Silber Grusel � Krimi � Nr. 484 �
Mortimer Mortmain �
Vom Hexer verraten � In den Katakomben von Palermo �
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 484 �
Mortimer Mortmain �
Vom Hexer verraten � In den Katakomben von Palermo �
Drückende Hitze lag über Mondello. Die Menschen auf � der Insel vermochten kaum zu atmen. Aber das lag nicht am Wetter allein, denn fast alle spürten das lauernde Unheil. Sizilianer besitzen dafür einen besonderen Sinn. Annetta und Gino richteten sich auf, lächelten sich unbekümmert zu und gingen Hand in Hand zu dem kleinen Boot am Ufer. Sie wollten zu ihrer Bucht. Das Mädchen kicherte, als das Boot beim Einsteigen schaukelte. Gino nahm die Ruder und legte sich kräftig in die Riemen. Schon bald verschwanden die beiden Verliebten hinter den Felsen…
Die Hauptpersonen: Annetta und Gino, die beiden sind das Liebespaar, das in einer sizilianischen Bucht nicht ahnt, was in seiner Nähe Grauenhaftes geschieht. Doc Ramford, der passionierte Mediziner, macht Experimente. Helge Eklund, er ist es gewohnt, mit Heiltränken zu helfen. Sorge Sörefrid, der schwedische Bauer, stirbt auf geheimnisvolle Weise. Milton Sharp und die zierliche Karibin Bo Verezco, sie leiten das Aufgebot der 13 Geisterjäger im schwedischen Vårdnäs.
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Cyano saß in einer Taverne bei einem Glas Marsala und lächelte grausam. Er hatte es nicht eilig. Seine Opfer entgingen ihm nicht, und begaben sich freiwillig in die tödliche Falle. Erst als der Hexer sein Glas geleert hatte, erhob er sich. Der dicke Luigi hastete heran und erinnerte den Gast an die Zeche, die zu bezahlen er vergessen hatte. Cyano richtete seinen stechenden Blick auf den Unvorsichtigen. Luigi sah gelbe Flammen darin und schrie auf: »Madonna!« Da packte der Hexer zu. Seine Linke umklammerte den Hals des Wirtes, die Rechte formte sich zur verkrüppelten Krallenhand. Damit stieß er auf Luigis Herz. Der Mann stürzte zu Boden und hauchte sein Leben aus… Die Sizilianer bildeten einen Halbkreis und machten gegen den Fremden Front. Cyano wollte ihnen seine Macht demonstrieren. Er ließ sie kommen und empfing zwei von ihnen mit glühenden Klauen, die sich in ihre Körper brannten. Da endlich begriffen die anderen Gäste, daß das Böse unter ihnen weilte. Sie schlugen das Kreuz und ließen ihre beiden Gefährten im Stich, denen ohnehin nicht mehr zu helfen war. Cyano aber lachte voller Hohn und entzündete mit einem einzigen Blick die Schänke. Die Flammenglut mischte sich mit der Hitze des Tages, als der Hexer davonging. In der nahen Bucht lagen Annetta und Gino engumschlungen. Sie ahnten nicht, daß drei Menschen für sie gestorben waren. * � 4
Die geflohenen Männer hüteten sich, zur Polizei zu gehen. Von dort erwarteten sie keine Hilfe. Man würde ihnen nicht mal glauben. Ein Kerl mit Händen aus Feuer… Lächerlich! Solche Dinge sah man nur, wenn man Luigis Wein reichlich zugesprochen hatte. Das Unglück wurde deshalb der übergroßen Hitze angelastet. Annetta und Gino erfuhren es am Abend, was geschehen war. Sie beteten für die Toten und fuhren später nach Palermo zurück. Hier arbeitete das Mädchen als Näherin, und Gino half seinem Vater, einem Glasbläser. Nur Cyano, der Hexer, erinnerte sich, daß er seinen Auftrag noch nicht erfüllt hatte. Durch Gedankenkraft begab er sich in die Bucht, wo er seine Opfer wußte. Doch sie waren längst nicht mehr da. Dafür wurde er von jemand erwartet, deren Gegenwart ihn überraschte. »Du, Vexarus?« »Ja, ich!« antwortete die Gestalt schneidend. Sie stand in einer Felsnische und wurde eins mit deren Schatten. Nur das funkelnde Auge unter dem breitkrempigen Hut verriet den Unseligen. »Warum kommst du erst jetzt? War mein Befehl nicht klar genug für dich?« Der Hexer spürte die Unzufriedenheit, die aus diesen Worten klang, aber er fand, daß sie nicht berechtigt war. »Die beiden entgehen mir nicht«, versicherte er selbstbewußt. »Ich hole sie mir. Noch in dieser Nacht.« »In dieser Nacht ist es zu spät, Cyano. Es hat mich viel Mühe gekostet, dieses Mädchen zu finden. Bei ihm haben alle Daten gestimmt. Aus den Gebeinen hättest du den Schlüssel zu den Katakomben von Palermo formen können. Sein jungfräuliches Blut hätte die achttausend Mumien und Skelette zu neuem Le5
ben erweckt. Eine riesige Streitmacht wäre meinen Befehlen gefolgt.« Cyano hüstelte unsicher. »Was hat sich daran geändert, Vexarus? Zwei, drei Stunden spielen doch keine Rolle.« »Du unfähiger Narr!« ereiferte sich der Dämon. »Hast du vergessen, daß es bei den Menschen etwas gibt, das sie Liebe nennen?« »Pah!« meinte der Hexer verächtlich. »Was kann die Liebe schon ausrichten? Gegen uns gibt es keine Waffen. Schon gar nicht die sentimentalen Gefühle der Menschen.« »Wie ahnungslos du doch bist, Cyano! Drei Dinge dulde ich nicht: Feigheit, Schwäche und Dummheit. Du bist dumm, deshalb ist für dich kein Platz mehr in meinem Gefolge. Diese Annetta wird einen Sohn haben. Dadurch wird ihr Blut für mich unbrauchbar. Du hättest dies verhindern müssen, wenn du rechtzeitig hier gewesen wärst. Statt dessen hast du einen Privatkrieg mit ein paar Säufern geführt. Dieser Fehler ist für mich ein schwerer Rückschlag, für dich aber bedeutet er das Ende!« Da endlich begriff der Hexer, wie ernst die Situation für ihn war. Vexarus, dem er unbedingten Gehorsam geschworen hatte, hatte es in der Hand, ihn von einer Sekunde zur anderen in die Verdammnis zu schicken. Von dort gab es kein Zurück mehr. Es war sinnlos, Beweggründe für sein Handeln erklären zu wollen. Das würde nichts nützen. Er sah seinen Fehler ein. Reue? Davon versprach er sich erst recht nichts. Er mußte dem Dämon schon ein besonderes Angebot unterbreiten, damit dieser ihm eine Bewährungsfrist einräumte. »Höre, Vexarus!« stieß der Hexer hastig hervor. »Ich sehe ein, daß ich töricht gehandelt habe. Wenn du mich zerstörst, muß ich es hinnehmen. Doch ich könnte dir auf andere Weise besser nützen.« 6
»Du willst nur Zeit gewinnen und bildest dir ein, mir zu entkommen.« Der Unheimliche trat aus seiner Nische. Aus solcher Nähe hatte Cyano ihn noch nie gesehen und erschrak. Das einsame Auge auf der Stirn war noch das Harmloseste. Scheußlicher war da schon die untere Gesichtspartie, die einer Wasserleiche glich. Aufgedunsen und schwammig. Braune Zahnstümpfe standen hinter aufgesprungenen Lippen. Das Kinn sprang aus einem gebrochenen Knochen hervor. Und das alles saß auf einem ausgemergelten Hals, um den noch der Strick des Henkers lag. Auf welche Weise Vexarus vor langer Zeit geendet hatte, war nicht schwer zu erraten. Zweifellos war er nach seiner Hinrichtung noch unversöhnlicher geworden. Der Dämon trug ein stumpfgraues Gewand. Die rechte Faust hielt einen blitzenden Gegenstand, der einem Enterhaken ähnelte, aber so scharf war wie ein Haifischzahn. Der Hexer warf sich zu Boden. »Warte noch, Mächtigster! Hör erst meinen Vorschlag. Mißfällt er dir, dann töte mich!« Der Dämon riß den Arm zurück und verhielt in dieser Stellung. »Sprich – aber schnell!«, forderte er. »Es werden deine letzten Worte sein…« Cyanos Gedanken rasten. Das Bewußtsein, die letzte Chance ergreifen zu müssen, ließ ihn überzeugende Argumente finden. Als er keuchend endete, wartete er bang auf die Entscheidung seines Herrn. »Du willst dich da an eine Aufgabe wagen, die erheblich schwieriger ist als jene, bei der du heute kläglich versagt hast. Eigentlich müßte ich dich auf der Stelle töten, doch deine Idee ist tatsächlich verlockend. Deshalb sollst du deine Chance erhalten. Ein zweites Mal lasse ich mich nicht umstimmen. Vergiß das 7
nicht, Cyano! Du hast dreizehn Tage Zeit. Geht dein Plan schief, kann dich nichts mehr retten.« Eine Zentnerlast fiel von der Brust des Hexers. Er atmete auf und dankte dem Mächtigen. Dann bat er, sich entfernen zu dürfen. Für das, was er sich vorgenommen hatte, waren dreizehn Tage viel zu kurz… * Der Patient lag in einer Spezialklinik in Aberystwyth in Wales. Viel war von ihm nicht zu sehen, denn große Verbände ließen ihn wie eine bandagierte Mumie erscheinen. Selbst vom Gesicht war nur eine kaum handtellergroße Partie frei. Was sich da allerdings den Blicken des Pflegepersonals bot, war nicht gerade als anziehend zu bezeichnen. Anscheinend handelte es sich um einen Unfall, bei dem der Mann verunstaltet worden war, und die Kunst der Ärzte sollte ihn wieder zusammenflicken. Das würde noch Monate dauern. Von Zeit zu Zeit betrat ein Arzt das Einzelzimmer, beugte sich über den Patienten oder notierte die Meßwerte, die er von einem der zahlreichen Instrumente ablas, die neben dem Bett standen und mit denen der Unglückliche über Kabel oder Schläuche verbunden war. Auf dem Gang ging Doc Ramford mit der neuen Pflegerin vorbei und erklärte ihr alles, was sie unbedingt am ersten Tag ihrer Tätigkeit wissen mußte. »Zimmer neun ist für Sie tabu, Jessica«, erinnerte er sie mahnend. »Der Patient braucht absolute Ruhe. Sobald ich wieder zurück bin, kümmere ich mich selbst um ihn.« »Und wenn er läutet, Doktor?« erkundigte sich die schlanke Brünette mit den für eine Krankenschwester viel zu aufregenden Rundungen. 8
»Er läutet nicht«, versicherte der Arzt. »Dazu ist er nicht in der Lage.« »Ein so schwerer Fall?« sagte Jessica betroffen. »Besteht die Möglichkeit, daß er… ich meine, könnte es nicht sein…« »… daß er stirbt?« Ramfords Blick begann zu flackern, als er murmelte: »Vielleicht wäre das sogar ein Segen.« Laut betonte er: »Er stirbt nicht. Voraussetzung ist, daß sich alle strikt an meine Anweisungen halten.« Die hübsche Jessica versprach es und folgte dem Mediziner zur Treppe. Eine halbe Stunde später hörte sie den Wagen ihres neuen Chefs über den Kiesweg fahren. Die allein zurückgebliebene Krankenschwester war froh, den Job in der Klinik bekommen zu haben. Sie war entschlossen, ihr Bestes zu geben, damit Doc Ramford mit ihr zufrieden war. Auch Harry hatte ihr ans Herz gelegt, fleißig und aufmerksam zu sein. Harry war ihr Verlobter. Vielleicht konnten sie bald heiraten, wenn sie nach der Probezeit das volle Gehalt erhielt. Ob sie Harry mal anrief? Jessica zögerte nicht lange, huschte zum Telefon und wählte die vertraute Nummer. Harry Small hörte den Apparat im Erdgeschoß läuten. Er führte gerade das Skalpell über die Bauchdecke des narkotisierten Meerschweinchens und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Es würde schon nicht so wichtig sein. Aber das Telefon blieb hartnäckig und ging ihm auf die Nerven. So konnte man schließlich keine Studien treiben. Als der Lärm nicht nachließ, legte der Medizinstudent das Skalpell beiseite, streifte die Gummihandschuhe ab und hastete die Kellertreppe empor. Barsch meldete er sich, doch dann nahm sein Gesicht einen versöhnlichen Ausdruck an. 9
»Ach, du bist’s, Jessy. Was gibt’s denn? Was, du hast Sehnsucht nach mir? Kann ich verstehen. Ich bin ja auch ein irrer Typ. Nein, im Ernst. Du fehlst mir auch. Aber wir müssen froh sein, daß du endlich Arbeit gefunden hast. Halte nur immer die Augen offen. Du weißt ja, daß Ramford hauptsächlich aussichtslose Fälle behandelt. Wenn jemand das Zeitliche segnet, möchte ich es sofort erfahren.« Harry Small wartete darauf, an einem Leichnam experimentieren zu können. Das war auch der Grund, warum ihm soviel daran lag, daß Jessica ausgerechnet bei Doc Ramford eine Anstellung fand. Jessica plauderte noch ein wenig von ihrem Boß und den Kollegen, versicherte Harry, daß sie ihn wahnsinnig liebe, und beendete schließlich das Telefonat. Sie mußte jetzt ihre Runde machen. Ramford sollte sehen, daß er sich auf sie verlassen konnte. Sie öffnete lautlos jede Tür und erkundigte sich, sofern er nicht schlief, nach dem Befinden des Patienten. Für jeden hatte sie ein Lächeln und ein freundliches Wort: Ihr machte dieser Beruf Freude. Vor Zimmer neun verharrte sie. Sie sollte es nach dem Willen des Arztes nicht betreten. Er konnte aber mit seiner Anweisung kaum gemeint haben, daß sie sich nicht wenigstens davon überzeugte, ob alles in Ordnung war. Gerade die besonders schweren Fälle mußten doch laufend beobachtet werden. Ihre Hand legte sich schon auf die Klinke. Sie wollte nur einen Blick ins Zimmer werfen. Der Kranke würde das gar nicht merken, falls er überhaupt bei Bewußtsein war. Die junge Frau spähte durch den Türspalt und sah den Bandagierten, der die Augen geschlossen hielt. Er wirkte wie tot. Ein Schreck durchzuckte Jessica. Vielleicht war er es wirklich. War es nicht ihre Pflicht, sich zu vergewissern? Sekundenlang focht sie einen inneren Kampf aus. Ihr Verant10
wortungsbewußtsein ging als Sieger daraus hervor. Völlig geräuschlos schob sie sich in den Raum und schloß die Tür hinter sich. Das Zimmer ähnelte eher einem Labor als einer Intensivstation. Dieser Mann wurde offensichtlich nur noch durch Apparaturen am Leben erhalten. Ein Beatmungsgerät entdeckte die Krankenschwester nirgends, dabei wäre doch gerade das wichtig gewesen, fand sie. Jessica trat näher. Das Schmatzen der Pumpen und das Ticken von Impulsgebern waren die einzigen Laute in der gespenstischen Stille. Die junge Frau wußte nicht mal, wie der Mann hieß. Aber das war auch nebensächlich. Viel wichtiger erschien ihr die Tatsache, daß er nicht das geringste Lebenszeichen von sich gab. Sie stand dicht neben dem Bett. Ob der Mann zu sich kam, wenn sie ihm den Puls fühlte? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Er war viel zu weit weg. Behutsam hob sie die Bettdecke, um nach dem Handgelenk zu greifen. Mit einem Aufschrei ließ sie sie wieder los. Vor Schrecken bleich, taumelte sie bis zur Tür und atmete mühsam. Das gab es doch nicht! Sie war schließlich nicht verrückt. Ob sie noch mal nachsah? Jetzt durfte sie nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Jessicas Herz hämmerte bis zum Hals, als sie erneut auf das Bett zuging und mit gestrecktem Arm die Decke hob. Diesmal hielt sie sie fest und starrte fassungslos darunter. Derartiges hätte sie nie für möglich gehalten… Sie mußte Harry informieren. Der würde ihr sagen, wie sie sich verhalten sollte. Die junge Frau ließ die Bettdecke einfach zurückfallen und stürzte aus dem Zimmer. Sie gab sich keine Mühe mehr, leise zu 11
sein. Sie wußte, daß diese Vorsicht überflüssig war. Harry Small platzte fast vor Wut, als ihn das Telefon schon wieder aus der Arbeit riß. Diesmal reagierte er sogar gereizt, als er Jessicas Stimme erkannte. »Was ist denn schon wieder?« fuhr er sie an. »Du weißt doch, daß ich zu arbeiten habe. Ich will vorankommen. Dafür muß man etwas tun.« »Sei nicht böse, Harry«, schluchzte die Frau. »Du mußt mir helfen.« Dann berichtete sie stockend, was sie in Zimmer 9 gesehen hatte. Harry hörte zu und kratzte sich am Kopf. Er wußte nicht so recht, was er von der ganzen Geschichte halten sollte. »Sag das noch mal«, forderte er seine Verlobte schließlich auf. »Der Kerl hat keinen Rumpf?« »Ich schwöre es dir, Harry… Ich glaube ja selbst, daß ich verrückt bin. Aber da sind nur der Kopf und die verbundenen Gliedmaßen! Kein Brustkorb, kein Unterleib… Arme und Beine liegen einfach lose auf dem Leintuch… Ich sage dir, das sieht schaurig aus.« »Unglaublich, Mädchen! Und dein sauberer Boß hat dir verboten, das Zimmer zu betreten?« »Ausdrücklich.« »Das kann ich mir denken, Jessy. Ramford scheint selbst an Leichen herumzuschnippeln. Wer weiß? Vielleicht hat er bei dem Ärmsten ein bißchen nachgeholfen.« »Um Himmels willen! Weißt du, was du da sagst?« »Vor allem weiß ich, was ich jetzt tun werde. Ich komme auf dem schnellsten Weg mit dem Wagen. Sorge dafür, daß ich die Klinik betreten kann.« »Was hast du vor?« 12
»Ich hole mir die Leichenreste. Das Beste hat sich zwar Ramford selbst genommen, aber wenigstens bleibt mir der Schädel. Das ist auch schon etwas.« »Das kannst du doch nicht tun«, entsetzte sich die Krankenschwester. »Ramford wird mich zur Rede stellen und hinauswerfen.« »Unsinn! Das riskiert er nicht. Er wird die Sache totschweigen, denn sonst müßte er erklären, was er mit dem Rumpf des Toten gemacht hat. Genau genommen, hast du ihn jetzt in der Hand.« Jessica war von dieser Logik zwar noch nicht überzeugt, schenkte aber Harry Small volles Vertrauen. Also wartete sie, bis ihr Verlobter am Hintereingang der Klinik erschien und die Leichenteile abholte. Harry machte kurzen Prozeß, klemmte sämtliche Schläuche ab, faßte die vier Ecken des Leintuches zusammen und warf sich das Bündel über die Schulter. Ungesehen verließ er die Klinik und ahnte nicht, was er sich ins Haus holte. * In Vårdnäs, einem winzigen Ort südlich von Linköping in Schweden, radelte Helge Eklund heimwärts. Sonst lachten die Dorfkinder hinter ihm her, denn er machte eine komische Figur auf dem Drahtesel. Jetzt aber war es Nacht, und niemand sah den Greis, den die Sörefrids zu sich gerufen hatten. Sorge Sörefrid war schwerkrank. Alle ärztliche Kunst hatte bisher versagt. Kein Wunder, daß die hübsche Marga keinen anderen Rat mehr wußte, als den alten Eklund zu ihrem Mann zu bitten. Helge hatte schon oft ein Wunder in letzter Sekunde bewirkt. 13
Der Mann galt tatsächlich als Wunderheiler. Er war keiner von den neuen, die ans schnelle Geld wollten, sondern gehörte zur alten Garde. Ihm lag nichts an Geld oder Ruhm. Er half auch nicht jedem. Nur denen, die bedingungslos an seine Kraft glaubten. Der Alte hatte in Sorge Sörefrid einen Todkranken gefunden, doch er hatte eine beruhigende Feststellung gemacht: Sörefrid litt eigentlich an keiner Krankheit, er war verhext worden! Helge Eklund fuhr zu seiner Hütte, um einen Heiltrank zu brauen. Außerdem wollte er es mit einer Beschwörung versuchen. Damit hatte er schon oft Erfolg. Als der Mann das Fahrrad in den Schuppen schob und sich der Haustür näherte, stutzte er. Sie stand einen Spaltbreit offen. Ein nächtlicher Einbrecher? Wer vermutete schon bei ihm lohnende Beute. Im ganzen Dorf wußte man, daß er ausgesprochen ärmlich lebte. Helge Eklund kniff die fast farblosen Augen zusammen und stieß die Tür auf. Seine Hand ging zum Lichtschalter, aber eine dünne Stimme stoppte ihn: »Kein Licht, mein Freund! Ich liebe die Dunkelheit. Ihr kann man vertrauen.« Der Schwede zögerte. »Wer bist du?« fragte er schließlich. »Wenn du dir einbildest, bei mir Reichtümer zu finden, muß ich dich enttäuschen. Wenn du dagegen hungrig bist, soll es mir auf ein Stück Brot und etwas Käse nicht ankommen. Lachs und Braten kann ich dir leider nicht bieten.« »Sei nicht töricht«, schnarrte der Fremde im Dunkeln. »Ich bin nicht hier, um dich auszuplündern oder ein Almosen zu erbetteln.« »Weshalb sonst?« »Ich habe dir ein Angebot zu unterbreiten.« 14
»Dann fasse dich kurz«, forderte Eklund ungeduldig. »Ich habe in dieser Nacht noch viel zu tun.« »Ich weiß. Du hoffst, diesen Bauern retten zu können. Dafür vergeudest du deine Kraft.« »Vergeuden? Wie meinst du das?« »Das weißt du genau, zumindest ahnst du es. Du bist schließlich nicht dumm. Deshalb ist ja unsere Wahl auf dich gefallen. Du paßt in unser Team.« »Kannst du nicht deutlicher werden?« »Nur Geduld, mein Lieber. Du sollst die ganze Wahrheit erfahren: Sorge Sörefrid wird sterben. So ist es beschlossen. Aber nicht nur er. Überall auf dieser Erde werden in der nächsten Zeit unerklärliche Todesfälle für Ratlosigkeit sorgen. Dahinter steckt das Schwarze Heer. Wir brauchen noch Söldner, und du sollst einer von uns sein. Wir können deine Fähigkeiten einsetzen, aber du mußt begreifen, daß es sinnlos ist, heilen zu wollen, wo das Schwarze Heer eine Wunde geschlagen hat. Komm zu uns, komm zu den Stärkeren!« Helge Eklund glaubte nicht recht verstanden zu haben. Da kam jemand und bot ihm einen Platz in einer Schar des Bösen an. Er überlegte fieberhaft. In jungen Jahren hätte er sich wahrscheinlich auf den Halunken gestürzt und ihn zu überwinden versucht. Inzwischen war er älter und klüger geworden. Er sagte sich, daß der andere nicht in seine Hütte eingedrungen wäre, wenn er dabei eine Gefahr für sich befürchten müßte. Der Lump wußte genau, daß ihm ein alter Wundheiler nichts anhaben konnte. Offenbar war er nur einer von einer ganzen Gruppe. Vom Schwarzen Heer hatte er gesprochen, das in vielen Ländern gleichzeitig für Schrecken sorgte. Zweifellos plante es etwas Entsetzliches, und dies durchzuführen, mußte verhindert werden. »Was erwartet ihr von mir?« fragte er lauernd. 15
»Das ist schnell erklärt. Du sollst dieses Gebiet im Umkreis von vorläufig fünfzig Kilometern übernehmen. Später, wenn das Söldnernetz noch engmaschiger ist, wird dein Verantwortungsbereich kleiner, damit du dich deinen Aufgaben intensiver widmen kannst.« »Um welche Aufgaben handelt es sich dabei?« »Du sollst das Grauen verbreiten. Erwürge das Neugeborene der Mutter. Verhexe das Vieh, damit es wie ein Sturmwind über seine Besitzer hinwegrast. Führe unserem Gebieter neue Vasallen zu. Diene der Finsternis, wo immer du kannst.« Helge Eklund bekam eine trockene Kehle. Er mußte sich zusammenreißen, um dem Unbekannten nicht seinen heiligen Zorn ins Gesicht zu schleudern. »Wer ist dieser Gebieter?« erkundigte er sich. »Das erfährst du, sobald ich deine Zusage habe.« Dem Schweden graute. Wenn es wirklich zutraf, daß alle fünfzig Kilometer ein Angehöriger des Schwarzen Heeres sein Zepter wie eine Knute schwang, konnte das endgültige Verhängnis kaum noch verhindert werden. Versuchen wollte er es auf alle Fälle, und wenn es das Letzte war, was er im Leben tat. »Muß ich mich sofort entscheiden?« wollte er wissen. »Immerhin hat mir noch nie jemand ein vergleichbares Angebot unterbreitet.« »Du gehst kein Risiko ein. Aber wir begreifen, daß du eine gewisse Bedenkzeit beanspruchen kannst. Ich werde wiederkommen. Bis dahin wirst du erkannt haben, daß wir tatsächlich die Mächtigen sind. Behalte unser kleines Gespräch für dich. Auf bald, mein Freund! Wir sehen uns morgen.« Helge Eklund hatte noch eine Menge Fragen an den Gespenstischen, doch er kam nicht dazu, sie zu stellen. Dort, woher die Stimme gekommen war, puffte eine rote Feu16
erlohe und tauchte das Innere der Hütte sekundenlang in grelles Licht. Der Schwede erkannte nur eine gräßliche Fratze, die gleich wieder in der Dunkelheit versank. Als Helge Eklund hastig den Lichtschalter neben der Tür betätigte, entdeckte er keine Spur von dem Geheimnisvollen. Er war verschwunden. Bis morgen sollte er seine Entscheidung treffen… Doch getroffen hatte er sie schon längst. Nie würde er sich dem Schwarzen Heer verschreiben. Doch zunächst durfte er Sorge Sörefrid nicht vergessen. Er wollte beweisen, daß er nicht völlig hilflos war. Der Alte schlurfte zu einem Wandregal, wählte verschiedene Töpfe und trug sie zum Herd. Mit Bedacht nahm er von den ausgesuchten Kräutern und warf genau dosierte Mengen in einen kupfernen Tiegel. Er gab noch Teile von Tierkadavern und rätselhafte Flüssigkeiten dazu. Das alles geschah unter unablässigem Murmeln von Sprüchen, deren Sinn kaum ein Uneingeweihter verstanden hätte. Er brachte das Gemisch zum Sieden und prüfte den Geruch der aufsteigenden Dampfwolke. Nach weiteren Beigaben war er endlich zufrieden. Er goß die Brühe in eine Flasche und verkorkte sie sorgfältig. Dann holte er sein Fahrrad erneut aus dem Schuppen und fuhr in halsbrecherischem Tempo zu den Sörefrids. Der Trank, so war Helge Eklund überzeugt, würde dem Verhexten über den Berg helfen. Doch als ihm Marga die Tür öffnete, wußte er, daß er zu spät kam. Der Bauer brauchte keinen Wundersaft mehr. Er war tot. »Wie ist er gestorben?« fragte Eklund betroffen. Die Witwe schluchzte. Sie konnte sich nicht beruhigen. Die 17
eben erst durchlittenen Augenblicke brachten sie fast um den Verstand. »Zuerst war er ganz friedlich«, flüsterte sie schließlich unter Tränen. »Doch plötzlich schrie er auf, als wollte ihm jemand das Herz aus der Brust reißen. Er stöhnte und nannte ständig einen Namen, den ich noch nie gehört habe. Schwarzer Schaum trat ihm vor den Mund. Endlich bäumte er sich auf und sank leblos zurück. Er hat furchtbar gelitten.« Der Alte fragte nach jenem Namen. Marga Sörefrid dachte nach, aber er fiel ihr nicht ein. Helge Eklund wußte Bescheid: das Schwarze Heer hatte zugeschlagen. Sein unheimlicher Besucher hatte ihm die Macht dieser Truppe bewiesen, um ihm die Entscheidung zu erleichtern… * In einem engen Haus in Avignon läutete mitten in der Nacht das Telefon. Marcel Debuque wachte auf, blinzelte zum offenen Fenster hinüber und knurrte gereizt. Es war noch stockfinster. Seine Hand tastete zum Apparat, glitt aber zunächst über warme, weiche Haut. Debuque stutzte nur kurz, bis ihm einfiel, daß Yvette bei ihm geblieben war. Ein winziger Lichtschimmer fiel auf ihr Gesicht. Wie hübsch sie war! Das Telefon rasselte noch immer. Bestimmt war das Claude, der sich einen Spaß daraus machte, sie zu stören. Debuque mußte sich halb über Yvette beugen, um den Hörer zu erreichen. Die Schlafende bewegte sich und schnurrte wie eine Katze. »Commissaire Bruteau!« meldete er sich mit verstellter Stimme. »Mit wem spreche ich? Haben Sie ein Verbrechen zu melden?« 18
Eine Pause entstand. Der Anrufer legte bestimmt schleunigst auf und ärgerte sich, weil er sich verwählt hatte. »Sorry!« meldete sich eine bestürzte Stimme, die englisch sprach: »Ich fürchte, man hat mich falsch verbunden. Ist dort wenigstens Avignon in Frankreich?« Das war nicht Claude. Der hätte ganz anders reagiert. »Hier ist allerdings Avignon«, bestätigte Marcel Debuque. »Wen wollten Sie denn sprechen?« »Einen Monsieur Debuque. Er wohnt in der Rue de la Fuguess.« Der Anrufer meinte tatsächlich ihn. Ein Engländer? Kaum. Er beherrschte diese Sprache nur gebrochen. »Kein Problem. Ich verbinde Sie.« Debuque trommelte kurz mit den Fingernägeln auf die Sprechmuschel und meldete sich nun mit seinem richtigen Namen. »Dem Himmel sei Dank, Monsieur Debuque«, hörte er den Anrufer sagen. »Ich hatte schon befürchtet, Sie nicht zu erreichen.« »Ich nehme an, Sie rufen aus Amerika an. Hier bei uns in Europa ist es jetzt nämlich Nacht. Daran haben Sie wohl nicht gedacht?« »Ich bin mir völlig im klaren, daß es ungehörig ist, Sie um diese Zeit zu stören. Andererseits weiß ich aber auch, daß Sie gerade nachts am aktivsten sind.« Marcel Debuque warf einen Blick auf Yvette, die nun auch zu sich kam, und grinste genießerisch. Worauf spielte dieser merkwürdige Mensch an? Daß er, Marcel, nicht wie ein Mönch lebte, konnte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Er war ledig, und Yvette war es auch. »Erklären Sie sich deutlicher. Wer sind Sie überhaupt?« »Mein Name ist Helge Eklund. Ich bin Schwede. Sie kennen mich nicht, aber ich habe schon manches von Ihnen gehört. Sie kämpfen gegen die schwarzen Mächte auf dieser Welt.« 19
Der Franzose wurde plötzlich munter. »Brauchen Sie Hilfe?« »Allerdings. Aber nicht nur ich, Monsieur Debuque. Überall auf der Erde wird das Schwarze Heer zuschlagen. Es ist furchtbar.« »Das Schwarze Heer?« »Wer ist denn da, Marcel?« wollte Yvette schmollend wissen. »Eine andere Frau?« »Aber nein. Halt’ mal einen Moment deinen süßen Mund. Ich verstehe den Mann sonst so schlecht.« »Was will er von dir? Um diese Zeit. Er soll uns in Ruhe lassen. Ich möchte schlafen.« »Du sollst ja schlafen, Chérie. Sei brav und dreh dich um.« Er küßte sie flüchtig aufs Haar. Yvette murrte zwar noch immer, zog es aber doch vor, sich zusammenzurollen und Ruhe zu geben. »Wir sind unterbrochen worden, Monsieur Eklund«, bedauerte der Franzose. »Sie wollten mir vom Schwarzen Heer berichten.« Der Schwede erzählte stockend von seinem Erlebnis mit dem Unbekannten. Er gab sich Mühe, nichts auszulassen, und natürlich erwähnte er auch Sorge Sörefrids dramatischen Tod und das Angebot des Fremden, in die Streitmacht des Grauens einzutreten. Marcel Debuque stellten sich die Haare auf. Er hatte schon viel mit den Trabanten des Bösen erlebt, doch eine geballte Armee, die sich über Kontinente ausbreitete, war neu für ihn. Bis jetzt hatte er die Erfahrung gemacht, daß sich Dämonen, Vampire, Werwölfe und Ghouls gegenseitig nicht grün waren. In den Schattenreichen herrschte ein ganz ähnliches Konkurrenzdenken wie unter den Menschen. Jeder Finsterling war darauf aus, seine eigene Macht auszudehnen. Debuque erfuhr, daß der Schwede bereits zwei andere Männer angerufen hatte, von denen er wußte, daß sie einen unerbittli20
chen Kampf gegen die Schwarzblüter führten. Den einen Namen kannte er, von dem anderen hatte er noch nie gehört. »Was erwarten Sie von mir?« Das sagte ihm Helge Eklund genau. »Sie müssen sämtliche Geisterjäger verständigen, die Sie kennen. Herr Knoll in Bremen hat das ebenfalls zugesagt. Wir treffen uns dann alle hier bei mir in Vårdnäs und beraten, was zu tun ist. Wir müssen uns beeilen. Die Zeit drängt. In dieser Sekunde sterben vielleicht Menschen durch die Macht des Schwarzen Heeres.« Dieser Gedanke hatte etwas Gespenstisches. Besonders für Marcel Debuque, der das Leben so sehr liebte. Mit wehmütigem Blick streifte er die Frau an seiner Seite. Wie gern wäre er noch bei ihr geblieben. Aber es gab Wichtigeres. Auch für ihn. Er hatte eine Aufgabe. Sich ihr zu stellen, war er jederzeit bereit. »Ich bin Ihr Mann, Monsieur Eklund«, versicherte er. »Leider kann ich nicht viele Kollegen erreichen. Ich kenne nur von einem Ägypter die Adresse, fürchte aber, daß er unterwegs ist. Auf jeden Fall nehme ich die nächste Maschine nach Stockholm. Sie müssen mir noch erklären, wie ich Sie finde.« Der Schwede gab eine umständliche Wegbeschreibung und flehte Marcel Debuque erneut an, sich zu beeilen. Das versprach der Franzose. Er legte den Telefonhörer auf und sprang aus dem Bett. * Harry Small frohlockte. Jessicas Tätigkeit in der Klinik trug schneller Früchte, als er in seinen kühnsten Träumen erwartete. Die Gebeine des Verunglückten, vor allem aber sein Kopf, boten Material für viele anatomische Untersuchungen. Damit war er 21
anderen Studenten in seinem Semester weit voraus. Vielleicht konnte er durch diesen Vorfall sogar vorzeitig promovieren. Wenn er aber erst seinen Doktorhut besaß, wollte er sich mit ganzer Kraft der Erforschung des menschlichen Körpers widmen. Er war sicher, dabei auf manches Geheimnis zu stoßen. Harry bewohnte das Haus seines Onkels in Kidwelly, das dieser ihm für die Zeit seines Überseeaufenthaltes überlassen hatte. Hier war er ungestört und konnte tun und lassen, was er wollte. Er parkte den Wagen dicht vor der Haustür, damit sich kein Neugieriger darüber wunderte, was er da in dem weißen Bündel ins Haus schleppte. Das Zeug war erstaunlich schwer. Harry Small ächzte und wankte die Kellertreppe hinunter. Unten angekommen, stieß er mit dem Fuß eine Tür auf und drückte mit dem Ellbogen gegen den Lichtschalter. Neonröhren zuckten und spendeten gleich darauf steriles Licht. Der Fünfundzwanzigjährige schaffte seine Last zu einem großen Tisch in der Mitte des Raumes und legte sie dort ab. Jetzt wollte er erst mal seine Beute in Augenschein nehmen. In der Klinik hatte er dazu keine Zeit gehabt. Alles hatte schnell gehen müssen. Er öffnete das Leintuch und breitete es aus. Die Gebeine fielen zwar durcheinander, sahen aber wirklich so aus, als bildeten sie einen kompletten Leichnam. Nur der Rumpf fehlte nach wie vor. Da hatte sich Jessica nicht getäuscht. Harry Small nickte anerkennend. Dieser Ramford verstand offensichtlich sein Handwerk. Doch der Schädel faszinierte ihn wesentlich mehr. Mit dem wollte er sich sofort befassen. Er hoffte, daß das Gehirn noch nicht entfernt war. Der Kopfverband ließ das allerdings befürchten. Harry holte seine Instrumente und schlüpfte in einen weißen 22
Kittel. Auf Handschuhe verzichtete er, der Tote erhob keinen Anspruch mehr auf Keimfreiheit. Verwesungsgeruch war noch nicht festzustellen. Während Harry Small begann, den Kopfverband zu lösen, stellte er sich vor, was Doc Ramford für Augen machen würde, wenn sein angeblicher Patient verschwunden war. Ob der Mann noch weitere Leichen in den Krankenzimmern lagerte? Es wäre eine Fundgrube für den eigenen Bedarf. Harry schnalzte mit der Zunge, und Ramford würde den Mund halten müssen. Das war das Allerschönste dabei. Harry ließ das Verbandszeug fahren und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Teufel auch! Das mußte an dem Neonlicht liegen. Eine der Röhren flackerte ein wenig. Morgen wollte er sie austauschen. Er räusperte sich und fuhr fort, die Binde zu lösen. Dabei hob er den Schädel mit der linken Hand und wickelte den Verband mit der rechten ab. Im nächsten Augenblick ließ er den Kopf entgeistert los und taumelte zurück. Die Augenlider des Toten hatten sich bewegt! Harry Small preßte die Zähne aufeinander, daß die Kieferknochen hervortraten. Er phantasierte wohl… Welche unerforschten Geheimnisse auch noch im menschlichen Körper schlummern mochten, eines war mit Sicherheit ausgeschlossen: eine Leiche war nicht mehr imstande, mit den Lidern zu zucken. Small ärgerte sich, daß er durch einen Lichteffekt ins Bockshorn gejagt wurde. Nur gut, daß das niemand beobachtet hatte. Seine Freunde würden sich nicht schlecht über ihn lustig machen. Mit flauem Gefühl im Magen trat er wieder an den Tisch heran. Doch bevor er mit der Arbeit fortfahren konnte, schlug der Schädel die Augen auf! Ein argwöhnischer Blick irrte umher und saugte sich an Harry Small fest. 23
Der Student schrie, obwohl er genau wußte, daß ihn niemand hören würde. Es handelte sich um ein einzeln stehendes Haus, und der Keller war solide gebaut. Seine Hand suchte unwillkürlich nach einer Waffe und fand die große Knochensäge. Es war lächerlich. Er glaubte, sich gegen den Kopf eines Verstorbenen zur Wehr setzen zu müssen. Was war nur mit ihm los? Aber diesmal handelte es sich nicht um ein Trugbild. Die Augen im Schädel blieben offen. Sie flackerten und musterten den Waliser mißtrauisch. Und dann bewegte sich auch der Mund mit den kaum wahrnehmbaren Lippen. Er öffnete sich, und Harry sah ein paar scheußliche Zähne. Ursprünglich mußten sie länger gewesen sein. Da hatten sie wahrscheinlich gar nicht im geschlossenen Mund Platz gefunden. »Was ist passiert? Wie komme ich hierher? Wer sind Sie?« Harry Small ließ den nächsten Schrei los und preßte beide Hände auf die Ohren, wobei die Säge zu Boden klapperte. Dieser Lärm erinnerte ihn wieder daran, daß er sich seiner Haut wehren mußte. Der Schädel lebte! So irrsinnig das auch klang, aber Ramford mußte ein erstaunliches Experiment gelungen sein. Small bückte sich und riß die Knochensäge an sich. Er packte sie wie einen Hammer und schlug auf den Schädel ein. Er traf voll. Erst beim zweiten Hieb ruckte der gespenstische Kopf auf dem Leintuch zur Seite und entging dem Schlag. Danach kam Leben in sämtliche Teile des Toten. Wie ein Kokon platzte der Verband des rechten Armes. Eine Hand mit dürren Fingern stieß hervor, packte die Säge, die Harry gerade wieder zum Schlag heben wollte, und entriß sie ihm. Klirrend flog 24
sie in die nächste Ecke. Irrenden Blickes hielt Harry Small nach einer neuen Waffe Ausschau. Er nahm sich keine Zeit, darüber nachzudenken, was hier passierte. Etwas Unfaßbares war es. Das stand fest. Mit diesen Gebeinen konnte er nicht experimentieren… Sie stellten eine tödliche Gefahr dar, der er entgehen wollte. Und das wiederum würde ihm nur gelingen, wenn er die Knochen zertrümmerte. Als er sah, wie sich die bandagierten Beine vom Tisch schwangen und auf dem Fußboden Halt suchten, rettete er sich mit einem Hechtsprung in einen Schrank, dessen Tür offen stand. Aber hier saß er in der Falle. Die Arme des Gespenstischen folgten jetzt den Beinen. Der Kopf schwebte darüber, ein fast kompletter Mensch… Es gab nur keinen Körper. So tappte das Monstrum auf den Schrank zu und öffnete den scheußlichen Mund. Offensichtlich wollte es wieder etwas sagen. Harry Small wurde schlecht. Panische Angst ergriff ihn. Er erinnerte sich an das Jagdgewehr, das sein Onkel oben im Arbeitszimmer aufbewahrte. Seines Wissens war es sogar geladen. Aber wie kam er an dem Scheusal vorbei? Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprintete los. Im Vorbeirasen schlug er nach dem Toten, verfehlte ihn aber. Er erreichte die Tür und jagte die Treppe hinauf. Als er sich oben umwandte, merkte er, daß ihm das Monstrum behäbig folgte. Im Arbeitszimmer hing das Büffelgewehr an der Wand. Ein Blick genügte. In dem Doppellauf steckten zwei dicke Patronen. Damit wollte er den Schädel in Stücke schießen. Harry riß das Gewehr an die Wange, und als der Tote im Türrahmen auftauchte, drückte er ab. Er hatte den gewaltigen Rückstoß nicht einkalkuliert. Wie von 25
Geisterhand wurde er von den Füßen gerissen. Mit wenigen Schritten war das Monster bei ihm und verhinderte den zweiten Schuß, indem es das Gewehr wie eine Stricknadel verbog. Solche Kräfte hatte Harry Small noch bei keinem Menschen erlebt. Ihm war klar, daß er geliefert war… Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Das Fenster? Vielleicht glückte ihm der Sprung durch die Scheibe. Draußen stand der Wagen. Damit konnte er fliehen. Aber schon näherte sich ihm der Tote. Seine Augen verhießen nichts Gutes. Blitzschnell erkannte Harry Small seine Chance. Er rollte sich zur Seite und riß an dem Teppich, auf dem der Knochenmann stand. Es klappte. Er riß dem Scheusal den Boden unter den Füßen weg und brachte es zu Fall. Im nächsten Moment sprang er auf und schlug das andere Ende des Teppichs über den Gestrauchelten. Geschickt wickelte er ihn ein und hatte seinen unerwarteten Gegner gefangen. Nun brauchte er noch eine feste Schnur, damit er das Ganze zu einem handlichen Paket binden konnte. Das wollte er dann zur Polizei schaffen. Oder war es besser, wenn er es Doc Ramford auf die Türschwelle seiner eigenartigen Klinik legte? Small kam weder zu dem einen, noch zu dem anderen. Mit lautem Knall, als wäre ein Luftballon geplatzt, riß das Teppichgewebe. Zwei Arme ergriffen Harry Small und schleuderten ihn gegen den Schreibtisch. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen die Kante und bemühte sich noch, sein Bewußtsein zu behalten, unterlag aber in diesem Kampf. Sein letzter Gedanke war, daß er aus dieser Ohnmacht wohl nie mehr erwachte.
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* � Milton Sharp war bis Swansea geflogen und hatte sich dort einen Leihwagen genommen. Damit fuhr er nach Aberystwyth. Er wollte sich mit eigenen Augen über Yoncas Befinden informieren. Daß etwas nicht stimmte, spürte er sofort, als er die Klinik betrat. Eine hübsche Krankenschwester kam ihm entgegen und erkundigte sich nach seinen Wünschen. »Ich möchte zu Doc Ramford«, bat er. Die Brünette schüttelte bedauernd den Kopf. »Das tut mir leid. Der Doktor empfängt momentan keine Besuche.« Milton kniff unwillig die Augen zusammen. »Hören Sie, Miß, mein Name ist Milton Sharp. Ich komme jede Woche extra von London hierher. Sie müssen wohl neu hier sein, sonst wäre Ihnen das bekannt. Mister Ramford reißt Ihnen den hübschen Kopf herunter, wenn Sie mich nicht zu ihm lassen. Er weiß, daß ich komme.« Die Pflegerin wurde unsicher. »Aber er hat mir ausdrücklich aufgetragen…« »Vergessen Sie’s! Das gilt nicht für mich.« Jessica wollte keinen Fehler begehen. Seit den letzten Stunden lag über der Klinik eine schier unerträgliche Spannung. Der Arzt hatte zwar nichts gesagt, aber sie war sicher, daß seine schlechte Laune von der verschwundenen Leiche herrührte. »Ich werde ihn fragen«, sagte die Krankenschwester scheu. »Tun Sie das, bitte.« Milton Sharp wartete. Eine seltsame Unruhe hatte ihn erfaßt. Was war passiert? Bisher hatte Ramford ihn stets wie einen alten Freund begrüßt. Der Mediziner hatte ihn zweifellos auch heute vorfahren hören. 27
Minuten später kehrte die Krankenschwester zurück. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Milton wußte, wo sich Ramfords Büro befand, aber er schlug die Begleitung nicht aus. Endlich stand er dem Doc gegenüber. Dieser deutete auf den Besuchersessel und schickte die Brünette hinaus. Um zu verhindern, daß sie womöglich an der Tür lauschte, deckte er sie mit Arbeit ein, die sie sicher bis Mittag beschäftigte. Bevor er das Wort an Milton Sharp richten konnte, fragte dieser: »Reden Sie erst gar nicht um den heißen Brei herum, Ramford. Ist er tot?« Der Arzt lachte müde. »Tot? Machen Sie Witze, Sharp? Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß der Bursche, den Sie mir in die Klinik gebracht haben, unmöglich sterben kann. Ich hätte ihn damals nicht annehmen dürfen. Das war falsch von mir. Aber Sie konnten so wunderschön reden und mich davon überzeugen, daß ich der Menschheit einen Dienst erweisen würde, wenn ich ihn operiere. Da habe ich mich eben breitschlagen lassen. Leider!« »Hören Sie auf, Ramford! Sie wissen genau, daß ich Sie nicht angelogen habe. Yonca ist ungeheuer wichtig. Er ist ein Dämon, einer, der sich um ein Haar in die Riege der Bösen eingereiht hätte. Nur einer glücklichen Fügung haben wir es zu verdanken, daß sein Geist in unserem Sinn geformt wurde.« »Ich kenne die Geschichte, Sharp. Acht geheimnisvolle Medaillons waren nötig, damit ein verrückter Magier einen Dämon erschaffen konnte. Da die Medaillons Besitzer hatten, mußten diese vorher sterben. Fast wäre das Schreckliche gelungen. Doch Sie haben das Medaillon, das offenbar das Denken des Dämons beeinflußte, so verbeult, daß es seine Wirkung ins Gegenteil kehrte.« »Und aus diesem Grund wird uns Yonca mit seiner dämoni28
schen Kraft im Kampf gegen die Scheusale und Verderber der Menschen zur Seite stehen«, ergänzte Milton Sharp, der Geisterjäger. »Ich habe Ihnen diese Theorie geglaubt, Sharp«, bekannte der Mediziner matt. »Aber ich wollte, Sie hätten mir Yonca nie gebracht.« »Es mußte sein, Ramford. Sie wissen selbst, wie abstoßend er aussah. So hätte er Entsetzen unter den Menschen ausgelöst. Man hätte ihn gejagt und vielleicht irgendwann doch vernichtet. Sein Gesicht war das eines Monsters. Seine Beine ähnelten nackten Würmern, die Arme waren die eines Affen. Vor allem aber besaß er keinen Rumpf, weil der Magier nicht mehr rechtzeitig in den Besitz des entsprechenden Medaillons gelangte. Auf der Suche nach einer Klinik, in der die chirurgischen Eingriffe diskret und zuverlässig durchgeführt werden, stieß ich auf Sie. Ihre Aufgabe ist es, ihm ein menschliches Aussehen zu geben. So, wie Sie sich benehmen, muß ich aber fürchten, daß Ihnen dabei ein Fehler unterlaufen ist.« »Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß die Operationen Monate dauern werden.« »Das spielt doch keine Rolle, Ramford. Lassen Sie sich durch eventuelle Rückschläge nicht entmutigen. Sie schaffen es. Da bin ich ganz sicher. Ich habe genügend Fotos von Unfallopfern gesehen, bevor sie in Ihre Obhut kamen. Keines von ihnen blieb entstellt. Warum sollte Ihnen das gleiche nicht auch bei Yonca gelingen?« »Weil er fort ist!« Milton Sharp zuckte zusammen. »Fort? Sie meinen, er ist geflohen?« »Eine andere Erklärung habe ich nicht. Als ich heute früh in die Klinik kam, galt mein erster Gang wie immer diesem sonderbaren Patienten auf Nummer neun. Das Bett war leer. Alle Schläu29
che und Leitungen waren brutal abgerissen worden. Das Leintuch hat Yonca mitgenommen. Vermutlich benutzt er es als provisorisches Kleidungsstück. Selbstverständlich habe ich im ganzen Haus nach ihm gesucht. Doch ohne Erfolg. Ich wollte Sie telefonisch verständigen, aber Sie waren offensichtlich schon nach hier unterwegs. Ich mache mir die größten Vorwürfe. Vor allem aber bin ich besorgt: Yonca, das bestätigen Sie selbst, ist ein Dämon. Ich verstehe von diesen Wesen nicht viel. Ich weiß nur, daß sie gewalttätig und gefährlich sind. Ich fürchte, daß schon bald Schreckliches in Aberystwyth geschehen wird.« Der Geisterjäger war betroffen. Vor seinem geistigen Auge sah er noch jene Szene, als Yonca ihm das Leben rettete und anschließend seine Hilfe anbot. Er hatte lange gezögert. Erst die Tränen des Dämons hatten ihn überzeugt. Viel hatte er sich von der Partnerschaft mit Yonca erhofft. Und nun war er fort. Geflohen… Irgendwo hielt er sich versteckt. Ramfords Sorge war begreiflich. »Haben Sie die Polizei verständigt?« wollte Sharp wissen. Der Doc schüttelte müde den Kopf. »Denken Sie, ich möchte ins Irrenhaus? Ich wollte erst mit Ihnen sprechen. Sie haben mir die Suppe schließlich eingebrockt. Jetzt müssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen.« »Die übernehme ich, Ramford«, bestätigte Milton Sharp mit fester Stimme. »Weiß Ihr Personal Bescheid?« »Nur Redwin, mein Assistent, und das Operationsteam. Ich habe alle zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Auf diese Leute kann ich mich hundertprozentig verlassen.« »Hat keiner etwas bemerkt?« wunderte sich der Geisterjäger. »So eine Flucht muß doch Lärm verursacht haben. Wer hatte denn zu dieser Zeit die Aufsicht auf der Station?« »Schwester Jessica. Sie haben sie vorhin kennengelernt.« »Aha, die hübsche Braunhaarige. Ich möchte mit ihr sprechen.« 30
»Um Himmels willen! Was wollen Sie ihr sagen? Das Mädchen ist erst seit gestern bei uns. Für ihre Verschwiegenheit kann ich nicht garantieren.« Milton Sharp stutze. »Sie haben Yonca in der Obhut einer völlig neuen Kraft gelassen?« »Sie hatte den strikten Befehl, Nummer neun nicht zu betreten. Wenn sie etwas beobachtet hätte, würde sie es auch kaum für sich behalten haben.« »Lassen Sie sie bitte kommen.« Doc Ramford drückte einen Knopf der Rufanlage seines Schreibtisches und lehnte sich im Sessel zurück. Sein Gesicht war grau und faltig. Auf dem Gang hörte man den zögernden Schritt der Krankenschwester. Gleich darauf öffnete sich die Bürotür. »Sie wollten mich sprechen, Doktor?« »Mister Sharp hat ein paar Fragen an Sie, Jessica«, erklärte Ramford und wich dem Blick des Mädchens aus. Das wäre nicht nötig gewesen, denn Jessica schlug ebenfalls die Augen nieder. Ein Blinder sah, daß sie ein schlechtes Gewissen plagte. Der Geisterjäger erkannte es sofort. Aus diesem Grund hielt er Umschweife für überflüssig. »Jessica, Sie wissen, warum ich Sie rufen ließ. Sie werden uns jetzt genau berichten, was in der letzten Nacht auf Nummer neun geschehen ist.« »Nummer neun?« stammelte die Pflegerin. »Das ist doch das Zimmer, das ich nicht betreten durfte.« »Was Sie aber trotzdem getan haben, nicht wahr?« bohrte Milton Sharp. »Aber nein… Ich schwöre es. O Gott!« Mit Jessicas Fassung war es vorbei. Sie brach in Tränen aus. Milton Sharp warf dem Arzt einen bezeichnenden Blick zu. Er begann zu ahnen, daß Yonca die Klinik nicht aus freien Stücken 31
verlassen hatte. »Den Schwur haben wir überhört, Jessica«, wandte er sich an die Schluchzende. »Ab jetzt wird aber nur noch die Wahrheit gesagt. Sie wollen doch sicher auch weiterhin für Doc Ramford arbeiten, oder?« »Natürlich, Sir.« »Na, sehen Sie. Wie war das also? Sie gingen ins Zimmer. Warum? Hatten Sie Geräusche gehört?« Jessica schüttelte den Kopf. »Ich war nicht neugierig. Ich wollte nur sehen, ob mit dem Patienten alles in Ordnung war.« »War denn alles in Ordnung?« »Ich hatte den Eindruck, als würde er nicht mehr atmen. Ich hatte Angst, er könnte gestorben sein. Deshalb wollte ich den Puls messen.« »Und dabei sahen Sie, daß ein Puls nur dort schlagen kann, wo auch ein Herz existiert, nicht wahr? Ich kann mir lebhaft vorstellen, welch abenteuerliche Gedanken nun durch Ihren Kopf geschossen sind. Vermutlich hielten Sie Ihren Boß sogar für einen Leichenschänder. Ich kann Ihnen versichern, daß er das nicht ist. Was taten Sie weiter?« »Ich rief meinen Verlobten an. Er ist Medizinstudent in Swansea und wohnt in Kidwelly.« »Verstehe. Medizinstudenten sind oft ganz wild auf Leichenteile, die sie sezieren können. In manchen Ländern wird damit ein schwunghafter Handel getrieben.« »Harry hat die Reste des Toten abgeholt.« Doc Ramford sprang auf und blitzte Jessica zornig an. Bevor er aber mit seiner Schimpfkanonade beginnen konnte, stoppte ihn der Geisterjäger. »Wir können Jessica keinen Vorwurf machen, Ramford. Sie hätten das Zimmer verschließen müssen. Das Mädchen wollte seine Pflicht besonders gut erfüllen. Sie wissen doch, wie wir 32
Menschen sind. Wir glauben dem Schild ›frisch gestrichen‹ erst, wenn wir uns mit dem Zeigefinger davon überzeugt haben. Wir können nur hoffen, daß dieser Harry nicht schon das Skalpell angesetzt hat. Wie ist seine Telefonnummer?« Diese Frage richtete er an Jessica. Unter Tränen nannte sie die Zahlen, fügte aber gleich hinzu, daß sie selbst schon ein paarmal vergeblich versucht hatte, ihren Verlobten anzurufen. »Sicher ist er im Keller bei der Arbeit. Da läßt er sich nur ungern stören. Es ist ja seine erste eigene Leiche.« Milton Sharp verzichtete darauf, dem Mädchen die Wahrheit über den Dämon Yonca auseinanderzusetzen. Es gab Wichtigeres. Er stellte sich vor, was geschah, wenn Yonca aus der Betäubung erwachte und sich gegen den Mann mit dem blitzenden Skalpell zur Wehr setzte. Er riß den Telefonhörer an sich und tippte die Nummer in die Tasten, die Jessica ihm genannt hatte. Er ließ den Apparat in Kidwelly lange läuten, doch Harry Small meldete sich nicht. Deshalb mußte er das Schlimmste befürchten. * In Vårdnäs trafen internationale Besucher aus aller Herren Länder ein. Die Wirte der beiden Gasthöfe in dem schwedischen Ort rieben sich die Hände. Das würde ein gutes Geschäft werden. Man fragte sich nur, was die Leute hier alle wollten. Von einer Messe oder einem Kongreß in Linköping war nichts bekannt. Die Gäste ließen sich über den Grund ihres Hierseins nicht aus. Sie taten überhaupt ziemlich geheimnisvoll und geschäftig. Deshalb wurde schon bald gemunkelt, daß in Vårdnäs ein riesiges Einkaufs- und Kulturzentrum entstehen sollte. 33
Marcel Debuque war einer der ersten. Noch bevor er sein Zimmer in der ›Schwalbe‹ bezog, fragte er sich durch nach der Hütte des alten Eklund und fuhr zu ihm. Hier traf er nicht nur den schwedischen Heiler, sondern bereits einen Kollegen. Paul Jaroscek war ein gemütlicher Fünfziger, der seinen Kummer äußerte, in dieser Gegend keinen genießbaren Kaffee zu bekommen. Sein spärliches Haar kringelte sich in eigenwilligen Locken. Trotz seiner geringen Körpergröße brachte er gut und gern zwei Zentner auf die Waage, was ihn aber in seiner Beweglichkeit nicht behinderte, sobald es darauf ankam. Über Debuque Erscheinen zeigte er sich erfreut. »Ich habe schon befürchtet, der einzige zu bleiben«, sagte er in Wiener Dialekt. »Seien Sie uns willkommen, Herr Kollege! Der Anlaß unseres Kennenlernens ist allerdings kein erfreulicher. Wenn es stimmt, was Herr Eklund erzählt hat, müssen wir uns auf das Schlimmste gefaßt machen.« »Haben Sie Angst, Monsieur?« erkundigte sich der Franzose mit einem Anflug von Spott. Er konnte sich den Dicken beim besten Willen nicht im Kampf gegen einen Werwolf vorstellen. Der Wiener blickte an Debuque vorbei, als sähe er hinter ihm ein Ungeheuer. »Ich habe immer Angst«, bekannte er ruhig. »Ich gebe keine Ruhe, bis ich eins von diesen Scheusalen aufgespürt habe. Doch wenn es dann zur Entscheidung kommt, spüre ich jedesmal diese entsetzliche Furcht in mir.« Debuque schüttelte den Kopf. »Wieso legen Sie sich dann überhaupt erst mit ihnen an«, wunderte er sich. Jarosceks Gesicht wurde eine Spur härter. »Weil sie meine Familie umgebracht haben. Zuerst meine beiden Söhne und schließlich auch noch meine Frau. Dadurch erfuhr ich erst, daß es sie gibt, daß diese Monster tatsächlich unter uns weilen.« »Das tut mir leid«, versicherte Debuque. »Ich kann auch Ihre 34
Angst begreifen, früher oder später ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie Ihre Familie.« Der Österreicher schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Debuque. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Meine Sorge gilt dem Danach. Wer wird meinen Kampf weiterführen, wenn ich nicht mehr lebe? Wird das Böse endgültig die Herrschaft über die Lebenden erringen?« »Wie ich die Sache sehe, sind wir hier, um genau diese Frage zu klären. Eklund hat einen klugen Schritt getan. Es muß sich nun zeigen, welche Macht wir dem Schwarzen Heer entgegensetzen können. Zwei Männer werden kaum ausreichen. Ich habe Elef Mallakh in Kairo eine Botschaft übersandt, fürchte aber, daß sie ihn nicht rechtzeitig erreicht. Konnten Sie noch einige Kollegen mobilisieren?« »Ich stehe leider nur mit Armin Knoll in Deutschland in Verbindung. Der wurde aber bereits von unserem Freund Eklund verständigt. Knoll kennt aber meines Wissens mehrere Leute, die bestimmt kommen werden, falls er sie in so kurzer Zeit erreicht. Sie wissen ja selbst, daß unsereins fast ständig unterwegs ist.« Damit sagte er dem Franzosen nichts Neues. Ein Geisterjäger kannte schließlich keine Vierzigstundenwoche. Er war immer im Einsatz. Der Schwede hatte bisher kein einziges Wort zu der Unterhaltung beigesteuert. Doch jetzt meldete er sich zaghaft: »Dieser Halunke, der mich in der Nacht erschreckte, wird heute wieder bei mir auftauchen. Dann will er meine Antwort auf seinen Vorschlag hören. Ich bin völlig ratlos. Ich hatte gehofft, im Lauf des Tages eine stattliche Truppe zusammengetrommelt zu haben. Ich habe sogar mit einem Mann in Kalifornien Verbindung aufgenommen. Er hat zwar spontan seine Unterstützung zugesagt, aber er kann vor morgen nicht hier sein. Der Mann heißt Palmer.« 35
»Zusammen mit Knoll wären wir dann fünf«, resümierte der Wiener. »Fünf Figuren gegen das Schwarze Heer. Das ist ein Witz. Sind wir wirklich so ohnmächtig?« »Sicher nicht«, ergriff Debuque das Wort. »Aber es dauert nun mal seine Zeit, bis unser Ruf jeden erreicht.« »Zeit haben wir nicht«, warf Eklund düster ein. »Ich fürchte, daß mein unheimlicher Besucher schnell herausfinden wird, aus welchem Grund Sie hier sind. Dann wird das Schwarze Heer zuschlagen.« »Wir müssen eben schneller sein«, widersprach Debuque. »Dieser Kerl scheint so etwas wie ein Verbindungsmann zu sein. Warum schnappen wir ihn nicht und zwingen ihn, uns Einzelheiten über die Organisation der Dämonen preiszugeben?« Das war der erste konstruktive Vorschlag, der sofort heiß diskutiert wurde. Es sprach eine Menge dafür, genauso viel aber auch dagegen. Die Debatte wurde durch die Ankunft zweier weiterer Geisterjäger unterbrochen. Paul Jaroscek verzog allerdings das Gesicht. »Was kann uns eine Frau nützen?« murmelte er. »Wir werden kämpfen müssen.« Die Spitze zielte in Richtung der mageren, kurzgeschorenen Blondine, die mit einem eleganten Herrn die Hütte betreten hatte. »Ich bin bereit zu kämpfen«, entgegnete sie mit feinem Lächeln und stellte sich als Frauke Klettje aus Den Haag vor. »Herr Knoll rief mich an und setzte mich über alles in Kenntnis. Ich erwarte, daß Sie keinerlei Rücksicht auf mich nehmen. Das tun die Dämonen auch nicht. Die sind gar nicht gut auf mich zu sprechen.« Der Österreicher hüstelte. »Ich wollte Sie nicht kränken, gnädige Frau.« Die Holländerin schüttelte sich. »O bitte nein! Ich bin unter 36
Kollegen und Freunden die Frauke. Ich glaube, die Situation läßt keinen Platz für Förmlichkeiten, Paul.« Die Männer waren durchaus einverstanden, sich künftig mit dem Vornamen anzureden. »Eigentlich wollte ich noch eine Bekannte mitbringen«, fuhr Frauke Klettje fort. »Leider mußte ich erfahren, daß sie im Krankenhaus liegt. Sie hat Pech und Glück zugleich gehabt. Pech, daß das Monster von Haarlem zuerst zuschlug. Glück, daß es sie nicht voll erwischte. Grete Windhavns linker Arm wird in Zukunft eine Prothese sein. Die Frau brennt schon darauf, es dem Scheusal heimzuzahlen.« »Einstweilen hat sie sich an mich erinnert«, erklärte der elegante Herr, der aus Griechenland kam und Pavlos Zacharos hieß. »Wir haben uns im vorigen Jahr kennengelernt. Eine erstaunliche Frau, der meine ganze Hochachtung gehört! Ich finde überhaupt, daß sich Frauen durch ihre Sensibilität weitaus besser für den Kampf gegen die Schwarzweltler eignen, als manche Männer. Doch darüber wollten wir nicht diskutieren. Wir müssen einen Plan schmieden, und ich bin während des Herfluges nicht untätig gewesen.« »Sie haben einen Vorschlag zu machen, Pavlos?« erkundigte sich Marcel Debuque gespannt. »Nun, meine Idee basiert eigentlich auf der Hoffnung, in Vårdnäs weitaus mehr Kollegen anzutreffen, als dies der Fall ist. Zu fünft erreichen wir nicht viel. Doch es müßte genügen, um dieses Halunken habhaft zu werden, der unseren Freund Helge unter Druck setzen möchte.« Der Österreicher lachte. »So weit waren wir auch gerade gekommen, hatten aber erhebliche Bedenken, ob wir dadurch nicht das Schwarze Heer erst recht zum Zuschlagen zwingen. Mit Ihrer Stimme steht es jetzt zwei zu zwei. Demnach wird Fraukes Meinung den Ausschlag geben müssen.« 37
»Da sieht man wieder mal, wie wichtig meine Anwesenheit ist«, sagte die Holländerin und lächelte dem Wiener zu. »Ich will mich wahrlich nicht vor der Verantwortung drücken, finde aber, daß wir diese schwerwiegende Entscheidung nicht überstürzen dürfen. Der Lump wird erst wieder in der Nacht aufkreuzen. Bis dahin haben wir noch mindestens zehn Stunden Zeit. Ich hoffe, daß sich inzwischen unsere Zahl vergrößert hat und wir nicht von einer einzigen Stimme abhängig bleiben. Vor allem möchte ich vorher diese Hütte genau untersuchen. Ich besitze ein Pendel, das mir schon oft den Besuch eines Dämons angezeigt hat. Möglicherweise gelingt es mir sogar, den Weg des schwarzblütigen Gastes zu verfolgen. Wenn wir seinen Schlupfwinkel und vielleicht einige seiner Gefährten aufspüren, haben wir mehr gewonnen, als wenn wir versuchen, ihn zu Informationen zu zwingen.« Diese klugen Worte wurden allgemein gelobt. Selbst Paul Jaroscek revidierte seine Ansicht über die Frauen in diesem Job. Er erklärte, der Witwe Sörefrid einen Besuch abstatten zu wollen. Wenn das Schwarze Heer am Tod des Bauern schuld war, ließ sich wohl auch hier ein Ansatzpunkt finden. Der Franzose entschied sich dafür, die Leute im Dorf zu befragen. Er war der Meinung, jemand müßte in letzter Zeit Ungewöhnliches beobachtet haben. Diese Ansicht teilte auch Pavlos Zacharos, und er wollte sich mit Debuque diese zeitraubende Arbeit teilen. Helge Eklund blieb bei seiner Hütte und beantwortete geduldig Frauke Klettjes Fragen. Dabei beobachtete er, wie an verschiedenen Stellen ihr goldenes Pendel tatsächlich ausschlug. »Ein eindeutiger Beweis«, bestätigte die Frau aufgeregt. »So ein Lump war wirklich hier. Und es ist noch gar nicht so lange her. Das Pendel reagiert ungewöhnlich heftig.« »Haben Sie mir etwa nicht geglaubt, Frauke?« fragte der 38
Schwede. »Sind Sie der Ansicht, daß Sie seinen Weg verfolgen können? Er ging nicht fort, sondern verpuffte in einem Lichtblitz.« »Erstens kann das eine geschickt arrangierte Illusion gewesen sein, und zweitens vermute ich, daß er auf übliche Weise in Ihre Hütte gekommen ist. Sie sagten, daß die Tür offen stand. Ich lasse Sie jetzt allein, Helge. Wollen wir hoffen, daß der dämonische Strolch sich nicht schon jetzt wieder bei Ihnen meldet.« Um sich selbst hatte Helge Eklund keine Angst. Er war alt, und das Leben lag hinter ihm. Doch was war, wenn das Pendel die Holländerin wirklich zu dem Gesuchten führte? Würde sie diese Begegnung überleben? * Milton Sharp fuhr auf schnellstem Weg nach Kidwelly. In seinem Wagen saßen Doc Ramford und Jessica, die ihm den Weg zeigen mußte. Als der Wagen vor dem Haus stoppte, setzte das Herz des Geisterjägers für einen Schlag aus. Die Haustür war zertrümmert. Es sah so aus, als wäre jemand hindurchgegangen, ohne sich die Mühe zu machen, sie vorher zu öffnen. Auch Ramford wurde kreidebleich. »Das habe ich befürchtet«, flüsterte er. »Irgendwann mußte es dazu kommen, Sharp. Ich habe ein teuflisches Monster in meiner Klinik beherbergt. Ich fühle mich wie Frankenstein. Ich habe es zwar nicht selbst erzeugt, doch ich habe auch nichts unternommen, es zu vernichten. Jetzt läuft es frei herum und verwüstet alles, was ihm in den Weg kommt.« Milton Sharp sprang aus dem Wagen und rannte zum Haus. »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, bat er den Arzt, der 39
ihm folgte. »Yonca war bei jedem meiner Besuche friedlich. Er zeigte sich, wie Sie mir mehrfach bestätigten, als ein geduldiger Patient.« »Das mag ja alles sein. Aber glauben Sie, daß Harry Small die Haustür seines Onkels demoliert hat? Schauen Sie her. Das ist massive Eiche. Dazu gehört schon eine besonders harte Karatehand, und Jessica hat uns ihren Verlobten als ausgesprochen unsportlich geschildert.« Die junge Frau holte die Männer ein. Sie bebte am ganzen Körper. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. »Harry!« rief sie in die Stille des Hauses. »Harry, so gib doch Antwort.« Milton Sharp stieg durch die zertrümmerte Tür und wandte sich zuerst dem Keller zu. In einem Raum brannte Licht. Mit einem Blick sah er, daß es sich um ein provisorisches Labor handelte. Der Tisch in der Mitte mit dem halb heruntergerissenen Leintuch bot den Beweis, daß Yonca hier gelegen hatte. Jetzt war er verschwunden, und Harry Small war ebenfalls nicht zu sehen. Der Geisterjäger hob eine Knochensäge vom Fußboden auf und betrachtete sie nachdenklich. Er zupfte ein paar weiße Fasern ab. Sie konnten von Verbandszeug stammen. Demnach hatte Small damit zugeschlagen. Milton Sharp suchte nach Blut, entdeckte aber keinen Tropfen. Hinter sich hörte er ein Geräusch, wirbelte herum und machte sich auf einen Angriff gefaßt. Doch an der Tür stand nur der Arzt. Er war viel weißer als das Leintuch auf dem Seziertisch. Zwischen den Fäusten hielt er einen merkwürdigen Gegenstand, den er Milton stumm entgegenstreckte. »Was ist das?« wollte der Geisterjäger wissen. 40
»Fragen Sie lieber, was das mal war. Ich halte das für ein besonders schweres Gewehr. Jetzt hat es allerdings mehr Ähnlichkeit mit einem Bumerang. Jemand hat es mit roher Gewalt verbogen. Und dieser Jemand war Ihr Yonca, Sharp!« Es klang wie eine Anklage. »Wo haben Sie das gefunden?« »Oben im Arbeitszimmer. Alles spricht dafür, daß da ein Kampf stattgefunden hat.« »Und Small?« fragte Milton voll schlimmer Befürchtungen. »Fort… Das Ungeheuer hat ihn verschleppt, vielleicht sogar aufgefressen. Ich kenne mich nicht so gut in den dämonischen Gebräuchen aus.« Milton wollte es nicht glauben. Er sah die beiden Tränen in Yoncas Augen, als er anfangs dessen Partnerschaftsangebot ablehnte. Wenn er wirklich Gewalt angewendet hatte, dann zweifellos in der Absicht, sich zur Wehr zu setzen. Immerhin hatte Small ihn sezieren wollen. Er raste die Treppe hinauf und suchte das bezeichnete Zimmer. Als er Jessica auf dem Teppich ausgestreckt liegen sah, erschrak er. »Sie ist ohnmächtig geworden«, klärte ihn Ramford auf. »Etwas Besseres konnte ihr momentan gar nicht passieren. Ich habe ihr schon eine Spritze verabreicht. Helfen Sie mir, sie dort auf das Sofa zu legen.« Milton Sharp faßte mit an. Dann sah er sich in dem Raum um. Ramford hatte nicht übertrieben. Alles deutete auf eine handgreifliche Auseinandersetzung hin. Den letzten Beweis lieferte der Blutfleck in der Nähe des Schreibtisches. An der Kante des Möbelstückes fand er ein paar Haare. Blut und Haare von Harry Small. Mehr war von dem Studenten nicht zurückgeblieben. Die Männer durchsuchten das ganze Haus. Ohne Ergebnis. Es 41
war zum Verzweifeln. Der Geisterjäger sah sich gezwungen, die Polizei zu informieren. Er fürchtete sich dabei vor der Auskunft, ein gräßliches Monstrum ziehe mordend durch die Straßen von Kidwelly. Doch weder in Kidwelly noch in Swansea wußte man auf den Polizeistationen anfangs, wovon er überhaupt redete. Sie glaubten an einen albernen Scherz. Lediglich das Verschwinden Harry Smalls nahm man ernst und zu Protokoll. Jessica kam inzwischen wieder zu sich. Die Beruhigungsspritze tat ihre Schuldigkeit. Die junge Frau konnte etwas nüchterner über die Ereignisse denken. Sie war es auch, die die Aufmerksamkeit der Männer auf den Wagen lenkte. Milton Sharp schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich! Wieso war er nicht längst darüber gestolpert? Harry Small hatte Yonca nicht zu Fuß von Aberystwyth nach Kidwelly bringen können. Das waren immerhin rund sechzig Meilen. Jessica wußte die Nummer des tintenblauen Austin. Milton gab sie an die Polizeistation weiter und löste damit eine Fahndung aus. Diese konnte aber schon nach zwanzig Minuten wieder abgebrochen werden. Das war genau der Zeitpunkt, als ein tintenblauer Austin aus unerfindlichem Grund auf der Straße zwischen Carmarthen und St. Clears gegen einen Alleebaum knallte und in Flammen aufging. Zum Glück für den Fahrer wurden beherzte Männer Zeugen dieses Unfalls. Sie zogen den Verunglückten aus dem brennenden Wagen und leisteten Erste Hilfe. Der Mann stand unter Schockeinwirkung, denn der eintreffenden Polizei erzählte er lauter wirres Zeug. Seine Papiere waren wahrscheinlich verbrannt. Der Beschreibung nach aber konnte es sich nur um Harry Small handeln. 42
Milton Sharp beeilte sich, mit Jessica und Ramford ins Krankenhaus von Carmarthen zu fahren, wohin der Mann gebracht worden war. * In Vårdnäs traf inzwischen bei Helge Eklund der Russe Nikolay Averin ein und erfuhr von dem Schweden, daß seine Kollegen bereits aktiv waren. Er entschloß sich ebenfalls, die Zeit zu nutzen und eine uralte Ikone um Rat in diesem heiklen Fall zu fragen. Dazu begab er sich in den nahen Wald, grub ein Erdloch und hockte sich hinein. Den Blick kehrte er in Richtung Osten, die Ikone drückte er gegen die Stirn, die Augen hielt er geschlossen. In dieser Haltung fand ihn Armin Knoll, der sich auf dem Weg zu dem Wunderheiler befand. Da der Russe ganz in schwarz gekleidet war, hielt ihn der Deutsche zunächst für einen Angehörigen des Schwarzen Heeres und zückte seinen Browning. Dessen Magazin war mit geweihten Silberkugeln gefüllt. Zum Glück für den Geisterjäger vom Kaukasus wurde seine Konzentration durch das Entsichern der Pistole gestört. Er fuhr herum, und Knoll gewahrte das Heiligenbild. Das sagte ihm, daß er unmöglich einen Dämon vor sich haben konnte. Das Mißverständnis war rasch aufgeklärt. Auch Knoll zeigte sich durch die geringe Zahl der Streiter bestürzt. Er erfuhr von Averin, daß Eklund über keinen Telefonapparat verfügte. Daher kehrte er ins Dorf zurück und besetzte das Telefon in den »Drei Kronen«. Von dieser Stelle aus wählte er sich die Finger wund und versuchte alles, um noch weiteren Kollegen auf die Spur zu kommen. Unterdessen gingen Marcel Debuque und Pavlos Zacharos von 43
einem Bewohner des Ortes zum anderen und befragten sie über eventuelle Beobachtungen. Die Ausbeute blieb aber mehr als mager. Niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Paul Jaroscek hatte seine liebe Not mit Marga Sörefrid, die den plötzlichen Tod ihres Mannes noch nicht verkraftet hatte. Er kam sich wie ein Schuft vor, als er die arme Frau so quälen mußte. Nach einer Stunde war die Bedauernswerte völlig am Ende. Sie schluchzte nur noch und bat, in Ruhe gelassen zu werden. Als sich der Wiener enttäuscht zur Tür wandte, brach die Frau endgültig zusammen. Sie stürzte zu Boden, schlug wie rasend um sich und brüllte mit kehliger Stimme immer nur ein Wort: »Cyano!« Jaroscek zuckte herum. Mit zwei Schritten war er bei Marga Sörefrid, beugte sich über sie und rüttelte sie. Als sie nicht zu schreien aufhörte, schlug er ihr – nicht zu fest – ins Gesicht. Das ließ sie verstummen und ihn entgeistert anstarren. »Wer ist das?« drängte der Mann. »Wer ist Cyano?« »Ich weiß es nicht«, jammerte die Frau unter Tränen. »Aber Sie haben den Namen gerufen. Immer wieder.« »Wirklich?« tat die Schwedin erstaunt. Dann schien sie sich zu besinnen. »Cyano, sagen Sie? Den Namen rief Sorge kurz vor seinem Tod.« »Sind Sie sicher?« »Ich irre mich bestimmt nicht. Ich weiß nur nicht, warum er mir plötzlich wieder eingefallen ist. Cyano, ja, das war sein letzter Aufschrei.« »Kennen Sie eine Person, die so oder so ähnlich heißt?« Marga Sörefrid verneinte. Jaroscek vermutete, daß er nichts weiter von der Unglücklichen erfahren würde. Er mußte mit dem kleinen Erfolg zufrieden sein. Ob er ein Schritt zur Lösung ihres Problems war, konnte er je44
doch noch nicht sagen. Vielleicht kannte ein anderer im Dorf diesen Cyano. Er wollte sich erkundigen… Inzwischen folgte Frauke Klettje dem mehr oder weniger starken Ausschlag ihres Pendels. Von dem sie sicher war, daß es den Weg des Unheimlichen anzeigte. Zu ihrer Überraschung schien der Diener des Bösen vom Dorf her gekommen zu sein, denn in dieser Richtung wurden die Pendelbewegungen regelmäßig heftiger. Die Holländerin überlegte. War es denkbar, daß der Gesuchte unbehelligt im Dorf wohnte? Ein Einheimischer vielleicht? Auf jeden Fall rechnete sie damit, dem Gespenstischen mit jedem Schritt näherzukommen. Im Zweifelsfall würde ihn das Pendel verraten. Frauke Klettje stutzte. Hatte sie dort hinten bei den drei Buchen nicht eine Bewegung gesehen? Sie strengte ihre Augen an, doch bemerkte sie nichts Ungewöhnliches… Im Gegensatz zu dem goldenen Pendel an der dünnen Kette. Das spielte förmlich verrückt. Die Frau riß sich zusammen. Sie durfte keinen Fehler begehen. Sie war schließlich allein und wollte nicht das Schicksal ihrer Freundin erleiden, wenn es eine bessere Möglichkeit gab. Mit nur einem Arm war der Kampf gegen die Unholde dieser Welt noch schwieriger. Die Kette drohte ihr durch die Finger zu gleiten. Deshalb wickelte sie diese ums Handgelenk. Nun konnte nichts mehr passieren. Langsam ging die Holländerin weiter. Sie gab sich den Anschein einer harmlosen Spaziergängerin. Vielleicht gelang die Täuschung. Ihre linke Hand fuhr in die Rocktasche. Dort hatte sie ein Papierbriefchen mit einem weißen Pulver griffbereit. Es handelte 45
sich um eine erstaunliche Substanz, deren Wirkung sie schon oft verblüfft hatte. Das Rezept stammte von einer Frau, die im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Angeblich hatte sie sich zu dieser Zeit damit gegen die Teufelsbrut zur Wehr gesetzt… erfolgreich, wie in den Chroniken zu lesen stand. Weniger erfolgreich war ihr kurzer Kampf gegen die Menschen verlaufen, die sie guten Willens vor Schaden bewahrt hatte. Von ihnen war sie der Hexerei angeklagt und verbrannt worden. Aus ihrer spärlichen Hinterlassenschaft war über Generationen hinweg der niederländischen Geisterjägerin dieses Rezept in die Hände gefallen. Sie sorgte dafür, daß ihr stets eine ausreichende Menge des Pulvers zur Verfügung stand. Schluckte ein dämonisches Wesen auch nur eine Winzigkeit davon, ging es elend zugrunde. Die Schwierigkeit bestand nur darin, es zum Schlucken zu bewegen. Sie wollte dieses Pulver nur im äußersten Notfall anwenden, denn sie wußte genau, wie wichtig der Unterhändler des Schwarzen Heeres war. Nur von ihm konnten sie mehr über die weiteren Pläne erfahren. Vernichtete sie ihn, so versiegte die einzige Informationsquelle. Die grüne Goldkette schnitt ihr tief ins Fleisch. Hastig versenkte sie das Hilfsmittel in ihrer zweiten Tasche. Sie wußte jetzt, wohin sie gehen mußte und wollte den Gespenstischen nicht durch das Pendel warnen. Vor den drei Buchen wurde sie langsamer. Sie konzentrierte sich voll auf die nächsten Augenblicke. Doch dann wurde sie enttäuscht. Der Platz war leer. Hier hielt sich niemand auf. Kein Mensch und auch kein Geistwesen. Sogar das Pendel in ihrer Tasche verhielt sich ruhig. Das war das sicherste Zeichen, daß keine Gefahr bestand. 46
Frauke Klettje runzelte die Stirn. Aber wieso wies ihr das Pendel plötzlich nicht mehr den Weg zum Dorf? Irritiert zog sie die Kette aus der Tasche und starrte ungläubig auf den verkohlten Klumpen, der daran hing. Das war doch wohl die größte Frechheit! Ihr wertvolles Pendel war ruiniert… Damit ließ sich nichts mehr anfangen. Der Dämonische mußte die Gefahr erkannt haben… und hatte sie beseitigt. Die Holländerin stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. Irgendwo krächzte eine Krähe. Es hörte sich höhnisch an. »Verdammter Satansvogel«, zischte sie. »Bist du es, der mich zum Narren gehalten hat? Komm nur her! Ich habe Futter für dich.« Die Krähe ließ sich aber nicht blicken. Auch sonst passierte nichts. Wenn nicht das unansehnliche Stück schwarzen Eisens in ihrer Hand gewesen wäre, hätte Frauke Klettje geglaubt, sich alles nur eingebildet zu haben. So aber blieb die Tatsache bestehen. Der Dämonendiener hatte sich ganz in ihrer Nähe befunden und sie eines wertvollen Hilfsmittels beraubt. Vor allem aber wußte er nun mit großer Wahrscheinlichkeit, daß Helge Eklund Hilfe angefordert hatte. * Harry Small hatte Brandverletzungen im Gesicht und an den Händen. Das Schlimmere aber war der Schock, unter dem er litt. Jessica brach in Tränen aus, als sie ihren Verlobten sah. Sie war zwar froh, daß er wider Erwarten nicht tot war, doch sie erkannte ihm kaum wieder. Der junge Mensch glich einem Wrack. »O Harry!« flüsterte sie immer wieder. »Wir hätten das nicht tun dürfen. Es war unrecht. Das weiß ich nun.« Der Mann im Bett lächelte töricht, um gleich darauf entsetzt zusammenzuzucken. 47
»Nein!« brüllte er aus Leibeskräften. »Ich will nicht sterben… So helft mir doch! Da kommt er wieder… Er bringt mich um! Er ist so stark, so entsetzlich stark…« Doc Ramford war beim ersten Aufschrei herumgefahren, weil er annahm, Yonca wäre in der Tür erschienen. Milton Sharp beschwichtigte ihn. »Das sind nur Schreckvisionen. Unter diesem Eindruck hat er auch den Austin gegen den Baum gesetzt. Wenn wir nur wüßten, was sich wirklich in dem Haus in Kidwelly abgespielt hat.« »Ist das so wichtig?« fragte Ramford kopfschüttelnd. »Sie sehen doch, daß Yonca für seinen Zustand verantwortlich ist. Der Dämon muß unbedingt unschädlich gemacht werden.« »Nein!« sagte der Geisterjäger scharf. »Yonca fühlte sich bedroht, und das war er ja auch zweifellos. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie aus der Narkose erwachen und einen Mann mit einer mächtigen Knochensäge vor sich sehen? Stillhalten? Doch wohl kaum. Daß Yonca den Mann nicht wirklich getötet hat, ist für mich der klarste Beweis, daß er diese Konfrontation nicht wollte. Wie Sie mir sagten, hatten Sie erst vor zwei Tagen eine Gesichtsoperation vorgenommen. Wahrscheinlich konnte er aus diesem Grund noch gar nicht sprechen und sich verständlich machen.. Jetzt wird er sich irgendwo verbergen. Unter den Menschen kennt er nur Sie und mich. Wenn ihn die Polizei jagt, muß es zwangsläufig zur Katastrophe kommen.« »Kaum«, widersprach der Arzt. »Dafür werde ich sorgen und Yonca in eine Falle locken. Sie sagten selbst, daß er mich kennt und mir wahrscheinlich vertraut. Deshalb wird er tun, was ich von ihm verlange. Und dann kann die Armee auf den Knopf drücken. Ich schwöre Ihnen, daß von Ihrem wahnsinnigen Dämon kein Krümel übrigbleibt.« Milton Sharp versteifte sich. »So schaffen Sie Ihre Nachlässigkeit nicht aus der Welt, Ramford«, erklärte er eisig. »Wenn durch 48
Ihre Schuld Yonca etwas zustößt, bringe ich Sie vor Gericht. Auch das ist ein Schwur, auf den Sie sich verlassen können.« Der Mediziner lachte wild. »Versuchen Sie’s, Sharp… Ich bin gespannt, wem die Richter glauben werden. Ihnen oder mir. Zur Not wird mein Zeuge ihre Zweifel beseitigen. Dort liegt er. Sein Zustand spricht Bände.« Milton Sharp versuchte, den Doc zur Einsicht zu bringen. Es gelang ihm aber nicht. Da war er sich im klaren, daß er Yonca unbedingt finden mußte. Sonst geschah ein Unglück. * Am Abend trafen sie sich wieder. Alle waren enttäuscht. Sie hatten sich von ihren Nachforschungen mehr erhofft. Auch Elef Mallakh, der Ägypter, war nun zu der Gruppe der Geisterjäger gestoßen. Mit ihm war ein Sudanese gekommen, den alle nur Lommy nannten, weil sein vollständiger Name für europäische Zungen unaussprechbar war. Lommy machte einen fröhlichen Eindruck. Er glaubte nicht, daß man die Bedrohung durch das Schwarze Heer so ernst nehmen sollte. In seinem Land pflegte man eine viel natürlichere Beziehung zu den Geistern. »Wollen Sie damit andeuten, Lommy, daß wir uns auch mit den Dämonen des Schwarzen Heeres einigen sollen?« fragte Armin Knoll erbost. Lommy rollte mit den Augen, daß fast nur noch das Weiße zu sehen war. »Was wollen Sie, Armin? Wir sind acht jämmerliche Figuren. Unsere Gegner wissen schon jetzt ganz genau, weshalb wir hier sind. Das zeigt Fraukes verschmortes Pendel. Wenn die ernst machen, lebt morgen von uns keiner mehr. Da hilft es auch nichts, wenn wir unsere finstersten Gesichter aufsetzen.« »Und Sie wollen ein Geisterjäger sein?« empörte sich Pavlos 49
Zacharos. Der Sudanese schüttelte seinen Wollkopf. »Kein Geisterjäger, Pavlos. Geisterbeschwörer! Elef hat mich zu euch mitgenommen, weil er glaubte, daß euch meine Erfahrungen nützen könnten. Jetzt bin ich hier, und wenn mich einer um Rat fragt, so muß ich sagen: versucht, euch mit den Stärkeren zu einigen.« »Das haben wir nie getan«, brauste Nikolay Averin auf. »Wollen Sie meine Wunden sehen? Mein Körper ist mit Andenken übersät, die ich den Scheusalen des Kaukasus zu verdanken habe, weil ich sie zum Kampf stellte. Hätte ich stillgehalten, besäße ich jetzt keine Narben, wäre aber tot. Sie haben recht. Vorläufig sind wir nur acht Streiter, doch innerhalb einer Woche werden sich hier sämtliche Dämonenvernichter meiner großen Heimat versammeln.« Der Schwarze nickte beifällig. »Das hört sich sehr ermutigend an, Nikolay. Dummerweise können wir nicht bis morgen warten. Heute nacht wird unser Freund Helge wieder Besuch bekommen, und dann muß er diesem Burschen eine klare Antwort geben. Entscheidet er sich gegen das Schwarze Heer, ist das sein Todesurteil. Sind wir etwa hier, um diesen mutigen Mann in den Tod zu schicken? Ich sage euch, wir haben nur eine Chance, wenn wir so tun, als würden wir auf die gestellten Bedingungen eingehen. Was ist schon dabei, wenn Helge eine Kuh verenden läßt und damit den Beweis für seine Treue zum Schwarzen Heer erbringt? Wir gewinnen dadurch viel Zeit, und die brauchen wir dringend.« »Darüber sollten wir abstimmen«, schlug Paul Jaroscek vor. »Ich bin für Lommys Vorschlag.« Frauke Klettje, die noch immer wütend über den Verlust ihres Pendels war, Nikolay Averin und Armin Knoll stimmten dagegen. Die restlichen vier unterstützten den Wiener. »Das wäre also klar«, ließ sich Marcel Debuque hören. »Helge 50
wird auf das Angebot eingehen und gleichzeitig versuchen, möglichst viele Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Wir müssen unbedingt wissen, was das Schwarze Heer als nächstes plant, damit wir es eventuell verhindern können. Besonders wertvoll wäre natürlich zu erfahren, wer dieser sogenannte Gebieter ist, und wie man zu ihm gelangt. Alles hängt jetzt also von Ihrer Geschicklichkeit ab, Helge. Auf Ihnen lastet eine schwere Verantwortung. Wir müssen Sie allein lassen. Unsere Gegenwart würde den Kerl mißtrauisch machen und seinen Mund verschließen.« Alles war klar. Sie konnten nur noch abwarten, ob die Ereignisse so abliefen, wie sie erhofften. * Die dunkle Nacht lag über Kidwelly. Milton Sharp war es nicht gelungen, Doc Ramford umzustimmen. Der Arzt stellte sich dem eilig zusammengestellten Polizeiaufgebot zur Verfügung und heckte mit den Verantwortlichen einen Plan aus, wie man den Dämon in eine Falle locken konnte. Ramford hatte während der vergangenen Wochen genügend Gelegenheit gehabt, Yoncas Verhaltensweisen zu beobachten. Ihm war schon bald aufgefallen, daß der ungewöhnliche Patient körperliche Qualen zu leiden schien, wenn er eine Frau in Gefahr wußte. Einmal war er sogar vom Operationstisch aufgesprungen, um einer Assistentin beizustehen, die sich aus Ungeschicklichkeit geringfügig mit einem Skalpell verletzt hatte. Darauf setzte Ramford. Und Jessica sollte den Lockvogel spielen. Sie hatte etwas gutzumachen. Schließlich wäre alles nicht passiert, hätte sie nicht eigenmächtig gehandelt. Die Frau zitterte vor Angst, als sie durch die düsteren Straßen 51
der Stadt taumelte und von Zeit zu Zeit ein klägliches Wimmern hören ließ. Ihr Kleid war fachkundig zerfetzt worden. Auf ihrem Gesicht klebte echtes Blut, denn ein Dämon ließ sich bestimmt nicht durch Tomatensaft täuschen. So hastete Jessica zu der etwas außerhalb gelegenen Kiesgrube, in der Hoffnung, daß der Trick nicht funktionierte. Ramford und die Polizisten, die sich dort verschanzt hatten, hofften das Gegenteil. Stundenlang hatten die Beamten geschuftet, um Sprengladungen zu legen, Flammenwerfer in Position zu bringen und zu tarnen und in einiger Entfernung fünf Helikopter in Aufstellung zu bringen. Jetzt war alles bereit für den Empfang. Yonca hatte keine Chance. Milton Sharp konnte es kaum fassen. Diesem Mann hatte er vertraut. Wie konnte Ramford nur so kurzsichtig sein? Es war doch alles klar. Yonca – in Notwehr – hatte Harry Small mehr als sanft behandelt, obwohl er ihn mühelos hätte töten können. Dafür wurde er nun gejagt. Der Geisterjäger zerbrach sich den Kopf, wie er Yonca retten konnte. Da er Ramford nicht zur Vernunft brachte, versuchte er beim Polizeichef von Kidwelly sein Glück. Der hörte ihm aufmerksam zu und zeigte deutliches Interesse. »Ein heikler Fall«, meinte er schließlich. »Ich bin für die Sicherheit der Bevölkerung verantwortlich. Das müssen Sie verstehen.« »Das begreife ich, Inspektor, aber Yonca stellt keine Gefahr dar. Nur wenn er angegriffen wird, setzt er sich selbstverständlich zur Wehr. Niemand weiß, wie Ihr Unternehmen endet. Sie haben eine Falle errichtet. Eine Frau muß den Köder spielen. Wer sagt Ihnen, daß Yonca nicht ganz anders reagiert, als Ramford vermutet? Vielleicht bringt er Jessica in seine Gewalt und benutzt sie als Geisel. Ich mache Ihnen einen fairen Vorschlag. 52
Mich kennt er. Wir haben ein Bündnis geschlossen. Er wird nicht glauben, daß ich ihn reinlegen will. Lassen Sie die Frau aus dem Spiel. Ich möchte mit ihm reden.« Der Inspektor nickte und griff zum Telefon. Er sprach kurz mit einem Mann, den er Brad nannte, und legte dann wieder auf. Zwei Minuten später stürmten sechs bewaffnete Polizisten ins Büro. »Nehmt den Mann fest«, brüllte der Inspektor. »Er hat die Absicht, unsere Aktion zu boykottieren. Er bleibt so lange in Haft, bis wir das mordende Monstrum unschädlich gemacht haben.« Der Geisterjäger wurde überwältigt. Gegenwehr war sinnlos. Man hatte ihn in ähnlicher Weise reingelegt, wie auch Yonca ausgetrickst werden sollte. »Lassen Sie mich wenigstens mit London telefonieren«, verlangte er. Dagegen hatte der Polizeibeamte nichts einzuwenden. Jeder Inhaftierte besaß das Recht, sich mit seinem Anwalt in Verbindung zu setzen. Das würde aber auch nichts ändern. Milton Sharp rief keinen Rechtsbeistand um Hilfe, sondern nahm mit dem Verleger Hoster O’Neil Kontakt auf. O’Neil war der Mann, der den Geisterjäger mit den nötigen finanziellen Mitteln für seinen Kampf gegen die Dämonen versorgte. Er verfügte über enormen Einfluß und hatte seine Fühler in allen Ecken der Welt. Er mußte ihm helfen. Trotz der späten Stunde freute sich der Verleger über den unerwarteten Anruf. »Gott sei dank, Sharp!« seufzte er erleichtert. »Ihr Bruder und ich versuchen schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen. Wo, in Dreiteufelsnamen, stecken Sie nur? Sie wollten doch nach Aberystwyth fahren?« »Das bin ich auch«, bestätigte Milton hastig. Dann berichtete er, was sich zugetragen hatte. »Ich brauche Ihre Unterstützung, 53
Mister O’Neil. Sie müssen diesen Wahnsinn stoppen. Yonca ist ungeheuer wertvoll in unserem Kampf gegen das Böse. Vernichten wir ihn, berauben wir uns einer großen Chance.« »Ich verstehe Ihre Erregung. Doch Sie werden darüber gleich anders denken. Ein Dämon, von dem wir vorläufig nur hoffen, daß er sich gegen seinesgleichen wendet, der aber durchaus auch so reagieren kann, wie die Polizei befürchtet, ist im Augenblick absolut unwichtig.« Milton Sharps Faust krampfte sich um den Hörer, als wollte sie ihn zerbrechen. »Unwichtig?« brüllte er. »Ohne Yonca wäre ich jetzt tot. Ich gebe zu, auch mir war die Vorstellung, mit einem Dämon gemeinsame Sache zu machen, anfangs nicht ganz geheuer. Inzwischen denke ich anders darüber. Ich kann es nicht zulassen, daß er von ein paar Wahnsinnigen in die Luft gesprengt wird.« »Doch, Sie können! Sie müssen sich nämlich um weitaus Wichtigeres kümmern. Dabei geht es nicht um die Existenz eines fragwürdigen Wesens, sondern um die Menschen, möglicherweise sogar um alle Menschen.« Der Geisterjäger spürte, wie sich seine Haut zusammenzog. Hoster O’Neil war durch und durch Geschäftsmann und Realist. Er war der letzte, der übertriebene Behauptungen aufstellen würde. Wenn er von einer riesigen Gefahr sprach, war auch etwas dran. »Reden Sie!« forderte Milton den Verleger auf. Der machte es kurz. »Können Sie sich noch an Mister Palmer aus San Franzisko erinnern?« »Rod Palmer?« Und ob sich Milton an den Geisterjäger erinnerte… Erst vor wenigen Wochen hatte er Gelegenheit, den Amerikaner aus höchster Not zu retten. Sie hatten vereinbart, in loser Verbindung zu bleiben. »Was ist mit ihm?« »Er rief bei Ihrem Bruder Glyn an, und der alarmierte mich, 54
weil er Sie nirgends erreichte. In einem kleinen Ort in Schweden treffen sich sämtliche Geisterjäger, um über einen Feldzug gegen das Schwarze Heer zu beraten.« »Das Schwarze Heer? Noch nie davon gehört. Was ist das?« »Offensichtlich eine Dämonenorganisation, die ihr Netz über den ganzen Erdball zieht. Sie plant einen mächtigen Schlag, wenn das Furchtbare nicht vorher verhindert werden kann. Mister Palmer sitzt jetzt zweifellos in einer Maschine nach Stockholm. Er erwartet, daß Sie ebenfalls in Vårdnäs erscheinen und nach Möglichkeit noch ein paar Mitstreiter mitbringen. Die Lage ist sehr ernst und duldet keinen Aufschub.« »Und Yonca?« »Wie können Sie noch an den Dämon denken? Gibt es Ihnen nicht zu denken, daß der Bursche ausgerechnet jetzt Schwierigkeiten macht? Könnte es nicht sein, daß das Schwarze Heer auch ihn gerufen hat? Die Wesen des Bösen ziehen sämtliche Kräfte zusammen. Wollen wir froh sein, wenn es der Polizei gelingt, einen winzigen Erfolg zu erzielen. Von Ihnen erwarte ich aber mehr, Sharp. Sie nehmen die nächsterreichbare Maschine und fliegen nach Schweden.« »Das erzählen Sie mal Inspektor Cook. Er hat mich verhaftet und eingesperrt.« »Sie werden lachen. Das erzähle ich ihm auch, sobald Sie ihn ans Telefon holen.« »Dann beschwören Sie ihn aber auch, die Jagd auf Yonca einzustellen.« »Den Teufel werde ich tun, Sharp. Ein Dämon ist schuld, daß mein Schwager nicht mehr lebt. Das Risiko mit Ihrem Schützling ist mir zu groß. Tut mir leid. Es ist die einzig mögliche Entscheidung. Und jetzt geben Sie mir diesen Cook.« Milton Sharp war blaß geworden. Die Nachricht, die ihm O’Neil übermittelt hatte, war einfach zu schrecklich. 55
Wortlos reichte er den Hörer an den Inspektor weiter, der neben ihm stand. Er wurde von widerstreitenden Gefühlen hin- und hergerissen. Aber er kannte seine Entscheidung längst. Wenn das Schwarze Heer zum Angriff blies, hatte er kein Recht, einen Privatkrieg zu führen. Jetzt wurde er an anderer Stelle gebraucht. Er würde reisen müssen. * Helge Eklund fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er lauschte auf jedes Geräusch und fuhr bei dem leisesten Knacken zusammen. Jedesmal glaubte er, sein unheimlicher Gast wäre erschienen. Als dann aber plötzlich die verhaßte Stimme im Raum war, wurde er total überrumpelt. Das zeigte die Gefährlichkeit dieses Burschen. »Du schläfst nicht, mein Freund. Du hast dich sicher schon auf mich gefreut.« Der Schwede richtete sich auf und versuchte den Schatten zu erkennen, der am Tisch saß. Doch es gelang ihm nicht. »Wie soll ich mich auf jemand freuen, dessen Namen ich nicht mal kenne«, entgegnete er mutig. Der Gespenstische lachte krächzend. »Vergaß ich, mich vorzustellen? Wie unhöflich von mir. Ich heiße Cyano und diene einem gewaltigen Herrn.« Cyano! Das war der Name, den Marga Sörefrid genannt hatte. Mit diesem Namen auf den Lippen war ihr Mann gestorben. Dort am Tisch saß sein Mörder! »Du wolltest mir auch sagen, wer dein Gebieter ist«, bohrte Eklund weiter. Die Geisterjäger erwarteten Informationen von ihm. Er wollte versuchen, möglichst viel aus dem Satansbur56
schen herauszubringen. »Richtig«, gab Cyano zu. »Doch zuvor wirst du mir deine Antwort sagen. Du hast doch hoffentlich über mein Angebot nachgedacht? Denk an Söre Sörefrid! Sein Tod wird dich überzeugt haben, daß ich nicht mit leerem Geschwätz zu dir gekommen bin. Wir besitzen Macht, und zu diesen Mächtigen darfst auch du gehören. Ein Wort von dir genügt.« »Ich habe mich für das Schwarze Heer entschieden, Cyano. Ich weiß, daß ich keine andere Möglichkeit habe.« »Vexarus erwartet Beweise deiner Treue.« »Vexarus? Ist das dein Gebieter?« »Unser Gebieter, mein Freund! Du gehörst jetzt zu uns. Ja, er heißt Vexarus. Er ist unvorstellbar mächtig, und du sollst dafür sorgen, daß seine Macht noch größer wird. Du tötest einen Menschen!« Das hatte der Schwede befürchtet. Nur, daß der Befehl schon so bald erfolgen würde, entsetzte ihn. Selbstverständlich würde er keinen Mord begehen. Er mußte nur nach einem Weg suchen, Cyano erneut zu täuschen. Da war die alte Lil. Seit Monaten siechte sie dahin. Ihr half auch kein Wundertrank mehr. Mit sechsundneunzig war das Ziel erreicht. Sie würde sterben. Schon in den nächsten Tagen. Er, Helge Eklund, würde Cyano diese Tote als sein Werk präsentieren. Das mußte er schlucken. »Vexarus schätzt kluge Diener«, ließ sich der Unheimliche hören. »Er schätzt es aber nicht, betrogen zu werden.« »Wer will ihn betrügen?« »Du!« »Aber…« »Schweig! Ich sage dir, was du tun wirst. Du bekommst in letzter Zeit erstaunlich viel Besuch. Lauter interessante Leute. Aber 57
findest du nicht, daß deine Hütte dafür etwas zu klein ist? Das kann man ändern.« »Ich brauche kein größeres Haus, Cyano.« »Davon rede ich auch nicht«, kam es höhnisch. »Du sollst nur dafür sorgen, daß weniger Leute kommen. Du wirst einen von ihnen umbringen. Du hast sie gerufen, nun sieh auch zu, wie du sie wieder los wirst. Vexarus kann diese Bande nicht ausstehen.« Der Hexer lachte teuflisch. Sein Plan lief bestens. Alles war so gekommen, wie er vorhergesehen hatte. Vexarus würde mit ihm zufrieden sein und ihn wieder in Gnaden aufnehmen. Wahrscheinlich brauchte er gar nicht dreizehn Tage, um die ganze Brut von Geisterjägern auszulöschen. Cyano war stolz auf seine Idee. Hätte er versucht, jeden einzelnen Feind des Bösen aufzuspüren und zu vernichten, wäre viel Zeit verstrichen. So aber kamen sie ahnungslos zu ihm, und er brauchte nur die Knute zu schwingen. Dreizehn Opfer hatte er sich vorgenommen. Diesen Schlag würde die Gegenseite nicht verkraften. Die Narren waren auf seinen Bluff hereingefallen. Sie glaubten an die Existenz, des Schwarzen Heeres, das es gar nicht gab. Zumindest noch nicht. Wenn Vexarus allerdings die Katakomben von Palermo öffnete und sich dadurch achttausend Gefolgsleute schuf, würde die Armee des Unheils marschieren… Helge Eklund erschrak. Dieser Schuft, der sich ihm nicht zeigte, wußte offensichtlich über die Pläne der Geisterjäger Bescheid. Was sollte er nur tun? Es war nicht anzunehmen, daß einer der Dämonenvernichter überraschend starb. Das wollte er auch nicht hoffen. Ihre Zahl war ohnehin noch viel zu klein. Doch wie er sich aus der Affäre ziehen sollte, blieb ihm schleierhaft. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Cyano zu überwältigen. Aber das ließ sich unter Umständen nachholen. Morgen wür58
den sie schon wieder etwas stärker sein. »Wir bleiben in Verbindung, mein Freund«, zischte Cyano. »Du wirst mich brauchen.« Wieder folgte dieses diabolische Lachen. Der Schwede nahm allen Mut zusammen. Er mußte mehr erfahren. Zumindest wollte er endlich wissen, wie der Schuft aussah, der so Ungeheuerliches von ihm verlangte. Er erhob sich langsam von seiner Pritsche, während er ununterbrochen redete. Er schlug vor, die Leiche des Ermordeten verschwinden zu lassen. Dabei näherte er sich dem Unheimlichen. Er gelangte zum Tisch, konnte den Schatten aber nicht mehr wahrnehmen. Er schien verschwunden… Doch da glühten auf seinem Bett zwei winzige Augen. Blitzschnell war Helge Eklund bei der Tür und knipste das Licht an. Zumindest wollte er das tun, aber ein gewaltiger Stromstoß durchzuckte ihn, raste von seiner Hand am Schalter durch den Arm und anschließend durch den ganzen Körper. Er hatte den Eindruck zu glühen. Im nächsten Moment war alles vorbei. Der Schwede krümmte sich am Boden, die Glühbirne an der Decke brannte und er war allein. Cyano ließ sich von einem kleinen Wunderheiler nicht überlisten. Da mußten schon Stärkere kommen. Der Schwede wußte, was er zu tun hatte. Er würde auf dem schnellsten Weg ins Dorf radeln, um sich mit den Geisterjägern zu beraten. Gleich darauf fuhr er los und kam schweißüberströmt vor den »Drei Kronen« an. Hier erkundigte er sich nach den Fremden. Er wurde gebeten, einen Moment zu warten. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren und nahm auf einem unbequemen Stuhl Platz. 59
Als kurze Zeit darauf Paul Jaroscek und gleich hinter ihm der Ägypter die Treppe herunterkamen, fanden sie nur einen leeren Stuhl vor. Helge Eklund war nicht mehr da. * Yonca duckte sich hinter dem Gebüsch. Er beobachtete, wie vier Männer mit Milton Sharp aus dem Polizeigebäude kamen und ihn zu einem Wagen führten. Er mußte einsteigen, und die Limousine raste davon. Der Dämon war ratlos. Wieso blieb Milton nicht in seiner Nähe? Er mußte doch erfahren haben, was passiert war. Yonca hatte erst wenig Übung, menschliche Gedanken zu begreifen. Alles war neu für ihn. Im Grund gehörte er in eine andere Welt. Nur ein Zufall hatte ihn davor bewahrt… und Milton Sharp. Wie sollte er sich nun verhalten? Er hatte keine Ahnung, wo sich die Klinik befand, aus der ihn der gewalttätige Bursche fortgeschleppt hatte. Den Menschen durfte er sich nicht zeigen. Sie würden sich vor ihm entsetzen und fliehen oder ihn angreifen… Yonca bemühte sich, seinen Kopfverband, der sich gelöst hatte, wieder zu befestigen. Das Gewebe ging schon beim ersten Versuch in Fetzen. Deshalb riß er die Binden vollends ab. Noch längst nicht verheilte Wunden von der Gesichtsoperation kamen zum Vorschein. Yonca spürte keine Schmerzen. Dieses Gefühl würde er nie kennenlernen. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung. Auch seine Beine waren bandagiert. Das behinderte ihn. Er nahm Witterung auf, das Blut einer jungen Frau… Er erhöhte deshalb sein Tempo, bis er Jessica sah. Sie stöhnte und blutete. Jemand mußte sie verletzt haben. 60
Der Dämon ließ alle Vorsicht außer acht und kam hinter der Deckung vor. Er stieß irgendwelche Laute aus, beherrschte zwar die menschliche Sprache, doch im Augenblick litt er unter den Nachwirkungen der Operation. Das würde sich geben. Jessica hörte das Schnaufen hinter sich. Als sie sich umwandte, entdeckte sie einen Kopf und darunter Arme und Beine. Sie schrie gellend und rannte davon. Ihre einzige Hoffnung war, schneller zu sein als das gräßliche Monster. Es war nicht mehr weit bis zur Kiesgrube. Das mußte sie unbedingt schaffen. Yonca begriff, warum die Frau davonlief. Sie war mißhandelt worden, und er sah gräßlich aus. Also hatte sie Angst vor ihm. Wenn er ihr doch klarmachen könnte, daß er ihr nur helfen wollte… Auf jeden Fall mußte er sie einholen, um ihr zu beweisen, daß sie bei ihm in Sicherheit war. »Sie kommen!« flüsterte ein Polizist erregt in das Funksprechgerät. »Wenn die Frau nicht die Nerven restlos verliert und ohnmächtig wird, rennt die Bestie in drei Minuten über die Minen. Ist bei euch alles klar?« »Alles bestens«, antwortete ein Kollege, der zu einer Hundertschaft gehörte, die sich im Umkreis der Kiesgrube verschanzt hatte. Maschinengewehre richteten sich auf den Fahrweg, wo die Krankenschwester gleich auftauchen würde. Die Hubschrauberpiloten warteten nur auf ihr Kommando. Die Sprengmeister hatten die Fäuste am Hebel. Diesem Inferno war auch ein Dämon nicht gewachsen, schon gar keiner ohne Körper. »Ich kann sie sehen. Sie kommt genau auf uns zu. Jetzt schnappt sich Foster die Frau und bringt sie in Sicherheit. Der Blutgeruch der Puppe, die hinter den Minen liegt, ist stark. Darauf fällt das Monstrum bestimmt herein. Jawohl, jetzt kommt es. 61
Es hat es mächtig eilig, in die Luft zu fliegen.« Der Polizist war so aufgeregt, daß er seinen Bericht unterbrach. Sofort knisterte die ungeduldige Stimme seines Kollegen aus dem Walkie-Talkie: »He! Was ist los? Bist du eingepennt? Halt mich gefälligst auf dem laufenden. Schließlich ist es nicht meine Schuld, daß ich hier Posten beziehen mußte, wo man das Beste verpaßt.« »Reg’ dich ab, Mann. Die Explosion wirst du sogar ohne Funkverbindung hören. Das Scheusal ist einen Moment stehen geblieben. Wir hatten schon Angst, es könnte den Braten gerochen haben. Aber jetzt stampft es weiter. Höchstens noch hundert Yard. Dann ist es vorbei mit ihm. Junge, das gibt es doch gar nicht! Ich glaube, ich spinne… Der hat glatt keinen Rumpf! Nur gut, daß die Kollegen in der Nähe sind, sonst würde ich schleunigst abhauen. Warte mal, ich muß den anderen Bescheid sagen, daß sie gleich feuern können.« Die Stimme verstummte wieder. Yonca hörte sie ohnehin nicht. Er besaß keine Funkverbindung. Dort drüben lag die Frau und rührte sich nicht mehr. Er roch ihr Blut. Es war dasselbe wie vorher. Trotzdem wunderte er sich, wie sie so schnell dorthin gelangt war. Er spürte Gefahr, konnte sie aber nicht erkennen. So blieb er stehen. Niemand kümmerte sich um die blutende Frau. Sie schrie auch nicht mehr. Yonca gab sich einen Ruck. Mit langen Sätzen bewegte er sich. Und plötzlich schrie knapp vor ihm jemand: »Feuer frei!« * Helge Eklund kam benommen zu sich. Es wurde schon hell, und er starrte in ein fremdes Gesicht. 62
»Man hat uns gesagt, Sie sind Mister Eklund«, sagte der Fremde. Neben ihm stand eine braunhäutige Schönheit und lächelte. Der Schwede richtete sich stöhnend auf. Was war nur geschehen? Wie kam er hierher? Das da drüben war doch der kleine Bahnhof von Vårdnäs. »Der bin ich«, murmelte er zerstreut. Er erinnerte sich allmählich daran, was er in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Cyano war bei ihm aufgetaucht und hatte ihm befohlen, einen Menschen zu töten, einen der Geisterjäger… Auf dem Weg ins Dorf mußte er dann wohl einen Schwächeanfall erlitten haben. Dadurch war wertvolle Zeit verloren gegangen. Jetzt mußte er schleunigst dafür sorgen, daß die Männer alles erfuhren. »Mein Name ist Palmer, und das ist Miß Verezco, meine Mitarbeiterin. Wir haben miteinander telefoniert.« »Rod Palmer!« Helge Eklund freute sich über die willkommene Verstärkung. Von Bo Verezco hatte er auch schon gehört, sie sich aber nicht so attraktiv vorgestellt. Eine solche Frau schlug sich doch nicht mit dem Höllengesindel herum. »Haben Sie schon ein Quartier? Ich bringe Sie zu den ›Drei Kronen‹. Dort wollte ich sowieso hin. Sie werden in dem Gasthaus einige Ihrer Kollegen treffen. Die anderen wohnen in der ›Schwalbe‹.« »Ist Mister Sharp schon hier?« fragte der Amerikaner. »Sharp? Den Namen kenne ich nicht.« »Das sollten Sie aber. Milton Sharp ist Brite und ganz ohne Frage ein Bursche, der vor nichts zurückschreckt. Ich habe seinen Bruder verständigt und hoffe, daß er heute noch eintrifft.« Sie gingen zum Gasthaus, und der Schwede stellte erfreut fest, daß sich fast die ganze Gruppe davor versammelt hatte. Nun konnten alle hören, was er ihnen mitzuteilen hatte. Ihnen war anzusehen, daß sie schlecht geschlafen hatten. Ihre Mienen waren finster und hellten sich nur geringfügig auf, als 63
der Schwede ihnen die Neuankömmlinge vorstellte. Danach erstattete er Bericht. »Zum Schein bin ich auf den Befehl eingegangen, einen aus unserer Mitte umzubringen. Wir müssen nun gemeinsam überlegen, wie wir uns verhalten wollen. Ich kriege aus dem Kerl einfach nicht viel heraus. Sein Name und der seines Auftraggebers, das ist schon alles.« »Vielleicht wollen Sie uns auch nicht mehr preisgeben, Helge«, rief Elef Mallakh feindselig. Helge Eklund sah ihn verdutzt an. Der Ägypter hatte sich bisher bei den Diskussionen ziemlich zurückgehalten. Um so unverständlicher schien, daß er ihn jetzt derart beschuldigte. »Ich verstehe Sie nicht, Elef. Was meinen Sie damit? Welchen Grund könnte ich haben, Ihnen eine Information vorzuenthalten. Sie vergessen, daß mein Leben als erstes in Gefahr ist.« »Jetzt wohl nicht mehr. Sie haben ja Vorsorge getroffen.« Der Schwede blickte sich ratlos im Kreis der Geisterjäger um. Paul Jaroscek räusperte sich. »Wo waren Sie diese Nacht, Helge?« »Aber das sagte ich Ihnen doch gerade. Nachdem Cyano mich mit dem Stromstoß fast umgebracht hat, bin ich sofort hierher geradelt, um mit Ihnen zu sprechen.« »Das haben Sie aber nicht getan.« »Weil ich unterwegs schlapp gemacht habe. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Wollen Sie mir das zum Vorwurf machen?« »Das nicht«, meldete sich Pavlos Zacharos zu Wort, »aber den Tod des Sudanesen.« Der Schwede erbleichte. »Lommy ist tot?« »Das wissen Sie genau«, fauchte der Ägypter. »Sie haben ihn ermordet! So, wie Cyano es von Ihnen verlangt hat!« »Aber das ist doch Wahnsinn! Ich bin überhaupt nicht bei ihm gewesen. Bo und Rod sind meine Zeugen. Sie haben mich eben 64
erst am Bahnhof aufgesammelt. »Aber in der Nacht waren Sie in den ›Drei Kronen‹ und haben ein paar von uns nach unten gelockt. Während sie nach Ihnen suchten, sind Sie zu Lommy geschlichen und haben ihm den Gifttrank eingeflößt.« »Gift?« »Damit kennen Sie sich doch gut aus.« »Aber ich schwöre Ihnen…« »Jedenfalls ist der Mann tot«, stellte Frauke Klettje sachlich fest. »Ausgerechnet er, der sich mit den Dämonen arrangieren wollte.« Helge Eklund brach zusammen. »Glaubt mir denn niemand?« wimmerte er. »Warum hätte ich Sie erst alle rufen sollen, wenn Sie mir dann im Weg sind? Das ist doch unlogisch.« »Logik und ein Mörder sind zwei Dinge, die nicht zusammenpassen«, philosophierte Nikolay Averin. »Vielleicht sollten Sie uns in Cyanos Auftrag herlocken. Vielleicht ist er auch nur eine Erfindung von Ihnen.« »Tatsächlich?« kreischte der Alte. »Und Marga Sörefrid? Hat sie sich den Namen auch nur eingebildet? Ist sie etwa meine Komplizin? Haben wir gemeinsam ihren Mann umgebracht?« Schluchzend brach er zusammen. Er war mit seinen Kräften am Ende. »Es ist alles möglich«, sagte Marcel Debuque hart. »Auch, daß Sie selbst Cyano sind. Woher weiß denn der Kerl so gut über alles Bescheid, was wir verabreden?« »Dann fahrt doch wieder fort«, heulte Eklund. »Schnell! Bringt euer erbärmliches Leben in Sicherheit, damit ich euch nicht auch noch töte… Ich bin ja so schrecklich gefährlich. Fast bekomme ich Angst vor mir.« Er brach in irres Lachen aus, das sich aber schnell in Tränen auflöste. »Wir dürfen nicht die Nerven verlieren«, forderte Rod Palmer. 65
»Ich gebe zu, schon auf manchen Schuft hereingefallen zu sein, doch wenn ich einem keine Bosheit zutraue, dann ist das Mister Eklund. Allerdings sehe ich die Möglichkeit, daß er, ohne es selbst zu wissen, von einem anderen als Werkzeug benutzt wurde. Wenn ich alles richtig verstanden habe, hat er sich ja zum Schein bereit erklären sollen, mit diesem Cyano zusammenzuarbeiten. Diese Einwilligung kann ihn völlig in die Gewalt der Dämonen gegeben haben.« »Bloße Theorie«, meinte Mallakh geringschätzig. »Sie kommen daher und tun so, als wüßten Sie über alles Bescheid.« »Das tue ich keineswegs. Doch es gibt eine Möglichkeit, meine Befürchtung zu beweisen.« »Welche?« »Ganz einfach. Einer von uns muß ständig in Helges Nähe bleiben. Er darf ihn nie aus den Augen lassen. Weder Tag noch Nacht. Geschieht ein weiteres Verbrechen, ist er entlastet.« »Es sei denn, wir finden seinen Bewacher ermordet«, gab Armin Knoll zu bedenken. »Für diese Rolle werden Sie nicht so leicht einen Freiwilligen finden.« »Ich habe ihn schon gefunden. Mich.« Eine hitzige Diskussion entbrannte. Die Idee fand bei den meisten Zustimmung. Elef Mallakh funkte erneut dazwischen. »Sehr fein eingefädelt. Wer von uns kennt denn Rod? Nur Helge wußte von seiner Existenz. Ein merkwürdiger Zufall! Und genauso zufällig taucht der smarte Amerikaner gerade in dem Moment auf, als es seinem Freund an den Kragen gehen soll. Kein Wunder, daß er sich nun als dessen Wache anbietet. Da würden wir den Bock zum Gärtner machen.« »Bravo!« rief Bo Verezco, eine zierliche Karibin, die seit Jahren mit Rod Palmer auf Dämonenjagd ging. »Mißtrauen ist genau das, was wir in der Stunde höchster Gefahr brauchen. Das 66
Schwarze Heer wird sich schieflachen, wenn es merkt, daß wir im Begriff sind, uns gegenseitig aufzureiben. Bequemer kann es seine ärgsten Widersacher nicht ausschalten. Tut mir leid, wir haben keine Reverenzen mitgebracht. Wenn Milton Sharp hier wäre, könnte er aber bestätigen, auf welcher Seite wir kämpfen. Man hat uns gerufen, und wir sind gekommen. Wir haben nicht anders reagiert als Sie auch, denn das Schwarze Heer ist mehr als nur eine Bedrohung. Gegen diese Gefahr müssen wir fest zusammenhalten.« Zustimmendes Gemurmel, nur Elef Mallakh beharrte trotzig: »Lommy ist tot. Sollen wir einfach zur Tagesordnung übergehen?« »Natürlich nicht. Aber die Wahrheit können wir nur finden, wenn wir sie suchen. Ich befürworte Rods Vorschlag. Und um jedem Mißtrauen von vornherein zu begegnen, schlage ich vor, daß wir Helges Aufpasser auslosen. Jeder von uns übernimmt drei Stunden. Wir müssen nur noch die Reihenfolge ermitteln.« Dagegen konnte auch der Ägypter nichts mehr einwenden. Er hielt sogar den Mund, als Bos Name als erster gezogen wurde. Rod Palmer bat darum, die Leiche des Sudanesen zu sehen. Er hoffte, Hinweise auf den Mörder zu entdecken, wurde aber enttäuscht. Der Schwarze hatte ein verzerrtes Gesicht. Seine Augen waren aus den Höhlen gequollen. In der verkrampften linken Hand fand sich eine winzige Holzfigur. Sie hatte ihn wohl vor den Dämonen schützen sollen und versagt. Mit den bisherigen Maßnahmen waren die Geisterjäger ihrem Ziel aber noch um keinen Schritt nähergekommen. Die anschließende Besprechung ergab, daß es wohl doch nicht zu umgehen war, Cyano – falls es ihn tatsächlich gab – in ihre Gewalt zu bringen. Dazu trafen sie in den nächsten Stunden ihre Vorbereitungen. 67
* � Am Flughafen von Stockholm mietete Milton Sharp einen Volvo Bertone und legte die zweihundert Kilometer bis Vårdnäs in etwas weniger als drei Stunden zurück. Nach der Landung seiner Maschine hatte er mit dem Gedanken gespielt, in Kidwelly anzurufen und sich nach dem Ausgang der Treibjagd auf Yonca zu erkundigen. Doch dann hatte er es unterlassen. Was brachte das noch? Es war vorbei. Hoffentlich rächte sich dieser Wahnsinn nicht noch… Im Kampf gegen das Schwarze Heer würden sie Hilfe brauchen. Yonca war stark gewesen. Stark genug, um es auch mit einem Höllischen aufzunehmen. Den Geisterjäger beherrschte keine Trauer. Er hatte nicht den Verlust eines vertrauten Menschen zu beklagen. So weit verstieg er sich nicht. Er trat aufs Gaspedal und schüttelte die Gedanken an Wales ab. Dieses Kapitel gehörte der Vergangenheit an. Dafür, daß es auch noch eine Zukunft gab, sollte er in Vårdnäs zusammen mit internationalen Gleichgesinnten sorgen. Ihm begegnete ein Leichenwagen. Welch makabre Begrüßung! Am Bahnhof erkundigte er sich nach Helge Eklunds Haus. »Der Alte gibt wohl ’ne Party?« wollte der Mann mit der roten Mütze grinsend wissen. »Es haben auch schon tolle Puppen nach ihm gefragt. Am besten, Sie nehmen den Waldweg. Ihre Mühle sieht ja noch ziemlich stabil aus. Die packt das locker. Sie können die Hütte gar nicht verfehlen. Es sind ungefähr zwei Kilometer.« Milton Sharp bedankte sich und fuhr weiter. Der Weg war allenfalls für landwirtschaftliche Fahrzeuge geeignet, die viel Spaß verstanden. Der Volvo begann schon nach einem halben Kilometer zu husten. Nach weiteren zweihundert 68
Metern bockte er und rührte sich nicht mehr von der Stelle. »Dir ist es wohl nicht geheuer in dieser Gegend?« knurrte der Geisterjäger verdrossen. Zum Glück besaß er nur kleines Gepäck, das aus einer Aktentasche bestand. Als er nach Swansea geflogen war, hatte er lediglich Unterwäsche und ein Hemd zum Wechseln mitgenommen. Wie konnte er ahnen, daß er in Skandinavien landen würde? Er nahm die Tasche, verschloß den Wagen und ging zu Fuß weiter… etwas mehr als ein Kilometer, das war kein Problem. Und doch wurde es eins. Milton wußte nicht, woran es lag, daß er so müde wurde. Er hatte zwar die letzten beiden Tage nicht viel Schlaf bekommen, aber war dies gewöhnt. Normalerweise machte er da nicht gleich schlapp. Heute aber hatte er Blei in den Gliedern. Ihm war, als müßte er auf den höchsten Berg klettern, dabei wies der Weg keine spürbare Steigung auf. Schon nach wenigen Minuten war der Geisterjäger schweißüberströmt und mußte sich ausruhen. Er setzte sich auf einen Stein und verschnaufte. Er konnte sich seinen Zustand nur so erklären, daß dämonische Einflüsse ihn hindern wollten, weiterzugehen. Dafür mußte es einen Grund geben. Aber welchen? Der Geisterjäger sah die Antwort klar vor sich. Im Wald geschah etwas Teuflisches, das er unter Umständen verhindern konnte. Er nahm alle Kräfte zusammen und stemmte sich in die Höhe. Die Aktentasche hing wie ein Bleigewicht an seinem Arm. Er war gezwungen, sie ständig auf die andere Seite zu wechseln. Er vernahm eigentümliches Wispern wie von tausend Stimmen. Doch es war niemand zu sehen. Kein Mensch und auch kein noch so kleines Tier. Nicht mal ein Vogel. 69
Weiter! Milton dachte an das Schwarze Heer und fragte sich, womit er es bekämpfen sollte. Er verfügte momentan über so gut wie keine Waffe, die stark genug war. Zwar trug er das Heptagon der Siebenspaltigkeit bei sich, doch das würde er nur ungern einsetzen, da er im voraus nicht sagen konnte, ob es ihm nützen oder ihn vernichten würde. Beides war denkbar. Wind kam auf. Gegen diesen stemmte sich der Geisterjäger mit aller Kraft. Die Blätter an den Bäumen dagegen hingen still. Milton Sharp kramte in seinem Gedächtnis nach magischen Sprüchen, die ihm den Weg öffnen sollten. Er entschied sich für einen kurzen Text und hielt nach einer Eiche Ausschau. Er trat an ihren Stamm und preßte seine erhitzte Stirn dagegen, nachdem er die Tasche abgestellt hatte. Keuchend schloß er die Augen und begann, den Spruch aufzusagen. Schon nach den ersten Worten ließ der Druck auf ihn nach. Er konnte wieder mühelos atmen. Alles wurde normal. Milton Sharp glaubte nicht, daß sein Beschwörungsversuch diese Veränderung bewirkt hatte. Bange Ahnung erfüllte ihn, daß die Dämonen es nicht mehr für erforderlich hielten, ihm das Weitergehen zu verwehren. Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten. Hastig griff er nach der Tasche und zuckte zurück. Ein wieselgroßes, schwarzes Tier unbekannter Gattung sprang ihm beinahe ins Gesicht. Es mußte sich in der Tasche befunden haben. In der nächsten Sekunde war es im Unterholz verschwunden. Ganz nahe erklang trockenes Gelächter. Der Geisterjäger öffnete die Tasche vorsichtig und erkannte verdutzt, daß sie völlig leer war. Seine Wäsche war verschwunden. Wollten ihm seine unsichtbaren Widersacher damit sagen, daß er das Zeug nicht mehr brauchte? Handelte es sich um die 70
Ankündigung seines nahen Todes? Von solchen Anzeigen ließ sich Milton Sharp nicht einschüchtern. Noch lebte er, und im entscheidenden Augenblick war ihm noch immer der rettende Einfall gekommen. Warum nicht auch diesmal? Er setzte nachdenklich, aber mit vermehrter Aufmerksamkeit, seinen Weg fort. Vor sich im Gebüsch glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen. Er packte die Ledertasche fester. Notfalls würde er sie als Schlagwaffe benutzen. Als er die Zweige auseinanderbog, weiteten sich seine Augen. In dem Busch hockte ein Geier, der aus dem Schnabel blutete. Offensichtlich war er schwer verwundet, obwohl der Geisterjäger auf den ersten Blick keine äußere Verletzung bemerkte. Ungewöhnlicher aber als der Aasfresser in dieser Gegend war die Tatsache, daß er bis auf den Schnabel ein menschliches Gesicht besaß. Entsetzte Augen flatterten und brachen. Er fiel vom Ast, zuckte ein paarmal und blieb reglos liegen. Jetzt wußte Milton Sharp, warum vor ihm eine dämonische Sperre errichtet worden war. Hier war Unheimliches geschehen. Er zwängte sich durch das Geäst, um den Kadaver näher zu untersuchen. Da vernahm er plötzlich über sich einen spitzen Schrei, und etwas Dunkles mit funkelnden Augen flog direkt auf ihn zu. * Bo Verezco folgte dem Schweden in seine Hütte. Helge Eklund sprach kaum ein Wort. Die unglaubliche Anschuldigung erschütterte ihn. Gleichzeitig aber stellte er sich die Frage, ob er den Sudanesen nicht tatsächlich getötet hatte. Cyano, dieser verdammte Bursche, mochte seine Gedanken so beeinflußt haben, daß er ein 71
willfähriges Werkzeug wurde und sich an seine Tat nicht mehr erinnerte. Diese Vorstellung war schrecklich. Er hatte das Beste gewollt und eine Katastrophe abwenden wollen. Nun sah er sich plötzlich des Mordes verdächtig. So sehr er auch grübelte, es gelang ihm nicht, Ordnung in seine Erinnerung zu bringen. Er wußte zwar noch, daß er sich aufs Rad gesetzt hatte, um ins Dorf zu fahren. Wann er aber das Bewußtsein verloren hatte, konnte er nicht mehr sagen. In den »Drei Kronen« war er angeblich gesehen worden. Danach verlor sich seine Spur und tauchte erst am Bahnhof wieder auf, als er von Bo und Rod gefunden wurde. Die beiden schienen ihm als einzige zu glauben. Doch das wog nicht schwer. Sie waren ja gerade erst gekommen und wußten nicht, was inzwischen alles vorgefallen war. Die Karibin versuchte zwar, alles von ihm in Erfahrung zu bringen, doch er spürte keine Lust, Rechenschaft abzugeben. Er wünschte, er hätte nie zum Telefon gegriffen, um die Geisterjäger zu alarmieren. In der kommenden Nacht wollten sie Cyano fangen. Helge Eklund glaubte nicht, daß ihnen das gelingen würde, denn der Unhold verfügte über erstaunliche Fähigkeiten, mit denen er auch die Geisterjäger narren würde. »Wo wollen Sie hin, Helge?« Bo Verezco stellte sich vor die Tür und versperrte dem Schweden, der an ihr vorbei wollte, den Durchgang. »Ich brauche Luft, Bo. Ich ersticke hier drin. Warum gehen Sie nicht zu den anderen, um sich an ihren Vorbereitungen zu beteiligen? Jede Hand wird gebraucht.« »Sie kennen den Grund, Helge«, antwortete die Frau mit der Schokoladenhaut. »Es ist auch in Ihrem Interesse, daß ich bei Ihnen bleibe. Nur so kann der schreckliche Verdacht von Ihnen ge72
nommen werden.« »Haben Sie keine Angst vor mir? Es könnte doch sein, daß ich Sie ebenfalls vergifte.« »So dumm werden Sie nicht sein. Damit würden Sie ja Ihre Schuld eingestehen.« »Aber Sie wären tot.« »Ich passe schon auf. Im übrigen löst mich Elef in einer Stunde ab. So lange halte ich schon noch durch.« Helge Eklund verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Der Ägypter haßt mich. Er ist davon überzeugt, daß ich seinen Freund getötet habe. Er wird alles tun, um mich zu belasten.« »Wir werden herausfinden, wer Lommy wirklich umgebracht hat«, versicherte Bo Verezco. »Vor allem aber müssen wir Maßnahmen ergreifen, um die Spur zu jenem Vexarus zu finden. Um gegen das Schwarze Heer zu bestehen, sind wir zu wenige. Wenn wir aber den dämonischen Feldherrn ausschalten, haben wir gewonnen. Überlegen Sie doch mal, Helge… Hat Cyano nicht etwas gesagt, was uns in dieser Richtung weiterbringen könnte?« »Er hat nichts gesagt, und er wird auch nichts sagen«, erklärte der Schwede gereizt. »Cyano hat uns durchschaut. Er weiß genau, warum Sie alle hier sind. Er treibt sein Spiel mit uns. Lassen Sie mich jetzt bitte hinaus.« »Einverstanden, aber ich komme mit.« »Wie Sie wollen, Bo.« Sie verließen die Hütte und traten ins Freie. Die Luft war stickig und ließ die Augen tränen. Bo Verezco hustete. »Habt ihr hier ein Schwefelwerk in der Nähe?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, behauptete Helge Eklund. Sein Blick war starr auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. Die Karibin war alarmiert. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. 73
So sah ein Mensch aus, dessen Gehirn einen telepathischen Befehl erhielt. Er schaltete sein Bewußtsein ab und überließ sich der Herrschaft eines anderen. In solcher Verfassung konnte der Schwede durchaus den Mord an dem Afrikaner begangen haben, ohne sich dessen bewußt zu sein. In diesem Fall traf ihn natürlich keine Schuld. Aber selbstverständlich mußte verhindert werden, daß er einen weiteren dämonischen Befehl in ähnlicher Weise befolgte. Es durfte kein zweiter Mord geschehen. »Es ist besser, wir gehen ins Haus zurück«, schlug Bo vor und ergriff den alten Mann am Arm. Der Schwede machte eine heftige Bewegung, als wollte er eine lästige Fliege abschütteln. Seine knochige Faust traf den Hals der Karibin, daß sie sekundenlang nach Luft rang. Sie fragte sich, ob es sich nur um einen unglücklichen Reflex, oder aber um einen beabsichtigten Angriff gehandelt hatte. Diese Kraft hatte sie dem Greis nicht zugetraut. Sie richtete sich schleunigst wieder auf, um einem möglichen zweiten Schlag zu begegnen, doch der Platz, auf dem eben noch Helge Eklund gestanden hatte, war leer. Die Frau erschrak heftig. »Helge! Wo, zum Teufel, sind Sie?« Mit einem Blick durch die Tür überzeugte sie sich, daß er sich nicht in der Hütte befand. Der Schwede war also vor ihr davongelaufen. Er hatte es tatsächlich geschafft. Bo rannte los. Auf Fußspuren brauchte sie nicht zu achten. Im Umkreis der Hütte war alles zertrampelt. Sie vermutete aber, daß der Alte zum Dorf unterwegs war. Dort würde er sein Opfer finden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fühlte sich für alles, was Helge Eklund tat, verantwortlich. Es hätte ihr ganz einfach nicht passieren dürfen, daß sie ihn so sehr unterschätzte. 74
Sie stürzte den Weg entlang und vernahm plötzlich Schritte vor sich. Das mußte er sein! Sie warf sich durch das Unterholz und schlug das Geäst mit beiden Armen zur Seite. Plötzlich war da ein unheimliches Krächzen. Es konnte aber auch unterdrücktes Gelächter sein. Der Strauch dort drüben bewegte sich. Da hockte jemand. Wollte sich Eklund vor ihr verstecken? Lauerte er ihr gar auf? Bo Verezco kannte asiatische Kampftechniken, die in keiner Sportschule gelehrt wurden. Damit hatte sie schon manchen Karateka in arge Verlegenheit gebracht. Ihr Körper spannte sich. Dann schnellte sie wie eine Stahlfeder los und flog in das Gebüsch. * Milton Sharp hob die Fäuste zur Abwehr, ließ sie aber schleunigst wieder sinken. »Bo! Das darf doch nicht wahr sein.« Er hatte die hübsche Karibin erst kürzlich auf einer Dämoneninsel kennengelernt, auf die sie beide verschleppt worden waren. Auch ihren Partner Rod Palmer kannte er. »Milton, du? Und ich dachte schon…« Sie stockte. Ihr Blick fiel auf den Menschengeier. Ihr Gesicht verfärbte sich. »O nein! Sag mir, daß es nicht wahr ist.« »Das kann ich leider nicht, Bo. Entweder handelt es sich um einen verhexten Menschen oder um einen verhexten Geier. Auf jeden Fall ist er tot.« Benommen starrte die Karibin auf das Gesicht des gefiederten Wesens. »Das war Helge Eklund«, flüsterte sie. »Der Mann, der uns zu sich rief. Er wurde verdächtigt, einen Mann aus unserer Gruppe getötet zu haben. Nun hat ihn Cyano selbst gerichtet.« 75
»Cyano?« erkundigte sich der Geisterjäger. »Ich habe den Eindruck, hier ist einiges geschehen, was ich noch nicht weiß.« »Das kann man wohl sagen. Leider weiß auch ich noch längst nicht alles, denn ich bin mit Rod erst vor ein paar Stunden in Vårdnäs angekommen. Aber Paul Jaroscek und Marcel Debuque werden dich informieren. Sie waren als erste hier. Helge ist tot. Ich kann es noch nicht fassen. Was sollen wir nur tun? Er war unser Verbindungsmann. Durch ihn hofften wir, die Spur zu Vexarus zu finden, dem Anführer des Schwarzen Heeres.« Milton Sharp sah die Frau entgeistert an. »Sagtest du Vexarus?« »Diesen Namen hat Cyano dem Schweden genannt. Ist er dir etwa ein Begriff?« Der Geisterjäger stöhnte. »Und ob! In Italien hatte ich bereits mit ihm zu tun. Es kamen dort auf rätselhafte Weise einige junge Frauen zwischen achtzehn und zwanzig Jahren ums Leben. Ich fand bald heraus, daß ein Dämon dabei seine Hand im Spiel hatte, eben dieser Vexarus. Das war ein übler Genosse. Ganz abgesehen davon, daß er mit seinem einäugigen Wasserleichenkopf scheußlich aussah, plante er auch die Schaffung einer dämonischen Streitmacht, die auf seinen Befehl hörte. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht herausfand, benötigte er dazu die Mädchen.« »Hast du gegen ihn gekämpft?« »Ich habe es versucht. Zu dieser Zeit besaß ich noch meinen Pyrgus. Vor dem hatte er Respekt und floh. Danach hörten die Mädchenmorde auf, und ich wurde zu neuen Fällen gerufen.« »Demnach hat Vexarus sein Ziel erreicht«, überlegte Bo Verezco. »Seine Streitmacht ist das Schwarze Heer.« »So muß es sein. Merkwürdig.« »Was ist daran so merkwürdig?« »Ich frage mich, warum ich keine Informationen über weltwei76
te dämonische Aktionen erhalten habe. Was hindert Vexarus, sein Heer gegen die Lebenden marschieren zu lassen?« »Marschiert es nicht bereits, Milton? Dort liegt Helge Eklund, der einen Weg gesucht hat, um die Dämonenmacht aufzuhalten. In der Nacht starb Lommy, ein Mann, der versuchte, mit den Wesen der Schattenreiche gut auszukommen. Und vorher… Was hast du? Du siehst auf einmal so nachdenklich aus?« Milton Sharp schüttelte heftig den Kopf. Die Karibin hatte ihn an jenes Wesen erinnert, von dem auch er geglaubt hatte, daß sie Partner sein könnten. Nun existierte Yonca nicht mehr. Menschlicher Unverstand hatte ihn vernichtet. »Erzählte ich Rod und dir nicht damals von dem Dämon, der durch eine glückliche Fügung auf die Seite des Guten geraten war?« Bo nickte. »Heißt er nicht Yonca? Da er so abstoßend aussieht, läßt du ihn an einem geheimen Ort in ein menschliches Wesen verwandeln.« »Das war meine Absicht, doch nun existiert er nicht mehr. Yonca hätte uns vielleicht unterstützen können.« Die attraktive Frau wollte wissen, wie es zu der Vernichtung des Dämons kommen konnte, doch Milton winkte ab. »Das erzähle ich dir irgendwann einmal. Jetzt bringen wir den Toten zu den anderen. Es muß endlich etwas geschehen.« Bo sagte ihm, daß die übrigen Geisterjäger ohnehin bald zur Hütte des Wunderheilers kämen. »Elef Mallakh sollte mich bei der Bewachung ablösen. Das ist nun nicht mehr nötig. Ich habe versagt.« Milton Sharp schüttelte energisch den Kopf. »Red keinen Unsinn! Dich trifft keine Schuld. Der dämonische Mörder hat dafür gesorgt, daß der Schwede dir entkommen konnte. Eklund ist ganz einfach in eine Falle gelockt worden.« »Aber warum gerade er? Warum nicht ich? Warum nicht wir 77
beide? Warum nicht du? Du befandest dich doch auch in der Nähe.« Diese Frage hatte sich Milton Sharp auch schon gestellt. Es gab darauf verschiedene Antworten. Eine davon lautete, daß sich der Mörder seinen schwächsten Gegner ausgesucht hatte. Geschickt hatte er verhindert, daß Bo oder er, Milton, dem Unglücklichen zu Hilfe eilen konnten. »Vielleicht wollte er auch nur keinen Zeugen haben.« »Warum sollte ihm daran gelegen sein?« »Wenn er noch weitere Untaten plant, und das ist zu befürchten, muß er verhindern, daß wir ihn vorzeitig erkennen. Vermutlich ist er nicht stark genug, um es mit uns allen gleichzeitig aufzunehmen. Er zieht es vor, einen nach dem anderen umzubringen.« Die Karibin sah den Geisterjäger ungläubig an. »Weißt du, was du da sagst?« »Ich denke schon. Es ist möglich, daß sich Cyano in unseren Kreis eingeschlichen hat. Er gibt sich als Geisterjäger aus und erfährt auf diese Weise alle unsere Pläne. Er wird in keine Falle gehen.« In dem Hirn der Frau arbeitete es. Sie ging die Personen einzeln durch, die sie leider noch zu wenig kannte. Wer war der Verräter? Wer spielte den Wolf im Schafspelz und lauerte darauf, sein nächstes Opfer zu reißen? »Elef Mallakh!« murmelte sie. Wenn überhaupt, dann traute sie höchstens dem Ägypter diese Hinterlist zu. Hatte er nicht als erster gegen den Schweden Stellung bezogen? Hatte er etwa seinen Freund getötet, um von vornherein jeden Verdacht von sich zu lenken? Milton Sharp warnte sie. »Wir dürfen nicht voreilig sein. Es ist ja auch nur eine Theorie. Kaum einer von uns kennt die anderen persönlich. Diese Tatsache bietet sich für eine Schurkerei geradezu an. Aber sie ist keineswegs bewiesen. Der Verdacht gegen 78
den Schweden war unbegründet. Er war nicht der Hexer, den wir suchen.« »Es gibt noch einen weiteren Beweis für deine Theorie«, wußte Bo. »Frauke Klettje, eine Holländerin, besaß ein goldenes Pendel, mit dem sie versuchte, Cyanos Spur zu verfolgen. Das Pendel wurde zerstört. Der Hexer wollte damit seine Entlarvung verhindern.« »Das hört sich logisch an«, gab Milton zu und hob den Kopf. Ihm war, als hätte er Stimmen gehört. »Die anderen kommen. Ich werde Elef genau beobachten.« »Nicht nur ihn, Bo. Wir dürfen keinem trauen. Und das ist eigentlich schlimm.« * Die Bestürzung über Helge Eklunds Tod war allgemein. Sogar der Ägypter zeigte sich betroffen und bedauerte seinen voreiligen Verdacht. »Er sieht gräßlich aus«, sagte er leise. »Er wurde zuvor verhext«, erklärte Milton Sharp, der von Bo Verezco vorgestellt wurde. Rod Palmer freute sich, den Engländer wiederzusehen. »Ich befürchtete schon, meine Botschaft könnte dich nicht erreicht haben.« »Ich muß gestehen, daß ich mit großem Widerwillen nach Schweden geflogen bin«, bekannte Milton und erzählte dem fassungslos lauschenden Amerikaner von dem Feldzug gegen Yonca, den er nicht verhindern konnte. »Anfangs war ich auf O’Neil wütend, doch ich sehe nun ein, daß wir hier vor einer Aufgabe stehen, die unsere ungeteilte Kraft erfordert.« Die Männer trugen den Toten in die Hütte. Mit der Leiche war eine Verwandlung vorgegangen. Sie glich nun keinem Geier 79
mehr, sondern sah genauso aus, wie die Geisterjäger den tapferen Schweden kennengelernt hatten. Armin Knoll gab bekannt, was er zusammen mit Paul Jaroscek und Nikolay Averin vorzuschlagen hatte: »Jeder von uns muß jetzt einsehen, daß wir nicht länger stillhalten können. Helge, der Cyanos Geheimnisse erkunden sollte, lebt nicht mehr. Auf diese Weise erfahren wir nicht, was Vexarus plant und wie wir ihn unschädlich machen können. Es steht aber fest, daß auch dieser Dämon eine Schwachstelle hat. Wir müssen Cyano zwingen, sie uns preiszugeben.« »Das wird er nie tun«, befürchtete Pavlos Zacharos. »Wenn wir ihn zwingen, bleibt ihm nichts anderes übrig. Das eigene Hemd sitzt auch einem Hexer näher als das Hemd seines Gebieters. Wir sind jetzt zu zehnt und können Gruppen bilden. Nikolay hat aus dem Ural Hexenstaub mitgebracht. Den teilen wir unter uns auf. Er kennt auch die Sprüche, die man aufsagen muß, wenn man um Mitternacht etwas von dem Staub zu Boden rieseln läßt. Die Richtung, in die er fällt, weist auf ein dämonisches Wesen, in unserem Fall auf Cyano. Wir haben also die Möglichkeit, ihn einzukreisen und ihm von mehreren Seiten aufzulauern. Dann müssen wir blitzschnell aus dem restlichen Staub einen Kreis um ihn ziehen. Dadurch wird er gebannt und muß uns gehorchen. Wir besitzen einige Waffen, mit denen wir unseren Forderungen den nötigen Nachdruck verleihen können. Darin sehe ich kein Problem. Schwieriger ist es, ihn aufzuspüren, solange es noch dunkel ist. Bei Tageslicht funktioniert der Hexenstaub nämlich nicht.« »Er wird auch in der Nacht versagen«, ließ sich Milton Sharp hören. Der Russe, dessen Zaubermittel in Frage gestellt wurde, fuhr ihn ärgerlich an: »Und warum, wenn die Frage erlaubt ist?« »Weil der Hexer unseren Plan kennt und sich rechtzeitig dar80
auf einstellen kann. Er wird uns nicht in die Falle gehen.« »Woher sollte er ihn kennen? Wir haben ihn ja eben erst entwickelt.« »Ich habe den Verdacht, daß Cyano einer von uns ist! Es gibt deutliche Anzeichen dafür…« Die Männer starrten ihn an, als hätte er behauptet, die diesjährige Miß London zu sein. »Sie verdächtigen also einen von uns«, stieß der Franzose hervor. »Denken Sie an jemand Bestimmten?« »Vorläufig noch nicht.« »So… Gilt dann Ihr Verdacht auch für Sie selbst?« kam es spöttisch von Elef Mallakh. »Für Sie und alle anderen, die mich nicht kennen, selbstverständlich«, meinte Milton Sharp ruhig. »Ich beanspruche für mich keine Sonderstellung. Es kann auch durchaus sein, daß ich mich irre, aber nach drei Toten möchte ich mich lieber nicht darauf verlassen.« »Was schlägst du vor, Milton?« erkundigte sich Rod Palmer. »Wie sollen wir den Schuldigen finden, der ja nach deiner Theorie nun auch weiß, daß er hinter seiner Maske nicht mehr sicher ist? Danach dürfte ich nicht mal Bo vertrauen. Es wäre nicht das erste Mal, daß die Satanischen versuchen würden, mir eine falsche Bo unterzujubeln.« »Wenn ich dir die Augen auskratze, wirst du spätestens merken, wie echt ich bin«, zischte die Karibin. »Wo ist eigentlich Frauke?« Neben Bo Verezco war die Holländerin die einzige Frau in dieser Runde. Daß sie von den Männern anscheinend als Geisterjägerin nicht für voll genommen wurde, zeigte sich daran, daß sie bis jetzt noch keiner vermißt hatte. Sie fehlte aber tatsächlich als einzige. »Frauke?« Marcel Debuque kniff die Augen zusammen. »Sie ist 81
tatsächlich so spindeldürr wie eine Hexe.« »Nun machen Sie mal ’nen Punkt«, erregte sich Paul Jaroscek. »Ausgerechnet Frauke. Das glauben Sie doch selbst nicht. Außerdem hat Helge nie von einer Frauenstimme gesprochen.« »Die kann eine Hexe mühelos verstellen«, beharrte der Franzose. »Und ihr Pendel? Es ist geschmolzen.« »Ein billiger Trick. Sie hat uns ein Märchen erzählt. Es kam mir gleich verdächtig vor, als sich eine Frau zu uns gesellte. Ich habe da meine Erfahrungen. Glauben Sie mir.« »Ist Ihnen schon aufgefallen, daß ich ebenfalls eine Frau bin?« fragte Bo stirnrunzelnd. Debuque sah sie verblüfft an. Dann grinste er. »Und wie. Aber bei Ihnen habe ich ein ganz anderes Gefühl.« »Ihre Gefühle hätten Sie besser in Avignon lassen sollen«, fand Rod Palmer. »Ich sage jedenfalls, daß diese Frau nicht harmloser, aber vorläufig auch nicht verdächtiger ist als jeder von uns.« »Ach nein! Und wo treibt sie sich jetzt herum? Wir waren hier verabredet. Alle sind gekommen. Nur sie nicht. Ich will Ihnen auch den Grund sagen. Nach dem Mord an Helge Eklund hat sie sich versteckt und wartet nun ab, was wir unternehmen. Wenn ich sie erwische…« »Ist vielleicht von mir die Rede?« klang es scharf von der Tür her. Alle Anwesenden fuhren herum. Da stand Frauke Klettje. Ihre hellen Augen funkelten. »Bleiben Sie stehen!« befahl der Franzose. »Keinen Schritt weiter! Sie sind uns eine Erklärung schuldig.« »Ich? Hat eine Frau nicht das Recht, sich um ein paar Minuten zu verspäten?« »Eine Frau schon, aber keine Hexe.« Die Holländerin wurde blaß und schluckte krampfhaft. Dann 82
sah sie den Toten und schrie auf. Aber sie lief nicht davon. Ihr Blick löste sich von der Leiche und wanderte von einem Gesicht zum anderen. »Ich kann nur raten, was während meiner Abwesenheit besprochen wurde«, sagte sie dumpf. »Nachdem Helge tot ist, wurde ein neuer Sündenbock gesucht. Bevor Sie mich jetzt als Hexe steinigen oder gar verbrennen, will ich Ihnen verraten, warum ich mich verspätet habe.« »Das interessiert keinen«, entgegnete Debuque barsch. »Versuchen Sie nicht zu fliehen! Ich werde Sie mit meinem magischen Lasso stoppen.« Er hielt eine dünne, unansehnliche Schnur in der Hand, der er offenbar dämonenbannende Macht zusprach. Die Holländerin lachte auf. »Werfen Sie es nur nicht in die falsche Richtung. Sie könnten plötzlich tot sein, und wüßten nicht, warum.« »Das Luder droht mir auch noch«, kreischte der Franzose und holte zum Wurf aus. Frauke Klettje rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar fürchtete sie das Lasso nicht. »Hören Sie mir vorher zu«, forderte sie Debuque und die anderen auf. »Wahrscheinlich denken Sie dann anders über unser Problem. Ich habe vorhin vom Gasthaus ein Telefongespräch geführt. Ich wollte mich nach dem Befinden meiner Freundin erkundigen. Sie erinnern sich doch? Grete Windhavn wurde durch das Monster von Haarlem um ihren linken Arm gebracht. Die Tapfere läßt sich nicht unterkriegen. Sie bedauert es außerordentlich, nicht bei uns sein zu können. Ich mußte ihr genau berichten, was wir bisher erreicht haben. Da konnte ich ihr allerdings nicht viel erzählen. Doch etwas anderes interessierte sie brennend, und sie beteuerte, daß da ein Irrtum vorliegen müßte.« »Ist diese Story wirklich so wichtig?« nörgelte der Franzose. 83
»Kommen Sie gefälligst zur Sache.« »Ich bin bei der Sache, Marcel. Pavlos hat gestern behauptet, von Grete verständigt worden zu sein. Er erwähnte sogar die Gelegenheit, bei der er sie kennengelernt hat.« »Na und?« »Beides war gelogen. Meine Freundin hat mit keinem Menschen in dieser Angelegenheit gesprochen außer mit mir. Im übrigen kennt sie keinen griechischen Geisterjäger, schon gar keinen, der sich Pavlos Zacharos nennt.« Ehe sich die anderen von ihrer Überraschung erholten, sprang der Grieche mit gewaltigem Satz aus ihrer Mitte auf die Frau an der Tür. »Ihr bekommt mich nicht«, brüllte er und versetzte Frauke Klettje einen Hieb. Ihre Hand zuckte blitzschnell aus der Rocktasche. Weißliches Pulver stäubte auf. Doch sie verfehlte den Hexer, da sie selbst meterweit geschleudert wurde. Pavlos Zacharos erreichte das Freie und hetzte weiter. Sein Hohnlachen klang zu den Geisterjägern herüber, die sich in dem allgemeinen Durcheinander gegenseitig behinderten und die Verfolgung verzögerten. Milton Sharp war schneller als alle anderen und jagte an der Holländerin vorbei, die gerade schimpfend wieder in die Höhe kam. »Er ist Cyano«, schmetterte sie erregt. »Er hat Lommy und Helge umgebracht und mit Sicherheit auch Sörefrid. Er hat uns alle genarrt.« Milton Sharp hörte sie schon nicht mehr. Er wußte zwar nicht, womit er den Hexer bekämpfen sollte, aber vielleicht gelang es ihm, den Schuft aufzuhalten, bis die anderen folgten. Vor der Übermacht war er geflohen. Sie fürchtete er offensichtlich. Es knackte im Unterholz. 84
Milton brach durch und stand plötzlich dem angeblichen Griechen gegenüber, der sich herumgeworfen hatte, um seinen Verfolger zu stellen. Die Augen des Unseligen funkelten gelblich, als er höhnte: »Du wirst sterben wie alle anderen auch einer nach dem anderen, nur nicht drängeln…« Plötzlich hielt er ein gläsernes Blasrohr in der Hand, das er blitzschnell an die zynischen Lippen setzte. Der Geisterjäger warf sich zur Seite, er vernahm ein ekelhaftes Surren knapp über sich. Für diesmal war er dem Verhängnis entgangen. Doch der Dämonische brauchte keinen neuen Pfeil in das Rohr zu schieben. Das geschah offensichtlich von selbst. Milton Sharp starrte in die kreisrunde Öffnung. Er lag neben einem Baumstamm, der ihm eine von zwei Ausweichmöglichkeiten nahm. Auf der anderen Seite züngelten Flammen empor und leckten nach ihm. »Fahr zur Hölle!« kreischte Cyano. Dann schickte er den verderbenbringenden Pfeil auf die Reise. * Zur gleichen Zeit versetzte ein Fremder die Bewohner von Stockholm in Angst und Schrecken. Anfangs hatte man keine Notiz von ihm genommen. Er war, bis zur Nasenspitze vermummt, in der Gegend des Internationalen Flughafens herumgestrolcht, und hatte keinen belästigt. Doch dann war eine gestrenge »Lapplisa« auf ihn aufmerksam geworden. Die Politesse vermutete, daß es sich um einen Langfinger handelte, der ankommende Passagiere um ihr Gepäck erleichtern wollte. Sie ging auf ihn zu und verlangte, seinen Ausweis zu sehen. 85
Passanten beobachteten, wie sie im nächsten Augenblick laut schreiend nach hinten kippte und wie leblos liegen blieb. Rasch kümmerten sie sich um die Frau, die zum Glück nur das Bewußtsein verloren hatte. Der Vermummte tauchte inzwischen im Gewühl unter. Nachdem sich ein Arzt um sie bemüht hatte, kam die Ordnungshüterin zwar wieder zu sich, faselte aber pausenlos etwas von einem gräßlichen Scheusal, das sie verschlingen wollte. Diese Behauptung schrieb man dem Umstand zu, daß sie mit dem Hinterkopf aufs harte Pflaster geknallt war. Erst als vom Hafen her die Kunde drang, ein Monster triebe dort sein Unwesen und habe einen Fischkutter in seine Gewalt gebracht, machte man sich Gedanken darüber. Der Vermummte konnte mit dem Kutter fliehen. Die Hafenpolizei versuchte zwar, ihn zu stellen und gab sogar ein paar Schüsse auf ihn ab. Doch die verfehlten ihr Ziel. Der Bursche entkam. In allen Küstenorten wurde Alarm geschlagen. Irgendwo würde der Unheimliche landen müssen. Spätestens nach hundert Seemeilen ging ihm nämlich der Treibstoff aus, wie der Besitzer des Kutters versicherte. In der Höhe von Oxelösund beobachteten dann geraume Zeit später ein paar Surfer, wie ein Kutter in Schwierigkeiten geriet. Es sah aus, als hätte er ein Leck. Er sank, bevor die Sportler Hilfe bringen konnten. Nach den Insassen wurde mit Stangen und Netzen gesucht. Damit hörte man erst auf, als eine halbe Meile weiter südlich eine Person aus dem Wasser watete, die aussah, als hätte sie schon jahrelang auf dem Meeresgrund gelegen. Kaum einer zweifelte, daß es sich dabei um den Vermummten von Stockholm handelte. Während Polizisten ausrückten, um den Burschen zu fangen, 86
gelang dem Unheimlichen ein weiterer Coup. Er drang in das Kloster von Tunaberg ein und entkam durch einen der unterirdischen Gänge. Wie sich bald herausstellte, hatte er eine der braunen Mönchskutten mitgehen lassen. Alle Anzeichen deuteten daraufhin, daß er sich nun dem Landesinneren zuwandte. Man folgte seiner Spur, die deutlich genug war und von beängstigender Brutalität zeugte, doch der Fremde in der Kutte war nicht einzuholen. * Milton Sharp wußte, daß ihn diesmal nichts mehr retten konnte. Der Dämonenpfeil war schon unterwegs. Zacharos-Cyano bäumte sich auf und ließ das Blasrohr fallen, das augenblicklich zersplitterte. Überall tauchten nun die Geisterjäger auf. Sie sahen, wie der Hexer stürzte und sich am Boden krümmte. Dann stieß er einen Seufzer aus und streckte sich. Rod Palmer war bei Milton Sharp, neben dem die Flammen erloschen waren, und beugte sich besorgt über ihn. »Bist du okay?« »Ich wundere mich selbst darüber, Rod. Normalerweise müßte ich jetzt tot sein. Ihr seid im rechten Augenblick gekommen. Wer hat ihn erledigt?« Eine Umfrage ergab, daß keiner der Geisterjäger dazu gekommen war, seine Waffen an Cyano zu erproben. »Er war tot, bevor wir nachhelfen konnten«, erklärte Bo Verezco. »Ich dachte, du hättest ihn erwischt?« Milton schüttelte den Kopf und trat zu dem vernichteten Hexer. »Womit denn? Um die Wirkung des Heptagon auf die Probe zu stellen, war es schon zu spät.« »Könnte es sein, daß ihn sein eigener Pfeil traf?« Der Russe zog 87
diese Möglichkeit in Erwägung. »Nein. Ich habe ihn fast auf der Kopfhaut gespürt. Es war ganz knapp.« »Dann bleibt nur eine Erklärung«, sagte Armin Knoll aus Bremen nachdenklich. »Cyano ist bei seinem Gebieter in Ungnade gefallen. Vermutlich mußte er es büßen, daß er sich entlarven ließ, bevor er seine Aufgabe erfüllt hatte.« »Welche Aufgabe?« wollte Paul Jaroscek wissen. Milton Sharp wußte die Antwort. Cyano selbst hatte sie angedeutet. »Er wollte uns alle töten, einen nach dem anderen. Es könnte sein, daß wir nur aus diesem Grund hier sind. »Du meinst, das Schwarze Heer existiert gar nicht?« Rod Palmer wollte es nicht glauben. »Darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Aber für ausgeschlossen halte ich das nun nicht mehr.« »Was haben wir dann noch hier verloren?« wollte der Russe ärgerlich wissen. »Ich habe extra die Verfolgung des doppelköpfigen Ungeheuers abgebrochen, weil ich glaubte, der Bestand der Menschheit wäre in Gefahr. Dabei war das angebliche Schwarze Heer nur der Fliegenfänger, den Cyano für uns aufgehängt hatte, um uns mühelos töten zu können. Ich reise sofort ab und denke, Sie alle sind meiner Ansicht.« Armin Knoll pflichtete ihm spontan bei. Auch er ärgerte sich, daß er auf einen Bluff hereingefallen war. Die anderen zögerten. »Milton hat nur von der Möglichkeit einer Falle gesprochen«, erinnerte die Holländerin. »Die Tatsache, daß Cyano bestraft wurde, löst unser Problem nicht vollends. Noch existiert Vexarus, und der wird nicht ruhen, bis er sich an die Spitze seines erträumten Heeres stellen kann.« »Milton hat Vexarus in Italien angetroffen«, sagte Elef Mallakh. »Das schon. Aber der Dämon tötete seinen Vasallen hier in 88
Schweden. Also ist es zu befürchten, daß er sich ebenfalls in der Nähe befindet.« »Unfug! Ein Dämon wie er muß nicht neben seinem Opfer stehen, um es zu töten. Er überbrückt mühelos auch große Entfernungen.« »Was tun wir also?« »In Ruhe beraten«, schlug Milton Sharp vor. »Wir sind nun mal hier. Neun Geisterjäger aus aller Herren Länder werden sich so schnell nicht wieder treffen. Selbst wenn unsere Gegenwart überflüssig geworden sein sollte, besitzen wir die einmalige Chance, ein großes Unternehmen zu planen. Eines, für das ein einzelner zu schwach wäre.« Rod Palmer nickte zustimmend. Er hatte sich ohnehin längst gewünscht, einen Fall zusammen mit dem Engländer zu lösen, den er achten gelernt hatte. Sie einigten sich schließlich darauf, ins Dorf zurückzukehren und dort die weiteren Schritte zu besprechen. »Was geschieht mit diesem Lumpen?« Marcel Debuque deutete auf Cyanos Leichnam. »Den nehmen wir mit. Sein Körper soll untersucht werden. Meistens zerfallen die Dämonischen. Diesmal sind uns seine Überreste erhalten geblieben.« »Auch Helge müssen wir ins Dorf schaffen«, ergänzte Bo Verezco. »Er hat ein christliches Begräbnis verdient.« Die Männer rissen sich nicht darum, den Hexer zu tragen. Milton Sharp und Rod Palmer übernahmen ihn wortlos. Marcel Debuque und der Österreicher luden sich Eklunds Leiche auf. So marschierten sie ins Dorf, wo sie eine schlimme Nachricht erwartete. *
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Ein Italiener saß in den »Drei Kronen« und berichtete von dem Monster, das in Stockholm und später auch weiter südlich für Aufsehen gesorgt hatte. Die wenigen Gäste schauderten, als die Geisterjäger mit ihrer traurigen Last eintrafen. Milton Sharp erfuhr, daß es sich bei dem Mann um einen Kollegen handelte. Raviro Galetti war in Rom beheimatet. Ihn hatte Eklunds Hilferuf auf Sardinen erreicht, als er glaubte, drei gefräßigen Fischmenschen auf der Spur zu sein, was sich aber als Irrtum herausstellte. »Wie sieht der Kerl aus?« forschte der Engländer. Galetti zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn nicht selbst gesehen – sonst hätte ich natürlich versucht, ihn zu stellen. Ich weiß nur, was ich unterwegs gehört habe. Er war vermummt. Die Politesse auf dem Flughafengelände sprach von einem glühenden Auge und…« »Nur ein Auge?« fiel ihm Milton Sharp ins Wort. »Auch Vexarus hat nur ein Auge mitten auf der Stirn.« Der Italiener hatte ebenfalls schon von diesem Dämon gehört und bestätigte dessen Machtgier. Als er erfuhr, was sich innerhalb kürzester Zeit in Vårdnäs ereignet hatte, war auch er überzeugt, daß Vexarus selbst die Menschen an der Küste entsetzt hatte. »Tote hat es meines Wissens noch keine gegeben«, fuhr er fort. »Aber der Halunke soll äußerst rabiat sein.« »Ich glaube, diese veränderte Situation enthebt uns sämtlicher Zweifel«, meldete sich Rod Palmer zu Wort. »Wenn sich Vexarus hier in der Gegend herumtreibt, muß es uns gelingen, ihn mit vereinter Kraft zur Strecke zu bringen. Wir sind jetzt zehn Mann, die sich zum Glück wieder vertrauen dürfen, seit Cyano seine Strafe erhalten hat.« »Zwölf Mann«, korrigierte Bo Verezco und deutete auf das Auto, das sich dem Gasthaus näherte. Darin saßen zwei Männer, 90
die schon von weitem grüßend die Hand hoben. Rune Markken war ein knorriger Norweger. Er hatte unterwegs seinen Landsmann Kirk Gogstad aufgesammelt, der mit einer Reifenpanne liegen geblieben war. »Es war wie verhext«, erklärte Gogstad wütend. »Plötzlich bockte die Karre und wollte nicht mehr weiter. Dann zerfetzte es auch noch beide Vorderreifen. Das fängt ja gut an.« Als er erfuhr, wieviel Tote es schon gegeben hatte, sah er ein, daß er keinen Grund hatte, sich zu beklagen. »Vexarus heißt also dieser Schuft«, sagte er. »Und er treibt sich in der Gegend herum. Na schön! Er soll nur kommen. Ich werde ihn in den Spiegel schauen lassen, den ich mitgebracht habe. Dann sind wir ihn für allemal los.« Er klopfte siegessicher auf seine Jackentasche, in der er seine Dämonenwaffe verborgen hatte. Auch bei den übrigen Anwesenden setzte sich die Auffassung durch, daß man die Gelegenheit ergreifen sollte, den Dämon unschädlich zu machen. Die Norweger konnten in den »Drei Kronen« nicht mehr untergebracht werden, weil das Gasthaus besetzt war. Da auch Milton Sharp noch keine Unterkunft hatte, fuhren sie gemeinsam zur »Schwalbe«. Der dortige Wirt beschwor gerade sein Personal, ihn nicht im Stich zu lassen. »Sie sind ganz aus dem Häuschen«, jammerte er. »Soeben ist die Meldung durchgekommen, daß nördlich von Norrköping der Vermummte gesichtet worden ist. Er hat sich durch eine Straßensperre seinen Weg gebahnt und alles zertrümmert. Jetzt glauben meine Leute, daß er auch noch zu uns kommt. Sie verlieren die Nerven. Ich weiß nicht, was ich tun soll, meine Herren. Und gerade jetzt haben wir so viele Gäste. Wie soll ich Sie versorgen?« 91
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken!« beruhigte ihn Milton Sharp. »Mit uns werden Sie wenig Arbeit haben. Im übrigen hoffen wir, daß wir Ihr Problem schon bald aus der Welt schaffen können.« Diese Worte überzeugten den Wirt nicht. Er lamentierte noch weiter, während er den drei Männern ihre Zimmer zeigte. Milton Sharp machte sich ein wenig frisch. Mehr Zeit verlor er nicht. Er wollte schnellstens zu den anderen zurück, um sich an den Plänen zu beteiligen. Diesmal sollte es Vexarus an den Kragen gehen. Rune Markken wartete schon im Wagen, aber Kirk Gogstad war noch nicht da. »Er nimmt wohl erst noch ein Vollbad«, meinte der Norweger ungeduldig. »Er weiß doch, daß wir’s eilig haben.« Sie warteten noch fünf Minuten. Dann ging Milton Sharp ins Gasthaus zurück und klopfte an Gogstads Tür im ersten Stock. Keine Antwort erfolgte. Da zögerte der Engländer nicht länger, warf sich gegen die Tür und prallte zurück. Alle Zeichen sprachen für einen verzweifelten Kampf, den der Norweger nicht überlebt hatte. Er lag auf dem Fußboden in seinem Blut. Seine Faust umkrampfte einen kleinen ovalen, blind gewordenen Spiegel. Scherben lagen überall herum. Das Fenster war zerbrochen. Hier war der Dämon wahrscheinlich eingedrungen. Milton Sharp untersuchte den Mann, aber es gab keinen Zweifel daran, daß Gogstad tot war. War Vexarus bereits hier? Oder reichte seine Macht so weit, daß er seine Opfer über sechzig Kilometer hinweg töten konnte? Rune Markken erbleichte, als er die Nachricht hörte. Er stellte 92
die Frage, die auch Milton Sharp beschäftigte: »Wer wird der Nächste sein?« * Sie debattierten mit unterschiedlichem Temperament. Einige waren dafür zu warten, bis Vexarus in Vårdnäs auftauchte, und ihm hier einen gebührenden Empfang zu bereiten. Andere, und zu denen gehörten auch Milton Sharp, hielten es für falsch, auch noch eine Minute länger zu bleiben. »Wenn es sich bei dem Vermummten tatsächlich um Vexarus handelt und er für Gogstads Tod verantwortlich zeichnet, dürfen wir ihm keine Zeit zu einem weiteren Mord geben. Wir müssen ihm zuvorkommen.« »Aber wie?« wollte Armin Knoll wissen. »Der Bursche ist doch nicht zu fassen und hält uns zum Narren.« Milton Sharp breitete eine Karte von Südschweden auf dem Tisch aus, um den die Geisterjäger saßen. Er zog einen schwarzen Filzstift aus der Tasche und markierte die Orte, an denen der Unheimliche in der Mönchskutte gesehen worden war. Diese Punkte verband er mit einer Linie. »Zuerst Stockholm, dann Oxelösund und nun nördlich von Linköping«, sagte er. »Das sieht nicht so aus, als wollte er zu uns. Sein Weg verläuft in einem Bogen.« »Aber er hat Kirk getötet«, beharrte Rune Markken. »Mir gefällt der Gedanke nicht, daß es genauso gut mich hätte treffen können.« »Der gefällt uns allen nicht. Und deshalb müssen wir endlich zurückschlagen, und zwar gemeinsam. Kirk vertraute sehr seinem Spiegel, aber er allein war nicht wirksam genug.« »Was schlagen Sie vor, Milton?« erkundigte sich der Russe. »Sollen wir ganz Südschweden nach dem Halunken absuchen? 93
Er hat die Strecke von Stockholm bis Norrköping in beängstigend kurzer Zeit zurückgelegt. Er ist schneller als wir.« Der Norweger meldete sich erneut zu Wort. »Ich besitze einen Dämonenkompaß. Damit könnten wir Vexarus aufspüren. Die Nadel zeigt auch geringe dämonische Schwingungen an.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« entrüstete sich Frauke Klettje. »Das ist genau das, was wir brauchen, nachdem mein Pendel nicht mehr zu gebrauchen ist.« Der Norweger dämpfte die Zuversicht der Holländerin. »Der Nachteil besteht darin, daß uns der Kompaß nicht zwingend zu Vexarus führen muß. Nimmt er in geringerer Entfernung eine Schwingung auf, so leitet er uns in die Irre. Auf ihn allein dürfen wir uns nicht verlassen.« Raviro Galetti wußte die Lösung. »Ich mache eine Rauchbeschwörung«, schlug er vor. »Diese Magie ist nicht besonders sensibel. Sie wird nur einen wirklich starken Dämon anzeigen.« Rod Palmer erhob sofort Einspruch. »Das ist zu gefährlich, Raviro. Die Rauchbeschwörung müssen Sie völlig allein durchführen, wenn sie zuverlässig sein soll. Wir haben aber gerade vereinbart, daß wir sicherheitshalber zusammenbleiben.« »Unsinn, Rod. Das können wir ohnehin nicht mit letzter Konsequenz einhalten. Denken Sie nur an die Nächte, wenn wir schlafen.« »Es werden nie alle schlafen«, widersprach der Amerikaner. »Einige von uns müssen Wache halten.« »Es geht auch bei der Beschwörung«, wußte der Italiener. »Bildet einfach einen weiten Kreis um mich. Dann müßte Vexarus schon durch die Luft kommen, um meiner habhaft zu werden.« Da niemand einen besseren Vorschlag hatte, blieb es dabei. Sie gingen zu einer Waldlichtung und halfen Raviro Galetti, die notwendigen Hölzer und Kräuter zu suchen. Dann ließen sie den 94
Italiener allein und verteilten sich so, daß sie von der Lichtung aus nicht mehr gesehen werden konnten. Sie vereinbarten Warnrufe, falls einem von ihnen etwas verdächtig erschien. Galetti blieb zurück. Er entzündete ein Feuer und ordnete das Holz in einem ganz bestimmten Muster. Die Kräuter verteilte er dazwischen, während er konzentriert heilige Sprüche aufsagte. Die Flammen wollten nicht brennen, blakten und qualmten nur, aber genau das war beabsichtigt. Der Italiener hockte sich vor die Feuerstelle und schloß die Augen. Er dachte an den Dämon und beschwor den Rauch, ihm den Weg zu weisen. Der Qualm schlug ihm ins Gesicht. Seine Augen tränten. Galetti wandte sich um. Wenn die Zeichen richtig waren, hielt sich Vexarus in südlicher Richtung auf. Das war mehr als unwahrscheinlich. Norrköping lag im Nordosten. Irgendwo knackten Zweige. Dann kam eine Gestalt aus dem Wald und ging auf ihn zu. Der Italiener richtete sich auf. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er ungehalten, weil seine Beschwörung gestört war und er wieder von vorn beginnen mußte. Der Störenfried antwortete nicht, aber sein Gesicht verzerrte sich zur höhnischen Fratze. Es veränderte sich von Sekunde zu Sekunde. Raviro Galetti taumelte zurück und trat in die schwelende Glut. Die Hitze spürte er nicht. Er steckte beide Arme abwehrend aus. »O nein!« murmelte er. Dann war der andere bei ihm und packte blitzschnell seinen Kopf. »O doch!« schnarrte er. »Damit habt ihr alle nicht gerechnet, nicht wahr?« »Warum?« stöhnte Galetti und versuchte verzweifelt, sich aus dem mörderischen Griff zu befreien. »Das werden die anderen Narren auch bald fragen«, lautete die 95
nichtssagende Antwort. Der Unheimliche stieß den Kopf des Geisterjägers in die Glut und ließ erst wieder los, als er keinen Widerstand mehr spürte. Mit lautlosem Gelächter verschwand er. Milton Sharp und die anderen, die den Kreis bildeten, warteten geduldig. Nach zwei Stunden hielt es der Engländer nicht mehr aus. Auch er hatte schon mehrfach von der Rauchbeschwörung gehört, die hier dauerte ihm aber einfach zu lange. »Rod!« rief er zur rechten Seite hinüber. Dort wußte er den Mann aus San Franzisko. »Bei mir ist alles okay, Milton. Bo hat auch nichts gemeldet. Sie wird aber langsam ungeduldig. Sollten wir nicht mal nach dem rechten sehen?« »Das wollte ich gerade vorschlagen. Sagt den anderen auf eurer Seite Bescheid.« Sie trafen sich bei dem Toten und wollten das Entsetzliche kaum glauben. »Wir haben ihn nicht abschirmen können«, flüsterte Bo Verezco. »Ist das Scheusal tatsächlich aus der Luft gekommen?« Milton Sharp schüttelte den Kopf und deutete auf die rechte Hand des Ermordeten. Mit ihr hatte der Sterbende eine Botschaft in den Sand geschrieben. Es handelte sich nur um ein Wort, aber das war unglaublich genug. »Cyano!« * »Aber Cyano ist tot«, begehrte Marcel Debuque wild auf. »Er kann es unmöglich gewesen sein.« »Außerdem hat ihn Raviro doch gar nicht gekannt. Vexarus hatte seinen Vasallen schon bestraft, als der Italiener zu uns stieß.« Auch Elef Mallakh glaubte nicht, daß Galetti den Namen seines Mörders geschrieben hatte. 96
»Immerhin hat er seinen Körper gesehen«, gab Milton Sharp zu bedenken. »Er wurde Zeuge, wie wir Zacharos herbrachten.« »Du meinst, Cyano hat uns getäuscht?« Rod Palmer ballte vor Zorn die Fäuste. »Wir hätten seinen Körper verbrennen sollen«, meinte Jaroscek. »Das müssen wir schleunigst nachholen, falls er nicht inzwischen verschwunden ist.« Die Leiche des angeblichen Griechen befand sich noch dort, wo ihn die Geisterjäger hingelegt hatten, in einem Schuppen, der zu den »Drei Kronen« gehörte. Niemand erhob Einspruch, daß er den Flammen übergeben wurde. Es meldeten sich jedoch Zweifel, ob das etwas nützte. »Was glaubst du?« raunte Rod Palmer seinem englischen Kollegen zu. »War es Cyano?« »Ich fürchte, ja. Er hat uns erneut reingelegt und seinen Tod wahrscheinlich nur vorgegaukelt.« »Aber wir haben seinen Körper nun endgültig vernichtet. Auch ein Hexer widersteht dem Feuer nicht.« »Nur, wenn er sich noch in dem Körper befindet, Rod. Diese Maske braucht Cyano schon längst nicht mehr. Er hat eine neue.« »Du meinst, er befindet sich nach wie vor unter uns. Nur mit einem anderen Gesicht?« »Das halte ich für sicher.« Die beiden Männer blickten sich ernst an. »Dann kann es sich nur um Rune Markken handeln«, schlußfolgerte Rod Palmer. »Er ist der einzige, der nach Zacharos’ Tod zu uns gestoßen ist und noch lebt.« Milton nickte. »Er hatte auch in der ›Schwalbe‹ Gelegenheit, Gogstad unbeobachtet zu töten.« »Aber warum tat er das nicht schon auf der Fahrt hierher?« »Ich weiß es nicht, Rod. Als einzige Antwort sehe ich nur, daß 97
er sich eine größere Wirkung versprach, wenn er den Norweger in unserer Mitte umbrachte.« »Dann weiß ich, was ich zu tun habe, Milton. Ich stelle den Halunken zum Kampf.« »Aber nicht allein, mein Lieber. Bisher hat noch jeder den kürzeren gezogen, der ihm allein gegenüberstand. Ich werde an deiner Seite kämpfen, sofern du mir eine deiner Waffen überläßt. Ich stehe momentan mit leeren Händen da.« »Du kannst wählen. Keinem anderen würde ich meinen wertvollsten Besitz überlassen. Bei dir weiß ich ihn in guten, verantwortungsvollen Händen.« Milton Sharp entschied sich für den Dolch, dessen Klinge im Blut eines Werwolfes gehärtet worden war. Zacharos’ Körper war noch nicht restlos verkohlt, als die beiden Geisterjäger auf den Norweger zugingen und ihn stellten. Rune Markken wurde blaß. »Was haben Sie vor?« krächzte er. »Für wen halten Sie mich?« »Für Cyano«, antworte Rod Palmer schneidend. »Aber jetzt hat die Maskerade ein Ende. Es wird abgerechnet.« In der Faust hielt er das Kreuz der weinenden Toten. Er war überzeugt, daß es für einen Hexer stark genug war. Damit hatte er schon die übelsten Scheusale besiegt. Die übrigen Geisterjäger zögerten. Sie wußten nicht, warum die beiden Kollegen ausgerechnet den Norweger verdächtigten. Nur Bo Verezco hielt sich bereit, den Freunden nötigenfalls beizustehen. »Nein!« keuchte Rune Markken und wich vor den Angreifern zurück. »Nein, ihr seid ja wahnsinnig. Ich bin kein Hexer. Fragt doch Helge Eklu…« Der Name blieb ihm im Hals stecken, als er sich erinnerte, daß der Schwede ihn nicht mehr entlasten konnte. »Helge hat Sie angeblich herbestellt, Rune«, rief Milton Sharp. »Diese Behauptung läßt sich aber nicht mehr beweisen. Nur Sie 98
können Cyano sein! Diesmal haben Sie es nicht nur mit einem Gegner zu tun. Jetzt müssen Sie Farbe bekennen.« Doch davon hielt der Beschuldigte nichts, wirbelte auf den Absätzen herum und rannte los. Ein paar Fäuste wollten ihn festhalten, doch er schlug sie zurück und drohte: »Kommt mir nicht zu nahe, ihr Narren! Ich kam her, um zu helfen und nicht, um von euch getötet zu werden.« Milton Sharp antwortete nicht. Auch er war fest entschlossen, die Flucht zu stoppen. In seiner Faust hielt er den ungewohnten Dolch. Damit bahnte er sich einen Weg durch das an dieser Stelle besonders dichte Unterholz. Er verlor Rod Palmer aus den Augen und orientierte sich lediglich am Knacken der Äste. Doch schon bald war er nicht mehr sicher, ob er Rod oder dem Hexer folgte. Sollte der Schuft es tatsächlich wieder geschafft haben? Milton hörte den Amerikaner seinen Namen rufen. Er befand sich links von ihm. Geradeaus war das Knacken zu hören. »Hier bin ich!« schrie er und hetzte weiter. Das Unterholz wurde lichter. Ein Stück vor sich entdeckte er den Flüchtenden. Der Vorsprung war etwas geringer geworden. Rune Markken ermüdete anscheinend bereits. Milton Sharp frohlockte, doch da blieb sein rechter Fuß am Boden kleben, als wäre er festgehalten worden. Der Geisterjäger flog nach vorn und überschlug sich. Instinktiv hielt er den Dolch fest. Den durfte er auf keinen Fall einbüßen. Während er wieder aufsprang, suchte er unwillkürlich die Wurzel, an der er offenbar hängen geblieben war. Sein Nacken wurde steif, als er die Hand sah, die aus dem Laub ragte. Er schluckte und dachte nicht mehr daran, dem Fliehenden zu folgen. Dessen Vorsprung war durch seinen Sturz ohnehin zu 99
groß geworden. Er kehrte um und bückte sich. Das faulige Laub scharrte er zur Seite und hatte nun keinen Zweifel mehr, daß er über einen Toten gestolpert war. Milton Sharp überraschte es nicht, daß er den Mann kannte, der erst kurze Zeit hier liegen konnte. Er richtete sich auf und rief Rods Namen. Erst beim dritten Mal antwortete der Amerikaner. Er war schon ziemlich weit entfernt. »Der Lump ist mir entwischt, Milton. Hast du mehr Glück gehabt?« Glück konnte man es wirklich nicht nennen, wenn man vor einer Leiche stand und sich das Gehirn zermarterte. Milton Sharp durchdachte alle Möglichkeiten und kam immer wieder zum gleichen Ergebnis: um ein Haar hätten sie einen verhängnisvollen Fehler begangen. »Komm zurück!« schrie er. »Beeil dich!« Er verzichtete darauf, den Toten zu nehmen. Den konnten sie später holen. Jetzt war etwas anderes wichtiger. Der Geisterjäger hetzte zum Dorf zurück. Der Platz vor den »Drei Kronen« war noch leer. Die anderen beteiligten sich noch alle an der Suche nach dem Hexer. Der Wirt eilte ihm entgegen. »Endlich kommt jemand«, haderte er. Dann berichtete er von der letzten Meldung über den Vermummten. »Finspång?« überlegte Milton Sharp. »Demnach bewegt sich der merkwürdige Bursche weiter von uns weg. Anscheinend hat er doch nicht mit Vexarus zu tun?« »Aber er hat die reine Zerstörungswut«, gab der Wirt zu bedenken. »Er zertrümmert, was ihm in den Weg kommt.« »Weiß man etwas über Verletzte oder gar Tote?« Der Schwede schüttelte den Kopf. »Zwei Bauarbeiter fielen vor 100
Schreck von einem Gerüst, das zum Glück nicht hoch war. Sie kamen mit Prellungen davon. Außerdem krachten sieben Autos auf einer Landstraße zusammen. Drei Männer erlitten Schnittwunden. Eine Frau brach sich den Knöchel. Von den Fahrzeugen blieb nur Schrott übrig.« »Aber er hat keinen angegriffen.« »Kein Wunder. Jeder bringt sich möglichst schnell in Sicherheit, sobald er mit seiner Mönchskutte auftaucht. Wer läßt es bei so einem schon drauf ankommen?« Damit hatte der Mann zweifellos recht. Der Vermummte stellte eine Gefahr dar. Doch diese Gefahr trieb sich in der Gegend von Finspång herum und wollte anscheinend zum Vätternsee im Westen. In Vårdnäs trieb ein anderer sein Unwesen. Er mußte als erstes zur Strecke gebracht werden. Allmählich kehrten die Männer sowie die beiden Frauen wieder zurück. Alle zeigten sich enttäuscht. Jeder hatte gehofft, Rune Markken wäre den anderen in die Hände gefallen. Milton Sharp vergewisserte sich, ob keiner fehlte, stellte aber erleichtert fest, daß seine Sorge diesmal unbegründet war. »Es ist nicht zu fassen«, seufzte Marcel Debuque. »Wer konnte auch ahnen, daß der Hexer sich ein neues Gesicht zugelegt hat? Noch dazu ausgerechnet das des Norwegers.« »Rune ist unschuldig«, erklärte Milton Sharp. »Wir alle wollen froh sein, daß ihm die Flucht gelungen ist.« »Sind Sie verrückt, Milton?« ereiferte sich Frauke Klettje. »Sie selbst waren es doch, der den Mann beschuldigte.« »Und der sich irrte«, fuhr Milton Sharp ernst fort. »Cyano hat auf teuflische Weise dafür gesorgt, daß wir den Falschen verdächtigen mußten.« »Und jetzt kennen Sie den Richtigen?« zweifelte Nikolay Averin. »Hören Sie, ich gewinne langsam den Eindruck, daß Sie sich 101
nur wichtig machen wollen.« »Sind Sie auch dieser Meinung, Debuque?« rief Milton scharf und hob den Arm mit dem Dolch. Der Franzose duckte sich. »Er ist tatsächlich verrückt«, kreischte er. »Jetzt verdächtigt er einen nach dem anderen. Nur sich selbst vermutlich nicht.« »Nur Sie, Debuque oder Cyano. Sie waren tatsächlich ein ernstzunehmender Gegner, aber auch Sie haben sich einen Fehler geleistet.« »Lächerlich! Nehmt ihm doch endlich dieses Messer weg! Er bringt es noch fertig und tötet uns alle damit.« »Was Sie behaupten, entbehrt in der Tat jeglicher Logik«, fand Paul Jaroscek. »Wollen Sie behaupten, daß der Hexer gleichzeitig in zwei Personen verkörpert war? Marcel stand genau wie wir anderen dabei, als Zacharos getötet wurde. Nur Markken machte darin eine Ausnahme.« »Da hören Sie es«, keifte der Franzose und bewegte sich ein paar Schritte rückwärts. »Bleib stehen, Cyano!« befahl Milton. »Nur wir beide wissen, was ich dort hinten im Wald unter Laub verborgen entdeckt habe.« Marcel Debuque veränderte sich schlagartig. Seine Augen begannen zu glühen. Wie ein Panther schnellte er auf den Engländer zu und hob die rechte Hand, deren Finger auf einmal mit winzigen Klingen bewehrt waren. Der Geisterjäger zielte kurz und schleuderte ihm den Dolch entgegen. Er traf. Das Messer grub sich in die Brust des Franzosen, der wie von einer unsichtbaren Faust zurückgeschleudert wurde. Vor Schreck erstarrt standen die anderen da, unfähig, in das Geschehen einzugreifen. Debuque schrie auf und versuchte, sich von dem Dolch zu be102
freien, doch sobald seine Hand das Heft berührte, begann sie zu brennen. »Er ist der Hexer«, murmelte Armin Knoll. »Er ist es tatsächlich. O Gott!« Debuque taumelte noch ein paar Schritte auf Milton Sharp zu, heulte dann auf und wollte seine Klauen um den Hals des Geisterjägers legen. Da bohrte ihm Rod Palmer das Kreuz der weinenden Toten in die Seiten. Es zischte und qualmte. Der Hexer brach zusammen. »Vexarus wird euch alle vernichten«, kreischte er. »Mir ist es nicht gelungen. Ich konnte meine Aufgabe nicht erfüllen. Aber ER wird es tun. Keiner wird von euch übrig bleiben.« Milton riß ihm den Dolch aus der Brust. Er wollte den Hexer zum Reden bringen. »Was wird hier wirklich gespielt, Cyano?« wollte er wissen. »Dich kann nichts mehr retten. Das weißt du. Vexarus hat dich im Stich gelassen. Warum zahlst du ihm das nicht heim? Was hat es mit dem Schwarzen Heer auf sich?« Der Hexer röchelte. »Ihr Narren! Ihr habt alles geglaubt. Ja, es wird dieses Heer geben. Vexarus wird die Toten von Palermo um sich scharen, sobald er den Schlüssel zu den Katakomben besitzt. Ich sollte ihm dazu verhelfen, doch ich war ungehorsam. Deshalb sollte ich mich bewähren: dreizehn von euch wollte ich töten! Dreizehn Geisterjäger in dreizehn Tagen! Deshalb lockte ich euch hierher. Es hat nicht geklappt. Nun wird ein anderer Vexarus den Schlüssel bringen. Ein junges, unschuldiges Mädchen ist dafür erforderlich. Es muß ganz bestimmte Eigenschaften besitzen, und sein Blut muß die Toten erwecken. Dann werden achttausend Fürchterliche marschieren. Das Schwarze Heer wird über euch kommen. Über euch alle. Ihr werdet…« Er brach endgültig zusammen und verstummte. Sein Körper 103
vertrocknete zusehends, wurde spröde und zerfiel. Nichts blieb von ihm zurück als ein Häufchen Asche. »Endlich!« stieß Bo Verezco hervor. »Diesmal gibt es keinen Zweifel, daß Cyano, der Hexer, vernichtet ist.« »Aber es war außerordentlich riskant«, fand Paul Jaroscek. »Wenn Sie sich nun wieder geirrt hätten wie bei Rune Markken?« Milton Sharp gab Rod Palmer den Dolch unversehrt zurück. »Das war ausgeschlossen«, erklärte er. »Sie wissen noch nicht, was ich im Wald unter dem Laubhaufen fand.« »Was war es?« »Marcel Debuque. Cyano ließ uns, nachdem Frauke ihn entlarvt hatte, glauben, er wäre tot. In Wahrheit schlüpfte er nur aus seiner Hülle und suchte sich eine neue Maske. Bei der ersten Gelegenheit brachte er Marcel um und nahm dessen Rolle ein. So konnte er uns täuschen. Nur der zufällige Fund des Leichnams öffnete mir die Augen.« Die anderen waren erschüttert. »Rune ist also unschuldig?« vergewisserte sich der Ägypter. »Mit Sicherheit.« »Er kommt bestimmt nicht mehr zurück. Aber das ist auch nicht notwendig. Wir haben alle gehört, daß Cyano das Schwarze Heer lediglich erfunden hat, um uns in seine Falle zu locken.« Rod Palmer widersprach. »Erfunden hat er es nicht. Vexarus will seinen Plan tatsächlich durchführen.« »Dann sollten wir uns auf den Weg nach Palermo machen, um dort die Katakomben zu schützen.« Ein gleißender Blitz fuhr vom Himmel herab und entzündete das trockene Gras vor dem Wald. Die Frauen und Männer sahen sich verwirrt an. Der Himmel war strahlendblau. Es gab keine Anzeichen für ein nahendes Gewitter… Nur diesen einen Blitz! 104
»Das war die Antwort von Vexarus«, sagte Milton Sharp düster. »Er kommt. Er weiß nun, daß Cyano seine Pläne preisgegeben hat. Er wird dafür sorgen, daß wir sie nicht mehr verhindern können.« * Milton Sharp ging zusammen mit Rod Palmer den ermordeten Franzosen holen. Inzwischen löschten Nikolay Averin und Elef Mallakh den Grasbrand, der nicht sehr hartnäckig war. Knoll, Jaroscek und die Frauen besetzten die Telefone in beiden Gasthäusern und versuchten Informationen aus der Umgebung einzuholen. Vor allem brauchten sie Antwort auf zwei Fragen: Wurde der ungewöhnliche Blitz auch außerhalb von Vårdnäs beobachtet? Und wo trieb sich im Augenblick der Vermummte herum? Während Milton und Rod Marcel Debuque ins Dorf schafften, brachte der Amerikaner erneut die Sprache auf Yonca. »Wäre er hier gewesen, hätten wir Cyano wahrscheinlich schneller entlarvt. Das hätte einigen das Leben gerettet.« Miltons Miene wurde abweisend. »Warum fängst du wieder davon an, Rod? Ich gebe mir Mühe, nicht mehr an ihn zu denken. Es ist sinnlos. Geschehenes läßt sich nun mal nicht mehr rückgängig machen. Ich habe immer befürchtet, daß mal so etwas passieren könnte. Auch Yonca hat damit gerechnet. Das weiß ich genau. Ich sage mir immer, daß ja nicht erwiesen ist, daß er wirklich auf unserer Seite gekämpft hätte. Er hatte es versprochen, und da er mein Leben rettete, mußte ich ihm glauben. Die Wahrheit werden wir nie erfahren. Selbst wenn alles so eingetreten wäre, wie ich mir das vorgestellt hatte, wer wollte behaupten, daß er nicht schon in seinem ersten Kampf unterlegen 105
wäre?« »Du hast uns von seiner unglaublichen Kraft erzählt, Milton.« »Das ist richtig. Ich habe keinen Menschen kennengelernt, der es in dieser Beziehung mit ihm hätte aufnehmen können. Doch die Dämonen sind mit anderen Maßstäben zu messen, wie du selbst weißt. Was uns in Erstaunen versetzt, ist für sie normal. Nimm nur zum Beispiel diesen Vermummten: er scheint eine satanische Freude am Zerstören zu besitzen. Und wie ihn gibt es viele andere dieser Höllenkreaturen. Nein, es ist vielleicht besser, daß wir nie versucht waren, uns auf Yoncas Kraft zu verlassen, von der wir möglicherweise enttäuscht worden wären.« Sie erreichten das Dorf und lieferten die Leiche bei dem Geistlichen ab, der versprach, sich darum zu kümmern, daß Debuque nach Avignon überführt wurde. Bo Verezco wartete mit schlimmen Nachrichten auf. Sie hatte gerade am Telefon erfahren, daß der Unheimliche in der Mönchskutte augenscheinlich seinen Kurs erneut geändert hatte. »Erst schien es, als wollte er zum nördlichsten Zipfel des Vätternsees«, berichtete sie atemlos. »Doch plötzlich überlegte er es sich anders. Er tauchte in Borensberg auf und kurze Zeit darauf in Sturefors.« »Das liegt ja schon südlich von Linköping«, wußte Rod Palmer. »Eben. Könnt ihr euch denken, was den Sinneswandel des Vermummten bewirkt hat?« Milton Sharp und Rod Palmer wußten es. Ohne Frage war Vexarus die Vernichtung Cyanos sauer aufgestoßen. Er wollte sich rächen. Vor allem aber mußte er verhindern, daß seine Pläne noch allgemeiner bekannt wurden. Im Moment hatten nur acht Menschen Kenntnis davon. Jetzt kam er, um diese acht auszuschalten. »Er soll nur kommen«, knurrte Rod Palmer. »Wir sind mit seinem Hexer fertig geworden, den er feige vorgeschickt hat. Dann 106
wird er selbst uns auch nicht vor viel größere Probleme stellen.« Als wollte der Dämon ihn umgehend Lügen strafen, entstand vor dem Gasthaus eine beträchtliche Aufregung. Stimmen riefen laut durcheinander. Der Vermummte wurde erwähnt. Die Geisterjäger stürzten ins Freie. Rod Palmer gab im Lauf den Dolch an Milton Sharp weiter. »Sieht so aus, als würdest du ihn wieder brauchen.« Draußen wurden sie aber nicht von Vexarus erwartet, sondern von Rune Markken. »Rune, Sie? Es hat doch bestimmt einen Grund, das Sie hierher zurückkehren, obwohl wir Sie irrtümlich für den Hexer hielten.« Der Norweger blickte sich gehetzt um. In seinen Augen lag ein irrer Glanz. »Alle haben es auf mich abgesehen«, greinte er. »Erst ihr… und nun diese Mordmaschine. Der Unheimliche war die ganze Zeit hinter mir her. Er hat Bäume umgeknickt und taucht bestimmt gleich hier auf. Ich habe versucht, meine magische Axt nach ihm zu werfen. Er wich ihr aber aus, und nun bin ich ohne Waffe.« Der Mann zitterte am ganzen Körper. Er war restlos erschöpft und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. »Wie sah das Ungeheuer aus?« wollte Milton Sharp wissen. »Es trug eine Mönchskutte. Deshalb konnte ich kaum etwas von ihm erkennen.« Diese Beschreibung genügte. Es handelte sich um den Vermummten. Um Vexarus. Jetzt mußten sie die Nerven bewahren. Mit dem Norweger war nichts mehr anzufangen. Ihn schickten sie ins Gasthaus. Aber alle anderen mußten jetzt ihr bestes geben. Auch die beiden Frauen, die sich längst im Kampf gegen alle möglichen Monstren bewährt hatten. Armin Knoll überprüfte seine Browning. Angesichts höchster 107
Gefahr erschien er völlig ruhig. Zumindest nach außen hin. Elef Mallakh verfügte über einen Stein, der wie ein Knochen geformt war. »Es ist auch ein Knochen«, bestätigte er. »Der Knochen eines Höllenschakals. Ich habe ihn der Bestie eigenhändig aus dem Leib gerissen, als ich mit ihr kämpfte. Ich mußte dafür ebenfalls ein paar Rippen opfern, doch das war mir mein Sieg wert.« Paul Jaroscek verließ sich auf einen silbernen Drudenfuß und einen Tiegel mit einer übelriechenden Paste. »Geheimrezept«, sagte er mit entschlossenem Grinsen. »Das schmiere ich dem Halunken in die Augen, und schon tappt er hilflos herum.« Frauke Klettje hoffte auf die Wirkung ihres Pulvers, das der Dämon schlucken sollte. Nikolay Averin besaß die Ikone und den Hexenstaub. Rod Palmer überließ Bo Verezco die magische Schleuder, mit der die Karibin recht gut umzugehen verstand. Als Geschosse dienten kleine geweihte Silberkreuze. Bo konnte den Vermummten damit aus größerer Entfernung angreifen. »Worauf warten wir noch?« schrie der Ägypter. »Vexarus hat nicht mit Widerstand gerechnet. Er traut sich nicht aus dem Wald. Also werden wir ihn holen. Wer Mut hat, soll mir folgen.« Mut besaßen sie alle. Das hatten sie in vielen Schlachten gegen die Dämonischen bewiesen. Aber war es auch besonders klug, in das Dickicht einzudringen, in dem der Tod lauerte? Milton Sharp wollte Elef Mallakh darauf hinweisen, daß es besser war, in geschlossener Reihe vorzugehen, doch der Ägypter hörte ihn schon nicht mehr. Er verschwand zwischen den Bäumen, und sein Rufen nach dem Dämon war weit zu hören. Doch nicht lange. Dann verstummte es, und gleich darauf gellte ein entsetzlicher Schrei durch die atemlose Stille. Milton Sharp und Rod Palmer tauchten schon in den Wald ein, 108
um dem Kollegen zu Hilfe zu eilen. Die anderen folgten hastig. Der Ägypter taumelte ihnen entgegen. Er war fürchterlich zugerichtet worden und blutete. »Er – er ist zu stark«, röchelte er. Dann brach er tot zusammen. »Komm heraus!« brüllte Milton Sharp in ohnmächtigem Zorn. Nahm denn das nie ein Ende? Sollte sich Cyanos Prophezeiung erfüllen? Würde einer nach dem anderen von ihnen sterben? Der Dämon lachte gehässig. Das Laub an den Bäumen wurde welk und gelb und fiel zu Boden. Plötzlich sah der ganze Wald wie im strengsten Winter aus. Nur der Schnee fehlte. Die dürren Zweige gestatteten einen weiteren Blick. Dadurch sah Milton Sharp den Dämon. Er trug zwar keine Mönchskutte, sondern einen schwarzen Umhang und einen Schlapphut, doch das Auge auf der Stirn bewies ihm, daß er tatsächlich seinen alten Widersacher Vexarus vor sich hatte. Der Dämon stutzte. Auch er erinnerte sich an den Mann, vor dem er mal fliehen mußte, weil dieser eine übermächtige Waffe besaß. Jetzt sah er sie jedoch nicht bei Milton Sharp, und sein Zaudern wandelte sich in Aggressivität. Er schleuderte seinen Arm nach oben, und der Geisterjäger sah den Enterhaken blitzen. Damit hatte er dem Ägypter die tödlichen Wunden beigebracht. Milton befand sich klar im Nachteil. Mit dem Enterhaken besaß Vexarus eine wesentlich größere Reichweite als er selbst mit dem Dolch. Trotzdem mußte er es wagen. »Beiseite, Milton!« schrie Bo Verezco. Sie hatte ein Silberkreuz in die Lederschlaufe der Schleuder gelegt und schickte es auf die Reise. Der Dämon murrte, als das Metallstück gegen seine Brust schlug und ein Loch in den Umhang brannte. Doch das blieb die 109
einzige Wirkung. Diesmal versagte die magische Schleuder. Paul Jaroscek schlich sich hinter den Rücken des Dämons und folgte ihm, während Vexarus drohend auf Milton zuging. Als die beiden Kontrahenten nur noch fünf Schritte voneinander trennten, sprang der Österreicher vor und ließ seine Hand zu dem Auge schnellen. Die Paste, die den Dämon hilflos machen sollte, gelangte aber nicht ins Ziel. Vexarus packte den Arm des Angreifers. Dann schleuderte er den Dicken gegen den nächsten Baum, wo er benommen liegen blieb. Rod Palmer und der Russe wollten Milton Sharp zu Hilfe eilen, doch auch ihnen stellte sich ein Hindernis in den Weg. Eines, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatten. Vexarus erhielt Unterstützung. Der Unheimliche mit der Mönchskutte tauchte neben den Geisterjägern auf. Es gab also zwei Vermummte. Rod Palmer reagierte reflexartig. In der Faust hielt er das Kreuz der weinenden Toten. Damit stieß er zu und sprang sofort einen Schritt zurück. Er erschrak. Seine Faust war ins Leere gestoßen. Sie hatte keinen Widerstand gefunden und demzufolge keinen Schaden angerichtet. Er wußte, was das bedeutete. Er hatte es nicht mit einem Dämon, sondern mit einem Geist zu tun, und gegen diesen war das Kreuz der weinenden Toten machtlos. * Milton Sharp nahm nur unbewußt wahr, was hinter seinem Rücken vorging. Da war ein anderer aufgetaucht. Er wollte hoffen, daß es den übrigen Geisterjägern gelang, ihm diesen Burschen vom Leib zu halten. Er hatte mit Vexarus genug zu tun. Es war ihm nicht gelungen, dem Dämon einen Stich beizubrin110
gen, während dieser durch Jaroscek abgelenkt war. Er mußte im Gegenteil aufpassen, daß ihn der Enterhaken nicht aufschlitzte. Immer wieder stieß Vexarus damit zu und brüllte dabei gräßlich. Bo Verezco versuchte ihr Glück zwar unverdrossen mit der magischen Schleuder. Der Erfolg blieb jedoch weiterhin aus. Sie konnte auch nur selten einen Schuß wagen, weil sie sonst Milton gefährdet hätte. Armin Knoll schaute entgeistert auf seine Faust. Drei Silberkugeln hatte er auf den Dämon geschossen, aber der nahm ihn kaum zur Kenntnis. Über solche Waffen lachte Vexarus nur. Sie konnten ihm nichts anhaben. Frauke Klettje bewies erstaunlichen Mut. Jede andere Frau wäre beim Anblick dieser beiden Schrecklichen in Ohnmacht gefallen. Sie nicht. In beiden Händen hielt sie jenes Pulver, das nach ihren Angaben jedem Dämon zum Verhängnis werden mußte. Unerschrocken rannte sie auf Vexarus zu. Doch von der anderen Seite raste der Vermummte in der Kutte heran. Er sah die Frau kommen und warf sich in Deckung. Ihr Pulver verfehlte ihn. Er wirbelte herum. Die Kapuze seiner Kutte verrutschte durch die hastige Bewegung geringfügig. Ein ärgerlich blitzendes Auge wurde sichtbar. Der Unheimliche stieß ein wütendes Knurren aus. Milton Sharp erkannte, daß er zwischen zwei Feuer geraten war. Vor ihm rannte Vexarus gegen ihn an, und er hatte alle Mühe, dem Enterhaken auszuweichen. Hinter seinem Rücken kämpfte sich der Unbekannte durch, der zweifellos zu den Vasallen des Dämons gehörte. Das konnte nicht gutgehen. Er tauchte unter dem Dämon hinweg und führte mit dem Dolch einen Stich gegen dessen klumpige Beine. Die Klinge glitt wie an einem Stück gehärtetem Stahl ab. 111
Vexarus trat nach ihm. Der Geisterjäger schluckte den Tritt voll und überschlug sich rückwärts. Dabei entglitt ihm der Dolch. Sofort hechtete er nach der Waffe. Doch Vexarus war schon vor ihm da und stellte seinen Fuß auf den Dolch. Hoch hob er den Enterhaken. »Stirb!« brüllte er und stieß die Waffe herab. Milton Sharp rollte sich blitzschnell zur Seite und sprang in der nächsten Sekunde auf. An seinem Hals zuckte der Enterhaken vorbei. Bo Verezco sah, daß Rod Palmer, der Russe und Frauke Klettje Mühe hatten, den Vermummten aufzuhalten. Der Unheimliche trug zwar keine sichtbare Waffe bei sich, doch im Moment packte er Nikolay Averin und schleuderte ihn zu Rod hinüber. Der Amerikaner wollte noch ausweichen, doch Averin ruderte so intensiv mit den Armen durch die Luft, um seinen Flug aufzuhalten, daß er den Kollegen voll mit der Faust erwischte und zu Boden streckte. Nun stand nur noch die Holländerin dem Dämon gegenüber. Fieberhaft spannte die Karibin die Schleuder. Vexarus konnten die Silberkreuze nichts anhaben, doch vielleicht hatte sie bei dem Vermummten mehr Glück. Die Schußlinie war frei. Das kleine Kruzifix schwirrte durch die Luft. Der Vermummte zuckte herum, sah es kommen und erstarrte. Voll schlug das Kreuz gegen seine Brust und trat auf dem Rücken wieder heraus. Es klatschte gegen einen Baumstamm und verformte sich leicht. Das war alles. Entgeistert starrte Bo Verezco die magische Schleuder an. Sie war in diesem Kampf wertlos. Beide Kontrahenten ließen sich durch die geweihten Geschosse nicht beeindrucken. Auch Paul Jaroscek versuchte, wieder in den Kampf einzugreifen. Trotz seines gebrochenen Armes konnte er nicht zusehen, 112
wie seine Kollegen von beiden Ungeheuern getötet wurden. Er stemmte sich in die Höhe und rannte zu Vexarus hinüber, der gerade zum nächsten Stoß ausholte. Mit der gesunden Hand packte er den Enterhaken von hinten, ließ ihn aber augenblicklich aufschreiend wieder los. Seine Hand war verkohlt und rauchte. Er würde sie nie wieder benutzen können. Damit war der Österreicher kampfunfähig. Armin Knoll nahm es mit wachsendem Grauen zur Kenntnis. Er legte seinen Browning auf den Vermummten an und feuerte, bis das Magazin leer war. Die Kugeln schlugen in den Dämon, doch sie vernichteten ihn nicht. Milton Sharp wußte nun, daß es bereits lebensgefährlich war, mit dem Enterhaken lediglich in Berührung zu kommen. Er mußte versuchen, in den Rücken des Dämons zu gelangen, um den Dolch wieder in seinen Besitz zu bringen. Wenn ihm wenigstens Rod Palmer zur Seite stünde… Der Amerikaner sah den Freund in höchster Not. Er wandte sich von dem Vermummten ab und schlug einen Bogen. Damit näherte er sich Vexarus. Doch der Bursche in der Mönchskutte stellte sich ihm erneut in den Weg. Er hob die Faust, und als Rod mit dem Kreuz der weinenden Toten zustieß, rammte er sie dem Geisterjäger auf den Kopf. Milton Sharp mußte mitansehen, wie Rod Palmer stöhnend zu Boden ging. Und er sah noch etwas anderes. Bo Verezco sprintete los. Die Karibin warf ihren ganzen Mut in die Waagschale. Sie wollte verhindern, daß Milton von beiden Dämonen in die Zange genommen wurde. Das Weitere konnte er nicht verfolgen. Wieder zuckte der Enterhaken in seine Richtung. Wieder glühte das Auge in Vexarus’ Stirn. Aber erneut wich er dem verderbenbringenden Stoß aus. 113
Vielleicht zum letzten Mal. Er spürte, wie seine Kräfte erlahmten. Benommen erhob sich Rod Palmer. Ihm war klar, daß Bo einen Hieb dieser Art nicht verkraften würde. Davor wollte er sie bewahren. Er rannte ebenfalls gegen den Vermummten an und erreichte ihn Sekundenbruchteile vor seiner Partnerin. Um ihn von der zierlichen Frau abzulenken, sprang er den Dämon an. Verwirrt landete er im Gras. Er war, ohne auf Widerstand zu stoßen, durch den Vermummten hindurchgeflogen… Lediglich die Kutte war an ihm hängengeblieben. Nun sah er auch den Grund, warum dem Unheimlichen kein Angriff etwas anhaben konnte. Der Dämon bestand nur aus Kopf und Gliedmaßen. Er besaß keinen Rumpf. Yonca! Es war Yonca, der einen Geisterjäger nach dem anderen zurückschlug. Milton Sharp erkannte ihn, von dem er geglaubt hatte, daß ihn die Polizei in Wales in die Luft gesprengt hatte. Weitere Gedanken über dessen unerwartetes Auftauchen konnte er sich nicht mehr machen, denn nun raste der Enterhaken von Vexarus auf ihn zu… direkt auf seine Brust. Die scharfe, glühende Spitze mußte sein Herz durchbohren. Es war zu spät, um noch auszuweichen. Er würde nie mehr erfahren, wie und warum Yonca nach Schweden gekommen war. * Zitternd blieb die tödliche Spitze über seinem Herz hängen und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Yonca hatte den Schaft des Enterhakens gepackt und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Druck, den Vexarus ausübte. 114
»Auch dich werde ich vernichten«, zischte Vexarus haßerfüllt. »Du bist ein Abtrünniger. Du stellst dich gegen deinesgleichen.« »Ich gehöre nicht zu euch«, erwiderte Yonca. Seine Worte waren kaum zu verstehen. Die Folgen der Gesichtsoperation machten sich noch deutlich bemerkbar. »Ich war nie einer aus der Finsternis. Ich habe geschworen, euch zu bekämpfen, und diesen Schwur werde ich erfüllen.« »Bei mir ist deine Endstation, Irregeleiteter. Nimm das!« Vexarus versetzte Yonca einen mörderischen Stoß und trieb ihn zurück, worauf dieser zurücktaumelte. Vexarus setzte nach. Er erkannte in Yonca seinen stärksten Gegner. Den wollte er sich als ersten vom Hals schaffen. Milton Sharp sah den Dolch im Gras aufblitzen. Vexarus stand nicht mehr darauf. Er nahm die Waffe an sich und schnellte in die Höhe. Er spürte neue Kraft in seinen Gliedern. Seit Yoncas Auftauchen war der Kampf nicht mehr aussichtslos. Während die beiden Dämonen verbissen miteinander kämpften, flog Milton Sharp auf Vexarus zu und stieß ihm den Dolch in die Brust. Von der anderen Seite kam Rod Palmer, das Kreuz der weinenden Toten zum Stoß gezückt. Er kam zu spät. Vexarus zitterte, als stünde er unter Starkstrom. Bei dem zweiten Treffer, den Milton ihm beibrachte, brüllte er auf und schleuderte den Enterhaken weit fort. Er flog auf Frauke Klettje zu, die Bo Verezco geistesgegenwärtig von den Füßen riß und sie dadurch vor dem sicheren Verhängnis bewahrte. Vexarus fiel. Er versuchte zwar noch, seinen Überwinder zu fassen, doch Milton Sharp war auf der Hut. Außerdem hielt Yonca den Dämon unerbittlich fest, bis dieser sich nicht mehr rührte und mit gräßlichem Fluch zwischen Yoncas Fingern zerrann und im Waldboden versickerte. 115
Yonca blickte unsicher zu den Frauen und Männern. Er rechnete mit einem Angriff. Milton Sharp atmete auf. Er stellte sich vor den Dämon und verkündete laut: »Dies ist Yonca, unser aller Freund. Ihm haben wir den Sieg zu verdanken.« Armin Knoll hastete zu dem verletzten Österreicher und kümmerte sich um dessen Wunden. Auch die anderen näherten sich zögernd. Yonca holte die Kutte und streifte sie über. »Ich kann mich noch nicht den Menschen zeigen«, sagte er stockend. »Ich hatte viele Hindernisse zu überwinden, um hierher zu gelangen. Sie haben Jagd auf mich gemacht. Es ist nicht leicht, sich durchzukämpfen, wenn man keinen töten will.« »Wieso bist du selbst nicht tot, Yonca?« wollte Milton Sharp wissen. »Die Falle, die für dich aufgebaut war, hast du unmöglich überleben können.« »Ja, ich wäre auf den Köder hereingefallen«, gab Yonca zu. »Aber plötzlich tauchte dieser Mann auf, der mich aus der Klinik geholt hatte.« »Harry Small?« »So heißt er wohl. Er gab zu, daß ich mich nur gegen ihn verteidigt hatte. Er muß wohl eingesehen haben, daß er im Unrecht war. Da haben sie die Aktion gegen mich gestoppt.« »Aber wie bist du hergekommen? Du konntest doch nicht wissen, wie dringend wir deine Hilfe brauchten.« »Da war ein Mann, der O’Neil heißt. Der sorgte dafür, daß ich in einer Kiste in ein Flugzeug verladen wurde.« Milton Sharp lächelte. »O’Neil? Sieh an! Der alte Schuft hat wohl Gewissensbisse bekommen. Und in Stockholm hast du dich aus deiner Kiste befreit und zu uns durchgeschlagen.« »Ganz so einfach war das nicht, Milton. Nur sehr selten nahm ich deutliche Schwingungen auf, die mich zu dir leiteten. Immer, 116
wenn sie abbrachen, verlor ich die Richtung. Sonst wäre ich wohl früher eingetroffen.« »Schwingungen? Die müssen durch meine Gedanken an dich ausgelöst worden sein. Und ich bemühte mich, dich völlig aus meinem Gedächtnis zu streichen.« »Gut, daß dir das nicht gelungen ist. Nie wieder wird sich Vexarus gegen die Menschen erheben.« »Und vor allem wird es nicht das Schwarze Heer geben, das der Fürchterliche plante«, ergänzte der Geisterjäger. »Deshalb sind die Opfer nicht vergebens. Wir wollen ihnen danken, indem wir in ihrem Sinne weiterkämpfen.« ENDE
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