, thinking follows dissemination home, after the singing and dancing is over, through the city streets, to see if it ever takes of its mask. (RH 206)
Caputo fasst an der Stelle, der das Zitat entnommen ist, seine bis dahin unternommenen Überlegungen zusammen: Derridas Dekonstruktion – genauer, seine dekonstruktive Arbeit mit Texten und an Texten – führt zu einem „grammatologischen Reichtum“, in dem die Überführung scheinbar stabiler Bedeutungssysteme in Diversität, Wiederholung und Alterität gefeiert wird. Caputo bezieht sich v. a. auf Derridas dekonstruktive Husserlinterpretation.158 Heideggers dekonstruktive Arbeit – dabei ist nun besonders an die späteren Schriften Heideggers gedacht, etwa an die Schrift „Der Satz vom Grund“, welche bereits Gegenstand von Caputos Dissertation159 war – führt in eine meditative Stille, welche des von Derrida offen gelegten Dahinfegens aller Dinge letztlich nicht gewahrt, jedoch einen tiefen Sinn von dem Spiel hat, dem Sterbliche ausgesetzt sind. Caputos eigener Beitrag besteht nun darin, weder Derridas noch Heideggers Stimme das letzte Wort zu überlassen, sondern zu einem Denken aufzufordern, in welchem Derrida durch Heidegger und Heidegger durch Derrida stets neu in Frage gestellt werden.160 Caputo entwickelt auf diese Weise die Vision eines Diskurses der Unentscheidbarkeit161, in dem die Kraft verschiedener Stimmen waltet, ohne dass die eine Stimme von der anderen abgeschnitten oder auch nur eine Stimme der anderen über- oder untergeordnet würde. Alle späteren Arbeiten Caputos lassen sich als weitere Modulationen einer solchen Vielstimmigkeit auffassen.
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S. o. Anm. 156. Caputo The Development of the Concept of Grund in Heidegger’s Thought, 1968 (unveröffentlicht). Sallis formuliert, Derrida und Heidegger würden in Caputos Studie einander „infiltrieren“ (Sallis „John D. Caputo, Radical Hermeneutics. Repetition, Deconstruction and the Hermeneutic Project, Bloomington 1987 [Rezension]“, 185f.). Zum Begriff der „Unentscheidbarkeit“ s. o. Anm. 148.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
B.2.2.3 Abraham – Johannes de Silentio – Jacques Derrida. Zwischen „Messianismus“ und „messianischer Struktur“ Derrida trifft in seiner Schrift „Marx’ Gespenster“ die Unterscheidung zwischen „strukturellem“ und „konkretem“ Messianismus. Diese Unterscheidung ist dem Verständnis des nun zu erörternden Gedankens von Caputo vorausgesetzt, daher soll die entsprechende Passage hier angeführt werden. Derrida legt in seiner Studie die messianische Eschatologie des Marxismus offen. Diese messianische Struktur ist zu kritisieren, jedoch dergestalt, dass ihr begrenztes und doch irreduzibles Recht zugleich anerkannt bleibt. Wenn wir das sagen, behaupten wir nicht, daß die messianische Eschatologie, die der marxistischen Kritik und den von ihr kritisierten Religionen gemeinsam ist, einfach dekonstruiert werden muß. Wenn sie ihnen gemeinsam ist – abgesehen von den Unterschieden des Inhalts […] –, dann ist es auch so, daß ihre formale Struktur der Verheißung sie übersteigt oder ihnen vorausliegt. Und was ebenso irreduzibel auf jede Dekonstruktion, ebenso undekonstruierbar bleibt wie die Möglichkeit der Dekonstruktion selbst, das ist vielleicht eine bestimmte Erfahrung der emanzipatorischen Verheißung; das ist vielleicht sogar die Formalität eines strukturellen Messianismus, eines Messianismus ohne Religion, eines Messianischen ohne Messianismus sogar, einer Idee der Gerechtigkeit – die wir immer noch vom Recht und selbst von den Menschenrechten unterscheiden – und einer Idee der Demokratie – die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unterscheiden.162
Dem Messianischen entspricht die Erwartung des Kommens eines/ des ganz Anderen, des Unerwartbaren, das unseren Erwartungshorizont sprengt. [The infinite alterity] is structurally unforeseeable and as such urgently summons us to that possibility – the im/possibility – of the un-presentable, of an „absolute surprise“ whose coming will shatter our horizon of expectation. For the tout autre is just what we do not expect. Setting a place at the table in expectation for Elijah does not mean his knock on the door will not come as an absolute surprise. (PT 129)
Diesen Gedanken des Messsianischen verknüpft Caputo nun mit der Aporie der Verantwortung, die Derrida in seiner Schrift „Den Tod geben“ bedenkt. Diese Aporie besteht darin, dass jede bestimmte Zuwendung zu einem Hilfsbedürftigen die Vernachlässigung eines anderen Hilfsbedürftigen impliziert. Die Aporie der Verantwortung steht in Zusammenhang mit dem Gedanken der Vielstimmigkeit, insofern sie in heterogenen Quellen begegnet, d. h. z. B. in der Überlieferung des Alten Testaments, bei Kierkegaard und bei Derrida. Innerhalb 162
Derrida Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, 66; vgl. PT 128.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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des Alten Testaments gehört dieser Gedanke in den Kontext der Erwartung der Aufhebung dieser Aporie, in der jeder Gedanke von Verantwortung verfangen ist, d. h. in der Erwartung des Kommens von Gerechtigkeit.163 Diese Erwartung hat die Gestalt eines „konkreten Messianismus“. Mit dem Kierkegaardschen Pseudonym Johannes de Silentio kommt eine christliche Stimme zum Tragen, die diese Aporie philosophisch formuliert. Von Derrida wiederum ist bekannt, dass er von sich gesagt hat, er könne zu Recht als Atheist bezeichnet werden. Dekonstruktion im Sinne Caputos zielt nun gerade darauf, diese verschiedenen Stimmen zugleich sprechen zu lassen, und zwar so, dass keine Stimme zum Fundament oder zum Deriverat einer anderen Stimme auf- oder abgewertet wird. Caputo flickt die folgende Passage – die er von seinem eigenen Text durch Petitdruck abhebt – zusammen (‚patch together‘, PT 189), indem er die Stimmen von Derrida und Kierkegaard ineinander verwebt. Problema I. Is There an Incalculable Suspension of the Ethical?164 The ethical as such is the universal165; as the universal it is in turn the law.166 The single individual is the secret.167 The question is whether it is possible for the singular individual, who exists in her immediacy, to suspend the calculable claims of the law, le droit, in the name of justice, responding to singularity of the claim that descends upon her from on high, to the incalculable justice demanded by the tout autre. Thus either there is an aporia, that the single individual as the single individual stands higher than the law, or Abraham is lost. (PT 189)168
Diesen ‚Flickenteppich‘169 kommentiert Caputo mit den folgenden Worten: 163
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Vgl. zum Zusammenhang der Erwartung einer kommenden Gerechtigkeit, der „Verantwortung“ und des „Messianischen“ auch PT 121.134. Die englische Übersetzung des dänischen Originals „Gives der en teleologisk Suspension af det Ethiske“ (FZ 49 / SKS 4,148) lautet: „Is there a teleological suspension of the ethical?“ Caputo ersetzt also „teleological“ durch „Incalculable“, wodurch Derridas Gedanke zur Sprache kommt, dass Gerechtigkeit nicht berechenbar ist. „Das Ethische ist als solches das Allgemeine […]“ (FZ 62 / SKS 4,148) formuliert Kierkegaards Pseudonym Johannes de Silentio, offensichtlich in (ironischer) Anlehnung an Hegel. Hier spielt Caputo möglicherweise an Hegel an. Diesen Gedanken formulieren Kierkegaard, Levinas und Derrida in je verschiedener Weise. In „Furcht und Zittern“ entwickelt Johannes de Silentio den Gedanken, entweder gebe es eine teleologische Suspension des Ethischen, oder Abraham sei verloren (FZ 49ff. / SKS 4,148ff.). Ob Caputo sich hier der Tradition der „stromateis“, der „Teppiche gnostischer Betrachtung gemäß der wahren Philosophie“ aus der Feder des Clemens von Alexandrien (vgl. Clemens Alexandrinus Stromata, Buch I–VI u. VII u. VIII, hg. v. O. Stählin,
62
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Is that paradox or aporia spoken in the voice of Johannes de Silentio or of Reb Derrisa? Is there a question of choosing between them? Is it not possible to speak in more than one voice at a time? Which voice is an example of which? Which one ventriloquizes the other? Which one is the translation of which? Jacques de Silentio: a “supplementary clerk” […] of singularity, picking up the shards and fragments left behind by philosophy’s search for universality. Reb Derrisa: an ironic-comic rabbi from the Jutland heaths, a scarce commodity in a world where everyone is a Christian! Of course Abraham is the prime example of Abrahamic messianism – there is no excusing him from that – of a particular, determinable faith in a particular determinate promise, and so Derrida’s reading will illustrate how to drop a bit of deconstructive solvent on the story in order to distill by a slow drip the (un)essence, to get to the messianic structure, the messianic-in-general, the general messianic tout autre, without biblical baggage. This is the idea, if it is an idea. (PT 189f. [Hervorhebung J. S.]; vgl. PT 134ff.)170
Bereits die Bezeichnungen „Jacques de Silentio“ und „Reb Derrisa“ sind Überblendungen zweier verschiedener Größen bzw. Identitäten, d. h. der eines Rabbis und der Jacques Derridas. Caputo stellt diesen „Reb Derrisa“ in ein Analogieverhältnis zu „Jacques de Silentio“ als einem philosophischen Denker, der die in der Erzählung von der Bindung Isaaks formulierte Aporie ethischer Urteilsbildung zur Sprache 170
170
Leipzig 1906 u. 1909 [GCS 15 u. 17]) anschließen möchte, wird nicht deutlich. Grundsätzlich scheinen hier allerdings strukturelle Verbindungen zu bestehen: So führt Ritter aus, die Form der stromateis entspreche der Tatsache, dass Clemens sich „des existenziellen Ernstes echter Begegnung mit der Wahrheit bewußt [sei], die, um mit Kierkegaard zu reden, der ‚indirekten Mitteilung‘ bedarf und sich aller Verobjektivierung entzieht.“ (Ritter „Klemens von Alexandrien“, 127; zur Verbindung zwischen Kierkegaards und Caputos Strategien der Mitteilung s. u. S. 69ff.) Vgl. Derrida Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, 229 (s. o. Anm. 144). Vgl. zur Unterscheidung des „Messianischen“ vom „Messianismus“ durch Caputo auch PT 118ff.; DNJD 160ff.168ff.; R 16. Derrida könnte den Begriff des „Messianischen“ von Benjamin übernommen haben (so Caputo DNJD 157, mit Verweis auf Derrida Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, 82f. Anm. 8. Derrida bezieht sich auf Benjamin Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, 691ff.). – Vgl. auch das Motiv der „Bauchrednerei“ (engl. „ventriloquy“) in Constantin Constantius’ „Die Wiederholung“ (s. u. Abschn. C.2.2). – Das Bild des „Destillierens“ ist m. E. insofern irreführend, als Caputos Ziel nicht darin besteht, die Essenz als das Messianische von den konkreten historischen Messianismen abzuscheiden. So kritisiert Caputo die Auffassung, das Messianische sei ein Destillat („distillate“) bzw. Dekonstruktion sei eine messianisch destillierte Wahrheit („messianically distilled truth“) an anderen Stellen (PT 136; ders. „Hoping in hope, hope against hope“, 143). Überdies bemerkt Caputo in einem späteren Interview, einer der wenigen Einwände, die er gegen Derridas Denken zu erheben habe, bestehe darin, dass die Unterscheidung zwischen dem reinen Messianischen und den konkreten Messianismen nicht rigoros aufrechterhalten werden könne (Putt „What do I love when I love my God? An interview with John D. Caputo“, 165; vgl. Caputo „Hoping in hope, hoping against hope“, 129f.).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
63
bringt. Caputos Ziel ist, im Anschluss an Derrida die Grenzen zwischen alttestamentlichem, christlichem und philosophischem Denken durchlässig zu machen: „Dieselbe“ Aporie wird von heterogenen Stimmen formuliert, das eine Mal im Zusammenhang konkreter messianischer Erwartung (Messianismus/Abraham), das andere Mal im Zusammenhang eines philosophischen Insistierens auf der Notwendigkeit „ganz anderer“ Zustände (messianische Struktur/Derrida). Kierkegaard steht als christlicher Philosoph gewissermaßen zwischen diesen beiden Stimmen, ohne jedoch zwischen ihnen vermitteln zu können. Die Pointe von Caputos Interpretation besteht darin, dass keiner der Stimmen Priorität oder Ursprünglichkeit zugesprochen wird, dass die Aporie zugleich aber nicht isoliert von den heterogenen Stimmen zur Sprache kommen soll. Caputo plädiert also für eine Interpretation von Wirklichkeit und von Traditionen, die den Wahrheitsanspruch der divergenten Interpretationen dadurch respektiert, dass die Gültigkeit jeder der Interpretationen respektiert und der Konflikt zwischen den Interpretationen ständig offen gehalten wird. Damit plädiert Caputo also gerade nicht für eine indifferente, bestimmungslose Gleichgültigkeit, die so oft als Signum „postmodernen“ Denkens angesehen wird. Vielmehr übt Caputo eine scharfe Kritik an jeder sich überlegen wähnenden Haltung, die über die Gültigkeit oder Gleichgültigkeit von Interpretationen ein abschließendes Urteil sprechen zu können meint. B.2.2.4 Jacques Derrida – Meister Eckhart. Zwischen Dekonstruktivismus und Neuplatonismus In seinem Aufsatz „The Prayers and Tears of Devilish Hermeneutics. Derrida and Meister Eckhart“ bedenkt Caputo die Verwandtschaft von Derrida und Meister Eckhart. Deren Gemeinsamkeit besteht, so Caputo, in einer vergleichbaren Sprachauffassung bzw. -praxis, die von einem Sich-Ausstrecken nach dem Unvorstellbaren und Unmöglichen gekennzeichnet ist (MRH 250.263). Der Unterschied zwischen Derrida und Meister Eckhart besteht indes darin, dass die Skepsis der Mystik (scheinbar) – im Gegensatz zur Skepsis im Dekonstruktivismus – von einem von der Skepsis nicht erreichten neuplatonisch inspirierten Glauben an das „Eine“ abgefedert wird (MRH 253.256). Dieses intrikate Verhältnis soll nun nachvollzogen werden, indem zunächst die Sprachpraxis der Mystik entsprechend Caputos Wahrnehmung beschrieben wird. Mystisches Leben ist, so Caputo, dadurch gekennzeichnet, dass Sprache an ihre Grenze, zur Weißglut getrieben wird, zu einem Bruchpunkt, der Schweigen ist.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Mystical life is mystical prayer and praise, singing to God in the highest, praising God to the heights, pushing language to its very limits, to the breaking point, which is silence. For silence is the fine tip of language, the Seelenfünklein of language, its little spark and finest tip. Silence is language, but it is language without language, which according to the logic of the sans means that it is something of which beings without language are altogether incapable […]. The reason Jacques Derrida loves mystical discourse so much is that it represents such an extraordinary case of the attempt of language to efface its own trace and this in the name of an ineffable desire. Silence is that point in language where language grows white hot, where driven to an extreme it finally can stand no more and turns on itself, consumes its own substance and effaces itself, and all this in order to be true to itself, as language. Mystical language is the best example of this selfeffacing, self-wounding language, for mystical language is language without language about a God without God. (MRH 250)
Dieses Schweigen ist nun aber kein ‚Außerhalb des Textes‘, keine unio mystica und kein unsprachlicher, nackter Kontakt mit einem überirdischen Geheimnis selbst, der über das Sprachliche erhaben wäre. Vielmehr ist mystisches Schweigen in Textualität eingeschrieben, Schweigen ist eine Zäsur innerhalb der Sprache unter den ‚Bedingungen der hermeneutischen Situation‘, gleich einer prägnanten Pause bzw. einer Pause in einer musikalischen Bewegung. For from standing simply outside or exterior to language, mystical silence occurs in and as a mystical caesura within language, like a pregnant pause, or like a pause in a musical movement. It is a work of language, part of its repertoire, an artful way that language has of pushing itself to its limits, to a point where language reaches out to what it cannot have and hence desires all the more, in a language without language. (MRH 251)
In der Theologie ist eine solche Überschreitung notwendig, weil das ganz andere („tout autre“) für Sprache unerreichbar ist: Die „intentionalen Pfeile“ der Sprache reichen nicht weit genug, um das tout autre treffen zu können (MRH 251).171 Wann immer die Intention sich auf Gott selbst ausrichtet, sieht sie sich neuerdings vor den Signifikanten „Gott“ gestellt und so in die Signifikantenkette zurückverwiesen. Daher muss in der „Arbeit“ der Signifkanten eine Negativität am Werke sein, die auf Gott als Außerhalb-der-Signifkantenkette verweist, obwohl dies nicht im Vermögen der Sprache liegt. Eine derartige Negativität ist in einem solchen Nennen Gottes am Werke, das Gott gerade dadurch zu „bewahren“ sucht, dass es bewusst unzulänglich bleibt bzw. sich seiner eigenen Unzulänglichkeit (als sprachlicher Aktivität) bewusst bleibt. Every time the intentional arrow was aimed at God, it came up with “God,” which sends us skidding back to something else in the chain of signifiers. That is why Derrida
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Vgl. hierzu auch Caputo „Apostles of the Impossible. On God and the Gift in Derrida and Marion“, 192.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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says in Sauf le nom that if the names of God are arrows directed at the divine being, then they keep God safe (sauf) precisely by falling short, God being everything except (sauf) what is named. (MRH 255)172
In diesem Sich-Ausstrecken nach dem Unmöglichen, nach dem, das der Intentionalität und der Sprache nicht verfügbar ist, besteht die Gemeinsamkeit von Dekonstruktion und mystischer Theologie. Der Unterschied zwischen Dekonstruktion und mystischer Theologie besteht darin, dass mystische Theologie, so Caputo, „weiß“, zu wem sie betet, wohingegen der radikale(re) Hermeneutiker sich leichter verläuft (MRH 253). Radikale(re) Hermeneutik spricht eine unbestimmtere Art von Gebet als der Mystiker, zu einem ganz Anderen, der unendlicher „Übersetzbarkeit“ ausgesetzt bleibt (MRH 263). Denn während Meister Eckhart, so Caputo, Neuplatoniker war, der von dem Geheimnis („The Secret“) „wusste“, bleibt für Caputo das Geheimnis („the secret“) unerreichbar. Das neuplatonische Eine, welches in Meister Eckharts Sprache als stabiler Referent bzw. als transzendentes Signifikat fungiert, wurde Caputos Auffassung nach im Laufe der Geistesgeschichte seinerseits als Interpretation, als Signifikant enttarnt (vgl. MRH 256), welches im Spiel der Signifikanten gefangen bleibt. Dieser Unterschied zwischen dekonstruktivistischem Denken und der mystischen Theologie des Meister Eckhart steht allerdings der Zusammenschau, genauer, der Überblendung dieser beiden Diskurse Caputos Auffassung nach letztlich nicht im Wege. Denn Caputo geht davon aus, dass Meister Eckhart in seinen Texten nicht getan hat, was er behauptete, getan zu haben (MRH 254): Meister Eckhart hätte, so Caputo, seine Metaphysik des „Einen“ selbst als Götzendienst aufgeben müssen, so man ihn auf diesen Punkt ‚festgenagelt‘ hätte, denn seine sprachliche Praxis unterwandert seine neuplatonischen Denkvoraussetzungen. My claim is that if we press Eckhart about his Neoplatonic henology, his metaphysics of the one, he has to give that up as so much idolatry, so much onto-theo-logic. (MRH 261)
Mit dieser immanenten Relativierung des Eckhartschen Neuplatonismus wird der Blick frei für das urtümliche Walten der „disseminativen“ Energie und des grammatischen Überschwangs, die in Meister Eckharts Texten am Werke sind. 172
Caputo verweist auf Derrida AN 92. Derrida zitiert hier aus Angelus Silesius’ „Cherubinischen Wandersmann“: „Du kanst mit deinem Pfeil die Sonne nicht erreichen/ Ich kann mit meinem wol die ewge Sonn bestreichen.“ (Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann, VI.153, 270; die Sentenz ist mit dem Satz überschrieben: „Das u(e)berunmo(e)glichste ist mo(e)glich.“ [ebd.])
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
His [Meister Eckharts] writing explodes in an extravaganza of images, in a play of mystical signifiers, in a profusion of discourses that aim at keeping the life of the soul with God alive. There is no better example, to my knowledge, of a certain mystical dissemination and a religiously joyful wisdom than the brilliant, playful virtuosity of Eckehart’s German sermons and Latin treatises. (MRH 258)
Der Gedankengang von Caputo ist also dialektisch: Zunächst wird die Verwandtschaft von Dekonstruktion und Meister Eckharts Mystik aufgezeigt, die in einem Sich-Ausstrecken nach dem Unmöglichen besteht. Sodann wird der Unterschied zwischen Dekonstruktion und Meister Eckharts Mystik benannt, welcher in Meister Eckharts Neuplatonismus besteht. Schließlich wird der Unterschied aufgehoben, indem der Neuplatonismus Meister Eckharts, der die Vielfalt der Stimmen zu entvielfältigen und andere Stimmen auszuschließen droht, dekonstruiert wird: Caputo legt dar, dass das Spiel der Bilder in Meister Eckharts Text sich von der Ausrichtung auf das neuplatonische Eine als auf ein vermeintlich transzendentes Signifikat nicht zur Ruhe bringen lässt. Caputos Lektüre radikalisiert also die Vielfalt der Stimmen, die seiner Wahrnehmung nach in den gelesenen Texten bereits am Werke ist, und die den Diskurs daran hindert, sich an einem transzendentem Signifikat außerhalb des Spiels des Textes (vermeintlich) zu verankern – ebenso wie das Schweigen kein Punkt außerhalb des Textes ist, sondern im Text waltet.173 Der im Anschluss an diesen Abschnitt vorzutragende Vorschlag einer Theorie der Sprache des Glaubens als einer Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren wird es unternehmen, diese beiden Aspekte, die Vielstimmigkeit auf der einen und das innerhalb der Sprache sich ereignende Schweigen auf der anderen Seite, zu integrieren.174 Darin schließt sich die vorgeschlagene Theorie zugleich dem Derridaschen Gedanken an, dass Wortlosigkeit und Vielstimmigkeit eine paradoxe Synthese zu bilden haben.175 B.2.2.5 Friedrich Nietzsche – Emmanuel Levinas. Pseudonyme Vielstimmigkeit als „Poesie der Verpflichtung“ Der Gedanke der Vielstimmigkeit, der in vielen Gestalten in Caputos Werk begegnet, nimmt in einem Abschnitt innerhalb von Caputos Studie „Against Ethics. Contributions to a Poetics of Obligation with 173 174 175
Vgl. MRH 250; s. o. S. 64. S. u. Abschn. B.3. S. o. Abschn. B.2.1.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Constant Reference to Obligation“ eine dominante Funktion ein. In dieser Studie setzt sich Caputo ausführlich mit dem Problem der Möglichkeit ethischer Urteilsbildung auseinander. Die Studie nimmt ihren Ausgang bei einer Kritik, d. h. genauer, einer Verwerfung von Hegels Konzeption von „Ethik“ als einer ‚tödlichen‘ Abstraktion vom Individuum. Caputo plädiert ausgehend von dieser Hegelkritik dafür, Ethik durch eine „Poesie der Verpflichtung/Verantwortung (‚Poetics of Obligation‘)“ zu ersetzen. Wie bereits zuvor gilt mein Interesse bei dem folgenden Referat nicht den inhaltlichen Stärken und Schwächen von Caputos propositional reformulierbaren Ansichten, sondern der charakteristischen Form, die Caputo seinem Gegenentwurf zur Ethik, seiner „Poesie der Verpflichtung/Verantwortung“, gibt. Um diese Form zu verstehen, wird zunächst die grundlegende Polarität nachvollzogen, innerhalb derer sich der Gedanke von Caputos Studie zur Ethik aufspannt. In „Against Ethics“ werden erneut mehrere – im Wesentlichen zwei – Diskurse miteinander ins Gespräch gebracht. Bei diesen beiden Diskursen, die innerhalb der Studie als pseudonyme Stimmen personifiziert werden, handelt es sich um zwei Gattungen poststrukturalistischer Theoriebildung: Auf der einen Seite steht der „Heteromorphismus“ („heteromorphism“), für den die Denker Nietzsche, Deleuze, Guattari, Baudrillard als Repräsentanten genannt werden, auf der anderen Seite der „Heteronomismus“ („heteronomism“), repräsentiert durch die – stark von Levinas beeinflussten – Denker Derrida und Lyotard (AE 56). Diese Gattungen poststrukturalistischer Theoriebildung bzw. die für diese repräsentativen Denker, v. a. Levinas selbst und Nietzsche, versetzt Caputo in seinem Werk „Against Ethics“ in ein unentscheidbares Analogieverhältnis176, das in einer literarischen Inszenierung pseudonymer Rede gipfelt. Um diese literarische Inszenierung nachvollziehen zu können, müssen zunächst die beiden Analogaten, „Heteromorphismus“ und „Heteronomismus“, beschrieben und (vorläufig) voneinander abgegrenzt werden. „Heteromorphismus“ meint ein explosives, selbstzerstörerisches Spiel differentieller Kräfte, die ständig neue Formen hervorbringen. What then is heteromorphism? Heteromorphic difference, the difference common to both Deleuze und Nietzsche, is organized around a paradigm of discharge and dehiscence, of the overflow of an all too great fullness […]. A gathering of forces, full and overflowing, pregnant with multiple offspring and seeds, collects itself together, gathers 176
In ähnlicher Weise konfrontiert Caputo in seinem kleinen Band „On Religion“ eine tragische (Nietzscheanische) und eine religiöse Weltsicht (R 118ff.).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
itself into uncontainable fullness, becomes overrich and brimming over, and then erupts. (AE 56)
Heteromorphismus ist eine von Autonomie gekennzeichnete Haltung des Denkens, insofern der Heteromorphismus nur seiner eigenen Gesetzmäßigkeit folgt und zu keinem Außen in eine verbindliche Beziehung tritt (AE 57). „Heteronomismus“ hingegen bezeichnet eine Haltung, die von der Bindung an den Anderen (‚alius‘) geprägt ist, und die infolgedessen zu dem Spiel der sich ständig beliebig und unverbindlich verändernden (‚alterierenden‘) Formen in einem starken Kontrast steht177: Im Gegensatz zur totalen Freiheit, die im Heteromorphismus waltet, wird im Heteronomismus die Freiheit des Subjekts im Angesicht des Anderen suspendiert. […] [I]n heteronomic difference, freedom is suspect, suspended, held in question, because it is aggressive, self-accumulative, and eventually, finally, murderous. Heteronomism wants to let the other be free while one is oneself held hostage. (AE 60)
Caputo führt aus, dass es ihm unmöglich scheint, eine dieser beiden Gattungen poststrukturalistischer Theoriebildung der anderen vorzuziehen. Keiner der beiden Standpunkte, die durch Nietzsche und Levinas metonymisch repräsentiert werden, kann das alleinige Recht für sich beanspruchen; ebenso wenig aber kann dem einen oder dem anderen jeweils ein begrenztes Recht abgesprochen werden. Es gilt daher für Caputo, den Heteronomismus und den Heteromorphismus zugleich zu kritisieren und zu bestätigen. So führt Caputo auf der einen Seite aus, dass Levinas ihm zu „fromm“ sei (AE 15), genauer: dass er Levinas’ Gedanken des „Unendlichen“, das im Antlitz des zur Verantwortung rufenden Anderen phänomenalisiert, nicht mitvollziehen könne (vgl. AE 18.63.123ff. u. a.). Das Phänomen einer „reinen“ Verpflichtung/Verantwortung („obligation“) kann es nicht geben (vgl. AE 124ff.), weil eine „reine“ Verpflichtung/Verantwortung bedeuten würde, dass der Verpflichtete sich dem Anderen als Gabe darbiete, die Gabe wiederum ist aber unmöglich.178 Sieht Caputo also im Hete177
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Der Unterschied zwischen Heteronomismus und Heteromorphismus lässt sich also daran verdeutlichen, dass das Präfix „hetero“ hier die Vielfalt ständig alterierender Formen bezeichnet, dort hingegen Alterität (AE 59). Dieser Gedanke entspricht Derridas Überlegungen zur „Gabe“: Gabe, so Derrida, wäre keine Gabe, wenn irgendetwas getauscht würde, denn Tausch ist Handel und keine Gabe. Eine Gabe darf folglich nicht einmal erscheinen, um Gabe zu sein. Sobald „ich“ eine Gabe empfange und dessen gewahr werde, fühle „ich“ mich verpflichtet, wenigstens zu Dank verpflichtet. Sobald „ich“ eine Gabe gebe, empfinde „ich“ einen
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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ronomismus ein grundlegendes Problem, so verhält es sich andererseits auch nicht so, als würde Caputo der Gegenposition, dem Heteromorphismus, zustimmen. Denn gegen Nietzsches „heteromorphen“ Gedanken, es gäbe nichts als nur ein freies Spiel unverantwortlicher Kräfte – ein Gedanke, der Caputo verfolgt wie ein Geist179 –, erhebt Caputo den Einwand, Verpflichtung/Verantwortung („obligation“) geschehe faktisch – wie auch die „Gabe“ geschieht, wenngleich sie „unmöglich“ ist.180 Infolgedessen ist Caputos Denken von der Überzeugung geleitet, dass es keine stabile Mitte gibt, sondern nur ein spannungsvolles Oszillieren zwischen den heterogenen Positionen. The more I considered the terms of this distinction the clearer it became to me that it cannot be a matter of choosing between them, of resolutely and decisively deciding for one and making a clean cut from the other. I found myself adrift in undecidability, the ground shifting beneath my feet. […] I endorse jewgreek difference and diversity. But that is to admit that instead of a single Grundbestimmung moods can change in a flash, go from day to night, that beneath laughter and good cheer there lurks a most sober, meditative, even melancholy frame of mind. (AE 62; vgl. AE 53ff.)
Während dieser Gedanke einer unentscheidbaren Gleichzeitigkeit konkurrierender Konzepte auch in anderen Schriften begegnet, ja überhaupt das Charakteristikum von Caputos ‚Schriftstellerei‘ darstellt, hebt sich die Schrift „Against Ethics“ dadurch aus dem gesamten übrigen Werk Caputos hervor, dass Caputo hier mit poetischen bzw. literarisch geformten Passagen operiert, die den beschriebenen Konflikt literarisch inszenieren. So wird eine Serie von pseudonymen Texten innerhalb von „Against Ethics“ mit einer Herausgeberfiktion eingeleitet, in der Kierkegaards181 Pseudonymität182 parodistisch aufgenommen wird. 179
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Gewinn, und sei es nur die Freude am Akt des Gebens. Gabe darf also nicht erscheinen, weil sie sonst aufhört, Gabe zu sein. Gabe, die nicht erscheint, ist aber nicht. So ist die Bedingung der Gabe, dass jemand jemandem etwas gibt, Bedingung der Möglichkeit und Bedingung der Unmöglichkeit von Gabe (vgl. Derrida Falschgeld. Zeit Geben I, 22ff.). Gabe könnte es folglich nur im Zustand des Vergessens geben (a. a. O., 28ff.). Vgl. Putt „What do I love when I love my God? An interview with John D. Caputo“, 155ff. S. o. Anm. 178. Caputo bezeichnet im Rückblick seine Studie „Against Ethics“ als eine Art von postmoderner Neubearbeitung („a kind of postmodern rewrite“) von Kierkegaards „Furcht und Zittern“ (Caputo „‘O Felix Culpa,’ This Foxy Fellow Felix: A Response to Westphal“, 172; in „Against Ethics“ selbst wird Johannes de Silentio als ‚ein gewisser Mentor‘ [„a certain mentor“] der Schrift bezeichnet [AE 5]). Man könnte also ergänzen, dass „Against Ethics“ neben dieser thematischen Anknüpfung an Furcht und Zittern auch eine formale Aufnahme (bzw. „differente Wiederholung“) der literari-
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Caputo hat die Spannung zwischen den konkurrierenden Konzeptionen im Fortschritt des Gedankens seines Buches kontinuierlich aufgebaut und beginnt ein neues Kapitel mit den folgenden Worten: I had reached just this point in my work when I was visited by a remarkable piece of good luck. I had set about in search of a text or group of texts that would bring home to the reader what I had in mind by a “poetics of obligation,” something to illustrate what this task of serving as obligation’s poet or supplementary clerk actually meant, when events took the most felicitous turn, for which I can claim no credit whatsoever nor offer any explanation. […] I received in the mail, anonymously and wholly unsolicited, a parcel, for which I signed only with some suspicion. The package, thin and neatly wrapped in brown paper, contained several typescripts which bore a disproportionately long and very odd title: several lyrical-philosophical discourses on various jewgreek parables and paradigms with constant reference to obligation Johanna de Silentio, Editor (AE 129)183
Caputo führt nun aus, er habe die ihm zugesandten Texte geordnet und kommentiert, um sie dem Leser von „Against Ethics“ als Illustration seines Gedankens vorzulegen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Caputo seine „Ausgabe“ der anonymen Briefsendung als eine ‚merkwürdige Vermischung von Stimmen‘ bezeichnet:
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schen Strategie v. a. des frühen Kierkegaard darstellt. Überdies spielt der Untertitel von „Against Ethics“: „Contributions to a Poetics of Obligation with Constant Reference to Obligation“ offensichtlich an Kierkegaards Dissertation an, welche in der englischen Übersetzung unter dem Titel „The Concept of Irony with Constant Reference to Socrates“ erschienen ist. Auch in anderen Werken Caputos wird Pseudonymität als literarische Strategie verwendet. So ist die Letzte der sechs ‚Erbaulichen Zerstreuungen‘ („Edifying Divertissement“) in Caputos „The Prayers and Tears of Jacques Derrida“ mit dem Namen „Rabbi Augustinus Judaeus“ unterzeichnet (PT 308; die anderen ‚Erbaulichen Zerstreuungen‘ erscheinen orthonym). Eine ähnliche literarische Fiktion begegnet bereits zu Beginn von „Against Ethics“ (AE 42). Vgl. die bis in den Wortlaut mit Caputos Herausgeberfiktion übereinstimmenden Fiktionen von Buchfunden in Kierkegaards „Entweder/Oder“ (EO 12ff. / SKS 2,12ff.) und in den „Stadien auf dem Weg des Lebens“ (SLW I,3ff. / SKS 6,11ff.); in den „Stadien“ erhält das Pseudonym die von ihm herausgegebenen Texte ebenfalls mit der Post. Caputo verwendet auch an anderen Stellen literarische Inszenierungen; so ist in seinem Aufsatz über die Emmausjünger ein Dialog zwischen einem „Heiligen Hermeneuten“ und einem „Advocatus Diaboli“ zu lesen (MRH 211f.); in seinem Aufsatz „Undecidability and the Empty Tomb“ berichtet Caputo, er habe von seiner ‚alten Freundin Johanna de Silentio‘ eine E-Mail erhalten, in der Johanna ihm ‚Das Gleichnis vom Fisch‘ („The Parable of the Fish“) zugesandt habe; der Text berichtet von „Simon“ (Petrus’) reuevoller Erinnerung an seinen Verrat (MRH 244ff.).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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The parcel provided me with a series of imaginative texts to offer to my reader which nicely illustrated the poetic category of which I have spoken in the previous chapters. I feel obliged to warn the reader that what follows is an odd medley of voices: poetic, philosophic, and prophetic; always humerous and satiric but sometimes mixed with the most church-dark solemnity; at times atheistic, at times religious, both Greek and Jew; both male and female. (AE 131)
Das somit angekündigte Kapitel „Several Lyrical-Philosphical Discourses on Various Jewgreek Parables and Paradigms with Constant Reference to Obligation“ bietet acht durch linksbündigen Druck184 aus dem laufenden Text hervorgehobene pseudonyme Reden, ein Ensemble von Stimmen185, in dem Caputo selbst als Kommentator der pseudonymen Passage in Erscheinung tritt. Die Pseudonyme heißen „Felix Sineculpa“, „Johanna de Silentio“, „Magdalena de la Cruz“ und „Rebecca Morgenstern“. Während von den beiden letztgenannten Pseudonymen sowohl hinsichtlich ihrer Namen als auch hinsichtlich ihrer Texte eine verwirrende Vielzahl von Anspielungen ausgehen – „Magdalena de la Cruz“ verwendet in ihrer ersten Rede Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ als Formular, um Mk 3,1-6 und einen Gedanken von Derrida miteinander zu „kreuzen“186 (AE 146ff.), „Rebecca Morgenstern“ trägt eine ,Neubearbeitung‘ von Paul Celans „Todesfuge“ vor (AE 176ff.) – werden die beiden erstgenannten Pseudonyme explizit mit jeweils einem Denker in Zusammenhang gestellt. So schaut Felix Sineculpa – mit Anklängen an Heideggers Seinsdenken – Nietzsches Gedanken, alles menschliche Wahrheitsstreben sei Konstruktion187, folglich gebe es auch keine Verantwortung/Verpflichtung („obligation“) und keine Schuld (daher: „Sineculpa“), mit Nietzsches Lehre vom Sein als einem freien Spiel der Kräfte zusammen.
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Mit demselben drucktechnischen Verfahren werden in Caputos späterem Werk „The Prayers and Tears of Jacques Derrida“ acht ‚erbauliche Zwischenstücke‘ („Edifying Divertissements“, PT 57ff.113ff.222ff.308ff.) vom laufenden Text abgegrenzt. (Auch diese ‚Zwischenstücke‘ orientieren sich an Kierkegaard, dessen „Erbauliche Reden“ in den englischen Übersetzungen unter dem Titel „Edifying Discourses“ bekannt sind.) Caputo äußert sich in einem späteren Text über die Entstehung dieser Komposition (Caputo „Hoping in hope, hope against hope“, 143). Caputo spricht in Bezug auf einzelne pseudonyme Passagen von einem „Ensemble von Stimmen“ („ensemble of voices“; AE 181) und von einer „Polyphonie“ („polyphony“; AE 151.184f.; vgl. zu diesem Begriff auch MRH 204). Es kann jedoch angenommen werden, dass eine Bezeichnung der Inszenierung des Kapitels „Several Lyrical-Philosophical Discourses“ als „Polyphonie“ dem Duktus des Textes entspricht. Vgl. Bachtins Gedanken einer „hybriden“ bzw. „gekreuzten“ Konstruktion (Bachtin Die Ästhetik des Wortes, 195ff.; zu Bachtin vgl. ferner Abschn. C.1.1.2). Vgl. Nietzsche „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Felix frames Nietzsche’s doctrine of the will to power – rather, the more merciless version of it to which I myself have to subscribe, although I am having my doubts about that now – in terms of a narrative that has very oddly assembled elements of the “big bang” theory, presocratic cosmology, and Nietzsche’s doctrine of forces – along with an unmistakable admixture of a certain Heideggerianism about Being and Greeks. Running together Nietzsche’s play of forces with the Spiel of Being in Heidegger, Felix’s tale turns to the opening sentence of “Truth and Lying in the Extra-Moral sense,”188 the result being a merciless reduction of the idiom of obligation – of suffering, injustice, responsibility – to a passing lameness, a bit of ill will, within the forces. (AE 137f.)
Die mit diesen Worten kommentierte Stimme des Pseudonyms „Felix Sineculpa“ klingt im „Original“ wie folgt: In the Beginning was Being and Being was unimaginable black and dense. Being clung to Being without void or division, without light or manifestness […]. After a stretch of time for whose measurment we lack the measure, after a time that produced time, Being had become a flowing movement, racing outward in every direction, more Becoming than Being. After a time for which there is no clock, the swirl of events had settled into certain regular patterns. These patterns, which It has itself produced, would come to be called laws […]. The aboriginal energy of Being’s great beginning, of the great dense blackness, was now redistributed across multiple centers of energy […] into events that competed endlessly with one another in a great cosmic game. […] The play was all and all was just […]. At length, one of the forces drew up lame, no doubt too much abused by the harshness of the Game […]. It curled around and hissed its tongue […]. “The Game is Evil,” the sick forces hissed. “War is a cruel father. Going under and going over are unjust.” […] But the Game gave no answer. Being laughs and dances, plays and frolics, rolls and swirls in great cosmic sweeps – but It does not listen. (AE 134ff.)
In einer späteren Rede treibt das Pseudonym Felix Sineculpa seinen totalen Perspektivisimus mit der Behauptung auf die Spitze, es gebe nur Interpretationen und keine moralischen ‚Tatsachen‘ bzw. ‚Sachverhalte‘ („facts“). Auschwitz is not Evil, not Absolute Evil. […] There are no moral facts, only interpretations. (AE 186)189
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Caputo bezieht sich auf Nietzsche Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, 369: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarb das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.“ Nietzsche fährt fort: „So konnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt […].“ (Ebd.) Caputo verweist auf Nietzsches „Götzen-Dämmerung“.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
73
Dieser Überblendung von Nietzsche und Heidegger190, aus der die erste pseudonyme Stimme „Felix Sineculpa“ „komponiert“ ist, steht die Nacherzählung der Bindung Isaaks durch die zweite pseudonyme Stimme der „lyrisch-philosophischen Diskurse“, i. e. „Johanna de Silentio“, gegenüber. Abraham must do what he must do. He must answer his call. He stood atop the mountain with nothing between him and God, no intermediaries, no other contact. […] Then he seized the boy in a flash and bound him to the altar, the strong, coarse rope cutting the boy’s arms and causing them to bleed. […] Isaac looked at his father, unable to say a thing. And Abraham, for the first time in three days, looked into Isaac’s eyes. Father to son, man to man, face to face, flesh to flesh. Abraham looked for a moment that lasted an eternity into Isaac’s still trusting, still utterly uncomprehending face, his eyes meeting Isaac’s look of love and filial faith. Then he caught sight of Isaac’s bleeding arm and he heard again the voice of a child from long ago. “Do not lay a hand on the lad,” said the voice of the child from long ago. And Abraham wept bitterly. Yet even after so terrible a lesson, even after the madness of the blood economy had been so painfully visited upon him, Abraham still insisted on spilling the blood of the innocent ram caught in a thicket whom he chanced upon. (AE 142)
Der Bezug zu Levinas ist unübersehbar, findet sich bei Levinas doch eine ähnliche Lektüre der Bindung Isaaks.191 Caputo sieht in dieser Levinasschen Stimme ein Plädoyer dafür, dass Verantwortung/Verpflichtung („obligation“) im Angesicht des Anderen ‚geschieht‘. Die feminine Form des Pseudonyms „Johanna de Silentio“ betont, dass hier eine andere Perspektive eingenommen wird, als es bei Johannes de Silentio der Fall ist. Ungeachtet der großen Nähe zu Kierkegaard – Caputo bezeichnet sein Werk „Against Ethics“ als eine Art von postmoderner Neubearbeitung („rewrite“) von „Furcht und Zittern“192 – schließt sich Caputos Pseudonym hier nicht nur Levinas’ in Abgrenzung von Kierkegaard entwickelter Lektüre von Gen 22 an193, sondern geht, so Caputo, sogar über Levinas noch hinaus, indem die Perspektive des geopferten Widders mit in den Blick genommen wird.
190
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193
Heidegger steht insofern in der Kritik von „Against Ethics“, als Heideggers „originäre Ethik“ („originary ethics“) die problematischen Charakteristika von „Ethik“, d. h. die universalisierende Abstraktion vom Einzelnen (s. o. S. 67), Caputos Auffassung nach ins Extrem steigert (vgl. AE 162). Vgl. Levinas Noms Propres. Agnon, Buber, Celan, Delhomme, Derrida, Jabès, Kierkegaard, Lacroix, Laporte, Picard, Proust, Van Breda, 108f. Caputo „‘O Felix Culpa,’ This Foxy Fellow Felix: A Response to Westphal“, 172; s. o. Anm. 181. Vgl. Levinas, ebd.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Johanna clearly gives a Levinasian twist to the story by making it turn on the “face” of Isaac, which turns it accordingly in the direction of avoiding violence. […] But Johanna pushes beyond Levinas – whom she may well regard as another intractable knightly patriarch – by exploring what a feminist version of Levinas’s ethics would look like. She allows the ram, too, to have a face. (AE 145)
In diesen Worten wird deutlich, wie die beiden eingangs beschriebenen Gattungen poststrukturalistischer Theoriebildung durch zwei Stimmen personifiziert werden und ihre Kontroverse als Pseudonymität inszeniert wird. Innerhalb dieser Kontroverse wiederum werden die Perspektiven der zwei Stimmen gesprengt, insofern „Johanna de Silentio“ noch über Levinas hinausgeht. Wahrheit im exklusiven Sinne eignet keiner der Stimmen, sie ereignet sich vielmehr in der Spaltung bzw. der „différance“ zwischen den Stimmen. Where do I myself stand in the midst of these multiple authorial voices, I who have dared sign my own name to this book? The truth of the matter for me – the cold truth that I do [not – Korr. J. S.] know what obligation is – lies in the exchange and interchange among these discourses, like the firing and crossfiring among the columns of Glas, the space or the distance (the différance) between them. (AE 192)194
Caputo deutet hier eine Theorie der Konstitution von Bedeutung vermittels einer Spaltung der Rede in irreduzibel heterogene Stimmen an. Dass Bedeutung in dem von den Stimmen ausgesparten Raum entsteht, ist die Pointe der in der vorliegenden Arbeit vorzuschlagenden Theorie der Sprache des Glaubens195 und der entsprechenden Interpretation des frühen pseudonymen Werks Kierkegaards.196 B.2.2.6 Kritik und Würdigung Im Interesse meiner Arbeit steht weniger die Frage nach der Tragfähigkeit von Caputos „postmoderner“ Religionstheorie, als vielmehr der heuristische Beitrag, den Caputos Arbeit zur Frage nach der Sprache des Glaubens leisten könnte. Dennoch soll in Form eines kurzen Ausblicks angedeutet werden, welche Wege eine prinzipielle Kritik von Caputos Denken zu beschreiten hätte. 194
195 196
Caputo bezieht sich auf Derridas „Glas“ (Paris 1974), in dem Hegels Text und Derridas Kommentar in parallelen Spalten gedruckt sind. Eine ähnliche Formulierung findet sich in Caputos Schrift „On Religion“ im Zusammenhang seiner Erörterung von Religiosität und religiöser Traditionen: „It would never be for me a question of choosing between a determinate religious faith and this faith without faith that does not know what it believes or who we are, but of inhabiting the distance between them […].“ (R 36 [Hervorhebung J. S.]) S. u. Abschn. B.3. S. u. Abschn. C.2-3.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
75
Zunächst sei hier auf ein grundlegendes Problem in Caputos Argumentation hingewiesen: Einerseits bemüht Caputo sich darum, wechselseitig exklusive Oppositionen in eine fluktuierende Vielstimmigkeit zu überführen, andererseits formuliert er selbst exklusive Oppositionen.197 Besonders deutlich wird dies an seiner Selbstdarstellung, mit der die im Jahr 2003 erschienene Festschrift für John D. Caputo eröffnet wird. Hier konfrontiert Caputo Denker vom Typ des „Minimalisten“ mit Denkern vom Typ des „Maximalisten“; selbst zählt er sich zu den Erstgenannten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Typen von Denkern besteht in der Haltung zur Phänomenologie: Während „Minimalisten“ jede Deutung eines gegebenen Phänomens als revidierbare Interpretation betrachten, sind Maximalisten, z. B. Emmanuel Levinas, v. a. aber Jean-Luc Marion, der Auffassung, das Unendliche gebe sich in der Gegebenheit eines Phänomens.198 Zwar stellt Caputo den von ihm aufgestellten Gegensatz zwischen Minimalisten und Maximalisten später wieder in Frage, indem er hinsichtlich dieser beiden Zugänge zur Phänomenologie bemerkt, diese kämen ‚hinter dem Rücken des Denkenden heimlich zusammen‘199. Diese Bemerkung fügt sich aber schlecht in den Duktus von Caputos Argumentation; das Gleiche gilt für Caputos zusammenfassende Feststellung, die Klassifikation von Minimalisten und Maximalisten sei ihrerseits zu relativieren.200 Hier wird m. E. eine Inkonsequenz in Caputos 197
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200
S. o. Anm. 152; vgl. ferner Ayres „A Reading of John D. Caputo’s ‘God and Anonymity’“, 131. Eine ähnliche Kritik formuliert Carlson an Caputos Unterscheidung zwischen einem jüdischen Gedanken des Messianischen und einem christlichen Verständnis des Apophatischen, v. a. aber daran, dass Caputo den Gedanken des „Messianischen“ gegenüber dem christlichen Verständnis des Apophatischen bevorzugt (vgl. Carlson „Caputo’s Example“, 265f.). Sallis beobachtet in seiner Rezension zu Caputos „Radical Hermeneutics“ eine ähnliche Problematik, nämlich dass Caputo einerseits generalisierende und reduktive Termini ablehnt, solche aber andererseits an einzelnen Stellen selbst verwendet (Sallis „John D. Caputo, Radical Hermeneutics. Repetition, Deconstruction and the Hermeneutic Project, Bloomington 1987 [Rezension]“, 188f.). Vgl. Caputos Kritik an Marion in: Caputo „Apostles of the Impossible. On God and the Gift in Derrida and Marion“, 195f. „Different as they may be, if they be, these extremes of underdetermination and overdetermination tend to meet somewhere behind our backs, so that the dark night in which all cows are black and the bright light in which all spirits are white tend to be phenomenologically indistinguishable.“ (Caputo „God and Anonymity. Prologemona to an Ankhoral Religion“, 6) Es ist daher nicht Ayres (allein) zur Last zu legen, wenn er Caputos Relativierung der Klassifikation der Denker in Minimalisten und Maximalisten ‚übersieht‘, wie Caputo in seiner Erwiderung auf Ayres bemerkt (Caputo „The Violence of Ontology: A Response to Ayres“, 148).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Denken sichtbar, die auch an anderen Stellen zu beobachten ist. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, ob Caputos Polemik gegen die biblische Tradition201, die ebenfalls die Gestalt exklusiver Oppositionen annimmt, einen wesentlichen Zug seines Denkens darstellt, oder ob Caputo in seiner Polemik gegenüber seiner eigenen Intention inkonsequent ist. Nun räumt Caputo selbst ein, in seinen polemischen Ausführungen seiner eigenen Absicht nicht immer treu gewesen zu sein: For whatever their institutional shortcomings Edith [Wyschogrod] and I remain attached to our inherited historical faiths, which are the bearers of ancient memories and the guardians of ancient texts, a point that, as regards me at least, may have been obscured by some of the polemics of Prayers and Tears about the distinction between the messianic and the concrete messianism.202 Still, the one devil I do renounce is the devilishness of my attack upon the concrete messianismus in PT [The Prayers and Tears of Jacques Derrida – J. S.], […] which seemed to crush the undecidability of the concrete messianisms and to identify them with the violence for which they are so well known. That identitarianism not only violates the terms of a philosophy of difference, but insults the memory of the extraordinary achievements of unselfish men and women of religious faith, which really would amount to throwing the baby out with the wash. That was a great rhetorical failure in PT, but is was not my vouloire-dire.203
Diese Selbsterklärung legt die Vermutung nahe, dass Caputos Polemik gegen historische Religionen zumindest keine integrale Funktion seines Denkens ist. Daher ließe sich diese Polemik als ein Aspekt seines Werks betrachten, der einer (differenzierten) theologischen Rezeption von Caputos Werk nicht entgegensteht: Weniger die Kritik an der (biblischen) Tradition als vielmehr die Kritik an „Dogmatismus“ und „Triumphalismus“204 ist integraler Bestandteil von Caputos Denken.
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Caputo spricht – im Blick auf den Fundamentalismus (PT 150) – von den „bloody messianisms of the great monotheisms“ (PT 205; vgl. PT 128.134) und bezieht sich mit den Begriffen „biblical baggage“ bzw. „baggage of faith“ auf die biblische Überlieferung bzw. auf die Glaubenstraditionen bestimmter Religionen (PT 189f.195; s. o. S. 61). Caputo „On Being Attached to Philosophers and Prophets. A Response to Wyschogrod“, 313; vgl. ders. „What do I love when I love my God? An interview with John D. Caputo“, 303f.; R 33. Caputo „Hoping in hope, hope against hope“, 147; vgl. zu Caputos Kritik der „bestimmten“ Religion a. a. O., 130; vgl. ferner Olthuis (Hg.) Religion with/out Religion: The Prayers and Tears of John D. Caputo, 2f.; Kuipers „Dangerous safe, safe danger: The threat of deconstruction to the threat of determinable faith“, 22ff. Vgl. Caputo „Hoping in hope, hope against hope“, 148.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
77
Ein prinzipielles Problem stellt weiterhin die freizügige, mitunter assoziativ anmutende Rezeption der philosophischen und theologischen Tradition durch Caputo dar.205 Im Folgenden soll ausgehend von Derridas Reaktion auf Caputos Arbeit näher auf diese Problematik eingegangen werden. In einem Interview, das anlässlich des Erscheinens einer Festschrift für Caputo gehalten wurde206, erläutert Derrida, dass Caputo ihn so lese, wie er nicht nur gelesen werden wolle, sondern auch selbst zu lesen versuche, d. h. in Form einer Fortschreibung, die den gelesenen Text in den kulturellen Horizont des Rezipienten stellt, indem sie ihn „gegenzeichnet“. MD [Mark Dooley]: You once remarked that Jack Caputo reads you the way you love to be read. Why is that so? JD [Jacques Derrida]: I have many reasons for saying this. Firstly, he reads me the way I not only enjoy being read, but also in the way I strive to read others – that is, in a way which is generous to the extent that it tries to credit the text and the other as much as possible, not in order to incorporate, replace, or to identify with the other, but to “countersign” the text, so to speak. This involves approving and affirming the text, not complacently or dogmatically, but in and through the gesture of saying “yes” to the text.
205
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U. a. diese Eigenart von Caputos Texten ist Gegenstand der Kritik von Valentins Rezension: Valentin behauptet, Caputo versuche, „Derrida als Theologen“ darzustellen, indem er ihn als „Saint Jacques“ (PT 134ff.) und „Jewish Augustine from El Biar“ (PT xxv) bezeichne (vgl. Valentin „Das Echo Derridas in der angelsächsischen Theologie“, 26). Dieser Vorwurf ist unzutreffend: Erstens beachtet Valentin nicht die literarische Form von Caputos Werk, in der die äußert spannungsvolle Zusammenschau von Theologie und Dekonstruktion entfaltet wird, die sich in „Pseudonymen“ wie den genannten äußert (vgl. die Erläuterung der Bezeichnung Derridas als „Reb Derrisa“ oben S. 62; vgl. die Erläuterung seiner Pseudonymisierung Derridas und der „Pseudonymität“ von Derridas Schriften bei Caputo „Either–Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony“, 15). Die von Valentin als „pseudopoetisch“ (Valentin, a. a. O., 26) bezeichnete Form von Caputos Werk dient gerade der Vermeidung von simplifizierenden Zuschreibungen wie jener, derer Valentin meint Caputo bezichtigen zu müssen. Zweitens urteilt Valentin, Caputos Arbeit erweise „einer soliden theologischen Rezeption des Derridaschen Werkes zumindest aus europäischer Perspektive einen Bärendienst.“ (Valentin, a. a. O., 27) Nun steht Caputo der Theologie kritisch gegenüber (vgl. PT 28.289.328; vgl. R 116). Sein Werk ist folglich nicht daran zu messen, welchen Dienst er der Theologie (unmittelbar) erwiesen haben könnte. Theologie wird vielmehr kritisch zu fragen haben, welche Impulse von Caputos religionstheoretischer Arbeit für die Theologie ausgehen könnten. Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass Derrida selbst sich nur bedingt als Europäer verstand (vgl. Derrida Das andere Kap, 60). Die Perspektive, aus der Valentin Caputos Derridalektüre beurteilt, steht also zu Caputos Intention und zu Derridas Position in einem äußerst spannungsvollen Verhältnis. Dooley (Hg.) A Passion for the Impossible. John D. Caputo in Focus.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
What I love about Jack Caputo is this willingness to say “yes,” as well as his willingness to countersign and to try and understand what he reads. He does this without giving up his own demanding rigor, his own culture and memory, as well as his singular relation to other texts that I don’t know.207
Das Motiv des „Gegenzeichnens“, auf das Derrida hier rekurriert208, soll kurz erläutert werden, damit deutlich wird, vor welche grundlegenden Fragen der Versuch einer angemessenen kritischen Beurteilung von Caputos Werk sich gestellt sieht. Es handelt sich bei diesem Motiv um einen methodisch höchst bedeutsamen Aspekt der Arbeit von Derrida, da in diesem Motiv das spannungsvolle Verhältnis dekonstruktivistischen Denkens zur Tradition ausgedrückt wird, welches jene Ablehnung hervorruft, von der z. B. Valentins Rezension Zeugnis gibt.209 „Gegenzeichnen“ als Modus der Textrezeption ist der Versuch, dem Gelesenen „treu“ zu bleiben und es zugleich im Kontext der aktuellen Situation zu neuem Leben zu erwecken. So beschreibt Derrida an anderer Stelle das Vorgehen seiner Lektüre in folgender Weise als „Gegenzeichnen“: Nun, wenn ich jemand anderen lese – etwas, was ich andauernd tue und weshalb man mir vorgeworfen hat, daß ich nichts in meinem Namen schreibe, sondern mich begnüge, über Platon, über Kant, über Mallarmé und andere oder über Geoff Bennington in diesem Fall zu schreiben – so ist da ein Pflichtgefühl, das ich empfinde, daß ich dem anderen treu sein muß. Das heißt, mit meinem Namen gegenzuzeichnen, aber in einer Art und Weise, die dem anderen treu sein sollte. Ich würde wahr nicht falsch gegenüberstellen, sondern wahr im Sinne von Treue verstehen.210
Die weitreichenden Implikationen dieser Äußerung Derridas können im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend erörtert werden. Der Rekurs auf Derridas Resonanz auf Caputos Werk schien mir gleichwohl notwendig, um einer vorschnellen Ablehnung von Caputos Arbeit zu widersprechen: Der freizügige Umgang mit philosophischer und theo207
208
209 210
Dooley „The Becoming Possible of the Impossible. An Interview with Jacques Derrida“, 21. Der erörterte Gedanke findet sich – allerdings ohne den Begriff des „Gegenzeichnens“ – auch bei Caputo selbst: „So, the only way to be really loyal to a tradition, that is, to keep it alive, is not to be too loyal, too reproductive; the only way to conserve the tradition is not to be a conservative.“ (Caputo DNJD 79) S. o. Anm. 205. Derrida Als ob ich tot wäre, 31.33 (Hervorhebung von „gegenzeichnen“ J. S.). – Ob Derrida bewusst an den Doppelsinn des hebräischen Wortes tm) anspielt, welches sowohl „Treue“ als auch „Wahrheit“ bedeuten kann, bleibt (zumindest an dieser Stelle) offen. Vgl. hierzu Walter Benjamins Überlegungen zur Übersetzung, die seiner Auffassung nach dem Original treu zu sein habe, und doch dessen Sinn nie voll wiedergeben könne, ja überhaupt nicht als Wiedergabe eines ursprünglichen Sinns zu verstehen sei. (Benjamin Gesammelte Schriften IV/1, 9ff., v. a. 17f.)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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logischer Tradition durch Caputo ist keine Form von Willkür, sondern lässt sich mit dekonstruktivistischen Auffassungen über Interpretation und Wahrheit in Verbindung bringen, die ihrerseits Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung werden müssten, wenn ein Urteil über Caputos Werk gefällt werden soll. Eine solche Auseinandersetzung, die mit einer prinzipiellen Erörterung der (Wahrheits-)Kriterien für geisteswissenschaftliche Urteilsbildung einzusetzen hätte, unterbleibt in dieser Arbeit. Denn nicht Caputos Religionstheorie ist Gegenstand des hier zu Entwickelnden, sondern der Gedanke bzw. die literarische Form der Vielstimmigkeit. Es gilt, die literarische Struktur der von Caputo inszenierten vielstimmigen Figuren wahrzunehmen und nach möglichen Implikationen für die Sprache des Glaubens zu fragen. Die Struktur der von Caputo beschriebenen und praktizierten Vielstimmigkeit findet einen besonders prägnanten Ausdruck in seiner oben zitierten Formulierung, es sei unentscheidbar, welche Stimme welche andere Stimme „bauchredne“211 – ein Begriff, der in der literarischen Strategie von Kierkegaards „Die Wiederholung“ eine zentrale Rolle spielt212: Bedeutung entsteht, so Caputo, gerade im Riss bzw. im Raum zwischen den kontroversen Stimmen, die unentscheidbar in der Schwebe gehalten werden. In Caputos Repristinationen von Kierkegaards literarischer Strategie der Pseudonymität gewinnt diese sprachtheoretische Prämisse eine besonders plastische Gestalt. Vielstimmigkeit im Sinne Caputos impliziert, dass in einer Vielfalt von Stimmen zu reden ist, in der keine Stimme einer anderen über- oder untergeordnet wird. Bedeutung entsteht dann gerade dadurch, dass die aufgrund des Scheiterns eines eindeutigen bzw. einstimmigen Nennens (Gottes)213 auseinander tretenden Stimmen so zusammen- bzw. gegeneinander klingen, dass ihre Heterogenität nicht auf ein gemeinsames, allen Stimmen zu Grunde liegendes Motiv reduziert werden kann. Der irreduzible Antagonismus der vielen Stimmen wäre dann die Kraft, die die Sprache, mit Caputo zu reden, „zur Weißglut treibt“214, zu dem Punkt, wo die Sprache sich selbst verzehrt, an dem Sprache über sich hinaus dringt zu einem „Schweigen“, das aber keine Alternative zur, sondern eine „Verwun211 212 213
214
„[V]entriloquize“ (PT 189f.); s. o. S. 62. S. u. Abschn. C.2.2. So beschreibt Caputo die dekonstruktive, das Denken ,vervielfältigende‘ Kraft des „Namens Gottes“ mit den folgenden Worten: „The name of God disseminates our tongues, multiplies names and truths and the stories we have to tell ourselves to get through the day […].“ (PT 290) Vgl. MRH 250; s. o. S. 64.
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
dung“ bzw. Öffnung der klingenden Sprache darstellt. So entsteht Bedeutung gerade in den Rissen zwischen den kontroversen Stimmen.215 In Caputos vielfältigen Analogien sehe ich provokative, aber fruchtbare Realisierungen vielstimmiger Rede. Die unten vorzustellende Theorie religiöser Sprache ist von dieser Verwendung von Vielstimmigkeit inspiriert. Bevor ich meinen Vorschlag einer dekonstruktivistisch inspirierten Theorie der Sprache des Glaubens in einer kurzen Formel präsentiere, möchte ich die Arbeiten von Thomas Carlson und Graham Ward vorstellen, in denen – teils mit explizitem Bezug auf das Problem religiöser bzw. theologischer Sprache – ähnliche unentscheidbare Analogien entwickelt werden wie bei Caputo.
B.2.3 Thomas Carlson B.2.3.1 Theologie – Thanatologie Thomas Carlsons Studie „Indiscretion. Finitude and the Naming of God“ ist eine synoptische Lektüre von Pseudo-Dionysius und Martin Heidegger auf der einen und Jean-Luc Marion und Jacques Derrida auf der anderen Seite.216 Ziel der Studie ist, diese beiden ‚Paare‘ von Denkern jeweils in das Verhältnis einer „apophatischen Analogie“ zueinander zu setzen. Bei dieser „apophatischen Analogie“ handelt es sich um eine unauslotbare Oszillation zwischen Theologie und Philo215 216
Vgl. AE 192; s. o. S. 74. Die Analogie zwischen Derrida und Marion wird hier nicht ausführlich erörtert, da sie den Gedanken, der in Bezug auf Pseudo-Dionysius und Heidegger formuliert wird, konzeptionell nicht weiterentwickelt: Die „apophatische Analogie“ zwischen Derrida und Marion hat in den Gedanken der „Gabe“ und des „Rufes“ ihr organisierendes Zentrum. Die „Gabe“ ist, so Carlson in Bezug auf Derrida, das Unmögliche, da die Bedingung der Möglichkeit ihres Erscheinens, die Wahrnehmung und Erinnerung durch Subjekte zugleich Bedingung der Unmöglichkeit des Gabeseins ist (I 226; vgl. I 18; s. o. Anm. 178). Das Unmögliche und das Mögliche stehen also nicht einem vollständig diastatischen Verhältnis zueinander, vielmehr umkreist das Mögliche das Unmögliche (vgl. I 227). Hierin sieht Carlson eine Analogie zu Marions Gedanken des Rufes: Marion denkt den „Ruf“ als eine uneinholbare Vor-Gegebenheit, der gegenüber das Subjekt immer zu spät kommt und der das Subjekt folglich nie entsprechen kann (I 228; vgl. I 248). Zwar besteht darin eine fundamentale Differenz zwischen Marion und Derrida, dass der Grund der Unmöglichkeit bei Marion als Überfülle, bei Derrida als Mangel konzipiert wird. Jedoch ist Carlson der Auffassung, dass das Denken von Derrida und Marion gleichwohl zusammengeschaut werden kann, da seiner Auffassung nach die Differenz zwischen Abwesenheit und Anwesenheit in der Erfahrung der Gabe unmöglich wird (I 246 Anm. 3; vgl. I 259). Dies entspricht Carlsons synoptischer Lektüre von Pseudo-Dionysius und Heidegger (s. u. S. 83ff.).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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sophie. Die Inspiration zu dieser „apophatischen Analogie“ verdankt Carlson, wie er mehrfach betont217, einer Äußerung von Derrida. Derrida hatte in seinem Aufsatz „Außer dem Namen“ die Vermutung geäußert, die „apophatischen Mystiken“ könnten auch als Diskurse über den Tod gelesen werden. – Alle apophatischen Mystiken können auch als scharfsinnige Diskurse über den Tod gelesen werden, über die (unmögliche) Möglichkeit des eigenen Todes jenes Daseins, das spricht, und das von dem spricht, was sein Sprechen wie sein Dasein* dahinrafft, unterbricht, negiert oder vernichtet. Zwischen der existentialen Analytik des Seins zum Tode in Sein und Zeit und den Äußerungen Heideggers über das Theologische, das Theiologische und vor allem über eine Theologie, in der das Wort Sein nicht vorkommen würde, scheint mir ein tiefer Zusammenhang und eine strikte Kontinuität zu bestehen. (AN 75)
Die von diesem Gedanken Derridas inspirierte „apophatische Analogie“ entwickelt Carlson, indem er Heidegger und Pseudo-Dionysius auf der einen und Jean-Luc Marion und Jacques Derrida auf der andere Seite in eine kontroverse Beziehung stellt218 (I 10), in der die Grenzen zwischen Philosophie, „Thanatologie“ und (negativer) Theologie überschritten werden.219 Die Analogaten dieser „apophatischen Analogie“ sind die negativ-theologische Logik des Nennens des Unnennbaren (Pseudo-Dionysius, Marion) auf der einen und die negativ-anthropologische Struktur des endlichen Seienden auf der anderen Seite (Heidegger, Derrida). Das tertium dieser Analogie ist eine Leerstelle, genauer: die Leerstelle, welche in den Ungewissheiten besteht, von denen sowohl theologisches als auch philosophisches Denken unvermeidlich heimgesucht werden. Death and mystical unknowing remain beyond experience in the precise sense that they mark a limit at which the thinking and speaking being who is capable of experience would be dissolved or undone as such. There where death would have “occured,” Dasein cannot be present to actualize, think, or express it. There where mystical union would be achieved, the soul is carried beyond its own being, thought, and language. In both cases, 217
218
219
Vgl. I 230; Carlson „Apophatic Analogy: On the Language of Mystical Unknowing and Being-toward-Death“, 211; PPI 169. Eine weitere Modulation dieser apophatischen Analogie hat Carlson in seinem Aufsatz „The Poverty and Poetry of Indiscretion“ vorgelegt: Hier stellt Carlson Jacques Derrida und Maurice Blanchot auf der einen und Meister Eckhart und den Mystiker Marguerite Porete als zwei Erben des Pseudo-Dionysius auf der anderen Seite einander gegenüber. Das Kunstwort „Theo-thanato-logy“ begegnet erst in einem späteren Text Carlsons (vgl. Carlson „Apophatic Analogy: On the Language of Mystical Unknowing and Being-toward-Death“, 211; vgl. zur Zusammenschau von Thanatologie und negativer Theologie auch PPI 175f.).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
our thought and language would signal a term that remains beyond the realm of any knowing or speaking, beyond the realm of actual presence for the self-present subject. For this reason, it cannot be finally decided whether the negativity of the “beyond” results from an excess of presence or of absence, or plentitude or of lack, for the truly excessive, precisely, exceeds this distinction to the point of indiscretion. (I 247; vgl. I 239)
In der Darlegung des Wesens der angenommenen „Analogie“ – bei der es sich um eine Proportionsanalogie, nicht um eine Attributionsanalogie handeln soll220 – beruft Carlson sich auf Caputos frühe Arbeit über Heidegger, in der Caputo eine Analogie zwischen Heidegger und Meister Eckhart herausgearbeitet hatte. In my use of analogy here, I stress that analogy is one of relation, not attribution: the relation of Dasein to its impossible death in Heidegger is likened to the relation of the created soul to its unnameable God in Dionysius. Like Caputo’s earlier use of analogy in a similar context, where he compares the relation between human thought and Being in Heidegger to the relation between the soul and God in Eckehart, the analogy I develop “suggests a similarity of structures, not of content. It is not what is related but how which is comparable.” (I 17)221
Das apophatische Moment der „apophatischen Analogie“ besteht nun darin, dass sich nicht nur die Identifikation der Analogaten, sondern auch deren Unterscheidung verbietet (I 17; vgl. ferner I 5). Das Moment dieser Unentscheidbarkeit ist die entscheidende Denkbewegung in Carlsons Werk. So sind Heideggers Rede vom Tod und Pseudo-Dionysius’ Rede von Gott weder zu identifizieren noch zu trennen. I do not intend to imply that the Dionysian God is equivalent to Heideggerian death (or vice versa). Nor, however, can I wholly separate that God from that death […]. It is in this sense that an “indiscretion” grounds the (groundless) analogy, and it is on the basis of such indiscretion that the analogy itself proves to be an “apophatic analogy”: that is, an unsettled and unsettling analogy between two figures of the unknowable and ineffable. (I 17)
Apophatisch ist die Analogie also darin, dass sie zwischen Unterscheidung und Identifikation ständig oszilliert, d. h. die behaupteten Unterscheidungen und Ähnlichkeiten stets aufs Neue verneint bzw. zurücknimmt („unsay“). 220
221
Die „apophatische Analogie“ sucht eine Zusammenschau zweier Termini, die über eine Proportions- bzw. Attributionsanalogie, in der „das analog gemeinsame dem zweiten Analogat in Abhängigkeit vom ersten zugeteilt“ wird (Lotz Art. „Analogie“, 12), und eine Proportionalitätsanalogie, die darin gründet, „daß jedes der Analogate eine Beziehung einschließt, in der sie zugleich übereinkommen u. auseinandergehen“ (ebd.), in dem Sinne negativistisch hinausdrängt, dass das Übereinkommen der Analogaten in einer Unbestimmtheitsrelation besteht. Carlson zitiert Caputo The Mystical Element in Heidegger’s Thought, 144; vgl. zur Spezifikation der „apophatischen Analogie“ auch I 254. Carlson betont an anderer Stelle, dass sein Beitrag große Ähnlichkeit mit Caputos Annäherung an das Apophatische aufweist (I 7 Anm. 10).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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The analogy I have suggested between Dasein’s relation to death and the created soul’s unknowing relation to the unknowable God becomes fruitful in the measure that such a death and such a God might be thought together, indiscretely – as neither identical nor wholly distinct. Toward that end, the appropriate analogy is […] itself apophatic: oscillating between distinction and identification, it would have constantly to unsay both whatever similarities and whatever differences it might assert. (I 255)
B.2.3.2 Martin Heidegger – Pseudo-Dionysius Areopagita Die Zusammenschau von Heidegger und Pseudo-Dionysius hat ihr Gelenk im Gedanken der ekstatischen Verfassung des Daseins bzw. der Subjektivität. Carlson entwickelt diese Zusammenschau, indem er die Rede vom ins Sein gerufenen Seienden in Pseudo-Dionysius’ Schrift „Die Namen Gottes“ so wiedergibt, dass sich eine Analogie zu Heideggers Gedanken einer ekstatischen Verfassung des Daseins nahe legt. Dies geschieht näherhin, indem die ekstatische Verfassung des Selbst bei Heidegger und die ekstatische Verfassung der Seele bei Pseudo-Dionysius miteinander in Beziehung gesetzt werden: Der nie als gegenwärtig erfahrbare Tod (Heidegger) und das ‚mystische Wissen‘ (Pseudo-Dionyisus) konvergieren darin, dass hier wie dort ein Ereignis stattfindet, das die Grenzen des Repräsentierbaren übersteigt. Like the death that is mine alone and yet never experienced by me as present in conscioussness or knowing, in language or expression, the mystical unknowing of a God who is nothing, indeed a God “without truth”, throws me into that unity where I am neither myself nor another – beyond all knowing or language. (I 189)
Die ekstatische Verfassung des Daseins, wie Heidegger sie denkt, d. h. das „Geworfensein“, findet darin Ausdruck, dass das Dasein sein Sein nicht selbst „gründet“, sondern es vielmehr erleidet (I 120). Als Möglichsein ist Dasein wesentlich das, was es noch nicht ist (I 124). These characteristics of Dasein’s potentiality-for-Being, the “ahead of itself” and the “not yet,” might seem to indicate an essential lack of wholeness, the impossibility of Dasein’s ever Being a whole, for “as soon as Dasein ‘exists’ in such a way that absolutely nothing more is still outstanding in it, then it has already for this very reason become nolonger-Being-there (Nicht mehr da-sein)” [Heidegger Sein und Zeit, 236]. The Beingthere of Dasein involves this irreducible “not yet” in such a way that Dasein is only so long as it is not yet all that it is to be. To achieve any such completion is for Dasein to lose its “there.”222 (I 138; vgl. hierzu auch I 244)
222
Zum paradoxen Ineinander von Möglichkeit und Unmöglichkeit bei Heidegger vgl. I 142 mit Verweis auf Heidegger Sein und Zeit, 262: „Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich. Je unverhüllter diese Möglichkeit verstanden wird, um so reiner dringt das Verstehen vor in die Möglichkeit als die der Unmöglichkeit der Existenz überhaupt.“
84
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Bei Heidegger stellt sich diese ekstatische Verfassung des Selbst näherhin so dar, dass das Selbst zwischen Vergangenheit und Zukunft heraus-steht und so unabgeschlossen gehalten wird: zwischen der Nichtigkeit der nicht zu vergegenwärtigenden und nie Gegenwart gewesenen Vergangenheit und dem Tod als der unmöglichen Möglichkeit abgeschlossenen Daseins. The radical priority of my thrownness – which “precedes” and constitutes me in such a way that I could never get behind or before it to will, intend, or ground it – comes to light only in the radical futurity of my death, which, as future that never becomes present in actuality or experience, nevertheless manifests the “whole” of my Being. If Dasein’s nullity or Being-guilty becomes manifest only on the basis of Dasein’s “whole” being, that “wholeness” proves, precisely at that point, to be radically open. The past that never was in the sense of being present in any presence (in short, my thrownness) returns – or first appears – in the future that never arrives (the impossible death that is nevertheless my own). Temporality stretches Dasein out between its thrownness (which it always carries along with itself) and its projection against the ultimate horizon of Being-toward-death (death being not a future event but a constitutive mode of Dasein as such); in doing so, it holds together the overall ec-static structure of Dasein: Dasein “stands” (sistit) “out” (ex) from itself in its very existence – out from the nullity of its past and toward the nullity of its future. (I 147f.; vgl. I 124 u. PPI 170)223
Bei Pseudo-Dionysius begegnet eine Konzeption der ekstatischen Verfassung der Seele, welche zu der Heideggerschen – ungeachtet aller Differenz – in einem Verwandtschaftsverhältnis steht. Dionysius denkt Sein ebenfalls als in fundamentaler Weise ekstatisch: Alles Sein kommt von der transzendenten Ursache und kehrt zu dieser zurück. Being in Dionysius is fundamentally ecstatic […]. On the one hand, the hierarchical structure of reality embodies the thearchic movement of the divine procession, or πρ1οδος. Through the movement of procession, the divine stands ecstatically outside of itself and into the realm of creation. On the other hand, the same structure can be understood according to the corresponding return movement of reversion or conversion – πιστροφ. The turning-about of all created being toward its source effects the characteristic ecstasy of created being. The ecstasy of the created soul, which Dionysius’s theology seeks both to articulate and to promote, indicates the manner in which created, human being stands constitutively or essentially “outside” of itself. (I 161)224
223 224
Zur Kritik an Carlsons Heideggerinterpretation s. u. S. 89ff. Zum neuplatonischen Modell von πρ1οδος und πιστροφ, vgl. Stolina Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, 13; Ruh Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, 56). – Vgl. zum Begriff „ekstatisch“ auch I 163: „To be unified with God […] would be to stand ecstatically out of oneself in a manner of reflecting the generous ecstasy, or the ecstatic generosity, of God himself.“ (Vgl. ferner I 183 mit Verweis auf DN 712A; Stolina, a. a. O., v. a. 19ff.)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
85
Die Einigung mit Gott als der transzendenten Ursache ereignet sich als ein nicht endender Prozess des Aufstiegs, angetrieben von der Kraft des Verlangens (I 167). Die ekstatische Verfassung der Seele „gründet“ wesentlich in dem Ruf, der an die Seele ergeht und sie konstituiert: Der Ruf, der die Welt von jenseits der Welt begründet, ruft die Seienden dazu auf, ekstatisch zwischen dem Nichts, aus dem sie stammen, und der ursächlichen Kraft, nach der sie verlangen und die selbst ein Nicht-Seiendes ist, zu stehen. The call that brings beings to birth here is the call of a beauty that provokes or instills the longing desire through which beings are as such – in the mode of response. Such a call grounds all the world from beyond the world; it signals a “power for ‘being’” that comes “from a power beyond being (τ) ε6ναι δναμιν ε*ς τ) ε6ναι 2χει παρ+ τ,ς περουσ ου δυνμεως)” (DN 892B), a power that “founds the earth upon nothing (κα τ,ν γ,ν π’ οδεν)ς (δρει)” (DN 892D). The beings that are in this way called to be stand ecstatically between the nothing out of which they issue or on which they are founded (as called) and that casual power beyond being toward which they all longingly tend – their divine telos (τελικ)ν α7τιον [DN 704A]) which “is” itself no thing, or a nonbeing: for “nonbeing (τ) μ 8ν), when applied transcendently to God in the sense of a denial (9ταν ν ε4 κατ+ τν πντων φα ρεσιν περουσ ως μνε"ται), is itself beautiful and good” (DN 704B) […] This play of positing and removal, affirmation and denial, characterizes the thought and language of that ecstatic being who ever is, who ever responds, who ever remains, between the nothing from which it is called and the transcendent non-being for which it yearns. (I 181; vgl. I 16.159)225
Hier wie dort beobachtet Carlson die paradoxale Denkfigur einer unmöglichen Bedingung der Möglichkeit: Wie das Nennen des Unnennbaren, also das Nennen Gottes, ein Verhältnis des Möglichen zum Unmöglichen darstellt, so kann das Subjekt im Tod als der notwendigen, aber zugleich unmöglichen Bedingung vollkommener Existenz nicht gegenwärtig sein. Just as I cannot be present in my death – and thus, as living, remain ever open toward that death, so my language never fully names that anonymous call – and thus remains radically open. […] The naming of the unnameable in Dionysius, if pushed to its extreme, might thus constitute a relation of the possible to the impossible; the thought and language that are possible, that we live and experience, circle in endless desire around that which remains utterly impossible – to comprehend, speak, and be sated by the Good that ever remains to be thought, named, desired. (I 229; vgl. PPI 170)
Die Unmöglichkeit, in der unio mystica präsent zu sein, entspricht – im Sinne einer apophatischen Analogie – der Unmöglichkeit, im Tod als der unmöglichen Bedingung abgeschlossenen Daseins präsent zu sein. 225
Vgl. auch I 175 (mit Verweis auf DN 596C) und I 251 zur Prädizierung Gottes als „nichts“ („nothing“). Vormals sprach Carlson von der Nichtigkeit Gottes („nullity of God“, I 16). Zur Kritik an dieser Darstellung s. u. S. 87ff.
86
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Just as “I,” as the speaking, thinking, desiring being that I am, could not be present to experience mystical union with the divine source of being, so as Dasein, I would not be there where my death would “occur.” (I 229)
Nun unterscheidet sich diese Konzeption der ekstatischen Verfassung der Seele offensichtlich von der Heideggerschen Bestimmung des ekstatischen Daseins darin, dass Heidegger, anders als Pseudo-Dionysius, den Ausstand abgeschlossenen Seins in der Zeit in einem fundamental negativen Sinne beschreibt. Im Denken des Pseudo-Dionysius hingegen gründet wahres Verlangen nicht in der Abwesenheit, sondern in der Anwesenheit des Verlangten (I 168).226 Doch stellt Carlson die – für sein ganzes Projekt einer „apophatischen Analogie“ zentrale – Hypothese auf, dass ein Verlangen, welches in Mangel, und ein Verlangen, welches in Überfluss gründe, ununterscheidbar seien. Indeed, I will suggest that desire from excessive presence and desire from excessive lack may well be indistinguishable. This possible “indiscretion” would be key to my attempt to relate Dionysian unknowing and Heideggerian death. In that attempt, I will take seriously a notion that apophatic and mystical theology can be read to convey: I do not know what I desire – and therefore I cannot say whether it involves the excess of plentitude or of lack. The intensity of excessive desire would blind or devastate me to the point of unknowing – beyond the simple alternative of presence and absence. (I 168; vgl. I 232f.)
Diese „Indiskretion“ zwischen Mangel und Fülle, Abwesenheit und Anwesenheit ist das Scharnier von Carlsons „apophatischer Analogie“. As my argument should indicate, I am seeking in the present work a point of indiscretion where “unknowing” would become radical enough that these distinctions – powerful and productive in so many contexts – would be open to question. The seeming “lack” spelled by Heideggerian death and the seeming “super-plentitude” of Dionysius’s God could prove finally indistinguishable insofar as they both defeat the selfpresence of any thinking subject who might articulate the distinction. As Caputo indicates of negative theology: We really do not know what we desire – and so, I would argue, we could not really say whether desire’s excess is one of lack or of plentitude. In its excess, the endless end of desire, precisely, exceeds any simple distinction between presence and absence. (I 246 Anm. 3; vgl. I 259)
226
Die Ausführungen Stolinas bestätigen Carlsons Interpretation des Pseudo-Areopagitischen Denkens: „Wo das Dunkel (γν1φος) göttliche Erscheinungsweise (ε"ος γν1φος) ist, das unzugängliche Licht, in welchem Gott wohnt – in Ep V ([S.] 162 [Z.] 3) identifiziert Dionysius das göttliche Dunkel explizit mit dem unzugänglichen Licht nach 1. Tim 6,16 –, ist es nicht Ausdruck eines Mangels, sondern eine alles andere überstrahlende Fülle: πρφωτος γν1φος, unsichtbar und dunkel, wegen der Überfülle strahlender Helle; unzugänglich, wegen des Übermaßes überwesentlichen Lichtes (περβολ περουσ ου φωτοχυσ ας) [Stolina verweist auf Ep V; S. 162 Z. 5)].“ (Stolina Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, 21)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
87
B.2.3.3 Kritik und Würdigung Im Folgenden ist auf grundlegende Probleme in Carlsons These hinzuweisen, auf Grund derer diese allerdings nicht notwendigerweise insgesamt in Frage gestellt, sondern eher eine Modifikation vorgeschlagen wird; die vorgeschlagene Modifikation lässt sich mit der Vorgehensweise Carlsons in Verbindung stellen. Die „apophatische Analogie“ zwischen negativen Denkfiguren setzt diese Figuren selbst in einer Art und Weise miteinander in Beziehung, die der Bewegung der „Mystischen Theologie“ des Pseudo-Dionysius strukturanalog ist. So wie Pseudo-Dionyisus’ „Mystische Theologie“ eine gegenüber affirmativer Rede (κατφασις) und negativer Rede (π1φασις)227 dritte, den Gegensatz zwischen den beiden wiederum transzendierende (nicht: vermittelnde) Bewegung darstellt, die jenseits aller Bejahung und Verneinung ist (περ π$σαν κα% φα ρεσιν κα% σιν228), so siedelt die „apophatische Theologie“ jenseits des Gegensatzes von Theologie und Thanatologie, nämlich jenseits einer Identifikation und jenseits einer Trennung der Analogaten, jenseits des Gedankens der Überfülle (Pseudo-Dionysius) und des Mangels (Heidegger). Diese Adaption eines Pseudo-Dionysischen Gedankens scheint mir als solche höchst originell und fruchtbar zu sein. Die Frage ist allerdings zu stellen, inwieweit die Analogaten tatsächlich ununterscheidbar sind, bzw. in welcher Hinsicht sich ggf. doch eine Unterscheidbarkeit nahe legt. Vor dem Hintergrund von Derridas Lektüre von Pseudo-Dionysius’ „Über die Mystische Theologie“ wäre näherhin die Frage zu stellen, ob das Drängen dieser Bewegung sich nicht ständig wieder an seinen Anfang zurückgeworfen sieht. An diesen Gedanken wird mein Vorschlag einer Modifikation anknüpfen. Die Frage, inwieweit nicht doch eine klare Trennung zwischen den Analogaten möglich ist, soll im Folgenden erörtert werden, indem der Gedanke der ekstatischen Dimension des Selbst in Bezug auf seine Zeitlichkeit näher betrachtet wird. Problematisch ist Carlsons These, Gott selbst werde bei PseudoDionysius als Nicht-Seiendes (τ) μ 8ν; DN 704B; S. 152 Z. 10) bezeichnet. Zur Erinnerung soll die betreffende Passage aus Carlsons Text nochmals wiedergegeben werden: The beings that are in this way called stand ecstatically between the nothing out of which they issue or on which they are founded (as called) and that casual power beyond being toward which they all longingly tend – their divine telos (τελικ)ν α7τιον [DN 704A]) 227 228
Vgl. MT 1000B; S. 143 Z. 4ff.; s. o. Exkurs 1. MT 1000B; S. 143 Z. 7; s. o. Exkurs 1.
88
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
which “is” itself no thing, or a nonbeing: for “nonbeing (τ) μ 8ν), when applied transcendently to God in the sense of a denial (9ταν ν ε4 κατ+ τν πντων φα ρεσιν περουσ ως μνε"ται), is itself beautiful and good” (DN 704B). (I 181; vgl. I 16)229
Carlson bezieht sich hier auf den folgenden Satz aus Pseudo-Dionysius’ Text „Die Namen Gottes“, der nun vollständig zitiert werden soll: Τολμσει δ# κα% το<το ε*πε"ν = λ1γος, 9τι κα% τ) μ ?ν μετχει το< καλο< κα% γαο<, τ1τε γ+ρ κα% ατ) καλ)ν κα% γα1ν, 9ταν ν ε4 κατ+ τν πντων φα ρεσιν περουσ ως μνε"ται. (DN 704B [S. 152 Z. 10-12])230
In Carlsons Berufung auf diese Passage wird der Duktus dieses Gedankens in einer problematischen Weise umgekehrt. Bei Pseudo-Dionysius wird das Nichtsein Gott in überwesentlicher Weise zugeschrieben. Damit wird ausgesagt, dass das Nichtseiende von Gott nicht getrennt ist, im äußersten Fall, dass das Nichtsein „in Gott“ ist231, nicht jedoch, dass Gott selbst Nichtsein „sei“. Nicht über Gott, sondern über das Nichts wird eine Aussage getroffen; das Nichts ist das Subjekt des Satzes, das ‚in-Gott-gefeiert-Werden‘ Prädikat.232 Carlson zieht diese Passage als Begründung für seine Behauptung hinzu, das ekstatisch Seiende strebe in das Nichts, indem es zu Gott strebe (vgl. I 181). Dies wäre nur dann der Fall, wenn Gott als Nichts ‚gefeiert‘ würde. Es verhält sich nun aber gerade umgekehrt: Das Nichts wird „in Gott“ gefeiert, und zwar „der Negation von allem zufolge“ (κατ+
229 230
231 232
S. o. S. 85. In der deutschen Übersetzung von Suchla lautet der Satz: „Meine Abhandlung wird sich aber auch zu dieser Äußerung entschließen, daß auch das Nichtexistierende an dem Anmutigen und Guten Anteil hat, da es selbst nämlich dann anmutig und gut ist, wenn es der Negation von allem zufolge überwesenheitlich in Gott gefeiert wird.“ (Pseudo-Dionysius Areopagita Die Namen Gottes, 47) Neben dieser Stelle verweist Carlson auch auf die folgende Passage aus „de Divinis Nominibus“: „[D]ie biblischen Schriftsteller […] preisen […] die Überwesenheit einerseits als Namenlose, andererseits wiederum mit jeglichem Namen. […] Und sie sagen, dass sie [die Ursache – J. S.] sogar in den Vernunftwesen sei, ferner in den Seelen, in den Körpern, im Himmel und auf der Erde, zu gleicher Zeit ebenderselbe und ebendemselben, innerweltlich, weltliche Maßstäbe umfassend und übersteigend […], alles Sein und doch nichts von dem, was ist [πντα τ+ 8ντα κα% οδ#ν τν 8ντων].“ (DN 596A-C; S. 118 Z. 2-S. 119 Z. 9, Die Namen Gottes, 26f.) Hier ist keinesfalls die Rede davon, dass Gott nichts oder das Nichts sei: Gott bzw. die Ursache ist vielmehr nicht unter den Dingen. Vgl. auch I 177f., mit Verweis auf die Worte „Er ist nichts des Seienden [οκ 2στι τι τν 8ντων] […].“ (DN 872A; S. 198 Z. 7) Abhängig davon, wie der Dativ ν ε4 zu interpretieren ist. „[…] τ) μ ?ν […] ν ε4 […] περουσ ως μνε"ται“ (DN 704B; S. 152 Z. 10-12).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
89
τν πντων φα ρεσιν233). Diese Negation bzw. die Absprechung (φα ρεσις) entspricht der negativen Theologie als der Zweiten der beiden „Theologien“, die in der „Mystischen Theologie“ beschrieben werden.234 Wenn das Nichts gemäß dieser negativen Theologie „in Gott“ gefeiert wird, dann bedeutet dies vermutlich, dass es in seiner Funktion als eine Negation, die selbst wieder negiert wird235, gefeiert wird. Gott ist jenseits aller affirmativen und negativen Rede (περ π$σαν κα% φα ρεσιν κα% σιν)236, dementsprechend ist noch die Trennung zwischen Gott und Nichts in Gott transzendiert bzw. in der Rede von Gott zu transzendieren. Das Nichts wird also nicht von Gott ausgesagt, sondern Gott wird als der gepriesen, der noch die Trennung von Sein und Nichts übersteigt. Folglich strebt die Seele nicht in das Nichts, indem sie zu Gott strebt, sondern strebt zu dem, der überwesentlich als der gepriesen wird, in dem die Unterscheidung von Sein und Nichts aufgehoben ist. Dass die Seele aus dem Nichts ins Sein gerufen ist (Vergangenheit), lässt sich mit dem Denken des Areopagiten möglicherweise vereinbaren; die Behauptung, dass die Seele überdies auch in ein Nichts strebe (Zukunft), trifft hingegen nicht zu: Nichtigkeit eignet der Seele bei Pseudo-Dionysius, wenn überhaupt, dann in Bezug auf ihre Geschöpflichkeit und insofern in Bezug auf ihre Vergangenheit237, insofern die Seele von Gott aus dem Nichts ins Sein gerufen wurde. Von der Dimension der Zukunft lässt sich hingegen nicht ohne interpretatorische Konjekturen behaupten, dass diese ebenfalls eine ekstatische Dimension der Nichtigkeit darstelle. Umgekehrt verhält es sich bei Heidegger: Hier stellt nicht die Dimension der Zukunft, sondern die Dimension der Vergangenheit hinsichtlich Carlsons Interpretation ein Problem dar. Denn unter den 233 234
235
236 237
DN 704B; S. 152 Z. 12. Vgl. MT 1000B; S. 143 Z. 4ff. („ποφσκειν“ und „φαιρε"ν“ werden hier synonym verwendet). – Die Überschrift des dritten Kapitels: „Was die affirmativen Theologien [seien], und was die negativen“ („τ νες α( καταφατικα% Θεολογ αι, τ νες α( ποφατικα “ (vgl. die Anm. zu MT 1032D; S. 146 Z. 1 im kritischen Apparat) gilt in der verwendeten kritischen Ausgabe zwar als sekundär, der Begriff „negative Theologie“ wird hier der Einfachheit halber dennoch verwendet (vgl. auch Exkurs 1). S. o. Exkurs 1 zur Negation der Negation in Pseudo-Dionysius’ „Über die Mystische Theologie“. MT 1000B; S. 143 Z. 8. In dieser Hinsicht kann Carlson sich auf den Gedanken der creatio ex nihilo beziehen: „Die überwesentliche Kraft (περουσ ος δναμις, DN 892B; S. 201 Z. 20f.) […] gründet die Erde auf dem Nichts (τν γ,ν π’ οδεν)ς (δρει) […].“ (DN 892D; S. 202 Z. 16; vgl. I 181)
90
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Ekstasen der Zeitlichkeit hat die Zukunft gegenüber den anderen Ekstasen (Gewesenheit, Gegenwart) den Primat238: Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ‚Auf-sichzu, des ‚Zurück-auf‘, des ‚Begegnenlassen von‘. Die Phänomene des zu …, auf …, bei … offenbaren die Zeitlichkeit als das κστατικ1ν schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche „Außer-sich“ an und für sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit […]. Bei der Aufzählung der Ekstasen haben wir immer die Zukunft an erster Stelle genannt. Das soll anzeigen, daß die Zukunft in der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeit einen Vorrang hat, wenngleich die Zeitlichkeit nicht erst durch eine Anhäufung und Abfolge der Ekstasen entsteht, sondern je in der Gleichursprünglichkeit derselben sich zeitigt. Aber innerhalb dieser sind die Modi der Zeitigung verschieden. Und die Verschiedenheit liegt darin, daß sich die Zeitigung aus den verschiedenen Ekstasen primär bestimmen kann. Die ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich aus der eigentlichen Zukunft, so zwar, daß sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt. Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.239
Hier wird deutlich, dass bei Heidegger die Vergangenheit zumindest nicht in derselben Weise als ekstatisch gelten kann wie die Zukunft, insofern die Zukunft als das „primäre Phänomen“ der Zeitlichkeit bezeichnet wird.240 Verbindet man nun die beiden soeben formulierten kritischen Rückfragen, dann ergibt sich folgendes Problem: Die Analogie zwi238
239
240
Carlson erwähnt diesen Sachverhalt selbst, allerdings in einer m. E. etwas zu schwachen Formulierung: „[…] [T]he futurity of Being-toward-death does hold a certain privilige insofar as it alone brings the three ecstases and temporal modes together as a whole.“ (I 148; vgl. I 149) Heidegger Sein und Zeit, 328f.; vgl. I 150 (Carlson zitiert die ersten Sätze dieser Passage). Deutlich wird das Verhältnis von Zukunft und Gewesenheit z. B. in den folgenden Worten: „Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Leben sich zurückwerfen lassen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ,seine Zeit.‘“ (Heidegger, a. a. O., 385) Die Zukunft ist also insofern das primäre Phänomen der Zeitlichkeit, dass sie „das entschlossene existentielle Verstehen der Nichtigkeit ermöglicht.“ (A. a. O., 330; vgl. zur Priorität der Zukunft in Heideggers „Sein und Zeit“ Sauter Zukunft und Verheissung. Das Problem der Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 34ff.; v. a. 38). Allerdings lässt sich Carlsons Interpretation andererseits auch nicht kategorisch bestreiten. So findet sich bei Heidegger der Gedanke, dass die „Geworfenheit“ als eine Größe, die in die Vergangenheit weist, den „ekstatischen Charakter der Überlassenheit der Existenz an den nichtigen Grund ihrer selbst“ (Heidegger Sein und Zeit, 348) mit bestimmt. Überdies zeitigt sich Zeitlichkeit in jeder Ekstase ganz (a. a. O., 350).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
91
schen Pseudo-Dionysius und Heidegger beruht darauf, dass beide, so Carlson, Dasein als ekstatisch in Vergangenheit und Zukunft ‚gegründet‘ denken. Wenn dies jedoch im Hinblick auf Pseudo-Dionysius in Bezug auf die Zukunft als einer vermeintlich ekstatischen Dimension fraglich wurde, im Hinblick auf Heidegger hingegen in Bezug auf die Vergangenheit, dann gerät die Annahme des beschriebenen Analogieverhältnisses ins Wanken. Aus diesen kritischen Rückfragen an die Interpretation von PseudoDionysius und Heidegger241 ist aber keinesfalls der Schluss zu ziehen, Carlsons Projekt sei insgesamt gescheitert. Der Versuch von Carlson, divergierende Konzepte in ein unentscheidbares Wechselverhältnis zu bringen, scheint mir auch dann noch höchst fruchtbar zu sein, wenn sich herausstellen sollte, dass die „disanologischen“ Momente gegenüber den analogischen Momenten überwiegen: Die Pseudo-Dionysische und die Heideggersche Rede von der Konstitution des Selbst sind zwar durchaus unterschieden (diskret). Jedoch zeigt Carlson überzeugend, dass die strukturellen Übereinstimmungen zwischen Pseudo-Dionysius und Heidegger an einigen Punkten so weitreichend sind, dass die Grenzen zwischen den Stimmen dieser beiden Denker porös (indiskret) werden. Carlsons These wäre in der Hinsicht zu modifizieren, dass die Oszillation sich nicht nur zwischen Mangel und Fülle, sondern auch zwischen einem Denken in Diskretion und einem Denken in Indiskretion zu ereignen hat.242 Vor dem Hintergrund von Derridas Lektüre von Pseudo-Dionysisus’ „Über die Mystische Theologie“ ließe sich also folgende Modifikation vorschlagen: So wie Pseudo-Dionysius’ Text „Über die Mystische Theologie“ nicht in einem „transzendenten Signifikat“ jenseits von Affirmation und Negation Ruhe findet, sondern in die Sprache zurückfällt, so kann auch der Gedanke der apophatischen Analogie in der „Indiskretion“ keine Ruhe finden, sondern 241
242
In Bezug auf das Verhältnis von Derrida und Marion sei hier nur angemerkt, dass die Begegnung dieser beiden Denker in 1997 in Villanova die Auffassung nicht unterstützt, es könne eine fruchtbare Analogie zwischen den Konzeptionen dieser beiden Denker geben, da das Gespräch über die Erörterung von wechselseitigen Missverständnissen und die Entfaltung der beiden Positionen nicht wesentlich hinauszugehen scheint (vgl. Marion „In the Name. How to Avoid Speaking of ‘Negative Theology’“; Derrida „Responsevortrag zu: J.-L. Marion, In the Name. How to Avoid Speaking of ‘Negative Theology’“). Zwar gibt Carlson selbst zu verstehen, seine „apophatische Analogie“ oszilliere zwischen Unterscheidung und Identifikation (I 255; s. o. S. 83), jedoch scheint mir das Unterscheidende zwischen den Analogaten – die Deutung des Exzesses als Mangel hier und als Überfülle dort – in Carlsons Gedanken, Mangel und Überfülle seien ununterscheidbar, als überwunden zu gelten.
92
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
sieht sich ständig der Möglichkeit einer Trennung der Analogaten „in Diskretion“ ausgesetzt. Derart modifiziert ist Carlsons Studie dann allerdings ein äußerst furchtbares Beispiel für einen theologischen Diskurs, der mit dem Gedanken einer „Vielstimmigkeit“ in enger Verbindung steht, insofern heterogene Diskurse bzw. „Stimmen“ in bedeutungsvoller Art und Weise zusammen und gegeneinander klingen. Bevor in einem diesen Teil abschließenden Abschnitt243 eine Theorie der Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren vorgeschlagen wird, ist nun noch Graham Wards Zusammenschau von Barth und Derrida zu erörtern.
B.2.4 Graham Ward B.2.4.1 „Postmoderne Theologie des Wortes“ Graham Wards Studie „Barth, Derrida and the Language of Theology“ erhebt den Anspruch, eine „neue“, näherhin eine „postmoderne“ Theologie des Wortes darzustellen (BDLT 256; vgl. BDLT 10.107). Ohne für eine Definition des Wortes „postmodern“ zu optieren, assoziiert Ward mit diesem Begriff das ‚modernistische Dilemma‘, welches seiner Auffassung nach als ‚Krise der Repräsentation‘ bereits in der Wirkungszeit des frühen Karl Barth virulent war (BDLT 8). „Postmoderne“ ist dementsprechend keine Epoche nach der Moderne, vielmehr ist ihr Keim bereits in der Thematisierung und der daraus resultierenden Problematisierung von „Repräsentation“ angelegt (BDLT 57f.). Von dieser Annahme einer historischen Kontinuität zwischen Barth und Derrida ausgehend, entfaltet Ward seine These zunächst vermittels einer geistesgeschichtlichen Analyse der Zusammenhänge zwischen Barth, Levinas und Derrida, die im Vordergrund seiner Untersuchung stehen. Die ‚postmoderne Theologie des Wortes‘ als Ziel von Wards Studie hat ihr Zentrum in dem Aufweis der wechselseitigen Beziehungen zwischen Barths und Derridas Denken. The conclusion argues that Barth’s theology of the word in relation to words – his analogia fidei, his Christology and his incarnational theology – are theological readings of a law of textuality, a law of performance and repetition described by Derrida as the econ-
243
S. u. Abschn. B.3.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
93
omy of différance. Or, looked at the other way around, I suggest that language is always and ineradicably theological. (BDLT 9; vgl. BDLT 256)244
Zu dieser These gelangt Ward durch eine Analyse der Schnittstellen zwischen Gedanken Barths, Levinas’ und Derridas bzw. von Korrespondenzen ihres Denkens. B.2.4.2 Sprachphilosophie – Redephilosophie Ward legt dar, dass die sprachtheoretischen Annahmen, die sich in Barths Werk aufspüren lassen, die spannungsvolle Gleichzeitigkeit zweier heterogener Denkmodelle widerspiegeln: Auf der einen Seite steht die Auffassung von Sprache als ‚zirkulierender Semiotik‘ („circulating semiotics“; BDLT 29), in der ein unüberwindlicher Graben Objekt und Repräsentation voneinander trennt (BDLT 23). Auf der anderen Seite steht der Gedanke einer Sprache Gottes, die eine direkte Übertragung der Bedeutung von einem Gegenstand zu einem Wort und damit die Adäquation von Signifikant und Signifikat sich ereignen lässt (BDLT 28).245 Dieser Antagonismus in Barths Auffassung von Sprache entspricht dem spannungsvollen Gegenüber zweier konkurrierender philosophischer Sprachauffassungen, Sprachphilosophie (Cassirer; vgl. BDLT 53ff.) und Redephilosophie (Buber, Rosenzweig und Rosenstock-Huessy, vgl. BDLT 63ff.). An späteren Stellen wird deutlich, dass Ward Sprachphilosophie als Denken der Immanenz und Redephilosophie als Denken der Transzendenz versteht (vgl. BDLT 210.248; vgl. BDLT 241). Barths Arbeit zur christlichen Rede von Gott ist insgesamt vom Antagonismus dieser beiden konkurrierenden Modelle geprägt; die beiden genannten sprachtheoretischen bzw. -philosophischen Zugänge fungieren in Barths Denken als zwei Epistemologien, die irreduzibel ineinander verwoben sind (BDLT 244).
244
245
An anderer Stelle behauptet Ward, différance könne sich nicht mit und nicht ohne das Theologische bestimmen: „[…] [D]ifférance […] cannot define itsef with-out the theological.“ (BDLT 233) Ward bezieht sich auf einen Exkurs, in dem Barth darlegt, dass Worte wie „,Vater‘“, „,Sohn‘“, „,Herrschaft‘“, „,Geduld‘“, „,Liebe‘“, schließlich gar „,Arm‘“ und „,Mund‘“ ihre Bedeutung erst da hätten, wo Gott das Wunder geschehen lässt, „durch das unsere Worte wahre Bezeichnungen seiner selbst werden.“ (KD II/1, 259) Barth führt an diese Stelle aus, erst wenn ‚wir‘ unsere Worte auf Gott anwenden, verwenden ‚wir‘ sie nicht mehr uneigentlich, sondern in ihrem eigentlichen Sinne (vgl. ebd.). Zur Kritik an Wards Darstellung s. u. S. 99ff.
94
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
[Barth’s] grasp of the ‘inner nature of the matter’ is a grasp of the operation of two antithetical forms of logocentric thinking – one summed up by Cassirer’s ‘monadology’ and the other best expressed by Redephilosophie. Here, with these two models for the operation of discourse, each arising from different philosophical approaches (idealism on the one hand, phenomenology on the other), each moving in contrary directions (one towards pure semiotics, the other towards pure semantics), the axiom of endless mediation crosses (crucifies) the axiom of immediacy and presence. The examination of christliche Rede and Rede von Gott (the task of dogmatics) is the examination of the agonistics within discourse itself, the crossing through and the resurrection of discourse itself. (BDLT 103; vgl. ferner BDLT 248)
Dieser Antagonismus begründet die Möglichkeit einer synoptischen Betrachtung von Barth, Levinas und Derrida, die es Ward wiederum erlaubt, in Barths Werk eine postmoderne Theologie des Wortes zu ‚erahnen‘ („glimpse“; BDLT 103). B.2.4.3 „Verhandlung“ Der Begriff der „Verhandlung“ („negotiation“246) ist der Schlüssel zu Wards Zusammenschau von Barth und Derrida. Ward konturiert diesen Begriff in Abgrenzung von der analogia entis: Das Denken der analogia entis setzt die Existenz einer dritten Größe voraus, in Bezug auf welche heterogene Größen bzw. Diskurse zusammengeschaut werden können. Ward schließt sich Derridas Kritik an Levinas an, dieser setze entgegen seiner Intention eine analogia entis von Gott und dem Angesicht des Anderen voraus (BDLT 163.184; vgl. BDLT 200).247 Dem steht das von Ward bevorzugte Denken Derridas gegenüber, das sich als unabschließbare „Verhandlung“ („negotiation248“) 246 247
248
Vgl. BDLT 173.185. Im Hintergrund dieser kritischen Levinas-Interpretation steht die folgende Passage aus Derridas Studie „Gewalt und Metaphysik“: „Im Rückgang auf die Dinge selbst liegt der Grund der Metaphysik – im Levinas’schen Sinn –, der gemeinsamen Wurzel von Humanismus und Theologie: die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Gott, das Gesicht des Menschen und das Angesicht Gottes. ‚… der Fremde sieht Gott ähnlich‘ […]. Aufgrund des Durchgangs dieser Ähnlichkeit kann die Sprache des Menschen erneut zu Gott aufsteigen; diese fast unerhörte Analogie ist die Bewegung des Levinas’schen Diskurses über den Diskurs selber.“ (Derrida SD 164f.; vgl. Levinas Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 106f.) Ward beruft sich auf einen Gedanken Derridas zu Levinas; Derrida schreibt in seiner Betrachtung von Levinas’ „Anders als sein oder jenseits des Seinsgeschehens“: „Der Satz beschreibt oder sagt, was ihn im Inneren des Gesagten unterbricht […], er verhandelt zwischen dem Gesagten und dem Sagen und unterbricht zugleich die Verhandlung, um sogleich darauf die Unterbrechung zu verhandeln. […] Die Verhandlung thematisiert, was sich nicht thematisieren läßt […].“ (Derrida „Eben in diesem
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
95
zwischen inkommensurablen Perspektiven vollzieht. Der Begriff „Verhandlung“ (in dieser besonderen Prägung) bezeichnet einen Zustand, der in der Literaturwissenschaft als „Intertextualität“ bezeichnet wird, d. h. einen Zustand, in dem jedes Reden sich immer schon in einer unabschließbaren „Verhandlung“ bzw. in einem unabschließbaren Dialog mit einem vorausgegangen Text befindet. Ward formuliert nun im Anschluss an Derrida die These, jedes Lesen sei in diesem Sinne eine Verhandlung als Ereignis von Intertextualität. What is being suggested is that all reading is negotiation – reading is a process of negotiating between several textualities, negotiating with an otherness inscribed within the operation of this reading. (BDLT 174)
Der Begriff der „Intertextualität“, an den in dieser Passage offensichtlich angespielt wird, ist von Julia Kristeva in enger Auseinandersetzung mit Bachtins Denken der „Dialogizität“ und der „Polyphonie“ entwickelt worden.249 Dem entspricht die Tatsache, dass Ward später ausdrücklich im Anschluss an Derrida das von ihm vorgetragene Verständnis von „Lesen“ als „vielstimmig“, als „Kreuzung verschiedener Stimmen“ bezeichnet. Reading as negotiation is necessarily plurivocal: the meeting of several voices. (BDLT 191)250
Diese Wahrnehmung von Texten und von Sprache als Verhandlung („negotiation“) unterscheidet sich, so Ward, darin von den Sprachmodellen von Rosenzweig, Buber und Rosenstock-Huessy, dass Bedeutung nicht innerhalb des Sagens entsteht, sondern an der Schnittstelle heterogener Texte: Nicht die Interpretation und Kritik von Texten stehen an erster Stelle, sondern der Vorgang, in dem ein Text mit dem anderen in eine Verhandlung („negotiation“) tritt bzw. diesen ‚rekontextualisiert‘ (BDLT 174). Im Gegensatz zu Levinas (s. o.) halte Barth
249
249
250
Moment findest du mich“, 51; vgl. BDLT 173) In einem späteren Aufsatz führt Ward aus, das Wort „Allegorie“ bezeichne jene stete Verhandlung („negotiation“), die zwischen Außen und Innen, zwischen dem einen und dem anderen Sinn bzw. der einen und der anderen Bedeutung pendelt, ohne je zur Ruhe zu kommen (Ward „Deconstructive theology“, 80; vgl. ferner Wards Aufsatz zur Allegorie „Allegoria: Lektüre als spirituelle Übung“). Vgl. Kristeva „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“; zu Bachtins Begriff der „Polyphonie“ s. u. Abschn. C.1.1.2. In einer Anmerkung verweist Ward auf Derridas „programmatische“ Forderung nach einer Vielfalt von Stimmen (BDLT 193 Anm. 9), auf die in den einführenden Bemerkungen dieser Arbeit bereits eingegangen wurde (s. o. Abschn. B.1.1).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
die Spannung von zwei Sprachen – einer Sprache der reinen ‚Semiotik‘ und einer Sprache der reinen ‚Semantik‘ – aufrecht. Between the interstices of Sprachphilosophie and Redephilosophie, Barth forges his analogia fidei, whereas […] Levinas, despite wishing to rupture the omnipresence of analogia entis nevertheless is forced to return to it. (BDLT 200)
„Analogia fidei“ versteht Ward als Bezeichnung für einen Prozess antinomischen Denkens bzw. für die Unabschließbarkeit theologischer Reflexion. Analogia fidei is that which constitutes the realm of the in-between, comprehends that there is an in-between, negotiates ‘the way from Word to counterword’ (CDE [Barth Die christliche Dogmatik im Entwurf – J. S.], p. 582). The analogia fidei announces, contrary to analogia entis, that ‘[t]here is not then one Word’ (CDE, p. 582) – there is always, this side of the Parousia, heteronomy. (BDLT 102) The doctrine of analogia fidei emerges from Barth’s engagement with doing theology. It is a reflection upon Barth’s own mode of discourse, upon what he is already practicing. It is a mode of discourse which negotiates between antinomies as a process. (BDLT 241)251
Damit ist der Hintergrund umrissen, vor dem Ward das Denken Barths und Derridas zusammenschaut. B.2.4.4 Karl Barth – Jacques Derrida Diese Gleichzeitigkeit zweier Sprachauffassungen sieht Ward darin reflektiert, dass in Barths Kirchlicher Dogmatik heterogene Auffassungen unvermittelt nebeneinander stehen. So zitiert Ward die folgende Passage: Hier fängt nicht nur ein anderes Werk an, das dann wohl das unsrige sein müßte, hier fallen wir aber auch nicht in irgend eines anderen Gottes Hände, sondern hier wird nur des einen Gottessohnes eigenes Werk auch nach dieser Seite vollzogen: damit nämlich, daß er in unserem Fleische, aber als der Überwinder unserer Feindschaft, zur Rechten des Vaters ist und vertritt uns [sic!]. […] Sind wir nicht nur einmal durch ihn vertreten worden, sondern sind wir es, weil in Ewigkeit, darum zu jeder Zeit und ist er, der uns vertritt, kein Geringerer als der Sohn Gottes, der mit dem Vater gleichen Wesens ist, der also Gottes eigene Macht und Gottes eigenen Willen hat, uns zu vertreten, sind wir also durch ihn wirksam vertreten, dann ist die Frage nach unserem Dabeisein schon beantwortet durch dieses sein ewiges göttliches Für uns. Ist er für uns, dann heißt das ja eben – und eben das heißt dann letztlich ganz allein: daß wir – und nun wirklich in ewiger, in der dem Sohne Gottes eigenen Gewißheit – auch dabei, dessen, was er ist und getan hat, wirklich teilhaftig sind.“ (KD II/1, 175) 251
Zur Kritik an dieser Interpretation von Barth s. u. S. 99. Später meint Ward, Barths „analogia fidei“ sei, da sie nicht als Strukturanalogie konzipiert sei, eher als „allegoria fidei“ zu bezeichnen (BDLT 246f.).
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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Ward kommentiert, Barths Christologie sei in einer Logik der ‚Supplementarität‘ gefangen: Jesus Christus „ist“ in ‚unserem‘ Fleisch, doch die Wörter „unser“ und „ist“ (ent)gleiten („slide[s]“), denn Jesus vertritt ‚uns‘ in ‚unserem‘ Fleisch, obgleich er von uns unterschieden und gleichen Wesens mit dem Vater ist (BDLT 238). In Barths Text, so Ward, laufen zwei heterogene Redeweisen unvermittelt gegeneinander. Die dadurch entstehende Widersprüchlichkeit wird nicht nur nicht erklärt, sondern rhetorisch verschleiert, da Barth verschiedene Begriffe für dasselbe verwendet: „wirksam vertreten“ und „wirklich teilhaftig“ (BDLT 238; vgl. KD II/1, 174f.). Indem Ward in Barths theologischen Texten einen Reflex von Derridas philosophischer Auffassung von Textualität meint wahrnehmen zu können, ist seine abschließende These vorbereitet, welche lautet, Barth und Derrida stünden in einem Verhältnis von wechselseitiger „Supplementarität“252. Karl Barth’s theology of the Word in words, his Christology and the whole edifice of his incarnational theology are theological readings of a law of repetition, representation and textuality described by Jacques Derrida as the economy of différance. Or, put another way, Barth has shown how the unerasable theological question inherent to all discourse can become the basis for a dogmatics. Either way, Derrida has provided Barth’s theology with a philosophical supplement. Barth provides Derrida’s economy of différance with a theological supplement. (BDLT 256)253 252
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Die Bedeutung des Begriffs „Supplement“ bei Derrida lässt sich in Bezug auf den Gedanken darstellen, den Derrida in seiner Schrift „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ entwickelt (s. o. Abschn. B.1.2.1; vgl. ferner SEK 21 [s. o. Abschn. B.1.2.2]), und der wiederum in Derridas Schrift „Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls“ mit dem Begriff des „ursprünglichen Supplements“ in Verbindung gebracht wird (vgl. a. a. O., 110ff.; vgl. auch G 248ff.). „Supplement“ entspricht insofern der „Vielstimmigkeit“, als in einem Verhältnis der „Supplementierung“ die Entscheidung darüber, welche Größe „ursprünglich“ ist und welche „supplementiert“ wird, als unentscheidbar gilt. Ein weiterer Zusammenhang zwischen Derrida und Barth besteht nach Ward in der Zukunftsbezogenheit der Entstehung von Bedeutung, die Barth und Derrida in verschiedener Weise formulieren. Die Repräsentation Gottes ist bei Barth keine direkte Rede von Gott, sondern ein Nachspüren einer vergangenen Verheißung. Die Verheißung bewegt sich zwischen der vergangenen Verkündigung und ihrer zukünftigen Erfüllung. Insofern verkörpert Repräsentation bei Barth die Bewegung von (einer jeden) Rede (wie Derrida sie versteht) überhaupt, i. e. von Rede, die ihres Wesens als Umkreisung einer Wiederholung und Erinnerung eines Versprechens, welches Ursprung der Rede war, gewahr ist (vgl. BDLT 229.243f.250; vgl. zu Derridas Gedanken des „Versprechens“ aus Wards Perspektive auch Ward Theology and Contemporary Critical Theory, 16). Ward verweist in einem anderen Zusammenhang auf eine Textstelle in Derridas Schrift zu James Joyces Ulysses, in der der Gedanke, Sprache nähere
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Der bleibende Unterschied zwischen Barth und Derrida bestehe indes darin, dass Barth sich entscheide, das beschriebene „Gesetz der Textualität“ theologisch zu lesen, Derrida hingegen nicht (BDLT 256). Ich fasse den Gedanken kurz zusammen: Zunächst beobachtet Ward die Gleichzeitigkeit zweier heterogener Sprachkonzepte in Barths Denken, die Ward als „Sprachphilosophie“ und „Redephilosophie“ bezeichnet. Dann stellt Ward grundsätzliche Betrachtungen zu verschiedenen Möglichkeiten an, heterogene Konzepte in ein Wechselverhältnis zu stellen. Ward setzt die „Verhandlung“ („negotiation“) als ein Verhältnis, dessen Bestimmung nicht abgeschlossen werden kann, einer analogia entis entgegen, die zwei Größen vermittels des Seinsgedankens in Zusammenhang stellt, und gibt jener den Vorzug. Weiterhin betrachtet Ward, in welcher Weise konkurrierende Redeweisen innerhalb von Barths Dogmatik wirksam sind. Schließlich stellt Ward fest, dass in Barths Werk eine Logik der Verhandlung und der Supplementarität beobachtet werden kann. Dadurch wird es Ward möglich, das Verhältnis von Barth und Derrida seinerseits als Supplementaritätsverhältnis zu beschreiben: Die theologische Textpraxis Barths weist strukturelle Übereinstimmungen mit Derridas philosophischem Gedanken der „Verhandlung“ bzw. der „Supplementarität“254 auf. Daher kann Barth als theologisches Supplement Derridas und Derrida als philosophisches Supplement Wards angesehen werden. Solch eine Supplementarität von Stimmen, die zueinander in einem unabschließbaren Verhältnis der „Verhandlung“ stehen, ist notwendige Bedingung dafür, unter Beachtung der Unsagbarkeit Gottes von Gott zu reden, da die „Verhandlung“ der Unabschließbarkeit des Redens von Gott angesichts von dessen Unsagbarkeit Rechnung trägt (vgl. BDLT 196.232.240.250).255 254
254
255
sich einem unverfügbaren Ursprung, einem ursprünglichen „ja“ an, sehr plastisch zum Ausdruck kommt: „Beinah sofort danach liest man: ‘Better phone him up first’: plutôt un coup de téléphone, pour commencer, heißt es in der französischen Übersetzung. Sagen wir: un coup de téléphone, plutôt, pour commencer. Am Anfang muß es ja doch irgendeinen Telephoncoup gegeben haben. Vor der Tat oder der Rede, das Telephon. Im Anfang war das Telefon. Diesen Telephoncoup, der mit scheinbar zufälligen Ziffern spielt, über die aber viel zu sagen wäre, hören wir also endlos klingeln. Und er verspricht in sich das ja, zu dem wir langsam, um es kreisend, zurückkommen.“ (Derrida Ulysses Grammaphon. Zwei Deut für Joyce, 62f.; vgl. BDLT 233) Die Begriffe „supplement“ und „negotiate“ gelten Ward offensichtlich als deckungsgleich. Ward zitiert KD II/1, 248: „Wie kommen wir dazu, mit den Mitteln unseres Denkens zu denken, was wir mit diesen Mitteln gar nicht denken können – mit den Mitteln unserer Sprache zu sagen, was wir mit diesen Mitteln gar nicht sagen können?“ (Vgl. BDLT 240)
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
99
B.2.4.5 Kritik und Würdigung An Wards Studie sind einige kritische Rückfragen zu stellen. Zunächst erscheint mir zweifelhaft, ob Wards These, Sprache sei immer irreduzibel theologisch (BDLT 9256), sich mit dekonstruktivistischem Denken überhaupt in Zusammenhang stellen lässt.257 Weiterhin sehe ich ein grundsätzliches Problem in Wards Darstellung der vermeintlichen zwei Sprachmodelle Barths.258 Die zwei Sprachmodelle, die 256 257
258
S. o. S. 93. Derrida selbst weist eine solche Auffassung ausdrücklich zurück (WNS 15f.). – Ebenso problematisch erscheint mir die Zusammenschau von Christologie und Dekonstruktion in Wards Feststellung, Derrida ,bemerke nicht‘, dass „Kenosis“ nur christologisch mit Blick auf trinitarische Operationen verstanden werden könne (vgl. Ward „Deconstructive theology“, 86, vgl. a. a. O., 80f.). Zwar geht das Wort „Kenosis“ auf die dogmatische Auslegung der Selbstentäußerung Christi zurück (vgl. z. B. Webster Art. „Kenotische Christologie“, 929); es ist aber zumindest sprachtheoretisch möglich, dass das Wort in einem anderen Kontext unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung sinnvoll verwendet wird (vgl. Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, 262 [§ 43]: „[…] Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“). An anderer Stelle führt Ward aus, Derrida durchdenke theologisches Vokabular, sofern er es verwende, nicht mit „theologischer Kultiviertheit“ („sophistication“, a. a. O., 89). Diese Formulierung setzt implizit eine Einheit der Sprache voraus, welche es ermöglichte, ein und dasselbe Wort zunächst in einem nichttheologischen Zusammenhang zu verwenden und es dann mit Hilfe der entsprechenden „Kultiviertheit“ theologisch weiterzudenken, so dass dessen Verwendung im nichttheologischen Zusammenhang geklärt würde. Die Annahme einer Einheit der Sprache jedoch stellt Derrida gerade in Frage (s. o. Abschn. B.1.1). Insofern beruhen Wards Feststellungen über Derridas ‚Versäumnisse‘ auf problematischen Voraussetzungen. Insgesamt neigt Ward dazu, das Konfliktpotential des Verhältnisses von „Postmoderne“ und Theologie zu verharmlosen; dies wird z. B. an Wards Feststellung deutlich, die Postmoderne gefährde Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie nicht, sondern erschließe eher neue Aufgaben (Ward Art. „Postmoderne. II. Religionsphilosophisch und fundamentaltheologisch“, 1516). Dass Barths Denken eine Entwicklung durchlaufen hat, beachtet Ward zwar (vgl. v. a. BDLT 94), jedoch m. E. nicht hinreichend. So finden sich in frühen Texten Barths Formulierungen, die deutlich an dekonstruktivistische Denkbewegungen erinnern, z. B. die Feststellung, das Wort Gottes sei „die ebenso notwendige, wie unmögliche Aufgabe der Theologie.“ (Barth „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“, 175; zum Gedanken der Gleichzeitigkeit von Möglichkeit und Unmöglichkeit s. o. Abschn. B.1.2; s. auch im vorliegenden Abschnitt Anm. 178 u. S. 85). Es hätte m. E. näher gelegen, in erster Linie das in die Phase vor Barths „Bruch“ mit der Dialektischen Theologie (vgl. z. B. Jüngel „Von der Dialektik zur Analogie. Die Schule Kierkegaards und der Einspruch Petersons“, 175ff.178) gehörende Werk auf Parallelen mit dekonstruktivistischem Denken zu untersuchen. Wards Auffassung nach hat Barth das dialektische Denken nie „abgesetzt“ („superseded“; BDLT 94); dies mag zutreffen, es ändert aber nichts daran, dass das in ausgeprägterem Maße dialektische Denken des früheren Barth ein eher geeigneter Ausgangspunkt für eine Zusammenschau von Barths Werk mit Derridas Denken wäre.
100
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
Ward bei Barth ausfindig gemacht zu haben meint, laufen nicht, wie Ward es darstellt, in Barths Werk unvermittelt nebeneinander her. Barths Auffassung, unsere Worte seien defizitär, solange Gott ihre Funktionalität nicht durch sein Handeln gewährleiste259, ist unter den in Barths Werk gesetzten Prämissen schlüssig. Mit einer Redephilosophie steht Barths Denken (hier) in keinem Zusammenhang, denn dass Gott die Funktionalität der Sprache durch sein Handeln gewährleiste, ist eine theologische Aussage, die von (Rede)Philosophie zu unterscheiden ist.260 Auch scheint mir die Auffassung der „analogia fidei“ durch Ward nicht zuzutreffen: „Analogia fidei“ ist kein destabilisierendes Moment in Barths Denken261, wie Ward behauptet. Ward verweist zu Recht darauf, dass sich bei Barth Äußerungen und textuelle „Praktiken“ finden, aus denen hervorgeht, theologische Reflexion sei ein unabschließbarer Prozess – jedoch wird nicht deutlich, warum Ward annimmt, die „analogia fidei“ sei ein Metonym für diese Dimension von Barths Werk.262 Ist also die Argumentation, die es Ward ermöglicht, Barth und Derrida zusammenzuschauen, nicht unproblematisch, so stellt auf der an259 260
261
262
Vgl. KD II/1, 259. Auch könnte gefragt werden, inwieweit sich das duale Schema von „Sprachphilosophie“ und „Redephilosophie“ geistesgeschichtlich durchhalten lässt. Ferner wäre zu überlegen, ob es nicht für die Theologie weitaus fruchtbarere Unterscheidungen in der Wahrnehmung von Sprache geben könnte, wie z. B. die Unterscheidung von medialer und instrumenteller Sprache (vgl. zu dieser Unterscheidung Bader Symbolik des Todes Jesu, 238f.; ders. Art. „Sprache/Sprachwissenschaft/Sprachphilosophie. IV. Systematisch-theologisch“, 774). So verwendet Barth die analogia fidei eben doch entgegen Wards Behauptung als Instrument zur Klärung von schwierigen Textstellen: „Dogmatik als Forschung setzt voraus, daß der rechte Inhalt christlicher Rede von Gott vom Menschen erkannt werden kann. Diese Voraussetzung macht sie, indem sie in der Kirche und mit der Kirche glaubt an Jesus Christus als die offenbarende und versöhnende Zuwendung Gottes zum Menschen. Die Rede von Gott hat dann den rechten Inhalt, wenn sie dem Sein der Kirche, d. h. wenn sie Jesus Christus gemäß ist. … ε7τε προφητ αν, κατ+ τν ναλογ αν τ,ς π στεως (Röm 12,6).“ (KD I/1,10f.; vgl. ferner KD I/1, 257f.460.480; KD I/2, 294.323; KD II/1, 360) In der Textstelle aus Barths „Christliche[r] Dogmatik im Entwurf“, auf die Ward sich in seiner Reformulierung der Barthschen analogia fidei beruft (vgl. BDLT 102 mit Verweis auf Barth Die Christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, 481f.; s. o. S. 96), ist keine Rede von der analogia fidei. Ward gelangt zu seinem Verständnis der analogia fidei durch deren Abhebung von der analogia entis (BDLT 102), jedoch scheint es mir nicht zulässig, der analogia fidei die Prädikate der analogia entis unter negativem Vorzeichen zuzuschreiben, so sehr es zutreffen mag, dass Barth analogia fidei und analogia entis als Gegensatzpaar aufgefasst hat.
B.2 Dekonstruktivismus und Rede vom Unsagbaren
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deren Seite Wards Bestimmung der Differenz von Barth und Derrida vor Probleme. Ward stellt fest, Derrida „entscheide“ bzw. verpflichte sich im Gegensatz zu Barth nicht zum Glauben. As such, différance, as a law of textuality, cannot provide grounds for a natural theology. Faith is a commitment to reading this law theologically, in terms of the Christian Word and its proclamation in the Church. (BDLT 251) He [Derrida – J. S.], unlike Barth, makes no prior commitment to faith. (BDLT 256)
Eine Entscheidung bzw. eine Selbstverpflichtung („commitment“) soll es also, so wird hier suggeriert, ermöglichen, différance in den Kategorien der christlichen Verkündigung wahrzunehmen. Die Kapitalisierung von Kirche („Church“) innerhalb des im Zitat wiedergegebenen Gedankengangs ist allerdings aus einer dekonstruktivistischen Perspektive aus betrachtet paradigmatisch für die unbegründete Verabsolutierung einer Größe des Denkens.263 Auch erscheint mir der Gedanke problematisch, man könne sich entscheiden, Derridas Wahrnehmung von Textualität wiederum theologisch wahrzunehmen, steht doch eine solche Entscheidung für eine Interpretation zuungunsten einer anderen mit Derridas Denken in schärfstem Kontrast.264 Es ist daher konsequent, dass Wards Zusammenschau von Derridas Denken und der Theologie später an genau dieser Stelle auseinander bricht, mit dem Ergebnis, dass Ward Derrida (in Form einer rhetorischen Frage) implizit des „Onanismus“, d. h. der lustvollen Verweigerung, zur Wirklichkeit in eine verbindliche Beziehung zu treten, ‚bezichtigt‘.265 Leistungsfähig ist Wards Studie am ehesten als Exemplifikation einer Lektürestrategie, die ein fruchtbares Aufeinandertreffen heterogener Entwürfe bzw. Diskurse zu inszenieren versucht. Theologie, so formuliert Ward in Bezug auf Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“, muss an dem Punkt operieren, an dem zwei Sprachen aufein263
264
265
Das Wort „Theologie“ wird im kritischen Diskurs zuweilen metonymisch für genau diese Art des Argumentierens mit Rekurs auf diskursiv unausgewiesene Autoritätsansprüche verwendet. Auch in Bezug auf die Interpretation von Barths Denken scheint es unglücklich, von einer „Entscheidung“ zu sprechen, da dies der Spontaneität des Subjekts des Theologen doch weit mehr Bedeutung einräumt, als es sich mit Barths Denken – zumindest der Intention Barths nach – vereinbaren lässt. Ward kontrastiert Augustins Frage nach Gott, die von Augustins eschatologischer Hoffnung strukturiert sei, mit Derridas Frage nach Gott, die in reiner Selbstbezüglichkeit aufgehe, und fragt schließlich: „Does the structure of Derrida’s questioning imitate and implement not the structure of exchange but onanism – ‘absolute interruption’ as coitus interruptus: the dissemination of the philosopher’s logikoi spermatikoi on the sands of an infinite desertification?“ (Ward „Questioning God“, 286).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
ander treffen (BDLT 244 Anm. 9). Das Aufeinandertreffen divergenter Stimmen bzw. Sprachen bringt Ward mit dem Begriff der „Verhandlung“ („negotiation“) zur Sprache, der – in dem spezifischen Sinne, in dem Ward den Begriff im Anschluss an Derrida gebraucht – ein Wechselverhältnis beschreibt, welches sich im weiteren Sinne mit den zuvor beobachteten Figuren der Spaltung des Diskurses in mehrere Stimmen266 vergleichen lässt. Jedoch unterscheidet sich die „Vielstimmigkeit“, die in der vorliegenden Arbeit in Auseinandersetzung mit Derrida ausgearbeitet wurde, von Wards Gedanken der Vielstimmigkeit in einem entscheidenden Punkt: Hier wie dort soll Vielstimmigkeit im Dienst des Sagens des Unsagbaren stehen. Jene Vielstimmigkeit jedoch, die sich in Auseinandersetzung mit Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ herauskristallisierte, ist dadurch charakterisiert, dass die kontroversen Stimmen auseinander hervorgehen und gerade in ihrer Kontroverse irreduzibel aufeinander verwiesen sind. Weiterhin bestand die Pointe der Gedanken der Vielstimmigkeit bei Caputo und bei Carlson darin, dass die konträren Stimmen je ein unbedingtes Recht zu beanspruchen vermochten, obwohl sie einander ausschlossen (Caputo) bzw. auszuschließen schienen (Carlson). Bei Ward hingegen stehen die zwei beschriebenen Stimmen bzw. Diskurse oder Epistemologien letztlich für die Theologie auf der einen und die Philosophie auf der anderen, Transzendenz auf der einen und Immanenz auf der anderen Seite. Gerade weil die Stimmen in keiner inneren produktiven Spannung zueinander stehen, gelingt es ihnen nicht, kraft ihres Wechselverhältnisses selbst Bedeutung zu generieren. Infolgedessen bedarf es in Wards Entwurf des Gedankens einer vorgängigen Entscheidung des Glaubens („prior commitment to faith“; BDLT 256), der die Kohärenz der Stimmen herstellt. Jedoch kommt diese Forderung einer vorgängigen Entscheidung des Glaubens dem nachträglichen Eingeständnis der Tatsache gleich, dass ein irreduzibler Konflikt der divergenten Stimmen zu keiner Zeit in den Blick genommen werden konnte. Die dezidiert theologische Adaption dekonstruktivistischen Denkens durch Ward erhebt zwar den Anspruch, die auch in der vorliegenden Arbeit gestellte Frage, d. h. die Frage, wie vom Unsagbaren geredet werden kann, zu beantworten. Wards Gedanke überzeugt jedoch nicht, so dass ein anderer Weg gesucht werden muss. Diese Su266
Ward bezeichnet seine Zusammenschau von Barth und Derrida als ein Kreuzverhör zweier Stimmen („cross-examination of two voices“), einer theologischen und einer philosophischen, das einen neuen Zugang zu philosophischer Theologie ermögliche (BDLT xviii).
B.3 Zusammenfassung
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che führt die vorliegende Arbeit zu einer Analyse des frühen pseudonymen Werks Søren Kierkegaards. Bevor sich die Interpretation jedoch Kierkegaard zuwendet, ist der Ertrag des ersten Hauptteils der Arbeit festzuhalten.
B.3 Zusammenfassung Der vorliegende Teil der Arbeit begann mit einer einleitenden Orientierung über die Begriffe „Postmoderne“, „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“ und „Vielstimmigkeit“.267 Sodann ist Derridas Gedanke der irreduziblen „Wiederholbarkeit“, die, so Derrida, der Konstitution einer jeden selbstidentischen Bedeutung zuwiderläuft, nachvollzogen worden.268 Derridas dekonstruktive Lese- bzw. Denkerfahrungen haben sich dabei als Keimzelle des Gedankens der „Vielstimmigkeit“ entpuppt: Das von Derrida beobachtete Phänomen, dass jede (schriftlich oder mündlich statthabende) Konstitution von Bedeutung sich in mehrere Stimmen spaltet, nämlich in vermeintlich „originäre“ Stimmen auf der einen und unausweichlich „hinzutretende“, zitierende Stimmen auf der anderen Seite, stellt zunächst eine Problematisierung bestimmter Bedeutungstheorien dar.269 Nun wurde aber festgestellt, dass Derrida über diese Problemanzeige noch hinaus dringt: Derrida stellt die Vermutung an, die von ihm vorgetragene Kritik vermöge eine positive Möglichkeit zu eröffnen.270 Diese positive Möglichkeit stellte sich als die Möglichkeit einer „vielstimmigen“ Rede heraus, in der die vermeintlich originäre Stimme und das irreduzibel notwendige, verfremdende Zitat in einer Bedeutung generierenden Art und Weise gegeneinander klingen. So endet Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ mit der Frage, ob die (differente) Zitation nicht notwendige Bedingung einer The(i)ologie sei.271 Im Anschluss an diese Beobachtungen wurde gezeigt, in welcher Weise dekonstruktivistisches Denken in Theologie und Religionsphilosophie rezipiert worden ist. Dabei wurde von der Arbeitshypothese 267 268 269 270 271
S. o. Abschn. B.1.1. S. o. Abschn. B.1.2. S. o. Abschn. B.1.2.1 zu Husserl und B.1.2.2 zu Austin. Vgl. SEK 39. „Aber wenn es kein Supplement gäbe, wenn das Zitat nicht das Gebet falten/beugen würde, sich nicht der Schrift gemäß faltet/der Schrift beugte/in die Schrift schickte, eine Theiologie, wäre sie möglich? Eine Theologie, wäre sie möglich?“ (WNS 109f. [Übersetzung geändert]; s. o. Abschn. B.2.1.3)
104
B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
ausgegangen, dass der Gedanke der „Vielstimmigkeit“ eine Gemeinsamkeit der dekonstruktivistischen Beiträge darstellen könnte. Dieser Annahme erwies sich als zutreffend: Die Konzeption der Sprache der Theologie (Graham Ward) bzw. die Theorie und die Praxis religiöser Sprache (Thomas Carlson und John D. Caputo) zeichnet sich jeweils dadurch aus, dass, so fordern diese Denker, nicht (mehr) nur eine Stimme allein zu sprechen und nicht mehr ein Diskurs allein geführt zu werden habe. Ein kurzer Rückblick soll dies verdeutlichen. In diesem Rückblick ist das Verhältnis der Beiträge zur Theologie besonders zu berücksichtigen, da sich aus diesem Verhältnis Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen ergeben. Mit John D. Caputos Denkbewegung einer unentscheidbaren Analogie heterogener Diskurse liegt unter den betrachteten Beiträge die ausgereifteste Form einer religionsphilosophischen Rezeption der Vielstimmigkeit vor.272 Vielstimmigkeit wird überdies von Caputo nicht nur beschrieben, sondern phasenweise auch praktiziert.273 John D. Caputo ist ein der Theologie skeptisch gegenüber stehender Religionsphilosoph. Mit stärkerer Konzentration auf begrenzte Fragehorizonte haben Thomas Carlson und Graham Ward in vergleichbarer Art und Weise verschiedene Diskurse jeweils einander überblendet: Thomas Carlson entfaltet eine „apophatische Analogie“ von Heidegger und PseudoDionysius (und von Derrida und Jean-Luc Marion).274 Der Gedanke dieser apophatischen Analogie erscheint mir ausnehmend fruchtbar, wenngleich an die vorgenommene Interpretation von Pseudo-Dionysius und Martin Heidegger Rückfragen zu stellen waren. Thomas Carlson arbeitet an der Schnittstelle von Theologie und Religionsphilosophie. Graham Ward unternimmt es, Barth und Derrida in ein Verhältnis der wechselseitigen Supplementierung zu setzen.275 Jedoch begegnen gerade in dieser am stärksten an der Theologie orientierten Studie die größten Probleme v. a. hinsichtlich der vorgenommenen Interpretation der Barthschen Konzeption von Sprache. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass eine Kooperation von Dekonstruktion und Theologie, in der diese und jene in ihrer Verschiedenheit ernst genommen und doch in den Dienst einer gemeinsamen Aufgabe gestellt werden, ein Desiderat darstellt. Hinsichtlich der – teils impliziten, teil expliziten – Mitteilungstheorie jedoch lässt sich an 272 273 274 275
S. o. Abschn. B.2.2. Vgl. v. a. Abschn. B.2.2.3 und B.2.2.5. S. o. Abschn. B.2.3. S. o. Abschn. B.2.4.
B.3 Zusammenfassung
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dieser Stelle ein positives Zwischenergebnis festhalten. Das Ergebnis der Lektüre von Texten aus der Dekonstruktion zur Sprach- und Religionsphilosophie und zur Theologie soll – mit Hilfe einer terminologischen Anleihe bei Wolfgang Iser – in der folgenden Formel einer „Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren“ zusammengefasst werden: Sinn entsteht in einer Sprache des Glaubens als einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren, indem die Rede sich in mehrere Stimmen spaltet und diese Stimmen in eine produktive Kontroverse geraten. Diese Kontroverse der in mehrere Stimmen gespaltenen, vielstimmigen Rede bringt das Unsagbare als das von den streitenden Stimmen Ausgesparte276 bzw. als das durch die Risse der Sprache Hindurchscheinende zur Sprache. Mit der Formulierung dieses Vorschlags einer Theorie der Sprache des Glaubens ist das erste Etappenziel der vorliegenden Arbeit erreicht. Nun gilt es, nach einem Text bzw. einem Gefüge von Texten zu suchen, dessen ‚Funktionsweise‘ Entsprechungen zu dieser Theorie der Sprache des Glaubens aufweisen könnte – und in dem möglicherweise die oben beschriebenen Engführungen vermieden sind. Im folgenden Teil der Arbeit soll daher geprüft werden, ob (und wenn ja, wie) Søren Kierkegaards frühe pseudonyme „ästhetische“ Schriften als mehr- bzw. vielstimmige Rede im Sinne der genannten Formel verstanden werden können. Zur Begründung dieser Entscheidung scheint es mir nicht erforderlich zu sein, die Bedeutung Kierkegaards für „postmoderne“ Theoriebildung im Einzelnen zu erörtern. Allein die Tatsache, dass John D. Caputo nicht nur eine seiner Studien als ‚Umschreibung‘ bzw. als ‚Repristination‘ („rewrite“) von Kierkegaards „Furcht und Zittern“277 bezeichnet, sondern überdies gar einen Teil dieser Stu276
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Zum Begriff der „Aussparung“ vgl. Iser Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, v. a. 306; s. Abschn. C.1.1.2. Näher als dem entsprechenden Gedanken Isers steht das hier mit „Aussparung“ Gemeinte allerdings dem folgenden Gedanken Caputos: „The truth of the matter for me […] lies in the exchange and interchange among these disourses, like the firing and crossfiring among the columns of Glas, the space or the distance (the différance) between them.“ (AE 192 [Hervorhebungen – außer „Glas“ – J. S.]; s. o. Abschn. B.2.2) Der Sache nach könnte hier auch eine Übereinstimmung mit dem sprachlichen Verfahren der ‚Negativen Dialektik‘ Adornos bestehen, die, so Deuser, auch darin negativ bleibt, „daß auch die Sprache nur das Ausbleiben zu rekonstruieren sucht.“ (Deuser Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, 128 [Hervorhebung J. S.]; zu Adorno s. u. Abschn. C.1.2.1) Caputo „‘O Felix Culpa,’ This Foxy Fellow Felix: A Response to Westphal“, 172. – In einem Interview berichtet Caputo, Derrida habe ihm den Mut gegeben, wie Kierkegaard zu schreiben (Raschke „Loosening Philosophy’s Tongue: A Conversation with Jack Caputo“, Nr. 8).
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B Vielstimmigkeit und die Rede vom Unsagbaren als dem Unsagbaren
die nach dem Modell der Kierkegaardschen Pseudonymität gestaltet hat278, scheint mir ein hinreichendes Argument dafür zu sein, dass sich die Suche nach einem Textgefüge mit den besagten Eigenschaften dem pseudonymen Werk Kierkegaards zuwendet.279 Diese Interpretation vollzieht sich wiederum in drei Schritten: Zunächst sind methodologische Überlegungen über den gewählten interpretatorischen Zugang zu Kierkegaards Werk anzustellen280, sodann ist die Interpretation selbst anhand einer Analyse der verschieden nuancierten Verwendung bestimmter literarischer Motive in den pseudonymen Schriften Kierkegaards (von 1843) zunächst als Mehr-281 und dann als Vielstimmigkeit vorzunehmen.282
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S. o. Abschn. B.2.2.5 zu Caputos Schrift „Against Ethics. Contributions to a Poetics of Obligation with Constant Reference to Deconstruction“. Daher kann an dieser Stelle der Versuch unterlassen werden, Kontinuitäten zwischen romantischer und dekonstruktivistischer Sprachtheorie (vgl. Menninghaus Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, pass.) oder die Verwandtschaft von Kierkegaards Denken mit zeitgenössischer Philosophie (vgl. z. B. Matušík / Westphal [Hgg.] Kierkegaard in Post/Modernity, v. a. viii; Derrida „Den Tod geben“, 380ff.; vgl. hierzu Beyrich Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard; zu Beyrichs Arbeit vgl. die kritische Rezension von Schulz [Schulz „T. Beyrich, Ist Glauben Wiederholbar?“]) aufzuzeigen. – Die Rezeption Kierkegaards durch Caputo ist zwar einer der Anlässe dafür, dass sich meine Interpretation Kierkegaard zuwendet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorzulegende Interpretation Kierkegaards jener bei Caputo an verschiedenen Stellen vorgetragenen (vgl. v. a. Abschn. B.2.2.2, vgl. ferner Caputo „Instants, Secrets, and Singularities. Dealing Death in Kierkegaard and Derrida“; ders. „Looking the Impossible in the Eye: Kierkegaard, Derrida, and the Repetition of Religion“; ders. „Either–Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony: Kierkegaard and Derrida“) folgt, auch wenn die vorliegende Arbeit mit einzelnen der dort formulierten Gedanken übereinstimmt. So ist Caputo zuzustimmen, dass eine grundlegende Gemeinsamkeit von Dekonstruktion auf der einen und Kierkegaards Gedanken der Doppelbewegung bzw. der Wiederholung auf der anderen Seite darin besteht, dass eine unüberschreitbare Grenze überschritten werden soll (vgl. Caputo „Looking the Impossible in the Eye: Kierkegaard, Derrida, and the Repetition of Religion“, 1ff.). Im Vordergrund der folgenden Interpretation steht jedoch nicht die stattgehabte Rezeption Kierkegaards durch dekonstruktivistische bzw. „postmoderne“ Denker. Vielmehr ist eine Kierkegaard-Lektüre angestrebt, die von dekonstruktivistischen bzw. „postmodernen“ Denkern inspiriert ist, jedoch nicht notwendigerweise deren Kierkegaard-Rezeption folgt. S. u. Abschn. C.1. S. u. Abschn. C.2. S. u. Abschn. C.3.
C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation C.1.0 Vorbemerkung: „Negativität“, „Vielstimmigkeit“ und die Interpretation des frühen pseudonymen Werks Søren Kierkegaards Im vorliegenden Teil meiner Arbeit sollen die Begriffe „Negativität“ und „Vielstimmigkeit“ als heuristisches Mittel in den Dienst einer Interpretation des frühen pseudonymen bzw. polyonymen1 Werks Søren Kierkegaards gestellt werden. „Negativität“ und „Vielstimmigkeit“ hatten sich in den vorhergehenden Schritten dieser Arbeit als konstitutive Bestandteile der vorgeschlagenen Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren herausgestellt: Vielstimmigkeit im Sinne der vorgetragenen Definition ist dadurch gekennzeichnet, dass die Rede sich auf das zu Sagende negativ bezieht, d. h. im Modus der Aussparung, des Risses zwischen den Stimmen und der Irreduzibilität ihrer kontroversen Vielfalt.2 Jetzt soll untersucht werden, ob, und wenn ja, wie das frühe pseudonyme Werk Søren Kierkegaards sich mit der vorgeschlagenen Theorie der Sprache des Glaubens in Verbindung bringen lässt. Hinsichtlich der Art der vorzunehmenden Interpretation ist nun eines im Vorhinein festzuhalten: Die folgende Kierkegaardinterpretation ist veranlasst und inspiriert durch die Auseinandersetzung mit dekonstruktivistischem Denken, im Rahmen dessen der leitende Gedanke der „Vielstimmigkeit“ entwickelt wurde. Zugleich aber folgt die Lektüre von Kierkegaards Werk nicht nur keiner bestimmten dekonstruktivisti1
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Kierkegaard verwendet die Begriffe „Pseudonymität“ und „Polyonymität“ („polyonymitet“) offensichtlich synonym (allerdings nur an einer einzigen Stelle in seinem Werk; vgl. AUN II,339 / SKS 7,569 [vgl. McKinnon Index verborum til Kierkegaards samlede vaerker, The Kierkegaard Indices, Bd. 3, 861]). Der Versuchung, das Wort „Pseudonymität“ in der vorliegenden Arbeit durch das Wort „Polyonymität“ vollständig zu ersetzen, habe ich widerstanden, da ein solches Vorgehen das genannte Indiz für eine Synonymität von Pseudonymität und Polyonymität über Gebühr beanspruchen würde. S. o. Teil B; v. a. Abschn. B.3.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
schen oder poststrukturalistischen literaturtheoretischen Strömung, sondern befindet sich möglicherweise gar in Konflikt mit dekonstruktivistischen „Auffassungen“, insofern konstante „Themen“ in Kierkegaards frühem pseudonymen Werk kenntlich gemacht werden. Infolgedessen ist die Rezeption dekonstruktivistischen Denkens eine in hohem Maße kritische3: Bestimmte aus dem Dekonstruktivismus stammende Beobachtungen zur Komplikation der Entstehung von Bedeutung, die im Rahmen der Aufgabenstellung dieser Arbeit hilfreich zu sein versprechen, sind von bestimmten anderen dekonstruktivistischen Auffassungen, so weit nötig bzw. möglich, zu scheiden. Entsprechend dieser kritischen Rezeption dekonstruktivistischer Perspektiven ist die Methode meiner Kierkegaardinterpretation zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion angesiedelt, insofern die Methode von zwei miteinander in 3
Zum differenzierten Verhältnis der vorliegenden Arbeit zum Denken der Dekonstruktion bzw. des Dekonstruktivismus vgl. bereits die einleitenden Bemerkungen zur Interpretation der Texte Derridas (s. o. Abschn. B.1.2.0.) – M. E. ohne bzw. mit wenig kritische(r) Distanz werden dekonstruktivistische Auffassungen in Roger Pooles Ansatz übernommen: Poole ist der Auffassung, dass es keinen fixierbaren Inhalt oder Gegenstand der Kierkegaardschen Schriftstellerei gebe, weil die von Kierkegaard angewendete Technik jegliche Fixierung unterwandere. Pooles dekonstruktivistischer Kierkegaardlektüre „Kierkegaard. The Indirect Communication“ liegt dementsprechend die Auffassung zugrunde, dass die Texte Kierkegaards „literarische Maschinen“ sind, die funktionieren, aber keine eruierbare Bedeutung haben (vgl. Poole Kierkegaard. The Indirect Communication, 7). Poole unterscheidet zwischen Bedeutung („meaning“) und Intelligibilität („intelligibility“); letztere lässt sich Pooles Auffassung nach in Kierkegaards Schriften ausmachen, erstere hingegen nicht (Poole „Towards a responsible theory of reading. How to read and why“, 404.407.412). Es kann also in der Interpretation nicht darum gehen, zu der Bedeutung der Schriften vorzudringen, sondern lediglich darum, das konstante Spiel der Supplemente zu gewahren, welches selbst „Bedeutung“ sei (Poole Kierkegaard. The Indirect Communication, 5). Denn Ziel der Kierkegaardschen Texte sei nicht die Entfaltung von Propositionen (vgl. Pooles Kritik am „blunt reading“, welches die formale Gestalt von Kierkegaards Texten zu entschlüsseln sucht [Poole „The unknown Kierkegaard: Twentieth-century receptions“, 58ff.]), sondern vielmehr die Täuschung (Poole Kierkegaard. The Indirect Communication, 144). So schreibt Kierkegaard Pooles Auffassung nach nicht allein über Ironie, sondern ironisiert durch seine Texte (a. a. O., 49ff.). Grundsätzlich ist Poole darin zuzustimmen, dass eine Interpretation, die die Bedeutung der Kierkegaardschen Schriften aus der literarischen Form des Textes gleichsam herauszudestillieren sucht, die konstitutive Funktion literarischer und rhetorischer Strategien in Kierkegaards Werk übersieht. Allerdings impliziert diese richtige Feststellung nicht, dass sich in Kierkegaards Schriften keinerlei Bedeutung (im Sinne von „meaning“) finden ließe. Vielmehr besteht die Herausforderung an die Kierkegaardinterpretation m. E. gerade darin, in Kierkegaards Texten kontinuierliche inhaltliche Interessen wahrzunehmen, und zugleich die Erkenntnis zu wahren, dass der Inhalt von Kierkegaards Schriften nur im Kontext der literarischen Strategie Kierkegaards angemessen wahrgenommen werden kann.
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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Spannung stehenden, aber nicht widersprüchlichen Annahmen ausgeht: Erstens, Kierkegaards Texte können insofern verstanden werden, als sie existenzielle Aporien zur Sprache zu bringen, die der Leser nachvollziehen kann. Dies steht im Einklang mit einem hermeneutischen Zugang. Zweitens, in Kierkegaards Texten ist eine literarische „Strategie“4 realisiert, die darauf zielt, den Glauben zur Sprache bringen, obgleich dieser nicht verstanden werden kann. Die diesem Anliegen entsprechende literarische Strategie, die auf einem Moment des Nicht-Verstehens, der irreduziblen Differenz insistiert und ein ‚unmögliches‘ Ereignis der Bedeutungskonstitution anstrebt bzw. ‚umkreist‘, wird im Rückgriff auf dekonstruktivistische Lese- und Denkerfahrungen erläutert.5 Ziel der Interpretation ist, Kierkegaards Schriften als Modell6 einer literarisch inszenierten Vielstimmigkeit wahrzunehmen, in der entscheidende Momente der im vorhergehenden Teil vorgestellten Theorie der Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren realisiert sind. C.1.1 „Literatur“. Zur Aufgabe einer literarischen Interpretation von „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ C.1.1.1 Der Gegenstandsbereich der Interpretation Die folgende Interpretation Kierkegaards konzentriert sich auf seine so genannten „ästhetischen“ Schriften. Zwar finden sich literarische 4 5
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Zur Problematisierung des Begriffs „Strategie“ s. u., v. a. Abschn. C.3. Vgl. zum Verhältnis von Hermeneutik und Dekonstruktion auch a. a. O., 187; vgl. auch den Ausblick am Ende dieser Arbeit (s. u. Abschn. D.2). Wolters referiert vier verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs „Modell“. Unter diesen findet sich auch eine Verwendung des Begriffs, die auf diesen rekurriert, „[w]enn man die Verhältnisse in Analogie zu bekannteren Verhältnissen in einem anderen Bereich studiert“. Solche Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie „nicht mehr als Widerspiegelung der Realität verstanden werden, sondern daß die zunächst heuristische Hypothese einer Strukturähnlichkeit (Isomorphie) verschiedener Bereiche aufgestellt wird.“ (Wolters Art. „Modell“, 912) In der vorliegenden Arbeit gilt das pseudonyme Werk Kierkegaards in diesem Sinn als „Modell“. So ließe sich im Anschluss an die genannte Definition formulieren, dass von der heuristischen Hypothese ausgegangen wird, dass die Struktur von Kierkegaards pseudonymem Werk der Struktur einer vielstimmigen Rede des Glaubens im dargelegten Sinne (s. o. Teil B) isomorph sein könnte. – Diese Verwendung des Begriffs „Modell“ unterscheidet sich insofern von der theologischen Rezeption dieses Begriffs, als der Begriff des „Modells“ nicht unmittelbar auf die Struktur oder auf den Wahrheitsstatus von religiöser Sprache selbst bezogen wird (vgl. Sallie McFague Metaphorical Theology, Models of God in Religious Language, Philadelphia 1982; Janet Martin Soskice Metaphor and Religious Language, Oxford 1987), sondern den argumentativen Status des pseudonymen Werks Kierkegaards in der Architektur der vorliegenden Arbeit klärt.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
Gestaltungsmittel, darunter auch das der Vielstimmigkeit, auch in den späteren Werken.7 Doch besteht in den späteren Werken die Tendenz, die Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit des frühen Werkes zugunsten einer christlich-assertorischen Einstimmigkeit aufzuheben: Die Instrumente literarischer Gestaltungen wie mehrfach verschachtelte fiktive Herausgeberschaft, novellistische Passagen und die Rede in Metaphern und Aphorismen sind in den früheren, von Kierkegaard als „ästhetisch“ bezeichneten pseudonymen Schriften8 stärker ausgeprägt als in den späteren9, in denen sie – wenn überhaupt – nur noch durch die intentionale Ausrichtung christlich-assertorischer Rede gebrochen erscheinen. Daher liegt der Schwerpunkt auf den frühen, so genannten „ästhetischen“ pseudonymen Schriften Kierkegaards. Unter diesen „ästhetischen“, pseudonymen Schriften stehen die ersten drei Werke, „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“, in einem engen zeitlichen Zusammenhang.10 Überdies be7
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So kann das Verhältnis von Climacus und Anti-Climacus zwar ebenfalls als eine Form von Vielstimmigkeit bzw. Mehrstimmigkeit aufgefasst werden (vgl. Schmidt „Unlust und Glaube. Die Aporie erlebnisorientierter Freizeitgestaltung als Herausforderung für die Kulturhermeneutik“, 105ff.). Jedoch stehen in diesem interpseudonymen Wechselverhältnis nur zwei konträre Positionen einander gegenüber, deren Interaktion überdies bei weitem nicht so diffizil ist wie jene zwischen den früheren Pseudonymen und literarischen Figuren Kierkegaards. D. h. in den Schriften, die vor der „Abschließende[n] Unwissenschaftliche[n] Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“ erschienen: „Die erste Folge von Schriften ist ästhetische Schriftstellerei; die letzte Folge von Schriften ist ausschließlich religiöse Schriftstellerei: zwischen den beiden liegt als der Wendepunkt die ,Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift‘.“ (SüS 27 / SV1 XIII 523) Z. B. in den Schriften „Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“, „Die Krankheit zum Tode“ und „Einübung im Christentum“. „Entweder/Oder“ erschien am 20.2.1843 (vgl. SKS 2-3K,7); „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ erschienen beide am 16.10.1843 (vgl. SKS 4K,7.75). – Die in den Jahren nach 1843 erscheinenden Texte stellen nur in einem eingeschränkten Maße eine Fortführung der in diesen Texten angewendeten literarischen Strategien dar: Die Schriften „Philosophische Bissen“ und „Der Begriff Angst“ aus dem Jahr 1844 ercheinen zwar pseudonym, Pseudonymität stellt aber hier m. E. keine literarische Strategie dar, zumindest keine literarische Strategie von einer Qualität und Komplexität, die sich mit jener der Schriften von 1843 auch nur annähernd messen ließe. Die „Stadien auf dem Weg des Lebens“ beginnen zwar mit der „Wiedergabe“ eines Symposions, bei dem aus vorigen Schriften bekannte Pseudonyme und literarische Figuren auftreten (SLW I,21ff. / SKS 6,27ff.), jedoch bildet dieses Symposion im Gegensatz zu den Schriften von 1843 kein subtiles Gefüge einer Mehr- oder Vielstimmigkeit. Überdies enden die „Stadien auf dem Weg des Lebens“ mit einer Schilderung der „Leidensgeschichte“ des „Quidam“, die sich, des Esprits anderer Schriften Kierkegaard vollständig entbehrend, im ausweglosen Kreisen des Quidam um sich selbst verliert. Garff bezeichnet die „Leidensgeschichte“ m. E. zu Recht als eine „kaum
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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steht, wie zu zeigen sein wird11, hinsichtlich der Verwendung bestimmter literarischer Motive zwischen diesen drei Schriften ein besonders vielfältiges und enges Wechselverhältnis. Aus diesen Gründen widmet sich die vorgelegte Interpretation den drei Schriften „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“. C.1.1.2 Zur Methode der Interpretation: „Vielstimmigkeit“ und „Negativität“ Nachdem somit die Option für den Gegenstandsbereich der Interpretation begründet wurde, gilt es, die in dieser Arbeit angewandte Methode der Interpretation zu erläutern. Nun geben die Überlegungen, die im ersten Hauptteil dieser Arbeit angestellt wurden12, die Richtung der hier vorzunehmenden Kierkegaardinterpretation bereits vor, insofern eine Theorie vielstimmiger Rede vorgeschlagen wurde, vor deren Hintergrund Kierkegaards Werk wahrgenommen werden soll. Damit ist eine Grundsatzentscheidung über den Zugang zu Kierkegaards Werk gefallen. Die folgenden Überlegungen dienen nicht dazu, diese Entscheidung nachträglich zu legitimieren. Vielmehr sollen die nun folgenden Schritte die Möglichkeiten ausmitteln, den gewählten Zugang zu profilieren und überdies ggf. mit neueren Theorien zur Entstehung von Sinn Allianzen einzugehen. Zu konsultieren sind zwei Ansätze aus der Literaturtheorie13, in denen jeweils eine der beiden in der vorgeschlagenen Theorie bedeutsamen Kategorien – Vielstimmigkeit und Negativität – bedacht wird. 11
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zu ertragende Lektüre.“ (Garff Kierkegaard, 403) – Bei den „Erbaulichen Reden“ handelt es sich zwar um literarisch aufwendig gestaltete Schriften (vgl. Pattison Kierkegaard’s Upbuilding Discourses. Philosophy, Theology, Literature), jedoch sind die erbaulichen Reden weit stärker an Kierkegaards Person gebunden als die pseudonymen Schriften, so dass ein Spiel der Stimmen sich in den „erbaulichen Reden“ nicht mit derselben Radikalität entfalten kann wie in den pseudonymen Schriften. S. u. Abschn. C.2. S. o. Teil B; v. a. Abschn. B.3. Auf eine Definition des Begriffs „Literatur“ kann hier verzichtet werden, da lediglich bestimmte Eigenschaften der Form eines Textes, die man wohl getrost als literarische Eigenschaften bezeichnen können wird, erörtert werden sollen. Die Unmöglichkeit einer Bestimmung des „Wesens“ von Literatur hat Eagleton eindrücklich dargelegt (vgl. Eagleton Einführung in die Literaturtheorie, 1ff.). – Sexl definiert literarische Texte als „Sprachverwendungen in einem materialen Medium (Schrift, Tonbandaufzeichnung, Computerbildschirm etc.), bei denen der pragmatische Zweck nicht im Vordergrund steht.“ (Sexl „Einleitung: Literatur, Theorie, Literaturtheorie“, 16) Hierbei handelt es sich allerdings um eine sehr allgemeine und zudem negativ formulierte Definition.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
C.1.1.2.1 Vielstimmigkeit (Michail M. Bachtin) Michail M. Bachtin entwickelt seine Theorie der „Polyphonie“ als der Haupteigenart von Dostoevskijs Romanen14 in steter Abgrenzung von einem „monologischen“ Roman, der keine fremden Ideen kennt15, insofern in ihm das Bewusstsein des Helden durch das Bewusstsein des Autors objektiviert wird.16 Polyphonie im Gegensatz zu solchem Monologismus konstituiert sich durch eine Vielfalt selbständiger, unvermischter, vollberechtigter und der Stimme des Autors gegenüber gleichberechtigter Stimmen und Bewusstseine.17 Diese stehen in einem dialogischen Verhältnis zueinander, durch welches der Held und die von ihm verkörperte Idee konturiert werden. Die ihrer Natur nach dialogische Idee gilt als „lebendiges Ereignis, das sich dort abspielt, wo zwei oder mehrere Bewußtseine dialogisch aufeinanderstoßen.“18 […] [I]hr [der Dialog-Typen Dostoevskijs] Konstruktionsprinzip ist stets das gleiche. Überall die Überschneidung, die Harmonie oder Disharmonie der Repliken des offenen Dialogs mit den Repliken des inneren Dialogs der Helden. Überall wird eine bestimmte Gesamtheit von Ideen, Gedanken und Worten in einigen unvermischten Stimmen durchgeführt und klingt in jeder dieser Stimmen anders. Nicht diese Gesamtheit der Ideen für sich genommen, als etwas Neutrales und mit sich selbst Identisches, ist Gegenstand der Bemühungen des Autors. Nein, sein Gegenstand ist die Durchführung des Themas in vielen, verschiedenen Stimmen, seine prinzipielle und sozusagen unaufhebbare Vielstimmigkeit und Verschiedenstimmigkeit.19
Die Spaltung der Stimmen findet, so Bachtin, auf mehreren Ebenen statt: Die literarischen Figuren führen einen Dialog bzw. einen Streit20 miteinander. Die Stimmen sind überdies auch in sich nicht monologisch, vielmehr sind sie bereits in sich selbst gespalten.21 Vermittels 14
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Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 10. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Bachtins synchrone Analyse der Poetik Dostoevskijs, der sich die ersten vier Kapitel seiner Studie widmen (vgl. zur Gliederung von Bachtins Dostoevskijstudie a. a. O., 201). A. a. O., 88. A. a. O., 77. Vgl. a. a. O., 10.21.55 u. a. A. a. O., 98. A. a. O., 301. A. a. O., 37.46.78.80.85.99.101.290.296.298 u. a.; vgl. ders. Die Ästhetik des Wortes, 204.214. Die Streitbarkeit rührt daher, dass das lebendige Wort nicht in isolationistischer Selbstidentität besteht, sondern immer schon am „historischen Prozeß“, am „sozialen Kampf“ beteiligt ist: „Die künstlerische Prosa […] nimmt das Wort als ein Wort, in dem dieser Kampf und die Feindschaft noch nicht erkaltet sind, ein Wort, das noch unentschieden und von einander feindlichen Intonationen und Akzenten zerrissen ist […].“ (A. a. O., 219) Vgl. ders. Probleme der Poetik Dostoevskijs, 290.
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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dieser Spaltung reflektiert sich der innere Dialog im expliziten Dialog der literarischen Figuren.22 Bachtin bezeichnet den inneren Dialog, in dem sich der äußere Dialog innerhalb der Stimme je einer einzelnen literarischen Figur reflektiert, auch als „Mikrodialog“23. In meiner Kierkegaardinterpretation werde ich zu zeigen versuchen, dass insbesondere die Stimme des Gerichtsrats Wilhelm vom unwiderstehlichen Recht der anderen Stimme von Entweder/Oder, der des Ästhetikers, Zeugnis gibt, dass also der Dialog zwischen dem Gerichtsrat und dem Ästhetiker sich in einem Mikrodialog reflektiert, der innerhalb der Stimme des Gerichtsrats geführt wird. In ähnlicher Weise lässt sich in der Wiederholungs-Schrift die Stimme des Constantin Constantius in der Stimme des jungen Mannes aufspüren.24 Grundsätzlich bestehen also Übereinstimmungen zwischen dem in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff der Mehr- bzw. Vielstimmigkeit Verstandenen und Bachtins Begriff der Polyphonie.25 (Hier ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Kierkegaard die Begriffe „Pseudonymität“ und „Polyonymität“ scheinbar synonym verwendet.26) Allerdings unterscheidet sich das Phänomen, welches in dieser Arbeit als Vielstimmigkeit bezeichnet wird, von der Bachtinschen Polyphonie darin, dass die Negativität bei Bachtin nicht in derselben Weise für das Mitteilungsgeschehen konstitutiv ist, wie es in der in dieser Arbeit zu entwickelnden Theorie der Sprache des Glaubens 22
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Bachtin legt dar, die realen Stimmen Myschkins und Rogoschins verflöchten und überschnitten sich mit den Stimmen des inneren Dialogs von Nastascha Filippovna (a. a. O., 292). Ebd.; vgl. ders. Die Ästhetik des Wortes, 209. – Streng genommen ist zwar jede dialogische Stimme mikrodialogisch, insofern jeder Sprecher (in einem wirklichen Dialog) die Auffassungen seines Gesprächspartner in seine Rede flechtet. Die differentia specifica eines Mikrodialogs als eines Charakteristikums der Poetik Dostoevskijs – und, wie zu zeigen sein wird, Kierkegaards – besteht darin, dass im Mikrodialog die Stimme des Gesprächspartners nicht nur gegenwärtig ist, sondern näherhin in der Weise gegenwärtig ist, dass sie gegen die explizite Auffassung des Sprechers Recht behält. Ebendies geschieht in den Reden des Gerichtsrats (s. u. Abschn. C.2.1.2 u. C.2.1.3). – Dem „Mikrodialog“ entspricht die „innerlich dialogisierte Hybridie“, in der „innerhalb einer einzigen Äußerung zwei potenzielle Äußerungen gleichsam wie zwei Repliken eines möglichen Dialogs verschmolzen“ sind (a. a. O., 246). S. u. Abschn. C.2.2. Bachtin erwähnt in seinen Überlegungen zur „Redevielfalt im Roman“ das Phänomen der fiktiven Autorschaft: Fiktiver Autor und Erzähler können, so Bachtin, als „Repräsentanten eines besonderen verbal-ideologischen, sprachlichen Kontexts“ (a. a. O., 202; vgl. a. a. O., 203ff.212) vorgeführt werden; genau dies trifft auf den „Gerichtsrat Wilhelm“ zu (s. u. Abschn. C.2.1). Vgl. AUN II,339 / SKS 7,569 (s. o. Anm. 1).
114
C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
der Fall sein soll.27 So gilt der polyphone Roman Bachtin als „Ganzheit“28 bzw. als „Einheit“, wenn auch als „höhere[n] Einheit, einer[r] Einheit zweiter Ordnung sozusagen“29: Das Wesen der Polyphonie besteht gerade darin, daß die Stimmen selbständig bleiben und als solche in einer Einheit höherer Ordnung, als es die Homophonie ist, aufgehen.30
Die Konstitution von Bedeutung ist also bei Bachtin als ein geordnetes Geschehen gedacht, welches keine „selbstzerstörerische“ Krise der Bedeutung zu durchschreiten hat, wie es die oben (vor dem Hintergrund von dekonstruktivistischen Denkerfahrungen) formulierte Theorie der Sprache des Glaubens fordert.31 Die Intentionen des Sprechers leiten, wenn auch „gebrochen“ durch die mit anderen Intentionen übersättigte Sprache, die Entstehung von Bedeutung.32 Im Rahmen der Zusammenfassung dieser Überlegungen wird das Verhältnis von Bachtins Begriff der „Polyphonie“ und dem Begriff der „Vielstimmigkeit“ im Sinne dieser Arbeit weiter zu differenzieren sein.33 In der Kierkegaardforschung finden sich nur vereinzelte Hinweise auf das Verhältnis von Kierkegaards Werk zur Vielstimmigkeit34 bzw. zur Polyphonie.35 So verweist Pattison auf eine Reihe von Überein27
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In der Bewertung von Negativität scheint mir auch die entscheidende Differenz zwischen Bachtin und Derrida zu liegen: Derridas Gedanke der Spaltung der Stimmen und der Vielstimmigkeit wird stets im Zusammenhang von aporetischen bzw. paradoxalen Momenten in der Konstitution von Sinn erörtert (s. o. Abschn. B.1.2 u. B.2.1); in Bezug auf Bachtin gilt dies zumindest nicht in derselben Weise. A. a. O., 23. A. a. O., 21. A. a. O., 27. S. o. Abschn. B.3. Vgl. Bachtin Die Ästhetik des Wortes, pass. Bachtin vertritt im Gegensatz zu Derrida die Auffassung, die Rede könne den Intentionen des Sprechers untergeordnet, d. h. gezwungen werden, den Intentionen des Prosaschriftstellers zu dienen (vgl. Bachtin Die Ästhetik des Wortes, 185; vgl. zur Kontinuität der Intention des Autors – in ihrer Gebrochenheit – a. a. O., 190.201.212f.). So gilt Bachtin auch die Freiheit des Helden (des Romans) als Moment der Intention des Autors (Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 74). Zum Verhältnis von Bachtin und Derrida vgl. auch Meyler Art. „Bakhtin, Mikhail“, 26; De Nooy Derrida, Kristeva and the Dividing Line. An articulation of two theories of difference, 270f. S. u. S. 121ff. King formuliert prägnant, dass in Kierkegaards pseudonymen Schriften „die Probleme durch fiktive Gestalten von einander entgegengesetzten und wechselnden Blickpunkten aus in provisorischer Weise artikuliert werden, ohne daß eine direkte Antwort angeboten würde […].“ (A. a. O., 136; vgl. a. a. O., 145 Anm. 36) King erläutert allerdings nicht (hinreichend), in welcher Art und Weise eine Antwort indirekt angeboten wird. Vgl. die kurze Übersicht bei Pattison Kierkegaard, Religion and the Nineteenth-Century Crisis of Culture, 237 Anm. 15.
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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stimmungen zwischen Bachtins Gedanken der Dialogizität bzw. Polyphonie und dem Kierkegaardschen Werk, u. a. auf die Verbindung einander widersprechender Auffassungen, für die er „Entweder/ Oder“ als Beispiel nennt.36 Weiterhin zeigt Pattison auf, dass und wie Kierkegaards erbauliche Reden als zweistimmige Diskurse („doublevoiced discourse“) aufgefasst werden können, d. h. als Diskurse, die von der Antwort bzw. der antizipierten Antwort eines Dialogpartners auf das Vorgetragene geprägt sind.37 King rekurriert in seiner Kierkegaardstudie auf den musiktheoretischen Begriff des Kontrapunkts, der wiederum in Bachtins Konzept der Polyphonie eine bedeutende Funktion einnimmt.38
36 37
38
A. a. O., 238. Ders. Kierkegaard’s Upbuilding Discourses. Philosophy, Theology, Literature, 153, vgl. auch a. a. O., 189. Vgl. ferner Fryszman „Kierkegaard and Dostoyevsky Seen Through Bakhtin’s Prism“, und die Hinweise auf die Beziehung zwischen Bachtin und Kierkegaard bei Nagy „The Mount and the Abyss. The Literary Reading of Fear and Trembling“, 241; ders. „Kierkegaard in Russia. The Ultimate Paradox: Existentialism at the Crossroad of Religious Philosophy and Bolshevism“, 118 Anm. 37; Poole „Towards a responsible theory of reading. How to read and why“, 420. – Mackey spricht von Kierkegaards „polyphoner“ Literatur (Mackey Kierkegaard. A Kind of Poet, 3). King beschreibt das literarische Zusammenwirken der Mitteilungsform der ästhetischen und der religiösen Schriften mit dem Bild eines „doppelten Kontrapunkts […], bei dem die beiden melodisch eigenständigen, untereinander gesetzten Stimmen gegeneinander ausgetauscht werden können, ohne daß sich der musikalische Sinn substantiell verändert […].“ (King Existenz – Denken – Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Søren Kierkegaards, 51) Auf den musiktheoretischen Begriff „Kontrapunkt“ bezieht sich auch Bachtin in seiner Erläuterung von Dostoeviskijs Polyphonie: Bachtin referiert Èernyševskijs der Polyphonie sehr nahe kommenden Grundgedanken eines unvollendeten Romans (Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 74ff.). Èernyševskij beschreibt eine Romanform, in der eine Ansicht in eine andere, ihr völlig unähnliche, übergeht, und vergleicht dieses Phänomen mit der Anmutung einer Perlmutter, bei der alle Farbnuancen des Regenbogens zu sehen sind. Bachtin kommentiert, damit sei metaphorisch ausgedrückt, was der Kontrapunkt in der Literatur bedeute (a. a. O., 76; vgl. zum Begriff des „Kontrapunkts“ bei Bachtin auch a. a. O., 50.52.81; auf das Phänomen der Brechung des Lichts in seine Spektralfarben rekurriert Bachtin auch an anderer Stelle in diesem Sinne [vgl. Bachtin Die Ästhetik des Wortes, 170]). Vgl. ferner die musiktheologischen Überlegungen zu Kontrapunkt und Polyphonie in Bezug auf Dietrich Bonhoeffer bei Pangritz Polyphonie des Lebens. Zu Dietrich Bonhoeffers „Theologie der Musik“, 71ff., und die Bemerkung zur Pause in einer musikalischen Bewegung bei Caputo (MRH 251) sowie die musikwissenschaftliche Analogie bei Ward, der darlegt, Schweigen sei dem Sprechen und Formulieren integral, und auf das Intervall zwischen dem Ersten der beiden eröffnenden Sätze von Beethovens fünfter Symphonie verweist (Ward „In the daylight forever? Language and silence“, 179). Auf Caputos Erwähnung der „Fuge“ (AE 151) wurde bereits Bezug genommen (s. o. Abschn. B.2.1.5).
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
C.1.1.2.2 Negativität (Wolfgang Iser) Grundlegend für Wolfgang Isers wirkungsästhetischen39 Ansatz ist die Annahme, dass Bedeutung weder allein im Text enthalten ist noch allein in der Psyche des Lesers entsteht, sondern im Vollzuge eines Wechselspiels zwischen Text und Leser im Bewusstsein des Lesers hervorgebracht wird. Wirkungsästhetik ist die Beschreibung dieser Entfaltung des Textes im Akt des Lesens.40 Die Interaktion von Text und Leser wird durch Antriebe der Konstitutionsaktivität gesteuert, durch die der Text auf den Leser wirkt; unter diesen Antreiben steht die Unbestimmtheit von Texten für Iser an exponierter Stelle. Die „Leerstelle“ organisiert ein Feld, innerhalb dessen verschiedene Perspektiven eines Romans miteinander in Interaktion treten41, und zwar in einer Art und Weise, in der Negativität eine konstitutive Funktion ausübt42: Indem die Leerstelle die Anschließbarkeit der Perspektiven eines Romans gerade ausspart, entsteht eine Spannung, die die Konstitutionsaktivität des Lesers antreibt.43 Ein Ausgangspunkt von Isers wirkungsästhetischem Ansatz ist die Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie: Versteht man fiktionale Rede als Sprechakt, dann „fehlen“ der fiktionalen Rede der Kontext und der Bezug auf die sprachlichen und gesellschaftlichen Konventionen, die jedoch zum Gelingen des Sprechakts gegeben sein müssen.44 Dieses „Fehlen“ ist nun gerade der Ausgangspunkt für die Konstitution von Bedeutung innerhalb fiktionaler Rede45: Gerade indem die fiktionale Rede als Sprechakt nicht durch ihren Situationsbezug determiniert ist, ist es ihr möglich, die die Situation determinierenden Konventionen selbst zu thematisieren – anstatt sich positiv auf sie zu beziehen – und sie so fraglich werden zu lassen.46 So werden die 39
40 41 42
43 44 45 46
Iser bezeichnet sein Projekt als „Wirkungstheorie“ im Gegensatz zu einer „Rezeptionstheorie“: Eine „Wirkungstheorie“, so Iser, ist im Text verankert, eine Rezeptionstheorie hingegen in den historischen Urteilen der Leser (Iser Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 8). Vgl. ders. „Die Appellstruktur der Texte“, 229ff. Ders. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 305. Iser beschreibt eine Entstehung von Bedeutung, in der das Nicht-Gesagte konstitutiv ist für das, was der Text sagt (a. a. O., 348); „die Konstituierung des Ungesagten“ manifestiert sich „als dialektische Aufhebung des Gesagten“ (a. a. O., 352). A. a. O., 284.301.306. A. a. O., 104f. A. a. O., 104.109.114. Iser exemplifiziert diesen Gedanken mit Bezug auf Henry Fieldings Roman „Tom Jones“. Das Ziel des Romans ist, ein Bild der menschlichen Natur in der Verspannung sozialer Kontraste zu zeigen. Die Charaktere des Romans verkörpern zeitgenössische Normen: Allworthy verkörpert den Zentralgedanken der latitudinaristischen Moral von
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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Normen durch ihre Entpragmatisierung, d. h. durch die Streichung ihrer Geltung thematisch: Normen der eigenen sozialen Umwelt als sie selbst zu gewärtigen, eröffnet die Chance, ein Bewußtsein davon zu erwerben, worin man befangen ist. Eine solche Bewußtheit wird sich steigern, wenn die Geltung der gewählten Normen im Textrepertoire negiert ist. Denn nun bietet sich dem Leser das Bekannte als überschritten; es ist ihm zur ‚Vergangenheit‘ entrückt […]. Die Negation erzeugt somit eine dynamische Leerstelle auf der paradigmatischen Achse der Lektüre. Als gestrichene Geltung markiert sie eine Leerstelle in der selektierten Norm; als das verschwiegene Thema der Streichung markiert sie die Notwendigkeit, eine bestimmte Einstellung zu entwickeln, die es dem Leser erlaubt, das in der Negation Verschwiegene zu entdecken. […] Damit wird die Negation zu einem entscheidenden Antrieb für die Vorstellungsakte des Lesers, der das verschwiegene und damit nicht gegebene Thema der Negation als imaginäres Objekt zu bilden hat.47
Der Leser wird so veranlasst, ein Signifikat zu bilden, das die Signifikanten nicht denotiert haben48, indem er eine Vorstellung über die Normen entwickelt, die mit den Normen selbst gerade nicht kongruent ist. Der fiktionale Text lebt von den „vorhandenen Strukturen der Weltbemächtigung“, indem er diese gerade nicht reproduziert, sondern sich auf das bezieht, „was in den jeweils herrschenden Sinnsystemen virtualisiert, negiert und daher ausgeschlossen ist.“49 Es wird sich herausstellen, dass Isers Theorie für die Beschreibung bestimmter Phänomene in Kierkegaards Werk grundsätzlich hilfreich 47
47
48 49
der Benevolenz; Squire Western das Grundprinzip aufklärerischer Anthropologie von der „ruling passion“ und Mrs. Western die gesellschaftlichen Konventionen des Kleinadels (a. a. O., 127; ders. Der implizite Leser, 88) etc. Nun sind die Charaktere einander in Gegensatzverhältnissen zugeordnet: Allworthy („benevolence“) steht in Opposition zu Squire Western („ruling passion“); ferner ist Sophias Liebe als Idealität natürlicher Neigung der Verführbarkeit der Molly Seagrim und der Verwerflichkeit der Lady Bellaston kontrastiert (ders. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 308). Der Held des Romans, Tom Jones, steht wiederum in einer Diskrepanz zu allen genannten Normen, indem er fortwährend gegen die Normen verstößt und so den Gegensatz zwischen den Normen und der Erfahrungswirklichkeit deutlich werden lässt (a. a. O., 128.310). Dadurch werden dem Leser jedoch ebendiese Normen fragwürdig: Die Normen grenzen die als negativ gesetzten Möglichkeiten der menschlichen Natur aus, jedoch verfehlen die Normen durch diese Exklusivität die Komplexität der menschlichen Natur. „Zwischen den ‚schematisierten Ansichten‘ entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander anstoßenden Ansichten ergibt.“ (Ders. „Die Appellstruktur der Texte“, 235) Iser Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 328f. Vgl. zum Gedanken der Konstitution von ästhetischer Bedeutung im Zuge des Bruchs mit dem Kontext auch Menke Die Souveräntität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, v. a. 75. A. a. O., 110. A. a. O., 120.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
ist, insbesondere hinsichtlich des Gedankens, dass Negativität eine entscheidende Funktion in der Konstitution von Bedeutung ausübt. Allerdings unterscheidet sich die in dieser Arbeit vorzunehmende Interpretation des frühen pseudonymen Werks Søren Kierkegaards darin von einer Interpretation im Sinne der beschriebenen wirkungsästhetischen Theorie Isers, dass der Negativität in der vorliegenden Arbeit ein nochmals größerer Stellenwert eingeräumt wird, als es bei Iser der Fall ist: Die Konstitution einer kohärenten Bedeutung im Akt des Lesens durch den Leser ist bei Iser nicht nur nicht unmöglich, sondern regulatives Ziel des Lesens.50 Die Interpretation des Textes wird Iser zufolge in gewissem Sinne, so Eagleton, vom Text logisch erzwungen.51 Ziel der Vielstimmigkeit im Sinne der in dieser Arbeit formulierten Theorie ist hingegen eine unmögliche Mitteilung, die nicht durch die Mitteilungsstrategie erzwungen, sondern allenfalls (in Überschreitung der Möglichkeiten der Sprache) „ermöglicht“ werden kann. Negativität hat insofern in dieser Arbeit eine gegenüber Isers Ansatz weitergehende Bedeutung. In der Forschungsliteratur zu Kierkegaard finden sich einzelne Bemerkungen zur Funktion von Negativität in Kierkegaards Ästhetik, die jedoch meist auf der Ebene von Andeutungen verbleiben.52 Eine prominente Ausnahme stellt Adornos Habilitationsschrift „Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen“ (1930) dar, in der allerdings ein 50
51 52
Vgl. Eagletons kritische Auseinandersetzung mit Iser (Eagleton Einführung in die Literaturtheorie, 47ff.). Eagleton wendet gegen Isers Rezeptionsästhetik ein, es bestehe „überhaupt keine Notwendigkeit, anzunehmen, daß literarische Werke ein harmonisches Ganzes formen oder formen sollten […].“ (A. a. O., 48) Vgl. a. a. O., 52. Schleifer / Markley formulieren prägnant den Zusammenhang von Kierkegaards ästhetischem Interesse und „Literatur“ mit Blick auf Negativität: „Kierkegaard is interested, as literature is, in various and particular occasions for discourse which generate their signification as much from their contrasting juxtapositions as from their positive content.“ (Schleifer / Markley „Editor’s Introduction: Writing Without Authority and the Reading of Kierkegaard“, 3) Paul legt dar, dass „Nachahmung“ und „Kontrast“ in verschiedenen Kontexten von „Entweder/Oder“ als „strukturierendes Prinzip“ fungieren (vgl. Paul „Kierkegaards Verführer, Don Juan und Faust“, 212ff.). Bohrer setzt sich in seiner Studie zur „Ästhetischen Negativität“ mehrfach mit Kierkegaard auseinander (vgl. Bohrer Ästhetische Negativität, v. a. 19ff.), allerdings versteht Bohrer Negativität in dieser Studie eher als inhaltliche denn als formale Größe. In Bezug auf die „Krankheit zum Tode“ bemerkt Wesche: „Kierkegaards gebrochene Transparenz [dagegen] erweist sich als das Vermögen, hervorzutreten, das heißt als der Bewegungsvorgang, sich zur Erscheinung zu bringen. Leben hebt sich als solches von dem ab, was dunkel ist: Es hellt sich allein auf dunklem Hintergrund auf.“ (Wesche Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, 94)
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anderer Akzent gesetzt wird als in der vorliegenden Arbeit: Zwar gilt Adornos Interesse der irreduziblen Funktion des Dichterischen, der Metaphorik Kierkegaards53, worin eine wichtige Übereinstimmung mit meinem Projekt besteht. Auch formuliert Adorno die wichtige Erkenntnis, dass Kierkegaards eigene sphärenlogische Konstruktion, die Periodisierung der Existenz in eine ästhetische, ethische und religiöse Sphäre, von den Schriften selbst unterwandert wird.54 Jedoch konzentriert Adorno sich auf eine bestimmte Konstellation von Form und Inhalt in Kierkegaards Denken: Adorno zeichnet nach, wie Kierkegaards „Ontologie“ sich nach dem Rhythmus von „Existenz, Verzweiflung, Hoffnung“55 ausrichte. Schwermut und zerfallende Existenz sind durchsichtig für Hoffnung und Wahrheit56, die nicht anders zum Ausdruck kommen können als vermittels einer Dialektik. So formuliert Adorno prägnant, die Trümmer der durch die Verzweiflung zerfallenen Existenz würden zu „Malen“, d. h. zu negativen Anzeichen oder Zeichen der Hoffnung – der einzigen Hoffnung angesichts einer Verzweiflung, die selbst in keiner Weise als „Heilmittel“ anzusehen ist. Während sich solcherart in der Freiheit der Sünde das Ich in seine Immanenz verschanzt, dem mythischen Zerfall zu entgehen, treibt es ihm gerade entgegen: im Stande der Verzweiflung als dem vollendeter Sündhaftigkeit. Verzweiflung dissoziiert es, und die Trümmer des zerspellenden sind die Male der Hoffnung. Das bleibt in Kierkegaards Werk die innerste – darum die ihm verborgene dialektische Wahrheit, die erst in der posthumen Geschichte seines Werks sich zu eröffnen vermag. Sie rechtfertigt die rätselvolle, in der Schrift nirgends erläuterte Wendung aus der Vorrede zur „Krankheit zum Tode“, daß „in dieser ganzen Schrift Verzweiflung als die Krankheit, nicht als das Heilmittel verstanden wird.“57 53
54 55 56
Adorno behauptet in seiner Frühschrift zunächst, das Metaphorische sei zugunsten des Begrifflichen zurückzudrängen: „Je reiner [vielmehr] die philosophische Form als solche herauskristallisiert ist, je härter sie alle Metaphorik ausschließt, die sie äußerlich der Kunst annäherte, desto besser vermag sie kraft ihres Formgesetzes künstlerisch zu bestehen.“ (Adorno Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 23f.) Jedoch revidiert Adorno seine eigene Argumentation noch innerhalb derselben Arbeit, indem er im Vollzug seiner Interpretation die irreduzible Bedeutung des „Ästhetischen“ in Kierkegaards Werk v. a. in Bezug auf die chiffrenhafte Darstellung von Sinn und Wahrheit exponiert. (Diese Spannung innerhalb von Adornos Schrift beschreibt Simonis Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, 553ff.) Im Übrigen lässt sich möglicherweise eine Übereinstimmung der Form von Adornos spätem Werk und der Form von Kierkegaards Werk feststellen, insofern Adorno sich seinerseits um eine Sprache bemüht, die versucht, „auch das Andere, jenseits der Dialektik, als unabweisbar Mögliches wenigstens zu umkreisen […].“ (So kommentiert Deuser Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, 119, die Sprache des späten Adorno). A. a. O., 21.126.142.184ff. A. a. O., 189. Vgl. a. a. O., 94.181.187 u. a.
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Entsprechend dieser indirekten „Zeichenfunktion“ der „Trümmer des Zerspellenden“ gibt es keine direkte Benennung der Wahrheit. Wahrheit kann, so Adorno, nur chiffriert erscheinen, wird jedoch – wiederum dialektisch – gerade dadurch „garantiert“58. Die zu entwickelnde Interpretation unterscheidet sich ungeachtet der offensichtlichen Übereinstimmungen, die in Bezug auf die Erschließungskraft des Negativen mit Adornos Sichtweise bestehen, darin von dessen Kierkegaardinterpretation, dass diese Interpretation gleichsam einen noch größeren Abstand zu „Kierkegaards“ pseudonymen Äußerungen hält als Adorno. Während Adorno einzelne Bilder und Metaphern der Schriften Kierkegaards – mit unstreitig größter Hellsichtigkeit – als jeweils einzelne Ausdrucksform der Funktion der Ästhetik in Kierkegaards Werk interpretiert, ist es das Ziel der vorliegenden Interpretation, einen Modus der negativ-ästhetischen Bedeutungskonstitution in Kierkegaards Werk zu untersuchen, der im intra-59 und interpseudonymen60 Wechselspiel der Bilder und Metaphern, in der Mehr- und Vielstimmigkeit begründet liegt.61 57
58 59 60 61
A. a. O., 122 (Hervorhebung J. S). Hier leuchtet Walter Benjamins Geschichtsphilosophie durch (vgl. Kodalle Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard, 211). Vgl. a. a. O., 178. S. u. Abschn. C.2. S. u. Abschn. C.3; s. Abbildung 3. Adorno hätte m. E. die mehr- und vielstimmige Schichtung von Kierkegaards Werk stärker in Betracht ziehen müssen. So wird z. B. seine Kritik an Kierkegaards Gedanken des „Opfers“ und der „objektlosen Innerlichkeit“ u. a. mit Bezug auf den Terminus der „unendlichen Resignation“ entwickelt (a. a. O., 152), der allerdings in „Furcht und Zittern“, wie zu zeigen sein wird, nicht für Kierkegaards „Position“ oder Forderung steht, sondern als negative Folie für die „negative Beleuchtung“ des „Ritters des Glaubens“ dient (s. u. Abschn. C.2.3). Noch deutlicher wird dieses Problem dort, wo Adorno sich auf „Kierkegaards stets wiederholte Versicherung, er sei kein Glaubender“ (a. a. O., 169), bezieht. Denn diese Versicherung wird doch eher von einzelnen Pseudonymen, z. B. von Johannes de Silentio und von Climacus vorgetragen, deren Auffassungen nicht auf das gesamte Denken und Werk Kierkegaards projeziert werden dürfen. Zur Kritik an Adorno vgl. King, der Adorno (und Lowrie) vorwirft, in ihren Kierkegaardinterpretationen werde „das feine Gewebe zerrissen“, welches die verschiedenen pseudonymen Schriften bildeten, „und der Bezugsrahmen aus den Augen verloren“ (King Existenz – Denken – Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Søren Kierkegaards, 40). Bemerkenswerterweise spricht King jedoch in einer späteren Passage m. E. ganz im Sinne Adornos von einer „Chiffre, in der sich die Essenz seines [Kierkegaards] Denkens konzentriert“ (King, a. a. O., 67). Vgl. zur Rede von der „Chiffre“ bzw. von „chiffrierter Wahrheit“/„chiffriertem Sinn“ Adorno Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 34.39ff.48.68.77.132.145.148f.179.189.
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C.1.1.3 Negativität, Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit Betrachtet wurden der Begriff der „Polyphonie“ (Bachtin) und der Gedanke der Konstitution von Sinn durch die Aussparung aus einer Vielfalt von Perspektiven (Iser) vor dem Hintergrund der vorher aufgestellten Definition einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren. Dabei wird deutlich: „Vielstimmigkeit“ im Sinne Derridas unterscheidet sich sowohl von der Polyphonie als auch von der Konstitution von Sinn durch eine Aussparung aus einer Vielfalt von Perspektiven. Bachtins Gedanke der „Polyphonie“ beschreibt die Konturierung eines Gedankens durch mehrere eigenständige Stimmen; Isers Gedanke sieht vor, dass die Konstitution von Bedeutung in hohem Maße determiniert ist. Sowohl bei Bachtin also auch bei Iser sind Negativität und Vielstimmigkeit nicht in der radikalen Weise konstitutiv für die Entstehung von Bedeutung, wie es die vorgeschlagene Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren erfordert.62 Dieser Erkenntnis trägt die Unterscheidung von Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit Rechnung, die im Folgenden vorauszusetzen ist: Der Akzent der Betrachtung der einzelnen Werke als mehrstimmiger Reden liegt darauf, dass die einzelnen Schriften eine in sich überschaubare oppositionelle Struktur aufweisen. Mehrstimmigkeit kann im Dienst der Beleuchtung einer Idee stehen, die durch mehrere Stimmen konturiert wird; sie entspricht dem Bachtinschen Begriff der „Polyphonie“. Die Betrachtung des kontroversen Aufeinandertreffens der Pseudonyme als vielstimmiger Rede legt den Akzent hingegen darauf, dass hier die „Stimmen“ einander wechselseitig aufreiben und kraft dieses Konflikts eine negative Beleuchtung freisetzen. Dieses Aufreiben lässt nicht einmal mehr den Anschein der Überschaubarkeit der Konstitution von Bedeutung zurück.63 Sinn entsteht kraft einer Negativität, die gegenüber der sinnkonstitutiven Negativität in Isers Gedanken nochmals radikalisiert ist. Dieser Begriff der „Vielstimmig62 63
S. o. Abschn. B.3. „Vielstimmigkeit“ im definierten Sinn könnte mit „Heterophonie“ verglichen werden: „Heterophonie“, so Malm, bezeichnet eine vielteilige Musik, in der rhythmisch verschiedene Teile Variationen zu derselben Melodie darstellen (Malm „On the Meaning and Invention of the Term ‘Disphony’“, 248, vgl. Schumacher Art. „Heterophonie“, 277f.). Allerdings ist „Vielstimmigkeit“ dann von „Heterophonie“ zu unterscheiden, wenn „Heterophonie“ als überwiegend zufällige Kombination von Stimmen verstanden wird (vgl. Krützfeldt Art. „Kontrapunkt“, 596). Vgl. zur Differenzierung der Begriffe „vielstimmig“, „mehrstimmig“ und „polyphon“ Frobenius Art. „Vollstimmig, vielstimmig, mehrstimmig“.
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keit“ ist näher zu bestimmen als eine Kreuzung aus Bachtins Begriff der „Polyphonie“ auf der einen und Caputos und Derridas Gedanken bzw. Praxis der „Vielstimmigkeit“ auf der anderen Seite. Die Interpretation von Kierkegaards Werk ist entsprechend dieser Unterscheidung in zwei Abschnitte gegliedert64: Zunächst werden Kierkegaards Schriften hinsichtlich der in ihr waltenden Mehrstimmigkeit interpretiert65, sodann ist zu zeigen, inwieweit diese Mehrstimmigkeit sich in eine Vielstimmigkeit neigt.66 Zuvor jedoch ist zu zeigen, dass Kierkegaard selbst sich der erörterten Mittel literarischer Gestaltung, d. h. der im Dienst literarischer Ästhetik stehenden Negativität und der Mehr- bzw. Vielstimmigkeit, bewusst gewesen ist. C.1.2 „Negativität“. Phänomene der Negativität im Spiegel von Kierkegaards Betrachtungen zur literarischen Ästhetik C.1.2.1 Konstitution von Bedeutung durch das Scheitern von Bedeutung Dass Kierkegaard ein außerordentliches Gespür für und Interesse an einer solchen Strategie hat, wird an seiner Kritik der Darstellung des Sokrates durch Xenophon deutlich67: In Bezug auf Xenophons Sokratesdarstellung heißt es bei Kierkegaard, es hätte vermittels einer „Duplizität“ dargestellt werden müssen, dass Sokrates „überall und nirgends“ im athenischen Leben war und zugleich darüber schwebte. Daß man vermittels der Darstellung Xenophons eine klare Vorstellung von der Persönlichkeit empfange, wird nun noch schwieriger gemacht durch den völligen Mangel an Situation. Der Boden, auf welchem die einzelne Unterredung sich bewegt, ist ebenso oberflächlich und wenig sichtbar wie eine gerade Linie, ist mit seiner Eintönigkeit dem einfarbigen Grunde gleich, welchen Kinder und Nürnberger im Allgemeinen für ihre Malereien anlegen. Und doch wäre dieser Boden von großer Wichtigkeit im Hinblick auf die Persönlichkeit des Sokrates; diese muß sich gerade haben erahnen lassen, sofern sie in der bunten Mannigfaltigkeit des üppigen athenischen Lebens geheimnisvoll gegenwärtig war und doch mystisch über ihr schwebte, muß sich gerade erklären lassen vermittels einer Duplizität des Daseins, die ungefähr der des fliegenden Fischs in ihrem 64 65 66 67
Vgl. auch Abbildung 3. S. u. Abschn. C.2. S. u. Abschn. C.3. Vgl. zu Kierkegaards Kritik an Xenophons Sokratesdarstellung Bøggild „Breaking the Seals of Slumber. An Inquiry into a Couple of Examples in Kierkegaard and Paul de Man“, 255f.; King Existenz – Denken – Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Søren Kierkegaards, 77; Strawser Both/And. Reading Kierkegaard – From Irony to Edification, 42ff.
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Verhältnis zu Fischen und Vögeln gleicht. Und dies Hervorheben der Situation wäre gerade wichtig, um zu zeigen, daß das für Sokrates Entscheidende nicht ein fester Punkt, sondern ein „Überall und nirgends“ (ubique et nusquam) gewesen ist; um die Sensibilität des Sokrates hervorzuheben, welche bei der feinsten und schwächsten Berührung sofort die Gegenwart der Idee spürte, sofort die in allem vorhandene correspondierende Elektrizität empfand; um die echte sokratische Methode zu veranschaulichen, welche keine Erscheinung zu unbedeutend fand, um nicht von ihr aus sich hochzuarbeiten in die eigentliche Sphäre des Denkens. (BI 14f. / SKS 1,78)
Diese „Duplizität“68 des Sokrates schlägt sich darin nieder, dass Sokrates das Alltägliche für die Idee durchsichtig werden lässt (vgl. BI 16 / SKS 1,80). Duplizität meint also die Negation einer unmittelbaren Bedeutung und die Eröffnung einer der Unmittelbarkeit verstellten Perspektive. Diese negativ-ästhetische Betrachtung führt Kierkegaard fort, indem er sich auf einen Kupferstich69 von Napoleon bezieht, dessen ästhetische Anmutung die eines Vexierbildes ist. Man gestatte mir, das was ich meine in einem Bild zu veranschaulichen. Es gibt einen Kupferstich, welcher Napoleons Grab darstellt. Zwei hohe Bäume überschatten es. Mehr ist auf dem Stich nicht zu sehen, und der unmittelbare Beobachter sieht sonst nichts. Zwischen den beiden Bäumen ist ein leerer Raum; indem das Auge den diesen Raum umreißenden Konturen folgt, tritt aus dem Nichts plötzlich Napoleon selbst hervor, und nun ist es unmöglich, ihn wieder verschwinden zu lassen. Das Auge, das ihn einmal gesehen, sieht ihn nun mit einer fast beängstigenden Unentrinnlichkeit jederzeit. Ebenso auch mit den Erwiderungen des Sokrates. Man hört seine Reden, ebenso wie man die Bäume sieht, seine Worte bedeuten das, was ihr Laut besagt, ebenso wie die Bäume Bäume sind, auch nicht eine einzige Silbe gibt die Andeutung einer anderen Auslegung, ebenso wie nicht ein einziger Strich Napoleon andeutete, und gleichwohl ist in diesem leeren Raum, diesem Nichts, das Wichtigste verborgen. (BI 17 / SKS 1,80f. [Hervorhebung J. S.])
Kierkegaard kritisiert also an der Sokratesdarstellung des Xenophon, dass der Duplizität des Darzustellenden keine Duplizität in der Darstellung entspräche, und illustriert daraufhin seine Forderung mit Rekurs auf ein Vexierbild von Napoleon, in dem Napoleon aus dem Nichts 68 69
Zum Begriff „Duplizität“ s. u. Anm. 78. S. u. Abbildung 1. – Auch in Bezug auf einen später erwähnten Kupferstich, der die Himmelfahrt der Madonna darstellt, ist von einer negativen Erhellung die Rede: „Man hat einen Kupferstich, welcher die Himmelfahrt der Madonna darstellt. Um den Himmel so hoch als nur möglich erscheinen zu lassen, ist unten im Bilde ein dunkler Strich angebracht, über den hin ein paar Engel zu ihr aufblicken. Ebenso will ich meinerseits, indem ich Asts Worte als Haupttext abdrucken lasse, seine Worte so hoch wie nur möglich erheben […].“ (BI 93 / SKS 1,146) An dieser Stelle dient der Rekurs der Erläuterung von Kierkegaards eigener literarischer Strategie (BI 93f. / SKS 1,146f.) und des Gegenstands, im Dienste von dessen Erhellung diese literarische Strategie steht: Gegenstand von Kierkegaards Überlegungen ist die Platoninterpretation von Ast, in der es heißt: „[…] Sokrates setzt sich nur herab, um sich indirect desto mehr zu erheben.“ (BI 94 / SKS 1,147 [im Original auf Deutsch])
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sprunghaft sichtbar wird. Die von Kierkegaard eingeklagte ästhetische Strategie ist also so beschaffen, dass die unmittelbare Wahrnehmung durchbrochen wird, indem ex negativo ein zweiter, der unmittelbaren Wahrnehmung unkenntlicher Sinn zum Vorschein kommt.70 Kierkegaards Gedanke der Entstehung von Bedeutung ex negativo soll noch an einem dritten Beispiel verdeutlicht werden: In seiner Besinnung auf das Sokratesbild in Platons Dialog Protagoras beruft sich Kierkegaard auf Schleiermachers Unterscheidung zwischen den (frühen) platonischen Dialogen, in denen das Dialogische ein wesentliches Moment ist, und den (späten) konstruktiven Dialogen, welche eine wissenschaftliche Darstellung leisten (BI 53f. / SKS 1,113).71 Der Dialog Protagoras zählt zu den erstgenannten Dialogen und endet wie diese ohne Ergebnis, oder genauer: Die genannten Dialoge und mit ihnen der Protagoras enden „in einem negativen Ergebnis“72 (BI 55 / SKS 1,115) – eine Beobachtung, die für Kierkegaards Mitteilungstheorie von elementarer Bedeutung ist.73 Dies zeigt Kierkegaard an der Rede von der Einheit der Tugend74, die nur im Nachhall der scheiternden Stimmen des Dialogs aufscheint. […] Dahingegen ist die Einheit der Tugend* nach der Auffassung des Sokrates gleichsam ein Tyrann, welcher nicht den Mut hat, über die wirkliche Welt zu herrschen, sondern erst einmal alle seine Untertanen mordet, um nunmehr mit vollkommener Sicherheit stolz über der bleichen Schatten stummes Reich herrschen zu können […]. Ich aber muß hier vor allem darauf aufmerksam machen, daß diese Einheit der Tugend derart abstrakt, derart egoistisch in sich selbst verschlossen ausfällt, daß sie lediglich die Klippe wird, an wel70
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Vgl. die Interpretation dieser Passage bei Bøggild „Breaking the Seals of Slumber. An Inquiry into a Couple of Examples in Kierkegaard and Paul de Man“, 255f. Bøggild entfaltet – v. a. in Auseinandersetzung mit Kierkegaards Schriften „Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ und „Der Begriff Angst“ – den Gedanken einer Mitteilung, die aus dem Nichts hervortritt, und nicht von den zuvor gültigen Bedingungen abhängig ist (a. a. O., 258ff.). Kierkegaard beruft sich auf Schleiermachers Vorrede zu den Übersetzungen Platons (vgl. Schleiermacher „Die Einleitungen zur Übersetzung des Platon (1804-1828)“, 65ff.; vgl. SKS 1K,202). Dies, so Kierkegaard, gilt auch für das erste Buch von Platons „Politeia“ (vgl. BI 120 / SKS 1,170). Die mitteilungstheoretische Bedeutung der „Ergebnislosigkeit“ der Dialoge wird an folgendem Tagebucheintrag deutlich: „Daß mehrere der Dialoge Platons ohne Ergebnis enden, hat einen viel tieferen Grund, als ich früher gedacht habe. Es ist nämlich eine Wiedergabe der Geburtshelferkunst des Sokrates, welche den Leser oder Zuhörer selbsttätig macht und deshalb nicht im Ergebnis endet, sondern mit einem Stachel. Das ist eine vortreffliche Parodie auf die moderne leiernde Methode, die alles je eher desto lieber und auf einmal ausspricht, was keine Selbsttätigkeit weckt, sondern den Leser nur veranlaßt nachzuleiern.“ (T II 39 / SKS 18,299f. [JJ:482]) Kierkegaard bezieht sich auf die beiden Diskussionen über die Einheit der Tugend im „Protagoras“ (Prot. 328d-334c.348c-360e).
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cher die einzelnen Tugenden als wohlbeladene Segelschiffe stranden und zu Bruche gehen.75 Die Tugend durchläuft als ein sanftes Raunen [sagte Hvidsken], als ein Schauer ihre eignen Bestimmungen, ohne daß sie in einer von ihnen vernehmlich, geschweige denn ein bestimmter Laut würde; es ist etwa, wie wenn ich mir vorstelle, jeder Soldat vergäße die Parole in dem gleichen Augenblick, da er sie seinem Nebenmann zuflüsterte, und mir dabei eine unendliche Reihe von Soldaten vorstelle: die Parole wäre alsdann eigentlich gar nicht da, und ebenso ungefähr verhält es sich mit dieser Einheit der Tugend. Die Bestimmung der Tugend als der einen, in dem Sinne wie Sokrates sie behauptet, ist erstens offenbar überhaupt keine Bestimmung, da es das mit dem schwächsten überhaupt möglichen Atem geschehende Aussprechen des Vorhandenseins der Tugend ist (bei diesem Anlaß brauchte ich zur weiteren Erläuterung bloß an die in Schleiermachers Dogmatik sich findende scharfsinnige Beurteilung des Sinns der Aussage, daß Gott Einer ist, zu erinnern)76; ferner aber ist die Bestimmung eine negative, da die aufgestellte Einheit so ungesellig wie nur möglich ist. (BI 59f. / SKS 1,118f. [Übersetzung geändert])77
In einer Anmerkung zu dieser Stelle erläutert Kierkegaard: *Da bekanntlich opposita juxta se posita magis illucescunt, möchte ich ein positives Verständnis der Einheit der Tugend anführen, welches wohl für platonisch gelten muß […]. Man sehe Politeia § 445 c: ‚Nämlich wie von einer Warte herab, sprach ich, zeigt sich mir nun, nachdem wir bis hierher in unsere Rede gestiegen sind, daß es nur eine Gestalt der Tugend gibt, unzählige aber der Schlechtigkeit‘ […] hier ist die positive Einheit der Tugend offenbar des seligen Lebens reiche Fülle, und der Gegensatz dazu ist die unselige zerreißende, mannigfaltige Zersplitterung der Schlechtigkeit, ihr vielzüngiger Selbstwiderspruch.“ (BI 59 / SKS 1,118f. [Übersetzung geändert78])
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Das Motiv des Schiffbruchs begegnet auch in der Neunten der fünfzehn Disputationsthesen: „Socrates omnes æquales ex substantialitate tanquam [sic!] ex naufrigio nudos expulit, realitatem subvertit, idealitatem eminus prospexit, attigit non occupavit.“ (SKS 1,65 / BI 3f.) Die Bedeutung dieser These wird z. B. in der Schlusspassage aus Kierkegaards Erörterung von Platons Phaidon deutlich: „Das für die Ironie Charakteristische aber ist gerade der abstrakte Maßstab, mit welchem sie alles nivelliert […].“ (BI 82 / SKS 1,137) Kierkegaard bezieht sich auf folgende Passage aus Schleiermachers Glaubenslehre: „Was nun zuerst die Einheit Gottes betrifft, so kann es streng genommen nie die Eigenschaft eines Dinges sein, daß es nur in bestimmter Zahl vorhanden ist. […] Daher müssen wir uns, wenn hiebei eine göttliche Eigenschaft gemeint sein soll, von der bloßen Zahl abwenden, und dann ist es am nächsten bei dem allgemeineren Ausdrukk stehen zu bleiben, daß Gott nicht seinesgleichen habe, was freilich unsere Sprache unterscheidender durch Einzigkeit ausdrükken kann.“ (Schleiermacher Der Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, 351; vgl. SKS 1K,206) Vgl. Prot. 328d. Auf die genannte Regel kommt Kierkegaard auch in einer Tagebuchnotiz zu sprechen. Kierkegaard fragt sich hier, ob diese Regel lediglich ästhetische Gültigkeithabe, oder ob mit ihr die Duplizität des Lebens zur Sprache käme: „Inwieweit hat das alte Wort: ‚opposita juxta se posita magis illucescunt‘ spekulative Gültigkeit im Verhältnis zum ganzen Anfang des Menschenlebens, inwieweit ist es nur eine ästhetisch-pragmatische Regel. Hat es spekulative Gültigkeit, dann ist die Duplizität des Lebens aufgestellt.“ (SKS 18,148 [eigene Übersetzung]) Die Regel wird in einem Fremdwörterbuch, das Kierkegaard besaß,
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
An dieser Stelle ist auf zwei Ebenen von einer negativen literarischen Ästhetik die Rede: Auf der einen Seite legt Kierkegaard dar, er gebe an dieser Stelle ein positives Gegenbeispiel an, weil Gegensätze, wenn sie einander gegenübergestellt werden, einander wechselseitig erhellen. Insoweit erörtert er also seine eigene literarische Strategie. Sodann ist der Gegenstand, der kraft dieser Strategie deutlicher hervortreten soll, selbst ein Verfahren einer literarischen Erhellung durch einen Kontrast. Kierkegaard beschreibt die literarische Strategie Platons im Protagoras als eine Art von negativer Erhellung. Die Einheit der Tugend wird nicht positiv formuliert, sondern kommt auf dem Rücken des Scheiterns der Versuche, sie zu benennen, im „Raunen“ bzw. im „Widerhall“ oder im „Nachhall“ zur Sprache. Zur Disposition steht also eine literarische Strategie, die das zu Sagende nur durch das Scheitern des Sagens zur Sprache bringt. Die Analyse der drei pseudonymen Schriften von 1843 wird ergeben, dass diese Schriften ein Wechselspiel bilden, das entsprechend einer solchen Strategie inszeniert ist. Ein Anklang an die Metapher von einer Klippe, an der alle positiven Versuche der Benennung in bedeutsamer Weise stranden, begegnet auch an späterer Stelle. So heißt in Bezug auf die Apologie des Sokrates, man finde in Sokrates’ Vortrag kein Pathos und keine Vollmacht seiner Persönlichkeit, „wohl aber eine bis zum Äußersten durchgeführte Ironie, welche des Staates objektive Macht sich brechen läßt an der starren Klippe ironischer Negativität.“ (BI 203 / SKS 1,243) Von dieser Negativität der sokratischen Ironie heißt es nun, sie führe lediglich an die Grenze der Idee des Guten. Was ihn [Sokrates] jedoch trägt, ist die Negativität, die noch keine Positivität hervorgebracht hat. […] Wir haben jedoch in Sokrates die wirkliche, nicht die scheinbare Polhöhe der Ironie, weil Sokrates vorerst nur bis zur Idee des Guten, des Schönen, des Wahren als Grenze hingekommen ist, d. h. hingekommen ist zur idealen Unendlichkeit als Möglichkeit. (BI 203 / SKS 1,243) übertragen, jedoch nicht weiter erläutert (vgl. Meyer Kortfattet Lexikon over fremmede, i det danske Skrift- og Omgangs-Sprog forekommende Ord, Konstudtryk og Talemaader, tilligemed de i danske Skrifter mest brugelige, fremmede Ordforkortelser, 336; vgl. SKS 18K,233). Die Regel ‚opposita juxta se posita magis illucescunt‘ scheint für Kierkegaard also entweder rein ästhetische Bedeutung zu haben, d. h. gemäß Kierkegaards Verständnis von „Ästhetik“ lediglich für die Art und Weise einer (sinnlichen) Darstellung von Belang zu sein, oder von spekulativer, d. h. die Welt als ganze betreffender, „ontologischer“ Bedeutung zu sein. Kierkegaard trifft in dieser Notiz keine Entscheidung hinsichtlich dieser Alternative, immerhin äußert er den Verdacht, wenn Letzteres der Fall wäre, sei damit die „Duplizität des Lebens“ statuiert. Auch wenn also der Status dieser Regel für Kierkegaard offen bleibt, wird doch deutlich, dass Strategien negativer Ästhetik Kierkegaard nicht nur vertraut sind, sondern ihm sogar so bedeutsam erscheinen, dass er die Möglichkeit erwägt, die entsprechende Regel könne eine ontologische Bedeutung haben.
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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Sokrates berührt die Idee, jedoch tut sie sich nicht vor ihm auf, sondern ist die Grenze, vor der Sokrates steht (BI 131 / SKS 1,179). Ein Begriff der „Grenze“, der ebenfalls so konnotiert ist, dass das Jenseits der Grenze unbekannt bleibt und nur durch die Negation dessen, was diesseits der Grenze ist, angedeutet werden kann, begegnet auch in der Selbstbeschreibung des Ästhetikers im ersten Teil von „Entweder/Oder“. Der Ästhetiker räumt in seiner Betrachtung von Mozarts Don Juan ein, von der Musik (selbst) wisse er eigentlich nichts zu sagen. Er vermag, so führt er aus, als ein gegenüber der Musik Außenstehender nur in einer negativen, indirekten Weise von Musik zu sprechen. So spricht er von der Musik wie von einem Land, das ihm selbst unzugänglich ist, dessen Grenzen er jedoch von dem ihm bekannten Land aus zu beschreiben vermag, in der Hoffnung darauf, im Blick auf das unbekannte Land ‚eine Offenbarung zu empfangen‘. Ich stehe außerhalb der Musik, und von diesem Standpunkt aus betrachte ich sie. Daß dieser Standpunkt sehr unvollkommen ist, gebe ich gerne zu, daß ich im Vergleich zu den Glücklichen, die innerhalb stehen, nur sehr wenig zu sehen bekomme, leugne ich nicht; gebe aber die Hoffnung nicht auf, daß ich auch von meinem Standpunkt aus gelegentlich eine Auskunft erteilen kann, wenngleich die Eingeweihten sie viel besser zu geben vermögen, ja bis zu einem gewissen Grade sogar viel besser verstehen, was ich sage, als ich selbst. Wenn ich mir zwei aneinandergrenzende Reiche dächte, von denen ich mit dem einen ziemlich genau bekannt und mit dem anderen gänzlich unbekannt wäre, und es würde mir nicht gestattet, jenes unbekannte Reich zu betreten, wie sehr ich es auch wünschte, so wäre ich dennoch imstande, mir eine Vorstellung davon zu machen. Ich würde bis an die Grenze des mir bekannten Reiches hinauswandern, ihr beständig folgen, und würde, indem ich dies täte, mit dieser Bewegung den Umriß jenes unbekannten Landes beschreiben und auf diese Weise eine allgemeine Vorstellung von ihm haben, obgleich ich nie meinen Fuß hineingesetzt hätte. Und wenn dies nun eine Arbeit wäre, die mich sehr beschäftigte, wenn ich unermüdlich wäre in meiner Genauigkeit, so würde es zuweilen auch geschehen, daß mir, indem ich wehmütig an meines Reiches Grenze stünde und sehnsuchtsvoll in jenes unbekannte Land hinüberschaute, das mir so nah und doch so fern wäre, mitunter eine kleine Offenbarung zuteil würde. […] Das mir bekannte Reich, zu dessen äußerster Grenze ich gehen will, um die Musik zu entdecken, ist die Sprache. (EO 79ff. / SKS 2,72f. [Hervorhebungen J. S.])
Das Territorium der Musik kann der Ästhetiker, so führt er später diesen Gedanken weiter, nur „umstellen“, in der Erwartung, dass die Musik „hervorbricht“ – offenkundig wäre ebendies das Ereignis, das der Ästhetiker als „Offenbarung“ bezeichnen würde. Das angestrebte ästhetische Offenbarungsereignis bleibt jedoch auf Grund der unüberwindlichen Grenze zwischen Zeichen und Bezeichnetem, hier: zwischen „Sprache“ und „Musik“ unverfügbar. Die Rede von der Musik hat nicht mehr als „Streckbriefe“ bzw. „Signalelemente“ zur Verfügung, die die Suche initiieren, ohne für das Finden bürgen zu können.
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Im einzelnen etwas über die Musik zu sagen, ist nicht meine Absicht […]. Was ich dagegen will, ist teils dies: die Idee und ihr Verhältnis zur Sprache von so vielen Seiten wie möglich zu beleuchten [at belyse79] und damit immer mehr und mehr das Territorium, in dem die Musik heimisch ist, zu umstellen, sie gleichsam zu ängstigen, bis sie hervorbricht, ohne daß ich doch mehr über sie sagen kann, wenn sie sich hören läßt, als: Hört! Ich meine damit das Höchste gewollt zu haben, was die Ästhetik zu tun imstande ist; ob es mir gelingen wird, ist eine andere Sache. Nur vereinzelt wird ein Prädikat gleich einem Steckbrief das Signalelement der Musik angeben, ohne daß ich deshalb vergessen oder dem Leser zu vergessen erlauben werde, daß derjenige, der einen Steckbrief in der Hand hält, darum noch keineswegs den, auf den dieser lautet, ergriffen hat. (EO 104 / SKS 2,90f.)
In „Furcht und Zittern“ begegnet dieser Gedanke erneut: Auch Johannes de Silentio beschreibt seine Rede als eine Andeutung der Grenze eines unbekannten Landes. So wie der Ästhetiker Sprache als unzulängliches Mittel für den Ausdruck der Musik bezeichnet, welches aber gleichwohl negativ die Grenze markiert, jenseits deren die Musik beginnt, so bezeichnet Johannes de Silentio die vom Ritter der Unendlichkeit und vom tragischen Helden verkörperten „Stadien“ als eine Analogie zu Abraham, die die Grenze eines unbekannten Landes lediglich anzudeuten vermag. Die Analogie zwischen Abraham und dem tragischen Helden wird nicht durch ein positives Drittes stabilisiert, da die Analogizität gerade in einem Negationsverhältnis besteht80: Die Darstellung des tragischen Helden deutet nur die Grenze eines unbekannten Landes (d. h. des unsagbaren Glaubens Abrahams) an. Aber nun Abraham, wie handelt er? Denn ich habe nicht vergessen, und dem Leser wird es vielleicht gefallen, sich zu erinnern, daß ich mich in die ganze vorhergehende Untersuchung einließ, um hier einzuhaken, nicht als ob Abraham dadurch verständlicher würde, sondern damit die Unverständlichkeit desultorischer würde, denn, wie gesagt, Abraham kann ich nicht verstehen, ich kann ihn nur bewundern. Es wurde auch bemerkt, daß keines von den beschriebenen Stadien eine Analogie zu Abraham enthielt; sie wurden nur entwickelt, damit sie, während sie innerhalb ihrer eigenen Sphäre gezeigt wurden, im Augenblick der Desorientierung gleichsam die Grenze des unbekannten Landes andeuten könnten. Insoweit hier von einer Analogie die Rede sein soll, müßte es das Paradox der Sünde sein, aber dieses liegt wiederum in einer anderen Sphäre und kann nicht Abraham erklären und ist selbst viel leichter zu erklären als Abraham. (FZ 105 / SKS 4,200 [Hervorhebung J. S.])81
Üben nun der Ritter der Unendlichkeit und der tragische Held innerhalb der Schrift „Furcht und Zittern“ eine negative Mitteilungsfunk79
80
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Vgl. Pap. X6 B 79 / T V 385f., wo Kierkegaard von einem Ereignis negativen Beleuchtens („belyser“) spricht (s. u. S. 129). Vgl. Carlsons Begriff der „apophatischen Analogie“ (s. o. Abschn. B.2.3, v. a. B.2.3.1). Auf diese Passage ist im Rahmen der Interpretation von „Furcht und Zittern“ erneut einzugehen (s. u. Abschn. C.2.3.0).
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tion aus, indem sie als negative Analogie zum Ritter des Glaubens fungieren, so gilt Entsprechendes vom Autor der Schrift, Johannes de Silentio: Dieser, so bemerkt Kierkegaard in einem Tagebucheintrag, ‚beleuchtet den Glauben negativ‘, indem er seinen eigenen Unglauben in ein Kontrastverhältnis zur Darstellung des Glaubens Abrahams stellt. Gern übernehme ich es, in kurzer Wiederholung einzuschärfen, was andere Pseudonyme eingeschärft haben. Das Absurde ist nicht so ohne Unterschied das Absurde oder Absurditäten. (Deshalb auch Johannes de Silentio: „Wie viele haben in unserer Zeit auch nur eine Vorstellung davon, was das Absurde ist“). Das Absurde ist Begriffsform, und zur genauen und begriffsrichtigen Bestimmung des christlich Absurden wird das entwickeltste Denken gehören. Das Absurde ist das negative Kennzeichen des Göttlichen oder des Gottesverhältnisses. Indem der Glaubende glaubt, ist das Absurde nicht das Absurde – der Glaube verwandelt es; aber in jedem schwachen Augenblick ist es ihm wieder mehr oder weniger das Absurde. Die Leidenschaft des Glaubens ist die einzige, die des Absurden Herr wird – wenn nicht, so ist der Glaube nicht im strengsten Sinne Glaube, sondern eine Art Wissen. Das Absurde schließt die Sphäre des Glaubens negativ ab, sie ist eine Sphäre für sich. Für einen Dritten hat der Glaube sein Verhalten in Kraft des Absurden, so muß der Dritte urteilen; denn der Dritte ist ja nicht in der Leidenschaft des Glaubens. Nun hat Johannes de Silentio sich niemals für einen Glaubenden ausgegeben, hat, gerade umgekehrt, erklärt, er sein kein Glaubender – auf daß er den Glauben negativ beleuchte. (Pap. X6 B 79 / T V 385f. [Hervorhebung J. S.])82
C.1.2.2 Zusammenfassung: Die Entstehung des Zweitsinns durch das Scheitern des Erstsinns Die betrachteten Strategien negativer Ästhetik haben darin eine Gemeinsamkeit, dass durch die Negation eines Erstsinns ein Zweitsinn in Erscheinung tritt. Die Struktur dieser Negativität unterscheidet sich darin von der Negation als einer formallogischen Operation, dass die Negationen nicht parasitär auf vorausgesetzte Aussagen bezogen sind83, sondern das zu Sagende zuallererst aus sich entlassen: Platon müsste so dar82
83
Vgl. Hartshorne Kierkegaard: Godly Deceiver. The Nature and Meaning of his Pseudonymous Writings, 10. Vgl. Dalferth Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, 526 Anm. 2 (dort weitere Belege); ders. Religiöse Rede von Gott, 619ff. Schröer stellt in seiner Besinnung auf die logische Struktur der Denkform der Paradoxalität fest, der Begriff der „Ineffablen“ habe „Negationscharakter, aber keine eigentliche logische Struktur.“ Logik und theologische Logik hingegen setzen, so Schröer, Effables, Aussagen voraus (Schröer Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem. Eine Untersuchung zu Kierkegaard und der neueren Theologie als Beitrag zur theologischen Logik, 38). Den genannten Autoren ist darin zuzustimmen, dass formallogisch gesehen eine Negation auf eine Position bezogen ist. Allerdings soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, eine ästhetische Operation der Negativität zu beschreiben, die nur bedingt an die Regeln formallogischer Rede gebunden ist.
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gestellt werden, dass er gleichsam aus dem Nichts in Erscheinung tritt84; die Benennung der Einheit der Tugend konstituiert sich nur durch das Scheitern der Versuche ihrer direkten Bestimmung85; das unbekannte Land kommt nur als das Negativ des Bekannten zum Vorschein86, zu dem es sich gerade in keine formallogische Beziehung stellen lässt; Johannes de Silentio erhellt negativ durch seinen Unglauben den Glauben.87 Es kann also festgehalten werden, dass der Gedanke einer Erhellung ex negativo als einer Erhellung von etwas, das jenseits einer unüberschreitbaren Grenze liegt, bei Kierkegaard vielfach begegnet. Dies stützt die Vermutung, dass das frühe pseudonyme Werk Kierkegaards insgesamt als negative Beleuchtung des Glaubens interpretiert werden könnte. Bevor dies jedoch unternommen wird, ist – nach einem Exkurs zum Verhältnis Kierkegaards zu „der“ negativen Theologie – die literarische Strategie der Mehr- bzw. der Vielstimmigkeit im Spiegel von Kierkegaards Äußerungen zur literarischen Ästhetik zu betrachten. Exkurs 2: Kierkegaard und die negative Theologie nebst einigen Bemerkungen zu Kierkegaards Verhältnis zur Romantik Stellte sich die Negativität als eine von Kierkegaard stark beachtete Möglichkeit literarischer Strategie dar, dann muss, so scheint es, die Frage erörtert werden, wie Kierkegaard sich zur negativen Theologie verhält.88 Diese Frage wird nun aber lediglich im Rahmen eines Exkurses behandelt, da sie den hier zu entwickelnden Gedanken kaum weiterführt. Denn zunächst ist Kierkegaards Interesse an der Tradition der negativen Theologie, genauer: an Denkern, die traditionell als Vertreter einer „negativen Theologie“ angesehen werden, nicht sehr groß. Kierkegaard kann also kaum in die Tradition der negativen Theologie gestellt werden.89 Weiterhin scheint es mir ebenfalls problematisch zu sein, auf der Ebene von Kierkegaards propositionaler Rede negativ-
84 85 86 87 88
89
S. o. S. 123. S. o. S. 124ff. S. o. S. 127ff. S. o. S. 129. Vgl. Law Kierkegaard as Negative Theologian; auch Mackey spricht von Kierkegaards ‚negativer Theologie‘ (vgl. Mackey Kierkegaard. A Kind of Poet, 258). Law legt dar, dass Kierkegaard mit der mittelalterliche Theologie gut vertraut war und wohl auch an den Mystikern des Mittelalters großes Interesse hatte (Law Kierkegaard as Negative Theologian, 31), darüber hinaus scheint Kierkegaard sich jedoch mit der Tradition der negativen Theologie wenig beschäftigt zu haben (vgl. a. a. O., 24ff.).
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theologische Topoi zu identifizieren90, da mir keine konsensfähige Definition von „negativer Theologie“ bekannt ist. Die vorliegende Interpretation wird vorschlagen, Kierkegaards Werk als Realisierung einer – im weiteren Sinne negativ-theologischen – Bedeutungstheorie von der Art zu lesen, wie sie oben entwickelt wurde, und nicht als Fortschreibung der Tradition der „negativen Theologie“ im engeren Sinne. Der Zusammenhang zwischen der vorgeschlagenen Theorie der Sprache des Glaubens, „der“ negativen Theologie und dem Denken Søren Kierkegaards in seinem zeitgeschichtlichen Kontext sei daher nur mit einer Bemerkung angedeutet: Die Romantiker Friedrich Schlegel und Novalis teilen, so Hühn, mit der ganzen Tradition der von Parmenides ausgehenden negativen Theologie die Auffassung, „dem Absoluten nicht anders als im Modus der Verfehlung begegnen zu können.“91 Entsprechend ist das Scheitern der Reflexion notwendig, um die Wirklichkeit des Unbedingten überhaupt ausweisen zu können.92 Die Konsequenz dieser sowohl in der negativen Theologie als auch in der Romantik93 anzutreffenden Auffassung besteht (hier wie dort) darin, dass eine von Widersprüchen gekennzeichnete Ausdrucksweise be90
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Law sieht u. a. im Gedanken der Inadäquatheit der Sprache und des Denkens (a. a. O., 23) ein entscheidendes Merkmal negativer bzw. apophatischer Theologie und argumentiert, Kierkegaard sei apophatischer („more apophatic“) als die negativen Theologen (a. a. O., 34.215.217 u. a.). Damit ist aber m. E. die Bewegungsrichtung negativer Theologie (s. o. Exkurs 1) zumindest verengt wiedergegeben. Hühn „Das Schweben der Einbildungskraft. Zur frühromantischen Überbietung Fichtes“, 580 (zum Gedanken des Entzugs des Erstrebten vgl. a. a. O., 571); Feger äußert die Auffassung, Kierkegaard sei ebenfalls von dieser Vorentscheidung geprägt (Feger „Die umgekehrte Täuschung. Kierkegaards Kritik der romantischen Ironie als Kritik immanenten Denkens“, 385). Zum romantischen Gedanken der Undarstellbarkeit des Absoluten vgl. auch Frank Einführung in frühromantische Ästhetik, 291. Zu Kierkegaards (ambivalentem) Verhältnis zu Romantik vgl. Behler „Kierkegaard’s The Concept of Irony with Constant Reference to Romanticism“; Bohrer Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, 62ff.; Holm „Antipathische Sympathie. Søren Kierkegaard und die Frühromantik“; Bohrer Ästhetische Negativität, v. a. 22; Feger „Kierkegaards Kritik der romantischen Ironie als Wegbereiter einer negativen Ästhetik“; Pulmer Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaard „Entweder/Oder“, v. a. 181; Strawser Both/And. Reading Kierkegaard – From Irony to Edification, 38. Vgl. Hühn „Das Schweben der Einbildungskraft. Zur frühromantischen Überbietung Fichtes“, 578. Dies gilt möglicherweise für die Frühromantik eher noch denn für die Spätromantik: Die Ideenwelt der Frühromantiker ist durch den Gedanken der Öffnung des Denkens für Widerspruch und Paradox geprägt, die Spätromantik hingegen ist eher durch restauratives Denken bestimmt (vgl. Schmitz-Emans Einführung in die Literatur der Romantik, 24).
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müht wird.94 Eine solche Ausdrucksweise wird wiederum bei Schlegel als dissonantes Ineinander streitender Stimmen bezeichnet: Das Lustige und das Ergreifende, das Geheime und das Lockende sind im Finale wunderbar verwebt, und die streitenden Stimmen tönen grell nebeneinander. Diese Harmonie von Dissonanzen ist schöner noch als die Musik, mit der das erste Buch endigte […].95
Romantische Ironie als Sprachhandlung ist dementsprechend ein Sagen, in dem das Gesagte selbst vernichtet wird, so dass auf das Unendliche verwiesen wird als auf das, was eigentlich gemeint war.96 Die Romantik kann also, insofern in ihr die genannte negativ-theologische Auffassung von der Entzogenheit des Absoluten begegnet, als ein Bindeglied zwischen Kierkegaard und der negativen Theologie angesehen werden. C.1.3 „Mehrstimmigkeit“ und „Vielstimmigkeit“: Phänomene der bedeutungsvollen Spaltung der Rede im Spiegel von Kierkegaards Betrachtungen zur literarischen Ästhetik Zu Beginn des vorliegenden Abschnitts wurde dargelegt, dass insbesondere zwei aus der Literaturtheorie stammende Gedanken in den Dienst der Kierkegaardinterpretation zu stellen sind: der Gedanke der Konstitution von Sinn durch wechselseitig exklusive Oppositionen bei 94
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So heißt es bei Schlegel: „[…] [W]er Sinn fürs Unendliche hat […], sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche.“ (Schlegel Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), 243; vgl. Frank Einführung in die frühromantische Ästhetik, 300) Schlegel a. a. O., 130. Erörtert wird in dieser im „Athenaeum“ erschienenen Rezension „Goethes Meister“, d. h. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Zuvor hatte Schlegel in dieser Rezension bemerkt, das Ende des besagten ersten Buches gleiche „einer geistigen Musik, wo die verschiedensten Stimmen […] rasch und heftig wechseln.“ (A. a. O., 128) An späterer Stelle in dieser Rezension heißt es über Gespräche von Virtuosen, die Wilhelm kennen lernt, diese seien „wahre Gespräche; vielstimmig und ineinandergreifend, nicht bloß einseitige Scheingespräche.“ (A. a. O., 139 [Hervorhebung J. S.]) Vgl. hierzu auch Menninghaus Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, 174ff. Menninghaus sieht in der Meister-Kritik das entwickeltste Paradigma der romantischen Poetologie von negativen Symmetrien, Wiederholungen bzw. Parallelismen (a. a. O., 174). In diesen negativen Strukturen manifestiert sich „[d]ie Theorie der zwei Zentra bzw. der konstitutiven Duplizität eines Werks“, d. h. eine „konstitutive Spaltung“ bzw. eine „ursprüngliche Verdoppelung“ (a. a. O., 172). Menninghaus’ Beitrag ist insofern für das hier zu Entwickelnde von generellem Interesse, als Menninghaus – neben anderen Forschern – die Romantik als eine Antizipation von Derridas Denken der différance wahrnimmt (ebd.; vgl. a. a. O., 115). Vgl. Frank Einführung in die frühromantische Ästhetik, 361.
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Wolfgang Iser und Michael Bachtins Gedanke der Polyphonie. Im Anschluss an die Erörterung dieser beiden Denker wurde eine Unterscheidung von „Mehrstimmigkeit“ und „Vielstimmigkeit“ getroffen.97 Mehr- und Vielstimmigkeit unterscheiden sich hinsichtlich der Funktion der Negativität in der Konstitution von Bedeutung. Im Folgenden soll erörtert werden, wie Kierkegaard sich zu einer ästhetischen Theorie der Mehr- bzw. Vielstimmigkeit geäußert hat, und inwieweit seine Äußerungen in den Dienst einer Interpretation der Struktur seiner Werke als Mehr- bzw. Vielstimmigkeit gestellt werden können. Dass Kierkegaard sich der Möglichkeit, Mehrstimmigkeit als Mittel literarischer Ästhetik zu verwenden, bewusst gewesen ist, zeigen v. a. die Betrachtungen des Ästhetikers – dem ersten Pseudonym, das in „Entweder/Oder“ das Wort führt – zu Don Giovanni.98 Der Ästhetiker erläutert, dass im Mittelalter eine Idee durch einen Repräsentanten dieser Idee und durch ein weiteres Individuum erhellt worden sei. Als Beispiele für eine solche „zweistimmige“ Darstellung nennt der Ästhetiker Don Juan und Leporello. Setzt das Mittelalter für sein eigenes Bewußtsein ein Individuum als Repräsentanten der Idee, so setzt es daneben gern ein anderes Individuum in Beziehung dazu; und zwar ist diese Beziehung im allgemeinen eine komische Beziehung, indem das eine Individuum gleichsam die dem wirklichen Leben gegenüber unverhältnismäßige Größe des anderen ausgleicht. So hat der König den Narren neben sich, Faust den Wagner, Don Quichotte den Sancho Pansa, Don Juan den Leporello. Auch diese Formation gehört wesentlich dem Mittelalter an. (EO 106f. / SKS 2,93)
Diese literarische Strategie der wechselseitigen Konturierung greift der Ästhetiker später auf, da er den „inneren musikalischen Bau der Oper“ erläutert. Die musikalische Situation der Oper – dies gilt allgemein und wird an Don Giovanni exemplifiziert – liegt im gleichzeitigen Bestehen einer Stimmenmehrheit („Stemmefleerhed“) und einer Einheit der Stimmung („Stemningens Eendhed“). Sollte ich mit einem Wort die Wirkung des Dramas bezeichnen […], so würde ich sagen: das Drama wirkt durch das Gleichzeitige. Im Drama sehe ich die unvermittelt nebenei97
98
S. o. S. 121ff. An dieser Stelle möchte ich in Erinnerung rufen, dass der Begriff der „Vielstimmigkeit“ in der vorliegenden Arbeit anders konnotiert wird als bei Bachtin (s. o. ebd.). Ein weiterer Beleg für Kierkegaards Wissen um die Möglichkeit der Vielstimmigkeit könnte in seiner Dissertation gesehen werden: Hier untersucht Kierkegaard drei Wahrnehmungen des Sokrates, i. e. die Platons, Xenophons und Aristophanes’, und entwickelt seine Auffassung zur Person Sokrates’ durch eine kontrastierende Zusammenschau aller drei Perspektiven aus einer Außenperspektive (BI 160 / SKS 1,205) – wenngleich die Sokratesdarstellung des Aristophanes als die am Ehesten zutreffende bezeichnet wird (vgl. bereits die siebte Disputationsthese [BI 3 / SKS 1,65]).
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nanderstehenden Momente in der Situation, in der Einheit der Handlung vereint. Je mehr nun die diskreten Momente ausgesondert sind, je tiefer die dramatische Situation durchreflektiert ist, um so weniger wird die dramatische Einheit eine Stimmung, umso mehr wird sie ein bestimmter Gedanke sein. […] Wie jede dramatische Situation hat auch die musikalische Situation das Gleichzeitige, das Wirken der Kräfte aber ist ein Zusammenklingen, ein Zusammenstimmen, ist Harmonie, und der Eindruck der musikalischen Situation ist jene Einheit, die zustande kommt, indem man zusammen hört, was zusammen erklingt. Je mehr das Drama durchreflektiert ist, um so mehr ist die Stimmung zur Handlung verklärt. Je weniger Handlung, um so mehr überwiegt das lyrische Moment. Das ist in der Oper ganz in Ordnung. Die Oper hat ihren immanenten Zweck nicht so sehr in Charakterschilderung und Handlung, dazu ist sie nicht reflektiert genug. Dagegen findet in der Oper die unreflektierte, substantielle Leidenschaft ihren Ausdruck. Die musikalische Situation liegt in der Einheit der Stimmung [Stemningens Eendhed] in der diskreten Stimmenmehrheit [Stemmefleerhed]. Das ist eben das Eigentümliche an der Musik, daß sie die Stimmenmehrheit in der Einheit der Stimmung bewahren kann. Wenn man so für gewöhnlich das Wort Stimmenmehrheit gebraucht, so bezeichnet man damit in der Regel eine Einheit, die das endgültige Resultat darstellt; in der Musik ist das nicht so der Fall. (EO 142f. / SKS 2,120f.)
Im Anschluss an diese Darlegungen zeigt der Ästhetiker, wie die Einheit der Stimmung in der Vielfalt der Stimmen von Mozarts Don Giovanni gewahrt wird: In allen anderen Personen hallt Don Juan wider. Don Juan ist der Held der Oper, auf ihn konzentriert sich das Hauptinteresse; doch nicht nur das, sondern er ist es, der auch allen anderen Personen Interesse verleiht. […] Seine Leidenschaft setzt die Leidenschaft der anderen in Bewegung, seine Leidenschaft hallt allenthalben wider und trägt den Ernst des Komturs, den Zorn Elvirens, Annas Haß, Ottavios Wichtigtuerei, Zerlinens Angst, Mazettos Erbitterung, Leporellos Verwirrung. Als Held der Oper ist Don Juan der Nenner des Stücks […]. Jede andere Existenz ist im Verhältnis zu der seinen nur eine derivierte. Verlangt man von einer Oper, daß ihre Einheit ein Grundton sei, so wird man leicht einsehen, daß eine vollkommenere Aufgabe für eine Oper sich nicht denken läßt als Don Juan. (EO 144 / SKS 2,121).99
Auf den Begriff der „Stimmenmehrheit“ ist näher einzugehen. Der Ästhetiker selbst deutet an, dass er das Wort in einem anderen Sinn gebraucht, als es üblich ist, denn er bezeichnet damit nicht das endgültige Resultat, das etwa eine politische oder sonstige gesellschaftliche Stimmenmehrheit im Sinne einer Stimmenmajorität darstellt.100 Stattdes99
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Im folgenden Text zeigt der Ästhetiker, dass Don Juan in Elvira (EO 147f. / SKS 2,123f.) und in Leporello (EO 151 / SKS 2,127; EO 158 / SKS 2,132) widertönt („gjenlyder“). Im Sinne von „Stimmenmajorität“ gebraucht Kierkegaard das Wort an allen anderen Stellen in seinem Werk (vgl. SV3 18,17; ER 47 140 / SV3 11,123; AUN I 58f. / SKS 7,68; AUN I 68 / SKS 7,77). Das „Ordbog over det Danske Sprog“ kennt jedoch neben der Bedeutung einer Stimmenmajorität („majoritet“) auch die Bedeutung der Stimmenpluralität („pluralitet“; Danske Sprog- og Litteraturselskab [Hg.] Ordbog over det Danske Sprog, Bd. XXI, 1143) Im Dänisch-Deutschen Wörterbuch von Bork wird nur die geläufigere Übersetzung von „stemmeflerhed“ mit „Stimmenmehrheit“ genannt (Bork u. a. Dansk-Tysk Ordbog, 756).
C.1 Eingrenzung des Gegenstandsbereichs und Methode der Interpretation
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sen geht es Mozart, so die Interpretation des Ästhetikers, um eine Vervielfältigung der Stimmen im Dienst der Erhellung einer Einheit; Mozart lasse den Charakter des Don Juan deutlicher hervortreten, indem er dessen Wesen in anderen Figuren widertönen lasse. Der Ästhetiker beschreibt also eine Stimmenmehrheit, die nicht als Stimmenmajorität, sondern als Stimmenpluralität aufzufassen ist. Diese Stimmenmehrheit als Stimmenpluralität ist der Bachtinschen Polyphonie101 vergleichbar. In einer anderen Metaphorik kommt in Kierkegaards Schriften ein ähnliches ästhetisches Verfahren zur Sprache: In den „Schattenrissen“ legt der Ästhetiker dar, die „reflektierte Trauer“ ließe sich nicht in einem einzelnen Bild, sondern nur in einer Folge von Bildern ausdrücken. Die Pointe in der reflektierten Trauer ist, daß die Trauer immerfort ihren Gegenstand sucht, dieses Suchen ist die Unruhe der Trauer und ihr Leben. Dieses Suchen aber ist eine stetige Fluktuation, und wenn das Äußere in jedem Moment ein vollkommener Ausdruck des Inneren wäre, so müßte man, um die reflektierte Trauer darzustellen, eine ganze Folge von Bildern besitzen; doch kein einzelnes Bild drückt die Trauer aus, und kein einzelnes Bild hätte eigentlichen künstlerischen Wert, da es nicht schön sein würde, sondern wahr. Man müßte also diese Bilder betrachten, wie man den Sekundenzeiger einer Uhr betrachtet; das Werk sieht man nicht, die innere Bewegung aber äußert sich fortwährend dadurch, daß das Äußere sich fortwährend verändert. (EO 211 / SKS 2,175f.)102
Der Ästhetiker beschreibt in ähnlicher Weise eine wechselseitige Konfiguration von Bildern weiblicher Wesen, die alle in einem Bild Ruhe suchen, das man nicht sieht. Es ist keine einzelne Schönheit, die fesselt, sondern eine Totalität; ein Traumbild schwebt an einem vorüber, in dem alle diese weiblichen Wesen sich untereinander konfigurieren und alle diese Bewegungen etwas suchen, Ruhe suchen in einem Bilde, das man nicht sieht. (EO 384 / SKS 2,320)
Befinden sich diese beiden zuletzt zitierten ästhetischen Betrachtungen Kierkegaards an der Schwelle von Mehr- und Vielstimmigkeit, insofern die Negativität, die Unsichtbarkeit des Intendierten hier eine konstitutive Funktion einnimmt, so bliebe die Behauptung, in Kierkegaards Schriften fänden sich ausdrückliche Rekurse auf die Vielstimmigkeit im oben definierten Sinne, doch problematisch. Der Hinweis auf Andeutungen des Gedankens der Vielstimmigkeit bei Kierkegaard kann und soll also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vielstimmigkeit ein Reflexionsbegriff ist, der – im Gegensatz zum Begriff der Mehrstimmigkeit – in Kierkegaards Schriften nicht ausdrücklich verwendet wird. 101 102
S. o. S. 112ff. Vgl. auch BI 59f. / SKS 1,118f.; s. o. S. 124f.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
C.1.4 Zusammenfassung Die einleitenden Bemerkungen haben nahe gelegt, dass die in dieser Arbeit anzuwendende Methode der Interpretation in kritischer Art und Weise auf Lese- und Denkerfahrungen der Dekonstruktion bzw. des Dekonstruktivismus sowie auf Gedanken von Michail Bachtin und Wolfgang Iser zurückgreift: Bachtins Gedanke der Polyphonie, Isers Gedanke der Negativität und Derridas Gedanke der Vielstimmigkeit werden in bestimmter Hinsicht in den Dienst meiner Kierkegaardlektüre gestellt, zugleich aber steht die zu entwickelnde Kierkegaardlektüre in Spannung zu einzelnen Aspekten der genannten Konzeptionen. Im Anschluss an diese Überlegungen wurde eine Unterscheidung von Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit formuliert: Der Akzent der Betrachtung der einzelnen Werke als mehrstimmiger Texte liegt darauf, dass die einzelnen Schriften eine in sich überschaubare oppositionelle Struktur aufweisen. Mehrstimmigkeit kann im Dienst der Beleuchtung einer Idee stehen, die durch mehrere Stimmen konturiert wird. Die Betrachtung des kontroversen Aufeinandertreffens der Pseudonyme als vielstimmiger Rede legt den Akzent hingegen darauf, dass hier die bereits in sich spannungsvollen pseudonymen Stimmen und Texte einander wechselseitig aufreiben und so das beleuchten, was jenseits der Stimmen steht: dass durch die Negation aller erklungenen Stimmen das Ungesagte gesagt wird.103 Weiterhin wurde im vorliegenden Abschnitt nach Spuren expliziter Beschreibungen von Phänomenen ästhetischer Negativität und der Spaltung der Rede in mehrere Stimmen bei Kierkegaard gesucht. Die negativen ästhetischen Operationen, zu denen sich Kierkegaard fragmentarisch äußert, haben darin einen gemeinsamen Nenner, dass je durch die Negation eines Erstsinns die Entstehung eines Zweitsinns ermöglicht werden soll, der seinerseits nicht anders als vermittels solcher Indirektheit104 erzeugt werden kann. Sodann wurden Rekurse Kierkegaards auf Mehr- bzw. Vielstimmigkeit nachvollzogen. An Kierkegaards Schriften kann gezeigt werden, dass Kierkegaard selbst Strategien der „Mehrstimmigkeit“ gewahr gewesen ist; in Bezug auf die „Vielstimmigkeit“ lässt sich dies hingegen al103 104
Vgl. Abschn. B.3. Dieser Gedanke einer Indirektheit unterscheidet sich von Kierkegaards expliziter Theorie der indirekten Mitteilung dadurch, dass Negativität für das Mitteilungsgeschehen irreduzibel und konstitutiv ist. Vgl. zu Kierkegaards Theorie der indirekten Mitteilung Hagemann Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik, 15ff.
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
137
lenfalls vermuten. Denn während die Analyse einiger Passagen aus Kierkegaards „Der Begriff Ironie“ und „Entweder/Oder“ verdeutlicht hat, dass Kierkegaard ein ausgeprägtes Bewusstsein um die Möglichkeiten sowohl einer negativ-ästhetischen als auch einer mehrstimmigen literarischen Strategie hatte, findet sich eine theoretische Reflexion über eine literarische Strategie der „Vielstimmigkeit“ im definierten Sinne (d. h. als einer Kreuzung von Mehrstimmigkeit und Negativität) in Kierkegaards Schriften nur andeutungsweise. Die Annahme einer von Negativität geprägten Vielstimmigkeit in Kierkegaards Werk hat also den Status einer Arbeitshypothese, die allerdings durch die Beobachtungen zur Negativität und zur Mehrstimmigkeit in Kierkegaards Denken gestützt wird. Im Folgenden werden Kierkegaards Schriften „Entweder/ Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ zunächst als Mehrstimmigkeit105 und dann als Vielstimmigkeit106 interpretiert.107
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität C.2.0 Einführende Bemerkungen Im diesem Abschnitt erfolgt eine Analyse der drei pseudonymen Werke Kierkegaards von 1843 unter dem Gesichtspunkt der Mehrstimmigkeit. Die Wahrnehmung der Mehrstimmigkeit in Kierkegaards Werk bereitet wiederum die sich im darauf folgenden Abschnitt anschließende Interpretation des Wechselspiels der Pseudonyme als Vielstimmigkeit vor. Mehrstimmigkeit bezeichnet das Wechselverhältnis zwischen literarischen Figuren innerhalb einer pseudonymen Schrift (Intrapseudonymität). Vielstimmigkeit bezeichnet das Wechselverhältnis zwischen den pseudonymen Schriften (Interpseudonymität).108 Aus den dargelegten Gründen109 konzentriert sich diese Analyse auf die formale Gestalt von Kierkegaards Werken. Dies bedeutet indes nicht, dass der Inhalt von Kierkegaards Schriften nicht im Interesse der 105 106 107 108
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S. u. Abschn. C.2. S. u. Abschn. C.3 Vgl. zum Zusammenhang dieser beiden Schritte Abbildung 3. Eine solche Differenzierung könnte Kierkegaard auch selbst vor Augen gestanden haben, als er folgende Sätze formulierte: „[…] [D]aß jetzt jede Abhandlung in ‚Entweder/Oder‘ nur Teil eines Ganzen ist, und dann das ganze ‚Entweder/Oder‘ ein Teil in einem Ganzen: das ist ja, um närrisch zu werden, meint die zeitgenössische Spießbürgerlichkeit.“ (T II,59 / SKS 20,32 [NB:26]) S. o. Abschn. C.1.1.2.
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
Arbeit stünde. Die Konzentration auf die Form wirkt sich vielmehr darin aus, dass mit der Analyse der Form begonnen wird. Von dieser Analyse ausgehend rücken durchaus auch inhaltliche Erkenntnisse in den Blick. Entsprechend dieser Sachlogik gehört die Formulierung des durch eine ästhetische Analyse freigelegten Inhalts an das Ende der Interpretation. Allein aus Gründen der Darstellungslogik wird die argumentativ an das Ende der Arbeit gehörende Formulierung des „Inhalts“ der frühen pseudonymen Schriften bereits an dieser Stelle vorweggenommen. Der gedankliche rote Faden, der sich durch die drei pseudonymen Schriften von 1843 zieht, lässt sich wie folgt benennen: Zeit und Welt entziehen sich dem Subjekt umso spürbarer, je mehr es sich darum bemüht, sich zu Zeit und Welt zu verhalten. Der double bind, der darin besteht, dass die Bemühung um Welterleben den Verlust von Wirklichkeit nach sich zieht, kommt im Erleben des „Dichters“ exemplarisch zum Ausdruck.110 Der „Dichter“ gilt Kierkegaard als derjenige, der zum faktischen Sein ein (in besonderem Maße) produktives Verhältnis einnimmt – und paradoxerweise die Wirklichkeit gerade dadurch verliert, dass er sich zu ihr verhalten will.111 Er will sich dem Erleben der ästhetischen Anmutung der Wirklichkeit bewusst hingeben112, doch 110
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Das Motiv des „Dichters“ und die von ihm erlittene Auflösung der Wirklichkeit ist in der Wiederholungs-Schrift die zentrale Kategorie, in der das Scheitern des jungen Mannes zur Sprache gebracht wird. Der Sache nach steht dieses Motiv, wie deutlich werden wird, auch im Hintergrund des Konflikts, der in „Entweder/Oder“ beschrieben wird (vgl. zu Kierkegaards in „Über den Begriff Ironie“ und „Entweder/Oder“ formulierten bzw. implizierten Kritik an der „romantischen“ Auflösung der Wirklichkeit Bohrer Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, v. a. 62ff.69ff.; vgl. zum Zusammenhang von „Entweder/Oder“ und Kierkegaards Kritik der Romantik auch Behler „Kierkegaard’s The Concept of Irony with Constant Reference to Romanticism“, 28f.). Der durch das Motiv des Dichters thematisierte Verlust von (endlicher) Wirklichkeit ist auch in „Furcht und Zittern“ von zentraler Bedeutung. Nach Darstellung der „Krankheit zum Tode“ verliert das Selbst sich selbst, gerade da es im Begriff ist, sich zu sich selbst zu verhalten, da es zu der Natur seines Selbst als einer Synthese aus Gegensatzbestimmung kein anderes Verhältnis als das verzweifelter Auflehnung einzunehmen vermag (KT 9ff. / SV3 73ff.; KT 46ff. / SV3 103ff.). Vgl. zum Zusammenhang der in dieser späten und den in den 1843 erschienenen Schriften Kierkegaards beschriebenen Krisenphänomenen Schmidt „Unlust und Glaube. Die Aporie erlebnisorientierter Freizeitgestaltung als Herausforderung für die Kulturhermeneutik“, 111ff. Constantin Constantius bemerkt, dass die vergnügliche Wirkung der Posse zu einem großen Teil in der Selbsttätigkeit, in der Produktivität bzw. im Sich-Verhalten des Zuschauers liegt (W 32ff. / SKS 4,34f.). Darin wird möglicherweise, sofern eine solche Generalisierung zutrifft, deutlich, dass Welterfahrung grundsätzlich bewusstes Sich-Verhalten erfordert.
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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verwandelt er gerade dadurch unwillentlich die Wirklichkeit in die Projektionsfläche seines Sehnens.113 Gegenwärtigkeit entgleitet so dem Subjekt, welches ständig zu spät kommt (EO 263 / SKS 1,219) und folglich ständig ‚nach einem Schatten greift‘ (W 71 / SKS 4,69); der Entzug der Gegenwart als Folge dichterischer Produktivität lässt das Subjekt in das Unglück stürzen, in der vergangenen oder in der zukünftigen Zeit abwesend zu sein (vgl. EO 259 / SKS 2,216), sei es in der verklärten Erinnerung oder in der sehnsüchtigen Antizipation. Die Unmöglichkeit, gegenwärtig zu sein und im Sich-Verhalten zur Gegenwart in der Gegenwart zu bleiben, ist für den Ästhetiker, für Constantin Constantius und für den Ritter der Unendlichkeit Anlass zur Resignation angesichts der Aufgabe, in der Zeit glücklich zu werden.114 Diese Resignation findet in der Flucht aus der Zeit Ausdruck, einer rückhaltlosen und irreversiblen Entäußerung des Selbst in der sinnlichen Erfahrung. Im Glauben allein, so beschwört Johannes de Silentio atemlos, besteht die ‚unmögliche Möglichkeit‘115, nach dieser (angesichts der beschriebenen Welterfahrung folgerichtigen und irreversiblen) Resignation wieder an der Zeit teilzuhaben. In diesem Sinne ist Glaube eine unmögliche Doppelbewegung116 bzw. eine
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Diese Problematik reflektiert sich in den „Schattenrissen“ aus „Entweder/Oder“ in den Schilderung eines Menschen, der einen Brief mit aller Leidenschaft liest und wieder liest, bis, da seine Augen sich mehr und mehr mit Tränen füllen, er die Schrift schließlich gar nicht mehr zu lesen vermag (EO 225 / SKS 2,186). Dass die Flucht vor der Wirklichkeit eine Reaktion auf die Flüchtigkeit der Wirklichkeit ist, kommt in Kierkegaards Dissertation zum Ausdruck: „Im Zweifel nämlich möchte das Subjekt immerzu in den Gegenstand hinein, und das Unglück des Menschen ist, daß der Gegenstand fort und fort vor ihm flieht. In der Ironie will das Subjekt immerzu aus dem Gegenstand heraus, und dies erreicht der Mensch dadurch, daß er in jedwedem Augenblick sich bewußt ist, daß der Gegenstand keine Realität hat.“ (BI 262 / SKS 1,295f.) Zum Gedanken einer Gleichzeitigkeit von Möglichkeit und Unmöglichkeit vgl. z. B. Heidegger Sein und Zeit, 262 (s. o. Abschn. B.2.3.2); Derrida Falschgeld. Zeit Geben I, 22ff. (s. o. Abschn. B.2.2.5). Die Doppelbewegung wird in dieser Arbeit als Bewegung in der Schwerkraft betrachtet, da dies die Motivik ist, in der sie vornehmlich zur Sprache gebracht wird. Allerdings finden sich in Kierkegaards Werk auch Passagen, in der die Doppelbewegung mit anderen Motiven zur Sprache gebracht wird, so z. B. mit dem des Lichts: „Hat sie [die weibliche Naivität – J. S.] erst angefangen, religiös Leid zu tragen, so vergeht der Wunsch gleich der Abendsonne, wenn des Mondes Glanz aufzuleuchten beginnt, oder gleich des Mondes Schein vor Tages Anbruch. Auf doppelte Beleuchtung und Doppelreflexion vermag ein Weib sich nicht einzulassen, ihre Reflexion ist nur einfach. Will sie den Wunsch aufgeben, so ist die Reflexion der Widerstreit zwischen des Wunsches Leben und der Resignation Sterben; indes zu gleicher
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
„Wiederholung“: Glaube ist die Möglichkeit, die verlorene Welt nach der unvermeidlichen Bewegung der Resignation zu „wieder-holen“117 (bzw. wiederzuholen); die Wiederholung ist es daher, die, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich macht (W 3 / SKS 4,9). Jedoch entziehen sich die Doppelbewegung des Glaubens bzw. die Wiederholung (im eigentlichen Sinne) als unmögliche Bewegungen118 dem Denken und damit der Sprache, d. h. genauer, der deiktischen Rede. An diesem Punkt in Kierkegaards Werk, an dem die Deutung der Aporie der Existenz die Notwendigkeit einer unmöglichen Bewegung offen legt, gelangt die hermeneutische Auslegung der drei Schriften von 1843 an ihre Grenzen, und die dekonstruktivistischen Denkerfahrungen hinsichtlich der Konstitution von Bedeutung kommen ins Spiel: Die Pointe von Kierkegaards frühem pseudonymen Werk besteht darin, dass der unsagbare und unbegreifliche Glaube als unsagbarer Glaube im kontroversen Wechselspiel der drei Schriften zur Sprache gebracht wird.119 Dieses „unmögliche Vermögen“ der vielstimmigen Pseudonymität Kierkegaards erschließt sich vor dem Hintergrund der am Ende des vorhergehenden Teils formulierten, von dekonstruktivistischem Denken inspirierten Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren.120 Kierkegaards Schriften sind daher als Realisierung einer bestimmten
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Zeit beides wollen ist ihr unmöglich, sie kann es vielleicht noch nicht einmal verstehen.“ (SLW II,320f. / SKS 6,281f. [Übersetzung geändert]) Die Etymologie des dänischen Wortes „gjentage“ entspricht der des deutschen Wortes „Wiederholung“. Kierkegaard betont diese Etymologie von „gjentage“ zu Beginn der Wiederholungs-Schrift, wenngleich an dieser Stelle lediglich die Negativität der Wiederholung zur Sprache kommt: „[…] [E]s kam mir so vor […], als wären meine großen Worte, die ich nun um keinen Preis hätte wiederholen wollen, nur ein Traum, aus dem ich erwachte, um das Leben unaufhaltsam und treulos alles wieder nehmen: ‚wieder holen‘ [tage Alt igjen] zu lassen, was es gegeben hatte, ohne eine Wiederholung zu geben.“ (W 45 / SKS 4,45 [Übersetzung geändert]) Caputo formuliert präzise: „Repetition […] makes the same double movement as faith: for it moves when it is impossible to move, and it goes where it is impossible to go.“ (Caputo „Looking the Impossible in the Eye: Kierkegaard, Derrida, and the Repetition of Religion“, 12; die letztere Formulierung ist eine Anspielung an Angelus Silesius’ Cherubinischen Wandersmann: „Geh hin/wo du nicht kanst: sih/wo du sihest nicht: Ho(e)r wo nichts schallt und klingt/so bistu wo Gott spricht.“ (Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann, I.199, 56; vgl. Derrida AN 89) S. u. Abschn. C.3. S. o. Abschn. B.3.
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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literarischen Strategie zu analysieren121 und weniger im Hinblick auf Kierkegaards propositional formulierte bzw. formulierbare Auffassungen – auch wenn es stets möglich ist, die in den literarischen Figuren implizierten propositionalen Auffassungen zu identifizieren.122 Als heuristisches Mittel für die Analyse dient die Motivik von Gravitation und Klang. Die Interpretation soll zeigen, dass die literarische Strategie, die in „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und in „Furcht und Zittern“ angewendet wird, sich durch eine Analyse der verschiedenen Nuancierungen dieser beiden literarischen Motive erschließt.123
C.2.1 „Entweder/Oder“: Klang und Gravitation C.2.1.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren Die Schrift „Entweder/Oder“ gibt dem Ringen mit der Krise Ausdruck, welche die Erfahrung der Zeitlichkeit, genauer, die Erfahrung der Flüch-
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Der Begriff „Strategie“ weckt problematische Konnotationen, soll aber zunächst als heuristisches Mittel verwendet werden. In den abschließenden Überlegungen des vorliegenden Abschnitts wird die genaue Bedeutung des Begriffs „Strategie“ in Bezug auf Kierkegaards Werk erläutert (s. u. Abschn. C.3). Vgl. die erste Zeile in der „Systematischen Übersicht über Phänomene der Mehr- und Vielstimmigkeit (Intra- und Interpseudonymität) in Kierkegaards Werk“ (Abbildung 3). M. W. gibt es in der Kierkegaardforschung keinen entsprechenden Versuch. Allerdings unterstützen einige Bemerkungen bei King die Auffassung, eine Interpretation von der beschriebenen Art sei sinnvoll: King konstatiert, das Bildes des „Tanzes“ besitze „mehr als eine Bedeutungsvalenz“; während es zumeist „die Weltlichkeit der ästhetischen Lebensform zum Ausdruck“ bringe, seien „innerhalb des semantischen Feldes der einzelnen Rede andere Konfigurationen aufzuspüren, die ihr eigentümliches Thema widerspiegeln.“ (King Existenz – Denken – Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Søren Kierkegaards, 26f.) Die Formulierung „mehr als eine Bedeutungsvalenz“ führt in die unmittelbare Nähe des Gedankens der Vielstimmigkeit, insofern diese mit der „Polyvalenz“ verwandt ist (vgl. zum Begriff der „Polyvalenz“ Barsch Art. „Polyvalenz“, 514). King kontrastiert Motive des Tanzes in der „Abschließende[n] unwissenschaftlichen Nachschrift“, „Furcht und Zittern“ und „Entweder/Oder“ (a. a. O., 30f.52) und greift an späterer Stelle die Metapher der Gravitation in der Darstellung der Denkweise Kierkegaards erneut auf, indem er formuliert, bei Kierkegaard entstehe „eine Form des Denkens, das sich im Schwerefeld von einander im Gleichgewicht haltenden Möglichkeiten bewegt“ (a. a. O., 136). Die Funktion der Bildersprache sieht King darin, dass das Bild vermittels seiner assoziativen Fähigkeiten „gleichzeitig seine frühere Bedeutung im Sinne ihres Gegenteils oder ihrer Ähnlichkeit“ in Erinnerung rufe und auf diese Weise das Ganze erhelle (a. a. O., 33).
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
tigkeit (und infolgedessen der Unwiederholbarkeit124) des Augenblicks auslöst.125 So leidet der Ästhetiker darunter, dass eine überwältigende sinnliche Unmittelbarkeit keine Dauer hat, dass er nach einer Erfahrung sinnlicher Unmittelbarkeit von Mattigkeit (EO 738f. / SKS 3,180f.) und Enttäuschung überfallen wird. Diese Erfahrung findet in Szenen aus dem romantischen und erotischen Erleben des Ästhetikers Ausdruck. Jedoch ist diese Erfahrung nicht allein im Erotischen und Romantischen von Bedeutung, vielmehr kommt in ihr die grundsätzliche Herausforderung, die der menschlichen Existenz durch die Flüchtigkeit der Zeit gestellt wird, paradigmatisch zum Ausdruck. In der Terminologie des Erotischen bringt der folgende Satz das Leiden des Ästhetikers auf den Punkt: Wenn ein Mädchen sich erst ganz hingegeben hat, so ist alles vorbei. (EO 509 / SKS 2,422)126
Ist „alles vorbei“, dann bleibt, so beschreibt der Gerichtsrat die Erfahrung des Ästhetikers, allein die Mattigkeit postkoitaler Tristesse zurück. Wenn dagegen der Kulminationspunkt erreicht ist, ja dann hat sich alles verändert, dann schrumpft alles zusammen zu einer dürftigen und unerquicklichen Abbreviatur. (EO 673 / SKS 3,128)
Diese Erfahrung wird im Brief des Gerichtsrats, der das Erleben des Ästhetikers sehr genau zu kennen scheint und aus dessen Feder die drei zuletzt wiedergegebenen Äußerungen stammen, in einer plastischen Szene ausgedrückt: Du hast ein Mädchen gefunden, in dem Dein ganzes Wesen Ruhe findet; und mag es auch scheinen, als seist Du ein wenig zu erfahren, so ist es doch Deine erste Liebe, davon bist Du überzeugt. […] Du hast Dir die Gunst erbeten, ihr die letzte Ölung erteilen zu dürfen. Lange hast Du schon im Eßzimmer der Familie gewartet, ein flinkes Kammermädchen, vier bis fünf neugierige Cousinen, eine ehrwürdige Tante, ein Friseur sind mehrmals an Dir vorübergeeilt. Du bist schon halb ärgerlich darüber. Da öffnet sich leise die Tür zum Wohnzimmer, Du wirfst einen flüchtigen Blick hinein, es freut Dich, daß keine Menschenseele da ist, daß sie den Takt besessen hat, alle Fremden sogar aus dem Wohnzimmer zu entfernen. Sie ist schön, schöner denn je, es liegt eine Beseeltheit über ihr, eine Harmonie, von deren Schwingungen sie noch selber durchbebt ist. […] Du erstaunst, sie übertrifft sogar Deine Träume, auch Du verwandelst Dich, aber Deine Reflexion verbirgt sofort Deine Bewegtheit. […] Du näherst Dich ihr; auch ihr Putz verleiht der Situation 124
125 126
Der Begriff „Wiederholung“ ist in Entweder/Oder zwar nur selten belegt, der Sache nach aber, so wird sich zeigen, teilen „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ das Ringen mit der Unmöglichkeit der Wiederholung. S. o. S. 138ff. Vgl. auch EO 521 / SKS 2,432: „Wenn ein Mädchen alles hingegeben hat, so ist sie schwach, so hat sie alles verloren; denn Unschuld ist beim Manne ein negatives Moment, beim Weibe ist es ihres Wesens Gehalt.“
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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das Gepräge des Ungewöhnlichen. […] Du nimmst ein Sträußchen, das nur eine einzige Art von Blume enthält, eine an und für sich gänzlich unbedeutende Blume. Immer, wenn Du ihr Blumen geschickt hast, war ein Stengelchen von dieser dabei […]. Du reichst sie ihr, eine Träne zittert in ihrem Auge, sie gibt sie Dir zurück, Du küßt die Blume und befestigst sie an ihrer Brust. Eine gewisse Wehmut breitet sich über sie. Du bist selbst bewegt. Sie tritt einen Schritt zurück, sie betrachtet fast mit Unmut ihren Putz, der ihr lästig ist, sie wirft sich Dir um den Hals. Sie kann sich nicht losreißen, sie umschlingt Dich mit einer Heftigkeit, als wäre da eine feindliche Macht, die Dich ihr entreißen wollte. Ihr feiner Putz ist zerdrückt, ihr Haar ist herabgefallen, im selben Augenblick ist sie verschwunden. Du bist wieder Deiner Einsamkeit anheimgegeben, die nur von einem flinken Kammermädchen, von vier bis fünf neugierigen Cousinen, einer ehrwürdigen Tante, einem Friseur unterbrochen wird. (EO 580f. / SKS 3,57f.)
Die gesamte Schrift „Entweder/Oder“ rankt um die Frage, welche Konsequenz aus einer solchen Erfahrung folgt. Der Ästhetiker und der Gerichtsrat unterscheiden sich voneinander darin, dass sie (scheinbar) entgegen gesetzte Konsequenzen aus dieser ihnen beiden bekannten Erfahrung ziehen; die spannungsvollen Plädoyers der beiden literarischen Figuren stellen eine literarische Inszenierung dieses augenscheinlichen Gegensatzes dar. In der Motivik von Klang und Gravitation kommt so zum Ausdruck, welche fundamentale Differenz zwischen den Kompensationsversuchen des Ästhetikers und denen des Gerichtsrats besteht – eine Differenz, die sich allerdings bei näherem Hinsehen als scheinhafte Differenz entpuppt.127 Die Antwort des „Ästhetikers“ auf diese Erfahrung besteht in der Weltflucht, der Flucht aus der bedrückenden Zeitlichkeit, die in der Motivik der Gravitation und des Klangs zum Ausdruck gebracht wird. Im „Tagebuch des Verführers“, das, so der pseudonyme Herausgeber Victor Eremita, vom Ästhetiker verfasst zu sein „scheint“ (EO 18 / SKS 2,16), findet diese Flucht exemplarischen Ausdruck. Johannes der Verführer flieht in eine Scheinwelt, die er selbst konstruiert, und über die er infolgedessen souverän verfügt. Er entmachtet die leidvoll erfahrene Wirklichkeit, indem er sie in seiner Projektion, im Ästhetizismus128 seines dichte127 128
S. u. S. 157ff. Der Ästhetizismus des Ästhetikers ist ein Reflex des romantischen Ästhetizismus. Pulmer erläutert präzise, dass dieser und jener „auf die Grunderfahrung der Entfremdung in der konsolidierten und entfalteten bürgerlichen Gesellschaft“ bezogen sind. Sie reagieren auf diese Erfahrung, indem „Erfahrung bewußt und gewollt auf das Erleben der Wirklichkeit unter ästhetischem Aspekt eingeschränkt“ wird und „die Elemente der Realität aus ihren realen, funktionellen Zusammenhängen befreit und die so verfügbar gewordenen zu einer neuen ästhetischen Wirklichkeit zusammengesetzt [werden], die primär im Bewußtsein des Individuums existiert […].“ (Pulmer Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards „Entweder/Oder“, 224)
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
rischen Schaffens untergehen lässt. So schreibt er Cordelia, dem „Objekt“, genauer: der Projektionsfläche seiner Begierde, dass er nicht sie (als unverwechselbares Individuum) liebt, sondern die Welt, zu deren Schöpfung sie ihm lediglich als Anlass bzw. als „Inzitament“ dient.129 Du bist mir im Walde abhanden gekommen. Hinter jedem Baum seh’ ich ein weibliches Wesen, das Dir gleicht, trete ich näher, so versteckt es sich hinter dem nächsten Baum. Willst Du Dich mir nicht zeigen, Dich nicht sammeln? Alles verwirrt sich mir; die einzelnen Teile des Waldes verlieren ihre isolierten Umrisse, ich sehe alles wie ein Nebelmeer, wo überall weibliche Wesen, die Dir gleichen, erscheinen und verschwinden. Dich seh’ ich nicht, Du bewegst Dich immerfort in der Woge der Anschauung, und doch bin ich schon glücklich über jedes Bild von Dir. Woran liegt es – ist es Deines Wesens reiche Einheit oder meines Wesens arme Mannigfaltigkeit? – Dich lieben, heißt das nicht: eine Welt lieben? (EO 466 / SKS 2,386f.)130
Der Ästhetiker flieht also in eine vollständig virtualisierte Welt. Die Antwort des „Gerichtsrats“ auf die durch die beschriebene Krise gestellte existenzielle Herausforderung besteht in einem Plädoyer für die Selbstverankerung in der Welt kraft der Entscheidung für die Zeit und für das Zeitliche, welche ebenfalls in – anders nuancierten – Motiven von Gravitation und Klang zum Ausdruck gebracht wird. Jedoch stellt die „Antwort“ des Gerichtsrats keine befriedigende Lösung des beschriebenen Konflikts dar. Im Gegenteil: Das Plädoyer des Gerichtsrats verschärft entgegen dessen augenscheinlicher Intention den Eindruck der existenziellen Aporie, die der Ästhetiker formuliert. Da der Gerichtsrat keine tragfähige Konzeption zur Bewältigung der beschriebenen Erfahrung vortragen kann, ja sein Plädoyer gar ironisiert wird, entpuppt sich die von ihm propagierte Versöhnung als falsche und scheinhafte Versöhnung, der der Ästhetiker nicht ohne Grund widersteht. Dies gilt es im Folgenden zu zeigen. C.2.1.1 Die Motivik des Klangs in der kontrastierenden Darstellung des Ästhetikers und des Gerichtsrats Die Intention des Ästhetikers ist, sich selbst (und den Leser) in den Status vollkommener hörsinnlicher Rezeptivität131 zu überführen, 129
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„Incitament“ (EO 375 / SKS 1,297). – Der gleiche Vorgang wird in der Wiederholungs-Schrift beschrieben (vgl. W 10 / SKS 4,15; s. u. S. 163). Vgl. SKS 2,431 / EO 520: „Alles ist Bild, ich selbst bin ein Mythos meiner selbst […].“ (Vgl. hierzu Kleinert Sich selbst verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard, 288) Der Ökonomie halber scheint es mir sinnvoll, dieses Kunstwort einzuführen: Der Terminus „hörsinnliche Rezeptivität“ bedeutet in der vorliegenden Arbeit ‚eine auf sinnlich-genussvolles Erleben von Höreindrücken bezogene Rezeptivität‘.
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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vollkommen im Lauschen aufzugehen bzw. aufgehen zu lassen (EO 105 / SKS 2,92) – mit der Konsequenz, dass dabei Zeit und Welt verloren gehen. Der Ästhetiker schreibt von seiner eigenen jugendlichen Beschäftigung mit Mozarts Don Juan und der dereinst erlebten vollkommenen Rezeptivität, derer er sich wehmütig erinnert. Die Wehmut wird ausgelöst von dem Gewahrsein, dass die vollkommene Verzauberung vergänglich ist, dass der lustvolle Selbstverlust in der Rezeptivität seinerseits vom Verlust bedroht ist. Was man mit jugendlicher Schwärmerei geliebt, was man mit jugendlichem Enthusiasmus bewundert […], dem nähert man sich stets mit einer gewissen Scheu, mit gemischten Gefühlen […]. [W]as, einsam, das liebende Ohr eingesogen, einsam in der großen Volksmenge […] das erscheint nun im Geiste […]. Die Seele wird wehmütig und weich das Herz; denn es ist, als ob man Abschied nähme […]; man fürchtet, man werde verlieren, was einen froh und glücklich und reich gemacht; man fürchtet, für das, was man liebt, es werde durch diese Verwandlung leiden, vielleicht sich als weniger vollkommen erweisen, es werde möglicherweise die Antwort schuldig bleiben auf die vielen Fragen, ach, und dann ist alles verloren, der Zauber verflogen, und niemals läßt es sich wieder hervorrufen. Was Mozarts Musik betrifft, so kennt meine Seele keine Furcht, mein Vertrauen keine Grenzen. (EO 73f. / SKS 2,67f.)
Der machtvolle Zauber der Musik (Mozarts) scheint einen Genuss zu ermöglichen, der über die Gefahren der Vergänglichkeit erhaben ist. Dies könnte zu der Annahme verleiten, die ästhetische Daseinshaltung, die in hörsinnlicher Rezeptivität132 vollständig aufzugehen strebt, sei eine „praktikable“ Existenzform. Dann aber stellt sich die Frage, warum der Ästhetiker sich bereits in seinen ersten Worten, den „Diapsalmata“, als ein zutiefst verzweifelter, ja lebensmüder Mensch darstellt. Der Grund für diese Spannung ist, dass das Aufgehen in hörsinnlicher Rezeptivität einen Welt- und Selbstverlust impliziert, dessen unglückliche Konsequenz in den Reden des Ästhetikers widerhallt. So vergleicht der Ästhetiker das Erleben von Mozarts Musik mit dem Dahineilen eines Bachs, der sich um Unendlichen verliert. […] [D]ie tieferen Naturen, die von der Idee berührt waren, sie fanden jeden, selbst den leisesten Hauch in Mozarts Musik ausgedrückt, sie fanden in der grandiosen Leidenschaft dieser Musik einen volltönigen Ausdruck für das, was sich in ihrem eigenen Inneren regte, sie empfanden, wie jede Stimmung zu jener Musik hinstrebte, so wie der Bach dahineilt, um sich in der Unendlichkeit des Meeres zu verlieren. Diese Naturen fanden in dem Mozartschen Don Juan ebenso sehr Text wie Kommentar, und während sie dergestalt in seiner Musik dahin- und niederglitten, die Freude des sich selbst Verlierens genossen, gewannen sie zugleich den Reichtum der Bewunderung. (EO 126 / SKS 2,107f.)133 132 133
S. o. Anm. 131. Das Motiv des Bachs und seines betörenden Klangs begegnet auch in der „Wiederholung“ im Kontext der Rede von „hörsinnlicher Rezeptivität“ (s. u. S. 173).
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Dieser Selbstverlust ist zutiefst ambivalent: Indem das Selbst mit der Musik dahingeht, strebt es seiner eigenen Auslöschung entgegen. Die Konsequenz des Ästhetizismus zeitigt die Verzweiflung, als welche der Gerichtsrat das Dasein des Ästhetikers demaskieren wird.134 Das Ästhetische (als Daseinshaltung) ist, so die Darstellung durch den Gerichtsrat, eine unglückliche Externität; es ist dadurch definiert, dass es seine Bedingung außerhalb seiner selbst hat, und auf diese Weise integres, autonomes Selbstsein unterbindet. Dies stellt der Gerichtsrat in Bezug auf den Ästhetiker in einer Metapher dar, welche, wie sich zeigen wird, einer Metapher ähnelt, die Constantin Constantius verwendet135: Es gibt Menschen, die so schwach sind, daß sie tüchtigen Lärm und zerstreuende Umgebung brauchen, um arbeiten zu können. Woher kommt das, wenn nicht daher, daß sie keine Gewalt über sich selbst haben, nur in umgekehrtem Sinne. Wenn sie allein sind, entschwinden ihre Gedanken ins Unbestimmte; wenn dagegen Lärm und Getöse um sie ist, zwingt dieses sie, einen Willen entgegenzusetzen. Sieh, darum fürchtest Du Frieden und Stille und Ruhe. Du bist nur in Dir selbst, wenn ein Widerstand da ist, deshalb aber bist Du eigentlich nie in Dir selbst, sondern stets außer Dir. In dem Augenblick nämlich, da Du Dir den Widerstand assimilierst, ist wieder Stille. Das wagst Du darum nicht, dergestalt aber stehen also Du und der Widerstand einander gegenüber, und also bist Du nicht in Dir selber. Hier gilt natürlich das gleiche wie vorhin von der Zeit. Du bist außer Dir, und daher kannst Du das andere als Widerstand nicht entbehren. (EO 690f. / SKS 3,141f.)136
Der Gerichtsrat setzt dieser unglücklichen Externität die Behauptung einer Erfahrung entgegen, in der dieser Konflikt vermeintlich aufgehoben ist. Im Dichten gibt es, so der Gerichtsrat, eine vollkommene Harmonie von Außen und Innen, die sich in der Erfahrung äußert, dass der Dichter Gott als Souffleur seiner Dichtung bzw. seines Dichtens, ja seiner selbst erlebt. Das Ästhetische also, das sogar der poetischen Darstellung inkommensurabel ist, wie läßt es sich darstellen? Antwort: dadurch, daß es gelebt wird. Es erhält dadurch seine Ähnlichkeit mit der Musik, die nur ist, weil sie ständig wiederholt wird, nur ist im Augenblick der Ausführung. Daher habe ich im vorhergehenden auf die verderbliche Verwechslung des Ästhetischen und dessen, was sich ästhetisch in dichterischer Produktion darstellen läßt, aufmerksam gemacht. Alles nämlich, wovon ich hier rede, läßt sich gewiß ästhetisch darstellen, jedoch nicht in dichterischer Reproduktion, sondern dadurch, daß man es lebt, es im Leben der Wirklichkeit realisiert. Dergestalt hebt die Ästhetik sich selber auf und ver134 135 136
S. u. S. 152ff. W 29 / SKS 4,31f.; s. u. S. 170. Das hier angesprochene Problem einer Veräußerlichung bzw. Entäußerung des Selbst im Genuss kommt bereits in Kierkegaards Dissertation zum Ausdruck: „Wer in poetischer Unendlichkeit genießen will, hat ebenfalls eine Unendlichkeit für sich, aber es ist eine äußere Unendlichkeit. Indem ich nämlich genieße, bin ich ständig außerhalb meiner selbst in dem andern.“ (BI 303 / SKS 1,331)
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söhnt sich mit dem Leben; denn wie in einem Sinne Poesie und Kunst gerade in der Versöhnung mit dem Leben sind, so sind sie in einem anderen Sinne Feindschaft zum Leben, weil sie nur eine Seite der Seele versöhnen. Hier bin ich bei dem Höchsten innerhalb des Ästhetischen angelangt. Und wahrlich, wer Demut und Mut genug hat, sich ästhetisch verklären zu lassen, wer sich mit als eine Person in dem Schauspiel fühlt, das die Gottheit dichtet137, in dem Dichter und Souffleur nicht verschiedene Personen sind, in dem das Individuum wie der geübte Schauspieler, der sich in seinen Charakter und seine Repliken hineingelebt hat, nicht von dem Souffleur gestört wird, sondern fühlt, daß das, was ihm zugeflüstert wird, das ist, was er selbst sagen will, so daß es beinahe zweifelhaft wird, ob er dem Souffleur die Worte in den Mund legt, oder der Souffleur ihm, wer sich im tiefsten Sinne zugleich als dichtend und gedichtet fühlt, wer in dem Augenblick, da er sich als dichtend fühlt, das ursprüngliche Pathos der Replik besitzt und in dem Augenblick, da er sich als gedichtet fühlt, das erotische Ohr, das jeden Laut auffängt, der und erst der hat das Höchste in der Ästhetik realisiert. Aber diese Geschichte, sie ist die innere Geschichte […]. Sie ist die Ewigkeit, in welcher das Zeitliche nicht als ein ideales Moment verschwunden, sondern in welcher sie als reales Moment gegenwärtig ist. (EO 682f. / SKS 3,135f.)138
Der Gerichtsrat bezeichnet die wechselseitige Durchdringung von Außen und Innen in der künstlerischen Erfahrung als das „Höchste der 137
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Cappelørn u. a. verweisen auf folgende Passage aus Schellings „System des transcendentalen Idealismus“ (SKS 2-3K, 296): „Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Theil hat, ganz frei, und ganz und gar nach Gutdünken seine Rolle spielt, so läßt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allem dichtet, und daß der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poëtae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller einzelnen schon zum voraus so in Harmonie gesetzt, daß am Ende schon wirklich etwas Vernünftiges herauskommen muß.“ (Schelling System des transcendentalen Idealismus [1800], zitiert nach: Schelling Sämtliche Werke III, 602). Zuvor hatte Schelling die Forderung erörtert, dass die Menschen „eben durch das Gesetzlose ihres Handelns, und je gesetzloser es ist, desto gewisser, eine Entwicklung des Schauspiels herbeiführen, die sie selbst nicht beabsichtigen konnten […].“ (A. a. O., 598) Kierkegaard hat sich zur Zeit der Abfassung von „Entweder/Oder“ von Schelling nach anfänglichem Enthusiasmus hinsichtlich dessen Vorlesung, die er in Berlin hörte, entfremdet (vgl. Garff Kierkegaard, 250ff.). Die Gleichzeitigkeit des Dichtendseins und Gedichtetseins erörterte Kierkegaard bereits in seiner Dissertation: „Ein Ding nämlich ist es, sich selbst zu dichten und ein ander Ding, sich dichten zu lassen. Der Christ läßt sich dichten, und in dieser Hinsicht lebt ein einfältiger Christ weit poetischer als so mancher hochbegabter Kopf.“ (BI 286f. / SKS 1,316) „Derjenige nämlich, der sich dichten lässt, hat auch einen bestimmt gegebenen Zusammenhang, in den er hineinpassen soll, und wird dergestalt nicht zu einem Worte, das keinen Sinn hat, weil es aus seinen Verbindungen herausgerissen worden ist. Für den Ironiker aber hat dieser Zusammenhang, den er etwas ihm Aufgehängtes nennen würde, keinerlei Giltigkeit, und da er nicht dazu gemacht ist, sich so zu bilden, daß er in seine Umgebung hineinpaßt, so müssen sich die Umgebungen nach ihm bilden, d. h., er dichtet nicht bloß sich selbst, er dichtet auch seine Umwelt.“ (BI 289 / SKS 1,318)
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Ästhetik“.139 Diese Durchdringung beschreibt der Gerichtsrat erstaunlicherweise mit Rekurs auf das Motiv der hörsinnlichen Rezeptivität140, welches bereits beim Ästhetiker begegnete141 – und welches in der Wiederholungs-Schrift von zentraler Bedeutung ist.142 Diese hörsinnliche Rezeptivität wird im Plädoyer gegen die Flüchtigkeit der Zeit ins Feld geführt, indem eine Erfahrung des Dichtens behauptet wird, in der Gott als Souffleur erlebt werde, der dem Dichter die Worte in den Mund legt. Der Ästhetiker reißt sich kraft seiner Freiheit von der Welt los, der Gerichtsrat fährt in Schellings Fahrwasser, der eine Identität von Freiheit und dem Absoluten behauptet.143 Jedoch ist nicht deutlich, wie diese schellingianisierenden Beschwörungen den Ästhetiker überzeugen sollten. Der Gerichtsrat behauptet eine Durchdringung von Außen und Innen, indem er das dichterische Schaffen als einen Vorgang beschreibt, in dem Gott selbst im Dichter redet. Doch dürfte der Ästhetiker, der die Unversöhntheit von Außen und Innen leidvoll erfährt, und dem die begehrenswerte Erfahrung eines ursprünglichen Grundes aller Harmonie des Subjektiven und des Objektiven schmerzlich verstellt ist, sich von dieser Behauptung kaum angesprochen fühlen. Das Ungenügen der Antwort des Gerichtsrats tritt bei der nun folgenden Betrachtung des Motivs der Gravitation noch stärker hervor. C.2.1.2 Die Motivik der Gravitation in der kontrastierenden Darstellung des Verführers, des Ästhetikers und des Gerichtsrats Die Kontroverse zwischen dem Ästhetiker und dem Gerichtsrat wird nicht nur mit der Motivik des Klangs, sondern v. a. in der verschieden nuancierten Verwendung von Motiven der Gravitation ausgedrückt. Dies soll nun gezeigt werden, indem zunächst die Haltung des Ästhetikers und dann die Haltung des Gerichtsrats zur Gravitation erläutert werden. 139
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Dieser Gedanke wiederum begegnet auch in der bereits erwähnten Schrift Schellings „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur“, in der Schelling schreibt: „Schon längst ist eingesehen worden, daß in der Kunst nicht alles mit dem Bewußtsein ausgerichtet wird, daß mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose Kraft sich verbinden muß, und daß die vollkommene Einigkeit und gegenseitige Durchdringung dieser beiden das Höchste der Kunst erzeugt.“ (Schelling Werke. Dritter Ergänzungsband, 400) Vgl. Anm. 131. S. o. S. 144ff. S. u. S. 173ff. Vgl. Schelling System des transzendentalen Idealismus, Sämtliche Werke III, 602.
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Don Juan, Gegenstand einer ausführlichern Meditation des Ästhetikers, erscheint geradezu als Inkarnation leichtgewordenen Seins, welches sich in seinem souveränen Verhalten zum Gegenstand seiner Begierde von dessen Gravität befreit und so alle Schwere der Notwendigkeit abgeworfen hat (vgl. EO 93 / SKS 2,82; EO 97f. / SKS 2,86). In Don Juan hat sich die Begierde zu voller Blüte entfaltet, er titscht daher über das Sein wie ein horizontal über die Wasseroberfläche geschleuderter Stein und schwebt über dem Abgrund, in dem er allerdings ständig zu versinken droht. Wie ein Stein, wenn man ihn so wirft, daß er die Oberfläche des Wassers schneidet, eine Zeitlang in leichten Sprüngen darüber hinhüpfen kann, wohingegen er, sobald er zu springen aufhört, augenblicklich in den Abgrund versinkt, so tanzt Don Juan über den Abgrund hin, jubelnd in seiner kurzen Frist. (EO 157 / SKS 2,131; vgl. EO 162 / SKS 2,135)
Weil die Leichtigkeit für Don Juan konstitutiv ist, kritisiert der Ästhetiker Molières Darstellung des Don Juan, die, so der Ästhetiker, eine ethische Gravität in das Stück bringt, welche der Idee des Don Juan zuwiderläuft. Bei Molière erscheint im letzten Akt die Statue, um Don Juan zu holen. Obgleich nun der Dichter das Auftreten des steinernen Gastes zu motivieren versucht hat, so bleibt dieser Stein dramatisch doch immer ein Stein des Anstoßes. […] In der Oper ist es durchaus richtig, daß der Komtur wiederkommt. Aber dort hat sein Auftreten auch eine ideale Wahrheit. Die Musik macht ihn gleich zu etwas mehr als einem einzelnen Individuum, seine Stimme weitet sich zu der Stimme eines Geistes. Wie Don Juan daher in der Oper mit ästhetischem Ernst aufgefaßt ist, so ist es auch der Komtur. Bei Molière kommt er mit einer ethischen Gravität und Schwere, die ihn beinahe lächerlich macht; in der Oper kommt er mit ästhetischer Leichtigkeit, metaphysischer Wahrheit. […] Don Juan aber kann alles, kann allem widerstehen, mit Ausnahme der Reproduktion des Lebens, eben weil sich in ihm unmittelbares sinnliches Leben verkörpert, dessen Negation der Geist ist. (EO 136 / SKS 2,115)144
Die Leichtigkeit, von der die Meditation des Ästhetikers über Don Juan geprägt ist, begegnet in der Beschreibung des von ihm selbst präferierten Sich-Verhaltens zur eigenen Geschichtlichkeit wieder: Wer, so führt der Ästhetiker aus, Vergessen und Erinnern zu beherrschen weiß, dem wird das Leben vollkommen leicht und verfügbar, er vermag „mit dem ganzen Dasein Federball zu spielen“. Wenn man sich dergestalt in der Kunst des Vergessens und der Kunst des Erinnerns perfektioniert hat, so ist man imstande, mit dem ganzen Dasein Federball zu spielen. (EO 341 / SKS 2,283)145 144
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Vgl. auch Kierkegaards Rekurs auf diese Szene in der Wiederholungs-Schrift (W 64 / SKS 4,62; s. u. S. 179 u. Anm. 209). Liessmann kommentiert diese Stelle prägnant: „Was Don Giovanni praktiziert als elementares Prinzip der Sinnlichkeit, ist die Suspension der Zeit. […] Voraussetzung dieser Kunst ist die völlige Kontrolle über das Gedächtnis und damit über die
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Wer sich in dieser Weise kraft der Kunst des Vergessens und Erinnerns über das Dasein erhebt, hat den archimedischen Punkt gefunden, an dem er die Welt aus den Angeln heben kann; er sichert sich so das „vollkommene Schweben“. Vergessen und Erinnerung sind somit identisch, und die künstlerisch zuwege gebrachte Identität ist der archimedische Punkt, mit dem man die Welt aus den Angeln hebt. Wenn man sagt, daß man etwas der Vergessenheit überliefert, so deutet man damit ja zu gleicher Zeit an, daß es vergessen und daß es dennoch aufbewahrt ist. Die Kunst des Erinnerns und des Vergessens wird dann auch verhüten, daß man sich in einem einzelnen Lebensverhältnis festrennt, und einem das vollkommene Schweben sichern. (EO 343 / SKS 2,284)146
Auch die Darstellung Johannes des Verführers ist von der Motivik von Leichtigkeit und des Schwebens geprägt. Johannes der Verführer befindet sich wie der Ästhetiker auf der Flucht vor der Schwere der Zeit; er unterscheidet sich von diesem allein dadurch, dass er nicht die unmittelbaren sinnlichen Impressionen einer schier endlosen Kette disparater Augenblickserlebnisse sucht, sondern die Lust an der reflexiven Beherrschung seiner keimenden, aber unmittelbar vor der Blüte im Keim erstickten Liebesgeschichte. Der Verführer lässt sich nicht wegen seines Drangs nach sinnlicher Erfahrung mit Cordelia ein, sondern um ihrer Leichtigkeit willen, an der er sich berauscht. Er stellt Cordelia nach, weil ein Mädchen eine besondere, dem Mann verwehrte Begabung zur Leichtigkeit hat und zur Vermeidung der Komplikationen der Zeit, in deren Sog er sich begeben will. In einem detailliert ausgearbeiteten Phantasiebild beschreibt Johannes den Sprung eines Mädchens; in der Leichtigkeit seines Sprungs in die Unendlichkeit zeigt sich dem Verführer des Mädchens natürliche Beziehung zur Unendlichkeit. Das Unendliche ist einem jungen Mädchen ebenso natürlich wie die Vorstellung, daß alle Liebe glücklich sein müsse. Ein junges Mädchen hat überall, wohin sie sich auch wende, die Unendlichkeit um sich, und der Übergang ist ein Sprung, wohlgemerkt aber ein weiblicher, kein männlicher. (EO 457 / SKS 2,379)
Der Sprung des Mädchens steht darin in einem Gegensatz zum männlichen Sprung, dass dieser nur dialektisch und mühsam, jener dagegen wie von selbst vonstatten geht.
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Zeit und die Verwobenheit in ihr […].“ (Liessmann Ästhetik der Verführung. Kierkegaards Konstruktion der Erotik aus dem Geiste der Kunst, 41) Vgl. hierzu auch Kleinert Sich selbst verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard, 195.
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Wie sind doch die Männer im allgemeinen tollpatschig! Wenn sie springen müssen, so müssen sie erst einen Anlauf147 nehmen, lange Vorbereitungen treffen […]. Ein junges Mädchen springt ganz anders. In Gebirgsgegenden trifft man häufig zwei aufragende Felszacken. Eine gähnende Tiefe trennt sie, in die man nur mit Entsetzen hinunterblickt. Kein Mann wagt diesen Sprung. Ein junges Mädchen jedoch, so erzählen die Bewohner der Gegend, hat ihn gewagt, und man nennt dies den „Mägdesprung“148. Ich glaub es gern […], glaube das Wunderbare, staune darüber, nur um zu glauben; wie das einzige, was mich in der Welt erstaunt hat, ein Mädchen ist, das erste war und das letzte sein wird. Und doch ist solch ein Sprung für ein junges Mädchen ein Hops, während der Sprung des Mannes immer lächerlich sein wird, wie weit er auch ausgreift, seine Anstrengung zugleich nichts ist im Verhältnis zum Abstand der Gipfel und dabei doch eine Art Maßstab gibt. Wer aber könnte wohl so töricht sein, sich vorzustellen, dass ein junges Mädchen einen Anlauf nimmt? Man kann sich wohl vorstellen, dass sie läuft, aber dann ist dieses Laufen selbst ein Spiel, ein Genuß, eine Entfaltung von Anmut, wohingegen die Vorstellung eines Anlaufs trennt, was bei der Frau zusammengehört. Ein Anlauf nämlich hat das Dialektische in sich, das der Natur des Weibes widerstrebt. (EO 457 / SKS 2,379f.)
„Das Mädchen“ ist in seinem Schweben über Schwer- und Fliehkräfte des Irdischen „unendlich“ erhaben. Und nun der Sprung, wer möchte hier wiederum so unschön sein zu trennen, was zusammengehört! Ihr Sprung ist ein Schweben. Und wenn sie dann drüben angelangt ist, so steht sie wieder da, nicht von der Anstrengung erschöpft, sondern schöner noch als sonst, seelenvoller, sie wirft einen Kuß herüber zu uns, die wir auf dieser Seite stehen. Jung, neugeboren, wie eine Blume, die aus der Wurzel des Berges aufgeschossen ist, schaukelt sie sich über die Tiefe hinaus, daß es uns beinahe schwarz vor Augen wird. – (EO 458 / SKS 2,380)
Johannes der Verführer als Sprachrohr des Ästhetikers (vgl. EO 18 / SKS 2,16) bedient sich dieser Virtuosität in der Bewegung der Unendlichkeit, indem er sich in den Sog, genauer: in den Fahrtwind der Leichtigkeit begibt, kraft welcher ein Mädchen derart zu schweben vermag. 147
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Mit „Anlauf“ ist hier die Reflexion gemeint. Dies wird daran deutlich, dass der Übergang zur Unendlichkeit, den Cordelia vollziehen soll, nicht auf dem Wege des Denkens, sondern auf dem Weg der Phantasie zu beschreiten, genauer, zu durchschweben ist: „Nicht auf dem mühseligen Weg des Denkens soll sie sich zu dem Unendlichen hinarbeiten – denn das Weib ist nicht zur Arbeit geboren –, sondern auf dem leichten Wege der Phantasie soll sie es ergreifen.“ (EO 456 / SKS 2,379) Das Bildwort vom Jungfrauensprung („Jomfru-Spring“) hat Kierkegaard wahrscheinlich den gesammelten Erzählungen der Gebrüder Grimm entnommen, unter denen sich eine Erzählung unter dem Titel „Der Mägdesprung“ (vgl. Brüder Grimm Deutsche Sagen. Vollständige Ausgabe, 319f.) und eine unter dem Titel „Der Jungfernsprung“ (a. a. O., 320f.) befinden. Cappelørn u. a. verweisen auf Grimms Deutsche Sagen, Bd. 1-2, Berlin 1816-18 (SKS 2-3K,223). Die zweite Auflage [Berlin 1819-22] dieses Werks befand sich in Kierkegaards Besitz (vgl. Søren Kierkegaard Gesellschaft [Hg.] Katalog over Søren Kierkegaards Bibliothek, 81).
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Was sie lernen muß, ist, alle Bewegungen der Unendlichkeit zu machen, sich selbst zu schaukeln, sich in Stimmungen, Poesie und Wirklichkeit, Wahrheit und Dichtung zu verwechseln, sich in Unendlichkeit zu tummeln. Wenn sie dann mit diesem Getummel vertraut ist, füge ich das Erotische hinzu, dann ist sie, was ich will und wünsche. Dann ist mein Dienst zu Ende, meine Arbeit, dann zieh’ ich all meine Segel ein, dann sitze ich an ihrer Seite, und unter ihrem Segel fahren wir dahin. (EO 458 / SKS 2,380)
Johannes begibt sich mit Cordelia auf einen kühnen Flug, der sie beide die Wirklichkeit vollständig aus den Augen verlieren lassen soll. Worauf es ankommt, ist, sie so zu lenken, daß sie in ihrem kühnen Flug die Ehe und überhaupt das Festland der Wirklichkeit aus den Augen verliert, daß ihre Seele ebensosehr in ihrem Stolz wie in ihrer Angst, mich zu verlieren, eine unvollkommene menschliche Form vernichtet, um zu etwas hinzuhasten, das höher ist als das allgemein Menschliche. In dieser Hinsicht brauche ich indessen nicht zu fürchten, denn ihr Gang über das Leben ist schon jetzt so schwebend und leicht, daß sie die Wirklichkeit zum großen Teil aus dem Gesicht verloren hat. Außerdem bin ich ja ständig mit an Bord und kann jederzeit die Segel ausspannen. (EO 500f. / SKS 2,415; vgl. EO 462 / SKS 2,383f.)
Der Preis, den der Ästhetiker zu zahlen hat, besteht darin, dass er mit der Welt nie wirklich in Berührung treten kann, dass er immer ein Fremdling in der Welt bleiben wird, der im Unendlichen entschwindet, wie der Gerichtsrat ausführt. Was mich übrigens gelüsten könnte, Dir bei dieser Gelegenheit noch zu sagen, das möchte ich am liebsten an einen bestimmten Ausdruck knüpfen, den man, glaube ich, mit Recht auf Dich anwenden kann, einen Ausdruck, den Du auch selber häufig gebrauchst: daß Du ein Gast und Fremdling in der Welt bist. Jüngere Menschen, die keine Vorstellung haben, wie teuer man Erfahrung erkauft, aber auch keine Ahnung, welch unsäglichen Reichtum sie darstellt, mögen sich leicht von demselben Wirbel hinreißen lassen. Sie mögen sich vielleicht von Deiner Rede beeinflußt fühlen wie von einer frischen Brise, die sie auf das unendliche Meer hinauslockt, das Du ihnen zeigst; Du selbst läßt Dich jugendlich berauschen, kaum noch zu halten bei dem Gedanken an die Unendlichkeit, die Dein Element ist, ein Element, das gleich dem Meere unverändert alles auf einem tiefen Grund verbirgt. […] Dieses Leben ist gefahrvoll, aber mit der Vorstellung, es zu verlieren, ist man vertraut; denn das ist ja der eigentliche Genuß: so im Unendlichen zu verschwinden, daß nur so viel übrig bleibt, daß man dieses Verschwinden genießt. (EO 619f. / SKS 3,87)
Der Gerichtsrat demaskiert die Leichtigkeit des Ästhetikers als Verzweiflung: Die Leichtigkeit, in die der Ästhetiker strebt, wurzelt in dessen Verzweiflung, an der der Ästhetiker sich weidet, die ihn zugleich über das Leben erhebt und des Lebens beraubt. Und Du, Du hast das Feinste gewählt, denn welcher Rausch ist wohl so schön wie die Verzweiflung, so kleidsam, so anziehend, zumal in den Augen der Mädchen (darüber weißt Du vorzüglich Bescheid), besonders wenn man zugleich die Kunstfertigkeit hat, die wildesten Ausbrüche zurückhalten zu können, die Verzweiflung, gleich einer fernen Feuersbrunst, ahnen und nur im Äußeren wiederscheinen zu lassen. Sie gibt dem Gang
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und der ganzen Haltung etwas Leichtbeschwingtes; sie gibt einen stolzen, trotzigen Blick. Die Lippe lächelt übermütig. Sie gibt eine unbeschreibliche Leichtigkeit im Leben, einen königlichen Überblick über das Ganze. (EO 749 / SKS 3,188f.)
Das Rasen des Ästhetikers trägt zwar den Anschein einer ungeheuren Vitalität, ist aber in Wahrheit, so der Gerichtsrat, angetrieben von der übernatürlichen Energie eines Sterbenden. Du bist wie ein Sterbender, Du stirbst täglich, nicht in dem tieferen Sinne, in dem man dieses Wort sonst nimmt, sondern das Leben hat seine Realität verloren und „Du berechnest Deine Lebenszeit immer von einem Kündigungstag zum anderen.“ (EO 751 / SKS 3,189) Ein Sterbender hat bekanntlich eine übernatürliche Energie, und so ist es auch mit Dir […]. (EO 751 / SKS 3,190)
Die Todesmotivik, die hier im Zusammenhang mit der Motivik der „Leichtigkeit“ nur am Rande aufscheint, wird in der WiederholungsSchrift eine fundamentale Rolle spielen149: In der WiederholungsSchrift kommt die tödliche Verzweiflung zum Durchbruch, die der Ästhetiker virtuos zu überspielen sucht. Bevor hierauf näher eingegangen wird, muss jedoch die „Lösung“ erörtert werden, die der Gerichtsrat vermeintlich dem Ästhetiker entgegenhält. Der Gerichtsrat formuliert ein ausführliches Gegenplädoyer, in dem er die erwähnten Motive aufnimmt, teils in Form einer Zurückweisung, teils – und darin unterläuft sein Plädoyer untergründig das „Entweder/Oder“ – in Form einer Indienstnahme der Motive des Ästhetikers für die Entfaltung seiner eigenen Position. Bereits in den ersten Zeilen der Erwiderung des Gerichtsrats begegnet die Motivik der Gravitation: Der Gerichtsrat hofft, der Ästhetiker werde seine Briefe nicht zu leicht nehmen bzw. es sich in der Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Gedanken nicht zu leicht machen, indem er das ihm Gesagte etwa auf der Waage der Kritik depotenziere. Der Brief, den Du hiermit also empfängst, ist ziemlich umfangreich; wollte man ihn auf der Waage der Post prüfen, so würde es ein teurer Brief werden, auf der Goldwaage der feinen Kritik würde er sich vielleicht als überaus unbedeutend erweisen. Ich möchte Dich daher bitten, keine dieser Waagen zu benutzen, die der Post nicht, denn Du empfängst ihn nicht zur Weiterbeförderung, sondern als Depositum; die der Kritik nicht, da ich es ungern sähe, wenn Du Dich eines so groben und unsympathischen Mißverständnis schuldig machtest. (EO 525f. / SKS 3,15f.)
Der ‚Lösungsentwurf‘, den der Gerichtsrat in diesen Worten – wohl vergeblich – bittet, ernst zu nehmen, gründet im Gedanken des gläu149
S. u. S. 175ff.
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bigen „Entschlusses“ für die Zeitlichkeit und für die Ehe.150 Zwar weiß der Gerichtsrat um die Komplikationen, die angesichts der Zeitlichkeit des Daseins entstehen, auch weiß er um die Unvermeidlichkeit einer Bewegung der Resignation, etwa in der Ehe.151 Jedoch, und hierin liegt der maßgebliche Unterschied zwischen dem Ästhetiker und dem Gerichtsrat: Die Resignation ist nach Auffassung des Gerichtsrats ein „sicheres Schweben“, ein differenziertes Verhältnis zur Schwerkraft, das den Bezug zur Wirklichkeit zu wahren versteht. So nimmt der Gerichtsrat die Rezension von Scribes Stück „Die erste Liebe“152 durch den Ästhetiker (EO 271ff. / SKS 2,225ff.) auf und legt dar, dass mit derselben Kraft zu resignieren und festzuhalten: „sicher zu schweben“ sei. Gesetzt, die erste Liebe ließe sich nicht realisieren, so würden, wenn sie in Wahrheit eine eheliche Liebe wäre, die Individuen imstande sein, sie aufzugeben, und doch ihre Süße besitzen, wenn auch in einem anderen Sinne. Das vermag die erste Liebe nie. Doch folgt daraus keineswegs, dass etwa ein Zweifel der ehelichen Liebe ihre Resignation gibt, so als wäre es eine Verkleinerung der ersten Liebe. Wäre es das, so wäre es ja keine Resignation, und doch weiß vielleicht niemand besser, wie süß sie ist, als der, welcher auf sie resigniert und doch die Kraft dazu hat; aber diese Kraft ist wiederum ebenso groß, wenn es gilt, die Liebe festzuhalten, sie im Leben zu realisieren. Es ist dieselbe Kraft, die zum Aufgeben und zum Festhalten gehört, und das wahre Festhalten ist jene Kraft, die zum Aufgeben imstande wäre, sich äußernd im Festhalten, und hierin erst liegt die wahre Freiheit im Festhalten, das wahre sichere Schweben. (EO 635f. / SKS 3,99f. [Hervorhebungen J. S.])153
Dem vom Ästhetiker beschworenen gefährlichen, resignierten Entschweben154 aus der Zeit als einer feindlichen Macht, von der sich 150
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In einer Äußerung des Gerichtsrats in den „Stadien auf dem Weg des Lebens“ verdeutlicht dieser, dass der „Entschluss“ der vom Ästhetiker beschworenen Leichtigkeit des Tanzes als eine Kraft gegenübersteht, die die im Laufe der Zeit Ermüdenden durch die Zeit hindurch hält: „Der Verliebtheit Gang ist leicht und wie dahintanzend über Blumenauen, der Entschluß aber hält die Ermüdete, bis daß der Tanz wiederum anhebt. So ist die Ehe beschaffen.“ (SLW I,122 / SKS 6,111) Dass die Resignation ein konstitutives Moment der Ehe ist, steht bereits in „Der Begriff Ironie“ zu lesen. Hier führt Kierkegaard gegen Schlegels „Lucinde“ aus, die hier beschriebene Ehe zwischen Julius und Lucinde sei keine Ehe, weil die Resignation fehle (BI 306 / SKS 1,333). Vgl. Eugène Scribe Die erste Liebe oder Erinnerungen an die Kindheit, aus d. Frz. übertr. u. m. einem Nachw. vers. v. R. Palm. Mit einem Essay von Sören Kierkegaard und zahlreichen Abbildungen, Frankfurt a. M. / Leipzig 1991. Vgl. dagegen wiederum das Bild vom Sprung des Glaubensritters (FZ 36f. / SKS 4,135f.; s. u. S. 187f.). Von Don Juan heißt es, er tanze „über den Abgrund hin“ (vgl. EO 157 / SKS 2,131; EO 162 / SKS 2,135).
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jede Erfahrung von Unmittelbarkeit abgestoßen gefühlt hatte, setzt der Gerichtsrat den Aufruf zum „sicheren Schweben“ in der Zeit als einem Zugleich von Resignation und Festhalten entgegen. Jedoch behauptet der Gerichtsrat die Möglichkeit der von ihm vorgetragenen „Lösung“, ohne dem Plädoyer des Ästhetikers Argumente oder Erfahrungen entgegensetzen zu können. Daher stellt sich die Frage, ob das Plädoyer des Gerichtsrats als überzeugende Replik auf die Reden aus der Feder des Ästhetikers gelten kann, oder ob die existenzielle Problematik, die den Anstoß für den Disput gegeben hat, ungelöst bleibt und lediglich durch den assertorischen Vortrag einer Gegenthese rhetorisch verschleiert wird. Zwei Passagen, die im Folgenden erörtert werden, unterstützen eher die letztere Vermutung. Das Religiöse, so der Gerichtsrat, sichert den Glauben gegen die Gefahr, im Sog der Schwere des Endlichen zu ertrinken: Daß das Hinzutreten des Religiösen die erste Liebe nicht zu stören vermag, möchte ich mit einem mehr bildlichen Ausdruck erläutern. Das Religiöse ist ja eigentlich der Ausdruck für die Überzeugung, daß der Mensch mit Gottes Hilfe leichter ist als die ganze Welt, jenen Glauben also, wie er auch dem, daß der Mensch schwimmen kann, zugrunde liegt. Wenn es nun einen solchen Schwimmgürtel155 gäbe, der einen oben hielte, so ließe es sich denken, daß jemand, der in Lebensgefahr gewesen, ihn immer trüge, es ließe sich aber auch denken, daß ein Mensch, der noch nie in Lebensgefahr gewesen, ihn gleichfalls trüge. Dieser letztere Fall trifft auf das Verhältnis zwischen der ersten Liebe und dem Religiösen zu. Die erste Liebe umgürtet sich mit dem Religiösen, ohne daß eine schmerzliche Erfahrung oder eine ängstigende Reflexion vorausgegangen wäre; nur muß ich Dich bitten, diesen Ausdruck nicht zu urgieren, so als ob das Religiöse bloß in einem äußerlichen Verhältnis zu jener stünde. (EO 589 / SKS 3,64)
Der Gerichtsrat argumentiert also, das Religiöse sei die Sicherung, die vor der Verzweiflung angesichts des Entgleitens unmittelbarer sinnlicher Erfahrung zu schützen vermöge. Sein possierliches Bild vom „Schwimmgürtel“ besteht allerdings zum nicht geringen Teil aus Abgrenzungen gegen allzu nahe liegende Missverständnisse: Der Schwimmgürtel könne auch als Prophylaktikum getragen werden, in155
Von einer Hilfestellung beim (Erlernen der Kunst des) Schwimmen(s) ist auch in „Furcht und Zittern“ die Rede (s. u. Anm. 226; vgl. hierzu Abbildung 2). Die Beschreibung des „Schwimmgürtels“ im „Ordbog over det Danske Sprog“, in der auch auf diese Stelle in „Entweder/Oder“ (das Wort ist in Kierkegaards Werk ein Hapaxlegomenon; vgl. McKinnon Index verborum til Kierkegaards samlede vaerker, 1063) verwiesen wird, stellt den zeitgenössischen „Schwimmgürtel“ vor Augen (vgl. Danske Sprog- og Litteraturselskab [Hg.] Ordbog over det Danske Sprog, Bd. 22, 1386). Dieser ist von der Vorrichtung zum Erlernen der Schwimmkunst zu unterscheiden, die in „Furcht und Zittern“ (s. Abbildung 2) – und wohl auch in den Diapsalmata (EO 42 / SKS 2,40f.) – beschrieben wird, auch wenn Richter diese Vorrichtung mit „Schwimmgürtel“ übersetzt.
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sofern erschöpfe sich seine Funktion nicht in der Kompensation einer stattgehabten leidvollen Erfahrung von der beschriebenen Art. Denn dies hieße ja, dass die Sicherung in gewisser Weise immer zu spät käme, gegenüber der Erfahrung immer sekundär bliebe. Der Gerichtsrat empfindet aber selbst das ungeachtet dieser Modifikation bleibende Ungenügen seines Bildes, in dem das Religiöse so oder so zu einer Äußerlichkeit trivialisiert wird, und bittet den Ästhetiker, seinen Ausdruck nicht zu urgieren. Der Eindruck entsteht, dass das Plädoyer des Gerichtsrats sich selbst ironisiert. Dies wird in einer späteren Passage noch deutlicher. Dem Gerichtsrat ist die Erfahrung des Überdrusses am Endlichen keineswegs fremd, und, was noch wichtiger ist: Wenn der Gerichtsrat von einer Erfahrung des Überdrusses heimgesucht wird, so lesen wir, dann ist es nicht etwa die reflexive Vergegenwärtigung seines ewigen Entschlusses, die ihn wieder aufrichtet, sondern der Anblick der Anmut und der Leichtigkeit seiner Frau. Der Gerichtsrat beschreibt eine Szene, in der sich ein Leiden an der Zeit gleichsam am Horizont ankündigt – jedoch vom Anblick seiner Frau und der Leichtigkeit, die sie verkörpert, aufgefangen wird; der Anblick seiner Frau ermöglicht es dem Gerichtsrat, wieder in die Zeit zu finden. Ich kann aus Erfahrung sprechen […]. [M]itunter begegnet es mir, daß ich dasitze und in mich selbst zusammensinke. Ich habe meine Arbeit besorgt, ich habe keine Lust zu irgendeiner Zerstreuung, etwas Melancholisches in meinem Temperament gewinnt über mich die Oberhand; ich werde um viele viele Jahre älter, als ich wirklich bin, ich entfremde mich fast meinem eigenen häuslichen Leben, ich sehe durchaus, daß es schön ist, aber ich sehe es mit andern Augen an als sonst; mir ist, als sei ich selbst ein alter Mann, meine Frau eine jüngere Schwester von mir, die glücklich verheiratet wäre und in deren Hause ich nun säße. In solchen Stunden fehlt nicht viel, daß die Zeit anfängt mir lang zu werden. Wäre meine Frau nun ein Mann, so würde es ihr vielleicht ebenso gehen wie mir, und wir würden vielleicht beide zum Stillstand kommen, aber sie ist eine Frau und in gutem Einverständnis mit der Zeit. Ist es eine Vollkommenheit an einer Frau, dieser geheime Rapport, in dem sie mit der Zeit steht, ist es eine Unvollkommenheit, ist es so, weil sie ein irdischeres Wesen ist als der Mann, oder weil sie mehr die Ewigkeit in sich hat? – Antworte Du, Du bist ja ein philosophischer Kopf. Wenn ich nun so verlassen und verloren dasitze und dann meine Frau ansehe, leicht und jugendlich geht sie im Zimmer umher, immer beschäftigt, immer hat sie irgend etwas zu tun, so folgt mein Auge unwillkürlich ihren Bewegungen, ich nehme teil an allem, was sie sich vornimmt, und es endet damit, daß ich mich wieder in die Zeit hineinfinde, daß die Zeit wieder Bedeutung für mich gewinnt, daß der Augenblick wieder enteilt. Was sie eigentlich macht, ja das könnte ich wirklich beim besten Willen nicht sagen, und kostet es mich das Leben, es bleibt mir ein Rätsel. Was es heißt, bis tief in die Nacht zu arbeiten, so müde zu sein, daß es man kaum noch von seinem Stuhl aufzustehen vermag, was denken heißt, was es heißt, so völlig leer an Gedanken zu sein, daß einem unmöglich auch nur das mindeste in den Kopf hinein will, das weiß ich; was faulenzen heißt, weiß ich auch, aber die Art, beschäftigt zu sein, wie meine Frau es ist, das ist ein Rätsel. […] Sie ist niemals müde und doch niemals untätig, es ist, als wäre ihre
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Beschäftigung ein Spiel, ein Tanz, als wäre ein Spiel ihre Beschäftigung […]. Was sie macht, kann ich nicht erklären, aber sie tut es alles mit einer Anmut und Grazie, mit einer unbeschreiblichen Leichtigkeit frischweg ohne Zeremonien, so wie ein Vogel sein Lied singt […]. (EO 882ff. / SKS 3,290f. [Hervorhebungen J. S.])156
Die beschriebene Szene ähnelt frappierend der Beschreibung des „Jungfrauensprungs“ durch den Ästhetiker.157 Indem der Gerichtsrat den Ästhetiker auffordert, er möge die Frage beantworten, ob wohl das Geheimnisvolle der Frau darin gründe, dass sie „mehr die Ewigkeit in sich hat“ (ebd.), ruft er gleichsam den Wolf herbei, der seine lammfrommen Reden allesamt reißen wird: Der Ästhetiker würde den Begriff der „Ewigkeit“ durch den der „(schlechten) Unendlichkeit“158 ersetzen mit der Begründung, dass die Erfahrung keinen Anhalt für die Postulation einer „Ewigkeit“ bietet. Dass dem „Mädchen“ Unendlichkeit eignet, ist für den Ästhetiker gerade Bedingung der Möglichkeit, mit dem „Mädchen“ vor der Zeit fliehen und in die Unendlichkeit entschweben zu können. Letztlich sind die Rückkehr aus der Schwermut in die versöhnte Zeit, welche der Gerichtsrat zu vollziehen behauptet, und die ästhetizistische Flucht vor der Zeit, welche der Ästhetiker übt, gleich weit von einer wahrhaft religiösen Bewegung entfernt. Denn eine wahrhaft religiöse Bewegung kann ihren Antrieb nicht (allein) aus der mit unausgewiesenen dogmatischen Behauptungen verklärten Erfahrung einer ästhetischen Anmutung gewinnen. C.2.1.3 Zusammenfassung Die Interpretation der Motivik der Gravitation und des Klangs in „Entweder/Oder“ lässt die mehrstimmige Gestaltung der Schrift sichtbar werden: Mehrstimmigkeit, so die Arbeitsdefinition dieser Untersuchung, besteht darin, dass (mindestens) zwei literarische Figuren bzw. durch die Figuren personifizierte Stimmen innerhalb einer Schrift durch ihr Wechselspiel einen Gedanken erhellen. Der Ästhetiker und der Gerichtsrat bilden zwei entgegengesetzte Pole, weil sie zwei augenscheinlich entgegengesetzte Antworten auf die ihnen beiden bekannte Krise vortragen, die die Flüchtigkeit des Augenblicks unmittelbaren sinnlichen Erlebens auslöst159: Der Ästhetiker feiert 156
157 158 159
Die Gabe des „Weibes“, die Endlichkeit zu erklären, beschreibt der Gerichtsrat noch in einer weiteren Anekdote (EO 884ff. / SKS 3,291ff.). EO 457f. / SKS 2,379f.; s. o. S. 151ff. S. u. Anm. 235. Vgl. Abbildung 3.
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den Selbstverlust im sinnlichen Erleben von Musik160, der Gerichtsrat hält euphorische Reden über die Durchdringung von Außen und Innen in der sinnlichen Erfahrung der Musik.161 Der Ästhetiker plädiert für ein gefährliches Entschweben aus der Zeit in Ephemerie und Leichtigkeit162, der Gerichtsrat plädiert für einen Entschluss, der „sicheres“ Schweben in der Zeit ermögliche.163 Beide Figuren halten affirmative Plädoyers für ihren jeweiligen Standpunkt. Da aber der Gerichtsrat argumentativ dem Ästhetiker nichts entgegenzusetzen hat, verstärkt seine Rede – gegen seinen Willen – den Eindruck der existenziellen Aporie, welche der Ästhetiker vorträgt.164 Das Plädoyer des Gerichtsrats wird durch die Stimme des Ästhetikers mikrodialogisch165 unterwandert.166 Indem der Gerichtsrat Motive aufruft, die 160 161 162 163 164
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S. o. S. 145f. S. o. S. 146ff. S. o. S. 152ff. S. o. S. 154ff. Daher dürften die Beschwörungen des Gerichtsrats, der Ästhetiker möge sich selbst, seine Verzweiflung, und so das Absolute, welches das Selbst bzw. die Persönlichkeit in seiner bzw. ihrer ewigen Gültigkeit ist, wählen (EO 771 / SKS 3,205; EO 833 / SKS 3,253), kaum helfen. Denn der Ästhetiker kann die Existenz dieses Absoluten immer nur affirmieren, ohne die Erfahrung des Ästhetikers, in der es nichts Absolutes gibt, sondern nur flüchtige Augenblicke, je zu erreichen. (Der Gerichtsrat bezeichnet die Persönlichkeit als „archimedische[n] Punkt, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben kann“ [EO 833 / SKS 3,253], und greift so wiederum eine Formulierung aus dem Plädoyer des Ästhetikers auf, ohne auf dessen Gedankenführung auch nur einzugehen [vgl. EO 343 / SKS 2,284; s. o. S. 150].) Zum Begriff des „Mikrodialogs“ vgl. Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 301; s. o. Abschn. C.1.1.2. Vgl. zu der Auffassung, dass der Gerichtsrat in „Entweder/Oder“ keine überlegene Perspektive einnimmt, Kinter Rezeption und Existenz: Untersuchungen zu Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“, 3.93 u. a. Der Gerichtsrat wird außer in den erörterten Passagen noch an anderen Stellen offenkundig ironisiert. Deutlich wird dies z. B. am „Broterwerbsbeweis“, mit dem der Gerichtsrat die Unsterblichkeit der Seele beweisen zu können behauptet: „Es ist eines jeden Menschen Bestimmung, einen guten Broterwerb zu finden. Stirbt er, bevor er ihn findet, so hat er seine Bestimmung nicht erreicht […]. Findet er dagegen einen guten Broterwerb, so hat er seine Bestimmung erreicht; die Bestimmung eines guten Broterwerbs aber kann nicht die sein, daß er sterbe, sondern vielmehr, daß er von seinem guten Broterwerb gut lebe, ergo ist der Mensch unsterblich. Diesen Beweis könnte man den populären Beweis oder den Beweis aus dem Broterwerb nennen.“ (EO 850 / SKS 3,265; vgl. auch die despektierliche Rede vom „Broterwerb“ EO 871ff. / SKS 3,281ff.) Dass dieser „Broterwerbsbeweis“ die Argumentation des Gerichtsrats ironisiert, scheint mir offensichtlich zu sein. Dennoch sei hier bemerkt, dass „Broterwerb“ von Kierkegaard auch an anderen Stellen in einem abfälligen Sinne gebraucht wird: Der Broterwerb gilt Kierkegaard als ein relatives Ziel, welches vom Spießbürgertum
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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der Ästhetiker viel überzeugender verwendet, hebt er sein Plädoyer selbst aus den Angeln – ohne dass der Ästhetiker es auf der „Waage der Kritik“167 zu depotenzieren brauchte. Die Reden des Ästhetikers und des Gerichtsrats sind daher mehrstimmig im Sinne der genannten Definition, da ihre Polarität letztlich im Dienst der Darstellung dieser einen existenziellen Aporie steht.168 Durch diese Mehrstimmigkeit modifizieren beide Positionen einander wechselseitig. So ließe sich zwar sagen, dass das „Resultat“ der Mehrstimmigkeit in einer Affirmation einer der beiden Auffassungen besteht, d. h. in der negativistischen Auffassung des Ästhetikers. Jedoch verhält es sich nicht so, dass diese Mehrstimmigkeit letztlich durch die Streichung der einen Stimme auf die andere Stimme zurückfiele. Vielmehr wird die negativistische Position des Ästhetikers selbst durch die Mehrstimmigkeit dialektisch qualifiziert, indem der Versuch, die Position des Ästhetikers aufzuheben, dekonstruiert wird: Der Gerichtsrat vertritt die Auffassung, die negativistische Haltung des Ästhetikers sei eine Attitüde, gegen die der Ästhetiker sich zu entscheiden vermöchte, wenn er denn nur wollte. Dem Leser von „Entweder/Oder“ wird jedoch durch die mehrstimmige Interaktion der Schrift deutlich, dass der Gerichtsrat irrt. Denn der Versuch des Gerichtsrats, eine Alternative zur Haltung des Ästhetikers aufzuzeigen, scheitert. Durch das Scheitern der Negation der negativistischen Daseinshaltung des Ästhetikers wird deren Negativität nun dialektisch affirmiert, der Leser erfährt infolgedessen die Flucht des Ästhetikers vor dem Dasein als – zumindest innerhalb des Szenarios von „Entweder/Oder“ – unwiderstehlich und alternativenlos.169 167
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verabsolutiert wird: „In Dänemark, dem Gelobten Land des Broterwerbs, dreht alles sich um Broterwerb […] – denn nach einem Broterwerb zu streben, ihn zu bekommen und in ihm zu faulenzen, das ist das Sittliche.“ (GP 88f. / SKS 20,254 [NB 3,18]; vgl. GP 123 / SKS 21,322 [NB 10,129]; vgl. ferner GP 136 / Pap. X1 A 589; GP 137 / Pap. X1 A 619; GP 144 / Pap. X2 A 7). EO 525f. / SKS 3,15f.; s. o. S. 153. Ob diese Wirksamkeit des Textes von „Entweder/Oder“ von Kierkegaard intendiert war oder nicht, ist letztlich sekundär: Auch Pulmers Auffassung, dass das Plädoyer des Gerichtsrats gegen Kierkegaards Autorintention nicht zu überzeugen vermag (Pulmer Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaard „Entweder/Oder“, 161f.), ist mit der soeben vorgetragenen Interpretation grundsätzlich vereinbar. Unter Zuhilfenahme der „Wirkungsästhetik“ (s. o. Abschn. C.1.1.2) ließe sich also sagen, dass der Leser aus den konfliktuösen Perspektiven der beiden Protagonisten von „Entweder/Oder“ eine dritte Perspektive bildet, die von keiner der beiden (allein) intendiert war.
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In der Wiederholungs-Schrift findet das in „Entweder/Oder“ thematisierte Problem eine Fortführung. Constantin berichtet davon, dass er dem Wirt seiner Herberge in Berlin seine herzlichen Gratulationen anlässlich von dessen Vermählung ausdrückte, und daraufhin von diesem über die „ästhetische Gültigkeit der Ehe“170 belehrt wurde: Nachdem wir uns so verstanden hatten, ging er dazu über, die ästhetische Gültigkeit der Ehe zu beweisen. Das gelang ihm außerordentlich gut, ganz genauso gut, wie es ihm das vorige Mal gelungen war, die Vollkommenheit des Junggesellen zu beweisen. (W 25 / SKS 4,28 [Hervorhebung J. S.])
In dieser Andeutung spiegelt sich der oben am Text von „Entweder/ Oder“ aufgewiesene Sachverhalt wider: Der Gerichtsrat, so wurde gezeigt, kann gegenüber dem Ästhetiker nicht Recht behalten, weil er an neuralgischen Punkten in dessen Kategorien denkt. Dadurch jedoch wird der Gerichtsrat derselben Lächerlichkeit preisgegeben wie der Wirt, der bei dem einen Besuch des Constantin die Vollkommenheit des Junggesellen beweist, und bei dem anderen die „ästhetische Gültigkeit der Ehe“, und so die Deutung seiner Wirklichkeitserfahrung den Bedürfnissen seiner jeweiligen Lebenssituation anpasst. Im Folgenden wird erläutert, in welcher Weise die Aporie von „Entweder/Oder“ sich in der Wiederholungs-Schrift fortsetzt.
C.2.2 „Die Wiederholung“: Klang C.2.2.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren Die unter dem Pseudonym „Constantin Constantius“ herausgegebene Schrift „Die Wiederholung“ handelt vom Scheitern bzw. von der Unmöglichkeit der Wiederholung.171 Der Text gibt die Korrespondenzen und Gespräche zwischen einem jungen Mann („ungt Menneske“)172, der in einer Liebesgeschichte in eine verzweifelte Situation 170
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Der erste Abschnitt der Antwort des Gerichtsrats an den Ästhetiker ist mit diesen Worten betitelt (EO 525 / SKS 3,13). Constantin resümiert seinen gescheiterten Versuch der Wiederholung eines sinnlichen Erlebnisses prägnant: „Das einzige, was sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung.“ (W 44 / SKS 4,44) Es gibt Anlass zu der Vermutung, das Verhältnis des jungen Mannes zu Constantin Constantius könnte vom Verhältnis des Alkibiades zu Sokrates inspiriert sein. So wird Alkibiades in Kierkegaards Dissertation als „junge(r Mensch)“ („den Unge“ – Hirsch übersetzt vielleicht zurecht „der junge Mensch“) bezeichnet, der sich an Sokrates nahezu unauflöslich gebunden fühlt, und dem gegenüber sich Sokrates als Beobachter („Iagttager“) verhält (BI 197 / SKS 1,237), beides gilt auch in Bezug auf
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geriet, und Constantin Constantius, der den jungen Mann „berät“, wieder. Die Schrift ist durch ein subtiles literarisches Wechselverhältnis dieser beiden Charaktere gekennzeichnet: Auf der einen Seite unterscheiden sie sich deutlich voneinander. So stellt Constantin fest, er sei Prosaiker, der junge Mann hingegen Dichter.173 Auf der anderen Seite sind sie einander so ähnlich, dass die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Nicht nur werden sie in ähnlichen Metaphern dargestellt und nicht nur verkörpern sie sehr ähnliche Daseinshaltungen, Constantin erklärt sogar ausdrücklich, es scheine ihm zuweilen fast, er sei der junge Mann174, bis er schließlich einräumt, er habe den jungen Mann „entstehen lassen“ und sei dessen „Bauchredner“175. Das subtile Wechselverhältnis zwischen den Charakteren soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Als Ausgangspunkt dient ein Vergleich zweier Passagen, in denen Constantin Constantius Assoziationen anlässlich des Besuchs der Posse176 „Der Talisman“ vorträgt; in beiden 173
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das Verhältnis des Constantin zum „jungen Mann“ (vgl. zur Bezeichnung Constantins als Beobachter („Iagttager“) W 7 / SKS 4,12; vgl. zur Abhängigkeit des jungen Mannes von Constantin z. B. die in Anlehnung an Mozarts „Don Giovanni“ gestaltete Szene eines imaginierten vergeblichen Versuchs der Loslösung des jungen Mannes von Constantin W 64 / SKS 4,62 [s. u. S. 178f.]). Ein weiteres (allein nicht hinreichendes) Indiz für den hier angedeuteten Zusammenhang könnte darin gesehen werden, dass sowohl Constantin als auch Sokrates mit dem Begriff „Ataraxie“ charakterisiert werden (BI 219 / SKS 1,257; W 51 / SKS 4,51; das Wort Ataraxi[e] begegnet [in beiden Schreibweisen] in Kierkegaards Werk nur insgesamt zehnmal [vgl. McKinnon Index verborum til Kierkegaards samlede vaerker, The Kierkegaard Indices, Bd. 3, 67]). W 85 / SKS 4,85; s. u. S. 166. W 45 / SKS 4,45. Umgekehrt gibt der junge Mann seinem Empfinden Ausdruck, mit Constantin zu reden sei, als rede man mit sich selbst oder mit einer Idee (W 59 / SKS 4,58). W 93f. / SKS 4,94; s. u. S. 165. Dass es sich um eine „Posse“ und nicht um ein (ernstes) Theaterstück handelt, ist von wesentlicher Bedeutung: Das Theater besucht man, so Constantin, um „veredelt“ oder „gebildet“ zu werden (W 33 / SKS 4,34); der Theaterbesuch ist also von einer bestimmten konventionellen Rezeptionserwartung gesteuert. Mit der Posse hingegen lässt sich „ein solches Abkommen nicht schließen“ (W 33 / SKS 4,35), da die Posse ganz darauf beruht, dass der Zuschauer selbsttätig wird, d. h. sich Stimmungen hingibt, die von der Posse nicht vorgezeichnet sind. Insofern ist die Posse der geeignete Anlass für die Überlegungen des Constantin zur „Krypto-Existenz“ eines „jungen Menschen“, d. h. einer Existenz, die aus einer nie zur Ruhe kommenden Folge von Stimmungen bzw. nicht realisierten Möglichkeiten besteht (W 27ff. / SKS 4,30ff.; s. u. S. 167ff.): Wer (in rechter Weise) in eine Posse geht, der „wird sich, was seine Stimmungen betrifft […], in einem Zustand erhalten, in dem nicht eine einzige gegeben ist, wohl aber eine Möglichkeit zu allen.“ (W 34 / SKS 4,35)
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Passagen über Constantins Erinnerungen an dieses Erlebnis begegnet die Metaphorik des Klangs. Die erste Passage bezieht sich (in erster Linie) auf den jungen Mann177 (W 27ff. / SKS 4,30ff.), die zweite Passage (W 38ff. / SKS 4,39ff.) auf Constantin selbst. Zuvor jedoch soll der Konflikt beschrieben werden, in dem der junge Mann steht, und der den Anlass für die Schrift darstellt. Die Liebe des jungen Mannes ist verzweifelt, weil das von ihm verehrte Mädchen zur Muse wurde und der junge Mann dadurch – unwillentlich178 – zum Dichter. Er begann selbst das Mißverständnis zu begreifen, das junge angebetete Mädchen war ihm fast schon zur Last. Und doch war sie die Geliebte, die einzige, die er geliebt hatte, die einzige, die er jemals würde lieben können. Andererseits liebte er sie jedoch nicht; denn er sehnte sich nur nach ihr. Mit ihm selbst ging während dieser Zeit eine merkwürdige Veränderung vor sich. Es erwachte bei ihm eine dichterische Produktivität in 177
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Zwar sagt Constantin nicht ausdrücklich, dass er hier den jungen Mann beschreibt. Dass jedoch die im Folgenden zu erörternde Passage mit dem Satz „Es gibt wohl keinen jungen Menschen [ungt Menneske] […]“ beginnt, nachdem der junge Mann mit derselben Bezeichnung eingeführt worden war („ungt Menneske“; W 5 / SKS 4,11 u. a. [„Menneske“ bedeutet „Mensch“, „ungt Menneske“ jedoch kann „ein junger Mann“ bedeuten, vgl. Bork u. a. Dansk-Tysk Ordbog, 489]), ist aber bereits ein Indiz für den von mir angenommenen Zusammenhang. Auch beschreibt der junge Mann sein Welterleben mit Rückgriff auf die Metapher des „Schattens“ (W 71 / SKS 4,69), welche ebenfalls in den jetzt zu erörternden Passagen aus Constantins Feder eine wichtige Funktion in der Beschreibung des skizzierten Charakters einnimmt (vgl. W 27ff. / SKS 4,30ff.; s. u. S. 168). Weiterhin wird der junge Mann zu Beginn der Schrift mit einer Beschreibung eingeführt, die dem in der jetzt erörterten Passage dargelegten Charakterbild entspricht: „[…] [E]ine gewisse Kopfbewegung, ein Mutwille in seinen Äußerungen waren für mich ein sicheres Zeichen dafür, daß er [der junge Mann – J. S.] eine tiefere Natur war, die über mehr als ein Register verfügte, während eine gewisse Unsicherheit in der Modulation andeutete, dass er in dem verführerischen Alter war, in dem sich die Reife des Geistes ankündigt, ebenso wie die des Körpers in einer viel früheren Zeit dadurch, dass die Stimme oft überschlägt.“ (W 5f. / SKS 4,11) Das Bild einer musikalischen Klangbildung durch die Modulation verschiedener Stimmen begegnet in der sogleich zu erörternden Passage wieder (W 28f. / SKS 4,31). Auch darin, dass das „Krypto-Individuum“ und der junge Mann beide in Gegenwart eines Anderen laut sich selbst (reden) hören wollen (W 7 / SKS 4,12f.; W 29 / SKS 4,31f.), besteht eine Übereinstimmung zwischen den beiden. Der junge Mann sieht sich der Veränderung, die er erfuhr, so ausgeliefert wie einem „Nervenschlag“ („Nerveslag“; W 70 / SKS 4,69; vgl. W 72 / SKS 4,70). Constantin äußert später die Vermutung, dass der junge Mann, indem er auf ein „Gewitter“ warte, das ihn zum Ehemann machte, vielleicht auf einen „Nervenschlag“ („Nerveslag“; W 83 / SKS 4,83) warte. Schließlich trifft den jungen Mann die Nachricht von ‚ihrer‘ Verlobung „wie ein Schlag“ („Slag“). Die Nachricht kommt wie ein „Gewitter“ (W 86 / SKS 4,87) und bringt tatsächlich eine Wiederholung, jedoch eben nur eine scheinhafte (W 86ff. / SKS 4,87f.; s. u. S. 171).
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einem Maßstab, den ich nie für möglich gehalten hätte. Jetzt war für mich alles leicht zu begreifen. Das junge Mädchen war nicht seine Geliebte, sie war der Anlaß, der das Poetische in ihm weckte und ihn zum Dichter machte […]. Sie hatte viel für ihn bedeutet, sie hatte ihn zum Dichter gemacht, und gerade dadurch hatte sie ihr eigenes Todesurteil unterschrieben. (W 10 / SKS 4,15)
Das Mädchen ist für den jungen Mann also lediglich Anlass dafür, dass er seine Sehnsüchte auf sie projiziert; ebendies jedoch vermag er ihr nicht einzugestehen. Ihr die Verwechslung zu erklären, daß sie nämlich nur die sichtbare Gestalt war, während seine Gedanken, seine Seele etwas anderes suchten, was er auf sie übertrug, das hätte eine so tiefe Kränkung für das Mädchen bedeutet, daß sein Stolz sich dagegen empörte. (W 14 / SKS 4,18)
Dadurch, dass der junge Mann zum Dichter wird, verliert das Mädchen jede Bedeutung. Der Dichter lebt ganz in seiner Phantasie; was in der Wirklichkeit geschieht, geht ihn nichts mehr an. Wenn sie am Tag danach stürbe, das würde ihn nicht weiter stören, er würde keinen eigentlichen Verlust spüren; denn sein Wesen wäre in Ruhe. […] Das Mädchen ist […] keine Wirklichkeit, sondern ein Reflex der Bewegungen in ihm und deren Ansporn [Incitament179]. (W 56 / SKS 4,55)
Infolgedessen blieb es dem jungen Mann verwehrt, seine Liebe zu diesem Mädchen in der Zeit zu realisieren. Die Bewegung, die der junge Mann vollziehen müsste, ist die Bewegung der Wiederholung. Er müsste seine Dichterexistenz zum Exzess treiben und dadurch gleichsam ‚ausbluten‘ lassen; er müsste die entsetzlichen Konsequenzen zum Austrag kommen lassen, in die das Dichtersein führt (W 95 / SKS 4,95), den vollständigen Verlust des Selbst in der Projektion. Allein kraft einer dann möglichen dialektischen Bewegung, kraft eines ,Tötens des Todes‘180, hätte die verlorene Wirklichkeit wieder(ge)holt181 werden können. Constantin entwickelt einen Plan, der eben diesen Prozess in Gang setzen soll: Der junge Mann soll, so Constantin, vorgeben, ein Verhältnis mit einer von Constantin engagierten jungen Frau, einer Näherin, zu unterhalten. Auf diese Weise solle seine Beziehung zu dem Mädchen in ihrer gegenwärtigen Gestalt vernichtet werden, so dass es nach der Katastrophe zu einer Wiederholung der Beziehung – der Wiederholung der Zuneigung, die der Mann empfand, bevor er vollständig im Dichtersein aufging – kommen könne. 179 180 181
Vgl. EO 375 / SKS 1,297; s. o. Anm. 129. Vgl. W 9 / SKS 4,15; s. u. Anm. 261. Zur Etymologie des dänischen Wortes für „Wieder[-]holung“ („gjentage“) s. o. Anm. 117.
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Die Näherin war für ein Jahr engagiert, solange mußte das Verhältnis mit ihr aufrechterhalten werden, damit die Geliebte vollständig düpiert wurde. Während dieser Zeit sollte er zugleich daran arbeiten, seine Dichterexistenz möglichst zum Durchbruch kommen zu lassen. Gelang ihm das, so mußte eine redintegratio in statum pristinum zustande gebracht werden. (W 17 / SKS 4,21)
Diese Bewegung der Wiederholung, die sich ereignen müsste, ist nun aber „etwas Transzendentes“ (W 57 / SKS 4,57).182 Die Wiederholung erfordert, dass der, der sie vollziehen will, aus der Immanenz herausund über sich selbst hinausgelangt – dies aber vermag keiner der beiden Protagonisten (W 57f. / SKS 4,56f.). Die Transzendentalität der Wiederholung gründet darin, dass die Wiederholung das Dichtersein zu vernichten und zugleich die Liebe zum Mädchen zu bewahren hätte, obschon die Liebe doch vollständig im Dichtersein aufgegangen ist und folglich dann, wenn das Dichtersein zu Grunde geht, von diesem mitgerissen werden müsste. Diese Scheidung zwischen der Liebe – und inmitten der dichterischen Entwirklichung handelt die Wiederholungs-Schrift von einer wirklichen Liebe!183 – zum Mädchen und der Welt, mit der die Liebe untergehen müsste, wäre insofern eine transzendente Bewegung, als dass sich unter den Bedingungen der Welt Überweltliches zu ereignen hätte. Die in diesem Sinne „transzendente“ Wiederholung wäre die einzige Möglichkeit für den jungen Mann, die Liebe zur realisieren, doch ist sie ihm und seinem Vertrauten Constantin gleichermaßen unmöglich. Zwar weiß der junge Mann davon, dass die Wiederholung sich ereignen müsste, doch gelangt er, so Constantin, nur an die Grenze184 der Wiederholung als eines Wunders, das er genauso wenig zu vollziehen vermag wie Constantin. Er ist also an die Grenze des Wunders gekommen, und sofern es also geschehen soll, muß es kraft des Absurden geschehen. (W 56 / SKS 4,55)185
An der Grenze der Wiederholung und in – vergeblicher – Erwartung derselben steht der junge Mann, wie er selbst beschreibt, bewegungs182
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Vgl. zur Transzendentalität der Wiederholung Caputo „Kierkegaard, Heidegger, and the Foundering of Metaphysics“, 219. Mackey formuliert die Bedeutung der „Transzendenz“ der Wiederholung zutreffend mit einer Derridistischen bzw. Levinasschen Terminologie: „And repetition is always transcendence: the eruption of the other into the circuit of the same.“ (Mackey „Once more with Feeling: Kierkegaard’s Repetition“, 97) Eben an der Transzendenz der Wiederholung scheitert der junge Mann, der letztlich im ,Zirkel des Selben‘ verharrt (a. a. O., 107). So sagt Constantin vom jungen Mann, das Schwere an dessen Schicksal sei gewesen, „daß er das Mädchen wirklich liebte.“ (W 18 / SKS 4,22) Zur fundamentalen Bedeutung der „Grenze“ für die Ästhetik s. o. Abschn. C.1.2.2. Constantin stellt fest, dass er dem jungen Mann nicht helfen kann, denn er, Constantin, ist selbst zu einer religiösen Bewegung nicht imstande (W 58 / SKS 4,57).
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los „suspenso gradu“ (W 81 / SKS 4,81). Die abschließenden Betrachtungen werden zeigen, dass die erhellende Funktion der Wiederholungs-Schrift gerade darin besteht, den Punkt genau zu markieren, an dem die Wiederholung der Immanenz unverfügbar ist. Der Inhalt der Wiederholungs-Schrift ist also das Scheitern der Wiederholung. Die Form, in der dieses Scheitern dargestellt wird, ist geprägt von dem Kontrast zwischen dem Pseudonym Constantin Constantius und dem jungen Mann. So gibt Constantin zu verstehen, dass seine eigenen Äußerungen der „Beleuchtung“ des jungen Mannes dienen und bezeichnet seine eigenen Ausführungen gar, wie bereits erwähnt, als ‚Bauchrednerei‘ des jungen Mannes. […] [A]ber wenn Du, mein lieber Leser! genauer hinsiehst, wirst Du ohne Mühe erkennen, daß ich nur ein dienender Geist bin, und sehr weit davon entfernt, dem jungen Mann gegenüber gleichgültig zu sein, wie er befürchtet. Das war ein Mißverständnis, das ich veranlaßt habe, um ihn auch auf die Weise voranzubringen. Jede Bewegung, die ich gemacht habe, dient nur dazu, ihn zu beleuchten [at belyse ham]186; ich habe ihn ständig in mente gehabt, jedes Wort von mir ist entweder Bauchrednerei oder mit Bezug auf ihn gesagt. Selbst wo Scherz und Mutwille sich ganz ohne Bezug zu tummeln scheinen, ist auf ihn Bezug genommen, selbst wo alles in Schwermut endet, steckt ein Hinweis auf ihn, auf einen Zustand in ihm. Aus dem Grunde verlaufen alle Bewegungen rein lyrisch, und was ich sage, das soll man dunkel und unbestimmt so verstehen, daß es in ihm ist, oder man soll ihn mit Hilfe dessen, was ich sage, besser verstehen. So habe ich für ihn getan, was ich konnte, ebenso wie ich jetzt bestrebt bin, Dir zu dienen, lieber Leser, indem ich wieder ein anderer bin. (W 93 / SKS 4,94)
Constantin legt dar, er selbst werde gleichsam in seiner Funktion der Darstellung des jungen Mannes verbraucht und verschwinde in der Schrift, da überall vom jungen Mann zu lesen sei. Mein lieber Leser! Du wirst jetzt verstehen, daß das Interesse dem jungen Mann gilt, während ich eine verschwindende Person bin, ebenso wie eine Wöchnerin im Verhältnis zum Kind, das sie gebiert. Und so ist es auch; denn ich habe ihn gleichsam geboren, und führe deshalb als der ältere das Wort. Meine Persönlichkeit ist eine Bewußtseins-Voraussetzung, die notwendig ist, gerade um ihn hervorzuzwingen, wohingegen meine Persönlichkeit nie imstande sein wird, dahin zu kommen, wohin er kommt […]. Obgleich ich nun oft das Wort führe, […] so wirst Du doch überall von ihm lesen. (W 95f. / SKS 4,96)
Möglich wird dieses Verhältnis einer „Bauchrednerei“ durch eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen dem jungen Mann und Constantin: Beide sind außerstande, die Bewegung der Wiederholung zu vollziehen. Der Eindruck dieser Übereinstimmung auf Constantin ist, wie bereits er186
Vgl. die bereits erwähnte Formulierung Kierkegaards, Johannes de Silentio ‚beleuchte („belyser“) den Glauben negativ‘ (Pap. X6 B 79 / T V 385f.; s. o. Abschn. C.1.2.2).
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C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
wähnt, so stark, dass es diesem gar so vorkommt, als wäre er selbst der junge Mann – den er erst später eingesteht, erfunden zu haben. Wie beschämt fühlte ich mich, daß ich, der ich jenem jungen Mann gegenüber so schnell bei der Hand gewesen war, nun kein bißchen weiter gekommen war als er, ja es kam mir so vor, als wäre ich selbst jener junge Mann, als wären meine großen Worte, die ich nun um keinen Preis hätte wiederholen wollen, nur ein Traum, aus dem ich erwachte, um das Leben unaufhaltsam und treulos alles wieder nehmen: „wieder holen“ zu lassen, was es gegeben hatte, ohne eine Wiederholung zu geben. (W 45 / SKS 4,45)
Der Unterschied zwischen Constantin und dem jungen Mann besteht darin, dass der junge Mann Dichter ist, Constantin hingegen Prosaiker. Mein Freund ist Dichter, und einem Dichter ist dieser schwärmerische Glaube an die Frau wesentlich eigen. Ich bin, bei allem Respekt, Prosaiker. (W 85 / SKS 4,85) Der junge Mann, den ich habe entstehen lassen, er ist Dichter. Mehr kann ich nicht tun; denn ich kann es höchstens so weit bringen, daß ich mir einen Dichter denke und ihn durch mein Denken hervorbringe, selbst kann ich kein Dichter werden, wie denn auch meine Interessen anderswo liegen. (W 93 / SKS 4,93f.)
Kraft dieses Unterschieds zwischen Constantin und dem jungen Mann können unterschiedlichen Facetten der Konsequenzen zur Sprache gebracht werden, die die (gleiche) Erfahrung der Unmöglichkeit der Wiederholung zeitigt: Der junge Mann wird, genauer: bleibt nach der Erfahrung der gescheiterten Wiederholung (noch) Dichter, der leidenschaftlich und schwärmerisch um das Unwiederholbare, das unwiederbringlich Verlorene trauert und sich in seiner Trauer äußerst intensiv empfindet. Constantin ist Prosaiker, dem das Schwärmerische des jungen Mannes unverfügbar (geworden) ist, er hat „schon längst der Welt entschlagen“ (W 82 / SKS 4,83). Constantin weiß zwar um das Lustvolle des Selbstverlusts, jedoch weiß er überdies im Gegensatz zum jungen Mann auch, dass das Bleibende dieser Lust allein der Verlust ist. Nach außen scheinen die beiden Figuren einander entgegengesetzt zu sein, betrachtet man sie genauer, verkörpern sie die beiden Seiten des jungen Mannes als des – in Wahrheit verzweifelten – Dichters. Constantin bauchrednert dem jungen Mann in seiner eigenen Stimmlage, indem er die tödliche Verzweiflung als Unterton unter die oberflächlich euphorische Rede des jungen Mannes legt. Diese tödliche Verzweiflung, so wird in den nächsten Abschnitten deutlich, steht daher in engster Nähe zu dem augenscheinlichen Enthusiasmus des jungen Mannes. C.2.2.1 Die Motivik des Klangs in Bezug auf den jungen Mann Der junge Mann beschreibt den von ihm erlittenen Konflikt, indem er ausführt, die Wirklichkeit der Ehe, der gelebten Beziehung, bleibe für
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ihn „ein bloßer Schatten“. Der Grund, warum der junge Mann keine Ehe eingehen kann, ist, dass im selben Augenblick, da die Liebe – in der Ehe – Wirklichkeit werden soll, „alles verloren“ ist. Wenn sich die ganze Welt gegen mich erhöbe, wenn alle Scholastiker mit mir disputieren wollten, wenn es um mein Leben ginge, ich habe doch recht. Das lasse ich mir von niemandem nehmen, wenn es auch keine Sprache gibt, in der ich es zum Ausdruck bringen kann. Ich habe richtig gehandelt. Meine Liebe kann ihren Ausdruck nicht in einer Ehe finden. Täte sie es, so ist das Mädchen vernichtet. Vielleicht erschien ihr die Möglichkeit verlockend. Dafür kann ich nicht, das war sie auch für mich. Im selben Augenblick, in dem die Wirklichkeit eintritt, ist alles verloren, dann ist es zu spät. Diejenige Wirklichkeit, in der sie ihre Bedeutung haben soll, bleibt für mich ein bloßer Schatten, der neben meiner eigentlichen Geisteswirklichkeit herläuft, ein Schatten, der mich bald zum Lachen bringen wird, bald störend in meine Existenz eingreifen wird. Am Ende werde ich nach ihr greifen wollen, und dabei tasten, als griffe ich einen Schatten, oder als strecke ich meine Hand nach einem Schatten aus. (W 71 / SKS 4,69)
Die Unfähigkeit des jungen Mannes, seiner Liebe in der Wirklichkeit Ausdruck zu geben, sein Missverhältnis zur Wirklichkeit, die ihm „ein bloßer Schatten“ bleibt, wird durch Constantins Beschreibung der „Schattenexistenz“ des „Krypto-Individuums“ indirekt zur Sprache gebracht. Die komplexe und bildreiche Passage, in der Constantin die Schatten-Existenz v. a. mit der Metaphorik des Klangs beschreibt, soll im Folgenden erörtert werden. Der Ausgangspunkt der Selbstentfremdung des jungen Mannes ist, dass er von der Phantasie angesichts der überwältigenden Anmutung der Möglichkeiten187, für welche die künstliche Wirklichkeit des Theaters sinnbildlich steht, in einen Bann gezogen wird, von dem er sich nicht wieder zu lösen vermag. Diese Erfahrung ist eine Erfahrung des Selbst als eines in Möglichkeiten Zersplitterten, eines Selbst, das sich in eine Vielzahl von Schatten verflüchtigt, ohne jemals klare Konturen zu gewinnen. In der Phantasie, so legt Constantin im Rahmen seiner Betrachtungen über sein Erleben der Posse188 dar, lässt sich das Individuum davon hinreißen, sich selbst in virtuellen Möglichkeiten
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Diese kritische Erfahrung, die das Selbst mit der „Möglichkeit“ macht, die es konstituiert, arbeitet Kierkegaard später in „Der Begriff Angst“ heraus: „Angst läßt sich mit Schwindel vergleichen. Kommt jemand dahin, daß sein Auge in eine gähnende Tiefe hinuntersieht, so wird ihm schwindelig […]. So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten.“ (BA 64 / SKS 4,365) Zur Bedeutsamkeit der Tatsache, dass es sich um eine „Posse“ im Gegensatz zu einem ernsten Theaterstück handelt, s. o. Anm. 176.
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zu erleben, zu sehen und zu hören – ohne dabei indes mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen.189 Es gibt wohl keinen jungen Menschen [ungt Menneske] mit etwas Phantasie, der nicht irgendwann den Zauber des Theaters gespürt hätte und davon gefesselt wäre und sich nicht gern selbst von jener künstlichen Wirklichkeit hätte mitreißen lassen, um sich wie einen Doppelgänger selbst zu sehen und zu hören, sich in jeder nur erdenklichen Verschiedenheit von sich selbst zu zersplittern und dennoch so zu zersplittern, daß jede Verschiedenheit wieder man selbst ist. Natürlich äußert sich die Freude an solchen Dingen in einem sehr jugendlichen Alter. Nur die Phantasie ist zu ihrem Traum von der Persönlichkeit erwacht, alles andere schläft noch fest. In einer solchen Selbstanschauung der Phantasie ist das Individuum keine wirkliche Gestalt, sondern ein Schatten, oder richtiger, die wirkliche Gestalt ist unsichtbar anwesend, und begnügt sich nicht damit, einen Schatten zu werfen, sondern das Individuum ist eine Mannigfaltigkeit von Schatten, die ihm alle ähnlich sind, und die jeweils für einen Augenblick in gleicher Weise berechtigt sind, es selbst zu sein. Die Persönlichkeit ist noch nicht entdeckt, ihre Energie kündigt sich nur in der Leidenschaft der Möglichkeit an; denn es ist im geistigen Leben wie bei vielen Pflanzen – der Herztrieb kommt zuletzt. (W 27f. / SKS 4,30)
Constantin stellt die Begegnung des Individuums mit der eigenen Möglichkeit mit einem Bildwort dar, welches den Wind in einer Berggegend im Prozess seiner Selbstfindung porträtiert. Die Selbstfindung des Windes ereignet sich, indem der Wind die ganze Bandbreite seiner möglichen Modulationen erkundet, und diese schließlich in eine Melodie verschmelzen lässt. Wenn man in einer Berggegend den Wind tagein tagaus dasselbe Thema vortragen hört, so ist man vielleicht versucht, für einen Augenblick von der Unvollkommenheit zu abstrahieren, und sich insoweit an diesem Bild der Konsequenz und Sicherheit der menschlichen Existenz zu freuen. Man denkt vielleicht nicht daran, daß es einen Augenblick gegeben hat, da der Wind, der jetzt seit vielen Jahren zwischen diesen Bergen seine Behausung hat, als Unbekannter in diese Gegenden kam; sich verirrt, kopflos zwischen die Felswände in den Klüften stürzte, hinunter in die Berghöhlen; jetzt einen gellenden Schrei hervorbrachte, bei dem er fast selber stutzte, jetzt ein hohles Gebrüll, vor dem er selber floh, jetzt einen Klageton, von dem er selbst nicht wusste, woher er kam, jetzt einen Seufzer aus der Angst des Abgrundes, so tief, daß dem Wind selbst Bange wurde und er einen Augenblick zweifelte, ob er sich in diesen Gegenden zu wohnen traute, jetzt ein lyrisches übermütiges Hopsasa, bis er, nachdem er sein Instrument kennengelernt hatte, alles das zu der Melodie verschmolz, die er Tag für Tag unverändert vorträgt. (W 28 / SKS 4,31)
In dieser Weise entdeckt auch das Individuum seine Möglichkeiten. Anstatt jedoch als „bevollmächtigter Chorführer“190 diese Möglich189
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Zur Begründung der Annahme, dass in der folgenden Passage von dem jungen Mann die Rede ist, s. o. Anm. 177. Die Assoziation von Möglichkeiten einer Person mit „Tönen“, die bei Ausbleiben der Personwerdung in Ermangelung eines „Chorführers“ verhallen, begegnet bereits in Kierkegaards erster Veröffentlichung, seiner Rezension von Andersens „Nur ein Spielmann“ „[…] [D]agegen werden uns die Leser, wie wir hoffen, Recht-
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keiten in einer Melodie zu konzertieren, verirrt es sich in ihnen. Infolge seiner Verirrung und des Ausbleibens der Selbstwerdung bedarf das Individuum der experimentellen Gestaltung seines Selbst, d. h. der Inszenierung seiner Selbst vor anderen: Das Individuum will „sich selbst“ sehen und hören, jedoch „nicht wirklich sich selbst“, sondern die Projektion seiner selbst/seines Selbst, die an der Stelle eines wirklichen Selbst steht. So verirrt sich die Möglichkeit des Individuums in ihrer eigenen Möglichkeit, entdeckt bald die eine, bald die andere. Die Möglichkeit des Individuums will jedoch nicht nur gehört werden, sie braust nicht nur dahin wie die von Wind und Wetter, sie ist zugleich etwas Gestaltendes, deshalb will sie zugleich gesehen werden. Jede Möglichkeit des Individuums ist daher ein tönender Schatten. Das Krypto-Individuum glaubt ebensowenig an die großen lärmenden Gefühle, wie an das schlaue Flüstern der Bosheit, ebensowenig an den seligen Jubel der Freude, wie an das unermeßliche Seufzen der Trauer; das Individuum will nur pathetisch sehen und hören, aber wohlgemerkt, sich selbst. Doch will es nicht wirklich sich selbst hören. Das geht nicht an. Im selben Augenblick kräht der Hahn, und die Gestalten der Dämmerung fliehen, die nächtlichen Stimmen verstummen. Bleiben sie, so sind wir auf einem ganz anderen Gebiet, wo alles das unter der beängstigenden Aufsicht der Verantwortung vor sich geht, so sind wir beim Dämonischen. Um nun hier keinen Eindruck von seinem wirklichen Selbst zu bekommen, verlangt das Krypto-Individuum eine Umgebung, die leicht und flüchtig ist, wie die Gestalten es sind, wie das schäumende Brausen der Worte es ist, die ohne Widerhall ertönen. (W 28f. / SKS 4,31)
Die Stimmen, d. h. die Möglichkeiten, müssen am Tage, d. h. in der Bewusstwerdung, der Identität des Selbst untergeordnet werden. Bleiben hingegen diese Stimmen, d. h. die nicht ins Selbst gewählten Möglichkeiten, noch nach dem Ende der Nacht, d. h. unterbleibt dieser Prozess der (Aus)Wahl von Möglichkeiten als Konzertierung eines bestimmten Selbst, dann tritt das Dämonische ein: Das „Selbst“, das kein Selbst wird, bleibt beherrscht von Möglichkeiten, die nicht mit der konkreten (Lebens)Wirklichkeit des Selbst in Berührung kommen. Die Umwelt muss infolgedessen in einem Zustand der Künstlichkeit, Leichtigkeit und Flüchtigkeit gehalten werden, weil die Umwelt andernfalls die Möglichkeiten mit der Wirklichkeit konfrontie-
geben in der allgemeineren Beobachtung, daß Andersen in seiner Lyrik nicht gekennzeichnet ist als ein durch ein tiefes Gemüt bevollmächtigter Chorführer einer größeren Ganzheit […] – sondern weit eher als eine Möglichkeit zu einer Persönlichkeit; diese Möglichkeit seiner Persönlichkeit bewegt sich durch eine Reihe von auf einer elegischen Duodez-Skala ebenso leicht aufgeweckten wie wieder gedämpften und ohne sonderlichen Nachklang dahinsterbenden Tönen, ist durch ein solches Gewebe von zufälligen Stimmungen gefesselt und bedarf, um wirklich Persönlichkeit zu werden, einer starken Lebensentwicklung.“ (ES 55f. / SKS 1,25f. [Hervorhebung J. S.])
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ren würde. Das Porträt der Schattenexistenz, des Krypto-Individuums, welche den jungen Mann zu illustrieren scheint, wird nun noch in einem weiteren Bild vertieft. Unter den Schatten, in denen es sich selbst entdeckt, deren Stimme seine Stimme ist, befindet sich vielleicht ein Räuberhauptmann. Es muß sich selbst in diesem Spiegelbild erkennen; die männliche Gestalt des Räubers, sein schneller und doch durchbohrender Blick, die Schrift der Leidenschaft in seinem zerfurchten Gesicht, alles muß dasein. Er muß am Bergpaß auf der Lauer liegen, er muß auf die Bewegung der Reisenden horchen, er muß in die Pfeife stoßen, die Bande herbeistürzen; seine Stimme muß den Lärm übertönen; er muß grausam sein; alles niederhauen lassen, und sich gleichgültig davon abwenden, er muß dem verängstigten Mädchen gegenüber ritterlich sein usw. usw. Ein Räuber ist ja im finsteren Wald zu Hause. Würde man jenen Helden der Phantasie in einen solchen versetzen, ihm alles Zubehör mitgeben und ihn nun bitten, sich nur solange ruhig zu verhalten, bis man sich ein paar Meilen von ihm entfernt hätte, damit er sich dann ganz seinem leidenschaftlichen Rasen hingeben könnte – dann, so denke ich, bliebe er vollständig stumm. (W 29 / SKS 4,31f. [Hervorhebungen J. S.])
Für diesen Räuberhauptmann stellen die von ihm überfallenen Reisenden die Schauspielbühne für seine Selbstinszenierung dar. Der Hauptmann spiegelt sich in der Reaktion der Überfallenen auf sein Auftreten. Er ist nur hörbar, indem er sie übertönt, während er für sich allein stumm bleiben müsste, da er kein autonomes Individuum ist. Er kann nur auf dem Resonanzboden der Außenwelt sein phantastisches Selbst erklingen lassen. Das Lärmen, in welchem sein Selbst Ausdruck findet, gibt es nur in Abhängigkeit von dem Außen als der Projektionsfläche seiner Selbstdarstellung. Das Außen reflektiert aber nicht das „Selbst“ des Räuberhauptmanns, denn ein „Selbst“ müsste es auch unabhängig von dem Außen geben.191 Stattdessen lässt die Resonanz den virtuellen, augenblicklichen Schatten eines Selbst wahrnehmbar werden, welches paradoxerweise nur in diesen Schatten existiert, also nie als Entität greifbar wird, die diese Schatten zuallererst geworfen hat. Die von ihm projizierte Welt hält das Krypto-Individuum für größer und großartiger als die Wirklichkeit und vermag doch über sie zu verfügen, sie auszufüllen und sie mit seiner Stimme zu durchdringen. Jener Räuber würde den Maßstab vermutlich zu groß und doch in einem anderen Sinne zu klein finden. Nein, man male ihm eine Kulisse mit einem Baum, man hänge eine
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Auch der Ästhetiker beschreibt die Außenbeziehung, die in seinem sinnlichen Erleben von Klang stattfindet, als eine Entäußerung ohne Wiederkehr, d. h. eine Entäußerung, die nicht dialektisch in einer Vermittlung mit dem Außen aufgehoben wird (s. o. S. 145) – der Gerichtsrat fordert hingegen eine ebensolche Vermittlung (s. o. S. 146ff.).
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Lampe davor, die die Beleuchtung noch eigenartiger macht, und dieser Wald ist dennoch größer als jener wirkliche, größer als die Urwälder Nordamerikas, und doch kann er ihn mit seiner Stimme durchdringen, ohne heiser zu werden. Das ist die sophistische Freude der Phantasie, in dieser Weise die ganze Welt in einer Nußschale zu haben, die größer ist als die ganze Welt, und doch nicht so groß, daß das Individuum sie nicht auszufüllen vermöchte. (W 30 / SKS 3,32 [Hervorhebung J. S.])
Mit diesen Variationen der Motivik des Klangs wird die Krypto-Existenz des jungen Mannes als Existenz eines Dichters, der sich in einer Vielfalt unrealisierter Möglichkeiten verloren hat, anschaulich gemacht. An dieses Psychogramm des jungen Mannes klingen dessen letzte Worte an: Der junge Mann muss schließlich erfahren, dass das Mädchen sich verheiratet hat. Die Folge ist, dass der junge Mann sich selbst zurückerhält, d. h. sich selbst als Dichter, als Menschen, der nicht der Wirklichkeit angehört, sondern sich dem Rausch und dem Flug des Gedankens in das Unendliche hingibt. Zwar trägt der junge Mann seine Entscheidung mit jubelnden Sprachgesten vor, doch können diese kaum über die dahinterliegende tiefe Verzweiflung hinwegtäuschen: Das Selbst, das der junge Mann „wieder“ ist, würde man „nicht von der Landstraße aufheben“. Sie ist verheiratet […]. Ich bin wieder ich selbst; hier habe ich die Wiederholung […]. Ich bin wieder ich selbst. Dieses „Selbst“, das ein anderer nicht von der Landstraße aufheben würde, nenne ich wieder mein eigen. […] Es ist vorbei, die Jolle ist flott, in der nächsten Minute bin ich wieder fort, wo das Trachten meiner Seele war, dort, wo die Ideen in elementarem Toben brausen, wo die Gedanken lärmend aufstehen wie die Nationen in der Völkerwanderung, dort, wo zu anderer Zeit Stille herrscht wie das tiefe Schweigen der Südsee, eine Stille, in der man sich selbst reden hört, wenngleich die Bewegung nur im eigenen Inneren vor sich geht; dort, wo man jeden Augenblick das Leben einsetzt, es jeden Augenblick verliert und wieder gewinnt. Der Idee gehöre ich. Wenn sie mir winkt, dann folge ich, wenn sie mir ein Stelldichein gibt, dann warte ich Tage und Nächte hindurch, niemand ruft mich zum Mittagessen, niemand wartet mit dem Abendessen. Wenn die Idee ruft, verlasse ich alles […]. Es lebe der Flug des Gedankens, es lebe die Lebensgefahr im Dienst der Idee, es lebe die Not des Kampfes, es lebe der festliche Jubel des Sieges, es lebe der Tanz im Wirbel des Unendlichen, es lebe der Wellenschlag, der mich über die Sterne emporschleudert. (W 86ff. / SKS 4,87f.)192
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Diese Passage ist in „Entweder/Oder“ bereits vorschattiert: „Könnte ein anderer meine Seele in diesem Zustand sehen, würde es ihm scheinen, daß sie wie eine Jolle sich mit der Spitze ins Meer hineinbohrte […]. Er sieht nicht, daß oben im Mast ein Matrose auf dem Ausguck sitzt. Wallt auf, ihr wilden Kräfte […], mag euer Wellenschlag den Gischt auch zum Himmel emporschleudern, ihr vermögt dennoch nicht euch über mein Haupt zu türmen […].“ (EO 377 / SKS 2,314 [Hervorhebungen J. S.]) Das Motiv des „Segelns“ steht auch bei Johannes dem Verführer an exponierter Stelle (vgl. EO 500f. / SKS 2,415; EO 458 / SKS 2,380; s. o. S. 152).
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Hier begegnet eine Reihe von Motiven wieder, die bereits in der Beschreibung der Krypto-Existenz verwendet wurden.193 Wiederum dient die Motivik des Klangs der Beschreibung – nun der Selbstbeschreibung – des jungen Mannes: Der junge Mann oszilliert zwischen dem Lärmen der Gedanken und der Stille, in der er nur sich selbst reden hört, ohne dass seine Stimme in der Wirklichkeit erklänge. Wiederum wird also der Bruch mit der wirklichen Außenwelt beschrieben, indem dargelegt wird, dass im Lärmen wie im Schweigen keine Berührung mit der wirklichen Außenwelt stattfindet, da die Außenwelt von den Projektionen der dichterischen Phantasie des jungen Mannes, vom Sturm seiner inneren Stimmen übertönt wird. C.2.2.2 Die Motivik des Klangs in Bezug auf Constantin Constantius Die Motivik des Klangs drückt in der Darstellung des jungen Mannes aus, wie dieser sich auf Grund der Erfahrung, dass Wiederholung unmöglich ist, in einer „schlechten“ Unendlichkeit nicht realisierter Möglichkeiten verflüchtigt. Nun ist zu zeigen, dass mit der Motivik des Klangs in Bezug auf Constantin Constantius die letzte Konsequenz ausgedrückt wird, die dieser aus der Erfahrung der Unmöglichkeit der Wiederholung zieht: Constantin flieht nicht in eine künstliche Lebendigkeit, sondern in den Tod. Es handelt sich bei der Haltung des jungen Mannes und der des Constantin nicht um entgegengesetzte Konsequenzen aus der Unmöglichkeit der Wiederholung, sondern um verschiedene Aspekte des Verfalls der an der Unmöglichkeit der Wiederholung verzweifelnden Existenz: Der junge Mann begehrt gegen die Unmöglichkeit verzweifelt auf – obschon sein verzweifeltes Rasen von Momenten tödlicher Resignation durchsetzt ist (W 70 / SKS 4,68) und obschon er ankündigt, sich ‚tot zu stellen‘, sollte die Wiederholung ausbleiben, auf dass er lebendig begraben werden könne.194 Constantin verkörpert die tödliche Resignation als das (im Gegensatz zur Lust am Selbstverlust) bleibende, „konstante“ Moment des verzweifelten Aufbegehrens gegen die Zeitlichkeit des Daseins. Nachdem das Theater dem Constantin Constantius als Illustration der Not des jungen Mannes gedient hat, beschreibt Constantin nun sich selbst, wiederum in Bezug auf das Erleben des Theaterbesuches. In diesem Bericht be193
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Ferner begegnen Motive, die aus der Beschreibung des Ästhetikers bekannt sind, v. a. das Motiv des Entschwebens in die Unendlichkeit (s. o. S. 150ff.). W 82 / SKS 4,81. – An anderer Stelle stellt der junge Mann fest, Constantin sei „lebendig eingemauert“ (W 60f. / SKS 4,59f.).
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gegnet – zunächst implizit, dann explizit – die Motivik von Lebensmüdigkeit, Sterben und Tod, die in der Wiederholungs-Schrift insgesamt eine dominante Stellung einnimmt.195 Constantin beschreibt sein Erleben des Theaters als Eintauchen in einen Fluss, der ihn sich selbst vergessen lässt und ihn von sich selbst befreit. Man betritt das Königstädter Theater. […] [D]as Orchester spielt eine Ouvertüre, die Musik hallt durch den Raum, etwas unheimlich, gerade weil es so menschenleer ist. […] Das Orchester ist fertig, da beginnt jenes andere Orchester, das nicht dem Taktstock des Dirigenten, sondern einem inneren Trieb folgt, jenes andere Orchester, der Naturlaut der Galerie, die B.[eckmann] schon hinter den Kulissen erahnt hat. […] Überall, wohin ich sehen konnte, herrschte größtenteils Leere, der große Raum des Theaters verwandelte sich für mich in den Bauch des Meeresungeheuers, in dem Jonas saß; der Lärm in der Galerie war wie die Bewegung der viscera des Ungeheuers. […] Mein unvergeßliches Kindermädchen, du flüchtige Nymphe, die in dem Bach wohnte, der am Hof meines Vaters vorbeifloß, und die stets hilfreich am Spiel des Kindes teilnahm, wenngleich du dich um dich selber kümmertest! Du meine treue Trösterin, die du, während die Jahre vergingen, deine unschuldige Reinheit bewahrtest; nicht älter wurdest, während ich alt geworden war; du stille Nymphe, zu der ich wieder Zuflucht nahm, der Menschen müde, meiner selbst müde, so daß ich eine Ewigkeit brauchte, um mich auszuruhen, so daß ich eine Ewigkeit brauchte, um zu vergessen. Du versagtest mir nicht, was die Menschen mir versagen wollten, indem sie die Ewigkeit ebenso betriebsam und noch schrecklicher machten als die Zeit. So lag ich neben dir und verlor mich im ungeheuren Raum des Himmels über mir, und vergaß mich selbst in deinem besänftigenden Murmeln! Du mein glücklicheres Selbst, du flüchtiges Leben, das in dem Bach wohnt, der am Hof meines Vaters vorbeifließt, wo ich hingestreckt liege, als wäre meine Gestalt ein niedergelegter Wanderstab, während ich bei dem wehmütigen Rieseln erlöst und befreit bin! – So lag ich in meiner Loge, weggeworfen wie die Kleider eines Badenden, hingestreckt an diesem Strom des Lachens und des Übermuts und des Jubels, der 195
Ursprünglich endete die Schrift – möglicherweise im Anklang an „Werthers Leiden“ (so Mackey „Once more with Feeling: Kierkegaard’s Repetition“, 115) – mit dem Selbstmord des jungen Mannes (vgl. hierzu Garff Kierkegaard, 292f.). Kierkegaard ändert das Ende von „Die Wiederholung“, als er von Regines Verlobung erfährt (a. a. O., 293). Garff vertritt die Auffassung, „Die Wiederholung“ hätte ursprünglich eine Wiederholung des Verhältnisses zu Regine beschreiben sollen, nachdem eine solche Wiederholung aber unmöglich geworden sei, habe Kierkegaard die Intention der Schrift dahingehend verändert, dass nun die Wiederholung, um die es in der Schrift gehen solle, „nicht eine Wiederholung des Verhältnisses zu der Frau, Regine, [sei,] sondern eine religiöse Wiederholung, die die Wiedergewinnung des Menschen als seiner selbst möglich macht.“ (A. a. O., 293) Die Frage wäre allerdings zu stellen, ob es sich hierbei für Kierkegaard tatsächlich um exklusive Alternativen handelt, oder nicht vielmehr um verschiedene Perspektiven auf das gleiche fundamentale Problem der Wiederholung. Denn Wiederholung scheint doch gleichermaßen für das Gelingen des Verhältnisses des Selbst zu sich selbst und für das Gelingen des Verhältnisses des Selbst zum anderen von entscheidender Bedeutung zu sein – und hier wie dort auf Grund ihrer „Transzendentalität“ (s. o. Anm. 182) eine religiöse Bewegung darzustellen.
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unaufhörlich an mir vorüberbrauste; ich sah nichts außer dem Raum des Theaters, hörte nichts als den Lärm, in dem ich verweilte. Nur dann und wann erhob ich mich, sah Beckmann zu und lachte mich so müde, daß ich neben dem brausenden Fluß ermattet wieder hinsank. (W 38ff. / SKS 4,39ff.)196
Constantin beschreibt sich selbst als so müde, dass er eine Ewigkeit bräuchte, um sich auszuruhen. Erquicklich angesichts seiner Lebensmüdigkeit ist für Constantin allein der Zustand der hörsinnlichen Rezeptivität197: Er erinnert sich an einen Bach, dessen Rieseln und Murmeln er als Kind hörte, und vergleicht diesen Bach implizit mit dem Fluß des Lärms im Theater, dem er sich hingibt. Diesen Zustand hörsinnlicher Rezeptivität erlebt er wie ein Einverleibtwerden in den Raum des Theaters, den er mit dem Bauch des Meerungeheuers vergleicht, das Jonas verschluckt hatte. Anknüpfend an diese Beschreibung lustvollen Verzehrtwerdens berichtet Constantin, dass er ein Mädchen zu beobachten pflegt. Die Wonne dieses Erlebnisses lässt in ihm jenen Wunsch keimen, der sich in der lustvollen Erfahrung des Selbstverlusts bereits andeutete: den Wunsch zu sterben. Wenn Constantin Schlaflosigkeit – und wohl die damit verbundene Reflexion, die den Schlaflosen überfällt, und die er wie eine „Operation“ erlebt – fürchtet, dann macht er sich auf, ein junges Mädchen zu beobachten. Der Anblick des Mädchens wiederum weckt in ihm die Begierde, zu schlafen und tot zu sein, befreit von der Last der Reflexion. Die ausführliche Beschreibung der Morgenstimmung, die herrscht, wenn Constantin das Mädchen beobachtet, mündet darin, dass von einem „Schnitter“ die Rede ist, der seine Klinge schleift. Der Klang des Schleifens wird, so Constantin, zum „Kehrreim des Tages“. Offensichtlich ist bereits an dieser Stelle der Gedanke an den Tod, den der „Schnitter“ („Høstkarlen“198) symbolisiert, vorbereitet. Schließlich äußert Constantin seinen Todeswunsch unmittelbar. Dieser Todeswunsch ist offensichtlich mit der Erfahrung der Rezeptivität gegenüber dem sinnlichen Erleben des Theaters verbunden: Vermittels der Klangmotivik wird die Todesmetaphorik hier erneut mit der hörsinnlichen Rezeptivität als einer Flucht vor der Wirklichkeit verknüpft. 196
197 198
Vgl. zum Motiv des Selbstverlusts in der Erfahrung vollkommener hörsinnlicher Rezeptivität EO 126 / SKS 2,107f. (hier begegnet ebenfalls das Motiv des „Bachs“, in dem das Selbst verströmt [s. o. S. 145]), vgl. ferner EO 101 / SKS 2,89; EO 105 / SKS 2,92; EO 123f. / SKS 2,105f. S. o. Anm. 131. „Høstkarlen“ personifiziert – wie der „Schnitter“ im Deutschen – den Tod (vgl. Danske Sprog- og Litteraturselskab [Hg.] Ordbog over det Danske Sprog, Bd. 8, 1296).
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Ich weiß, wo einige Meilen von Kopenhagen entfernt ein junges Mädchen wohnt; ich kenne den großen schattigen Garten mit den vielen Bäumen und Büschen. […] Wenn nun meine Seele schlaflos ist, und der Anblick des Bettes mich mehr ängstigt als eine Foltermaschine, mehr als der Kranke den Operationstisch fürchtet, denn fahre ich die ganze Nacht hindurch. […] Früh am Morgen liege ich im Gestrüpp versteckt. Wenn das Leben sich zu regen beginnt, wenn die Sonne ihr Auge aufschlägt, wenn der Vogel mit den Flügeln schlägt, wenn der Fuchs aus seiner Höhle ins Freie schleicht, wenn der Bauer in der Tür steht und aufs Feld hinausblickt, wenn die Melkerin mit ihrem Eimer die Weide hinuntergeht, wenn der Schnitter die Sense klingen läßt und an diesem Vorspiel seine Freude hat, das zum Kehrreim des Tagewerkes wird, – dann erscheint auch das junge Mädchen. Wenn man doch schlafen könnte! Wenn man doch leicht schlafen könnte! So daß nicht gerade der Schlaf zu einer schwereren Last würde als die Last des Tages! […] Wenn man doch so sterben könnte, daß selbst das Sterbebett im selben Augenblick, in dem man von ihm fortgetragen würde, einladender aussähe, als hätte sich eine sorgsame Mutter an dem Bett zu schaffen gemacht und darüberhingeblasen, damit das Kind ruhiger schliefe. Da erscheint das junge Mädchen, da geht sie voller Verwunderung umher, (wer wundert sich mehr, das Mädchen oder die Bäume!) da hockt sie sich hin und pflückt von den Büschen, da hüpft sie leicht umher, da bleibt sie gedankenvoll stehen. Was für eine wunderbare Überredung liegt in dem allen! Da findet meine Seele endlich Ruhe. (W 41f. / SKS 4,42)199
Die leidvolle Erfahrung des Constantin besteht darin, dass sich ein wonnevoller Selbstverlusts dieser Art, der Selbstverlust im Genießen des Theaterbesuchs, nicht wiederholen lässt, dass also seine Hoffnung, der Genuss sei von dauerhafter Art, an der Wirklichkeit abprallt (W 42 / SKS 4,42). Die tödliche Resignation angesichts der Unmöglichkeit der Wiederholung des lustvollen Selbstverlusts ist durch die Anspielung an den „Schnitter“ in die Beschreibung der Erfahrung des Selbstverlusts eingewoben. Wiederholbar, so lautet die Zusammenfassung der resignativen Erkenntnis des Constantin, ist nur die Erfahrung, dass es keine Wiederholung gibt (W 44 / SKS 4,44f.). Während in der „Wechselwirtschaft“ des Ästhetikers die Flucht vor der Wirklichkeit zumindest dem Anschein nach gelingt, wird Constantin gerade von der Macht sinnlicher Lusterfahrung im Stich gelassen, die ihn von der Lebensmüdigkeit angesichts der Mühen der Reflexion befreien könnte. Konstant erscheint ihm an der Lust allein der Lustverlust. Diese leidvolle Erfahrung, dass im Dasein Zufriedenheit unmöglich ist, liegt dem Todeswunsch des Constantin zugrunde, der bereits an einigen Stellen anklang. Angesichts der radikalen Vergänglichkeit des Augen199
Die Beschreibung erinnert an die Szenen, in denen der Ästhetiker und der Gerichtsrat eine Frau beobachten (EO 457f. / SKS 2,379f.; EO 882ff. / SKS 3,290f.; s. o. S. 151f.156ff.), nur ist dem Ästhetiker die Leichtigkeit des Mädchens eine Inspiration und ein Ausdruck von Leben, Constantin hingegen verbindet mit dem Anblick des Mädchens die Sehnsucht nach dem Tod.
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blicks, angesichts der Erfahrung, dass alles im Strom der Zeit fortgerissen wird, formuliert Constantin eine Hymne an den Tod. Der Tod habe mehr Überzeugungskraft als das Leben, genauer: Verglichen mit dem Tod habe das Leben überhaupt keine Überzeugungskraft. Lebewohl! Lebewohl! Du reiche Hoffnung der Jugend, warum hast du es so eilig; dasjenige, wonach du jagst, gibt es ja doch nicht, dich selbst ebensowenig! Lebewohl, du männliche Kraft! Warum trittst du so kräftig auf, der Erdboden, auf den du trittst, ist nur Einbildung! […] Fahre darin! Du flüchtiger Fluß! Der einzige, der wirklich weiß, was er will; denn du willst nur fließen, dich im Meer verlieren, das niemals voll wird! Fahre fort, du Schauspiel des Lebens, das niemand eine Komödie nenne, und niemand eine Tragödie, da niemand das Ende gesehen hat! Fahre fort, du Schauspiel des Daseins, wo das Leben nicht zurückgegeben wird, ebenso wenig wie das Geld! Weshalb ist nie jemand von den Toten zurückgekehrt? Weil das Leben nicht zu fesseln versteht, wie der Tod es versteht, weil das Leben nicht die Überzeugungskunst hat, wie der Tod sie hat. Ja, der Tod überredet ganz ausgezeichnet, wenn man ihm nur nicht widerspricht, sondern ihn das Wort führen lässt, dann überzeugt er im selben Augenblick, so daß nie jemand ein Wort einzuwenden gehabt hat oder sich nach der Redegewandtheit des Lebens gesehnt hätte! Oh! Tod! Groß ist deine Überredungskunst, und nächst dir gibt es niemanden, der so schön redet wie ein Mann, dessen Redegewandtheit ihm den Namen πεισινατος eingetragen hat, weil er mit der Kraft der Überredung von dir sprach! (W 49f. / SKS 4,49)200
Damit ist der Zustand metaphorisch beschrieben, in dem Constantin Constantius sich insgesamt befindet: Er hat vollständig resigniert angesichts der Flüchtigkeit des exaltierten Welterlebens und wünscht sich den Tod. So beschreibt der junge Mann umgekehrt auch Constantin als einen Menschen, der „lebendig eingemauert“ zu sein scheint (W 60f. / SKS 4,59f.). Ihr Plan war ausgezeichnet, ja einzigartig. […] In dieser Weise sein ganzes Leben um eines einzigen Mädchens willen abzuschließen! Einen Schurken, einen Betrüger aus sich zu machen, nur um zu zeigen, wie hoch man sie schätzt, denn für etwas Unbedeutendes opfert man nicht seine Ehre! Sich selbst zu brandmarken, sein Leben zu verpfuschen! Das Werk der Rache zu übernehmen und es ganz anders zu vollenden, als das leere Geplauder der Menschen es vermag! In dieser Weise ein Heros zu sein, nicht in den Augen der Welt, sondern bei sich selbst, sich den Menschen gegenüber auf nichts berufen zu 200
Der kyreanische Philosoph Hegesias (um 300 v. Chr.), der den Beinamen „πεισινατος“ trug, verneinte die Möglichkeit des Genusses in diesem Leben und sprach so überzeugend vom Elend der Menschen, dass diese sich zum Tode überredet fanden (vgl. W 190). So heißt es über ihn: „Hegesias lehrte seine Grundsätze zu Alexandrien, bis ihm von Ptolemäus das Lehren untersagt wurde, weil er in einem Buche, welches den Titel führte ποκαρτερων, und in seinen öffentlichen Vortra(e)gen das Elend des menschlichen Lebens so eindringlich schilderte, daß viele mit Verdruß und Eckel gegen das Leben erfüllt wurden. Er bekam daher den Namen Πεισινατος.“ (Tennemann Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 106; vgl. SKS 4K,57) Der zitierte Band befand sich in Kierkegaards Besitz (vgl. Søren Kierkegaard Gesellschaft [Hg.] Katalog over Søren Kierkegaards Bibliothek, 62).
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können, sondern, lebendig eingemauert in seine Persönlichkeit, in Gestalt seiner selbst seinen eigenen Zeugen, seinen eigenen Richter, seinen eigenen Ankläger, und zwar in Gestalt seiner selbst den einzigen, zu haben! (W 60f. / SKS 4,59f.)201
Die Todesmetaphorik begleitet die Wiederholungs-Schrift wie der Kehrreim des Schnitters, dessen Arbeit Constantin mit so viel „Enthusiasmus“ hört. Der Kehrreim der Todesmetaphorik in der Darstellung des Constantin unterlegt die Darstellung des jungen Mannes gleichsam mit einer zweiten Stimme: Constantin Constantius verkörpert die „Einförmigkeit“ und die „Abstumpfung“, die eintritt, wenn das Selbst in der Suche nach Zerstreuungen verloren geht und keinen Weg zu sich zurückfindet (W 50 / SKS 4,50); Constantins Vorschlag ist durchdacht, so der junge Mann, er redet die Wahrheit – „aber es ist eine Wahrheit, als ob die Welt tot wäre, so kalt und konsequent ist sie“. (W 62 / SKS 4,61) Die Konstanz und die Konsequenz des Constantin sind die Gleichförmigkeit eines Menschen, für den die Welt gestorben ist. C.2.2.3 Zusammenfassung In den beiden erörterten Passagen, in denen Constantin Assoziationen ausgehend von seiner Erinnerung an einen Theaterbesuch vorträgt, begegnet das Motiv des Klangs. Die Pointe liegt dabei in der jeweils verschiedenen Nuancierung dieses Motivs: Die Verzweiflung des jungen Mannes kommt in der Ersten der beiden Passagen202 in der bildreichen Darstellung von dessen Existenz als einer KryptoExistenz zum Ausdruck. Diese vollständig entäußerte Krypto-Existenz ist eine Nichtidentität, die nur in einer beliebigen Vielfalt von Stimmen besteht, Schall, der nur im zufälligen Spiel zum Tragen kommen kann, jedoch jeglicher Selbständigkeit entbehrt. Dem jungen Mann ergeht es wie dem Wind, der in seinem elementaren Brausen sich selbst nicht findet, und wie dem Räuberhauptmann, der nur im Tosen seines Auftritts überhaupt eine „Existenz“ hat. In dieser zwanghaften, gewaltsamen Dauerekstase kann er nicht zur Ruhe kommen, ohne unterzugehen, da er sich (als Dichter) nicht aufgegeben hat und sich folglich auch nicht zurückerhalten kann. In der zweiten Passage203 kommt erneut eine Negation von Subjektivität zur Sprache: In seiner hörsinnlichen Rezeptivität erlebt Constantin 201
202 203
Später stellt der junge Mann fest, die Verschwiegenheit des Constantin sei verschwiegener als das Grab (W 59 / SKS 4,58). W 27ff. / SKS 4,30ff.; s. o. S. 168ff. W 38ff. / SKS 4,39ff.; s. o. S. 173ff.
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einen ekstatischen Selbstverlust, der ihn wünschen lässt, tot zu sein. Hier wie dort ist diese Beschreibung mit der ästhetischen Lust des Theaterbesuchs verknüpft. Jedoch unterscheiden sich diese beiden Berichte signifikant voneinander: Der junge Mann verkörpert die verbissene Fortführung eines vitalen Spiels und die verzweifelte Suche nach der Möglichkeit zu existieren. Die Beschreibung, die sich auf Constantin selbst bezieht, drückt hingegen dessen tödliche Resignation als Konsequenz des Scheiterns dieser verzweifelten Suche aus.204 Anstatt wie der junge Mann die Außenwelt dichterisch in seiner Phantasie aufzulösen, löst Constantin sich selbst in der Außenwelt auf, da es ihm als einem Prosaiker der Phantasie ermangelt. Der junge Mann, die Krypto-Existenz, hat die „ganze Welt in einer Nußschale“205, die Wirklichkeit ist in seiner Phantasie zu minimaler Größe „verdichtet“ und so vollständig verfügbar. Constantin wird „im Bauch des Meeresungeheuers“206 einverleibt, sein Selbst ist an Externalität preisgegeben. Hier wie dort verhält der Genießende sich zwanghaft antithetisch zur Wirklichkeit, sei es zur Wirklichkeit der Außenwelt, in der er aufgeht, jedoch dabei selbst negiert werdend (Constantin), sei es zur Wirklichkeit des Selbst, die sich aus dem Fluss unverbindlicher Möglichkeiten niemals materialisiert (der junge Mann). Eine Formulierung des Gerichtsrats – die an den Ästhetiker gerichtet ist, jedoch das ganze Spektrum der Problematik der Wiederholungs-Schrift ausleuchtet – bringt dies auf den Punkt: Wer aber sagt, er wolle das Leben genießen, der setzt stets eine Bedingung, die entweder außerhalb des Individuums liegt, oder im Individuum ist, doch so, daß sie nicht durch das Individuum selbst ist. (EO 731 / SKS 3,175)207
So ist die Erfahrung, von der die Wiederholungsschrift handelt, die einer vollständigen Ausweglosigkeit: Noch der gellende Protestschrei, das emphatische „Nein“, das der junge Mann dem Constantin entgegenschleudert, wird sich dem Sog der von Constantin verkörperten Resignation ergeben. Nein! Nein! Nein! […] Ich könnte verzweifeln angesichts dieser Schriftzeichen, die kalt und wie unnütze Tagediebe nebeneinanderstehen, und das eine Nein besagt nicht mehr
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205 206 207
Diese Sequenz von Dichten und Resignation kommt bereits in Kierkegaards Dissertation zur Sprache: „Er [der Ironiker – J. S.] dichtet, er sei es selber, der da Stimmungen hervorrufe; er dichtet so lange, bis er geistig so gelähmt und gebrochen ist, daß er das Dichten bleiben läßt.“ (BI 291 / SKS 1,320) W 30 / SKS 4,32; s. o. S. 171. W 39 / SKS 4,40; s. o. S. 173. Der Gerichtsrat erweist sich hier – und an anderen Stellen – als hervorragender Diagnostiker; ungenügend ist sein Plädoyer hinsichtlich der darin empfohlenen Therapie.
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als das andere. Sie sollten hören, wie die Leidenschaft in mir sie moduliert208. Stände ich doch bei Ihnen, könnte ich mich doch mit einem letzten Nein von Ihnen losreißen, wie Don Juan vom Komtur, dessen Hand nicht kälter ist als die Verständigkeit, durch die Sie mich unwiderstehlich mitreißen. (W 64 / SKS 4,62)209
Das Moment der daraus folgenden tödlichen Resignation wird durch die Todesmetaphorik210 in den Reden Constantins als des „Bauchredners“ des jungen Mannes gleichsam als zweite Stimme unter die Stimme des jungen Mannes gelegt. Der junge Mann befindet sich im Bann derselben tödlichen Resignation, der Constantin sich vollständig hingegeben hat. Der junge Mann und Constantin gelangen nur bis zur Grenze der Wiederholung und stehen dort angehaltenen Schritts, gelähmt von der Erfahrung der Ausweglosigkeit211, scheiternd an dem Versuch, die Wiederholung selbst zu vollziehen. Innerhalb der Wiederholungs-Schrift gibt es keine Hoffungsperspektive. Allein vermittels der textuellen Interaktion mit „Furcht und Zittern“212 steht die Wiederholungs-Schrift im Dienst der Erhellung 208 209
210
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Zum Begriff der Modulation in Bezug auf den jungen Mann s. o. S. 168f. In diesem Abschnitt spielt der junge Mann an die vorletzte Szene von Mozarts „Don Giovanni“ an, in welcher der Komtur den Don Giovanni mit seiner kalten Hand in den Tod reißt, nachdem Don Giovanni der Aufforderung des Komtur zu reuen ein mehrfaches „Nein“ entgegnete (vgl. Mozart Don Giovanni. Der bestrafte Verführer oder Don Giovanni. Komödie in zwei Akten, Akt II, Szene 15, 153ff.). – Mit Bezug auf die Terminologie der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ ließe sich sagen, dass der junge Mann verzweifelt sich nicht bewusst ist, ein Selbst zu sein, und an der Möglichkeit verzweifelt, also eine zu den Formen der des Bewusstseins ermangelnden Verzweiflungen zählenden Verzweiflung erleidet, während Constantin verzweifelt nicht er selbst sein will. Die letzte Form der Verzweiflung, Trotz, steht nicht im Horizont der Wiederholungs-Schrift, da „Trotz“ eine Auflehnung gegen Gott ist, von der Constantin, der sich als nicht religiöser Mensch bezeichnet, nicht reden kann. (Gleiches dürfte für den jungen Mann gelten.) Auch in der Beschreibung des jungen Mannes begegnet die Metaphorik des Todes, jedoch in einer dezidiert anderen Weise als in Bezug auf Constantin: Der junge Mann rebelliert gegen die Zwänge, denen er sich ausgeliefert sieht, mit dem Hinweis auf den Suizid als der letzten und unveräußerlichen Möglichkeit zu handeln (W 66 / SKS 4,64). Der Gedanke an den Tod ist für den jungen Mann so das äußerste Mittel seiner bis ins Gewaltsame gesteigerten und insofern höchst vitalen Auflehnung. Constantin hingegen ist gleichsam bereits gestorben, er strahlt eine tief verwurzelte Teilnahmslosigkeit aus (vgl. zur Todesmetaphorik in Bezug auf den jungen Mann auch W 58 / SKS 4,58). „[S]uspenso gradu“ (W 81 / SKS 4,81; s. o. S. 165). Vgl. auch die Feststellung Constantins, wenn der junge Mann die Konsequenzen seines Dichterseins auf sich genommen hätte, hätte er „mit religiösem ‚Furcht und Zittern‘“ verstanden, „was er von Anfang an getan hatte“ (W 95 / SKS 4,95 [Hervorhebung J. S.]).
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des Glaubens.213 Denn es ist die Grenze des „Wunders“, an welcher der junge Mann aufläuft und gegen die er vergeblich anrennt, bis er wund und verzweifelt sein vormaliges Selbst zurückempfängt. Die Wiederholung, die allein die Grenzüberschreitung ermöglichen würde, ist eine transzendente Bewegung, die sich nur „kraft des Absurden“214 ereignen kann. Dieses Wunder ist nun genau die Bewegung des Glaubens, die in „Furcht und Zittern“ dargestellt wird.215 213 214 215
S. u. Abschn. C.3. W 56 / SKS 4,55; s. o. S. 164. Eine mit dem Vorgetragenen über weite Strecken übereinstimmende Interpretation der Wiederholungs-Schrift hat Feger formuliert: „[Die Versuchsanordnung] des Romans besteht darin, zwei ironische Existenzweisen in ihrem Scheitern so aneinander zu konturieren, daß sie dem Leser einen Ausblick eröffnen auf das, was in einem existentiellen Sinn Wiederholung heißen kann. Die Bedeutung der Wiederholung erschließt sich somit nicht positiv aus der Romanfiktion selbst, sondern negativ im Hinblick auf die im Leser stattfindende Überwindung der in der Romanfiktion zur Schau gestellten Agonie. Gerade der Fehlschlag und das Scheitern bei dem Versuch, die Wiederholung imaginativ in das Leben der Romangestalten einzubinden, soll in dem Roman in der Lage sein, Aufschluß darüber geben zu können, was es heißt, daß ,die Wiederholung […] eine Kategorie [ist], die es zu entdecken gilt.‘ Wie der Ironieschrift, so liegt auch der Wiederholungs-Schrift der Gedanke zugrunde, daß aus der Immanenz der ironischen Existenz heraus die Möglichkeit der Wiederholung als einer diese Immanenz schlechthin transzendierende Bewegung vermittelt werden kann. Während in Entweder-Oder die existenzielle Wahl zwischen ästhetischer Indifferenz und moralischer Entscheidung für den Leser noch äußerlich bleibt, ist es in dem Prosastück Die Wiederholung der Leser, dessen Bewußtsein gegenüber der Romanwelt die transzendierende Bewegung der Wiederholung vollziehen und damit Idealität und Realität miteinander in Berührung bringen soll.“ (Vgl. Feger „Kierkegaards Kritik der romantischen Ironie als Wegbereiter einer negativen Ästhetik“, 180) Zunächst ist hervorzuheben, dass die Beobachtung, die Charaktere der Wiederholungs-Schrift konturierten einander wechselseitig, im Vorliegenden ebenfalls formuliert wird. Sodann zeigt Feger m. E. grundsätzlich zu Recht, dass in der Wiederholungs-Schrift deutlich wird, dass die „Immanenz der ironischen Existenz“ die Wiederholung nicht zu vollziehen vermag – jedoch ist die von Feger getroffene Spezifizierung mit einem Fragezeichen zu versehen: Nicht allein der Immanenz der ironischen Existenz, sondern der Immanenz überhaupt ist die Wiederholung als transzendente Bewegung versagt. Angesichts dessen jedoch wird fraglich, ob tatsächlich das Bewusstsein des Lesers „gegenüber der Romanwelt die transzendierende Bewegung der Wiederholung vollziehen“ soll. Denn dies setzt voraus, dass der Leser zu einer Bewegung der Transzendenz imstande ist. Ich sehe aber keine Veranlassung, dergleichen anzunehmen. Die Möglichkeit einer transzendenten Bewegung erschließt sich, so wird im Folgenden argumentiert, nicht vermittels der Lektüre der „Wiederholung“ allein, sondern durch das intertextuelle Wechselspiel der „Wiederholung“ mit „Furcht und Zittern“ (s. u.); in „Furcht und Zittern“ kommt die Perspektive der Transzendenz in den Blick, die vom Leser der Wiederholungs-Schrift m. E. zunächst nicht gebildet werden kann.
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C.2.3 „Furcht und Zittern“: Gravitation C.2.3.0 Der Konflikt und die literarischen Figuren Der Glaube Abrahams, so wird in „Furcht und Zittern“ ausgehend von einer Besinnung auf die Erzählung von der Bindung Isaaks entfaltet, stellt die „Lösung“ des in „Entweder/Oder“ und „Die Wiederholung“ dargestellten Konflikts dar. Jedoch spricht Johannes de Silentio – das Pseudonym, unter dem die Schrift „Furcht und Zittern“ erschienen ist – so von diesem Glauben, dass dessen Undarstellbarkeit im Vordergrund steht: Das Pseudonym Johannes de Silentio ringt in „Furcht und Zittern“ darum, den Glauben Abrahams zur Sprache zu bringen, obwohl dies unmöglich ist. Dieser Unmöglichkeit in seiner literarischen Strategie entsprechend, kontrastiert Johannes de Silentio drei literarische Figuren miteinander: den (bzw. die216) Ritter der Unendlichkeit, den tragischen Helden217 und Abraham als den Glaubensritter. Die beiden Erstgenannten resignieren in einer aporetischen Situation – einer unmöglichen Liebe (Ritter der Unendlichkeit) bzw. einer ethischen Dilemmasituation (tragischer Held) – unendlich: Der Ritter der Unendlichkeit bewegt sich resignativ aus der Zeit heraus. Der tragische Held resigniert gegenüber sich selbst angesichts der unendlichen Forderung, bleibt dabei aber innerhalb des Ethischen. Das Ethische wird vage als „das Göttliche“ (FZ 55 / SKS 4,153) bezeichnet, ist aber ungeachtet dessen in einem negativen Sinne aufzufassen, insofern es den Einzelnen negiert. Der Ritter des Glaubens hingegen verlässt noch die Sphäre des Ethischen, er verkörpert die teleologische Suspension des Ethischen, da er als Einzelner größer als das Allgemeine geworden ist (FZ 61 / SKS 4,159), und so als Einzelner nicht negiert wird, sondern in einem absoluten Sinne Recht behält. Doch wird der Glaubensritter allein dadurch ins Recht gesetzt, dass er bereit ist, sein Recht gegenüber dem Ethischen aufzugeben. Der Glaubensritter resigniert, ohne sich einen Rückhalt im Allgemeinen vorzubehalten (FZ 73 / SKS 4,170) und ohne das Unendliche als Ersatz für das Endliche anzunehmen: Er resigniert und hofft für seine Zeit und sein Leben, er verliert die Endlichkeit und gewinnt die Endlichkeit kraft des Absurden (FZ 32 / SKS 4,131). Dies ist für Johannes ein unbegreifliches Wunder (FZ 37 / SKS 4,136), „das Paradox, das sich nicht mediieren lässt“ (FZ 61 / SKS 4,159). Er selbst, Johannes, 216 217
Der Numerus ist bei Kierkegaard uneinheitlich. Dargestellt am Beispiel von Agamemnon, Jephtah und Brutus (FZ 54 / SKS 4,152).
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hätte zwar Isaak aufgeben können, doch wenn er Isaak wiederbekommen hätte, dann wäre er „in Verlegenheit geraten“ (FZ 31 / SKS 4,130), weil er, nachdem er ihn einmal aufgegeben, buchstäblich nichts mehr mit ihm anzufangen gewusst hätte. Zum tragischen Helden, so Johannes, kann ein Mensch aus eigener Kraft werden, nicht jedoch zum Ritter des Glaubens (FZ 61 / SKS 4,159). Nun ist der Glaubensritter, der diese vollkommen einzigartige Doppelbewegung von Resignation und Bewahrung zu vollziehen vermag, mit deiktischer Rede nicht darstellbar. Weil er der Sphäre des Allgemeinen nicht angehört, kann er in der (der Sphäre des Allgemeinen angehörenden) Sprache keinen Ausdruck finden (FZ 55 / SKS 4,153; FZ 66 / SKS 4,163).218 Gerade weil ihm die Rückkehr in die Zeit gelungen ist, ähnelt er äußerlich dem Spießbürger, der mangels Reflexion der Zeit vollständig verhaftet ist (FZ 47 / SKS 4,145). Johannes de Silentio stellt sich eine Begegnung mit diesem von ihm verehrten Glaubensritter daher so vor, dass er über dessen augenscheinliche Spießbürgerlichkeit und Unkenntlichkeit geradezu fassungslos wäre. Wüßte ich [dagegen], wo ein solcher Ritter des Glaubens lebt, dann würde ich zu Fuß zu ihm wandern; denn dieses Wunder beschäftigt mich absolut. Ich würde ihn keinen Augenblick aus den Augen verlieren. […] Wie gesagt, ich habe einen solchen noch nicht gefunden, jedoch kann ich es mir wohl denken. Hier sei er. Die Bekanntschaft wird geschlossen, ich werde ihm vorgestellt. In dem Moment, da ich ihn erstmals in Augenschein nehme, werfe ich ihn im selben Nu von mir, mach selbst einen Sprung zurück, schlage die Hände zusammen und sage halblaut: „Herrgott, ist das der Mensch, ist er das wirklich? Er sieht ja aus wie ein Steuerkassierer.“ Indessen, er ist es doch. Ich schließe mich ihm etwas näher an, achte auf die kleinste Bewegung, ob sich da nicht eine kleine uneinheitliche Spiegeltelegraphie aus dem Unendlichen zeigen sollte, ein Blick, eine Miene, eine Geste, eine Wehmut, ein Lächeln, die das Unendliche in seiner Ungleichartigkeit mit dem Endlichen verraten. Nein! […] Er ist durch und durch solide. Seine Grundlage? Sie ist kräftig, gehört ganz der Endlichkeit an, kein geputzter Bürgersmann, der am Sonntagnachmittag nach Frederiksberg hinausgeht, tritt gründlicher auf die Erde, er gehört ganz der Welt an, kein Spießbürger kann ihr mehr angehören. Nichts zu entdecken von jenem fremden und vornehmen Wesen, woran man die Ritter der Unendlichkeit erkennt. (FZ 34f. / SKS 4,133f.)
Auf Grund dieser Undarstellbarkeit des Ritters kann vom Glauben nicht direkt oder assertorisch geredet werden: Der Glaube kann nur indirekt, genauer: negativ erhellt werden. In der Absicht solch einer 218
In der Zeitlichkeit, so führt Johannes aus, können er und Gott, da sie keine gemeinsame Sprache haben, nicht miteinander reden (FZ 31 / SKS 4,130). Vgl. zur Inkommunikabilität des Glaubens als der Rückgewinnung der Wirklichkeit auch Deuser, „,Und hier hast du übrigens einen Widder.‘ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik“, xi.
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negativen Erhellung verwendet Johannes de Silentio die Beschreibung des tragischen Helden – und, so meine These, auch die Beschreibung des Ritters der Unendlichkeit – als negative Folie. Aber wozu nun diese Skizze, da ich doch nicht weiter komme als bis zum tragischen Helden? Weil es doch möglich wäre, daß sie ein Licht auf das Paradox werfen könnte. (FZ 86 / SKS 4,182)
Der tragische Held – und die weiteren literarischen Gestalten, die Johannes erörtert (der Meermann, Agamemnon, die Gestalt der Sara im Buche Tobiae und Faust) – unterscheiden sich alle darin von Abraham, dass sie sich zumindest mitteilen könnten, im Gegensatz zu Abraham, dessen Schweigen seiner völligen Inkommensurabilität entspricht.219 Abraham schweigt, – aber er kann nicht reden, darin liegt die Not und Angst. Wenn ich nämlich, indem ich rede, mich nicht verständlich machen kann, dann rede ich nicht, und wenn ich auch ununterbrochen Tag und Nacht redete. […] Abraham kann nicht reden; denn das alles Erklärende kann er nicht sagen (d. h. so, daß es verständlich ist) […].“ (FZ 106f. / SKS 4,201f.)
Die im Denken greifbaren, aber Abraham nicht erfassenden Stadien der Existenz schneiden auf diese Weise den Glauben Abrahams als jene Haltung aus, die nur wie die Grenze eines unbekannten Landes „negativ beleuchtet“220 werden kann. Aber nun Abraham, wie handelt er? Denn ich habe nicht vergessen, und dem Leser wird es vielleicht gefallen, sich zu erinnern, daß ich mich in die ganze vorhergehende Untersuchung einließ, um hier einzuhaken, nicht als ob Abraham dadurch verständlicher würde, sondern damit die Unverständlichkeit desultorischer werde, denn, wie gesagt, Abraham kann ich nicht verstehen, ich kann ihn nur bewundern. Es wurde auch bemerkt, daß keines von den beschriebenen Stadien eine Analogie zu Abraham enthielt; sie wurden nur entwickelt, damit sie, während sie innerhalb ihrer eigenen Sphäre gezeigt wurden, im Augenblick der Desorientierung gleichsam die Grenze des unbekannten Landes andeuten könnten. Insoweit hier von einer Analogie die Rede sein soll, müßte es das Paradox der Sünde sein, aber dieses liegt wiederum in einer anderen Sphäre und kann nicht Abraham erklären und ist selbst viel leichter zu erklären als Abraham. (FZ 105 / SKS 4,200 [Hervorhebung J. S.])221
Johannes de Silentio stellt in seiner Rede den tragischen Ritter (neben weiteren literarischen Figuren) auf der einen und Abraham auf 219
220
221
Wenn Abraham redet, dann „in einer göttlichen Sprache“, „in Zungen“ (FZ 107 / SKS 4,202) bzw. „mit einer fremden Zunge“ (FZ 111 / SKS 4,206). Vgl. den folgenden Tagebucheintrag Kierkegaards: „Nun hat Johannes de Silentio sich niemals für einen Glaubenden ausgegeben, hat, gerade umgekehrt, erklärt, er sei kein Glaubender – auf daß er den Glauben negativ beleuchte.“ (X6 B 79 / T V 385f.; s. o. Abschn. C.1.2.2) Zur Erörterung der literarisch-ästhetischen Implikationen dieser Passage s. o. Abschn. C.1.2.2.
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der anderen Seite in ein Verhältnis zueinander, das sich mit der „apophatischen Analogie“ vergleichen lässt, die Carlson entwickelte: Die Pointe dieser „apophatischen Analogie“ besteht, so wurde gezeigt222, darin, dass kraft einer die Gleichheit übersteigenden Ungleichheit negativ das erhellt wird, was nicht direkt gezeigt werden kann, weil es (in Bezug auf die Analogaten) jenseits der Unterscheidung von Gleichheit und Ungleichheit liegt. Kein positives Drittes, sondern eine Unbestimmtheitsrelation stellt das Scharnier dar, in dem die Analogaten miteinander ‚arbeiten‘: Der Meermann kann sich als tragischer Held zu dem Absoluten verhalten und sich zugleich mitteilen, dadurch erhellt er negativ das Paradox des Abraham, der sich zum Absoluten verhält und sich nicht mitteilen kann. Im Folgenden ist nachzuzeichnen, worin die Ähnlichkeit und der (unermessliche und unausdrückliche) Unterschied zwischen den kontrastierten literarischen Figuren von „Furcht und Zittern“ besteht. C.2.3.1 Die Motivik der Gravitation in der kontrastierenden Darstellung des Ritters der Unendlichkeit und Abrahams als des Glaubensritters Den Unterschied zwischen der Bewegung, die die Ritter der Unendlichkeit zu vollziehen vermögen, und der Bewegung, die der Ritter des Glaubens vollzieht, verdeutlicht Johannes de Silentio anhand einer Fiktion. Er stellt sich einen Jüngling vor, der sich in eine Prinzessin verliebt. Sie ist der ganze Inhalt seines Leben, jedoch lässt sich diese Liebe nicht realisieren (FZ 37f. / SKS 4,136ff.). Ein Ritter der Unendlichkeit würde in einer solchen Krise zwar die Erinnerung an die Prinzessin, mit der er in der Wirklichkeit nicht sein kann, bewahren, jedoch wäre die Prinzessin selbst gerade dadurch verloren, denn der Ritter würde sie in einer Art und Weise bewahren, die von ihrer Wirklichkeit abstrahiert.223 Der Ritter des Glaubens macht zunächst dieselbe Bewegung wie der Ritter der Unendlichkeit. Nach dieser Resignation jedoch glaubt der Ritter des Glaubens kraft des Absurden, dass es möglich
222 223
S. o. Abschn. B.2.3. „Seit dem Augenblick, da er die Bewegung getan hat, ist die Prinzessin verloren. Er hat diese erotischen Nervenschocks nicht mehr nötig, wenn er die Geliebte sieht usw., er braucht auch nicht im endlichen Sinne ständig Abschied von ihr zu nehmen, weil er sich im ewigen Sinne ihrer erinnert […].“ (FZ 40 / SKS 4,138) Das gleiche widerfährt dem „Dichter“ in der Wiederholungs-Schrift (W 56 / SKS 4,55; s. o. S. 163).
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sein wird, die Prinzessin zu bekommen.224 Zu dieser Doppelbewegung gehört – im Gegensatz zur Bewegung der unendlichen Resignation – der Glaube (FZ 42 / SKS 4,140). Johannes de Silentio stellt den Ritter der Unendlichkeit und den Ritter des Glaubens in Form eines Bildes einander gegenüber, das das Motiv der Gravitation aufnimmt, kraft dessen bereits in „Entweder/Oder“ die literarischen Figuren einander erhellten: Der Gang der Ritter der Unendlichkeit ist schwebend. Der Glaubensritter hingegen ähnelt äußerlich der Spießbürgerlichkeit, mit der er die Verwurzelung in der Zeit gemeinsam hat. Die Ritter von der unendlichen Resignation erkennt man leicht, ihr Gang ist schwebend, keck. Diejenigen dagegen, die des Glaubens Kleinod tragen, enttäuschen leicht, weil ihr Äußeres eine auffallende Ähnlichkeit mit dem hat, was sowohl die unendliche Resignation als auch der Glaube tief verachtet, – mit der Spießbürgerlichkeit. (FZ 34 / SKS 4,133)
Indem Abraham das Außerordentliche vollbrachte: das Zeitliche festzuhalten, nachdem er es aufgegeben hatte, hat er in zweifacher Hinsicht mit der Zeit gekämpft und gewonnen. Zum einen hat er die Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißung noch bewahrt, als die Zeit schon zu lange fortgeschritten war, als dass noch auf die Geburt des Isaak zu hoffen war (FZ 18 / SKS 4,115). Doch es blieb nicht bei diesem Kampf, sondern die Aufforderung zur Opferung des Isaak stellt die äußerste Konzentration und Steigerung des Kampfes dar (ebd.). Abrahams Heldentat besteht nun darin, dass er für „dieses“ Leben glaubte – daher ähnelt er äußerlich dem Spießbürger –, und nicht, wie der Ritter der Unendlichkeit, in unendlicher Resignation als dem letzten Stadium vor dem Glauben der Welt entfloh. Doch Abraham glaubte für dieses Leben. Ja, hätte sein Glaube bloß für etwas Zukünftiges gegolten, dann hätte er wohl leichter alles wegwerfen können, um aus dieser Welt herauszueilen, der er nicht zugehörte. Aber Abrahams Glaube war nicht ein solcher, falls es einen solchen gibt; denn eigentlich ist dies kein Glaube, sondern die fernste Möglichkeit des Glaubens, die am äußersten Horizont ihren Gegenstand erahnt, doch getrennt davon durch eine abgründige Tiefe, in der die Verzweiflung ihr Spiel treibt. Aber Abraham glaubte für dieses Leben […]. (FZ 19f. / SKS 4,116)
Johannes de Silentio umschreibt mit mehreren Bildern die dieser Resignation entgegengesetzte Bewegung, die der Glaubensritter vollzieht, bzw. inwiefern er, Johannes, sich selbst außer Stande sieht, die Bewegung des Glaubensritters seinerseits zu vollziehen. Aus der Endlichkeit 224
Wiederum negativ wird diese Bewegung durch den „Meermann“ verdeutlicht: Dieser könnte Agneten nicht angehören, ohne dass er die Bewegung der unendlichen Reue und die Bewegung kraft des Absurden vollziehen würde, jedoch vermag er Letzteres nicht, da er bereits in der Bewegung der Reue seine ganze Kraft verbraucht (FZ 93 / SKS 4,189).
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hinaus in die Unendlichkeit zu springen vermag Johannes zwar, die Doppelbewegung jedoch, die nach diesem „Aufschwung“ wieder in die Endlichkeit zurückkehrt, und die allein als Wunder des Glaubens gelten darf: diese Doppelbewegung vermag er nicht nachzuvollziehen. Den großen Trampolinsprung aus der Zeit heraus vermag er zu tun, aber hiernach wieder in die Zeit zurückzukehren, bleibt ihm verwehrt. Die Dialektik des Glaubens ist das Feinste und das Merkwürdigste von allem, sie hat einen Aufschwung, von dem ich mir wohl eine Vorstellung machen kann, aber mehr auch nicht. Ich kann den großen Trampolinsprung machen, durch den ich in die Unendlichkeit hinübergehe, mein Rücken würde wie der eines Seiltänzers in meiner Kindheit verrenkt, deshalb fällt es mir leicht; ich kann im Dasein eins, zwei, drei auf dem Kopf gehen; aber das nächste, das kann ich nicht; denn das Wunderbare kann ich nicht vollbringen, sondern nur darüber in Erstaunen geraten. (FZ 32 / SKS 4,131)225
Johannes de Silentio vermag die Doppelbewegung nur als Trockenübung zu imitieren, gleichsam in einem suspendierten Modus, aufgehängt an einem Schwimmgürtel bzw. in Gurten; in der Wirklichkeit gelingt ihm diese Bewegung nicht. Was mich betrifft, so kann ich wohl die Bewegungen des Glaubens beschreiben, aber ich kann sie nicht vollziehen. Wenn man lernen will, Schwimmbewegungen zu machen, dann kann man sich in Gurten [i Seler] unter die Decke hängen lassen, man beschreibt wohl die Bewegungen, aber man schwimmt nicht; so kann ich die Bewegungen des Glaubens beschreiben, aber wenn ich ins Wasser geworfen werde, dann schwimme ich wohl (denn ich gehöre nicht zu den Watenden), aber ich mache andere Bewegungen, ich mache die Bewegungen der Unendlichkeit, während der Glaube das Entgegengesetzte tut, er macht, nachdem er die Bewegung der Unendlichkeit vollzogen hat, die der Endlichkeit. (FZ 33f. / SKS 4,132f. [Übersetzung geändert] 226) 225
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Das Vermögen zu dieser Bewegung verbindet Johannes de Silentio mit dem Ästhetiker, über den der Gerichtsrat schreibt: „Man ist frappiert über den Anblick eines Clowns, dessen Gliedmaßen so weich sind, daß jede Notwendigkeit in ihm aufgehoben ist; so bist Du in geistigem Sinne, Du kannst ebenso gut auf dem Kopf stehen wie auf den Beinen […].“ (EO 538 / SKS 3,25) Richter übersetzt „Seler“ mit „Schwimmgürtel“, das Wort bedeutet aber „Seil“, „Träger“ bzw. „(Sicherheits)Gurt“ (Bork u. a. Dansk-Tysk Ordbog, 676f.) Hirsch übersetzt wörtlich: „[…] [S]o kann man sich in Seilen unter der Decke aufhängen lassen […]“ (GW 4,36). Möglicherweise assoziiert Richter jene Passage aus „Entweder/Oder“, in der von einem Schwimmgürtel („Svømmebelte“ [EO 589 / SKS 3,64; s. o. S. 155]) die Rede ist. Vielleicht liegt hier auch eine Äquivokation vor, und die „Seile“, die Bestandteil der angesprochenen Vorrichtung (s. u.) sind, werden ebenfalls als „Schwimmgürtel“ bezeichnet. In den „Diapsalmata“ spricht Kierkegaard offenbar dasselbe oder ein ähnliches sportpädagogisches Hilfsmittel an: „Jeden Augenblick gleiche ich einem Kind, das schwimmen lernen soll, draußen mitten auf dem Meer. Ich schreie […]; denn zwar habe ich einen Gurt um den Leib [Sele om Livet], aber die Stange, die mich oben halten soll, sehe ich nicht.“ (EO 42 / SKS 2,40f.) Im Anhang der Arbeit ist ein Bild abgedruckt, auf dem eine Vorrichtung zum
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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Die Bewegung des Ritters der Unendlichkeit, der aus der Welt herausspringt, kann Johannes de Silentio zwar nachvollziehen. Da jedoch der Ritter der Unendlichkeit ein „Fremdling“ auf Erden bleibt227, ist seine Bewegung im Gegensatz zur Doppelbewegung des Glaubensritters unendlich weniger erstrebenswert (FZ 46 / SKS 4,144). An späterer Stelle fasst Johannes die Doppelbewegung zusammen, die des Geschehenen irreversiblen Verlusts gewahrt (erste Bewegung), und doch auf die Wiederholung kraft des Absurden hofft (zweite Bewegung). Abraham macht nämlich, wie früher hinreichend ausgeführt, zwei Bewegungen. Er macht die unendliche Bewegung der Resignation und gibt Isaak auf, das kann keiner verstehen, weil es ein privates Vorhaben ist; aber danach macht er in jedem Augenblick die Bewegung des Glaubens. Das ist sein Trost. Er sagt nämlich: Dies wird doch nicht geschehen, oder wenn es geschieht, dann wird der Herr mir einen neuen Isaak geben, nämlich kraft des Absurden. Der tragische Held erreicht doch das Ende der Geschichte. (FZ 107f. / SKS 4,203)
Johannes de Silentio bringt diesen Gegensatz zwischen dem Ritter der Unendlichkeit und Abraham als dem Ritter des Glaubens mit dem Bild eines Tänzers zum Ausdruck. Er [der Ritter des Glaubens] verzichtete in unendlicher Resignation auf alles, und doch ergriff er wieder alles kraft des Absurden. Er macht beständig die Bewegung der Unendlichkeit, aber er tut es mit solch einer solchen Korrektheit und Sicherheit, daß er ständig die Endlichkeit dabei herausbekommt, und es gibt keine Sekunde, wo man etwas anderes ahnt. Für einen Tänzer wäre es die schwierigste Aufgabe, sich in eine bestimmte Stellung einzuspringen, und zwar so, daß er keine Sekunde erst nach der Stellung greifen muß, sondern mit dem Sprunge selbst die Stellung innehat. Vielleicht bekommt das kein Tänzer fertig, – jener Ritter macht es. Die Menge der Menschen lebt verloren in weltlicher Trauer und Freude, dies sind die Sitzengebliebenen, die im Tanze nicht mehr mitkamen.228 Die Ritter der Unendlichkeit sind Tänzer und haben Elevationen. Sie machen die Bewegung nach oben und fallen wieder nieder, und auch dies ist kein unseliger Zeitvertreib, und es ist sehr schön, dem zuzusehen. Aber jedesmal, daß sie niederfallen, können sie nicht sofort die Stellung einnehmen, sie wanken einen Augenblick, und dieses Wanken beweist, daß sie doch Fremdlinge in der Welt sind […]. [A]ber so niederfallen, 227
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Erlernen der Schwimmkunst zu sehen ist, bei der es sich um eine Freiluftversion der in „Furcht und Zittern“ erwähnten Vorrichtung handeln könnte (s. Abbildung 2). Ob Kierkegaard eine solche Vorrichtung selbst gesehen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da die mir zugänglichen Belege für die Verwendung einer solchen Vorrichtung nicht bis in Kierkegaards Zeit zurückreichen. (Vom Institut für Sportwissenschaft an der Universität in Münster erhielt ich die Auskunft, zu Kierkegaards Zeiten habe es Vorrichtungen von der beschriebenen Art gegeben.) Auch der Ästhetiker wird in „Entweder/Oder“ als „Fremdling“ – in der Welt – bezeichnet (EO 619f. / SKS 3,87; s. o. S. 152). Damit sind jene Menschen gemeint, die nicht einmal die tiefere innerliche Bewegung der Resignation in ihrer Beziehung zum anderen Menschen zu vollziehen vermögen, „die niederen Naturen, die das Gesetz für ihre Handlungen in einem anderen Menschen haben […].“ (FZ 40 / SKS 4,139)
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daß es in derselben Sekunde aussieht, als stünde und ginge man, den Sprung im Leben zu einem Gang verwandeln, absolut das Sublime Pedestren ausdrücken, – das kann nur jener Ritter [des Glaubens], – und dies ist das einzige Wunder. (FZ 36f. / SKS 4,135f.)229
Dieses Bild, in dem die erörterte existenzielle Aporie in höchster Verdichtung auf ihre Lösung bezogen wird, ist näher zu erläutern. Die Erste der drei im Bild kontrastierten Existenzformen bezeichnet die Spießer, ‚Zahlmenschen‘, die in der Gravität der Endlichkeit eingepfropft sind und sitzen bleiben, verloren in Trauer und Freude über dies und jenes, ohne je zum Wesentlichen versetzt zu werden gleichsam durchs Leben „watend“230. Man darf hier wohl auch an den Gerichtsrat denken. Der Gerichtsrat richtete sich in der Endlichkeit ein, die er durch seinen „Broterwerbsbeweis“231 und durch die Stilisierung seiner Frau zu einer anschaulichen Inkarnation der Versöhnung von Zeit und Ewigkeit religiös verklärt. Der „Ritter der Unendlichkeit“, die zweite Figur in der zitierten Passage, hat unendlich resigniert angesichts seiner Welterfahrung und ist der Gravität der Endlichkeit verlustig gegangen.232 Für den Ästhetiker und für den jungen Mann gilt dasselbe. Der 229
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Eine ähnliche Aussage findet sich in einer Tagebuchnotiz, in der Kierkegaard den Glauben mit Himmelskörpern vergleicht, die mit Hilfe der Schwere schweben (T I 70 / SKS 20,56 [NB:65]). – Vgl. dagegen das Plädoyer für ein „sicheres Schweben“ durch den Gerichtsrat (EO 636 / SKS 3,99f.; s. o. S. 154). – In Kleists „Marionettentheater“ begegnet eine Formulierung, die der zitierten Passage frappierend ähnelt. Der fiktionale Erzähler berichtet von Puppen, die erstaunliche Bewegungen zu vollbringen vermögen: „Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an die Erde fesselt. […] Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von den Anstrengungen des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen lässt, als ihn möglichst verschwinden zu machen.“ (Kleist Ueber das Marionettentheater, 12) Kierkegaard besaß eine von Tieck herausgegebene Ausgabe von Kleists Gesammelten Schriften (Berlin 1826; vgl. Søren Kierkegaard Gesellschaft [Hg.] Katalog over Søren Kierkegaards Bibliothek, 89). In Kierkegaards Werken, so geht aus McKinnons „Index verborum“ hervor, findet Kleist allerdings keine Erwähnung. Zwar ist das Wort „Marionette“ („Marionet“) in Kierkegaards Werk belegt (AUN I,237 / SKS 7,222), jedoch nicht in einem Sinn, der an Kleists „Marionettentheater“ erinnert. Auch die Verwendung des Wortes „Gliedermann“ – ein Synonym von „marionet“ (vgl. SKS 1K,329) – erinnert nicht an Kleists Marionettentheater (vgl. BI 254 / SKS 1,289). Vgl. FZ 33 / SKS 4,132; s. o. S. 186. S. o. Anm. 166. Diese Typisierung begegnet bereits in Kierkegaards Romantikkritik: „Auf der einen Seite steht die gegebene Wirklichkeit mit aller ihrer elenden Spießbürgerei, auf
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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Ritter des Glaubens dagegen ist frei von der Schwere der Endlichkeit und doch frei dazu, in der Endlichkeit Wohnung zu nehmen; die Unendlichkeit enthebt ihn nicht der Endlichkeit, sondern die Unendlichkeit hebt ihn in der Endlichkeit auf. Die Schwere des Gangs und das Ätherische des Sprungs werden für ihn eins.233 Durch die Inszenierung dieses spannungsvollen Verhältnisses zwischen dem unbegreiflichen Glaubensritter auf der einen und allen denkbaren Existenzformen auf der anderen Seite erhellt Johannes de Silentio den Glauben negativ234: Direkt kann nicht gesagt werden, wie der Glaube Abrahams beschaffen ist, da dieser vollständig unkenntlich – und vom Spießbürger nicht zu unterscheiden – ist. Nur auf dem negativen Hintergrund der Bewegung sowohl des der Erde verhafteten Spießbürgers als auch des der Schwerkraft verlustig gegangenen Ritters der Unendlichkeit kann das unmögliche Verhältnis des Glaubensritters zur Gravitation, d. h. zur Erde und ihrer Zeitlichkeit, zum Ausdruck gebracht werden. C.2.3.2 Zusammenfassung Die beiden dominanten literarischen „Figuren“ der Schrift „Furcht und Zittern“ sind der Ritter der Unendlichkeit, den Johannes de Silentio versteht, und Abraham, der Ritter des Glaubens, der sich dem Johannes de Silentio als ein Mysterium, als das Mysterium schlechthin, als das „einzige Wunder“, darstellt. Der Ritter der Unendlichkeit vollzieht eine resignative Flucht aus der Zeitlichkeit, die strukturell der Flucht aus der Zeitlichkeit analog ist, die der Ästhetiker übt.235 Der 233
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der anderen Seite die ideale Wirklichkeit mit ihren verschwimmenden Gestalten. Diese beiden Momente stehen zueinander in einem notwendigen Verhältnis. Je mehr die Wirklichkeit karikiert wird, um so höher steigt der Sprungquell des Ideals, nur daß der Born, der hier entspringt, nicht in ein ewiges Leben quillt. Eben dies aber, daß diese Poesie zwischen Gegensätzen sich bewegt, zeigt, daß sie in tieferem Sinne wahre Poesie nicht ist.“ (BI 311 / SKS 1,337) King moniert zu Recht, dass in der Kierkegaard-Interpretation der „begrifflichen Differenzierung“ zwischen der „,Bewegung der Unendlichkeit‘“ und dem „qualitativen ,Sprung des Glaubens‘“, der „im Schwerefeld des Endlichen“ zu verbleiben vermag, oft nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird (King Existenz – Denken – Stil. Perspektiven einer Grundbeziehung. Dargestellt am Werk Søren Kierkegaards, 52). Vgl. X6 B 79 / T V 385f.; s. o. Abschn. C.1.2.2. Zwar unterscheiden sich der Ästhetiker und der Ritter der Unendlichkeit darin voneinander, dass der Ästhetiker in eine „schlechte Unendlichkeit“, eine Unendlichkeit, die sich allein qua Negation der Endlichkeit bestimmt (vgl. allerdings die anders lautende Behauptung des Ästhetikers [EO 519f. / SKS 2,431]; vgl. zum Begriff der „schlechten Unendlichkeit“ Hegel Wissenschaft der Logik I, Erster Teil: Die
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Ritter des Glaubens hat dieselbe resignative Bewegung vollzogen und vermochte in die Zeitlichkeit zurückzukehren, er vollbringt das Wunder, die verlorene Zeitlichkeit zu wiederholen bzw. wiederzuholen236. Nun lässt sich innerhalb von „Furcht und Zittern“ eine literarische Strategie237 beobachten, die mit der „Mehrstimmigkeit“ in Verbindung steht, sich jedoch in einer entscheidenden Hinsicht von der „Mehrstimmigkeit“ unterscheidet: Während Johannes de Silentio, der sich selbst mit dem „Ritter der Unendlichkeit“ weitestgehend identifiziert, eine von zwei „Stimmen“ innerhalb dieser Schrift verkörpert, ist Abraham als das Gegenüber des Johannes de Silentio stimmlos. Und doch stehen Abraham und Johannes de Silentio in einem engen Zusammenhang, denn Johannes de Silentio „spricht“ durch Abraham, indem er durch dessen Schweigen den Glauben „negativ beleuchtet“238 bzw. „erschweigt“239, den er nicht in 236
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objektive Logik, 158; Pannenberg Art. „Unendlichkeit“, 142), flieht, der Ritter der Unendlichkeit hingegen eine resignative Bewegung in das nicht mit dem Glauben zu verwechselnde Ewige (vgl. FZ 44 / SKS 4,142). Aus der Perspektive des Glaubens betrachtet – und darum geht es in „Furcht und Zittern“, wenn nicht gar in der gesamten pseudonymen Schriftstellerei von 1843 – erleiden alle drei Genannten, der Ästhetiker, der Ritter der Unendlichkeit und der tragische Held, gleichermaßen einen fundamentalen Weltverlust, da sie mit der Endlichkeit irreversibel gebrochen haben. S. o. Anm. 117. Deuser formuliert im Anschluss an seine Untersuchung von „Furcht und Zittern“ prägnant: „Die fragliche Darstellung des Unausdenkbaren kann also nur so erfolgen, daß sie nicht inhaltlich verallgemeinert, sondern strukturell gewahrt wird.“ (Deuser „,Und hier hast du übrigens einen Widder.‘ Genesis 22 in aufgeklärter Distanz und religionsphilosophischer Metakritik“, xvii) Vgl. Pap. X6 B 79 / T V 385f.; s. o. Abschn. C.1.2.2. Den Gedanken einer schweigenden Mitteilung erörtert Simonis in ihrer Arbeit zur Theorie der hermetischen Kommunikation (vgl. Simonis Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, v. a. 256f.). Zum Begriff des „Erschweigens“ bzw. der „Erschweigung“ vgl. ferner Heidegger Nietzsche I, 471f.: „Das höchste denkerische Sagen besteht darin, im Sagen das eigentlich zu Sagende nicht einfach zu verschweigen, sondern es so zu sagen, daß es im Nichtsagen genannt wird: das Sagen das Denkens ist ein Erschweigen.“ (Vgl. Trowitzsch „‚Sterbliches Denken. Eine neuerliche theologische Erinnerung an Martin Heidegger“, 485f.) Heidegger bezeichnet die „Erschweigung“ bzw. die „Sigetik“ als eine Art des Sprechens, das der Tatsache Rechnung trägt, dass das Sein (als Ereignis) nie unmittelbar gesagt werden kann (Heidegger Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 78ff.; vgl. Safranski Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, 359). Vgl. zu Begriff und Sache des „Erschweigens“ und der Verschwiegenheit als Modus der Rede auch Heidegger Unterwegs zur Sprache, 62. „Verschwiegenheit“ bezeichnet Heidegger als Modus des Redens im Miteinander (ders. Sein und Zeit, 160ff.) und als Modus des Rufs des Gewissens (a. a. O., 273ff.; vgl. a. a. O., 296f.).– Das Wort „Erschweigen“ begegnet ferner in Paul Celans Gedicht „Argumentum e Silentio“ aus der Sammlung „Von Schwelle zu Schwelle“ (Celan
C.2 Mehrstimmigkeit/Intrapseudonymität
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Worte zu fassen vermag. „Furcht und Zittern“ steht also an der Schnittstelle von „Mehrstimmigkeit“ und „Vielstimmigkeit“, die sich, wie mehrfach gesagt wurde, dadurch voneinander unterscheiden, dass die Negativität bei der Letzteren konstitutiv ist: Die Schrift „Furcht und Zittern“ weist Strukturmomente der Mehrstimmigkeit auf, hat ihre Pointe jedoch in der Negativität, die kraft der Negation der anderen Stimmen der pseudonymen Schriften von 1843 den unsagbaren Glauben zur Sprache bringt.240 Überdies wurde gezeigt, dass die Beschreibung des Glaubensritters mit den Beschreibungen des Gerichtsrats, des Ästhetikers und des jungen Mannes eng korrespondiert; dadurch wiederum ist der Gedanke der Interpseudonymität vorbereitet.241 Dies ist im Anschluss an eine Zusammenfassung der zuletzt unternommenen Schritte näher zu erläutern. C.2.4 Zusammenfassung Die Problematik, die in den pseudonymen Schriften von 1843 thematisch wird, ist die Ungreifbarkeit des Lebens bzw. die Flüchtigkeit der Gegenwart: Jeder Augenblick sinnlicher Erfüllung verglüht gleichsam wie ein Komet, der aus dem All der Phantasie in die widerständige Atmosphäre der Welt eintritt.242 Die Widerständigkeit der Welt feuert den Wunsch an, im „Tanz des Unendlichen“ über Welt und Zeit, ja noch über die Sterne hinaus geschleudert zu werden.243 Doch ist dies ein Weltverlust ohne denkbare Wiederkehr: Nach dem „großen Trampolinsprung“ aus der Zeit in die Zeit zurückzukehren, „vermag“ allein jener Glaubensritter244 – der vollständig unbegreiflich und unsagbar ist. 240
240 241 242
243 244
Gedichte I, 138; vgl. hierzu Davies „Soundings. Towards a theological poetics of silence“, 218; zur Sache des Schweigens durch Sprache bei Celan vgl. Menninghaus Paul Celan. Magie der Form, v. a. 47f.). Im Zusammenhang der Erörterung negativer Theologie formuliert Stolina im Anschluss an Jüngel, dass (in der negativen Theologie) Gott „eingeschwiegen“ werde (Stolina Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, 73, mit Verweis auf Jüngel Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 351). Iser verwendet das Wort „verschweigen“ in einem Sinn, der dem „Erschweigen“ nahe kommt, wenn er ausführt, der Leser habe das verschwiegene Thema der Negation als imaginäres Objekt zu bilden (vgl. Iser Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 328f., s. o. Abschn. C.1.1.2). S. u. Abschn. C.3. Vgl. Abbildung 3. Vgl. die entsprechenden Beschreibungen der Erfahrungen des Constantin (W 47f. / SKS 4,46f.) und des Ästhetikers (EO 580f. / SKS 3,57f.; s. o. S. 142f.). W 88 / SKS 4,88; s. o. S. 171. FZ 32 / SKS 4,131; s. o. S. 186ff.
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Im vorliegenden Abschnitt wurde gezeigt, dass jeweils innerhalb von „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“ ein Verhältnis der Mehrstimmigkeit waltet, in dem dieser Konflikt zum Ausdruck kommt. So wird innerhalb der Schrift „Entweder/Oder“ durch die Motive der Gravitation und des Klangs eine mehrstimmige Spannung erzeugt: Auf der einen Seite steht das Plädoyer des Ästhetikers für das Entschweben aus der Welt, für eine Selbstauflösung des Subjekts in hörsinnlicher Rezeptivität.245 Auf der anderen Seite steht das Plädoyer des Gerichtsrats für ein „sicheres Schweben“ als (vorgeblich) genuine, die Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung nicht gefährdende Teilhabe an der Zeitlichkeit. Der Gerichtsrat propagiert eine in der Welt und in der Zeit verankerte Daseinshaltung, in der das Absolute in der Zeit existiert, ohne von der Zeit korrumpiert zu werden. Die Stimmen dieser beiden literarischen Figuren sind assertorisch und affirmativ, wenn auch schrill: Dem Leser wird durch den exaltierten Ton der Plädoyers deutlich, dass in beiden Daseinshaltungen Komplikationen enthalten sind, die rhetorisch verschleiert werden.246 Die Ausweglosigkeit der Aporie, die in „Entweder/Oder“ zur Sprache kommt, wird durch die Wiederholungs-Schrift amplifiziert: Erneut steht die Möglichkeit einer Wiedergewinnung der Welt nach dem Weltverlust zur Diskussion. In dieser Schrift jedoch fehlen affirmative Plädoyers für die Möglichkeit solch einer Wiederholung gänzlich. Vielmehr kommt durch die Motivik des Klangs, welche die beiden pseudonymen Figuren Constantin Constantius und den „jungen Mann“ miteinander verbindet, die tödliche Resignation zur Sprache, welche auf die Erfahrung der Unmöglichkeit der Wiederholung folgt, und der in „Entweder/Oder“ noch vermeintlich im Plädoyer des Gerichtsrats eine Alternative gegenübergestellt wurde.247 Die Wiederholungs-Schrift schildert die tödliche Zersplitterung, die in „Entweder/Oder“ untergründig mitschwingt. Die sich selbst inmitten ihrer Morbidität genie245
246
247
S. o. Anm. 131. – Es handelt sich hier um einen zentralen Topos von Kierkegaards Romantikkritik, i. e. die Kritik an der „Selbstaufzehrung“ des Ich (Feger „Kierkegaards Kritik der romantischen Ironie als Wegbereiter einer negativen Ästhetik“, 153.163), der Kritik am Genuss der „Zersetzung der Wirklichkeit in sich selbst“ (a. a. O., 153). Auch das spätere Pseudonym Climacus durchschaut die Rhetorik des Gerichtsrats: „Ich habe gelesen, was der Gerichtsrat in ‚Entweder/Oder‘ und in den ‚Stadien auf dem Lebenswege‘ über die Ehe geschrieben hat, und ich habe es genau gelesen […]. [I]ch denke aber doch, daß der Gerichtsrat – vorausgesetzt, daß ich ihn zu fassen bekommen kann – wenn ich ihm ein kleines Geheimnis ins Ohr flüster, mir einräumen wird, dass da noch Schwierigkeiten bestehen.“ (AUN I,172 / SKS 7,167) Zur Kontinuität von „Entweder/Oder“ und „Die Wiederholung“ vgl. auch die Rekurse auf die Ehe (W 4 / SKS 4,10; W 25 / SKS 4,28 [s. o. S. 160]).
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ßende Haltung des Ästhetikers hat keinen Bestand, am Ende geht ihm die Kraft aus, sich selbst nach jeder Lust neu zu beleben.248 Das Scheitern der Selbstwerdung wird erneut vermittels der Interaktion zweier Stimmen literarisch inszeniert: Die leidenschaftlich aufbegehrende Stimme des jungen Mannes ist exaltiert und überspannt, er behauptet zuletzt inmitten des offenkundigen Scheiterns der Wiederholung, die Wiederholung vollzogen zu haben. Die Stimme des Constantin unterlegt die Stimme des jungen Mannes mit einer Unterstimme, in der die tödliche Resignation aufschimmert, welche auf das Scheitern der Wiederholung folgt. Die Mehrstimmigkeit steht so im Dienst der Beleuchtung einer tödlich resignierten Weltwahrnehmung. In „Furcht und Zittern“ hingegen wird die „Möglichkeit“ der Wiederholung als einer Wiederaneignung des scheinbar unwiederbringlich Verlorenen sprachlich umkreist. Jedoch liegt hier der Akzent auf der Unsagbarkeit des Glaubens, kraft dessen die nach menschlichem Ermessen unmögliche Wiederholung „möglich“ ist.249 In der Beschreibung des Glaubensritters als eines Tänzers, der, zugleich der Endlichkeit und der Unendlichkeit angehörend, im Sprung steht250, wird der Glaubensritter in ein Kontrastverhältnis zum Ritter der Unendlichkeit gestellt, in welchem der Ritter der Unendlichkeit und der tragische Held als negative Folie251 für die Erhellung des Glaubensritters dienen. Die literarischen Strategien in „Die Wiederholung“ und in „Furcht und Zittern“ sind analog: Hier wie dort bringt das fiktionale Ich (Constantin/Johannes) eine andere Figur (den jungen Mann/Abraham) hervor, um von dieser etwas zu sagen, was vom fiktionalen Ich nicht gilt: 248
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Dem Meermann, der ebenfalls als „Verführer“ (FZ 87 / SKS 4,183) bezeichnet wird, ergeht es ähnlich. Niemals, so Johannes de Silentio, war der Meermann so wild gewesen, wie in dem Moment, da er sich mit der verführten Agnete in den Abgrund stürzt, jedoch verliert sich seine Lust, mit tödlichen Folgen für die Verführte: „Bald wurde er Agnetens müde, doch man fand niemals ihre Leiche […].“ (FZ 89 / SKS 4,185) – Man halte sich auch vor Augen, dass Don Giovanni schlussendlich sterben muss; in „Die Wiederholung“ wird auf die Szene angespielt, in der der Komtur Don Giovanni in den Tod reißt (W 64 / SKS 4,62; s. o. S. 178f.). Man erinnere sich, dass das Motiv des „Unmöglichen“ für die „postmoderne“ Religionsphilosophie von zentraler Bedeutung ist (s. o. Teil B., v. a. Abschn. B.2.2.1). Dieser Sprung des Glaubensritters, der an anderer Stelle als „mystisches Schweben“ („mystiske svæven“; FZ 45 / SKS 4,144) bezeichnet wird, ist eine Bewegung, die sich nicht nur von dem „gefährlichen Schweben“ des Ästhetikers bzw. vom gefährlichen Tanz des Don Juan über den Abgrund (vgl. EO 157 / SKS 2,131; EO 162 / SKS 2,135), sondern gerade auch von dem „sicheren Schweben“ unterscheidet, für das der Gerichtsrat plädiert (EO 636 / SKS 3,99f.; s. o. S. 154). Ein ähnliches Motiv findet sich bei Sauter „Predigtmeditation zu Röm 8,18-23(24-25)“, 503; vgl. ders. Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, 209.211f.
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Constantin ist kein Dichter (im Gegensatz zum jungen Mann), Johannes hat nicht den Glauben, der die Wiederholung ermöglicht (im Gegensatz zu Abraham).252 An folgenden beiden Zitaten, die in Spalten einander gegenübergestellt werden, soll dies exemplarisch verdeutlicht werden:253254 Die Dialektik des Glaubens [Abrahams – J. S.] ist das Feinste und das Merkwürdigste von allem, sie hat einen Aufschwung, von dem ich [Johannes de Silentio – J. S.] mir wohl eine Vorstellung machen kann, aber mehr auch nicht. Ich kann den großen Trampolinsprung machen […]; aber das nächste, das kann ich nicht; selbst kann ich kein Dichter werden, wie denn das Wunderbare kann ich nicht volldenn auch meine Interessen anderswo lie- bringen, sondern nur darüber in Erstaugen. (W 93 / SKS 4,93f. [Hervorhebungen nen geraten. (FZ 32 / SKS 4,131 [HervorJ. S.])253 hebungen J. S.])254 Der junge Mann, den ich [Constantin Constantius – J. S.] habe entstehen lassen, er ist Dichter. Mehr kann ich nicht tun; denn ich kann es höchstens so weit bringen, daß ich mir einen Dichter denke und ihn durch mein Denken hervorbringe,
Während also die Schriften analog strukturiert sind, sind ihre Stoßrichtungen einander diametral entgegengesetzt. Dies soll in einer schematischen Übersicht verdeutlicht werden:255 „Die Wiederholung“ exponiert das Dichtersein des jungen Mannes als Ausdruck der faktischen Unmöglichkeit der Wiederholung. Constantin Constantius bringt dasjenige Charakteristikum des jungen Mannes als des Dichters, der namenlos255 ist, zum Ausdruck, das er, ohne selbst Dichter zu sein, nachvollziehen kann: die tödliche Resignation als Konsequenz des (aus der Perspektive der Immanenz) irreversiblen Verlusts der Wirklichkeit.
252
253 254 255
„Furcht und Zittern“ exponiert den Glauben Abrahams als Ausdruck der kontrafaktischen Wirklichkeit der Wiederholung. Johannes de Silentio bringt dasjenige Charakteristikum Abrahams als des Glaubenden, dessen Glauben unsagbar ist, zum Ausdruck, das er, ohne selbst glaubend zu sein, nachvollziehen kann: die unendliche Resignation als Voraussetzung der (aus der Perspektive der Immanenz) unmöglichen Wiederholung der Wirklichkeit.
Dieses literarische Phänomen könnte in einer genetischen Verbindung mit der romantischen Tradition der „Doppelgängerei“ stehen, d. h. der Beschreibungen einer Spaltung des Ich, die u. a. darin Ausdruck findet, dass dem Ich Doubles gegenübergestellt werden, die als „Projektionsfiguren für Teilidentitäten“ dienen (vgl. SchmitzEmans Einführung in die Literatur der Romantik, 67f.). S. o. S. 166. S. o. S. 186. Der junge Mann unterzeichnet zwei seiner Briefe an Constantin als „namenloser Freund“ (W 67.69 / SKS 4,65.67). In einem tieferen Sinne ist der junge Mann inmitten seiner Beredsamkeit überdies sprachlos; so klagt er, es gebe keine Sprache, in der er sein Recht zum Ausdruck bringen kann (W 71 / SKS 4,69; s. o. S. 167).
C.3 Vielstimmigkeit/Interpseudonymität
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Die beiden Pseudonyme halten je eine filigrane literarische Figur dem Leser entgegen, Constantin seinen „jungen Mann“, Johannes seinen „Ritter des Glaubens“. Diese filigranen Figuren kippen auf die Pseudonyme zurück und amplifizieren so deren Darstellung. Das Dichtersein des jungen Mannes kippt aus dem Leben heraus in den Tod und fällt so auf das fiktionale Ich zurück256: Constantin Constantius hat dem Leben längst „entschlagen“257, eine Flucht in das Dichtersein ist zum Scheitern verurteilt, die wilden Ausschläge des Dichters kollabieren endgültig in der Konstanz des Prosaikers Constantin Constantius. Der Glaube Abrahams als Tod dieses Todes258, als Wiederholung nach der Resignation kippt aus der Sprache heraus in die Unsagbarkeit und fällt so auf das fiktionale Ich zurück: Johannes de Silentio hat es die Sprache verschlagen; der außerordentliche Glaubensritter, der die Heilung zerstörter Wirklichkeit verkörpert, findet in den Ordnungen der Sprache keinen Halt. Nur durch das Gewahren dieses Scheiterns des Lebens und dieses Scheiterns der Sprache hindurch kann Glaube zur Sprache gebracht werden, so die Erfahrung des Scheiterns und die Unverfügbarkeit der Heilung nicht ausgeblendet und die Erfahrungswirklichkeit und die kontrafaktische Wirklichkeit des Glaubens nicht übergangen werden sollen. Im Folgenden wird erörtert, wie dies kraft der Wechselwirkung zwischen den pseudonymen Schriften geschieht.
C.3 Vielstimmigkeit/Interpseudonymität Die negative Konsequenz aus der existenziellen Aporie der Selbstwerdung besteht darin, dass eine autonome Selbstwerdung unmöglich ist. Die negativ-theologische Konsequenz aus dem Aufweis dieser Aporie besteht darin, dass Glaube nur durch Sprachoperationen angedeutet werden kann, durch welche die aufgezeigte Aporie ihrerseits negiert wird. Diese Bedeutungskonstitution vollzieht sich kraft einer von Negativität angetriebenen Vielstimmigkeit: Es hatte sich im Zuge der methodologischen Überlegungen zur Kierkegaardinterpretation als nahe liegend erwiesen, zwischen Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit zu 256
257 258
Zwar wird der junge Mann von etwas „unaussprechlich Religiösem“ getragen, jedoch hat er keinen hinreichend tiefen religiösen Hintergrund, um nicht zum Dichter zu werden (W 94 / SKS 4,94). W 82 / SKS 4,83 („[…] jeg […] havde slaaet mig fra Verden […]“). S. u. Anm. 261.
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unterscheiden.259 Der Akzent der Betrachtung der einzelnen Werke als mehrstimmiger Reden liegt darauf, dass die einzelnen Schriften eine in sich überschaubare oppositionelle Struktur aufweisen. Mehrstimmigkeit kann im Dienst der Beleuchtung eines Gedankens stehen, die durch mehrere Stimmen konturiert wird. Dieser Gedanke ist die Aporie, in der sich die menschliche Existenz vorfindet, und das Scheitern der Versuche der Lösungen dieser Aporie. Die Betrachtung des kontroversen Aufeinandertreffens der Pseudonyme als vielstimmiger Rede legt den Akzent hingegen darauf, dass hier die in sich bereits spannungsvollen pseudonymen Texte einander wechselseitig ‚aufreiben‘. Dieses ‚Aufreiben‘ lässt nicht einmal mehr den Anschein der Überschaubarkeit der Konstitution von Bedeutung zurück. Bedeutung entsteht vielmehr dadurch, dass die Stimmen nicht (zentripetal) auf einen gemeinsam umkreisten Gedanken hin, sondern (zentrifugal) in Richtung des Transzendenten streben.260 Kraft dieser durch eine Negation hindurchschreitenden Bewegung kommt der Glaube zur Sprache, obwohl er nicht zur Sprache kommen kann: Johannes de Silentio spricht vom Glauben, indem er die in den anderen pseudonymen Schriften erklungenen Stimmen negiert; er bezieht seine Kraft aus dieser Negation der anderen Stimmen, die denselben Konflikt beschreiben, jedoch aus anderen, immanenten Perspektiven. Johannes’ Stimme bezieht ihre Wucht daraus, dass er eine Existenz jenseits der Zersplitterung andeutet. Jedoch weiß er keine intelligiblen Worte, in denen eine solche Andeutung stattfinden könnte, er kann daher nur die Resignation als die letzte Konsequenz aus allen vorher geschilderten Daseinshaltungen aufnehmen und ihrerseits negieren; Glaube scheint jenseits aller affirmativen und negativen Rede auf.261 259
260
261
S. o. Abschn. C.1.1.3. Die Knappheit des nun folgenden Abschnitts mag überraschen. Ausdrücklich ist daher darauf hinzuweisen, dass die Kürze der Überlegungen zur Vielstimmigkeit gerade nicht bedeuten muss, Kierkegaards Schriften seien doch viel eher mehrstimmig als vielstimmig. Wenn die vorliegende Interpretation gelungen sein sollte, dann sind ausführliche Erörterungen zur Vielstimmigkeit deswegen nicht opportun, weil die Mehrstimmigkeit bereits ständig in die Vielstimmigkeit drängte. Der vorliegende Abschnitt leistet also weniger den Nachweis der Vielstimmigkeit, viel eher lässt soll er die Mehrstimmigkeit in die Vielstimmigkeit kippen, in die sie bereits aus eigener Kraft neigte. Zu diesem Bildwort s. o. Abschn. B.2.1.4. – Negativität hat also in der Konstitution von Sinn einen weiter gehenden Stellenwert als bei Iser (s. o. Abschn. C.1.1.2). Auf der Sachebene entspricht die geforderte Negation der Negation dem ‚Töten des Todes‘, dessen Notwendigkeit Constantin Constantius darlegt (W 9 / SKS 4,15). Die sprachliche Erhellung der Wiederholung ist insofern selbst eine Bewegung der Wiederholung: Gleichwie die verlorene Existenz einer Wiederholung bedarf, so bedarf
C.3 Vielstimmigkeit/Interpseudonymität
197
Von diesen Überlegungen ausgehend ist nun der Begriff von Kierkegaards literarischer „Strategie“ näher zu erläutern, der nur vorbehaltlich der nun erfolgenden näheren Qualifikation verwendet wurde.262 Der Begriff einer literarischen Strategie wäre problematisch, wenn Kierkegaards souveränes Verfügen über seine Texte durch die Interpretation hätte aufgedeckt werden sollen. Jedoch entspricht das Ineinander der pseudonymen Schriften nicht in dem Sinn einer Strategie, dass Kierkegaard ein verfügbares Ziel mit der Sprache zu erreichen trachtete. Die Strategie Kierkegaards hat vielmehr zum Ziel, dass die Funktionalität von Sprache durch deren Außerkraftsetzung transzendiert wird. Die Wirksamkeit der Schriften unterscheidet sich infolgedessen signifikant von dem, was Kierkegaard zu intendieren vermochte, genauer: sie ist nach dem ausgerichtet, was nicht intendiert werden kann. Um es in einem Bild auszudrücken: Kierkegaard ist kein Stratege in dem Sinne, dass er wie ein Feldherr seine Pseudonyme, mit Worten bewaffnet, so aussendete, dass der Leser bezwungen würde. Kierkegaards Strategie besteht vielmehr darin, die Pseudonyme und pseudonymen Figuren einander im Streit263 über die rechte Verwendung der Worte aufreiben zu lassen. In diesem merkwürdigen Schauspiel wird eine strukturierte und bestimmte Selbstauflösung der Sprache vor Augen geführt, deren Konturen von der Ursache und von dem Ziel dieser Selbstauflösung Zeugnis geben: von der Unlösbarkeit des Konflikts und dem Verlangen nach dem Glauben als einer unmöglichen Heilung des Unheilbaren. Der lautstarke Vorgang der Selbstauflösung der Sprache bzw. des Aufgerissenwerdens264 von Sprache hin262
262 263
264
auch die Sprache, die angesichts der Unausdrücklichkeit des Wunders der Wiederholung ‚verloren‘ ist, einer Wiederholung. Die Sprache vermag nun aber nur durch eine kritische Bewegung, d. h. nur indem sie gegen sich selbst gerichtet wird, solch eine Wiederholung zu vollziehen – ähnlich wie der Ironiker die Wirklichkeit nur durch dieselbe Wirklichkeit vernichten kann (BI 267 / SKS 1,300). – Eine ähnliche Sprachbewegung, i. e. eine „Negation der Negation“, wird in der Mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius beschrieben (s. o. Exkurs 1). Eine grundsätzliche Übereinstimmung der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius mit der soeben vorgeschlagenen Theorie der Sprache des Glaubens besteht darin, dass hier wie dort „das Unsagbare mit dem Sagbaren verwoben“ ist (συμππλεκται τ4 5ητ4 τ) 'ρρητον [Ep 1105D; S. 197 Z. 12]). S. o. Abschn. C.2.0. Der „Streit“ bzw. „Kampf“ (literarischer) Stimmen ist ein Motiv, das bei Bachtin häufig begegnet (vgl. Bachtin Probleme der Poetik Dostoevskijs, 37.46.78.80.85ff. 99.101.296.298; s. o. Abschn. C.1.1.2; vgl. ferner die vorgeschlagene Theorie der Sprache des Glaubens [s. o. Abschn. B.3]). Derrida sagt über Levinas’ Schreibweise, er würde diese als „Strategie des Risses“ bezeichnen, unterlasse dies jedoch, da dieses Wort „dem ökonomischen Kalkül, der
198
C Søren Kierkegaards frühes pseudonymes Werk als Literatur
terlässt also keine Leere, sondern vermittelt eine Ahnung von dem Glauben, der in (prädikativer) Sprache nicht aufgeht.
List des Strategems und der kriegerischen Gewalt zuviele Winke geben würde […]“. (Derrida „Eben in diesem Moment findest du mich“, 57) Im Anschluss an John D. Caputo, der ausführt, mystische Sprache sei eine Sprache ohne Sprache, eine Sprache, die ihre eigene Aufzehrung anstrebe (MRH 250; s. o. Abschn. B.2.2.4), ließe sich also formulieren, dass Kierkegaards literarische Strategie als eine „Strategie ohne Strategie“ bezeichnet werden kann, d. h. eine Strategie ohne eine Ausrichtung auf ein Ziel, das einkalkuliert werden könnte.
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog D.1 Zusammenfassung Die abschließenden Abschnitte dieser Arbeit1 zeugen davon, dass, wie in der Einleitung2 angekündigt, die Grenze zwischen wissenschaftlicher Darstellung und literarischer Stilisierung vor dem Hintergrund der Aufgabe, der sich diese Arbeit gestellt hat, durchlässig werden musste. Die vorliegende Arbeit erhebt allerdings den Anspruch, wissenschaftlichen Maßstäben zu entsprechen, insofern diese Grenzüberschreitung von diskursiven Erörterungen der theoretischen Möglichkeit und Notwendigkeit grenzüberschreitender Sprache vorbereitet und orientiert wurde. Die Zusammenfassung hat also vor allem eines zu leisten: Es soll deutlich werden, dass die Grenze von intelligibler Rede und dem, was zuletzt als „Erschweigen“ bezeichnet wurde3, sowie die Grenze von deskriptiver und literarisch gestalteter Sprache nicht willkürlich, sondern in bestimmter (und vielleicht gar viel versprechender) Art und Weise überschritten wird. Zu diesem Zwecke ist der beschrittene Weg nun ausführlich zu rekapitulieren. Die Arbeit suchte nach der Beschreibung einer Möglichkeit der Rede vom Glauben als einem unsagbaren Glauben4, d. h. einer Möglichkeit, dass Sprache die ihr gesetzten Grenzen überschreitet. Dass die Grenze des Sagbaren überschritten wird, ist nun nicht (unbedingt) Bedingung einer jeden Sprache des Glaubens. Zumindest aber in „Grenzfällen“ scheint mir diese Überschreitung der Grenze des Sagbaren notwendig zu sein, z. B. dann, wenn der Widerspruch zwischen dem zu Sagenden und der Erfahrungswirklichkeit5 oder die Entfrem1 2 3 4 5
Vgl. v. a. Abschn. C.2.4; C.3. S. o. Abschn. A.1. S. o. Abschn. C.3. S. o. Abschn. A.1. Die Theodizeefrage steht in dieser Hinsicht am Horizont der Problemstellung, auf die das hier Vorgetragene zu reagieren versucht. Dass die Theodizeefrage eine Herausforderung an die religiöse Sprache darstellt, scheint mir z. B. an Theobalds Überlegungen zur Theodizeefrage deutlich zu werden (vgl. Theobald Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee, 27ff.).
200
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
dung der zeitgenössischen Gesellschaft von der christlichen Tradition für die Glaubensrede Anlass zur Selbstprüfung wird. Die in der Fragestellung der Arbeit implizierte Grenzüberschreitung reflektiert sich in der Methode der Arbeit, insofern in dieser ebenfalls (begründete und kontrollierte) Grenzüberschreitungen vollzogen werden.6 So wurden Kierkegaards Texte vor dem Hintergrund einer systematisch-theologisch formulierten Aufgabenstellung aus der Perspektive „postmoderner“ bzw. dekonstruktivistischer Theorien sowie verschiedener literaturtheoretischer Zugänge betrachtet. Eine spannungsfreie Synthese der konsultierten wissenschaftlichen Disziplinen wurde dabei nicht angestrebt. Allerdings sollte deutlich werden, dass sich Einsichten aus den jeweiligen Disziplinen ungeachtet von deren Heterogenität in ein konstruktives Verhältnis zu der Aufgabe der vorliegenden Arbeit setzen lassen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von Hermeneutik und Dekonstruktion.7 Die Architektur der Arbeit lässt sich wie folgt umreißen8: Nach der Exposition der Aufgabenstellung der Arbeit9 wurde zuerst gefragt, was „Vielstimmigkeit“10 ist, dann, in welcher Weise Vielstimmigkeit in Religionsphilosophie und Theologie begegnet11, so dass schließlich eine konstruktive Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren vorgetragen werden konnte.12 Auf der Suche nach einer Realisierung solch einer Theorie wandte sich die Untersuchung dem pseudonymen Werk Søren Kierkegaards zu. Zunächst wurde untersucht, wie eine der Aufgabe entsprechende interpretatorische Methode beschaffen sein müsse13, anschließend wurden die drei pseudonymen Schriften Kierkegaards von 1843 zunächst als mehrstimmige14 und davon ausgehend als vielstimmige15 literarische Gebilde interpretiert.
6
7 8 9 10 11 12 13 14 15
Die genannten Grenzüberschreitungen sind selbstredend von qualitativ verschiedener Art, allerdings besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der in der Aufgabenstellung der Arbeit implizierten Grenzüberschreitung und den in der Methode der Arbeit angelegten Grenzüberschreitungen. S. o. Abschn. C.1.0; s. u. S. 222. S. o. Abschn. A.2. S. o. Teil A. S. o. Abschn. B.1. S. o. Abschn. B.2. S. o. Abschn. B.3 S. o. Abschn. C.1. S. o. Abschn. C.2. S. o. Abschn. C.3.
D.1 Zusammenfassung
201
Dieser Gedankengang soll nun im Einzelnen rekapituliert werden. Im ersten Hauptteil der Arbeit16 wurde eine Theorie der Sprache des Glaubens als einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren entwickelt. Da dies in einer intensiven Auseinandersetzung mit „postmodernem“ bzw. „dekonstruktivistischem“ Denken geschah, galt es zunächst, zumindest arbeitshypothetische Definitionen der Begriffe „Postmoderne“, „Dekonstruktion“, „Dekonstruktivismus“ und „Vielstimmigkeit“ zu formulieren.17 Die Arbeit näherte sich in mehreren Schritten dem für ihren Gedanken zentralen Begriff der „Vielstimmigkeit“. Eines wird bei jedem dieser Schritte deutlich: Vielstimmigkeit im hier intendierten Sinne ist keine „bunte Vielfalt“, d. h. keine ästhetisch verklärte Pluralität gleich gültiger Perspektiven, auch wenn „Vielstimmigkeit“ im allgemeinen Sprachgebrauch meist in dieser Weise aufgefasst wird. Vielstimmigkeit ist vielmehr Folge einer bedeutungskonstitutiven Spaltung der Rede, deren Sinn und Notwendigkeit sich überhaupt erst kraft einer strengen – und keinesfalls beliebig-assoziativ verfahrenden – Analyse von Aporien in der Konstitution von Bedeutung erschließen. Zunächst wurden im Zuge der Entwicklung des Begriffs der Vielstimmigkeit zwei Texte Derridas interpretiert, nämlich „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ und „Signatur Ereignis Kontext“.18 In diesen anspruchsvollen und provokativen Texten entwickelt Derrida auf je verschiedene Weise den Gedanken einer differenten Wiederholung, die zugleich Bedingung der Möglichkeit und Bedingung der Unmöglichkeit selbstidentischen Sinns ist. Am klarsten scheint mir dieser Gedanke in Derridas Kritik an der Austinschen Sprachakttheorie formuliert zu sein.19 Ein Sprechakt kann nur funktionieren, d. h. zunächst: als ein bestimmter Sprechakt identifizierbar sein, wenn das Sprechen des den Sprachakt Vollziehenden im Zusammenspiel mit den gegebenen kontextuellen Bedingungen allein, also ungeachtet der Intention des Sprechenden, den Sprechakt erkennbar werden lässt. Dies bedeutet aber in letzter Konsequenz – so argumentiert Derrida – dass der Sprechakt auch dann funktionieren können muss, wenn die Intention des Sprechenden dem Sprechakt zuwiderläuft. 16 17
18 19
S. o. Teil B. S. o. Abschn. B.1.1. – Der Begriff „Postmoderne“ kann kaum befriedigend definiert werden und erscheint daher in dieser Arbeit stets in Anführungszeichen. S. o. Abschn. B.1.2. S. o. Abschn. B.1.2.2.
202
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
Einen ähnlichen Gedanken formuliert Derrida in einer früheren Schrift in Auseinandersetzung mit der Beilage III zu Husserls KrisisSchrift20: Eine geometrische Evidenzerfahrung muss versprachlicht werden, um beanspruchen zu können, eine allgemein gültige „Wahrheit“ darzustellen. Geht eine Evidenzerfahrung aber in Sprache ein, so wird sie der Gefahr ausgesetzt, von späteren Rezipienten nicht mehr verstanden bzw. missverstanden, d. h. entgegen der Intention des ‚Autors‘ aufgefasst und entgegen ihres ursprünglichen Sinnes ‚weiterverwendet‘ zu werden. Der Gedanke, dass in jeder Evidenzerfahrung und in jedem Sprechakt die irreduzible Möglichkeit differenter Wiederholung mitschwingt, ist die Keimzelle des Gedankens der Vielstimmigkeit, d. h. der irreduziblen Vielfalt vermeintlich „originärer“ und verfremdend hinzutretender Stimmen. Nun kann in Bezug auf diese beiden Texte Derridas kontrovers diskutiert werden, inwieweit Derridas Schlussverfahren im Einzelnen einer kritischen Überprüfung standhält.21 Das kritische Moment in Derridas Argumentation scheint mir darin zu bestehen, dass Derrida von der Tatsache, dass Sprache auch ohne die Intention des Sprechers/Schreibers funktionieren kann, auf die Notwendigkeit der Möglichkeit einer Fortschreibung des Sinns entgegen dem ursprünglichen Sinn schließt.22 Der Frage, ob Derridas Überlegungen frei von logischen Problemen sind, wurde in dieser Untersuchung allerdings lediglich in Form von Andeutungen nachgegangen. Auch lautet die Frage dieser Arbeit nicht, ob sich aus den Phänomenen der Krise in der Konstitution von Sinn, die Derrida beschreibt, auch weniger radikale Schlussfolgerungen ziehen ließen. Der Sinn der Beschäftigung mit den beiden genannten Texten von Derrida innerhalb der vorliegenden Arbeit besteht vielmehr darin, das Verständnis von Derridas Gedanken einer „vielstimmigen“ Rede vorzubereiten.23 Derridas theoretische Grundlegung des Gedankens der Vielstimmigkeit galt es deshalb zu klären, weil dem Vortrag Derridas „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ der Gedanke der Vielstimmigkeit als Substruktur zugrunde liegt. Die argumentative Struktur des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ wurde in einer detaillierten Analyse nachvollzogen. Die entscheidende Einsicht dieser Analyse besteht darin, dass Vielstimmigkeit von Derrida zugleich als eine 20 21 22 23
S. o. Abschn. B.1.2.1. S. o. Abschn. B.1.3. S. o. Abschn. B.1.2.1 u. B.1.2.2. S. o. Abschn. B.1.2.0.
D.1 Zusammenfassung
203
Folge der Krise von Sinn und als eine positive Möglichkeit von Sprache angesehen wird.24 Die Feststellung dieser Gleichzeitigkeit von Krise und Möglichkeit, von Gefahr und Chance markiert eine argumentative Wendung, die bereits in Derridas Austin-Lektüre „Signatur Ereignis Kontext“ begegnete.25 Sowohl in „Signatur Ereignis Kontext“ als auch in „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ fragt Derrida an einer neuralgischen Stelle, ob die Konstitution von Bedeutung bzw. ob „eine Theologie“ möglich wäre, wenn die beschriebene Komplikation in der Konstitution von Bedeutung nicht stattfände. Im Folgenden soll diese entscheidende Wendung im Gedankengang des Vortrags „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ kurz skizziert werden. Die Analyse von Derridas Vortrag gliedert sich nach den beiden Ebenen, auf denen der Vortrag operiert: Auf der einen Seiten bezieht sich der Vortrag ständig auf die Situation, in der er gehalten wird.26 Diese Situation ist davon gekennzeichnet, dass Derrida versucht, auf eine gegen ihn vorgebrachte „Anklage“ zu antworten. Diese Situation des Antworten-Müssens steht nun zur negativen Theologie in einem doppelten Verhältnis: Erstens sind die (adäquate) Antwort an den Anderen und das Nennen Gottes beide in fundamentaler Weise unmöglich. Die Unmöglichkeit der Antwort an den Anderen gründet darin, dass jede Antwort und überhaupt jede Rede zum Anderen, die sich der Sprache als eines durch Verallgemeinerung konstituierten Systems bedient, die Einzigartigkeit des Anderen – des anderen Menschen und Gottes – zu missachten droht.27 Zweitens wird die negative Theologie in der Formulierung der gegen Derrida gerichteten Anklage angesprochen: Die Anklage, auf die der Vortrag zu antworten sucht, lautet, Derrida „wiederhole“ in seiner dekonstruktiven Arbeit ständig die Vorgehensweisen negativer Theologie.28 Zunächst stellt Derrida hierzu fest, dass die negative Theologie selbst – wie überhaupt jede Sprache – stets davon gefährdet ist, in eine mechanisierbare Wiederholung zu entarten, dass also der „Vorwurf“, Derrida wiederhole die Strategien der negativen Theologie, sich weniger gegen Derrida richtet, als vielmehr die Problematik jeder Sprache im Allgemeinen und der negativen Theologie im Besonderen betrifft. Im Anschluss an diese Kritik der Kritik jedoch deutet sich besagte Wen24 25 26 27 28
S. o. Abschn. B.2.1.4. S. o. Abschn. B.1.2.2. S. o. Abschn. B.2.1.1. S. o. Abschn. B.2.1.2. S. o. Abschn. B.2.1.3.
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D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
dung in Derridas Gedankengang an: Der nivellierenden Tendenz der Wiederholung soll, so Derrida, durch die Wiederholung selbst begegnet werden. Dies wiederum geschieht kraft der Vielstimmigkeit als einer Konstellation von Stimmen, die einander different wiederholen: Derrida erörtert (im Wesentlichen) zwei verschiedene Formen der Vielstimmigkeit29, eine scheinhafte Vielstimmigkeit, in der die Vielfalt der Stimmen durch den ständigen Bezug auf stabile Denkvoraussetzungen entvielfältigt wird, und eine rückhaltlose Vielstimmigkeit30, in der die Vielfalt der Stimmen irreduzibel und die Kontroverse der Stimmen unversöhnt bleibt. Die erste Form der Vielstimmigkeit bezeichne ich als zentripetale, die zweite als zentrifugale Vielstimmigkeit. Diese Unterscheidung zwischen zentripetaler und zentrifugaler Vielstimmigkeit wird in Derridas Erörterung der verschiedenen Redeweisen von der „χρα“ in Platons „Timaios“ vorbereitet; angewendet wird diese Unterscheidung dann in der Erörterung der Vielstimmigkeit bei Meister Eckhart und Pseudo-Dionysius: Auf der einen Seite begegnen bei diesen beiden Denkern Tendenzen zur zentripetalen Vielstimmigkeit.31 Ein zweiter Blick auf den Pseudo-Dionysischen Text „Über die Mystische Theologie“ jedoch legt offen, dass neben der Tendenz zu einer zentripetalen Entvielfältigung der Stimmen eine irreduzible Vervielfältigung der Stimmen, also eine zentrifugale Vielstimmigkeit, am Werke ist. Diese letztgenannte Beobachtung am Pseudo-Dionysischen Text scheint mir die Pointe von Derridas Vortrag zu sein; um sie würdigen zu können, wird der Pseudo-Dionysische Text „Über die Mystische Theologie“ in einem Exkurs referiert.32 Dieser Exkurs erläutert die dreifach getaktete Sprachbewegung, die den Text durchzieht. Zwei für sich allein unzureichende Arten und Weisen theologischer Rede finden vor der „Mystischen Theologie“ als einer Vereinigung mit dem „Einen“ im Gebet statt: Die affirmativen Theologien setzen Aussagen, die negativen Theologien sprechen (Aussagen) ab bzw. verneinen, die mystische Theologie schließlich „ist“ (eine Vereinigung mit der transzendenten Ursache) jenseits aller affirmativen und negativen
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31 32
Derrida spricht von verschiedenen „Sprachen“, der Sache nach kann das zur Disposition stehende Phänomen allerdings als „Vielstimmigkeit“ bezeichnet werden. Diese Unterscheidung hat in Derridas Unterscheidung einer „beschränkten“ von einer „allgemeinen“ Ökonomie zumindest im weiteren Sinne eine Analogie (vgl. SD 380ff.). S. o. Abschn. B.2.1.3. S. o. Abschn. B Exkurs 1.
D.1 Zusammenfassung
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Rede. Analog zu diesen dreifach getakteten Sequenzen entwickelt Pseudo-Dionysius weitere Sequenzen. Derrida stellt nun fest, dass diese dreifach getakteten Sequenzen nur scheinbar aus der Sprache heraus in die Sprachlosigkeit führen.33 Am Ende der dreifach getakteten Sequenzen steht jeweils die Vereinigung mit dem Einen im Gebet – jedoch: Das Gebet ist nicht über die Sprache erhaben, vielmehr wird das Gebet seinerseits zitiert. Der Text „Über die Mystische Theologie“ beginnt damit, dass Pseudo-Dionysius sein eigenes Gebet niederschreibt und es zitiert. So folgt auf das Gebet die Anrede an den Adressaten der Schrift: „Dies ist mein Gebet. Für dich, lieber Timotheus […].“ Das Gebet ist also der Sprache und der Zitation nicht enthoben, auch wenn die beschriebenen Sprachbewegungen aus der Sprache in die wortlose Einigung mit dem Einen im Gebet zu drängen scheinen. In dem Moment vielmehr, in dem der Betende in das Wortlose ('λογος; 'φωνος) eintauchen sollte, hebt die wortreiche Beredsamkeit (πολυλογτερος; πολυλογ1ς) Rede (erneut) an, jedoch nun so, dass die Alogie in die Polylogie, das Unsagbare in das Sagbare verwoben ist. Die Zitation/Wiederholung der einen Stimme durch eine andere, die erste Stimme verfremdende Stimmen scheint dann, so Derrida, eine Bedingung der Theologie und überhaupt der Rede vom „Anderen“ zu sein. Um diesen komplexen Gedanken kurz zu rekapitulieren34: Die Frage stand am Anfang, wie es möglich ist, vor/zum Anderen bzw. vor/zu Gott35 zu sprechen bzw. dem Anderen zu antworten, ohne die Einzigartigkeit und Inkommensurabilität des Anderen/Gottes zu nivellieren – wenngleich doch Sprache, insofern sie aus wiederholbaren Codes besteht, immer zu solcher Nivellierung führen muss. Die Suche nach einer solchen ‚unmöglichen Möglichkeit‘ einer Sprache, die die Inkommensurabilität des zu Bezeichnenden wahren kann, führt über die Betrachtung verschiedener Phänomene des Gespaltenseins der Rede in verschiedene Stimmen schließlich zu der Beobachtung, dass im PseudoDionysischen Text „Über die Mystische Theologie“ das Gebet als Anrede an den Anderen und das Zitat irreduzibel ineinander verwoben sind. So entsteht in diesem Text eine Vielstimmigkeit als eine unaufhörliche Vervielfältigung der Stimmen durch Zitation als differente 33 34 35
S. o. Abschn. B.2.1.3. S. o. Abschn. B.2.1.4. Ohne dass „der Andere“ mit Gott identifiziert würde, ist m. E. anzunehmen, dass die Rede vom Anderen und die Rede von Gott – schließlich auch die Rede vom Glauben – die Sprache vor eine vergleichbare Herausforderung stellen.
206
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
Wiederholung. Der Unmöglichkeit einer reinen, von der Sprache nicht verfremdeten Bezeichnung des Anderen soll die exzessive Inszenierung einer konfliktuösen Vielstimmigkeit entgegnet werden. In den Blick rückt also eine Sprachverwendung, die die Sprache daran hindert, das der Sprache Inkommensurable zu missachten, indem die Sprache ständig gegen sich selbst ins Werk gesetzt wird. Das Kreisen der Sprache wird derart amplifiziert und beschleunigt, dass die Sprache aus ihren Fugen gerät, rissig wird und gerade so dasjenige durchscheinen lässt, das in der Sprache niemals aufgehen kann. Derridas Vortrag zur negativen Theologie führt so zu der Wahrnehmung der Struktur einer „negativen Theologie“ als einer bestimmten Sprachpraxis. Es handelt sich um die Struktur einer sich vervielfältigenden, sich in der Vielstimmigkeit selbst widersprechenden, so ihre eigenen Grenzen negierenden und kraft dieser Negation ihre eigenen Grenzen überschreitenden Sprache. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit bestand darin, in Kierkegaards Schriften Analogien zu dieser Struktur aufzuzeigen. Zuvor jedoch waren drei Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum näher zu betrachten, die sich um eine theologische bzw. religionsphilosophische Anwendung von dekonstruktivistischen, insbesondere Derridaschen Denkfiguren bemüht haben. Die Beiträge der drei exponierten Vertreter „postmoderner“ Religionsphilosophie bzw. Theologie John D. Caputo, Graham Ward und Thomas Carlson illustrieren jeder auf verschiedene Weise, dass und wie Vielstimmigkeit eine ‚positive Möglichkeit‘ dekonstruktivisch inspirierter Theorie und Praxis der Sprache des Glaubens sein kann.36 Der Philosoph, Religionsphilosoph und Ethiker John D. Caputo hat in seinem Werk auf verschiedenen Ebenen literarische Strategien der Vielstimmigkeit realisiert.37 Caputos Texte sind (zu einem großen Teil) nach der Struktur von ‚unentscheidbaren Analogien‘ gestaltet. Diese ‚unentscheidbaren Analogien‘ bestehen darin, dass zwei (oder mehrere) Konzepte, die jeweils durch zwei (oder mehrere) Denker bzw. „Stimmen“ personifiziert werden, in ein Verhältnis zueinander gestellt werden, welches vorsieht, dass weder eines der Konzepte bzw. einer der Denker oder eine der Stimmen das letzte Wort behält noch eine Synthese oder Vermittlung der Konzepte vorgenommen wird. Stattdessen treten die kontroversen Konzepte bzw. Stimmen in ein unauflöslich spannungsvolles Wechselverhältnis zueinander, welches der einzige Modus ist, in dem der Unversöhnbarkeit und der jeweili36 37
S. o. Abschn. B.2.2-B.2.4. S. o. Abschn. B.2.2.
D.1 Zusammenfassung
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gen Berechtigung der (einzelnen) Stimmen Rechnung getragen werden kann.38 So entwickelt Caputo in seiner Studie „Radical Hermeneutics“ eine Zusammenschau vom Denken Derridas und dem des späten Heidegger, die in dem Gedanken kulminiert, dass die Ruhe des Letzteren stets von der Verspieltheit des Ersteren aufgestört werde und umgekehrt.39 In seiner Derridastudie „The Prayers and Tears of Jacques Derrida“ verwebt Caputo u. a. die Stimmen Abrahams, Kierkegaards und Derridas in einer Art von ,Patchworktext‘ miteinander. Bedeutung entsteht wiederum in der Kontroverse der Stimmen, nicht jedoch, indem die Kontroverse etwa derart geklärt würde, dass einer Stimme gegenüber der anderen der Vorzug gegeben (oder dass eine weitere, den Gegensatz überwindende Auffassung entwickelt) würde.40 Vielstimmigkeit begegnet bei Caputo weiterhin in Gestalt einer Repristination von Kierkegaards Technik der Pseudonymität v. a. in „Against Ethics“.41 In dieser Studie werden mehrere unversöhnbare Auffassungen zur Ethik miteinander in eine kontroverse Beziehung gestellt. Grundsätzlich handelt es sich um eine Kontroverse zwischen Nietzsches Bestreitung der Verbindlichkeit moralischer Sätze und Levinas’ Gedanken einer Konstitution der Ethik im Angesicht des Anderen. Die Pointe der Studie besteht jedoch in der literarischen Gestalt von Caputos Darlegungen – die im Untertitel als Beiträge zu einer Poesie der Verpflichtung bezeichnet werden: Am Ende der Schrift erklingt eine Reihe von pseudonymen Stimmen, die von Caputo wiedergegeben und kommentiert werden. Caputo stellt schließlich fest, Bedeutung entstehe in der Kontroverse der Stimmen, im Raum bzw. in der Distanz zwischen ihnen. Dass hier nicht an ein bloßes Nebeneinander von Stimmen, sondern an ein höchst konzentriertes Ineinander und Gegeneinander von Stimmen gedacht ist, ein Ineinander also, das die Sprache, da das Intendierte nicht gesagt werden kann, aufreißt bzw. „zur Weißglut treibt“, verdeutlichen auch Caputos Gedanken zur Mystik.42 Eine abschließende Würdigung von Caputos Werk, in der auch Derridas Reaktion auf Caputo bedacht wurde, hielt den Ertrag von Caputos Denken für die in der vorliegenden Arbeit gestellte Aufgabe fest.43 Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass es in Caputos Werk
38 39 40 41 42 43
S. o. Abschn. B.2.2.1-B.2.2.5. S. o. Abschn. B.2.2.2. S. o. Abschn. B.2.2.3. S. o. Abschn. B.2.2.5. S. o. Abschn. B.2.2.4. S. o. Abschn. B.2.2.6.
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D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
Tendenzen gibt, das von ihm kritisierte Denken in binär-hierarchischen Oppositionen in seiner Polemik z. B. gegen religiöse Traditionen nun doch wieder in den Dienst zu stellen. Allerdings hat Caputo selbst seine Polemik später mehrfach relativiert. Integraler Bestandteil von Caputos Denken ist weniger die Kritik an historischen Religionen als vielmehr die Kritik an „Dogmatismus“ und „Triumphalismus“. Weiterhin wurde auf den besonderen Charakter von Caputos Schriften eingegangen, sowohl hinsichtlich Caputos Wahrnehmung von philosophischer Tradition als auch hinsichtlich der literarischen Gestalt, die er seinen Texten gibt. Die Gestalt von Caputos Texten als eine vielstimmige Rede ist für das in dieser Arbeit zu Entwickelnde von großer Bedeutung und steht – neben Derridas Vortrag „Wie nicht sprechen. Verneinungen“ – im Hintergrund der an späterer Stelle vorzutragenden Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Unsagbaren.44 Mit einem stärker begrenzten Horizont entwickeln die beiden anderen in der vorliegenden Arbeit analysierten Vertreter „postmodernen“ Denkens in Theologie und Religionsphilosophie, Thomas Carlson und Graham Ward, ähnliche Figuren der Vielstimmigkeit. Thomas Carlsons Studie45 ist durch Derridas Vermutung inspiriert, alle „apophatischen Mystiken“ könnten als „scharfsinnige Diskurse über den Tod“ gelesen werden. In der Denkfigur der „apophatischen Analogie“ entwickelt Carlson eine Zusammenschau von Pseudo-Dionysius und Martin Heidegger46, die darin ihre Pointe hat, dass über das Verhältnis der Analogaten zueinander kein abschließendes Urteil gefällt wird.47 Die strukturelle Übereinstimmung von Pseudo-Dionysius’ negativ-theologischen und Heideggers negativ-anthropologischen Gedanken sieht Carlson darin, dass hier wie dort das „Selbst“ als ekstatisch auf seine Vergangenheit und auf seine Zukunft bezogen erscheint. Carlsons Studie hat darin ihre Pointe, dass die Deutung des Phänomens der ekstatischen Konstitution des Selbst zwischen Theologie und „Thanatologie“ unentscheidbar oszilliert. Diese „apophatische Analogie“ weist allerdings in ihrer Durchführung einzelne Schwierigkeiten auf48: Die Differenz zwischen Pseudo-Dionysius und
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S. o. Abschn. B.3. S. o. Abschn. B.2.3. S. o. Abschn. B.2.3.2. S. o. Abschn. B.2.3.1. S. o. Abschn. B.2.3.3.
D.1 Zusammenfassung
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Heidegger scheint doch größer zu sein, als Carlson konzediert; die Parallelisierung dieser beiden Denker in Bezug auf die ekstatische temporale Konstitution des Selbst leidet daran, dass bei Pseudo-Dionysius die Vergangenheit, bei Heidegger hingegen die Zukunft im Vordergrund des jeweiligen entsprechenden Gedankenkomplexes steht. Daher schlage ich eine Modifikation von Carlsons „Indiskretion“ vor: Die Unentscheidbarkeit ist bereits zwischen dem Denken einer „Indiskretion“ und dem Denken, das sich „in Diskretion“ vollzieht, anzusiedeln; Carlsons Entscheidung für die Unentscheidbarkeit ist selbst in Frage zu stellen, indem die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung von Pseudo-Dionysius und Heidegger ihr den Gedanken Carlsons aufstörendes Recht behält. Graham Wards Gedanke einer „postmodernen Theologie des Wortes“ kulminiert in einer Zusammenschau von Barth und Derrida.49 Auch diese Zusammenschau kann im weiteren Sinne als eine Gestalt von Vielstimmigkeit aufgefasst werden, insofern wiederum zwei Diskurse, die von zwei Denkern bzw. „Stimmen“ repräsentiert werden, in ein Wechselverhältnis gestellt werden.50 Die zentrale These von Wards Studie zur Sprache der Theologie lautete, Derridas „Ökonomie“ der „différance“ könne als philosophisches „Supplement“ zu Barths Theologie und Barths Theologie als theologisches „Supplement“ zu Derridas „Ökonomie“ der „différance“ aufgefasst werden. Dieser Zusammenschau liegt die Auffassung zu Grunde, in Barths Denken liefen zwei heterogene Sprachtheorien nebeneinander her51, deren Unvermitteltbarkeit und Unvermitteltheit Ward mit dem Begriff einer „Verhandlung“, den er einem Text von Derrida entnimmt52, in Verbindung stellt. Nun sind in Bezug auf Wards Ausführungen einige Bedenken angemeldet worden hinsichtlich der Interpretation von Barth sowie der theologischen „Kritik“, die Ward an Derrida übt.53 Überdies ist die Zusammengehörigkeit der Stimmen in der Konstruktion von Wards These letztlich auf eine Entscheidung durch das gläubige Subjekt angewiesen. Damit ist jedoch die fruchtbare Energie gehemmt, die von Vielstimmigkeit freigesetzt werden könnte. So entsteht der Eindruck, dass einerseits Wards Versuch, eine 49 50
51 52 53
S. o. Abschn. B.2.4. S. o. Abschn. B.2.4.4. – Ward bezieht seine Überlegungen ausdrücklich auf den Gedanken einer vielstimmigen („plurivocal“) Rede und verweist auf Derridas Äußerungen zur Vielstimmigkeit. S. o. Abschn. B.2.4.2. S. o. Abschn. B.2.4.3. S. o. Abschn. B.2.4.5.
210
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
Denkfigur der Vielstimmigkeit einer Theorie der Sprache der Theologie zu Grunde zu legen, dem Anliegen der vorliegenden Arbeit sehr nahe kommt, dass aber andererseits diese Vielstimmigkeit nur um den Preis von problematischen Annahmen bezüglich der Interpretation von Barth und Derrida behauptet werden kann. Die Betrachtung von Wards Ansatz schärft also den Blick dafür, welche Fehler eine Theorie vielstimmiger Rede zu vermeiden hat, gerade insofern Wards Arbeit der Intention dieser Arbeit nahe steht. Der Ertrag der Interpretation der Werke von Caputo, Carlson und Ward lässt sich wie folgt formulieren54: Die drei genannten Beiträge befinden sich – betrachtet man sie in der hier vorgenommenen Anordnung – im Gefälle einer stetig sich verstärkenden Verbindung von dekonstruktivistischem Denken und Theologie. Während der Philosoph John D. Caputo der Theologie kritisch gegenübersteht55, arbeitet Carlson an der Schnittstelle von Religionsphilosophie und Theologie, Graham Ward rezipiert dekonstruktivistisches Denken von einem (selbst nicht zur Disposition gestellten) theologischen Standpunkt aus. Die Reflexion über dieses Gefälle im Zusammenhang mit der Beurteilung der einzelnen Beiträge ergibt ein spannungsvolles Bild. Auf der einen Seite steht das Vorhaben dieser Arbeit, d. h. eine Rezeption dekonstruktivistischen Denkens im Rahmen eines theologischen Vorhabens, der Arbeit von Ward nahe. Auf der anderen Seite wurden in der Erörterung von Wards Studie Bedenken angemeldet, die u. a. gerade den Versuch einer Synthese von theologischem und dekonstruktivistischem Denken betreffen. Weniger grundsätzliche Bedenken wurden in Bezug auf Carlson formuliert, während die Arbeit von Caputo – als (religions)philosophische, nicht als theologische Arbeit betrachtet – am fruchtbarsten erschien. So ist festzuhalten, dass das Gefälle von philosophischer über religionsphilosophische zu theologischer Arbeit hinsichtlich seiner Bewegungsrichtung der Intention dieser Arbeit entspricht, dass jedoch die konkrete Gestalt der theologischen Rezeption dekonstruktivistischen Denkens in der von Carlson, v. a. aber in der von Ward vorgelegten Form als problematisch erscheint. Nun soll kurz rekapituliert werden, wohin der Weg die Untersuchung bis an diese Stelle geführt hat. Die Analyse zweier Texte Derri54 55
S. o. Abschn. B.3. Die betrachteten Texte stammen aus der Zeit vor Caputos Emeritierung von seinem Lehrstuhl für Philosophie; seit seiner Emeritierung hat Caputo einen Lehrstuhl für „Religion and Humanities“ inne.
D.1 Zusammenfassung
211
das hat den Gedanken der Vielstimmigkeit theoretisch vorbereitet. Bereits in Derridas Text zu Austin („Signatur Ereignis Kontext“), v. a. aber in seinem Vortrag zur negativen Theologie („Wie nicht sprechen. Verneinungen“) wird deutlich, dass die Exposition einer Aporie in der Konstitution von Bedeutung zugleich als Hinweis auf die positive Möglichkeit einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren aufgefasst werden kann. Diese positive Möglichkeit einer vielstimmigen Rede ist in unterschiedlicher Weise in den drei betrachteten Beiträgen aus der angelsächsischen, „postmodernen“ Religionsphilosophie realisiert. Jedoch ist mit dieser Feststellung das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Beschreibung der Möglichkeit, dass Sprache den Glauben als unsagbaren Glauben zur Sprache bringt, nicht erreicht, da diese Beiträge teils in einem distanzierten Verhältnis zur Theologie stehen, teils zur Theologie Verbindungen herstellen, die sich bei näherem Hinsehen als (in unterschiedlichem Maße) problematisch erweisen. Es bedarf daher einer anderen Verbindung von dekonstruktivistischem und theologischem Denken, die die genannten Engführungen vermeidet. Auf ihrer Suche nach einer solchen Verbindung zwischen Theologie und Dekonstruktion wandte sich die Arbeit dem pseudonymen Werk Søren Kierkegaards zu. Die Interpretation von Kierkegaards Werk wurde durch eine Zusammenfassung der Lese- und Denkerfahrungen des gesamten zweiten Hauptteils56 vorbereitet, in der die folgende Theorie einer Sprache des Glaubens als vielstimmiger Rede vom Glauben vorgeschlagen wurde: Sinn entsteht in einer Sprache des Glaubens als einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren, indem die Rede sich in mehrere Stimmen spaltet und diese Stimmen in eine produktive Kontroverse geraten. Diese Kontroverse der in mehrere Stimmen gespaltenen, vielstimmigen Rede bringt das Unsagbare als das von den streitenden Stimmen Ausgesparte bzw. als das durch die Risse der Sprache Hindurchscheinende zur Sprache.57 Kierkegaards Werk wurde also im zweiten Hauptteil der Arbeit58 hinsichtlich seiner sprachlichen, d. h. im Rahmen dieser Arbeit: hinsichtlich seiner literarischen Gestalt als Modell für eine Sprache des Glaubens als vielstimmige Rede vom Unsagbaren wahrgenommen.59 56 57
58 59
Teil B. S. o. Abschn. B.3. – Diese Theorie steht in einem differenzierten Verhältnis zur negativen Theologie. Vgl. zur negativen Theologie Exkurs 1: Pseudo-Dionysius’ „Über die Mystische Theologie“ und Exkurs 2: Kierkegaard und „die“ negative Theologie nebst einigen Bemerkungen zu Kierkegaards Verhältnis zur Romantik. Teil C. Zum Begriff „Modell“ s. o. Abschn. C.1.0.
212
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
Kierkegaard vor dem Hintergrund solch eines Anliegens zu interpretieren, steht offensichtlich in Spannung mit der etablierten Rezeption Kierkegaards in der Theologie. Daher wurde nach einer Begründung der vorgenommenen Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Arbeit auf die drei pseudonymen Schriften von 1843 – in diesen Schriften übt die literarische Form eher noch als in den späteren Schriften eine konstitutive Funktion aus – die Methode der Kierkegaardanalyse ausführlich erörtert.60 Im Rahmen dieser Erwägungen waren die Begriffe „Negativität“ und „Vielstimmigkeit“ leitend, aus folgendem Grund: Negativität und Vielstimmigkeit sind integrale Bestandteile der vorgeschlagenen Theorie einer Sprache des Glaubens als einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren.61 Daraus resultiert die Aufgabe, in Kierkegaards Werk nach Entsprechungen zu den damit bezeichneten Größen zu suchen. Als heuristisches Hilfsmittel wurde im methodologischen Teil der Arbeit der Begriff „Literatur“ hinzugezogen. Denn Negativität und Vielstimmigkeit sind Größen bzw. Eigenschaften, die insbesondere die Form der Rede betreffen, näherhin die Form der Rede, insofern diese sich von rein pragmatischer bzw. propositionaler Rede (als dem Antonym zu „Literatur“) unterscheidet. Im Rahmen dieser Überlegungen wurden einige grundlegende Anmerkungen zur Verortung der anzuwendenden Methode der Interpretation im zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Diskurs formuliert: Auf der einen Seite ist die Methode der Kierkegaardinterpretation von Denkerfahrungen aus dem Dekonstruktivismus stark beeinflusst, auf der anderen Seite steht die Methode in Spannung zu diesen, insofern konstante Themen in Kierkegaards Schriften ausfindig gemacht werden.62 Die vorliegende Arbeit hat sich also keine dekonstruktive Kierkegaardlektüre zum Ziel gesetzt. Das Ergebnis der methodologischen Überlegungen, die auf die Literaturtheorie rekurrieren, ist die Unterscheidung von Mehr- und Vielstimmigkeit: In der Mehrstimmigkeit wird ein identifizierbarer Gedanke erhellt, der gleichsam die Stimmen zusammenhält.63 Die Vielstimmigkeit hingegen wird von der irreduziblen Unnennbarkeit des Intendierten angetrieben. In der Vielstimmigkeit entsteht Bedeutung allein durch den Widerspruch der Stimmen, der von keinem in der 60 61 62 63
S. o. Abschn. C.1. S. o. Abschn. B.3. S. o. Abschn. C.1.0. S. o. Abschn. C.1.1.3; der Begriff „Vielstimmigkeit“ ist in dieser Hinsicht also nicht deckungsgleich mit Bachtins Begriff der „Polyphonie“.
D.1 Zusammenfassung
213
Mitte stehenden Gedanken versöhnt wird; Vielstimmigkeit ist also von Negativität konstituiert. Der somit näher definierte Begriff der Vielstimmigkeit kann als eine Kreuzung von Bachtins literaturwissenschaftlichem Begriff der „Polyphonie“ und dem bereits zuvor herausgearbeiteten Derridaschen Verständnis von Vielstimmigkeit bezeichnet werden; überdies steht dieser Begriff der Vielstimmigkeit mit Isers Gedanken zur Negativität in Verbindung.64 In einem zweiten Schritt, der auf diese methodologischen Überlegungen folgt, wurde gezeigt, dass Kierkegaard selbst sich der Möglichkeit bewusst gewesen ist, negative Operationen in den Dienst einer literarischen Strategie zu stellen.65 Dies wird an mehreren Beispielen deutlich, die darin einen gemeinsamen Nenner haben, dass Bedeutung durch das Scheitern der unmittelbaren Bedeutung, durch die Negation eines Erstsinns entsteht. In diesen Betrachtungen begegnet wiederholt das Motiv der Grenze: Sprache im Dienst einer negativ-ästhetischen Erhellung von der bezeichneten Art drängt gegen eine Grenze an, die sie aus sich selbst heraus nicht zu überschreiten vermag, an der sie sich aufreibt, so dass der Glaube, der jenseits der der Sprache gesetzten Grenze steht, im Zerfall der Sprache aufscheint. Ein kurzer Exkurs bedachte das Verhältnis Kierkegaards zu „der“ negativen Theologie, genauer: die Problematik, die in der Frage nach dieser Verhältnisbestimmung beschlossen liegt. Kierkegaards Verhältnis zur Romantik wird im Rahmen dieser Überlegungen thematisiert, ohne indes ausführlich erörtert werden zu können.66 An dieser Stelle wird die Vermutung formuliert, dass der Gedanke, dem Absoluten könne nicht anders als im Modus der Verfehlung begegnet werden, ein Bindeglied zwischen Romantik, negativer Theologie und Kierkegaards Werk darstellen könnte. Schließlich wird in einem dritten Schritt untersucht, ob sich in Kierkegaards Werk explizite Bezugnahmen auf eine literarische Strategie der Mehr- und/oder der Vielstimmigkeit ausfindig machen lassen.67 Während mehrere Passagen v. a. aus „Entweder/Oder“ deutlich zeigen, dass sich Kierkegaard der Möglichkeit bewusst gewesen ist, Mehrstimmigkeit in den Dienst literarischer Ästhetik zu stellen, lässt sich Entsprechendes hinsichtlich einer Vielstimmigkeit im Sinne der 64 65 66
67
S. o. Abschn. C.1.1.2. S. o. Abschn. C.1.2. S. o. Exkurs 2: Kierkegaard und „die“ negative Theologie nebst einigen Bemerkungen zu Kierkegaards Verhältnis zur Romantik. S. o. Abschn. C.1.3.
214
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
in dieser Arbeit vorgeschlagenen Definition allenfalls vermuten. Vielstimmigkeit im Sinne der oben angegebenen Definition ist eine Form der Vielfalt von Stimmen, die von Negativität konstituiert ist. Daher konvergieren in der Vermutung, in Kierkegaards Schriften walte eine Vielstimmigkeit, die soeben referierten Beobachtungen: Kierkegaard äußert sich explizit sowohl zur literarischen Strategie der Mehrstimmigkeit als auch zur ästhetischen Funktion der Negativität. Insofern nun Vielstimmigkeit eine von Negativität konstituierte bzw. radikalisierte Form der Rede durch mehrere Stimmen ist, konvergieren in der Annahme, in Kierkegaards Werk walte eine Vielstimmigkeit, die soeben referierten Beobachtungen, dass Kierkegaard sich sowohl der Mehrstimmigkeit als auch der Negativität als Möglichkeiten der literarischen Gestaltung bewusst gewesen ist. Mit diesen methodologischen Erwägungen war der Weg für die Interpretation von Kierkegaards pseudonymen Schriften von 1843 als vielstimmiger Rede vom unsagbaren Glauben geebnet. Diese Untersuchung konzentrierte sich auf die Form der Schriften, jedoch so, dass durch die Betrachtung der Form Erkenntnisse möglich wurden, die den Inhalt von Kierkegaards Schriften erschließen. So wurde deutlich, dass Aporien der Selbstwerdung, insbesondere bezogen auf die Zeitlichkeit des Daseins und auf das Verhältnis des Selbst zur sinnlich erlebten Außenwelt, ständig am Horizont von Kierkegaards pseudonymen Schriften (von 1843) stehen. Die Gliederung der vorgelegten Interpretation reflektiert die genannte Unterscheidung von Mehr- und Vielstimmigkeit: Zunächst wurden die Schriften hinsichtlich der Mehrstimmigkeit, die innerhalb einer jeden Einzelnen der drei pseudonymen Schriften waltet (Intrapseudonymität), interpretiert.68 Sodann wurde das Wechselverhältnis der Schriften als Vielstimmigkeit interpretiert, indem die Interaktion der drei pseudonymen Schriften (Interpseudonymität) in den Blick genommen wurde.69 In dieser Unterscheidung spiegelt sich das besagte spannungsvolle Verhältnis wider, in dem die Methode der Interpretation zum Dekonstruktivismus steht: „Mehrstimmigkeit“ lässt sich eher einer hermeneutischen Sichtweise zuordnen, während der Gedanke der Vielstimmigkeit dekonstruktivistischem Denken näher steht. Die Interpretation der Schriften als Mehr- und als Vielstimmigkeit vollzog sich als Analyse der literarischen Motivbereiche der Gravitation und des Klangs. Eine solche Interpretation wird dadurch ermöglicht, 68 69
S. o. Abschn. C.2. S. o. Abschn. C.3; vgl. Abbildung 3.
D.1 Zusammenfassung
215
dass die literarischen Figuren der drei Schriften, d. h. der „Ästhetiker“, der „Gerichtsrat“, „Constantin Constantius“, der „junge Mann“, „Johannes de Silentio“, der „Ritter der Unendlichkeit“ und der „Ritter des Glaubens“ von Kierkegaard (u. a.) in jeweils verschieden nuancierter Weise mit diesen literarischen Motiven beschrieben werden. So werden der Ästhetiker und der Gerichtsrat, die beiden Antagonisten der Schrift „Entweder/Oder“, mit verschieden nuancierten Motiven sowohl des Klangs70 als auch der Gravitation71 einander gegenübergestellt.72 Der Ästhetiker schwärmt vom Selbstverlust in „hörsinnlicher Rezeptivität“73, davon, dass er im Lauschen auf die Musik ganz und gar sich selbst vergisst, sich selbst verliert wie ein Bach, der im Meer verströmt. Der Gerichtsrat preist die Durchdringung von Außen und Innen, von Hören und Sprechen des Dichters im Rückgriff auf Schelling. Er beschreibt, wie der „Dichter“ sich zugleich als dichtend und als gedichtet erfährt, wie er zugleich auf Gott als auf einen Souffleur hört und selbst spricht, also in der ästhetischen Erfahrung zugleich bei sich selbst und bei dem Außerhalb seiner selbst zu sein vermag. Der Ästhetiker berichtet von der Flüchtigkeit einer jeglichen Lusterfahrung und plädiert für ein gefährliches Entschweben aus der Zeit. Don Juan, von dem es heißt, er schwebe „beständig über dem Abgrund“, ist gleichsam eine Inkarnation leicht gewordenen Seins. Johannes der Verführer als Sprachrohr des Ästhetikers inszeniert seine Liebesgeschichte mit Cordelia, um an ihrem Vermögen, der Welt zu entschweben, Anteil zu erhalten. Der Gerichtsrat plädiert dagegen für ein „sicheres Schweben“ in der Zeit, für eine Selbstverankerung im Endlichen. In wenig überzeugenden Bildern beschreibt er z. B. das Religiöse als einen Schwimmgürtel, der vor dem Untergang bewahren soll. Schließlich gesteht er ein, dass er selbst nicht gegen jenen Verdruss immun ist, der dem Ästhetiker Anlass zum Entschweben ist, und führt überraschenderweise aus, er werde vom Anblick der Leichtigkeit seiner Frau von diesem Verdruss geheilt und in die Zeit zurückgeholt – darin ähnelt er frappierend dem Verführer, der sich ebenfalls durch den Anblick der Leichtigkeit des „Mädchens“ von
70 71 72 73
S. o. Abschn. C.2.1.1. S. o. Abschn. C.2.1.2. S. o. Abschn. C.2.1. Der Ökonomie halber schien es mir sinnvoll, dieses Kunstwort einzuführen: Der Terminus „hörsinnliche Rezeptivität“ bezeichnet in dieser Arbeit ‚eine auf sinnlichgenussvolles Erleben von Höreindrücken bezogene Rezeptivität‘.
216
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
der Zeit „heilen“ lässt, nur eben in entgegengesetzter Art und Weise, d. h. durch die Negation der Zeit im Entschweben. Die Plädoyers stehen einander unvermittelt und unversöhnbar gegenüber, die Beschwörungen des Gerichtsrats erreichen die Tiefe des Problembewusstseins des Ästhetikers nicht.74 Die Pointe dieser Mehrstimmigkeit besteht darin, dass der Gerichtsrat gegenüber dem Ästhetiker nicht, wie meist angenommen wird, eine überlegene Position einnimmt. Vielmehr wird das Plädoyer des Gerichtsrats aus den Angeln gehoben, da die Rede des Gerichtsrats teils offensichtlich unbegründete Behauptungen aufstellt, teils von der Stimme des Ästhetikers mikrodialogisch75 durchsetzt ist. Ein ähnliches Ineinander von Stimmen weist die im darauf folgenden Schritt vorgenommene Analyse der Wiederholungs-Schrift auf.76 Der Konflikt, der hier zu Grunde liegt, besteht darin, dass einer der beiden Charaktere, der namenlose „junge Mann“, sich in der Weise in ein Mädchen verliebt, dass seine dichterische Produktivität die Wirklichkeit des Mädchens vernichtet.77 Der junge Mann wird als eine „Krypto-Existenz“ beschrieben, die die Außenwelt in dichterischer Spontaneität versinken lässt, indem die Außenwelt zur Projektionsfläche der Inszenierung des ‚Krypto-Selbst‘ als eines ‚Selbst‘, das aus einer Flut nicht realisierter Möglichkeiten (Stimmen) besteht, instrumentalisiert wird.78 Allein die Bewegung einer „Wiederholung“ könnte den jungen Mann retten, d. h. eine Bewegung, die die stattgehabte Vernichtung der Wirklichkeit in einer Art und Weise auf sich nimmt, die die Liebe zu bewahren vermöchte. Dies jedoch ist unmöglich: Die Wiederholung ist eine „transzendente“ Bewegung; aus der Perspektive der Immanenz gesehen gibt es keine Hoffnung für die Liebe, die derart von dichterischer Produktivität verschlungen wurde. Der junge Mann steht „angehaltenen Schritts“ an der Grenze zur Wiederholung, der Grenze, die er nicht zu überschreiten vermag. In einer zweiten assoziativen Passage des Constantin, ebenfalls angestoßen von der Erinnerung an den unternommenen Theaterbesuch, bringt Constantin sein eigenes Welterleben zur Sprache.79 Diese Beschreibung steht in einem subtilen Wechselver74 75
76 77 78 79
S. o. Abschn. C.2.1.3. Zum (von Bachtin übernommenen) Begriff des „Mikrodialogs“ s. o. Abschn. C.1.1.2; C.2.1.3. S. o. Abschn. C.2.2. S. u. Abschn. C.2.2.0. S. o. Abschn. C.2.2.1. S. o. Abschn. C.2.2.2.
D.1 Zusammenfassung
217
hältnis zu der zuvor nachvollzogenen Beschreibung des jungen Mannes als einer „Krypto-Existenz“: Constantin beschreibt sein Erleben des Theaters als Eintauchen in einen Fluss, der ihn sich selbst vergessen lässt, als ein Einverleibtwerden in den Bauch eines Meeresungeheuers; dieses Erleben lässt den Wunsch in ihm keimen zu sterben. Constantin erlebt – wie der junge Mann auch – die sinnliche Rezeptivität als lustvoll; jedoch ist Constantin so durchdrungen von der Erfahrung, dass jede Lust vergeht, dass er in allem hörsinnlichen Genuss die Sense des Schnitters widerklingen hört, deren Klang ihm zum „Kehrreim des Tages“ wird. Während also der junge Mann eine Art verbissene Fortführung eines vitalen Spiels und die verzweifelte Suche nach der Möglichkeit zu existieren verkörpert, drückt die Beschreibung, die sich auf Constantin selbst bezieht, dessen tödliche Resignation als Konsequenz des Scheiterns ebendieser verzweifelten Suche aus. Der Leser durchschaut daher, dass die hysterische Vitalität des jungen Mannes letztlich in der tödlichen Resignation kollabieren muss, die Constantin – der sich als „Bauchredner“ des jungen Mannes bezeichnet – durch seine eigene Stimme der Stimme des jungen Mannes gleichsam als Zweitstimme unterlegt. Der junge Mann und Constantin verkörpern folglich verschiedene existenzielle Aspekte der Unmöglichkeit von Wiederholung: Beide sind unfähig zur Wiederholung. Der junge Mann, der „Dichter“, flieht angesichts dieser Erfahrung bewusst aus der Wirklichkeit in die dichterische Produktivität; Constantin, der „Prosaiker“, versinkt in tödlicher Resignation. Innerhalb der Widerholungs-Schrift gibt es demnach keine Hoffungsperspektive; allein vermittels der textuellen Interaktion mit „Furcht und Zittern“ steht die Wiederholungs-Schrift im Dienst der Erhellung des Glaubens. Denn die Grenze, an der der junge Mann steht, ist die Grenze des „Wunders“, das ihm unverfügbar bleibt. An dieser Grenze läuft er auf, rennt vergeblich gegen sie an – bis er wund und verzweifelt sein vormaliges Selbst zurück empfängt. Die Wiederholung, die allein die Grenzüberschreitung ermöglichen würde, ist jenes Wunder der Doppelbewegung des Glaubens, das in „Furcht und Zittern“ dargestellt wird. Die Schrift „Furcht und Zittern“ hat in der kontrastierenden Darstellung zweier Figuren, die resignieren (dem Ritter der Unendlichkeit und dem tragischen Helden), mit dem Ritter des Glaubens, Abraham, der resigniert und die Hoffnung bewahrt, ihr Zentrum80: Der tragische Held resigniert gegenüber sich selbst und geht im Allgemeinen auf, der Ritter der Unendlichkeit resig80
S. o. Abschn. 2.3.0.
218
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
niert angesichts einer unmöglichen Liebe gegenüber der zeitlichen Existenz, indem er sich in die Unendlichkeit bewegt. Ähnlich dem Ästhetiker entschwebt er der Welt. Der Ritter des Glaubens hingegen resigniert gegenüber der Endlichkeit und hofft doch für die Endlichkeit, er gibt sein Recht gegenüber dem Allgemeinen, dem Ethischen, auf, und hat doch als Einzelner Recht. Johannes de Silentio – das Pseudonym, unter dem die Schrift „Furcht und Zittern“ erschienen ist – tritt selbst in dieses Kontrastverhältnis mit ein, indem er von sich sagt, er hätte die Resignation, die alle drei Figuren vollziehen, ebenfalls zu vollbringen vermocht; die zweite Bewegung innerhalb dieser Doppelbewegung, die der Ritter des Glaubens macht, die „Wiederholung“ der Endlichkeit und die Bewahrung seiner Forderung nach dem Recht als Einzelner – diese zweite Bewegung sei ihm vollkommen unbegreiflich. Die Schrift „Furcht und Zittern“ ist eine bis in filigrane Details der Wiederholungs-Schrift strukturanaloge mehrstimmige Inszenierung81: In beiden genannten Schriften bringt das fiktionale Ich (Constantin/Johannes) eine andere Figur (den jungen Mann/Abraham) hervor, um von dieser etwas zu sagen, das vom fiktionalen Ich nicht gilt: Constantin ist kein Dichter (im Gegensatz zum jungen Mann), Johannes hat nicht den Glauben, der die Wiederholung ermöglicht (im Gegensatz zu Abraham, s. u.). Die vom fiktionalen Ich erfundene Figur fällt jedoch auf das fiktionale Ich zurück und amplifiziert so die Darstellung der von diesem verkörperten Aporie: Das Dichtersein des jungen Mannes kippt aus dem Leben heraus in den Tod und fällt so auf Constantin zurück, der dem Leben längst „entschlagen“ hat. Der Glaube Abrahams als Tod dieses Todes, als Wiederholung nach der Resignation kippt aus der Sprache heraus in die Unsagbarkeit und fällt so auf Johannes de Silentio zurück, dem es die Sprache verschlagen hat. Nur durch dieses Scheitern des Lebens und der Sprache hindurch kann – innerhalb der Konstellation der drei Schriften von 1843 – Glaube zur Sprache kommen und Verlorenes gerettet werden. Die Mehrstimmigkeit in „Furcht und Zittern“ unterscheidet sich nun darin von der „Mehrstimmigkeit“, die in „Entweder/Oder“ und in der Wiederholungs-Schrift waltet, dass die ausschlaggebende ‚Stimme‘ von „Furcht und Zittern“, Abraham, nur durch ihr Schweigen „spricht“. Die Aufmerksamkeit auf diese Differenz bereitet den Übergang vom Gedanken der Mehrstimmigkeit zum Gedanken der Vielstimmigkeit vor: Der Ritter der Unendlichkeit, der tragische Held und Johannes de Silentio sind innerhalb von „Furcht und Zittern“ gleichsam die nega81
S. o. Abschn. C.2.4.
D.1 Zusammenfassung
219
tive Folie, von der sich der unsagbare und sprachlose Glaubensritter Abraham, der einen unbegreiflichen Sprung macht82 – eine Bewegung, die zugleich endlich und unendlich ist – abhebt. Zugleich aber sind der Ritter der Unendlichkeit und der Glaubensritter durch das Motiv der Gravitation eng miteinander – und mit den anderen literarischen Figuren der pseudonymen Schriften von 1843 – verbunden. Der tragische Held – und mit ihm, so meine These, der Ritter der Unendlichkeit und Johannes de Silentio selbst – „werfen ein Licht auf das Paradox“, das nicht direkt ausgesprochen werden kann; Johannes de Silentio führt aus, dass die durch die beschriebenen Denker verkörperten Stadien nur „die Grenze eines unbekannten Landes andeuten“83 und so den Glauben, mit Heidegger zu sprechen, „erschweigen“84. Damit steht der Gedanke der vorliegenden Arbeit bereits an der Schwelle zum Gedanken der Vielstimmigkeit. Diese vielstimmige Interaktion soll nun ausgehend von einer kurzen Rekapitulation des bis an diese Stelle Erreichten beschrieben werden. Die Problematik, die den pseudonymen Schriften von 1843 zugrunde liegt, ist die Ungreifbarkeit des Lebens bzw. die Flüchtigkeit der Gegenwart: Jeder Augenblick sinnlicher Erfüllung verglüht gleichsam wie ein Komet; die Widerständigkeit der Welt feuert den Wunsch an, vom Erdboden emporgehoben, ja im „Tanz des Unendlichen“ noch über Welt und Zeit, ja über die Sterne hinausgeschleudert zu werden. Der Ästhetiker und der junge Mann sind von diesem Wunsch beseelt, der Gerichtsrat und Constantin amplifizieren den Eindruck des Aporetischen einer solchen Daseinshaltung. Allein Abraham vermag nach dem Weltverlust wieder in die Welt zurückzufinden; mit der Darstellung seiner als des Glaubensritters wird in „Furcht und Zittern“ die „Möglichkeit“ der unmöglichen Wiederholung, der Glaube, sprachlich umkreist. Der Akzent liegt dabei auf der Unsagbarkeit und der Unbegreiflichkeit des Glaubens. Diese Unbegreiflichkeit ist wiederum keine Bestimmung, die die Rede zum Erliegen brächte, vielmehr ist sie die Kraft, von der die vielstimmige Interaktion aller Stimmen der literarischen Figuren in den pseudonymen Schriften von 1843 angetrieben wird: Johannes de Silentio spricht 82
83
84
S. o. Abschn. C.2.3.2. Die Möglichkeit scheint zu bestehen, diesen „Sprung“ des Abraham mit dem Gedanken des „Sprungs des Glaubens“ in Verbindung zu stellen. Eine solche Verbindung würde eine grundlegende Kritik jeglicher voluntaristischen Deutung des „Sprungs des Glaubens“ implizieren. Die entsprechende Passage wurde bereits im methodologischen Teil erörtert (s. o. Abschn. C.1.2.2). Zu Begriff und Sache des „Erschweigens“ s. o. Abschn. C.3.
220
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
vom Glauben, indem er die in den anderen pseudonymen Schriften erklungenen Stimmen negiert; er bezieht seine Kraft aus dieser Negation der anderen Stimmen, die denselben Konflikt beschreiben, jedoch aus anderen Perspektiven und mit aus ihrer jeweiligen Perspektive gesehen richtigen und notwendigen, aber letztlich nicht tragfähigen Lösungsentwürfen. Johannes de Silentios „Stimme“, die Abrahams Glauben sprachlos „erschweigt“, bezieht ihre Wucht aus der Bestreitung des demaskierten, leeren Geredes des Gerichtsrats und aus der Verneinung der Grenze, an der die Wiederholungs-Schrift strandet, Verneinung dessen also, dass die verzweifelten Schreie des jungen Mannes das letzte Wort behalten werden. Die wütenden und streitenden Stimmen setzen so eine Kraft frei, die die Rede über die (Grenzen der) Rede hinausschleudert. Die Stimmen realisieren eine zentrifugale Vielstimmigkeit, die den Glauben als unsagbaren Glauben erschweigt: Gerade kraft der Wucht ihres Kreisen um sich selbst sprengen die Stimmen sich selbst und einander, so dass durch die Risse der Sprache aufscheint, was in der Sprache nicht zu finden war. In dieser Weise wurde Kierkegaards pseudonymes Werk von 1843 als Modell einer vielstimmigen Rede vom unsagbaren Glauben lesbar. Die Frage, wie vom Glauben als unsagbaren Glauben geredet werden kann, ist dadurch nicht in der Weise beantwortet, dass abschließend Regeln für dieses Sprechen formuliert werden könnten. Ein Modell entfaltet seine erschließende Kraft dadurch, dass die Wirklichkeit durch dieses Modell hindurch betrachtet wird – vor dem Hintergrund der Frage, ob das Modell bei der Bewältigung von Aufgaben inspirierend wirken könnte. Der folgende Ausblick kann dem Leser die Beantwortung dieser Frage nicht abnehmen, sondern nur einige mögliche Konsequenzen des Vorgetragenen für den wissenschaftlichen Diskurs formulieren.
D.2 Ausblick D.2.1 Literatur und Theologie Auf verschiedenen Ebenen ist von „Literatur“ die Rede gewesen: So wurden Texte von Kierkegaard betrachtet, die in der Forschung als „Literatur“ bezeichnet werden.85 Weiterhin wurden Kierkegaards 85
Kinter bezeichnet „Entweder/Oder“ als Roman (Kinter Rezeption und Existenz: Untersuchungen zu Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“, 95ff.).
D.2 Ausblick
221
Texte mit Hilfe einer Methode analysiert, die im Gespräch mit der Literaturwissenschaft profiliert wurde. In diesen Untersuchungen wurde der Größe „Literatur“ ein Status eingeräumt, den „Literatur“ in der Theologie wohl selten einnimmt: „Literarizität“ wird im Rahmen des vorgetragenen Gedankens in keiner Weise als bloße Ornamentierung von Auffassungen verstanden, die auch unabhängig von ihrer literarischen Form vorgetragen werden könnten. Vielmehr wurden Kierkegaards Schriften von 1843 als Modell einer religiösen Literatur interpretiert, die den Glauben als unsagbaren Glauben zur Sprache zu bringen vermag.86 Soweit in diesem Modell eine Möglichkeit realisiert ist, die der propositionalen Rede verschlossen bleibt, hat die Größe „Literatur“ in der vorliegenden theologischen Arbeit eine konstitutive Funktion. Damit wäre eine Brücke zwischen „Theologie und Literatur“ geschlagen, die weder die Theologie der Literatur unterordnet noch umgekehrt. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich eines hervorheben: Dieser Vorschlag eines Brückenschlags von Theologie und Literatur impliziert nicht, dass Theologie Literatur oder Literatur Theologie sei oder zu sein habe. Theologie, Literaturwissenschaft und Literatur sind irreduzibel heterogene Disziplinen bzw. Entitäten, die allerdings unter Wahrung ihrer jeweiligen Eigenständigkeit einander befruchten können. So kann die Literaturwissenschaft die Theologie befruchten, 86
Dies könnte auch Implikationen für die Kierkegaardrezeption in der Diskussion über „Theologie und Literatur“ haben: Walter Jens merkt an, Kierkegaard habe, da er zugleich Bilderstürmer und Künstler gewesen sei, „ein Anrecht darauf, bei jeder Disputation, die das Problem ‚Kunst und Religion‘, ‚Literatur und Theologie‘ behandelt, als Kronzeuge vernommen zu werden.“ (Jens „Theologie und Literatur: Möglichkeiten eines Dialogs im 20. Jahrhundert“, 33; vgl. a. a. O., 39) Die vorgetragene Kierkegaardinterpretation stellt nun die Möglichkeit vor Augen, Kierkegaards Schriften so wahrzunehmen, dass nicht, wie Jens meint, „Verteufelung und behutsamer Preis der Kunst […] einander die Waage“ (a. a. O., 33) halten bzw. „dialektisch gewichtet werden“ (a. a. O., 34), sondern so, dass die Unsagbarkeit des Glaubens (in der ich den inneren Grund für die Kritikwürdigkeit „naiver [christlicher] Kunst“ sehe) in der pseudonymen Wortkunst konstitutiv wirksam ist (s. o. Abschn. B.3 u. C.3). In der literarischen Gestalt von Kierkegaards Werk wäre dann genau das realisiert, was Jens später in seinem Aufsatz fordert, i. e., dass „vom Endlichen her“ auf das „Unendliche“, „vom Besonderen aufs Absolute“ (Jens, a. a. O., 49) – ich füge hinzu: vom Sagbaren auf das Unsagbare – verwiesen würde. Mit Verweis auf die oben angeführte Unterscheidung von „zentripetaler“ und „zentrifugaler“ Vielstimmigkeit (s. o. Abschn. B.2.1; v. a. B.2.1.4) könnte folglich eine Möglichkeit gesucht werden, dass nicht gleichsam die ‚Gewichte‘ von Literatur und Theologie gegeneinander balanciert werden, sondern eine Amplifikation der in (literarischer) Sprache wirkenden Kräfte die Literatur mit der Theologie in Verbindung treten lässt.
222
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
wenn z. B. das frühe pseudonyme Werk Søren Kierkegaards mit Hilfe von literaturwissenschaftlichen Instrumentarien als „vielstimmige“ Rede lesbar wird, in der eine Art und Weise der Entstehung von Sinn möglich ist, die propositionaler Rede verschlossen bleibt. Damit ist keinesfalls gesagt, dass propositionale Rede (für die Theologie) nicht unabdingbar wäre. Wenn es aber kommunikative Situationen gibt, in denen propositionale Rede (allein) unzureichend zu sein scheint – die (Unlösbarkeit der) Theodizeefrage z. B. scheint mir solche Situationen zu bedingen – dann könnte die Theologie von der Literatur(wissenschaft) grundlegende Anstöße für die Reflexion der Herausforderungen, die mit solchen Situationen gegeben sind, erhalten.
D.2.2 Hermeneutik und Dekonstruktion An verschiedenen Stellen wurde darauf hingewiesen, dass die Methode dieser Untersuchung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion angesiedelt ist, und zwar dergestalt, dass Einsichten aus beiden Forschungsrichtungen integriert werden. Die vorgelegte Interpretation der pseudonymen Schriften Kierkegaards von 1843 soll exemplarisch zeigen, dass hermeneutische und dekonstruktivistische Perspektiven einander nicht ausschließen: Die Wahrnehmung einer literarischen Struktur der „Mehrstimmigkeit“, die sich mit hermeneutischen Methoden beschreiben lässt, bereitet die Wahrnehmung einer literarischen Struktur der Vielstimmigkeit87 vor, die zuvor vor dem Hintergrund von dekonstruktivistischen Denkerfahrungen beschrieben wurde.88 Von diesem praktischen Vermittlungsversuch könnte eine grundsätzliche Besinnung auf das spannungsreiche Verhältnis von Hermeneutik und Dekonstruktion ihren Ausgang nehmen.89
87 88 89
S. o. Abschn. C.1.1.3; C.3. S. o. Abschn. B.3. Vgl. zum Verhältnis von Hans-Georg Gadamers Hermeneutik und Jacques Derridas Dekonstruktion z. B. H.-G. Gadamer „Destruktion und Dekonstruktion“ [1985], in: ders. Wahrheit und Methode, Bd. 2: Ergänzungen, Register, Tübingen 21993 [1986], 361-372, v. a. 370f.; ders. „Dekonstruktion und Hermeneutik“; Jacques Derrida / Hans-Georg Gadamer Der ununterbrochene Dialog, hg. u. m. einem Nachwort versehen v. M. Gressmann, Frankfurt a. M. 2004; Caputo How to Prepare for the Coming of the Other. Gadamer and Derrida, in: MRH 41-59; Hörisch Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen, 132f.
D.3 Epilog
223
D.2.3 Sprache und Wirklichkeit In der Theorie und Praxis der Predigt begegnet nicht selten eine implizite oder explizite Überordnung der Wirklichkeit über die Sprache: Wer redet, „redet nur“, ist noch auf einer Suche, die in dem Moment ein gnädiges Ende finden soll, da im Vollzug der rechten Tat oder in der religiösen Erfahrung endlich die Wirklichkeit selbst erreicht ist. Das hier vielleicht zugrunde liegende Empfinden, dass Deutungsprozesse, die sich mit Hilfe von Zeichen vollziehen, in einer unbefriedigenden Art und Weise unabschließbar sind, wurde durch die Beschäftigung mit Derrida zunächst bestätigt. Die Beschreibung einer vielstimmigen Rede vom Unsagbaren stellt sich gerade diesem Empfinden eines Ungenügens, indem eine Möglichkeit aufgezeigt wird, dass die Unabschließbarkeit von Zeichenprozessen selbst so „inszeniert“ wird, dass gerade durch diese Unabschließbarkeit der Glaube aufscheint – der Glaube, durch den ein unsagbarer Frieden, die Versöhnung einer disparaten Existenz einkehren soll. Solche Sprache des Glaubens stellt, so meine Hoffnung, eine Alternative dar zu einer Flucht vor dem Ungenügen an der Unabschließbarkeit von Zeichenprozessen in eine hektische, zuweilen aktivistische Betriebsamkeit besorgender Weltbewältigung.
D.3 Epilog Die genannten Beispiele, aus denen hervorgehen soll, in welcher Weise das hier Gedachte mit theologischen und hermeneutischen Kontroversen in einen vielleicht konstruktiven Dialog treten könnte, sollten nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die vorgetragenen Lektüren ursprünglich mit einem anderen Ziel in Angriff genommen worden waren. Die folgenden abschließenden Worte dienen der Rückbesinnung auf die negativ-ästhetische Verfasstheit des in dieser Arbeit Angebotenen, das sich nicht widerstandslos in der Währung praktischer Applizierbarkeit auszahlen lässt. Als Motto wurden der Arbeit einige Zeilen aus Kierkegaards Tagebüchern vorangestellt. Von einer Antithese zweier pseudonymer Stimmen war da die Rede, einer Antithese, in der „etwas unerklärlich Glückliches“ liege. „Unerklärlich“ würde bedeuten: Eine beredt-schweigsame, vielstimmige Antithese von Stimmen lässt sich präzise beschreiben und bleibt doch dem diskursiven Zugriff letztlich
224
D Zusammenfassung, Ausblick und Epilog
entzogen. Denn die Vielstimmigkeit, von der zu reden war, siedelt an der äußersten Grenze intelligibler Rede, an der Grenze, die, vom Ansturm der Worte porös geworden, durchlässig zu werden hat für das, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat.“
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DN
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MT
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Abbildungen Abbildung 1: „Napoleon“, anonym Foto: Det Kongelige Biblioteks fotografiske atelier (s. o. S. 123)
244
Abbildungen
Abbildung 2: Vorrichtung zum Erlernen der Schwimmkunst auf dem Lande Quelle: Gasch, Rudolf, Handbuch des gesamten Turnwesens, Wien 1920, 645 (vgl. EO 589/SKS 3,64 und FZ 33f./SKS 4,132f.; s. o. S. 155)
4
3
2
1
C.2.1. C.2.1. C.2.2.1. C.2.2.2.
(Interpseudonymität)
Ästhetische Funktion des vielstimmigen11 Zusammenspiels der drei pseudonymen Schriften von 1843
(Intrapseudonymität)
8
7
6
5
C.2.3. C.2.3. C.1.1.2. C.2.1.3. 12
11
10
9
C.1.1.2; C.2.1.3. C.2.2.3. B.3; C.1.1.3; C.1.3. C.2.1.
16
15
14
13
C.2.2.3. A. C.2. C.1.1.2; C.1.2.
Die mehrstimmig zur Sprache gebrachte Un- … – die mehrstimmig zur Sprache gemöglichkeit, menschliche Existenz zu bewälti- brachte Unmöglichkeit der Wiederholung als einer „transzendenten“ Bewegung13, gen …12 und die tödliche Resignation als die letzte Konsequenz aus dieser Unmöglichkeit – …
Die Versuche, aporetische Daseinserfahrungen Die Unmöglichkeit der Wiederholung progressiv oder reaktionär führt zu verzweifeltem Aufbegehren, das zu kompensieren, scheitern8: letztlich in tödlicher Resignation endet.10 Da die Stimme des Gerichtsrats mikrodialogisch9 von der Stimme des Ästhetikers unterwandert wird, widerlegt sie sich selbst.
Constantin Constantius: Die Unmöglichkeit der Wiederholung führt zu tödlicher Resignation.4
„Die Wiederholung“ Der junge Mann: Die Unmöglichkeit der Wiederholung führt zu leidenschaftlich-verzweifeltem Aufbegehren.3
Implizite „These“ der pseudonymen Schrift, die sich aus der mehrstimmigen (bzw. mikrodialogischen7) Interaktion ergibt
(Propositionalität)
Der Gerichtsrat: Angesichts der Aporie der Zeiterfahrung empfiehlt sich die Selbstverankerung in der Welt.2
Der Ästhetiker: Angesichts der Aporie der Zeiterfahrung empfiehlt sich die Auflösung des Selbst, die Flucht vor der Welt.1
Explizite Thesen der einzelnen literarischen Figuren innerhalb der drei pseudonymen Schriften von 1843
„Entweder/Oder“
18
17
C.1.1.3; C.1.3; C.3; B.3. C.2.3.
… konstituieren zusammen eine Folge von Stimmen, die den unsagbaren Glauben14 zur Sprache bringen, indem sie alles sagen, was aus der jeweiligen Perspektive gesagt werden kann, einander widersprechen15 und so die „negative Erhellung“ von Abrahams Glauben vorbereiten, der jenseits des Scheiterns der von den anderen Stimmen hervorgebrachten Versuche der Daseinsbewältigung in negativistischer16, vielstimmiger17 Rede erschwiegen18 wird.
Glaube als unmögliche Bedingung der Möglichkeit gelungenen Daseins ist unsagbar und kann (bzw. muss) doch – unter Beachtung der Unsagbarkeit – zur Sprache gebracht werden.5
Ritter der Unendlichkeit Abraham: und Johannes de Silentio: - - - - - - - - - - - - - - - -6 Resigniertes Entschweben ist möglich, Wiederholung ist unmöglich und unsagbar.5
„Furcht und Zittern“
Abbildung 3: Systematische Übersicht über Phänomene der Mehr- und Vielstimmigkeit (Intra- und Interpseudonymität) in „Entweder/Oder“, „Die Wiederholung“ und „Furcht und Zittern“
Abbildungen
245
Namensregister Adorno, Th. W. 24.105.117-120 Angelus Silesius → Scheffler, J. Austin, J. L. 16.19-24.29.103.201.203.211 Ayres, L. 75 Bachtin, M. M. 5f.33.38.41.71.95.112115.121f.133.135f.158.197.212f.216 Bader, G. 100 Barsch, A. 141 Barth, K. 92-102.104.209f. Barthes, R. 34 Behler, E. 131.138 Benjamin, W. 62.78.120 Beyrich, T. 106 Birns, N. 9 Blanchot, M. 32.55.81 Bohrer, K. H. 118.131.138 Bork, E. 134.162.186 Bøggild, J. 122.124 Cappelørn, N. 147.151 Caputo, J. D. 4.26-28.33.45.50-80.82.86. 102.104-106.115.122.140.164.198.206208.210.222 Carlson, Th. 2.4.26-28.32.43.51.75.8092.102.104.128.184.206.208-210 Celan, P. 71.73.190f. Coward, H. 54 Dalferth, I. 129 Davies, O. 28.191 De Nooy, J. 114 Derrida, J. 4.9-33.35-71.73-81.87.91106.108.114.117.121f.132.136.139f.197f. 201-211.213.222f. Deuser, H. 105.119.182.190 Dooley, M. 56.77f. Eagleton, T.
111.118
Meister Eckhart 30.40-42.57.63.65f.81f. 204 Eibach-Danzeglocke, S. 3 Feger, H. 131.180.192 Fiddes, P. 28.51 Foshay, T. 55 Frank, M. 20.131f. Frobenius, W. 121 Fryszman, A. 5.115 Gadamer, H.-G. 9.57.222 Garff, J. 110f.147.173 Brüder Grimm [J. u. W.] 151 Hagemann, T. 136 Hart, K. 27f. Hartshorne, M. H. 129 Hegel, G. W. F. 27.43.55.61.67.74.189 Hegesias 176 Heidegger, M. 9.38.50.54.56-59.71-73. 80-84.86f.89-91.104.139.190.207-209.219 Holm, I. W. 131 Hörisch, J. 23.222 Hühn, L. 131 Husserl, E. 10-15.21.23f.27.58f.201f. Iser, W. 6.105.116-118.121.133.136.191. 196.213 Jens, W 221 Jüngel, E. 99.191 Kierkegaard, Søren 1f.5-7.11.21.49.52. 55.57f.60-63.69-71.73f.79.103.105-120. 122-126.128-141.146f.149.151.154f.158161.165.167f.173.176.178.180f.183.186f. 188f.192.195-198.200.206f.211-215.220223
248
Namensregister
King, G. H. 114f.120.122.141.189 Kinter, A. 158.220 Kleinert, M. 144.150 Kleist, H. v. 188 Kodalle, K.-M. 120 Kristeva, J. 95 Krützfeldt, W. 121 Kuipers, R. A. 76 Law, D. R. 130f. Lesch, W. 28 Levinas, E. 31-34.61.66-68.73-75.92-96. 164.197.207 Liessmann, K. P. 149f. Lindbeck, G. 3 Lotz, J. B. 82 Lyotard, F. 9.67 Mackey, L. 115.130.164.173 Malm, W. P. 121 Marion, J.-L. 28.30.75.80f.91.104 Markley, R. 118 Martinez, R. 57f. Matušík, M. 106 McFague, S. 109 McKinnon, A. 107.155.161.188 Menke, Chr. 24.117 Menninghaus, W. 106.132.191 Meyer, L. 126 Meyler, B. 5.114 Milbank, J. 28 Mozart, W. A. 127.134f.145.161.179 Nagy, A. 115 Nietzsche, F. 66-69.71-73.190.207 Olthuis, J. H.
Pulmer, K. 131.143.159 Putt, K. 27.53.62.69 Raschke, C. 105 Ritter, A. M. 62 Ruh, K. 42.44.84 Safranski, R. 190 Sallis, J. 57-59.75 Sauter, G. 90.193 Scheffler, J. (Angelus Silesius) 51.65.140 Schelling, F. W. J. 147f.215 Schlegel, F. 131f.154 Schleiermacher, F. D. E. 124f. Schleifer, R. 118 Schmidt, J. 110.138 Schmitz-Emans, M. 131.194 Schröer, H. 129 Schulz, H. 106 Schumacher, R. 121 Scribe, E. 154 Searle, J. R. 20.24 Sexl, M. 34.111 Simonis, A. 119.190 Sokrates 122-127.133.160f. Soskice, J. M. 109 Stolina, R. 42-44.84.86.191 Strawser, M. 122.131 Striet, M. 43 Taylor, M. C. 27f. Tennemann, W. G. 176 Theobald, G. 199 Trowitzsch, M. 190 Turner, D. 51
76
Pangritz, A. 115 Pannenberg, W. 1.190 Pattison, G. 111.114f. Paul, F. 118 Phillips, D. Z. 3 Pickstock, C. 28 Platon 13.17.23.38f.41.78.123-126.129. 133.204 Poole, R. 108.115 Pseudo-Dionysius Areopagita 38.40.42. 44-48.50f.80-84.86-89.91.104.197.204f. 208f.211
Valentin, J. 26.28.77f. Vanhoozer, K. 26 de Vries, J. 13.23 Waldenfels, B. 5.21.50 Ward, G. 4.9.26-28.33.51.58.80.92-102. 104.115.206.208-210 Webster, J. 99 Wesche, T. 118 Wittgenstein, L. 2f.32.99 Wolters, G. 109 Zeillinger, P.
26.28.51
Sachregister Analogie 21f.27.52f.56f.62.67.80-83.8587.90f.96.104.109.128f.183f.206.208 Angst 110.124.134.152.167f.183 Ästhetik 116.118.120.122.126.128-130. 132f.146-148.159.213 Ästhetizismus 143.146 Augenblick (Flüchtigkeit) 142f.150. 156-158.167.170.191.219 Bauchrednerei
62.79.161.165f.179.217
chOra → khora Dekonstruktion 4f.9f.25-28.31.38.49.53. 56.58-62.65f.77.99.103-106.108f.136. 200f.211.222 Dichter, die Dichterexistenz 138f.146148.161-164.166.171f.177-179.184.194f. 215-218 différance 17.30f.58.74.93.97.101.105. 132.209 Doppelbewegung 106.139f.182.185187.217f. Doppelgänger 168.194 Duplizität 122f.125f.132 Endlichkeit 57.157.167.181f.185-190. 193.218 Erschweigen 190f.199.219.245 Erstsinn (und Zweitsinn) 129.136.213 Ethik 67.73.207 Form, sprachliche 2.6.51.62.67.77.79. 108.111.119.137f.165.212.221 Gabe 68f.80 Glaube 2-5.11.25.48.56.63.66.74.76.79f. 92.101f.105.107.109.113f.120f.128-131.
139f.154f.165.180-191.193-201.205f.208. 211-215.217-221.223 Gott 1-3.10.27.29f.33.40-42.44-46.48.5052.54f.64.79.82.85-89.93f.96-101.125. 129.140.146-148.155.179.182.191.203. 205.215 Hermeneutik 52.57f.65.108f.200.222 Heterophonie → Vielstimmigkeit Hybridie 113 Intention, Intentionalität 13-19.21.2325.45.64f.114.201f. Inter- und Intrapseudonymität (→ Pseudonymität) 6.120.137.191.195f.214.245 Ironie, der Ironiker 108.125f.132.139. 147.180.197 khora (χρα; chOra) 35.39.42.204 Liebe 142.154f.162-164.167.181.184. 216.218 Literatur, Literaturtheorie, Literaturwissenschaft 3.6.26.28.35.41.95.107-109. 111.115.118.132.200.212f.220-222 Mehrstimmigkeit → Vielstimmigkeit Metapher 39.109.119f. Mikrodialog 113.158.216.245 Mitteilung, Theorie der indirekten 21. 62.136 Modell 11.109.211.220f. Motiv, literarisches 6.106.111.141.214f. Musik 64.115.121.127f.132-134.145f. 149.158.162.173.215 Mystik, Mystische Theologie 32.40.4245.47.50f.63-66.81.83.85-87.89.91.197f. 204f.207f.
250
Sachregister
Name(n) Gottes 40.65.79.83.88 Negativität 6.21f.32.38.40.64.82.107.111. 113f.116.118.121f.126.129-130.133.135137.140.159.191.195f.212-214 Negative Theologie 5.22.29-32.35-38. 42-47.50f.81.86.89.130-132.191.195.197. 203f.206.208.211.213 Neuplatonismus 44f.63.65f.84 Polyonymität 107.113 Polyphonie → Vielstimmigkeit postmodern, Postmoderne 3f.9f.15.2629.52f.57.63.69.73f.92.94.99.103.105f. 193.200f.206.208f.211 Pseudonymität (→ Inter- und Intrapseudonymität) 69f.74.77.79.106f.110.113. 140.207 Propositionale Rede 5f.67.108.130.141. 212.221f.245 Resignation 120.139f.154f.172.175.178f. 182.184f.187.192-196.217f.245 Religion 3.22.26f.47.52f.55f.60.76.221 Religionsphilosophie 3f.9.15.23.26-29. 52f.99.103-105.193.200.206.208.210f. Romantik 49.106.130-132.138.143.188. 192.194.213 Schrift 11-14.16-18.20-23.27.30.47.103. 111 Selbst 83f.87.91.138f.146.158.163.167. 169-171.173f.177-180.208f.214.216f.245 Signifikat, transzendentes 45.51.65f.91 Sprache 2-5.10-12.14-16.18-25.28.30.3239.43-46.48-53.55.63-66.74.79f.91-100. 102.104f.107.109.113f.118f.121.125-128. 131.140.167.182f.194-203.205-213.218. 220f.223 Spur 30-32.34-37.49 Theodizee
199
Theologie (→ Negative Theologie) 1.3-5. 9.22.25-28.37.47-52.64.77.80f.87.92.94. 99-105.200.203.205f.208-212.220-222 Tod 13f.17.28.81-85.90.153.163.172-177. 179.193.195f.208.218 Transzendenz 40.93.102.164.180 Unendlichkeit 126.128.139.145f.150152.157.172.181-190.193.215.217-219. 245 Unmittelbarkeit 48.123.142.155.192 Unsagbarkeit 2.98.193.195.218f.221.245 Verzweiflung 119.146.152f.155.158.166. 171.177.179.185 Vielstimmigkeit – Heterophonie 121 – Mehrstimmigkeit und Vielstimmigkeit 6.121f.132f.135-137.191.195f. 212-214.218f.222.245 – Polyphonie 71.95.112-115.121f.133. 135f.212f. – zentrifugale und zentripetale Vielstimmigkeit 30.37f.40.42.50.196. 204.221 Wahrheit 3.10f.13-16.23.25.30.42.62f. 71.74.78f.109.119f.149.152.177.202 Wiederholung – sprachtheoretisch 4.9.18.22.25.28f. 35-38.46-50.58f.132.201-206 – existenzphilosophisch 106.140.142. 160.162-166.171-173.175.179f.187. 192-197.216-219.245 Wirklichkeit 41.49.63.101.117.131.138f. 143.146.152.154.160.163.166-172.174f. 178.182.184.186.188f.192.194f.197.199. 216f.220.223 Zeit 28.86.90.138f.142.144f.148-150.154158.163.173.176.181f.185f.188.191f. 215f.219