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Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur Herausgegeben von Henning Krauß und Dietmar Rieger Band 6,3
Erich Köhler
Das 19. Jahrhundert III Herausgegeben von Henning Krauß und Dietmar Rieger
Freiburg i. Br. 2006
Zweite Auflage Digitale Bearbeitung: Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau
© Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. 2006
Inhalt Charles Baudelaire ................................................................................7 Vor- und Wegbereiter: Die Schule des Parnasse ................................................ 7 Biographische Notizen ....................................................................................... 10 »Vénus noire« und »Vénus blanche« ................................................................ 12 Zu Titel und thematischem Aufbau der »Fleurs du Mal« ................................... 15 » C'est le Diable qui tient les fils qui nous remuent« – zur Erfahrung von gouffre und ennui............................................................................................... 20 Zeit und Erinnerung – die Kunst als Mnemotechnik des Schönen..................... 28 » Correspondances « – zur Theorie der Dichtung als » sorcellerie évocatoire « ....................................................................................................... 31 »Pluviôse« – weiterführende Gedanken zum Thema der »universellen Analogien«......................................................................................................... 35 Das Großstadterlebnis und die Figur des Flaneur – Elemente einer Dichtung der modernité..................................................................................................... 44 Über einige weitere Motive bei Baudelaire: Reise, Traum und Natur ................ 49 Die Rolle der Imagination und das dichterische Selbstverständnis bei Baudelaire.......................................................................................................... 56 »A une passante« – die verpaßte Chance......................................................... 63
Paul Verlaine .......................................................................................70 Comte de Lautréamont ........................................................................81 Arthur Rimbaud....................................................................................88 Abrechnung mit der Tradition............................................................................. 88 »Je est un autre« – die Voyant-Theorie ............................................................. 92 »Je suis au plus profond de l'abîme« – »Une saison en enfer«......................... 98 »Alchimie du verbe« – Entwurf einer neuen Dichtungssprache....................... 100 Das Bild der Venus bei Rimbaud ..................................................................... 109 »Illuminations« und »Une saison en enfer« – das Prosagedicht bei Rimbaud..................................................................................................... 117 »Illuminations« – die entfesselte Revolte......................................................... 119
Stéphane Mallarmé............................................................................127 Biographie und Werk – Einheit in der Trennung .............................................. 127 »Peindre non la chose mais l'effet qu'elle produit« – zur Sprach- und Dichtungstheorie Mallarmés ............................................................................ 129 »L'art seul, limpide et impeccable« – die erste Schaffensperiode Mallarmés ........................................................................................................ 132
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Die zweite Schaffensperiode – das Thema der sterilen Schönheit in der »Hérodiade« .................................................................................................... 138 »L'après-midi d'un faune« – Der Versuch der Verewigung der Schönheit als Urproblematik der Dichtung Mallarmés............................................................ 144 »Igitur« und »Un coup de dés« – der Zufall als Schlüsselwert im Werk Mallarmés ........................................................................................................ 153 »Autre Éventail de Mlle Mallarmé« – Möglichkeiten der Interpretation ............ 164 »Le Nénuphar blanc« – der Traum des nicht stattfindenden Glücks ............... 172
Paul Valéry........................................................................................ 184 Zur Biographie Valérys .................................................................................... 184 Grundzüge der poésie pure bei Valéry ............................................................ 185 »Monsieur Teste« – das Ideal des reinen Denkens ......................................... 192 »La jeune Parque« – zum Antagonismus von esprit und sensibilité ................ 202
Bibliographie ..................................................................................... 211 I. Allgemeines .................................................................................................. 211 II. Charles Baudelaire ...................................................................................... 213 III. Paul Verlaine............................................................................................... 217 IV. Comte de Lautréamont............................................................................... 218 V. Arthur Rimbaud ........................................................................................... 220 VI. Stéphane Mallarmé .................................................................................... 223 VII. Paul Valéry ................................................................................................ 226
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Charles Baudelaire Große dichterische Leistungen, die in der Perspektive des Spätergeborenen ganze Epochen überstrahlen und ihre Schatten über alles Zweitrangige werfen, können nur gewinnen, wenn sie in ihre geschichtliche Umwelt gestellt und von den übrigen literarischen Hervorbringungen ihrer Zeit abgegrenzt werden. Ohne Baudelaire aber, ohne die Fleurs du Mal ist – das hat sich inzwischen herumgesprochen – die moderne Lyrik, und nicht nur die französische, überhaupt nicht zu denken. Baudelaire ist einer der größten Neuerer der Literaturgeschichte – und er ist gleichwohl ein Erbe der Romantik. Daher konnte Hugo Friedrich in seinem Buch Die Struktur der modernen Lyrik für die mit Baudelaire einsetzende moderne Lyrik die Formel von der »entromantisierten Romantik« 1 prägen. Wir können jetzt nicht noch einmal die Wesenszüge der romantischen Dichtung rekapitulieren – wir werden auf diese Frage später immer wieder stoßen-, ein kurzer Blick ist jedoch noch einmal auf eine Dichtergruppe zu werfen, der Baudelaire persönlich immer und in seinen Anfängen auch als Dichter eng verbunden war: ich meine den Parnasse.
Vor- und Wegbereiter: Die Schule des Parnasse Ich erinnere daran, daß Théophile Gautier im Vorwort zu seinem Roman Mademoiselle de Maupin bereits im Jahre 1836 Anschauungen propagiert hatte, die zu den Grundüberzeugungen der Parnassier werden sollten: Die Kunst, so verkündete er, hat nur sich selbst, das Schöne, zum Ziel – l'art pour l'art. Der Inhalt kann in der Kunst nur durch strenge Form realisiert werden; die Form als Kunstschönes aber entzieht sich jedem Utilitarismus. Der Dichter, so meint Gautier also, muß jeden Gedanken an Nützlichkeit ausschalten – kein prodesse mehr. Inhalt wird nur durch Form realisiert. Die Form als Kunst. Die Begriffe der Nützlichkeit und der Moral sind kunstfremde Begriffe. 1856 veröffentlicht Gautier in der Zeitschrift L'Artiste, deren Herausgeber er ist, einen Artikel, in dem er diese Gesichtspunkte zum Manifest formuliert: nous croyons à l'autonomie de l'art; l'art pour nous n'est pas le moyen, mais le but; tout artiste qui se propose autre chose que le beau n'est pas un artiste à nos yeux; nous n'avons jamais pu comprendre la séparation de l'idée et de la forme[...] Une belle forme est une belle idée, car que serait-ce qu'une forme qui n'exprimerait rien? 2
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Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967,S.58. Zit nach: Albert Cassagne, La théorie de l'art pour l'art en France chez les derniers romantiques et les premiers réalistes, Paris 1906 (Neudruck 1979), S. 137. 7
Diese Auffassung von Dichtung gelangt konsequent dazu, das hauptsächliche Wertkriterium in der überwundenen Schwierigkeit zu sehen. Für Gautier, der als Maler und Bildhauer anfing, liegt praktisch wie theoretisch die Analogie zur bildenden Kunst nahe. Der Dichter soll zuerst ein perfekter Handwerker sein, soll alle Mittel und Möglichkeiten von Sprache, Rhythmus und Vers kennen; er soll aus der schwierigsten Materie die reinste Form erarbeiten und damit auch dem schönsten Gedanken zur Existenz verhelfen. 1852 gibt Théophile Gautier eine von diesen Auffassungen geprägte Gedichtsammlung heraus, die den bezeichnenden Titel trägt: Emaux et Camées. In dieser Sammlung steht ein Gedicht, betitelt L'Art, dessen letzte Strophe lautet: Sculpte, lime, ciselle; Que ton rêve flottant Se scelle Dans le bloc résistant! 3
Dieses Gedicht darf als ein Credo der Parnassier gelten. Es drückt genau die Überzeugungen aus, die den Virtuosen der parnassischen Gruppe, Théodore de Banville, zum Kult des reichen Reims führt und nach allen erdenklichen Gedichtformen greifen läßt, an denen er die Kunst der überwundenen Schwierigkeit üben kann. Banville erweckt mittelalterliche lyrische Gattungen wieder: ballade, rondeau, virelai, chant royal; er greift zu der schwierigen Sextine und zu der malaiischen Form des Pantoun. Es ist jedoch – im Gegensatz zu den Romantikern – nur die Formenwelt, nicht aber die Geisteswelt des Mittelalters, die Banville anzieht. Sein Geschmack findet seine Erfüllung in Griechenland und in exotischen Ländern. In der Antike zu Hause ist vor allem auch der bedeutendste unter den Dichtern dieser Gruppe: Leconte de Lisle. Bis zur Revolution von 1848 war Leconte de Lisle als Anhänger der sozialistischen Theorien Fouriers begeisterter Republikaner gewesen; nach dem Scheitern der Revolution zog er sich angewidert in den Elfenbeinturm zurück, wie vor ihm Alfred de Vigny, von dem dieser Ausdruck stammt. Leconte de Lisle ist von einem Pessimismus erfüllt, von einem Haß auf das Christentum, der ihn in die Antike treibt, von einem Haß auf seine Zeit, der nicht geringer ist als derjenige Flauberts. Antike und Heidentum werden für ihn zur geistigen Heimat. Und der Ekel vor seiner Zeit, vor den vermeintlichen Wahrheiten des Fortschritts und der falschen Moral lassen ihn die Kunst erst recht als einen moralfreien, eigenwertigen, autonomen Bereich erkennen, als eine völlige zweckfreie Sphäre der reinen Schönheit, aus der auch jede romantische Expektoration des Ich verbannt und deren Dogma die Kunst der Form und die Kunst für die Kunst ist: l'art pour l'art. Weil die propagierten Wahrheiten der Zeit als Scheinwahrheiten begriffen sind, wird die Kunst jedem ethischen Anspruch entzogen: »Le Beau n'est pas le serviteur du Vrai.« 4 Konsequent formuliert Leconte de Lisle, daß die Kunst ein »geistiger Luxus« sei – »un luxe intellectuel« 5 . 3
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Théophile Gautier, »Emaux et Camées«, in: Poésies Complètes (hrsg. v. René Jasinski), Bd. 3, Paris 1970, S. 130. Charles-Marie-René Leconte de Lisle, Articles-Préfaces-Discours (Hrsg. v. Edgar Pich), Paris 1971, S. 159. Ebd., S. 156.
Diese wenigen Bemerkungen mögen ausreichen, um die Richtung anzuzeigen, die zur Konzeption der poésie pure führen wird. Sie müssen auch genügen, um das Werk Baudelaires zu situieren, der Altersgenosse und Freund der Parnassier war. Die wichtigsten Werke der führenden Parnassier erschienen um und kurz nach 1850. Die Formierung zu einer Dichter»schule« erfolgt erst später; und den Namen »Parnasse« erhält diese Gruppe erst im Jahre 1866, als die erste von drei Gedichtsammlungen erscheint, die den Namen Parnasse contemporain tragen. Neun Jahre vorher aber, im Juli 1857, war bereits jenes Werk erschienen, das den Parnasse zur Episode werden ließ: die Fleurs du Mal. Baudelaire hat mit den Parnassiern manches gemeinsam, wir werden das noch sehen. Und die Fleurs du Mal tragen nicht zufällig die Widmung: Au poète impeccable, au parfait magicien ès lettres françaises, à mon très cher et très vénéré maître et ami Theóphile Gautier avec les sentiments de la plus profonde humilité je dédie ces fleurs maladives. 6
Das ist keine Ironie, sondern aufrichtige Huldigung für einen Dichter, der in Baudelaires Augen das Ideal einer »poésie impeccable«, einer »makellosen Poesie« verkörperte, in welcher der brennende Formwille des Dichters alle Schlacken des Stoffes ausgeglüht hatte. Wie für den Parnasse, so war auch für Baudelaire die bis ins letzte gefeilte Form das Heilmittel gegen die unverbindliche Subjektivität des vorzeitig entlassenen Gefühls, gegen eine Schaustellung des Ich, das sich ungefiltert an die Stelle der Welt setzt. Baudelaire war freilich nicht der Ansicht, das Ich hätte in der Dichtung gar nichts zu suchen, und ebenso wenig hielt er an der parnassischen Überzeugung fest, daß die untadelige Form auch dem nichtigsten Gedanken Bedeutung und Kunstwert verleihe, ja er gelangte zu der Auffassung, daß diese Gedanken der Parnassier überhaupt illusorisch seien und sprach einmal sogar scharf von der »puérile utopie de l'école de l'art pour l'art« 7 . Was aber – so müssen wir fragen –, was hat Baudelaire, was haben die Fleurs du Mal über den Parnasse und über die Romantik hinaus Neues gebracht? Worauf beruht die säkulare Bedeutung, der Umstand, daß mit dieser Gedichtsammlung die moderne Poesie zum Durchbruch kommt? Gedichtformen und Versgestaltung sind – im Ganzen gesehen – bei Baudelaire durchaus parnassisch. Ein erheblicher Teil der verhältnismäßig wenigen Grundthemen der Fleurs du Mal erscheint auch bei den Romantikern oder bereits früher. Mit welchem Recht können wir trotzdem sagen, daß Baudelaires Werk eine Art von Revolution in der Lyrik bedeutet, daß von ihm aus alle wesentlichen Richtungen der modernen Dichtung erklärbar werden? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht in einem Satz zu geben: sie wird erst das Resultat der näheren Betrachtung sein, der wir uns im folgenden widmen müssen. Als vorläufige, summarische, richtige, aber unvollständige Antwort wollen wir zunächst voranstellen, was ein legitimer Erbe Baudelaires, nämlich Paul Valéry, darüber zu sagen wußte. Valéry rühmte die Fleurs du Mal als die erste Gedichtsamm6
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Charles Baudelaire, »Les Fleurs du Mal«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 1, Paris 1975, S. 3. Charles Baudelaire, »Critique littéraire (Pierre Dupont)«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 2, Paris 1976, S. 26. 9
lung, deren Stücke nichts Erzählendes, keine Geschichten und Legenden, keine philosophischen, politischen oder moralischen Ergüsse und fast keine Beschreibungen mehr enthalten; erstmals liege hier deshalb »poésie pure« vor. Und er fährt fort: »tout y est charme, musique, sensualité puissante et abstraite... Luxe, forme et volupté.« 8 Wir wollen, wie gesagt, vorläufig darauf verzichten, diese Bestimmungen weiter auszuführen, und uns vornehmen, sie am Werk selbst zu verifizieren und zu vervollständigen.
Biographische Notizen Wer war nun der Mensch, der diese entscheidende Wende der modernen Dichtung vollbrachte? Das eindrucksvollste Bild seiner Persönlichkeit wird sich aus seinem Werk selbst zusammenfügen. Bei seiner Biographie können und müssen wir uns kurz fassen, so wichtig sie auch ist. Was hier literaturgeschichtlich ans Licht tritt, wäre nicht ohne die ganz besondere Individualität Baudelaires und seine persönliche Erfahrung. Baudelaire wurde am 9. April 1821 in Paris geboren. Sein Vater war 36 Jahre älter als die Mutter, und viele Kritiker sehen in diesem Altersunterschied der Eltern die Ursache für die hypertrophe Sensibilität und die krankhaften Neigungen des Sohnes. Wie dem auch sei – Nervenkrankheiten wurden übrigens von fleißigen Biographen in beiden elterlichen Familien festgestellt –, der Vater starb, als Charles sechs Jahre alt war. Die Mutter war nicht für lange Trauer disponiert und heiratete nach kurzer Zeit einen schmucken Offizier, den späteren Divisionsgeneral Aupick, den unser auf die Liebe der Mutter eifersüchtige Dichter ein Leben lang grimmig gehaßt zu haben scheint. Psychoanalytiker haben an Baudelaire also einen ausgewachsenen, wenn auch für die Dichtung nicht allzu ergiebigen Fall von ÖdipusKomplex zur Verfügung. Die Eltern stecken Charles in ein Internat, aus dem er nach dem Abitur ziemlich rebellisch heimkehrt, mit dem Entschluß, sich unter allen Umständen eines geregelten bürgerlichen Berufslebens zu enthalten. Da er bald eine intensive BohemeExistenz führt, verordnen ihm die Eltern zur Ablenkung 1841 eine Seereise, die ihn zu den Inseln Mauritius und Réunion führt. Die Meeresluft hat ihn aber nicht in der gewünschten Weise geläutert. Heimgekehrt, gibt er die Geldzuwendungen, die ihm ein bescheidenes Auskommen gesichert hätten, großzügig aus. Die Eltern halten es daraufhin für geraten, den jungen Bohemien und Dandy überwachen zu lassen, was diesen wiederum maßlos erbittert und fast traumatisch beeinflußt. 1841, während der Reise, hat er die ersten Gedichte geschrieben, die in die Fleurs du Mal eingehen. Als Kunst- und Literaturkritiker arbeitet er für Zeitungen. Er experimentiert und bereitet die Gedichtsammlung vor durch seine Prosagedichte. Als die Fleurs du Mal erscheinen, wird ihm, so wie fast zur gleichen Zeit Flaubert wegen Madame Bovary, der Prozeß gemacht wegen Verletzung der Moral. Während Flaubert freigesprochen wird, muß Baudelaire eine Geldstrafe bezahlen. Sechs 8
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Paul Valéry, »Situation de Baudelaire«, in: Œuvres complètes, (hrsg. v. Jean Hytier), Bd. 1, Paris 1957, S. 610.
Gedichte werden auf Weisung der gerichtlich bestellten Gralshüter der Moral aus der Erstausgabe der Fleurs du Mal herausgeschnitten 9 . Von wenigen Freunden, wie Banville, als das Genie erkannt, das er ist, vom Publikum mißverstanden, versucht Baudelaire vergeblich, für die Akademie zu kandidieren. Das ist 1861. Seine ohnehin anfällige Konstitution ist durch den Genuß von Opium und Haschisch zerrüttet, den Folgen der Flucht in die »paradis artificiels«, die »künstlichen Paradiese«. Jetzt machen sich auch die Folgen einer nie völlig ausgeheilten Syphilis bemerkbar. Aus Verbitterung gegen seine Umwelt, aber auch in der Hoffnung, durch literarische Vorträge aus seiner Finanzmisere herauszukommen, reist er nach Belgien. Im März 1866 bricht er dort zusammen. Er ist halbseitig gelähmt und fast völlig unfähig zum Sprechen. Er wird nach Paris zurücktransportiert und verbringt in diesem Zustand in einem Krankenhaus noch über ein Jahr, bis ihn am 31. August 1867 der Tod erlöst – im Alter von 46 Jahren. Das sind nur die äußeren Umrisse; sie lassen noch wenig ahnen von der tragischen Zerrissenheit des Menschen Baudelaire, von dem selbstquälerischen Dualismus in seinem Wesen, der sein Leben zwischen die bis zur Verzweiflung durchlebte Antithese Gott – Satan spannte. Wir werden von dem sogenannten Satanismus Baudelaires ebenso noch zu sprechen haben wie von seinem christlichen Sündenbewußtsein und von seinem fast jansenistischen Erbsündenbegriff. Bevor wir jedoch die Betrachtung des Werks selbst in Angriff nehmen, müssen wir noch von einem Erlebnisbereich sprechen, der unauslöschliche Spuren im Werk Baudelaires hinterlassen hat: seinem Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. In seinem Tagebuch, seinem »Journal intime«, wie man es nennen darf, betitelt Fusées – »Raketen« – und Mon cœur mis à nu – »Mein entblößtes Herz«, steht das lapidare Bekenntnis: Le goût précoce des femmes. Je confondais l'odeur de la fourrure avec l'odeur de la femme. Je me souviens... Enfin, j'aimais ma mère pour son élégance. J'étais donc un dandy précoce. 10
Von diesen knappen Sätzen aus ließe sich – übertrieben gesagt – alles deduzieren, was an diesem Werk individuell vermittelt: das überempfindliche Sensorium mit seiner assoziativen Kraft und seiner Konsequenz für die Synästhesie, das Wesen des Dandy, die Verachtung, ja den Haß auf die Natur als dem Inbegriff des an sich Bösen. Wir werden darauf zurückkommen. Jetzt wollen wir nur festhalten die permanente Faszination durch die Frau, die für Baudelaire das Medium eines stets enttäuschenden Weltverständnisses ist und in der sich in spezifischer Weise der Dualismus als Grunderfahrung Baudelaires artikuliert.
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Hierzu lese man das ausgezeichnete (und seinen Gegenstand erschöpfende) Buch von Klaus Heitmann, Der Immoralismusprozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert, Bad Homburg-Berlin-Zürich 1970. »Fusées«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 661. 11
»Vénus noire« und »Vénus blanche« In den Fleurs du Mal sind die Bilder mehrerer Frauen erkennbar. Wir wollen es nicht den biographischen Neuigkeitsjägern gleichtun und die Andeutungen der Gedichte in intime Lebensdetails zurückübersetzen, was ohnehin ein überaus fragwürdiges Unternehmen wäre. Aber die Fleurs du Mal sind nicht nur ein thematisch – ursprünglich sogar zahlenmäßig – streng komponiertes Buch, sondern diese thematische Struktur ist gleichsam unterschichtet oder durchschichtet durch eine biographische Struktur. Die Trägerinnen dieser biographischen Struktur sind zwei Frauen, die für Baudelaire die Attraktion des schillernd-schönen Bösen einerseits und des Erhabenen, Reinen, Lichtvollen andererseits darstellten: Dämon und Engel, Sünde und Gnade, schwarze und weiße Venus 11 . Die schwarze Venus hieß Jeanne Duval und dürfte eine Mulattin gewesen sein. Man weiß nicht viel von ihr, denn sie scheint aus dunklen, aber doch erratbaren Gründen ihren Namen öfters gewechselt zu haben. Faßt man die Andeutungen Baudelaires, seine eigenen Zeichnungen, Zeugnisse der Zeitgenossen und die Ergebnisse der biographischen Forschung zusammen, dann kann man sagen, daß Jeanne Duval eine fast tierhaft, katzenhaft erotische Frau war, schwarzhaarig und verlogen, attraktiv und verdorben, betörend, trunksüchtig und geistig minderbemittelt. Aber Jeanne bot Baudelaire neben dem Leiden auch sexuelle Erfüllung und damit zeitweilig Vergessen. Ihre animalische Sexualität ließ keine Wünsche offen und brachte wenigstens vorübergehend die Ruhe der befriedeten Sinne. Das Gedicht Le Léthé ist in dieser Hinsicht als autobiographisches Zeugnis zu werten: Viens sur mon cœur, âme cruelle et sourde, Tigre adoré, monstre aux airs indolents...
So beginnt dieses Gedicht, mit der Anrufung des tierhaften, unverständigen, gleichgültigen Dämons, dessen Sinnlichkeit gleichwohl Vergessen verspricht, Erfüllung der Sehnsucht nach Schlaf zur Überbrückung des unerträglichen Lebens, Frieden im zeitweiligen Tod des unersättlichen Begehrens: Je veux dormir! dormir plutôt que vivre! Dans un sommeil aussi doux que la mort...
L'oubli puissant habite sur ta bouche, Et le Léthé coule dans tes baisers. 12
Die jahrelange Hörigkeit gegenüber Jeanne Duval verwandelte sich in Dankbarkeit. Als Baudelaire, schon 1845, einen Selbstmordversuch unternimmt, vermacht er vorher der schwarzen Venus alles, was er besitzt. Und noch auf dem Sterbebett trägt er schwer daran, daß er nicht mehr für sie sorgen kann. Vielleicht zeichnen 11
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Vgl. zur Venus bei Baudelaire: »Cauchemar«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 207; »L'école païenne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 47; »Richard Wagner et Tannhäuser à Paris«, ebd., S.790. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 155 f.
die Biographen doch ein zu düsteres Bild von dieser Frau. Wie dem auch sei – sie ist durch die Fleurs du Mal unsterblich geworden. Baudelaires menschliche Bindung an die »schwarze Venus« war eine lebenslängliche; sie konnte keine Enttäuschung mehr bringen, weil sie die Enttäuschung des Lebens selbst inkarnierte – ganz anders als sein Verhältnis zu der angebeteten »weißen Venus«, dem Gegenbild der dirnenhaften Jeanne Duval, Mme Apollonie Sabatier. Ich habe sie gesehen, diese Madame Sabatier, in Bronze auf einem Sarkophag, in Lebensgröße, liegend, nur mit einer Schlange bekleidet, in einem Salon von Monsieur Sabatier, ihrem Nachfahren, in Montpellier. Es konnte Baudelaire kaum verborgen bleiben, daß diese superbe Schönheit nur deshalb einen Salon für Künstler und Schöngeister zu unterhalten vermochte, weil sie sich von einem reichen Bankierssohn füllig aushalten ließ und auch sonst nicht gar so spröde war. Für Baudelaire aber wurde sie zum Gegenstand einer Verehrung und Anbetung, an dem sich wie Kristalle alle Vorstellungen ansetzten, die Baudelaire von Reinheit, Unschuld, Güte und Geist besaß. Mme Sabatier verhalf der spirituellen Sehnsucht Baudelaires, seinem geheimen Drang nach platonischer Idealität, zum Ausbruch. Er war längst Besucher ihres Salons, als er eines Tages, mit einem anonymen Begleitbrief in verstellter Schrift, ein Gedicht an sie sandte. Es handelt sich um das Gedicht, das in den Fleurs du Mal den Titel A celle qui est trop gaie trägt. Dieses erste an Mme Sabatier gerichtete Gedicht ist eines der sechs Stücke, die vom Gericht als unmoralisch verurteilt wurden. Es bedarf einer Erklärung, da es ja doch an Baudelaires Ideal der Reinheit gerichtet war. Es schließt mit den drei folgenden Vierzeilern: Ainsi je voudrais, une nuit, Quand l'heure des voluptés sonne, Vers les trésors de ta personne, Comme un lâche, ramper sans bruit,
Pour châtier ta chair joyeuse, Pour meurtrir ton sein pardonné, Et faire à ton flanc étonné Une blessure large et creuse,
Et, vertigineuse douceur! A travers ces lèvres nouvelles Plus éclatantes et plus belles T'infuser mon venin, ma sœur! 13
Das ist nicht gerade ein platonischer Seelenerguß, vielmehr gehört dieser Gedanke von dem Liebhaber, der ins Fleisch der Geliebten eine tiefe Wunde schlägt, um ihr durch so geschaffene »neue Lippen« sein Gift einzuflößen, in den Vorstellungskreis des Marquis de Sade, dem wir bei Baudelaire noch öfter begegnen werden und der ein gutes Teil dessen ausmacht, was die Forschung den »Satanismus« bei Baudelaire nennt. Daß er in einem Gedicht des Sabatier-Zyklus auftaucht, fin13
Ebd., S. 157. 13
det seine Erklärung darin, daß Baudelaires Schönheitsideal, das er doch in Mme Sabatier verkörpert sehen will, von ihr nicht völlig gedeckt wird. Es ist zugleich auch die Provokation durch die Unschuld, das Natürliche. Den Schlüssel liefert die Zeile: »Pour châtier ta chair joyeuse.« Mme Sabatier ist ihm zu unkompliziert lebensfreudig, zu heiter. Ihr fehlt der Schmerz, die Melancholie, die für Baudelaire ein unabdingbares Ingrediens der »Beauté« ist. Was keine Spur des »malheur« trägt, ist wie eine Beleidigung des leidenden Menschen und provoziert die Züchtigung. Auch im Werk des Marquis de Sade provoziert nichts so sehr die Lust zur Tortur wie die Reinen, Glücklichen, Heiteren, Unschuldigen. Baudelaires spiritualistische Exaltation trägt in diesem Falle jedoch den Sieg davon. Das zweite Gedicht, das er an Mme Sabatier sendet, abermals anonym, erhält später den Titel Réversibilité. Es ist ein Hymnus, der die geliebte Frau mit allen Merkmalen eines engelhaften Wesens ausstattet, an das Angst, Unglück, ennui nur als Fragen des Dichters sich heranwagen, aber nicht mehr als Forderungen. Jede der fünf fünfzeiligen Strophen des Gedichts beginnt und schließt mit der Apostrophierung des Engels: Ange plein de gaieté [...] Ange plein de bonté [...] Ange plein de santé [...] Ange plein de beauté [...] Ange plein de bonheur, de joie et de lumières[...] 14
Ein vielseitiger Engel! Es ist nur folgerichtig, wenn sich zu dem Engel des Glücks, der Freude und des Lichts die neuplatonische Vorstellung von seinen lebenspendenden Emanationen hinzugesellt: David mourant aurait demandé la santé Aux émanations de ton corps enchanté...
In späteren Gedichten wird Mme Sabatier zur » Déesse« 15 , zum »Etre lucide et pur« 16 , zum »Ange gardien, [la] Muse et [la] Madone« 17 . Theologisch gesättigte christliche Vorstellungen also, verbunden mit der Gnade des Dichtertums, der Muse. Dabei war sich Baudelaire selber zuweilen klar, daß er nur ein spirituelles Idealbild, geboren aus verzweifelter Hoffnung, in diese Frau hineinprojizierte. In Briefen an Mme Sabatier spricht er von der »rêverie excitante et purifiante« 18 , deren Gegenstand sie ist, und gesteht: »Je suis un égoîste, je me sers de vous.« 19 Und später: » Vous êtes plus qu'une image rêvée et chérie, vous êtes une superstition« 20 – Objekt eines »Aberglaubens«, gar mit diesem identisch – »vous êtes...«. Das ist die Einsicht, daß diese Frau, unabhängig von ihrer wirkli14 15 16 17 18
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Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 46 (»L'aube spirituelle«). Ebd. Ebd., S. 43 (»Spleen et Idéal XLII«). Charles Baudelaire, »Lettre à Madame Sabatier, 8.5.1854«, in: Correspondance (hrsg. v. Claude Pichois, J. Ziegler), Bd. 1, Paris 1973, S. 276. Ebd. »Lettre à Madame Sabatier, 18.8. 1857«, ebd., S. 422.
chen Person, für Baudelaire ein quasi religiöses Surrogat war, letztlich weiter nichts als der nach Inkarnation verlangende Gedanke an die Möglichkeit der Reinheit und der Idealität. Wie wenig Mme Sabatier selbst eine solch sublime Rarität darstellte, wie sehr sie nur Anlaß war, zeigt der Umstand, daß sich Baudelaires Traum vom engelhaften Frauenwesen einige Zeit zuvor an eine ganz andere Frau hatte heften können: an die Schauspielerin Marie Daubrun, die Geliebte des Dichterfreundes Théodore de Banville. An diese Marie Daubrun schrieb Baudelaire Sätze, die sich teilweise wörtlich in den späteren Gedichten für Mme Sabatier wiederfinden: Vous êtes mon unique reine, ma passion et ma beauté, vous êtes la partie de moimême qu'une caresse spirituelle a formée... Soyez mon ange gardien, ma Muse et ma Madone, et conduisez-moi dans la route du Beau. 21
Die grausame Desillusion erfolgte, als Mme Sabatier selbst das Bild zerstörte, zu dem Baudelaire sie sublimiert hatte. Sie bot sich ihrem Verehrer freundwillig an und sank damit in die banale Natürlichkeit zurück, aus der heraus Baudelaire sie in den Himmel entrückt hatte. Tags darauf schrieb Baudelaire an sie: »il y a quelques jours, tu étais une divinité, ce qui est si commode, ce qui est si beau, si inviolable. Te voilà femme maintenant.« 22 Das sind sehr zweifelhafte Komplimente für eine Frau, die sich soeben im Bewußtsein ihres Wertes verschenkt hat. Für uns hat dieses Ereignis freilich eine wesentlich größere Bedeutung als nur die einer biographischen Episode. Das transzendierte Frauenbildnis sank, nach einer unüberbietbaren Exaltation, in die Trivialität zurück, in das Animalische, und das heißt – was noch schlimmer war für Baudelaire – in das Natürliche, Das Natürliche war für ihn – wir werden davon noch zu reden haben – das Böse, der absolute Gegensatz der Kunst und der Reinheit, war das Dämonische, Satanische, nachdem es einmal Hoffnung gewesen war, sogar politische Hoffnung, vor dem Staatsstreich Napoleons. Und so sank das Bild der Mme Sabatier in einen Abgrund, in dem die Frau – als das Naturhafte – für Baudelaire zum Gegenstand der Abscheu, zum Inbegriff des Sündhaften in einem ursprünglich christlichen Sinne wurde – ein Gedanke, der ihn in seinem Tagebuch den furchtbaren Satz formulieren ließ: »La femme est naturelle, c'est-à-dire abominable.« 23
Zu Titel und thematischem Aufbau der »Fleurs du Mal« Betrachten wir nun zunächst den Titel von Baudelaires Hauptwerk. Baudelaire hat zuerst daran gedacht, seiner Gedichtsammlung den Titel Les Lesbiennes zu geben. Auf dieses Thema komme ich noch zurück. Der zweite Titel, an den Baudelaire dachte, war Les Limbes. Limbus bedeutet in einer pseudotheologischen Tradition einen Ort im Jenseits, der weder der Hölle noch dem Fegefeuer, noch dem Paradies zugehört, einen Ort, dessen Bewohner weder an Höllenpein noch an 21 22 23
»Lettre à Marie Daubrun, début 1852 (?)«, ebd., S. 182. »Lettre à Madame Sabatier, 31. 8. 1857«, ebd., S. 425. »Mon cœur mis à nu«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 677. 15
himmlischen Freuden teilhaben. Dort halten sich die Kinder auf, die ohne Taufe starben, unschuldig zwar, aber doch nicht befreit von der Erbsünde, desgleichen – etwa bei Dante – die guten Nichtchristen, die großen Dichter und Weisen der Antike, wie Virgil, Homer, Horaz. Was Baudelaire zu diesem Titel bestimmte, mag die Vorstellung der ohne Schuld verwirkten Gnade, des unverdienten Ausschlusses aus dem Paradies, aus dem Glück sein. Aber die Seelen, die den Limbus bewohnen, sind auch nicht unglücklich, sie kennen keinen gouffre, keinen ennui. Und das muß den Dichter bewogen haben, diesen Titel wieder aufzugeben. Zu Unrecht machte daher der bedeutende französische Kritiker Albert Thibaudet 24 Baudelaire aus dem Aufgeben dieses Titels – Les Limbes – einen Vorwurf; im Limbus konnte Baudelaire keine »Blumen des Bösen« anpflanzen. Für die Wahl – und die schließliche Verwerfung dieses Titels Les Limbes – war indessen noch etwas anderes ausschlaggebend. Hartmut Stenzel 25 insistiert mit triftigen Gründen auf der Tatsache, daß ein »limbischer« Gesellschaftszustand, der durch einen harmonistischen abzulösen wäre, in der Gesellschaftstheorie des Frühsozialisten Fourier eine Rolle spielt. Daß Baudelaire sich zur Blütezeit des Fourierismus, zwischen 1840 bis 1850, für fourieristische Ideen engagierte, steht fest. Wahl des Titels wie seine Ersetzung durch einen anderen – Les Fleurs du Mal – wären demnach im Zusammenhang mit Baudelaires Hoffnungen und ihren Desillusionen zu sehen. Den endgültigen Titel – Les Fleurs du Mal – hat Baudelaire der Überlieferung zufolge auf den Vorschlag seines Freundes Hippolyte Babou gewählt. In einem Brief Baudelaires vom 7. April 1855 tritt er zum ersten Male auf 26 . Das Oxymoron, das dieser Titel enthält, könnte älter sein; es könnte christlich sein in dem Sinne, daß das Böse sich dem Menschen unter der Maske des Schönen nähert, um zu verführen und zu verblenden. Seit Miltons Paradise Lost tritt der Teufel, vor allem in der Romantik, in verführerisch-angenehmer Gestalt auf, ohne Bocksfuß und Höllengestank. Und bereits seit Cazottes Roman Le Diable amoureux erscheint er auch wieder – wie schon einmal im Mittelalter – als hinreißend schöne Frau. Aber für Baudelaire waren die leuchtenden Blumen des Bösen nicht nur eine Schönheit des Scheins. Das Böse gehörte für ihn selbst real zum Wesen der Welt; er ist in dieser Hinsicht ein Platoniker mit umgekehrtem Vorzeichen; und so wie er das Häßliche in seine Ästhetik einbezog – wie schon vor ihm Victor Hugo das Groteske –, so wollte er die Schönheit des Bösen für die Kunst entdecken, wollte – wie er es einmal formuliert – » extraire la beauté du Mal« 27 . Der Titel involviert also bereits auch ein ästhetisches Bekenntnis. In dem Gedicht Hymne à la Beauté ist die Schönheit ausdrücklich mit dem Bösen in Beziehung gesetzt:
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Dazu: Albert Thibaudet, Histoire de la littérature française de 1789 à nos jours, Paris 1936, S. 327ff. Hartmut Stenzel; Der historische Ort Baudelaires. Untersuchungen zur Entwicklung der französischen Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1980 (Überarb. Phil. Diss. Freiburg 1978). »Lettre à Victor de Mars, 7.4. 1855«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 312. »Projets de préfaces«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 181.
Tu marches sur des morts, Beauté, dont tu te moques; De tes bijoux l'Horreur n'est pas le moins charmant... 28
In seinem Tagebuch, an der Stelle, wo er eine Definition seines Schönheitsbegriffs niederlegt, einer Konzeption der »Beauté«, die – als »moderne«, wie er sagt – das »malheur« einschließt, heißt es zum Schluß: »il me serait difficile de ne pas conclure que le plus parfait type de Beauté virile est Satan – à la manière de Milton.« 29 So ist, ästhetisch, die Schönheit des Bösen keine solche des bloßen Scheins. Die Schönheit des Bösen ist eine faszinierende Realität, und sie ist integrierender Bestandteil der modernité. Im Anschluß daran möchte ich eine Vermutung vorbringen, die meines Wissens noch nicht angestellt worden ist: die, daß der Titel Fleurs du Mal letztlich – als eine Umkehrung – auf Gérard de Nerval zurückweist. Baudelaire war mit Nerval gut bekannt, zeitweilig auch befreundet. Daß er sein Werk kannte, ist gewiß. Das berühmte Gedicht Correspondances hängt eng mit Nervals Sonett Vers dorés zusammen. Es ist vielleicht der einzige gravierende Mangel in dem Buch Hugo Friedrichs über die moderne Lyrik, daß es bei der Behandlung der Vorgänger Gérard de Nerval kaum erwähnt. Denn sehr wesentliche Elemente der neuen lyrischen Sprache Baudelaires sind bei Nerval vorgebildet. Nervals Vers dorés, deren Motto das pythagoreische Wort »Alles ist beseelt« bildet, verkündet eine Einheit der Dinge hinter den Dingen, die Allbeseeltheit, die »Entsprechung«, die »correspondance« aller Dinge, deren »Seelen« eine Kette von Geistern des Lichts oder der Dunkelheit sind, die durch die Dinge auf die Welt wirken. Ein Vers dieses Sonetts lautet: »Chaque fleur est une âme à la Nature éclose.« 30 Für Nerval sind die Seelen oder Geister, die sich in Dingen oder Ideen inkorporieren, böse oder gut. Diese Ambivalenz dessen, woraus der Dichter die Schönheit holt, ist bei Baudelaire nicht aufgehoben. Man denke nur an folgende Verse aus der Hymne à la Beauté: Viens-tu du ciel profond ou sors-tu de l'abîme, Ô Beauté! ton regard, infernal et divin, Verse confusément le bienfait et le crime...
Und: Sors-tu du gouffre noir ou descends-tu des astres? 31
Aber die Überzeugung Nervals, daß in den Dingen ein »Dieu caché« stecke, dieser pantheistische Polytheismus ist bei Baudelaire aufgegeben, der nicht mehr von einer Wiederkunft der heidnischen Götter träumen kann wie noch Gérard de Nerval. Die Beseeltheit der Natur ist für ihn eine böse, und die schöne Erscheinung der Blume mußte ihm mehr die Blüte aus dem Treibhaus des Bösen sein. Der Titel 28 29 30
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»Les Fleurs du mal«, ebd., S. 25. »Fusées«, ebd., S. 658. Gérard de Nerval, »Vers dorés«, in: Œuvres complètes, (hrsg. v. Albert Béguin, Jean Richer), Bd. 1, Paris 31960,S.8. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 24. 17
Fleurs du Mal wäre dann die von dem Baudelaireschen Naturbegriff bedingte Umkehrung der Nervalschen Idee von der Allbeseeltheit. Nerval hatte unter dem Zwang gedichtet, von einer modernen, entfremdeten Welt noch einmal Besitz zu ergreifen. Er versuchte es sozusagen radikal, indem er die Natur und die Dinge beseelte, um sie erschließbar zu machen. Bei Baudelaire, dem die Welt der Dinge mit noch größerer Macht über den Menschen entgegentritt, ist auch die Seeleneinheit hinter diesen Dingen feindlich und böse geworden. Und die Kunstschönheit selbst kann nur noch den »Blumen des Bösen« abgerungen werden. Was diese »Blumen« nun konkret in der Gedichtsammlung bedeuten, das darf man vielleicht einer Verteidigungsschrift von Baudelaires engem Freund Asselineau entnehmen, der folgendes schreibt: Les Fleurs du Mal? les voici: c'est le spleen, la mélancolie impuissante, c'est l'esprit de révolte, c'est le vice, c'est la sensualité, c'est l'hypocrisie, c'est la lâcheté. 32
Baudelaire selbst nannte sein Buch ein »livre atroce [...] où j'ai mis tout mon cœur, toute ma tendresse, toute ma religion [...], toute ma haine.« 33 Hinter »religion« steht freilich – in Klammern – das Adjektiv »travestie«. Die Fleurs du Mal sind – ich habe das schon erwähnt – ein streng komponiertes Buch; für die Erstausgabe hatte Baudelaire sogar die symbolische Zahl der Vollendung vorgesehen: genau hundert Gedichte. Diese Zahl hat Baudelaire nicht beibehalten, gleichwohl kann man aber mit Barbey d'Aurevilly, einem Zeitgenossen und Kritiker Baudelaires, von einer »architecture secrète« 34 sprechen. Der thematische Aufbau ist indessen ziemlich klar, obwohl nicht jedes einzelne Stück von vorneherein mit dem Blick auf den Ort, an den es kommen sollte, konzipiert wurde. Die Fleurs du Mal bestehen aus sechs Teilen oder besser Gruppen verschiedenen Umfangs. Teil I ist überschrieben: Spleen et Idéal. Stefan George hat es übersetzt mit »Trübsinn und Vergeistigung« 35 . Die Bedeutung von spleen überschneidet sich mit derjenigen von ennui. Walter Benjamin hat ihn folgendermaßen definert: »Der Spleen ist das Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht.« 36 Idéal aber ist – mit George zu sprechen – die »Vergeistigung«, mit den Worten Baudelaires: die »aspiration vers l'infini« 37 . Das Gegensatzpaar »spleen – idéal« schließt zugleich – das ist kaum zuviel gesagt – den Dualismus Gott – Satan mit ein. Diese erste Gedichtgruppe Spleen et Idéal entwickelt in der Tat die Thematik von Größe und Elend des Menschen, die » condition humaine« in der Tiefensicht Baudelaires. Der zweite Teil ist überschrieben Tableaux parisiens. Hier erscheint die Großstadt als eine ungeheure Allegorie des menschlichen Unglücks und zugleich als eine neue Quelle dichterischer Schönheit. Wir werden diesem Teil besondere Aufmerk32
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»Dossier des >Fleurs du mal<: Articles justificatifs«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1205. »Lettre à Narcisse Ancelle, 18.2. 1866«, in: Correspondance (hrsg. v. Claude Pichois, J. Ziegler), Bd. 2, Paris 1973, S. 610. Jules-Amédée Barbey d'Aurevilly, Les Œuvres et les hommes, Paris 1862, S. 381. Stefan George, Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Umdichtungen, Gesamtausgabe der Werke, Bd. 13-14, Berlin 1930, S. 7. Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S.474. »Salon de 1846« in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 421.
samkeit widmen müssen, weil hier nicht nur die Großstadt zum erstenmal als ein modernes Phänomen sich der Dichtung aufzwingt, sondern vor allem auch deshalb, weil damit – über diesen Teil der Fleurs du Mal hinausgreifend – zum erstenmal das von der großstädtischen Masse bestimmte Menschenbild zum Gegenstand der Lyrik, zugleich aber auch zu ihrem Subjekt wird. Das ist einer der revolutionären Vorgänge in der Baudelaireschen Dichtung, dessen Tragweite als erster Walter Benjamin voll erkannt hat. Die dritte Gruppe wird durch den Sammeltitel Le vin zusammengefaßt. Der Wein steht stellvertretend für die Möglichkeiten der Flucht aus dem Leben in den bewußt herbeigeführten Rausch, steht für die anderen Stimulanzien, Opium, Haschisch, Alkohol. Er bezeichnet die Evasion aus dem unerträglichen Leben in die künstlichen Paradiese, die »paradis artificiels«, die Surrogate für das verlorene Paradies, dem anders keine Zukunft mehr beschieden ist. Die künstlichen Paradiese gehen jedoch unmerklich über in die Besessenheit durch das Laster, in den Verfall an das Böse, die Attraktion durch die Verführung, das heißt in die Konsequenz aus der Überzeugung, daß die Unmöglichkeit der Erlösung von Schuld, von dem schuldlosen Schuldzustand der »condition humaine«, die Unfähigkeit zum sündefreien Leben als menschliche Bestimmung sich das Recht nimmt, sich am Bösen selbst schadlos zu halten. Dieser vierte Teil trägt die Überschrift, die dem Ganzen den Titel gab: Fleurs du Mal. Resignation ist indessen nicht die einzige mögliche Antwort auf die Verdammnis: die zweite ist die Empörung. Die Romantiker hatten Satan – oder Lucifer, den »Lichtbringer« – schon teilweise nicht als den an sich bösen, sondern als den verzweifelten Empörer gegen Gott begriffen, so wie sie auch Christus als den von Gott Geopferten und Verlassenen verstanden. Satan steht als Symbol für den nicht durch eigene Schuld, sondern durch Gottes Willkür gefallenen Engel, der sich gegen einen unbegreiflichen Ratschluß – eben den der Erbsünde, des non »posse non peccare« – empört. Und so lautet die Überschrift der Gedichtgruppe, die den trotzigen Aufruhr gegen Gott zum Thema hat, Révolte. Hier ist gleichsam Camus' »homme révolté«, der gegen die Absurdität des Schicksals aufbegehrende Mensch, vorgebildet. Für Baudelaire aber ist- anders als für den Nachfahren Camus, und gleich dem Zeitgenossen Flaubert – die Dimension der Zukunft verschlossen. Was das Leben bereithält, ist gewiß: die Hoffnungslosigkeit. Ungewiß, und darum allein noch Hoffnung bergend, ist nur der Tod. Und so lautet der Titel der sechsten und letzten Gruppe der Fleurs du Mal: La Mort. Das letzte Gedicht dieser Gruppe La Mort und damit auch der Abschluß des sinnvoll-architektonisch komponierten Ganzen, heißt: Le voyage. Die »Reise« aber ist für Baudelaire die Reise ins Unendliche – »voyage à l'Infini«, einzig denkbarer Ausweg. Himmel und Hölle fallen vertauschbar zusammen in der Perspektive des exilierten menschlichen Daseins, und nur das absolut Unbekannte enthält noch das Versprechen auf einen Sinn. So sind die beiden letzten Strophen der Fleurs du Mal zu verstehen mit ihrer Apostrophierung des Todes. Der Tod als Kapitän, der das Lebensschiff zu neuen Horizonten führt: Ô Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre! Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons! Si le ciel et la mer sont noirs comme de l'encre, 19
Nos cœurs que tu connais sont remplis de rayons! Verse-nous ton poison pour qu'il nous réconforte! Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Au fond de l'Inconnu pour trouver du nouveau! 38
Dieses letzte Wort der Fleurs du Mal, das »nouveau«, das »Neue« in den Tiefen des Unbekannten, zu dem der Tod führt, hat Baudelaire selbst durch Kursivdruck herausgehoben. Himmel oder Hölle! – der Abgrund – »gouffre« – erweist sich als das Unbekannte, dem allein das Neue sich auftut. Am Pathos, mit dem das »Neue« aufgerufen wird, ungeachtet seiner unbekannten Qualität – »Enfer ou Ciel« –, an diesem Pathos wird die ganze Verzweiflung an der Gegenwart sichtbar. Das Neue allein verheißt eine letzte Hoffnung, die im Alten nicht mehr aufzufinden ist. Damit ist der Aufbau in seinen Hauptteilen summarisch beschrieben und provisorisch charakterisiert. Es wäre ein Vergehen gegen den Geist der großen Dichtung, wenn wir uns damit begnügen wollten.
» C'est le Diable qui tient les fils qui nous remuent« – zur Erfahrung von gouffre und ennui Wir wollen nun – in der Folge dieser Teile – einzelne Gedichte oder einzelne Themen herausgreifen und näher in Augenschein nehmen. Indem wir so verfahren, folgen wir der kompositorischen Absicht des Autors, dem Kunstwillen, der sich in dieser Architektur manifestiert und der sich in dieser Intention an den Leser wendet. Unsere Interpretation muß freilich auch vor- und zurückgreifen und unter dem Gesetz einer unabdingbaren Prämisse stehen: nämlich der stetigen Anwendung der ästhetischen Theorie Baudelaires auf seine dichterische Praxis. Wenn die umfang- und ergebnisreiche Baudelaire-Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte noch an einem methodischen Fehler leidet, so ist es derjenige, Baudelaires Gedichte und seine Poetik voneinander getrennt zu betrachten. Wir wollen diesen Fehler möglichst vermeiden. Das bedeutet aber, daß wir bei jeder Zeile, die wir uns vornehmen, stets Baudelaires ästhetische Theorie im Auge behalten. Baudelaire war nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Kritiker und Kunsttheoretiker von höchstem Rang. Und so werden wir immer wieder auf seine Prosaschriften, auf seine Tagebücher, auf seine Literaturkritiken und auf seine Besprechungen derzeitgenössischen Kunstausstellungen zurückgreifen. Wir wollen dies nicht systematisch tun, sondern jeweils bei Gelegenheit der Gedichte selbst. Fangen wir an, womit Baudelaire selbst angefangen hat: mit dem Einleitungsgedicht, der »Préface«, die den Titel trägt: Au lecteur. Die Welt erscheint hier als Tummelplatz der Dummheit, des Irrtums, der kaum oder nur um der Wollust des Gewissensbisses willen bereuten Sünde; und Satan Trismegistos wiegt auf dem Kopfkissen des Bösen die verzauberten Köpfe der Menschen. Der Teufel hält alle Fäden unseres Handelns in den Händen: »C'est le Diable qui tient les fils qui nous 38
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»Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 134 (»Le voyage«).
remuent!« 39 Die Menschen sind die Marionetten Satans. Jeden Tag kommen wir, ohne zu erschrecken, durch stinkende Finsternis der Hölle näher. Diese Zeilen lassen keinen Zweifel über den Gegenstand der Fleurs du Mal: die von Satan beherrschte Menschheit, die von Natur aus böse ist. Baudelaire rühmt in seinen Notes nouvelles sur Edgar Poe an dem von ihm so hoch verehrten amerikanischen Dichter, er habe »imperturbablement affirmé la méchanceté naturelle de l'Homme.« 40 Er habe die » Perversité naturelle« 41 erkannt, die es »bewirke, daß der Mensch ohne Unterlaß zugleich Mörder und Selbstmörder, Opfer und Henker« sei. In den nachträglichen Entwürfen für ein Vorwort, das also das Einleitungsgedicht Au lecteur ergänzen oder kommentieren sollte, aktualisiert Baudelaire den Gedanken von der Herrschaft des Teufels, indem er jene direkt auf sein Jahrhundert bezieht: »Il est plus difficile d'aimer Dieu que de croire en lui.« 42 Umgekehrt muß es heißen: il est plus difficile pour les gens de ce siècle de croire au Diable que de l'aimer. Tout le monde le sert et personne n'y croit. Sublime subtilité du Diable. 43
In den bereits genannten Notes nouvelles sur Edgar Poe schreibt Baudelaire: »La nature ne fait que des monstres...« 44 Die Natur und der von ihr erzeugte unerlöste Mensch sind böse, und wenn unser Dasein noch nicht völlig von Gewalt, Mord und Feuer beherrscht ist, dann nur, weil wir nicht kühn genug dazu sind: Si le viol, le poison, le poignard, l'incendie, N'ont pas encor brodé de leurs plaisants dessins Le canevas banal de nos piteux destins, C'est que notre âme, hélas! n'est pas assez hardie. 45
Baudelaire zu verdächtigen, daß die Gedanken dieser Strophe sein Wunschbild ausdrückten, wäre Wahnwitz. Diese Vorstellung von der Erfüllung des bösen Naturtriebs taucht aus der gleichen Verzweiflung ans Licht, die den hierin bis zur äußersten, furchtbaren Konsequenz gehenden Marquis de Sade die Behauptung aufstellen ließ, » [qu]'il ne se commettra jamais assez de crimes sur la terre en égard de la soif ardente que la Nature en éprouve.« 46 Georges Blin hat in seinem Buch Le sadisme de Baudelaire 47 nachgewiesen, daß die zuletzt zitierte Baudelaire-Strophe direkt an Sade orientiert ist. Sade hat die Natur als den Inbegriff des Bösen gehaßt, und um ihrer vermeintlichen Allmacht willen hat er den ohnmächti-
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Ebd., S. 5. »Etudes sur Poe«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 322. Ebd., S. 323. »Projets de préfaces«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 182. Ebd., S. 182f. »Etudes sur Poe«, in Œuvres complètes, Bd. 2, S. 325. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 6 (»Au lecteur«). Donatien-Alphonse-François marquis de Sade, »Histoire de Juliette ou les prospérités du vice«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Jean-Jacques Pauvert), Bd. 20, Paris 1967, S. 325. Georges Blin, Le sadisme de Baudelaire, Paris 1948. 21
gen Gott durch ein » être suprême en méchanceté« 48 ersetzt. Baudelaires Angst, daß die Welt vom Teufel beherrscht und Gott zu schwach oder nicht vorhanden sein könnte, hängt ebenso mit diesen Gedanken Sades zusammen wie mit der Erfahrung jener Romantiker, für die Gott stumm und grausam geworden war. In Gérard de Nervals Zyklus Le Christ aux oliviers und Alfred de Vignys Gedicht Le mont des oliviers schweigt Gott der Vater auf die verzweifelte Frage des Sohnes am Ölberg – er schweigt, weil auch Welt und Natur dem Menschen keine Antwort auf seine Frage mehr geben. Natur und Gottheit überschneiden sich seit Pantheismus und Frühromantik im Bewußtsein des Menschen, dem die Offenbarung der Orthodoxie nicht mehr ausreicht zur religiösen Zuversicht. Schon bei den späten Romantikern wird manifest, daß die Natur nicht einmal mehr als Echo der sie anrufenden Seele taugt. Das Industriezeitalter bewirkt mit der unheimlich wachsenden Beherrschung der Natur zugleich deren Verdinglichung und damit Entfremdung, weil, wie wir seit Marx wissen, ihre Aneignung durch entfremdete Arbeit erfolgt. Das negative Naturbild ist Projektion der von der Verdinglichung erfaßten Gesellschaft bzw. deren Erfahrung. Die Dichtung früherer Epochen, etwa die Lyrik des Mittelalters, wußte sich mit ihrer natürlichen Umwelt so einig, daß sie auf ihre Nennung verzichten oder sie zur einleitenden Jahreszeitentopik stilisieren konnte, die ein apriorisches Einverständnis der Schöpfung mit dem Menschen bezeugte. Moderne Lyrik hat mit all dem brechen müssen; sie tut es radikal mit Baudelaire, nach dem monumentalen Versuch der Romantik, der Natur noch die Antwort des Vertrauten zu entlocken. Jetzt fällt es uns leichter, die Naturfeindschaft Baudelaires zu verstehen und die Abgründe seines Buches zu erkennen, in dem – wie Marcel Proust in seinem BaudelaireEssay gesagt hat – »la pitié ricane, où la débauche fait le signe de la croix, où le soin de la plus profonde théologie est confié à Satan...« 49 Bleiben wir noch einen Augenblick bei dem Naturbegriff Baudelaires, weil er von fundamentaler Bedeutung ist. Die Feindschaft gegenüber der bösen, weil sündigen Natur ist ein authentischer christlicher Zug. Aber Baudelaire ist gleichsam ein Katholik ohne Glauben an die Erlösung. Und aus allen Teilen der Welt gähnt ihm eine unergründliche Leere entgegen – le gouffre. Mit diesem Schlüsselwort ist ein berühmtes Sonett überschrieben: Pascal avait son gouffre, avec lui se mouvant. - Hélas! tout est abîme, – action, désir, rêve, Parole! et sur mon poil qui tout droit se relève Mainte fois de la Peur je sens passer le vent. 50
Die Angst vor dem Abgrund, der alles menschliche Tun verschlingt, ist die Angst vor jener naturbestimmten, unaufhebbaren Verderbnis, die Baudelaire an anderer Stelle folgendermaßen benennt: »l'attirance du gouffre [...] la perversité primordiale de l'homme.« 51 Unter den Monstren, die diesem Höllengrund entsteigen, ist der Schlimmste der Ennui, die Erfahrung des tropfenweisen Verrinnens einer unerfüll48 49 50 51
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Zit. nach: Pierre Klossowski, Sade mon prochain, Paris 1947, S. 81. Marcel Proust, »A propos de Baudelaire«, in: Chroniques, Paris 1949, S. 212. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 142. »Etudes sur Poe«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 322, 323.
ten Zeit. Schon das Gedicht Au Lecteur nennt ihn als ein Grundthema der Fleurs du Mal. In der » ménagerie infâme de nos vices « – so heißt es, Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde! Quoiqu'il ne pousse ni grands gestes ni grands cris, Il ferait volontiers de la terre un débris Et dans un bâillement avalerait le monde; C'est l'Ennui! [...] 52
Das Universum Baudelaires, die Welt seiner Fleurs du Mal ist eine Welt des Ennui, bevölkert mit deren Symbolen und Allegorien. In einem Brief an seine Mutter vom 30. Dezember 1857, also ein halbes Jahr nach dem Erscheinen der Fleurs du Mal, beschreibt er den Ennui als aktuelle Erfahrung: Un immense découragement, une sensation d'isolement insupportable, une peur perpétuelle d'un malheur vague, une défiance complète de mes forces, une absence totale de désirs, une impossibilité de trouver un amusement quelconque. 53
Die hohle Mutlosigkeit, das Gefühl, in absoluter Verlassenheit einem unbestimmten Unglück ausgeliefert zu sein, die Absenz von Willen und Begehren und die Unfähigkeit zur Zerstreuung – das sind Elemente des Lebensekels, die sich als tiefes, unausrottbares Bewußtsein von der Sinnlosigkeit, vom Leerlauf der Welt niederschlagen. Der Ennui, »fruit de la morne incuriosité« 54 , der die Länge der hinkenden Tage -die »longueur» der »boîteuses journées« 55 – unerträglich werden läßt oder der, wie es in dem Gedicht L'Ennemi heißt, am »Herzen nagt« 56 und sich aus unserem Blute nährt wie ein Vampir: Hier ist noch nicht erkennbar, daß der Ennui für Baudelaire sich schließlich zur Voraussetzung jeder Erkenntnis, zur Fähigkeit, die Dinge in ihrer Nichtigkeit zu erkennen, wandelt. Die lähmende Erfahrung des Ennui ist noch nicht zur exzitativen, schöpferischen, wenn auch immer qualvoll lastenden Kraft geworden. Ennui ist zugleich – und hier ist einer der Ansatzpunkte der Wendung vom rein Destruktiven zum Schöpferischen – das Gefühl der unaufhebbaren Vereinsamung, die allein durch die Kunst überwunden wird. Vereinsamung aber ist für den Dichter identisch mit Kommunikationslosigkeit. Der Ennui, Baudelaires grausigste Allegorie, beherrscht die Welt; sein Sitz ist der Abgrund, den er dem menschlichen Herzen gräbt. Das ist der »gouffre de l'Ennui« 57 , nach dem sich das Subjekt des Sonetts Le possédé wie nach einer neuen Heimat sehnt, weil in ihr die Anbetung des Teufels den Gedanken an die verlorene bessere Welt und damit die Verzweiflung tilgt:
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»Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 6. »Lettre à Madame Aupick, 30. 12. 1857«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 437f. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 73. Ebd. Ebd., S.16. Ebd., S. 37. 23
Sois ce que tu voudras, nuit noire, rouge aurore; Il n'est pas une fibre en tout mon corps tremblant Qui ne crie: O mon cher Belzébuth, je t'adore! 58
Das ist ein Zitat aus Cazottes Diable amoureux und natürlich auch Anspielung auf das Neue Testament. Und ein weiteres Sonett – De profundis clamavi – zeichnet die abgründige Landschaft des »gouffre obscur« 59 , des Ennui, eine Welt ohne Leben, ohne Vegetation, eine Welt, über deren Kahlheit eine kalte Sonne nur die Herrschaft der Nacht bestätigt, einer sternlosen Nacht des Schreckens, gleich dem Chaos vor der Entstehung der Welt – das ganze Jahr über, ohne Wechsel der Jahreszeiten: Un soleil sans chaleur plane au-dessus six mois, Et les six autres mois la nuit couvre la terre; C'est un pays plus nu que la terre polaire; - Ni bêtes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! Or il n'est pas d'horreur au monde qui surpasse La froide cruauté de ce soleil de glace Et cette immense nuit semblable au vieux Chaos... 60
Das menschliche Ich wird – wie es unter Aufnahme einer uralten christlichen Metapher an einer anderen Stelle der Fleurs du Mal heißt – zu einer »Oase des Schreckens in der Wüste des Ennui« 61 . Damit ist die ungeheure Einsamkeit bezeichnet. Und gouffre meint zugleich auch den vom Ennui erfüllten Abgrund zwischen den Menschen. Baudelaire formuliert in wenigen knappen Sätzen seines Tagebuchs, was Marcel Proust auf hunderten von Seiten der Recherche du Temps perdu bis zur absoluten Unwiderleglichkeit zu demonstrieren trachtet: nämlich daß selbst in der intimsten Begegnung zwischen den Menschen, in der Liebe, die Kommunikation nicht hergestellt, der Abgrund nicht überbrückt wird. Bei Baudelaire heißt es resigniert und in beklemmender Entschiedenheit: Dans l'amour comme dans presque toutes les affaires humaines, l'entente cordiale est le résultat d'un malentendu. Ce malentendu, c'est le plaisir. L'homme crie: >Oh mon ange!< La femme roucoule: >Maman! maman!< Et ces deux imbéciles sont persuadés qu'ils pensent de concert – Le gouffre infranchissable qui fait l'incommunicabilité reste infranchi. 62
Es ist eine furchtbar verkehrte Welt, in der die Verständigung von Ich und Du nur durch Mißverständnisse zustandekommt. Der zitierte Satz steht in dem Tagebuch Mon cœur mis à nu; aber die subjektive Erfahrung ist hier zur Gültigkeit einer Maxime stilisiert, die es gestattet, weiterreichende Konsequenzen zu ziehen. Das Böse, zur Schönheit der Kunst verwandelt, erlöst sich durch die Kunst. Aus der grausigen Öde des Ennui, der absoluten Verlassenheit, erwächst auch die Kraft zu ihrer Überwindung durch die Kunst als der allein Transzendenz verheißenden Macht. 58 59 60 61 62
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Ebd., S. 38. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32f. Ebd., S. 133 (»Une oasis d'horreur dans un désert d'ennui«; »Le voyage«). »Mon cœur mis à nu«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 695 f.
Die tiefste Erfahrung des Ennui verheißt auch Erkenntnis. Die Dichtung ist Wegzeiger zu verlorenen Paradiesen, und darin sieht Baudelaire ihre Wirkung begründet; eine Wirkung, die nicht im hohen Genuß beruht, sondern Zeugnis einer – wie er meint – »gereizten Melancholie, einer Forderung der Nerven, einer in der Welt des Unvollkommenen exilierten Natur ist, die sogleich und noch auf dieser Erde selbst sich eines offenbarten Paradieses bemächtigen will«: quand un poème exquis amène les larmes au bord des yeux, ces larmes ne sont pas la preuve d'un excès de jouissance, elles sont plutôt le témoignage d'une mélancolie irritée, d'une postulation des nerfs, d'une nature exilée dans l'imparfait et qui voudrait s'emparer immédiatement, sur cette terre même, d'un paradis révélé. 63
Wer Dichtung so versteht, muß erschrecken, provozieren, muß erzeugen, was Victor Hugo in Baudelaires Poesie als » frisson nouveau« 64 entdeckt hat. Nur der Schock – von dieser Theorie des Schocks werden wir noch sprechen müssen –, nur der Schock kann die zwischen Dichter und Leser errichtete Mauer durchbrechen, die dem Abgrund zwischen Mensch und Mensch entspricht. Durch den Schock restauriert die Dichtung die ansonsten für immer verlorene Kommunikation. Und das ist der Impuls, der die Verse bestimmt, mit denen Baudelaire sein Einleitungsgedicht, seine Préface Au lecteur beschließt. Soeben hat er das Bild des Ennui beschworen und fährt fort: Tu le connais, lecteur, ce monstre délicat, - Hypocrite lecteur, – mon semblable – mon frère! 65
»Hypocrite lecteur» – das ist der Schock, der den vom Ennui und vom Bösen befallenen und sie negierenden Menschen, der Leser werden soll, durch die Entlarvung provoziert und die Wand durchschlägt, hinter welcher die Brücke der Kunst zur Kommunikation über den Abgrund hinweg niedergelassen ist. Der verfremdende Mantel der Heuchelei fällt ab unter dem Zauberwort seiner Namensnennung – und er kann es tun, weil die enthüllte Unwahrhaftigkeit sogleich als die Gemeinsamkeit zwischen Dichter und Leser aufbricht. Das Du ist meinesgleichen. Dichter und Leser werden in der Bruderschaft des Schicksals identisch in der Erkenntnis des Ennui: »Tu le connais [...] – Hypocrite lecteur, – mon semblable – mon frère! « Da wir Literaturgeschichte betreiben, bestimmen wir jedes literarische Ereignis auch als ein wesentlich geschichtlich bedingtes. Aber es sind jeweils besonders geartete: geniale Individuen, die dem geschichtlichen Zustand infolge ihrer spezifischen Betroffenheit zum sublimen geistigen Ausdruck verhelfen. Wir halten uns wieder an den Satz Hegels: »Die Individuen holen dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer.« Ich habe schon angedeutet, in welcher Weise die große Wendung in der Lyrik historisch bedingt ist. Mit dem Prinzip des l'art pour l'art – mit dem Baudelaire hier einig ist – ist das Jahrhunderte alte Axiom, daß Dichtung den Zweck des delectare et prodesse verfolge, völlig aufgegeben. Das ist eine Revolu63 64
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»Etudes sur Poe«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 334. »Lettre de Victor Hugo à Charles Baudelaire, 6.10. 1859«, in: Victor Hugo, Œuvres complètes (hrsg. v. Jean Massin), Bd. X, 2, Paris 1971, S. 1327. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 6. 25
tion in der Lyrik. Baudelaire ist unter den Individuen, welche die Kastanien aus dem Feuer holen, schon insofern eines der bemerkenswertesten, als er sein Leben an diesem Feuer verzehrte. Er war dafür geboren, den Widerspruch der modernen Welt auszutragen im Dualismus seiner eigenen Natur, in der Hingerissenheit von der Dynamik des modernen Lebens und dem Ekel vor diesem Leben. In seinem Tagebuch bekennt er: »Tout enfant, j'ai senti dans mon cœur deux sentiments contradictoires, l'horreur de la vie et l'extase de la vie.« 66 Wie sehr aber diese ganz persönliche Veranlagung nur eine Grunderfahrung der Zeit individuell artikuliert, zeigt sich, wenn man ihren Ausdruck mit den Bekundungen anderer Schriftsteller der Epoche vergleicht. Die Romantiker hatten in ihrer Not, in ihrem Ennui, im Gefühl ihrer Verkanntheit und Isoliertheit selbst den Ausweis eines Erwähltseins gefunden – das ist der Sinn des Begriffs »génie fatal«. Bei Alfred de Vigny hatte diese subjektive Erfahrung sich zur Ehrfurcht vor der Größe des Menschen im Erdulden seiner »condition humaine«, im Ertragen des Leidens, geläutert: »J'aime la majesté des souffrances humaines.« 67 Und bei Baudelaire wird die gleiche Überzeugung zu einem Fundament dessen, was er Idéal nennt. In dem ersten Gedicht der Gruppe Spleen et Idéal, das den Titel Bénédiction trägt, wird nicht der Mensch durch Gott, sondern Gott durch den Menschen gesegnet, dafür, daß er ihm das Leiden als Mittel der Läuterung gegeben hat: - Soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffrance Comme un divin remède à nos impuretés... 68
Eine desperate Ironie! Und das Privileg des Dichters ist es, die Leiden der Menschheit auf seinem Haupte zu versammeln: »je sais que vous gardez une place au Poète ... «. Ihn, den Dichter, erhöht der einzige echte Adel, derjenige des Leidens, den nichts in Frage stellen kann: Je sais que la douleur est la noblesse unique Où ne mordront jamais la terre et les enfers, Et qu'il faut pour tresser ma couronne mystique Imposer tous les temps et tous les univers.
Freilich ist dieser Dichter, der Mensch, dessen essentielle Bestimmung der Höhenflug des Geistes und der Kunst ist, in den Niederungen der Erde zu ohnmächtigem Flügelschlag verbannt. Das ist der Sinn des bekannten Gedichts L'Albatros mit dem Motiv des Seevogels, der, nach stolzem Flug, vorher erhaben und schön, auf dem Schiffsdeck linkisch, lächerlich und häßlich erscheint: die mächtigen Schwingen hindern ihn hier, sich zu bewegen: Le Poète est semblable au prince des nuées Qui hante la tempête et se rit de l'archer;
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»Mon cœur mis à nu«, ebd., S. 703. Alfred de Vigny, »Les Destinées«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Fernand Baldensperger), Bd. 1, Paris 1950, S. 183. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 9.
Exilé sur le sol au milieu des huées, Ses ailes de géant l'empêchent de marcher. 69
Erhebt er sich, dem Albatros gleich, in die Lüfte des Geistes, dann ist der Dichter, wie es in dem Gedicht Elévation, dem dritten der Gruppe Spleen et Idéal, heißt: Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor, - Qui plane sur la vie, et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! 70
Wie man sieht, beginnen die Fleurs du Mal, beginnt die Gruppe Spleen et Idéal, mit dem aus dem Leiden selbst geborenen Idéal, das dem Dichter den Platz dessen sichert, der die Geheimnisse entschleiert. Aber schon wenige Seiten später stoßen wir auf das Sonett L'Ennemi, in dem die Übermacht des Schmerzes die Hoffnung verdrängt und die verrinnende Zeit das Leben verschlingt: - O douleur! ô douleur! Le Temps mange la vie, Et l'obscur Ennemi qui nous ronge le cœur Du sang que nous perdons croît et se fortifie! 71
Und die soeben noch gepriesene Schönheit – diejenige der Hymne à la Beauté und des Sonetts La Beauté – enthüllt sich – in dem Gedicht Le Masque – als doppelköpfiges Ungeheuer: O blasphème de l'art! ô surprise fatale! La femme au corps divin, promettant le bonheur, Par le haut se termine en monstre bicéphale! 72
Das Weiterlebenmüssen wird zur Qual und zur Strafe, über deren Rechtsgrund es keine Auskunft gibt: Die Schönheit, symbolisiert in der schönen Frauengestalt, weint, weil sie lebt und leben muß: Elle pleure, insensé, parce qu'elle a vécu! Et parce qu'elle vit! Mais ce qu'elle déplore Surtout, ce qui la fait frémir jusqu'aux genoux, C'est que demain, hélas! il faudra vivre encore! Demain, après-demain et toujours! – comme nous! 73
Der Tod steht bei Baudelaire am Ende als Erlösung und als Tor zu einer vielleicht doch möglichen Sinngebung. Aber bis zu ihm hin heißt es leben, sich dem Fraß der irreversiblen Zeit hingeben, sich dem Verfall ausliefern, dem Vampir des Ennui. Jedes »Morgen« ist die Auflösung des Gestern, der teuflische Prozeß der Natur, der das blühende Fleisch als Kadaver enden läßt, als »Aas«, als »charogne« – 69 70 71 72 73
Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. 27
Une charogne ist der Titel eines berühmten Gedichts der ersten Gruppe. Es ist das Immergleiche, die Absenz des »nouveau«, die das Leben zum Übel, zum tristen Lebenmüssen werden lassen.
Zeit und Erinnerung – die Kunst als Mnemotechnik des Schönen » Vivre est un mal« 74 heißt es in dem Sonett, das den Titel Semper eadem trägt und das als einzigen Trost die Flucht ins Vergessen, in den Schlaf, in die tröstliche Perpetuierung des Augenblicks der Liebe, in die Lüge fordert: Laissez, laissez mon cœur s'enivrer d'un mensonge, Plonger dans vos beaux yeux comme dans un beau songe, Et sommeiller longtemps à l'ombre de tes Cils! 75
Halten wir an diesen Versen fest: die Lüge der Flucht in den vergänglichen Augenblick und die Verewigung dieses Augenblicks zum »beau songe« – zum schönen Traum, ist eine Lüge, auf die Baudelaire doch selber nicht verzichten konnte. Die Bedeutungsschwere, die in diesen Versen von Semper eadem auf dem Wort »mensonge« liegt, teilt sich allen anderen Wörtern mit, die den gleichen Nasal aufweisen. Lüge und Schein im Wort mensonge affizieren den Gleichklang von songe – der Traum ist hilfreiche Lüge –, von plonger, sommeiller, longtemps und l'ombre de tes cils; auch »en« schließt sich an: enivrer, mensonge, dans, longtemps. Andere Gedichte suchen die Überwindung von Zeit, Fragilität und Verfall, indem »Lüge« und »Traum« des Augenblicks die den Zeitablauf nach rückwärts überspringende und aufhebende Erinnerung aufschießen lassen. Souvenir ist bei Baudelaire ein Schlüsselwort, welches eine geheime Hoffnung auf Wiederkehr andeutet. Erinnerungen vergegenwärtigt etwa der Augenblick, der die Perspektive des Gedichts Le Balcon abgibt. Die dort apostrophierte Frau wird beschworen, die vergangenen Szenen des Glücks neu zu erwecken; sie wird zum Gefäß des Andenkens, zur Herrin über das glückliche Einst: Mère des souvenirs, maîtresse des maîtresses, O toi, tous mes plaisirs! ô toi, tous mes devoirs! Tu te rappelleras la beauté des caresses, La douceur du foyer et le charme des soirs, Mère des souvenirs, maîtresse des maîtresses! 76
Die Kunst des Dichters wird zur Kunst einer Mnemotechnik, die die Grenzen des Augenblicks öffnet, um die Vergangenheit in die Gegenwart hereinzulassen:
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Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 36.
Je sais l'art d'évoquer les minutes heureuses, Et revis mon passé blotti dans tes genoux. 77
Ein einziger Duft, vor allem aber der Geruch, der aus dem Haar oder der Kleidung oder dem spürbar pulsenden Blut der Geliebten aufsteigt, evoziert das Vergangene und läßt es rauschhaft, magisch, mit der Gegenwart zusammenfallen: Charme profond, magique, dont nous grise Dans le présent le passé restauré! Ainsi l'amant sur un corps adoré Du souvenir cueille la fleur exquise. 78
Nur selten erscheint souvenir in den Fleurs du Mal unter negativem Vorzeichen, und immer nur dann, wenn es die Vorstellung vom unerbittlichen Verlauf der Zeit instrumentiert. Dazu bezeugt die Zahl der Erinnerungen nur das unumkehrbar Vergangene, wie in der berühmten Verszeile: » J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans« 79 , wo die Akkumulation der erinnerten Augenblicke nur die Sinnlosigkeit des Lebens im Bilde einer Pseudo-Unsterblichkeit verdichtet. Gleiches gilt für das Gedicht, mit dem die Gruppe Spleen et Idéal in Trostlosigkeit ausmündet. Es trägt den Titel: L'horloge. Hier wird die Uhr zum diktatorischen, gefühllosen Gott, dessen drohende Gebärde unerbittlich Erinnerung befiehlt, um das Grausen und die Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Todes aufzurichten: Horloge! dieu sinistre, effrayant, impassible, Dont le doigt nous menace et nous dit: »Souviens-toi!« Les vibrantes Douleurs dans ton cœur plein d'effroi Se planteront bientôt comme dans une cible... 80
»Horloge«, »Douleurs«, »Temps« – alles groß geschrieben, zu Allegorien geworden, sammeln sich zu einer ganzen Mythologie der Welt des Spleen und des Ennui. Dreitausendsechshundertmal pro Stunde flüstert die Sekunde: Souviens-toi! – und sagt mit ihrer Insektenstimme: »Je suis Autrefois». Das »Jetzt« wird sogleich zum »Einst« – «Autrefois«. Und die jeweiligen »letzte«, die »Maintenants«, gleichfalls groß geschrieben, verwandeln sich in Insekten, die mit ihren schmutzigen Rüsseln am Leben saugen: [...] Rapide, avec sa voix D'insecte, Maintenant dit: Je suis Autrefois, Et j'ai pompé ta vie avec ma trompe immonde!
Und so geschieht es, bis das Werk der fleißigen Blutsauger der Zeit den Augenblick herbeiführt, »Où tout te dira: Meurs, vieux lâche! il est trop tard!« Aber nur selten – wie gesagt – beschwört souvenir den Schrecken des Verfalls und die Phantasmagorie der tödlichen Zeit. Meistens erschließt es für einen Augenblick die 77 78 79 80
Ebd., S. 37. Ebd., S. 39 (»Le Parfum«). Ebd., S. 73 (»Spleen II«). Ebd., S. 81. 29
verlorenen Paradiese. Souvenir ist also eigentlich der einzige Widerpart jener Zeit, von der es in dem Gedicht Le Goût du Néant in einem Bild von grausiger Schönheit heißt: Et le Temps m'engloutit minute par minute, Comme la neige immense un corps pris de roideur... 81
Das winterliche Erstarren des lebendigen Körpers unter den unaufhörlich fallenden Schneeflocken der Minuten – nach der Verszeile, die alle bisherige Jahreszeitensymbolik in dieses Bild hereinnimmt: »Le Printemps adorable a perdu son odeur!« Kehren wir zurück zu dem souvenir, das wie eine Verheißung aufleuchtet, wie etwa in dem Vers, mit dem das Gedicht Harmonie du soir abschließt: »Ton souvenir en moi luit comme un ostensoir!« 82 Akzeptieren wir das blasphemische Wagnis dieses Vergleichs! Die Erinnerung – so ambivalent sie sein mag, wie wir sahen – ist Baudelaire heilig: und nicht nur als persönliche Erlebnisform, sondern als ästhetisches Prinzip und – folgerichtig – als strukturbildendes Element des lyrischen Stils. Baudelaire bestimmt einmal die Dichtung als »enfance retrouvée». Man denkt an Marcel Proust, an Le Temps perdu und Le Temps retrouvé. Aber für Baudelaire ist die Erinnerung immer eine solche des Willens, während bei Proust die mémoire involontaire zurücksteht, die allein die Essenz des Vergangenen wieder lebendig macht. Baudelaires Auffassung ist hier ganz klar: »le génie n'est que l'enfance retrouvée à volonté...« 83 Das Gedächtnis, das Erinnerung heranholt, ist für ihn eine schöpferische, poetisch arbeitende Kraft, eine Art von Filter, der nur das Poesiefähige hindurchläßt und damit – das ist von grundlegender Bedeutung – von vorneherein jede Gesamtreproduktion, jede naturalistische Nachahmung, ausschließt. Gerhard Hess 84 hat gezeigt, daß die Landschaften der Fleurs du Mal sich immer nur als erinnerte, also durch die Erinnerung gesiebte präsentieren. Ja, die Erinnerung wird bei Baudelaire ausdrücklich zum Kriterium des Kunstwertes. So schreibt er in den Curiosités esthétiques: J'ai déjà remarqué que le souvenir était le grand critérium de l'art; l'art est une mnémotechnie du beau: or, l'imitation exacte gâte le souvenir. 85
Das ist eindeutig: Erinnerung als künstlerisches Kriterium; die Kunst als Mnemotechnik des Schönen; die Theorie der Nachahmung wird dadurch als unkünstlerisch ausgeschlossen. Der logische Zusammenhang ist klar. Stellen wir aber die Frage, warum Baudelaire zu dieser Konzeption gelangte, wieso sich hier ein so grundlegender Bruch mit dem wie immer mißverstandenen Aristotelismus und seiner Imitationstheorie vollzog, dann geraten wir in Schwierigkeiten. Vielleicht finden wir eine Antwort auf diese Frage, wenn wir von einer Bemerkung ausgehen, die sich unter den nachgelassenen Fragmenten eines Baudelaire-Buches befindet,
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Ebd., S. 76. Ebd., S. 47. »Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 690. Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires »Fleurs du mal«, Heidelberg 1953. »Salon de 1846«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 455.
das Walter Benjamin geplant hat und das er wegen seines Selbstmords auf der Flucht vor der Gestapo nicht mehr vollenden konnte. Dort heißt es: Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das Andenken. Das Andenken ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammelns. 86
Wie ist das zu verstehen? Mit »Andenken« meint Benjamin »souvenir«. Die Wahl des Wortes »Andenken« anstelle von »Erinnerung« erfolgt, weil »Andenken« bereits die Verdinglichung des Ideellen, der Erinnerung, zum käuflichen Andenken als Ware ausdrückt. Das französische »souvenir« hat ja sowohl die Bedeutung von Erinnerung wie diejenige von Andenken. Solche Andenken werden gesammelt, das Vergangene wird eingebracht als dinglicher Besitz, vorzeigbar wie Fotos und Diapositive, die gehabtes Reisen zur unveräußerlichen Ware in das Album und in den Schrank eingehen lassen und zu allem Überdruß noch vor dem Besucher an die Wand projiziert werden, auf daß er am Besitzerstolz teilhabe und der eigenen Reisebildungsmängel bewußt werde. Das Andenken ist verdinglichte Erinnerung, die nicht mehr verwendet, sondern klassifiziert und gesammelt wird, die akkumuliert wird wie Zinsen bringendes Vermögen. Wenn Walter Benjamin recht hat und wenn wir seinen Gedankengang richtig weiterentwickelt haben, dann hätte Baudelaire mit seiner Theorie des »souvenir« ein Prinzip der modernen Industriegesellschaft in seine Ästhetik und Poetik übernommen und wäre gerade auch darin das, was er sein wollte, nämlich ein Dichter der modernité; und auch von hier aus würde begreiflich, warum er der Begründer der modernen Lyrik werden konnte. Ungelöst freilich bleibt die Schwierigkeit, die darin besteht, daß die also akkumulierte Ware vom Tausch, von der Zirkulation ausgeschlossen bleibt. Sie ist unverkäuflich geworden – Luxus, der nicht mehr abgesetzt werden kann, aber immer noch brauchbar als Prestige-Ausweis. Dem Minderbemittelten allerdings vermag sie vergangenen Genuß als stets verfügbaren Trost zu verheißen.
» Correspondances « – zur Theorie der Dichtung als » sorcellerie évocatoire « Wir wollen indessen diesen spekulativen Weg jetzt nicht weiterverfolgen, sondern zusehen, wie sich die Theorie der Erinnerung mit der Theorie der Correspondances verbindet. Sehen wir uns kurz das Gedicht La chevelure daraufhin an. Thema ist das Spiel mit dem Haar der Geliebten, das die schlafenden Erinnerungen weckt: Ô toison, moutonnant jusque sur l'encolure! Ô boucles! Ô parfum chargé de nonchaloir! Extase! Pour peupler ce soir l'alcôve obscure Des souvenirs dormant dans cette chevelure, Je la veux agiter dans l'air comme un mouchoir! 87
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Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S. 492. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 26. 31
Die lyrische Zeit ist: »ce soir«, Augenblick einer ekstatischen Versenkung ins Haar der Geliebten, Augenblick, welcher die Schatzkammer der Erinnerungen entriegelt. Asien und Afrika, eine ganze ferne entschwundene Welt kehrt wieder aus den Tiefen der »forêt aromatique«, mit der das Haar der Geliebten gleichgesetzt wird. Ferne Horizonte tun sich auf, das Meer, ein gleißender Traum von Segeln, Rudern, Flammen, Masten: ein Hafen, ein azurblauer Himmel. Die Haare selbst, deren Duft diese Bilder evozieren, werden blau wie jener Himmel: »cheveux bleus« – der Traum verwandelt die Wirklichkeit, die ihn erzeugt, zu einer Überwirklichkeit, die Baudelaire in seinen theoretischen Schriften surnaturalisme 88 nennt – später heißt sie dann »surréalisme«. Das dem durchwühlten Haar traumgleich entstiegene Bild des Hafens wird zu einer gerochenen, gehörten und gesehenen Realität: Un port retentissant où mon âme peut boire A grands flots le parfum, le son et la couleur...
Duft, Klang und Farbe trinken: die eine Bewegung der liebkosenden Hand im Haar erzeugt kraft des dichterischen Sensoriums die olfaktorische, die akustische und die visuelle Wahrnehmung des Vergangenen. Die Gesamtheit der taktil auferstandenen sinnlichen Reize reproduziert das Einst als einheitliche, greifbare Gegenwart, macht es so sehr greifbar und dinghaft bei aller Konturlosigkeit, daß es geradezu gekostet, geschmeckt werden kann, in dem Sinn, wie die Mystiker Gott zu » schmecken « vermeinten: N'es-tu pas l'oasis où je rêve, et la gourde Où je hume à longs traits le vin du souvenir?
Baudelaire hat die Themen vieler seiner Gedichte auch in seinen Prosagedichten behandelt. So auch dasjenige von La chevelure unter dem Titel Un hémisphère dans une chevelure. Es verdient besonderes Interesse, weil es das soeben behandelte Motiv konkreter, objektiver, explikativer darstellt, und zwar bei größter Nähe zum Versgedicht: Laisse-moi respirer longtemps, longtemps, l'odeur de tes cheveux, y plonger tout mon visage, comme un homme altéré dans l'eau d'une source, et les agiter avec ma main comme un mouchoir odorant, pour secouer des souvenirs dans l'air. Si tu pouvais savoir tout ce que je vois! tout ce que je sens! tout ce que j'entends dans tes cheveux! Mon âme voyage sur le parfum comme l'âme des autres hommes sur la musique. Tes cheveux contiennent tout un rêve, plein de voilures et de mâtures; ils contiennent de grandes mers dont les moussons me portent vers de charmants climats, où l'espace est plus bleu et plus profond, où l'atmosphère est parfumée par les fruits, par les feuilles et par la peau humaine. Dans l'océan de ta chevelure, j'entrevois un port fourmillant de chants mélancoliques, d'hommes vigoureux de toutes nations et de navires de toutes formes découpant leurs architectures fines et compliquées sur un ciel immense où se prélasse l'éternelle chaleur. Dans les caresses de ta chevelure, je retrouve les langueurs des longues heures passées sur un divan, dans la chambre d'un beau navire, bercées par le roulis im88
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»Salon de 1846«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S.432.
perceptible du port, entre les pots de fleurs et les gargoulettes rafraîchissantes. Dans l'ardent foyer de ta chevelure, je respire l'odeur du tabac mêlé à l'opium et au sucre; dans la nuit de ta chevelure, je vois resplendir l'infini de l'azur tropical; sur les rivages duvetés de ta chevelure je m'enivre des odeurs combinées du goudron, du musc et de l'huile de coco. Laisse-moi mordre longtemps tes tresses lourdes et noires. Quand je mordille tes cheveux élastiques et rebelles, il me semble que je mange des souvenirs. 89
Aus Sehen, Fühlen, Hören, Riechen ein Traum der Erinnerung, der die Essenz verschiedener vergangener Augenblicke vergegenwärtigt, bis die Erinnerung so konkret, so substantiell wird, daß sie zur kostbaren Speise wird: »il me semble que je mange des souvenirs.« Wie können die verschiedensten Sinnesempfindungen, die Vergangenes erschließen, aus ein- und demselben Anlaß, das heißt aus einer einzigen, augenblicklichen Sinneswahrnehmung – hier die Liebkosung des Haars durch die Hand – entstehen? Ein Verweis darauf, daß bei vielen Menschen etwa ein bestimmter Ton auch den Eindruck einer bestimmten Farbe hervorruft usw., kann keine befriedigende Auskunft auf die Frage geben, warum sich solche Erfahrung bei Baudelaire zur poetischen Theorie und zum ästhetischen System verdichtet. Wir müssen dem Erscheinen der Synästhesie in diesem Werk also noch einige Aufmerksamkeit widmen 90 . Nehmen wir das berühmte Sonett Correspondances zu Hilfe: La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L'homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l'observent avec des regards familiers.
Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.
Il est des parfums frais comme des chairs d'enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, - Et d'autres, corrompus, riches et triomphants,
Ayant l'expansion des choses infinies, Comme l'ambre, le musc, le benjoin et l'encens, Qui chantent les transports de l'esprit et des sens. 91
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»Le Spleen de Paris«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 300f. Die Literaturgeschichte der Synästhesie ist aufgearbeitet worden von Ludwig Schrader, Sinne und Sinnesverknüpfungen, Studien und Materialien zur Vorgeschichte der Synästhesie, Heidelberg 1969. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 11. 33
Ich will jetzt nur die Grundgedanken dieses Gedichts andeuten: Die Natur als Tempel mit sprechenden Säulen und beobachtenden Blicken. Die Dinge sprechen für den, der zu verstehen weiß, denn sie alle stehen für etwas anderes; sie sind Symbole. Und weil ihre Realität nicht diejenige der Dinge in ihrer Erscheinungsform, sondern die hinter ihnen liegende ist, deutet jedes Sinnlich-WahrnehmbarAkzidentelle zurück auf das Gemeinsame, Einheitliche. Jeder Duft hat seine Entsprechung in einer Farbe, jede Farbe die ihre in einem Ton: »Les parfums, les couleurs et les sons se répondent«. Sie »korrespondieren«. Deshalb können Düfte »frisch« sein wie die Haut von Kindern, »mild« wie Oboenklänge und »grün« wie Wiesen. Das sind Synästhesien, deren Berechtigung sich aus der Überzeugung herleitet, daß alle Dinge sich »entsprechen« innerhalb einer Welt aus Analogien. Welche neue Ausdrucksfähigkeit diese Konzeption der dichterischen Sprache verleiht, liegt schon hier auf der Hand: »frische Düfte« – das klingt zwar noch selbstverständlich, eigentlich selbstverständlicher als es ist; »Düfte mild wie Oboen« – dies ist bereits ungewohnt; »grüne Düfte« – das ist neu, kühn, fast erschreckend. Aber indem die Dichtersprache zusammenfügt, was das Alltäglich-Vertraute, das Traditionell-Gewohnte, trennt, schafft sie neue Bezüge und mit ihnen neue, bisher unentdeckte Wirklichkeiten, indem sie die banal gewordene Realität verfremdet, das scheinbar Vertraute seiner gewohnten Umgebung entzieht und ihm eine neue Bedeutung verleiht. Der Sprache eröffnet sich eine bislang unbekannte Dimension durch die bewußte Anwendung dessen, was Baudelaire nennt: »l'accouplement de tel substantif avec tel adjectif, analogue ou contraire« 92 . Der Inhalt des Correspondances-Sonetts läßt sich auf folgende Grundgedanken festlegen: Einheit aller Dinge hinter ihrer Vielfalt; Materialität und Spiritualität aller Dinge – das Materielle weist auf das Geistige, ist dessen »Symbol«; in dieser am Symbol erkennbaren »Entsprechung« zwischen dem Materiellen und dem Geistigen offenbart sich eine universelle Analogie; die Sinnesempfindungen verweisen gegenseitig aufeinander und damit auf die spirituelle Welt, in deren Einheit sie zusammenfallen. Ich habe schon angedeutet, was dieses Sonett Gérard de Nerval verdankt. Doch sind die Vers dorés nicht die einzige Quelle, vielmehr gehen sowohl Nervals wie Baudelaires Auffassung auf die mystische Lehre des Geistersehers Swedenborg zurück. Auf ihn verweist Baudelaire selbst in der Sammlung von Kritiken, die er mit L'Art romantique betitelt hat: Swedenborg [...] nous avait déjà enseigné que le ciel est un très-grand homme; que tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif, réciproque, converse, correspondant. 93
Die Dinge sind Symbole, sind Hieroglyphen, die der Künstler entschlüsselt. Und der Dichter ist nichts anderes als ein »Entzifferer«, ein »déchiffreur« 94 der »universellen Analogie« 95 . Er ist somit auch ihr »Übersetzer«, ihr »traducteur« 96 . Für diese 92 93
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»Projets de préfaces«, ebd., S.183. »Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains: Victor Hugo«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 133. Ebd. Ebd.: »l'universelle analogie«. Ebd.
aus der Mystik Swedenborgs und der Illuminaten bezogene Auffassung brachte die Musik Richard Wagners eine Bestätigung, die Baudelaires Enthusiasmus für Wagner erklärt. Bei der Charakterisierung von Wagners Musik formuliert er die eigene Überzeugung, que le son [suggère] la couleur, que les couleurs [donnent] l'idée d'une mélodie, [...] que le son et la couleur [traduisent] les idées; les choses s'étant toujours exprimées par une analogie réciproque, depuis le jour où Dieu a proféré le monde comme une complexe et indivisible totalité. 97
Die Sinneseindrücke werden vertauschbar, und in ihrer Reziprozität erfahren die Dinge eine Verwandlung, die ihr Geheimnis entschleiert. Die Sprache der Dichtung wird zur magischen Sprache, zu einer »evozierenden Zauberei« einer »sorcellerie évocatoire« 98 , wie Baudelaire sagt, die mit der Macht der Verwandlung aller Dinge die verlorene Sinneinheit der Welt zu restaurieren und in der autonomen Kunst abzuschirmen und fast mystisch zu bergen trachtet. So dürfen wir dann die Strophe deuten, mit der das Gedicht Tout entière – aus der Gruppe Spleen et Idéal – schließt: Ô métamorphose mystique De tous mes sens fondus en un! Son haleine fait la musique, Comme sa voix fait le parfum! 99
»Pluviôse« – weiterführende Gedanken zum Thema der »universellen Analogien« Für unsere weitere Betrachtung Baudelaires wollen wir ausgehen von einem Sonett, das den Titel Spleen trägt: Pluviôse, irrité contre la ville entière, De son urne à grands flots verse un froid ténébreux Aux pâles habitants du voisin cimetière Et la mortalité sur les faubourgs brumeux.
Mon chat sur le carreau cherchant une litière Agite sans repos son corps maigre et galeux; L'âme d'un vieux poète erre dans la gouttière Avec la triste voix d'un fantôme frileux.
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»Critique musicale (Richard Wagner)«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 784. »Critique littéraire (Théophile Gautier)«, ebd., S. 118 (Siehe auch: »Fusées«, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 658). »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 42. 35
Le bourdon se lamente, et la bûche enfumée Accompagne en fausset la pendule enrhumée, Cependant qu'en un jeu plein de sales parfums,
Héritage fatal d'une vieille hydropique, Le beau valet de caeur et la dame de pique Causent sinistrement de leurs amours défunts. 100
Sehen wir nun näher hin. Was ist hier gesagt, und wie ist es gesagt? Das erste Wort – »pluviôse« – bedeutet »Regenmonat«. Der Name Pluviôse gehört dem Revolutionskalender an und meint die Zeit etwa vom 20. Januar bis zum 20. Februar. Die Zeit, die dem Gedicht die spezifische Stimmung vermitteln soll, ist also offenbar – es ist ja auch Spleen überschrieben –, ein öder und kalter Regentag. Der Ort ist eine Stadt, die – bei Baudelaire – keine andere sein kann als Paris. Was man nun erwarten könnte und eigentlich auch erwartet, wäre eine konkrete Beschreibung nasser Straßen, flüchtige Passanten mit eingezogenem Genick oder aber Blick aus dem Fenster auf melancholisch rieselnden Regen – jedenfalls eine Deskription dieser Art, reflektiert im Gefühl des Beschauers, mit dem sich das Dichter-Ich identifiziert. Welcher Art die Erwartung immer sein mag: sie wird enttäuscht. Pluviôse – warum wählt der Dichter den Namen des Revolutionskalenders, der niemandem mehr geläufig ist? Der Regenmonat wird in den ersten Zeilen zum handelnden Subjekt, zu einer Person, ja zu einer bösen Gottheit, die, irgendwie von der Stadtprovoziert und gereizt – »irrité« – »à grands flots« – also wohl in Strömen von Regen – aus ihrer unerschöpflichen Urne – Anklang an die Büchse der Pandora? – düstere, kranke Kälte über die Stadt ergießt. Wie aber sieht das Bild der Stadt aus? Sie wird repräsentiert zunächst durch die »pâles habitants du voisin cimetière«. »Voisin cimetière«, der Friedhof nebenan, fixiert einen Ort für den Betrachter, legt einen Beobachtungspunkt fest, an dem sozusagen der Dichter steht, der dort wohnt, dem die dort begrabenen Toten vertraut sind als »pâles habitants«. Die »blassen Bewohner« aber evozieren eine Leichenblässe, die im nächsten Vers sogleich auf die Lebenden übergeht: »Et la mortalité sur les faubourgs brumeux«. Der Regenmonat, so müssen wir verstehen, bringt die »Sterblichkeit« in die »faubourgs«. Für jedes romantische Gemüt muß dieser Vers ein Greuel sein. »Mortalité« ist, genauso wie das deutsche Äquivalent »Sterblichkeit« oder »Sterblichkeitsziffer«, ein Ausdruck der kalten Wissenschaft, der ärztlichen oder standesamtlichen Statistik, eine Abstraktion, unvermittelt in die konkreten Straßen, in die »faubourgs«, hineingestellt; also kahle wissenschaftliche Prosa in der Poesie? Natürlich wußte Baudelaire, was er tat: der Regenmonat wird zu einem Engel des Todes, und zwar zu einem ganz modernen, medizinischen, statistischen, der sich gleichsam über die Zahl seiner epidemischen Opfer völlig klar ist, sie verrechnet. Die Versachlichung neuzeitlich-amtlicher Sterblichkeitsberichte ist selbst – erstmals – mit in die Poesie eingegangen als ein Charakteristikum »moderner« Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist aber gleichzeitig poetisch »verfremdet«, sie ist nicht genannt, sondern mit diesem einen Wort »mortalité« evoziert. Es ist wie eine Statistik, die unwiderleglich ausrechnet, wieviel Verkehrstote es im nächsten Monat auf den 100
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Ebd., S. 72.
Straßen geben wird. Und die abstrakte Registrierung der noch Lebendigen, die der Regenmonat dem Tod geweiht hat, ist verbunden mit der Konkretheit des Bildes von den blassen toten Bewohnern des benachbarten Friedhofs. Die »Stadt«, Opfer des Regenmonats, ist im ersten Vers nur genannt, als Orientierungszeichen: im vierten Vers – in dem abstrakten Wort »mortalité«, ist sie da, in ihrer ganzen verwalteten Anonymität. Im Zusammenrücken des Abstrakten und des Konkreten, einem schrecklichen Zusammenrücken, das die Abstraktheit konkretisiert und das Konkrete – die » faubourgs « – entkonkretisiert, ist die modernité dieses Verses beschlossen, in dem sich der erste Quatrain unseres Sonetts zum ganzen Teil rundet. Der Tod in der Großstadt wird verzeichnet, numeriert, verlautbart im Bericht. Er wird anonym, massenhaft und begreift sich epidemisch, Resultat einer Macht, die sich nur als furchtbar feindliche, wer weiß weshalb herausgeforderte Person vorstellen läßt. Pluviôse, eine Jahreszeit, wird personifiziert zum gereizten Gegner der Menschen, zum Todesengel: das ist die Entfaltung einer poetischen Dämonologie der Moderne. Warum hat Baudelaire überhaupt den Namen des Revolutionskalenders gewählt? Der Leser, der ihn nicht mehr ohne weiteres kennt, assoziiert immerhin sofort »pluie«, »pluvieux« und wird neugierig. Der Leser, der die Herkunft des Namens kennt, assoziiert damit die Revolution. Die Wortwahl, die auch anders, vertrauter hätte ausfallen können, verfremdet, weil sie das Gewohnte meidet, und sie beschwört gerade dadurch besondere Vorstellungen. Man könnte sagen: die geweckten Assoziationen bleiben vage, ohne Präzision, seien reine »sorcellerie évocatoire«. Dabei ist jedoch sogleich – und mit Hinweis auf Baudelaires Theorie – zu betonen, daß diese Evokation nur zustande kommt auf Grund einer ganz präzisen, ja mathematisch exakten Sprache. Wir wollen davon nachher noch sprechen und jetzt erst einmal den Rest unseres Sonetts betrachten. Die mit dem »voisin cimetière« nur erst angedeutete räumliche Beziehung des dichterischen Ich wird in den beiden ersten Versen des zweiten Quatrain fast familiär konkretisiert: » Mon chat sur le carreau cherchant une litière/Agite sans repos son corps maigre et galeux«. Die Katze, die ruhelos auf dem Fußboden nach einem bequemen Lager sucht, verweist uns offenbar in das Zimmer des Dichters. Und der Dichter ist ein armer Hund, denn sonst wäre seine Katze wohl nicht mager und von der Krätze befallen, daß sie nicht mehr liegen kann. Ich habe hier bereits angedeutet, was in den Versen nur evoziert und suggeriert ist. Immerhin: der Leser dieser beiden Verse ist nach dem Schock der »mortalité« und nach der befremdlichen Nennung des Revolutionsmonats wieder zum Vertrauten in die sei es auch jämmerliche Häuslichkeit des Dichters gebracht. Die ärmliche Stube des Dichters – » ärmlich« setze ich zu, denn es ist gesagt, ohne gesagt zu sein – wird nun sogleich – und auch dies ist nur angedeutet, hängt in elliptischer Aussage verborgen – zum Haus, in dessen Dachrinne die Seele eines längst verstorbenen Dichters klagt. Das soeben noch ganz im Realen bleibende Bild – kranke, magere Katze im Zimmer des Dichters – wird plötzlich ganz unwirklich, das heißt auf dem Weg einer Verlängerung – Zimmer-Haus-Dachrinne – wird eine unerlöste, umherirrende Dichterseele hereingeholt: natürlich eine Symbolisierung dichterischen Daseins schlechthin, aber in bezug gesetzt zu dem Dichter, der der Herr jener Katze ist, der
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ein Bewohner jener Stadt ist, über welche der Regenmonat seine Urne der kalten Finsternis und der »Sterblichkeitsziffern« entleert: »L'âme d'un vieux poète erre dans la gouttière/Avec la triste voix d'un fantôme frileux«. Die Dichterseele »irrt«, »erre« – das ist noch nichts Besonderes. Aber in »Dachrinnen«! Die verirrte Dichterseele flieht vor dem Regenguß, offenbar fortgeschwemmt! Das ist die regenüberströmte Stadt als Labyrinth! Auch daß Phantome – unerlöste Seelen – klagen, ist alte Vorstellung: aber daß sie frieren, daß sie frösteln! Der tödliche kalte Regen erfaßt sogar die Abgeschiedenen, so wie vorhin schon die Bewohner des Friedhofs: »fantôme frileux« – »das fröstelnde Phantom« des toten Dichters – wird zum Sinnbild des lebenden Dichters in seiner Stube, ja das Bild wird durch seine Intensität bis zur Identität vorangetrieben. Der nasse, qualmende Holzscheit nimmt nur das Thema der nassen Kälte wieder auf. Was Baudelaire hier suggeriert und an anderer Stelle vielleicht auch gesagt hätte, würde lauten: »Je suis l'âme d'un vieux poète qui erre dans la gouttière avec la triste voix d'un fantôme frileux«. Es genügt, dafür noch einen weiteren Vers zu zitieren, in dem ähnliches stattfindet: ein Vers aus Spleen II: »je suis un cimetière abhorré de la lune« 101 . Bleiben wir noch bei unserem Sonett: Das erste Terzett wird wieder ganz konkret: »Le bourdon se lamente, et la bûche enfumée/Accompagne en fausset la pendule enrhumée« eine Glocke klagt; das feuchte Holzscheit im Kamin qualmt und begleitet mit Fistelstimme die erkältete Wanduhr. Wer hätte es vor Baudelaire gewagt, von einer erkälteten Wanduhr zu sprechen? Glocke, Holzscheit, Uhr: die erstere klagt, das feuchte Holz summt, gequält im dünnen Feuer, und die Stimme der Uhr ist wie die eines Verschnupften. Alle drei Konkreta sind vermenschlicht. Aber wie anders ist diese Antropomorphisierung als die bisher übliche! Sie sind ebenso befallen von der Pluviôse wie der Dichter, dessen vertraute Umgebung sie sind. Und zu den schmerzlichen Tönen, die alles Organische von sich gibt, kommen die schmutzigen Gerüche, die von der früheren Bewohnerin, einer wassersüchtigen Alten, her noch im Zimmer lagern und dort ihr »Spiel «, das Spiel der Luftschichten, treiben. »Héritage fatal« – Schicksal für den Dichter, dem Stadt, Jahreszeit, Zimmer, Einrichtung und Ausdünstung der letzten Bewohnerin als Erbe zusammenfallen, das er – unausweichlich – antreten muß. Und selbst die Spielkarten auf dem Tisch sprechen die Sprache des Verfalls, des Todes. Auch die Erinnerung an die Liebe wird düster, moros. Während die Glocke tatsächlich klagt, das Holzscheit knistert und die Uhr tickt, und die Geräusche dieser drei ihren Ausdruckswert erst vom dichterischen Subjekt erhalten, das sich als Betroffener der »mortalité« dem Regentag inkorporiert, wird mit den Spielkarten sogar das Stumme mit Sprache begabt, um das fatale Geheimnis des Verrinnens der Zeit unter dem tödlichen Tropfen des Regens und des Verirrtseins im Bild der Vergänglichkeit preiszugeben. Die Bedeutung der Spielkarten wird lebendig, wie eine Auferstehung von zu Gegenständen verzauberten Seelen: Herzbube und Pikdame reden von ihrer abgestorbenen Liebe: »Le beau valet de cœur et la dame de pique Causent sinistrement de leurs amours défunts«. Diese beiden Verse bedürften einer ausführlichen Interpretation. Ich kann nur andeuten, in welcher Richtung sie verlaufen müßte. »Sinistrement« und »défunts« 101
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Ebd., S. 73.
stimmen zusammen, enthalten aber auch einen Widerspruch. »Défunt« – »abgestorben, verstorben« – meint Vergangenes, absolut Vergangenes, von dem man also rückblickend sprechen kann. »Sinistre« aber schließt den Gedanken des unheilvollen Vorzeichens der Verkündung von Unglück ein. »Sinistrement« von vergangener Liebe sprechen, bedeutet also nicht nur, daß diese Liebe stürmisch verlaufen sein muß, sondern das bedeutet auch einen Aspekt des Unheimlichen, Unheilvollen über die Vergangenheit jener Liebe und über die Gegenwart des Von-ihrSprechens hinaus in die Zukunft. Mit diesen Verszeilen, die das Sonett beschließen und seinen Sinn gleichsam kristallisieren, ist also, Lebendiges im Toten zum Zeugnis des Sterbens beschwörend, der Tod im Augenblick des Beschwörens selbst, der lyrischen Zeit, zur Zukunft geraten als deren schreckliche Wahrheit. Alle Dimensionen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, sind also in diesen Versen beschlossen. Nur am Rande sei vermerkt, welche Bedeutung die Wahl von Herzbube – »valet de cœur« –, also Knecht, und Pikdame für die evokatorische Konstruktion dieses Bildes von vergangener, zukünftiger und immer ebenso zum Sterben bestimmter wie stürmischer Liebe bedeuten, für ein Bild, das, gerade weil es am Schluß des Sonetts steht, durch das Zeugnis der anderen das subjektive Erlebnis des Dichter-Ich zur allgemein menschlichen Erfahrung in der Zeit weitet. Die Aussprache von Herzbube und Pikdame über ihre einstige Liebe findet statt im »Spiel der Dünste«, die das Erbe der wassersüchtigen Alten sind. Der Bezug des stickigen Innenraums, der Lebenssphäre des Dichters, zur »mortalité«, die sich über die Stadt senkt, ist in einer Weise hergestellt, in einer so intensiven Verengung vom Außen des Friedhofs und der Faubourgs bis zum Ort auf dem Tisch, auf dem die Karten liegen, daß sich als Ergebnis eben jene Erfahrung auftut, die den Titel hergibt: Spleen, im Sinne von Walter Benjamins Definition als »das Gefühl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht« 102 . Es wurde anzudeuten versucht, wie die Sprache dieses Gedichts Assoziationen hervorruft, wie sie evoziert und suggeriert, nicht nur im Wort, sondern im Bezug der Worte untereinander. Das war die ausgesprochene Absicht Baudelaires. In seinem Aufsatz L'Art philosophique formuliert er einmal mehr seine Auffassung von dem, was die »reine Kunst« der Moderne sein soll: Qu'est-ce que l'art pur suivant la conception moderne? C'est créer une magie suggestive contenant à la fois l'objet et le sujet, le monde extérieur à l'artiste et l'artiste luimême. 103
Wie das bewerkstelligt wird, ist an unserem Sonett gut zu beobachten. Das dargestellte Außen ist ganz und gar auf das Bewußtsein bezogen, so daß beide Ebenen, die des Objekts und die des dichterischen Subjekts, sich miteinander verbinden. Die ausgewählten Elemente der Um- und Außenwelt werden zu Artikulationen der Innenwelt, zu Antworten, die gar nicht gefragt sind, sondern sich aufzwingen. Wenn die Glocke klagt, das Holzscheit fistelt, die Uhr erkältet ist und die Spielkarten sich unterhalten, so heißt das, daß die Welt der Dinge antropomorphisiert ist, um in suggestiver Magie den Gesamteindruck zu erzielen. Diese Wirkung kommt 102 103
Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S. 474. »L'Art philosophique«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 598. 39
aber erst dadurch zustande, daß die Attribute und Tätigkeiten der Objektwelt verwandelt sind, daß sie nicht das tun, was sie sonst tun; daß die Art, wie sie erscheinen, in ganz exakter Weise von dem Gewohnten und mithin Vertrauten divergiert, ohne daß diese Verwandlung Unmögliches bringen würde. Das Überwirkliche ist eben hier nicht das Unwirkliche, sondern das unheimlich Wirkliche. Erzielt wird diese magische Wirkung nun weder durch Hingebung an eine Inspiration noch durch vage Unbestimmtheit, sondern durch eine Präzision, die Baudelaire sich nicht scheut, eine mathematische zu nennen. Die Aufgabe des Dichters ist es, » [de] manier savamment une langue, c'est pratiquer une espèce de sorcellerie évocatoire.« 104 Die Sprache hat die Geheimschrift der Welt zu entschlüsseln, und das bezeichnet bereits die Notwendigkeit der Genauigkeit, ohne die sich kein Geheimnis entziffern läßt, genausowenig, wie sich ein Safe öffnen läßt, wenn eine Zahl nicht stimmt: Chez les excellents poètes – so schreibt Baudelaire in seinem Victor-Hugo-Aufsatz – il n'y a pas de métaphore, de comparaison ou d'épithète qui ne soit d'une adaptation mathématiquement exacte dans la circonstance actuelle, parce que ces comparaisons, ces métaphores et ces épithètes sont puisées dans l'inépuisable fonds de l'universelle analogie, et qu'elles ne peuvent être puisées ailleurs. 105
Die Theorie der universellen Analogie verlangt also ein intellektuelles, hochreflektiertes Umgehen mit Sprache und Vers. Nur wenn die Sprache in sehr präziser Weise das Vertraute verfremdet und zwei im Alltagsbewußtsein getrennte Bereiche zusammenschließt, kommt eine Metapher zustande, welche die echte, hintergründige oder überwirkliche Wirklichkeit, diejenige des Traums oder diejenige einer anderen Welt, eines »autre monde«, 106 erschließt. Die Welt, so wie sie sich darbietet, ist häßlich und gemein. Der Dichter hat ihre wahren Intentionen, nicht aber sie selbst als erscheinende darzustellen: Je trouve inutile et fastidieux de représenter ce qui est, parce que rien de ce qui est ne me satisfait. La nature est laide, et je préfère les monstres de ma fantaisie à la trivialité positive ... 107
Wieder stoßen wir hier auf den Widerwillen, den ihm die Welt, so wie sie ist, einflößt und der sich ihm zu dem Gedanken verdichtet, daß die Natur böse, häßlich und gemein ist. Sehen wir uns noch ein Beispiel für Baudelaires Stilwillen an: zwei Verse aus dem Sonett Que diras-tu ce soir. Dort wird von einer Frau – es ist gleichgültig, daß es sich hier um Mme Sabatier handelt – folgendes gesagt: Sa chair spirituelle a le parfum des Anges, Et son œil nous revêt d'un habit de clarté. 108
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»Critique littéraire (Théophile Gautier)«, ebd., S.118. »Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains: Victor Hugo«, ebd., S. 133. »Puisque réalisme il y a«, ebd., S. 59. »Salon de 1859«, ebd., S. 620. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S.43.
Es ist klar, daß eine »chair« nicht ohne weiteres »spirituelle« ist, daß vielmehr Fleisch und Geist, Körper und Seele traditionell Gegensätze darstellen, die hier auf eine bestimmte sterbliche Frau appliziert werden und nun fast mit Notwendigkeit den Vergleich mit einem Engel herbeiführen – denn solche Vereinigung des im menschlichen Bereich normalerweise Getrennten steht nur Engeln zu. Der Vergleich ist jedoch hier nicht brüsk, er wird nicht im Sprung erzielt, sondern auf einer Brücke, die beides verbindet: durch den Duft- »parfum«. Kühner noch ist die zweite Zeile. Einem Auge wird die Fähigkeit zugeschrieben, dem Beschauer ein »Kleid der Klarheit« anzulegen. Das Konkretum »Kleid« wird völlig entwirklicht, das heißt: nicht völlig, denn es hat noch die Funktion des Bekleidens behalten (revêt). Auf eine Vergleichspartikel wie comme oder ainsi que wird verzichtet: das »Kleid« ist Klarheit; und der es verfertigt und anlegt, ist das Auge. Bisher Unvergleichbares und Unverglichenes ist in diesen Versen zusammengezwungen und erzeugt eine neue Komposition der Dinge, die jene Dinge zugleich spiritualisiert und die Außenwelt in eine Innenwelt verwandelt. Die Grenze zwischen dem Unvereinbaren wird von der exakt arbeitenden Sprache aufgehoben, unvereinbar Gegensätzliches tritt in der Metapher zusammen, deren bisher unbekanntes Tertium comparationis in der universellen Analogie zur Entdeckung bereit liegt: »chair spirituelle«, »habit de clarté«. Die Aufhebung der Fremdheit, die erzielt wird durch das Verfremden des Vertrauten, geht bis zur Koppelung des absolut Gegensätzlichen, bis zur »contradictio in adjecto« der Stilfigur des Oxymorons. Dafür ein Beispiel: »O fangeuse grandeur! sublime ignominie!« 109 »Schlammige Größe!«, »erhabene Schmach!«. – Das Oxymoron bezeichnet jene äußerste Grenze, an der die Ambivalenz aller Dinge zu einer totalen wird, wo eine »coincidentia oppositorum« stattfindet und die Erscheinungsformen aller Dinge nur noch ihre letztliche Identität offenbaren. Die zur Identität vorprellende Metapher ist bei Baudelaire überaus häufig. Am deutlichsten wird sie dort, wo das dichterische Subjekt sich unmittelbar mit einem Phänomen der Außenwelt gleichsetzt, so etwa in dem Vers: »Je suis un cimetière abhorré de la lune« 110 , oder in dem Vers, mit dem das Sonett Causerie beginnt: »Vous êtes un beau ciel d'automne, clair et rose!« 111 Fassen wir nun, um einen Schritt weiterzukommen, zusammen, was wir bisher festgestellt haben: Verfremdung des Vertrauten, das eigentlich als Verdinglichtes das unvertraut weil falsch-vertraut Gewordene ist; Vergleich des bisher Unvergleichbaren, vorangetrieben bis zur Identität. Das Zusammenschließen des bis dahin Fremden bringt nicht nur die Bedeutungsfelder seiner Bestandteile mit, sondern versetzt sie in eine Spannung zueinander und weitet das Assoziationsfeld des neuen Bildes zu einem Kreis mit fast traumhafter Unendlichkeit. Das neue Bild hat die gezähmte Sprengkraft des noch nicht endgültig Vereinten und Verträglichen. Baudelaire nennt das ein Einfangen des Unendlichen im Endlichen – » l'infini dans le fini« 112 -, das nur möglich ist, wenn die Sprache die Dinge aus der trivialen Umgebung herausreißt, die ihren Symbolwert verdeckt. Der Künstler, der dies fertig109 110 111 112
Ebd., S. 28 (»Spleen et Idéal XXV«). Ebd., S. 73 (»Spleen II«). Ebd., S. 56 (»Causerie«). »Salon de 1859«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 636. 41
bringt, ist, wie Baudelaire formuliert, »un puissant idéaliste qui fait rêver et deviner au-delà.« 113 Baudelaire meint indessen alles andere als eine unverbindliche, subjektivistische Phantastik. Für ihn ist vielmehr gerade der Dichter, der auf Beschreibung des So-Seienden verzichtet und sich im Bereich des Möglichen bewegt, derjenige Mensch, der eine »Kollektivseele« besitzt, der für die anderen dechiffriert: En décrivant ce qui est, le poète se dégrade et descend au rang du professeur; en racontant le possible, il reste fidèle à sa fonction; il est une âme collective qui interroge, qui pleure, qui espère et qui devine quelquefois. 114
Das ist eine ganz neue Bestimmung des Möglichen. Das Mögliche ist nicht mehr – aristotelisch – ein Gegensatz zum bloß Geschehenen, sondern bezeichnet eine Wirklichkeit, die für alle so wesentlich wie verborgen ist. Der Dichter hat für alle zu fragen, zu weinen, zu hoffen und manchmal zu ahnen. Das Mögliche ist das Ideale, das die Welt nicht verwirklicht und das doch in ihr steckt. Wie aber realisiert sich das in der Dichtung? Und welches ist die schöpferische Kraft, die jene Forderungen zu erfüllen erlaubt? Betrachten wir zunächst noch einige Mittel! Ich habe bei der Behandlung des Spleen-Sonetts schon auf den Verfremdungseffekt gleich zu Beginn, beim ersten Wort hingewiesen. Ich komme kurz darauf zurück: Pluviôse – »Regenmonat«, die Wahl des Revolutionskalenders ist überraschend, ungewöhnlich, beschwört Assoziationen fast dämonologischer Art. Pluviôse ist Allegorie, ist eine tödliche Macht, deren unheimlich-drohender Charakter noch durch die Weglassung des Artikels, der ihn zum Definierbaren vertraut hätte, verstärkt wird. Dieser Einsatz ist so überraschend wie das Abstraktum der »mortalité«, der »Sterbeziffern« in den Vorstadtstraßen. Überraschend ist aber auch die Auswahl der Elemente, mit denen Baudelaire die Atmosphäre des ganzen Gedichts schafft, mit denen er den Innenraum gegen den Außenraum stellt: »Katze«, »irrende Seele eines Poeten in der Dachrinne«, hinterlassene Gerüche einer an Wassersucht verstorbenen alten Frau, Herzbube und Pikdame im Gespräch, das an vergangene Liebe erinnert: Irreales und Reales vermischt, plötzlich, ohne Übertragung. Überraschend die Verbindung von Totem und Lebendigem in der Koppelung von Substantiv und Adjektiv. Nicht überraschend ist in Anbetracht der Gesamtstimmung des Sonetts die Wahl von schweren Reimwörtern: entière, ténébreux, cimetière, brumeux usw. Was jedoch auffällt, ist, daß es sich durchweg um »rimes riches« handelt: entière, cimetière, litière, gouttière, galeux, frileux, hydropique, de pique. Diese reichen Reime gedeihen teilweise bis zum leoninischen Reim, so: enrhumée, enfumée. Wir ziehen zur Erklärung eine Stelle aus den schon mehrfach genannten Notes nouvelles sur Edgar Poe heran. Dort rühmt Baudelaire an Poe: Il fait souvent un usage heureux des répétitions du même vers ou de plusieurs vers, retours obstinés de phrases qui simulent les obsessions de la mélancolie ou de l'idée fixe, [...] des rimes redoublées et triplées, et aussi d'un genre de rime qui intro-
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»Salon de 1846«, ebd., S. 421. »Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains: Victor Hugo«, ebd., S.139.
duit dans la poésie moderne, mais avec plus de précision et d'intention, les surprises du vers léonin. 115
Weitere Beispiele in den Fleurs du Mal sind überaus häufig. Die hier zitierte Stelle ist besonders wichtig, weil sie zeigt, mit welcher Bewußtheit Baudelaire die Möglichkeiten von Satz- und Reimwiederholung zur Erzielung bestimmter Effekte, das heißt zum hartnäckigen Einhämmern einer Idee oder einer Stimmung verwendet. Und der gleiche zitierte Satz enthält einige wesentliche Bestimmungen der Baudelaireschen Poetik und Ästhetik überhaupt. Einmal die, daß diese Mittel als Mittel einer poésie moderne verstanden sind, ferner die précision, zum anderen fällt der Ausdruck surprise, »Überraschung«. Ich habe vorhin auf das »Überraschende«, das sich so weitgehend mit einem »befremdenden« und die Dinge und Begriffe »ver-fremdenden« poetischen Stil deckt, hingewiesen. Das »Überraschen« oder »Erstaunen« gehört für Baudelaire zu den Grundvoraussetzungen der »modernen« Kunstschönheit, ja das »Überraschende«, öfter von ihm auch das »Bizarre« genannt, erscheint wie eine zusätzliche, fast numinose Schönheit, wenn es in einem Prosagedicht von einer Frau heißt: » Elle est belle, et plus que belle; elle est surprenante.« 116 Die »Überraschung« steigert sich zum Schock. Der Überraschungseffekt bestimmt eine eigenartige, ganz von diesem Ziel determinierte Wortwahl: charakteristisch dafür sind Wörter wie »explosion«. An der gleichen Stelle, von der gleichen Frau, wird gesagt: » Ses yeux sont deux antres où scintille vaguement le mystère, et son regard illumine comme l'éclair: c'est une explosion dans les ténèbres.« 117 Und in einem Gedicht – Chanson d'après-midi – stehen als Abschluß die in der Tat »bizarren« Verse: Explosion de chaleur Dans ma noire Sibérie! 118
In seinem Tagebuch schreibt Baudelaire – und das ist vielleicht die deutlichste Formulierung: » Ce qui n'est pas légèrement difforme a l'air insensible« 119 – das ist die Abkehr von dem statuarischen, skulpturalen Schönheitsbegriff der Parnassier – und dann heißt es weiter: »- d'où il suit que l'irrégularité, c'est-à-dire l'inattendu, la surprise, l'étonnement sont une partie essentielle et la caractéristique de la beauté« 120 . Das »Unregelmäßige«, das »Unerwartete«, die »Überraschung«, das »Staunenmachen« – gehäufte Synonyme zur Verdeutlichung des einen wesentlichen Tatbestandes! Eine Stelle aus den Notes nouvelles bringt noch einen weiteren, trotz nur einmaligen Auftretens höchst signifikanten und mit den genannten Bestimmungen eng zusammenhängenden Begriff: Es ist die schon angesprochene Stelle über die Reimkunst. Von Poe wird gesagt:
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»Etudes sur Poe«, ebd., S. 336. »Le Spleen de Paris«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 340 (»Le désir de peindre«). Ebd. »Les Fleurs du mal«, ebd., S. 60. »Fusées«, ebd., S. 656. Ebd. 43
- il a [...] cherché à rajeunir, à redoubler le plaisir de la rime en y ajoutant cet élément inattendu, l'étrangeté, qui est comme le condiment indispensable de toute beauté. 121
Hier erscheint, in Kursivdruck hervorgehoben, das Äquivalent für das, was wir das »Verfremden« genannt haben: »das unerwartete Element der Fremdheit, das die unentbehrliche Würze des Schönen ist«.
Das Großstadterlebnis und die Figur des Flaneur – Elemente einer Dichtung der modernité Gehen wir nun einen Schritt weiter: das Befremdende, Verfremdete, Unerwartete, Überraschende hat, das liegt in der Konsequenz seiner bewußten und präzisen Anwendung, einen Choc im Leser zum Ziel. Der Choc, den der Dichter erzeugt, will die Wand der Kommunikationslosigkeit durchstoßen, die Entfremdung zwischen Dichter und Leser aufheben durch die Verfremdung selbst, will Zugänge zu den Wahrheiten der Moderne freilegen. Walter Benjamin hat die Fleurs du Mal durchaus zu Recht als eine Dichtung bezeichnet, » der das Choc-Erlebnis zur Norm geworden ist« 122 – sagen wir deutlicher: in welcher das Chocerlebnis struktur- und stilbestimmend wird. Das mag stilgeschichtlich nicht ohne jeden Zusammenhang mit der Barockdichtung sein – man denke an den »stupore«-Begriff eines Marino-, für die neuere Literatur bedeutete es nichts anderes als eine direkt vermittelte und daher überzeugend nachweisbare Übertragung eines Grundphänomens der modernen gesellschaftlichen Welt in die Poetik. Das hat wiederum Walter Benjamin erkannt, und er hat auf den innigen Zusammenhang aufmerksam gemacht, » der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocs und der Berührung mit den großstädtischen Massen besteht« 123 . Er hat dabei gleichzeitig gesehen und nachgewiesen, daß diese Massen sich Baudelaire nur als die »amorphe Menge der Passanten«, als »Straßenpublikum« 124 präsentierten, ihm nur dadurch vermittelt und zugänglich wurden. Als Schlüsselfigur, die bestimmend wird für die Perspektive, erscheint dabei der müßiggängerische Spaziergänger, der flâneur, eng verwandt mit dem Dandy. Darauf komme ich noch zurück. Benjamin zieht als Stütze für seine These ein eindeutiges Zeugnis heran: Baudelaires Widmung seiner Poèmes en prose für seinen Freund Arsène Houssaye. Dort schreibt Baudelaire, um seine Prosagedichte als poetische Gattung zu rechtfertigen, folgendes: Quel est celui de nous qui n'a pas, dans ses jours d'ambition, rêvé le miracle d'une prose poétique, musicale sans rhythme et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s'adapter aux mouvements lyriques de l'âme, aux ondulations de la rêverie, aux soubresauts de la conscience?
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»Etudes sur Poe«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 336. Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Schriften. Bd. 1, Frankfurt/Main 1955,S.434. Ebd., S. 437. Ebd.
C'est surtout de la fréquentation des villes énormes, c'est du croisement de leurs innombrables rapports que naît cet idéal obsédant. 125
Wir müssen das sehr ernst nehmen! Diese Zeilen besagen nichts anderes, als daß die Prosagedichte eine Art von Potenzierung dessen sein sollen, was auch die Verslyrik der Fleurs du Mal anstrebt. Im Tagebuch erhalten die »soubresauts de la conscience« den Namen, den wir dafür gewählt haben, und sie stehen in dem Zusammenhang, den auch wir mit der Hilfe Walter Benjamins aufdecken wollen: » [les] chocs et les conflits quotidiens de la civilisation« 126 . Aus der »fréquentation des villes énormes«, dem Leben in den Riesenstädten, mit dem »Überkreuzen ihrer unzähligen Beziehungen« – wie Baudelaire es sagt – entspringt nach seinem Zeugnis dieses Ideal des neuen lyrischen Stils. Das bedeutet aber, daß es die gehäuften Begegnungen der Großstadt, die massierten Chancen des Zufalls und die ungeheuerlich erweiterten Möglichkeiten des Chocs sind, die Baudelaire in voller Bewußtheit eine neue Grundlegung der lyrischen Sprache suchen und schaffen lassen. Mit sicherem Griff hat Walter Benjamin ein Gedicht herausgehoben, an dem der Zusammenhang zwischen dichterischem Schaffensprozeß, Großstadtzufall und Begegnung selber zum poetischen Bild geronnen ist. In dem Gedicht Le Soleil heißt es: Je vais m'exercer seul à ma fantasque escrime, Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, Trébuchant sur les mots comme sur les pavés, Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 127
Der Prozeß des dichterischen Schaffens ist hier gleichsam in die Straßenkreuzungen, in das Zufallsreich auf dem Großstadtpflaster verlegt. Hier ist die Grundlage des neuen dichterischen Verfahrens selbst poetisiert, ist die Arbeit an der modernité der Lyrik sich einmal selbst zum Gegenstand geworden. Den Ausdruck modernité hat Baudelaire absichtlich als einen ganz neuen Begriff eingeführt, mit der Kühnheit des Dichters, der weiß, daß er zugleich der Schöpfer dieser modernité in der Poesie ist. Wir müssen uns ansehen, was er selbst unter modernité versteht und in welchem Verhältnis die modernité zum Schönen, zum Beau, und zur Natur steht. Ebenso wird die Frage zu beantworten sein, wie sich das Programm der modernité zu der Aufgabe des Künstlers verhält, ein »puissant idéaliste« zu sein, »qui fait rêver et deviner au-delà« 128 . Für Baudelaire hat die gegenwärtige Welt, also das, was Gegenstand der modernité ist, nicht nur die Qualität eines Stoffes, dem Kunstschönheit abzugewinnen ist, sondern auch seinen Eigenwert als Gegenwärtiges, Aktuelles:
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»Le Spleen de Paris«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 275 f. »Fusées«, ebd., S. 663. »Les Fleurs du mal«, ebd., S. 83. »Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 684. 45
Le plaisir que nous retirons de la représentation du présent tient non seulement à la beauté dont il peut être revêtu, mais aussi à sa qualité essentielle de présent. 129
Hier liegt ein Zeitbewußtsein vor, dem das moderne Leben zum Schicksal wird, in welchem sein eigenes Ich nur das Schicksal aller als ein Leiden repräsentiert. Ich erinnere an die »âme collective« des Dichters. Baudelaires Auseinandersetzung mit der »Modernität«, seine Konzeption derselben, bildet gleichsam das vorläufige Schlußkapitel einer Begriffs- und Bedeutungsgeschichte des Wortes »modernus« – Schlußkapitel insofern, als »modern« endgültig nicht mehr dem Begriff »antik« und »Antike« entgegengesetzt wird, vielmehr das jeweils »Alte« als das soeben vergangene »Moderne« verstanden wird 130 . Baudelaire hat seine Auffassung der modernité vor allem in dem Abschnitt Le peintre de la vie moderne seiner Curiosités esthétiques niedergelegt. Der Mensch, der für Baudelaire zum dichterischen Subjekt wird, ist nun freilich das denkbar modernste Individuum: »L'Homme des foules«, Träger einer »passion fatale, irrésistible«, nämlich derjenigen der »curiosité« 131 . Aus einer Schrift Poes übernimmt Baudelaire das Bild des Homme des foules, der nach langem Blick aus den Fenstern eines Cafés plötzlich auf die Straße stürzt: Finalement, il se précipite à travers cette foule à la recherche d'un inconnu, dont la physionomie entrevue l'a, en un clin d'œil, fasciné. 132
Worauf es hier ankommt, ist die Faszination des in der Menge Verschwundenen, der als solcher eben nur von dieser Menge vereinzelt und konstituiert ist. Ist der Gegenstand der Neugier, des Suchens, von der städtischen Menge bestimmt, so auch der Sucher selbst: der müßige Spaziergänger, der flâneur, der seine ästhetisch kultivierteste Ausbildung in der Gestalt des Dandy gefunden hat. Er ist, was Baudelaire freilich nicht gesehen hat, ein Produkt der modernen großstädtischen Masse, aber nicht eigentlich ihr Angehöriger. Von dem flâneur heißt es: La foule est son domaine, comme l'air est celui de l'oiseau, comme l'eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c'est d'épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l'observateur passionné, c'est une immense jouissance que d'élire domicile dans le nombre, dans l'ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l'infini. Être hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi, être au centre du monde et rester caché au monde... 133
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»Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains: Victor Hugo«, in: Œuvres complètes, Bd.2, S.139. Die Geschichte dieser Antithese hat Hans Robert Jauss skizziert in seinem Aufsatz: »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität«, in: Aspekte der Modernität (hrsg. v. H. Steffen), Göttingen 1965; wiederabgedruckt in: H. R. J., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main 1970. »Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 689-690. Ebd. Ebd., S. 691 f.
Hier ist ein ganz neuer Menschentypus gezeichnet, wie ihn erst die moderne Großstadt hervorbringen konnte: ein Mensch so sehr der Großstadt selbst, daß deren Menge ihm selbst Natur ist, daß er sich mit ihr zu »vermählen« trachtet, in ihrer Bewegung das »Flüchtige« und das »Unendliche« verspürt – und zwar in einer ganz neuen Befindlichkeit des Bewußtseins: im Zentrum der Welt zu sein und doch der Welt verborgen, ein Mensch, dem die Anonymität der modernen Masse selber zum Positiven umschlägt: »L'observateur est un prince qui jouit partout de son incognito.« 134 Er ist also als ein leidenschaftlicher Beobachter der Menge, zugleich deren getreuer Spiegel: un miroir aussi immense que cette foule [...] un kaléidoscope doué de conscience, qui, à chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce mouvante de tous les éléments de la vie. C'est un moi insatiable du non-moi... 135
Unersättliche Begier des Ich nach dem Nicht-Ich. Es ist, als sähe Baudelaire hier die große neue Chance der Kommunikation der Menschen. Der flâneur ist also Produkt und Spiegel der Menge, Brücke zwischen Ich und Nicht-Ich. Sein Zustand ist wie Trunkenheit, wie Rausch, hat etwas von religiöser Ekstase, von schwindelerregender Hingabe an sich. Im Tagebuch heißt es: »Ivresse religieuse des grandes villes. – Panthéisme. Moi, c'est tous; Tous, c'est moi. Tourbillon.« 136 Und in dem Prosagedicht Les foules wird gesagt: »Le promeneur solitaire et pensif tire une singulière ivresse de cette universelle communion.« 137 Kommunikation durch Kommunion. Das ist die Identifikation mit der Umwelt, mit den anderen – Faszination der Moderne in ihrer Dämonie. Aber nicht jeder ist ein flâneur oder dandy. Das Prosagedicht Les foules beginnt mit dem Satz: »Il n'est pas donné à chacun de prendre un bain de multitude: jouir de la foule est un art...« 138 Diese Kunst besteht darin, Menge und Einsamkeit in der Menge zugleich zu sein. Der flâneur, der dies kann, ist die Vorstufe zum Künstler der modernité, der aus ihr die Schönheit zu holen versteht: »Multitude, solitude: termes égaux et convertibles pour le poète actif et fécond.« 139 Die größte Menge erzeugt als ihren Gegensatz die größte Einsamkeit – eine entscheidende Erfahrung der Moderne. Ist der flâneur ein Dichter, dann beruhigt er sich nicht beim Genießen der beobachteten Menge und der flüchtigen Begegnung: Ainsi il va, il court, il cherche. Que cherche-t-il? À coup sûr, cet homme, tel que je l'ai dépeint, ce solitaire doué d'une imagination active, toujours voyageant à travers le grand désert d'hommes, a un but plus élevé que celui d'un pur flâneur, un but plus général, autre que le plaisir fugitif de la circonstance. Il cherche ce quelque chose qu'on nous permettra d'appeler la modernité'; car il ne se présente pas de meilleur
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Ebd., S. 692. Ebd. »Fusées«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 651. »Le Spleen de Paris, ebd., S. 291. Ebd. Ebd. 47
mot pour exprimer l'idée en question. Il s'agit, pour lui, de dégager de la mode ce qu'elle peut contenir de poétique dans l'historique, de tirer l'éternel du transitoire 140 .
Der Dichter-flâneur sucht die modernité, unter der wir also die poetische Essenz der modernen Welt zu verstehen haben, das Bleibende im Vergänglichen, das aber darum eben, als Signatur der modernen Welt, der »Menschenwüste«, das Material der Dichtung sein muß: » Cet élément transitoire, fugitif, dont les métamorphoses sont si fréquentes, vous n'avez pas le droit de le mépriser...« 141 Die unerhörte Dynamik, die alles im Wechsel, im Verändern, in der Bewegung erscheinen läßt, ist eben das Wesen der Moderne: »La modernité, c'est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l'art, dont l'autre moitié est l'éternel et l'immuable.« 142 Aus dieser doppelten Zielrichtung – entschiedene Wendung zur modernen Welt in ihrer charakteristischsten Erscheinungsform und Herauskristallisieren dessen, was sie an poetischer Wahrheit und damit bleibender Substanz enthält –, aus dieser doppelten Zielrichtung ergibt sich ein Schönheitsbegriff besonderer Art. Wir haben davon schon gesprochen und brauchen nur noch zu ergänzen. Wir erinnern uns – neben dem Anteil des malheur – an die Elemente der surprise, des inattendu, der étrangeté, des choc. Alle diese Elemente individualisieren das Schöne durch eine bewußte irrégularité, durch das »Bizarre«: »Le beau est toujours bizarre.« 143 In dem Sinne aber, daß die Kunst das Bleibende im Flüchtigen erkennt und darstellt, was eben durch die Verfremdung und Verwandlung des Flüchtigen geschieht, ist das Schöne aus zwei Hälften zusammengesetzt: »le fugitif, le contingent, [est] la moitié de l'art, dont l'autre moitié est l'éternel et l'immuable.« 144 An einer anderen Stelle des Aufsatzes Le peintre de la vie moderne wird dieser Gedanke präzisiert: C'est ici une belle occasion, en vérité, pour établir une théorie rationnelle et historique du beau, en opposition avec la théorie du beau unique et absolu; pour montrer que le beau est toujours, inévitablement, d'une composition double, bien que l'impression qu'il produit soit une; car la difficulté de discerner les éléments variables du beau dans l'unité de l'impression n'infirme en rien la nécessité de la variété dans sa composition. Le beau est fait d'un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d'un élément relatif, circonstanciel, qui sera, si l'on veut, tour à tour ou tout ensemble, l'époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élément, qui est comme l'enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. Je défie qu'on découvre un échantillon quelconque de beauté qui ne contienne pas ces deux éléments. 145
Das einzige, absolute Schöne gibt es nicht. Das Schöne ist immer zusammengesetzt aus den Elementen seines Anlasses und seiner Materialien, das heißt seiner Geschichtlichkeit, Mode, Moral und Leidenschaften und dem diese Elemente Transzendierenden. Baudelaire zögert nicht, diese Doppelheit der Kunst in dem 140 141 142 143 144 145
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»Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 694. Ebd., S. 695. Ebd. »Exposition universelle (1855)«, ebd., S. 578. »Le Peintre de la vie moderne«, ebd., S. 695. Ebd., S. 685.
Dualismus zu verankern, der das Wesen des Menschen, seine geschichtliche, zeitliche, vergängliche Zuständlichkeit und seinen Drang nach Ewigkeit und Glück ausmacht: »La dualité de l'art est une conséquence fatale de la dualité de l'homme.« 146 Jenes Transzendieren des Flüchtigen ist für Baudelaire das Einfangen des »Unendlichen im Endlichen«, die wesenhafte, dem Vergänglichen immanente Ahnung von der Existenz eines verwehrten Glücks: »L'infini dans le fini«, »promesse de bonheur« 147 . Man erkennt in dieser Dualität, die Baudelaires Ästhetik beinhaltet, das Strukturschema des sich mit der großstädtischen Menge »vermählenden«, eine »mystische Kommunion « herstellenden Flaneur wieder.
Über einige weitere Motive bei Baudelaire: Reise, Traum und Natur Baudelaire hat – und hier liegen entscheidende Motive für die Auswahl seiner Themen – überall nach jenen Augenblicken getrachtet, in denen die Dinge und Empfindungen als Symbole für anderes stehen, in denen das Endliche auf das Unendliche verweist. Nehmen wir nur das wichtige Thema der Reise. Verfolgt man das alte Motiv des voyageur durch seine Modifikationen in der Romantik hindurch bis zu Baudelaire, so wird deutlich, wie das ganze Motivfeld voyage eine Umkehrung erfährt durch die neue Erfahrung des flâneur, die Einsamkeit in der Menge und die – nur durch die Kunst letztlich aufzuhebende – Selbstentfremdung des Ich. Der flâneur ist ein Mensch, dem, wie Baudelaire sagt, eine Fee die » haine du domicile et la passion du voyage« 148 eingeflößt hat – eine Formulierung, in welche auch die Heimatlosigkeit eingegangen ist. Der Tod selbst wird zur Station der Reisen ins Unendliche, ins Neue. Die Schiffe im Hafen werden zu Symbolen der Reise nach dem Unendlichen, das mit dem Glück zusammenfällt: »Ces beaux et grands navires [...] ne nous disent-ils pas dans une langue muette: Quand partons-nous pour le bonheur?« 149 Aber es bleibt eben eine »Reise ohne anzukommen«, und die Reise wird, als einziger Ausweg aus dem Endlichen, sich selbst zum Ziel, sie wird damit selbst wieder ziellos: Mais les vrais voyageurs sont ceux-là seuls qui partent Pour partir; cœurs légers, semblables aux ballons, De leur fatalité jamais ils ne s'écartent, Et, sans savoir pourquoi, disent toujours: Allons! 150
So heißt es in dem Gedicht Le voyage, am Ende der Fleurs du Mal. Dem Schiff gesellt sich das Meer als Symbol des Unendlichen zu. So in dem Prosagedicht L'invitation au voyage:
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Ebd., S. 685 f. »Etudes sur Poe«, ebd., S. 286. »Le Spleen de Paris«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 291 (»Les foules«). »Fusées«, ebd., S. 655. »Les Fleurs du mal«, ebd., S.130 (»Le voyage«). 49
Ces énormes navires [...], tout chargés de richesses, [...] ce sont mes pensées qui dorment ou qui roulent sur ton sein. Tu les conduis doucement vers la mer qui est l'Infini ... 151
Die Liebe selbst, und zwar in ihrer unfruchtbarsten, die Unerfüllbarkeit potenzierenden Gestalt, wird zum Symbol der Suche nach dem Unendlichen: die lesbischen Frauen, Trägerinnen »ungestillten Dursts« 152 und groß in der Verachtung der Natur, sind die wahren »chercheuses d'infini« 153 . Sie tragen das Unendliche in sich und müssen es doch ständig fliehen: Loin des peuples vivants, errantes, condamnées, A travers les déserts courez comme les loups; Faites votre destin, âmes désordonnées, Et fuyez l'infini que vous portez en vous! 154
Es ist dies – im Kreislauf gefangen – jenes Unendliche, auf das sich das Streben des Menschen ebenso unaufhörlich richtet wie die Dichtung, die es im Endlichen aufdeckt und konsequent das Endliche zum bloßen Zeichen verwandelt, zur Hieroglyphe, und die somit das Wirkliche entwirklicht. Das Thema der Reise verbindet sich mit dem Thema Arkadien und Goldenes Zeitalter, dem uralten, unausrottbaren Menschheitstraum von einem Garten Eden, einem irdischen Paradies, aus dem Sünde, vergängliche Zeit, Tod und Not ausgeschlossen sind, da Liebe, Liebesfreiheit und Schönheit und Friede herrschen – gedacht als Anfangszeit der Geschichte oder als Ziel der Geschichte. Der Traum von der Rückkehr des Goldenen Zeitalters mag tausendmal von Logik und Wirklichkeit widerlegt werden, er kehrt immer wieder, solange die Wirklichkeit nicht einlöst, was er verspricht. In Spleen et Idéal steht das Gedicht L'invitation au voyage: Einladung zur Reise in das Land der Sehnsucht, der Liebe, der Erfüllung noch der geringsten und stets bescheiden bleibenden Wünsche. Drei Strophen, alle drei mit dem Refrain: Là, tout n'est qu'ordre et beauté, Luxe, calme et volupté. 155
Was hier gleichsam noch erreichbar scheint, ist schon ferne gerückt in dem Gedicht Moesta et Errabunda, ebenfalls in Spleen et Idéal: Comme vous êtes loin, paradis parfumé, Où sous un clair azur tout n'est qu'amour et joie, Où tout ce que l'on aime est digne d'être aimé, Où dans la volupté pure le cœur se noie! Comme vous êtes loin, paradis parfumé! 156
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»Le Spleen de Paris«, ebd., S. 303. »Les Fleurs du mal«, ebd., S. 114 (»Femmes damnées«). Ebd. »Les Epaves«, ebd., S.155 (»Femmes damnées«). »Les Fleurs du mal«, ebd., S. 53. Ebd., S. 63.
Die hier bereits zweifelnde Zuversicht ist erloschen und grausig verkehrt in einem anderen Voyage-Gedicht: Un voyage à Cythère. Kein Leser, schon gar kein französischer, der nicht sogleich an Watteaus berühmtes Gemälde Embarquement pour Cythère dächte. Das Gedicht steht in dem Teil Fleurs du Mal der Fleurs du Mal. Zu Schiff nähert sich der Dichter Kythera, der berühmten, vielbesungenen Insel der Venus. Doch was er erblickt, ist nicht das Land der Sehnsucht und der Liebe, sondern ein Galgen. Am Galgen hängt ein ekliger Kadaver, Ebenbild des Dichters selbst: Dans ton île, ô Vénus! je n'ai trouvé debout Qu'un gibet symbolique où pendait mon image... - Ah! Seigneur! donnez-moi la force et le courage De contempler mon cœur et mon corps sans dégoût! 157
Seit wir wissen – was freilich die Baudelaire-Forschung nur zögernd zur Kenntnis nimmt –, daß Baudelaire sich Jahre hindurch für die fortschrittsgläubigen frühsozialistischen Theorien Fouriers begeistert hat, bis zum Staatsstreich Napoleons, und daß dieser eine tiefgreifende Desillusion bewirkte, die Baudelaire von nun an jeden Gedanken an einen Fortschritt der menschlichen Gesellschaft als eine «absurdité gigantesque, une grotesquerie qui monte jusqu'à l'épouvantable« 158 verwerfen ließ – seit wir dies wissen, drängt sich folgende Vermutung auf: Das sich durch die ganzen Fleurs du Mal hindurchziehende Thema der »Reise« entfaltet sich zu einer Art von Parabel für den geschichtlichen Weg der Menschheit, konzentriert auf den persönlich erlebten Umschlag der Hoffnung auf eine entscheidene Etappe des Fortschritts in die totale Ernüchterung des Jahres 1851. Die Reise, die angetreten wurde als Reise ins Verlorene, aber Vertraute und Wiederbringliche, als geschichtlicher Prozeß, der zur Rückkehr – oder Verwirklichung – des idealen Zeitalters führen sollte,. erweist sich zusehends als Reise in den Tod aller Hoffnung. An die Stelle der Reise in die Welt des Ideals tritt die Reise ins absolut Unbekannte, über die Schwelle des Todes. Wir kennen diese Konsequenz bereits: das die Fleurs du Mal abschließende Gedicht Le voyage. 159 In dem Gedicht La voix, in den Pièces diverses, heißt es: [...] »Viens! oh! viens voyager dans les rêves, Au-delà du possible, au-delà du connu!« 160
»Reisen« im Traum, das heißt Verzicht auf Reisen in der Wirklichkeit, Abdrängen realer Hoffnung aus der Wirklichkeit in die Überwirklichkeit der Poesie, hinaus sogar über das Mögliche (»possible«), das selber sich als unzulänglich erweist – viel-
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Ebd., S. 119. »Exposition universelle (1855)«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 581. Zum Thema des Goldenen Zeitalters – dessen Stellenwert hier nur kurz angedeutet werden konnte – sei verwiesen auf die Dissertation von Rüdiger Stephan, Goldenes Zeitalter und Arkadien. Studien zur französischen Lyrik des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1971. »Pièces diverses«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S.170. 51
leicht weil die Chance seiner Realisierung vertan ist – und verwiesen ist aufs Unbekannte, sowohl Verschlossene wie Offene. Vom Traum und seiner Funktion ist also noch einmal zu sprechen: »les choses de la terre n'existent que bien peu ...« 161 , so sagt Baudelaire in den Paradis Artificiels, und er fährt fort: »la vraie réalité n'est que dans les rêves. 162 [...] le rêve absurde, imprévu [...] ce rêve [...] hiéroglyphique [qui] représente évidemment le côté surnaturel de la vie ...« 163 Und an anderer Stelle heißt es: »L'infini dans le fini, c'est le rêve.« 164 Der Traum erschließt die wahre Wirklichkeit, die diejenige einer »anderen Welt« ist: »La poésie est ce qu'il y a de plus réel, c'est ce qui n'est complètement vrai que dans un autre monde!« 165 Daher ist Träumen: Glück – c'est un bonheur de rêver 166 –, weil es eine andere, wirklichere, wahrere Welt erschließt, als diejenige ist, in der wir leben. Das Beste an dieser Welt hier ist, daß sie verschlüsselt die Zeichen, die Hieroglyphen für jene andere Welt enthält: » Ce monde-ci, – dictionnaire hiéroglyphique.« 167 Dem Traum wohnt die Kraft inne, die Baudelaire vor allem der Imagination zuschreibt, die Kraft, die Dinge zu zerlegen und sie neu zu ordnen: » le rêve, qui sépare et décompose, crée la nouveauté.« 168 Doch was Baudelaire erträumt, was er dem widerlichen »naturel« als eine Wahrheit des »surnaturel« entgegensetzt, ist zuweilen von schrecklicher Ambivalenz. Baudelaires berühmtester poetischer Traum: er steht in den Tableaux parisiens und trägt den Titel: Rêve parisien 169 . »Terrible paysage«, so nennt schon im 1. Vers der Dichter die erträumte unterirdische Stadt, ein Paradies aus Metall, Marmor und Wasser, ein Babel errichtet gegen die Schöpfung – von Treppen, Arkaden, Bassins, Kaskaden, Katarakten aus gleißenden Vorhängen aus Kristall. Der Traumarbeit war es gelungen, alles vegetative Leben zu eliminieren: J'avais banni de ces spectacles Le végétal irrégulier.
Alles Organische ist verschwunden aus den Schluchten aus Diamant. Ein gezähmter Ozean fließt geräuschlos durch einen Tunnel aus Edelstein. Wasser wird zu kristallisiertem Strahl. Kein Stern, keine Sonne erhellt das Wunder aus Marmor, Metall und Wasser, die ihr Licht allein aus sich selber empfangen. Die gestirnlose Stadt, aus welcher alle Natur verbannt ist, kennt auch kein Geräusch, nur ewige Stille. Alles ist fürs Auge, nichts für das Ohr: Tout pour l'œil, rien pour les oreilles! Un silence d'éternité.
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»Les Paradis artificiels«, ebd., S. 399. Ebd. Ebd., S.408. »Salon de 1859«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 636. »Puisque réalisme il y a«, ebd., S. 59. »Salon de 1859«, ebd., S. 616. »Puisque réalisme il y a«, ebd., S. 59. »Lettre à Alphonse de Calonne, mi-mars 1860«, in: Correspondance, Bd.2, S. 15. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S.101 ff.
Der Traum bricht ab. Der Dichter findet sich wieder in seiner elenden Bude. Brutal und unheilvoll schleudert die Wanduhr den Mittagsglockenschlag ins Ohr, gießt der Himmel Finsternis in die traurige, gelähmte Alltagswelt. Kein Zweifel: dieser Traum entwirft eine Gegenwelt zur Welt, eine Gegenstadt zur Stadt, aus der ausgeschieden ist, was gemein – weil natürlich – ist, ein künstliches Paradies gegen ein Natürlich-Organisches, eine unterirdische Stadt, geschaffen gegen die gewachsene, reale, oberirdische; kalte, aber makellose, autonome Schönheit gegen die Verderbnis der naturhaft gewordenen Häßlichkeit. Ein »negatives« Paradies insofern, als es dem irdischen Paradies der Genesis genau entgegengesetzt scheint. Ideal gedacht und doch stigmatisiert vom Zwang, die Realität der Großstadt genau umkehren zu müssen. Nicht wärmendes Licht, sondern kaltes Leuchten der metallenen Welt selber; nicht Lärm des Lebens, sondern Totenstille: unmenschlich wird, was aus kläglichem, elendem Menschendasein herausführen sollte. Walter Benjamin hat den Rêve parisien als die »Phantasie von den stillgelegten Produktionskräften« interpretiert 170 . Ein bestechender Gedanke. Doch die Deutung ist zu kurzgeschlossen, bleibt unglaubwürdig, weil sie nicht zur Kenntnis nimmt, was an Vermittlungen vielschichtigster Art notwendig war oder wäre zwischen der rasanten und entfremdeten Welt des Industriezeitalters und dem poetiAchen Traum. Vielleicht wird zukünftige Forschung literatursoziologischer Orientierung nachholen können, was Benjamin hier noch versäumt hat 171 . Wir beginnen indessen jetzt zu begreifen, daß und weshalb die revolutionäre Hinwendung zur modernité der großstädtischen Welt, dieser entschlossene poetische Griff in die triviale und doch faszinierende Gegenwart, keinen Widerspruch zu der Forderung nach surnaturalisme, nach »Überwirklichkeit«, darstellt, letztere vielmehr durch erstere hervorgerufen wird. Die Welt des »présent« ist für den Dichter der modernité nur das »Wörterbuch von Hieroglyphen«, welche die Poesie zu entschlüsseln hat, »Wörterbuch« für die poetische Errichtung einer »anderen Welt«, die als eine »mögliche« gesichtet wird, obgleich unendlich fern von jeder Realität und dieser doch eingeboren als Widerspruch und Hoffnung. Oft genug aber, und schließlich definitiv, entschwindet die Hoffnung, und übrig bleibt allein der Widerspruch. Die Lehre von der Dualität des Schönen begreift das Endliche wie das Unendliche, Wirklichkeit und Überwirklichkeit, »observation« und »rêve« mit ein. Zugrunde liegt dieser Konzeption die tiefe, aus dem Stadt-Erlebnis entstandene Erfahrung einer bereits technisierten, verwalteten, anonymen, ihren Charakter durch die Menge, die »foule« und den flâneur vermittelnde Welt der undurchschaubaren Fülle, gegenüber deren Banalität und Häßlichkeit nur noch eine Distanzierung, eine neue Verfremdung hilft, die allein aus dem Faszinosum ihrer Dynamik poetisches Kapital schlagen kann. Nur äußerste Verfremdung entlockt ihr einen Sinn, der in einer Welt ohne gesicherten Glauben sich zum Traumhaft-Unendlichen, stets mit der Verzweiflung Ringenden verflüchtigen und in dieser Verflüchtigung kristallisieren 170 171
Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S. 488. Der Stoff, das Motiv ist alt. Eine lange Tradition des Themas von der unterirdischen Märchenstadt wäre aufzurollen. Es scheint, daß Novalis und E. T. A. Hoffmann die nächsten Quellen sind. Dazu: Walter Vordtriede, Novalis und der französische Symbolismus, Stuttgart 1963. 53
muß – ein stets erneuerter Aufbruch zur Reise, die bei keiner Gewißheit mehr ankommt. Die Distanz zur Welt der Dinge, über welche die Dichtung doch unaufhörlich die Brücke der Korrespondenzen schlägt, um Dichtung der modernité sein zu können, ist so tief, daß die Natur als der Inbegriff des jetzt und hier Wirklichen sie zum Abgrund aufreißt. Ich habe von Baudelaires Naturwissenschaft schon wiederholt gesprochen und komme noch einmal darauf zurück, um ihre Bedeutung für Baudelaires Schönheitsbegriff zu unterstreichen. Ich habe bereits einmal auf die böse Notiz der Tagebücher hingewiesen, in welcher die Frau als verabscheuenswert, weil natürlich-naturhaft bezeichnet wird. Baudelaire hat dabei einmal George Sand als Opfer auserkoren. Der armen George Sand wird alle Schlechtigkeit ihres Geschlechts aufs Haupt geladen. Die tapfere Vorkämpferin für Gleichheit, Emanzipation und Naturrecht muß für Baudelaire wie ein rotes Tuch gewesen sein, sie muß eine geradezu physische Abscheu in ihm erregt haben. Sie war ihm zu naturhaft gesund: Voyez George Sand. Elle est surtout, et plus que toute autre chose, une grosse bête; [...] George Sand est une de ces vieilles ingénues qui ne veulent jamais quitter les planches. 172
J'ai lu dernièrement une préface [...] où elle prétend qu'un vrai chrétien ne peut pas croire à l'Enfer. Elle a de bonnes raisons pour vouloir supprimer l'Enfer. 173
Das Schlimmste verschweige ich. Hohes Alter, Vitalität und Optimismus der vielliebenden Schriftstellerin müssen in Baudelaire den unüberwindlichen Greuel vor der robusten, animalischen Natur provoziert haben. Von der Frau heißt es an der vorhin zitierten Stelle weiter: »Aussi est-elle toujours vulgaire, c'est-à-dire le contraire du Dandy.« 174 Der Dandy: das ist für Baudelaire das Ideal des perfektionierten Dilettantismus, der Grenzfall der mondänen Künstlichkeit, der am weitesten von den Niederungen des Naturhaft-Animalischen entfernt liegt. Der Dandy ist ein Mensch, der – obgleich sensibel – stoisch und lächelnd von allem unberührt bleibt, selbst vom Leiden; der das Nichtstun als Selbstüberwindung des Kreatürlichen betrachtet und jedes utilitaristische Tun verschmäht. Der Dandy ist die vollendete Künstlichkeit, die virtuose Distanzierung von der Natur; daher ist er für Baudelaire ein ästhetisches Menschenideal, das die denkbar größte Distanz zum banalen Leben bezeichnet. Baudelaire nennt die Dandies eine Art von letzter Aristokratie, wie sie allein in der Epoche der Endzeit, der décadence bestehen kann: une espèce de nouvelle aristocratie [...] basée sur les facultés les plus précieuses, les plus indestructibles, et sur les dons célestes que le travail et l'argent ne peuvent conférer. Le dandysme est le dernier éclat d'héroïsme dans les décadences ... 175
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»Mon cœur mis à nu« in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 686. Ebd., S. 687. Ebd., S. 677. »Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 711.
Diese Stelle ist überaus bezeichnend. Offenbart sie doch, wie sehr Baudelaires Kunsttheorie aus dem Protest gegen eine Welt der alles trivialisierenden Arbeit und des Geldes lebt, gegen eine Welt, in welcher der kultivierte Müßiggang wie eine heroische Auflehnung gegen den Niedergang erscheint. Nehmen wir hinzu, daß der Dandy zugleich das Gegenteil des Naturhaften ist, dann versteht man, weshalb Baudelaire den Warenhandel, als Inbegriff der verdinglichten Geldwelt, als »satanisch« und »natürlich« verurteilen konnte: Le commerce est satanique, parce qu'il est une des formes de l'égoïsme, et la plus basse et la plus vile. 176 Le commerce est naturel, donc il est infâme. 177
Je naturferner etwas ist, desto edler ist es. Deshalb wird Baudelaire auch zum ersten -großen Apologeten der Kosmetik. In der Critique d'art steht ein Abschnitt, betitelt: Eloge du maquillage. Dieser Lobpreis des Make-up wird eingeleitet mit einer schweren Anklage gegen die Natur als die Urmutter des Verbrechens: analysez tout ce qui est naturel, toutes les actions et les désirs du pur homme naturel, vous ne trouverez rien que d'affreux. Tout ce qui est beau et noble est le résultat de la raison et du calcul. Le crime [...] est originellement naturel. La vertu, au contraire, est artificielle, surnaturelle... 178
Die Frau ist nicht nur im Recht, sondern erfüllt eine Pflicht, wenn sie sich schminkt: »eile accomplit une espèce de devoir en s'appliquant à paraître magique et surnaturelle...« 179 Baudelaire präzisiert: Das Bemalen des Gesichts soll nicht die Natur nachahmen wollen, nicht eigentlich verschönen im Sinne von verjüngen, sondern es soll von der Natur wegführen. Die Überwindung der Natur durch die Kunst hat also auch hier das gleiche Ziel: »magie«, »surnaturalisme«. Und will die Frau zu einem zauberhaften Geschöpf, zum Idol werden, so muß sie sich bemalen: »elle doit se dorer pour être adorée.« 180 Aufschlußreich ist in unserem Zusammenhang auch eine Stelle, an der Baudelaire bekennt, daß ihm die künstlichen Landschaften des Theaters mehr sagen als nach der Natur geschaffene Landschaftsbilder 181 . Letztere sind meistens Lügen, gerade weil sie auf das Lügen verzichten wollen. Sie trachten nach höchster Naturnähe und versperren sich daher die Dimension des Traums, der Überwirklichkeit, der Magie, und werden deshalb unwahr und kunstlos. Die Fiktion, die Lüge der Kunst, die Transformation des Realen ins Irreale, wird in einem Maße zum Kriterium der künstlerischen Authentizität, wie dies noch nie der Fall gewesen war. Die schöpferische Kraft aber, die von der planen Natur abstrahiert und die Wahrheit der Fiktion schafft, ist nach Baudelaire die Einbildungskraft, die imagination. Baudelaire hat sie definiert und gepriesen in den 176 177 178 179 180 181
»Mon cœur mis à nu«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 704. Ebd., S. 703. »Le Peintre de la vie moderne«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 715. Ebd., S. 716f. Ebd., S. 717. »Salon de 1859«, ebd., S. 668. 55
Notes nouvelles sur Edgar Poe, und er hat ihr zwei eigene Abschnitte in den Curiosités esthétiques gewidmet, den einen unter dem Titel: La reine des facultés, womit eben die imagination gemeint ist, und den anderen überschrieben: Le gouvernement de l'imagination.
Die Rolle der Imagination und das dichterische Selbstverständnis bei Baudelaire Die imagination ist die Kraft der Verwandlung, analytisch und synthetisch zugleich. Sie ist die Kraft, die dem Beschwören, der Suggestion, dem Verfremden, dem Auswählen und Zusammenfügen zugrundeliegt, die sich immer feindlich gegen jede Neigung zur Kopie der Natur verhält. Sie öffnet die Wege zum Traum, zum »infini«. Sie ist, weil sie auf das So-Sein der Welt, auf die Reproduktion ihrer Fassade verzichtet, die Kraft, die zu jener Wahrheit durchdringt, deren Bereich das Mögliche ist, das wiederum ins Unendliche weist. Das »Mögliche« ist der Übergangsbereich vom Wirklichen zum Überwirklichen, vom »fini« zum »infini«: »L'imagination est la reine du vrai, et le possible est une des provinces du vrai. Elle est positivement apparentée avec l'infini.« 182 Die Welt ist für sie ein Arsenal von Zeichen und Bildern, denen sie ihren Platz und Wert zuweist und die sie in ihre hintergründige, gleichsam vornatürliche Existenz zurückverwandelt: Tout l'univers visible n'est qu'un magasin d'images et de signes auxquels l'imagination donnera une place et une valeur relative; c'est une espèce de pâture que l'imagination doit digérer et transformer. 183
Natur, Welt und Mensch erscheinen als ein Chaos, das allein die imagination zu ordnen vermag. Sie ist die wahre Ordnungskraft. Mit Recht hat Hugo Friedrich der Tätigkeit der Imagination einen ganzen Abschnitt gewidmet und dabei den folgenden Satz Baudelaires herangezogen: [L'imagination] décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver l'origine que dans le plus profond de l'âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf. 184
Dazu Hugo Friedrich, der die Bedeutung dieser Stelle präzis gekennzeichnet hat: »Das ist [...] ein Fundamentalsatz der modernen Ästhetik. Seine Modernität besteht darin, daß er an den Anfang des künstlerischen Aktes das Zerlegen stellt...« 185 Dem Zerlegen, dem décomposer, folgt das recomposer – das Zusammenfügen der geordneten Teile gemäß jener der imagination zugänglichen Einsicht in die verborgenen Zusammenhänge: 182 183 184 185
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Ebd., S. 621. Ebd., S. 627. Ebd., S. 621. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967,S.56.
L'Imagination est une faculté quasi divine qui perçoit tout d'abord, en dehors des méthodes philosophiques, les rapports intimes et secrets des choses, les correspondances et les analogies. 186
Die Welt, die nur ein verfilztes Chaos ist, auseinandernehmen, das Relevante, das Wesentliche, Signifikante, Weiter-Verweisende aussondern, zueinander in Beziehung setzen und daraus jene andere Welt- »un autre monde« – aufbauen, das ist das Ziel der Kunst der modernité und ist ihre schöpferische Verwirklichung zugleich. Mit der Rolle der imagination schließt sich der Kreis unserer theoretischen Betrachtungen. Im kreativen Prozeß des »Dekomponierens« und »Rekomponierens« sind jene poetischen Techniken beschlossen, von denen wir bereits gesprochen haben. Die Auswahl, die Baudelaire etwa in dem Spleen-Sonett Pluviôse unter Gegenständen und Motiven trifft, ist ein solches Dekomponieren der Wirklichkeit eines kalten Regentags in einer Pariser Vorstadtstraße. Die Rekomposition dieser Elemente, ihr Ordnen zur Herstellung eines Bezugs zueinander, schafft jene neue Über-Wirklichkeit, die eben wahrer ist als jede auf Genauigkeit und Vollständigkeit bedachte Schilderung. Ein Sinnzusammenhang ist in der modernen Welt nicht mehr herstellbar, es sei denn, indem man ihre Elemente zerlegt und neu ordnet. Die moderne Wirklichkeit kommt nur durch den Verzicht auf das, was man gemeinhin unter Wirklichkeitstreue versteht, zur künstlerischen Existenz. Wir wollen diesen Vorgang noch an einem weiteren Baudelaire-Gedicht verfolgen, an dem Sonett A une passante. Es steht in der Gruppe Tableaux parisiens, unter jenen Gedichten also, in denen die Stadt Paris selber zum Gegenstand der Dichtung geworden ist. Bevor wir an das Sonett herangehen, müssen wir indessen generell noch einmal auf die Bedeutung der Großstadt für Thematik und Stil Baudelaires zurückkommen. Baudelaire ist nicht der erste Lyriker, der die Großstadt als Thema wählte, aber er ist der erste, der aus dem Verzicht auf ihre bloße Deskription ihre Essenz herauskristallisierte, der nicht die Großstadt und den Menschen der Großstadt einander gegenüber stellte, sondern bei dem das Menschenbild selbst bereits als Produkt der modernen Großstadt und Menschenanhäufung erscheint und in eine neue Dichtersprache umgesetzt ist. Alfred de Vignys Gedicht auf die Stadt Paris 187 – aus dem Jahre 1820 stammend – verharrt noch im Staunen vor dem neuen Phänomen. Unter dem Eindruck der Revolution von 1830 wird bei Victor Hugo die Stadt im Spiegel der politischen Ereignisse reflektiert. Théophile Gautier wendet aus Opposition gegen die Innerlichkeit und Naturschwärmerei der Romantik den Blick wieder auf die reale Außenwelt: die monumentale Banalität der Großstadt ist für seine Kunstauffassung – die des l'art pour l'art – ein durchaus würdiger Gegenstand als eine Erscheinung des zeitgenössischen Daseins. Der von ihm erstmals entdeckte düstere Aspekt des Häusermeers mit schwarzen Schornsteinen verdichtet sich bei Auguste Barbier zu einem pessimistischen Bild der großstädtischen Verderbnis, der Gleichsetzung des Fortschritts mit dem Wachsen der geistigen Öde in einer Welt der Maschinen. In Barbiers Gedichtsammlungen Lazare und Iambes et poèmes ist beschrieben, was dann bei Baudelaire zur 186 187
»Etudes sur Poe«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 329. Alfred de Vigny, »Poèmes antiques et modernes«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Fernand Baldensperger), Bd. 1, Paris 1950, S.161 ff. 57
neuen Poesie selber wird: die Stigmatisierung des Menschen durch die industrielle Revolution. Der Schönheitsbegriff muß – angesichts solcher modernité – ein anderer sein als bisher; doch das wissen wir schon. Wichtig ist, noch einmal festzuhalten, daß es eben die Großstadt ist, aus der er erwächst, die Baudelaire fasziniert. 1846 schreibt er: »La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l'atmosphère; mais nous ne le voyons pas.« 188 Die Schönheiten des Alltäglichen, im Einzigartigen wie im Trivialen, sichtbar zu machen, anders gesagt, die Schönheit der Kunst aus einer Wahrheit zu ziehen, die so häßlich und böse sein kann wie sie will, das ist die Aufgabe der poésie moderne. Für die zweite Ausgabe der Fleurs du Mal hat Baudelaire einen Fragment gebliebenen Epilog geschrieben, der eine Art von Liebeserklärung an die Stadt mit ihrer verführerischen Dämonie, ihrer furchtbaren Schönheit, ihrem düsteren Reiz, ihrer Hoffnung und ihrer Verzweiflung ist: »je t'aime, ô ma très belle, ô ma charmante ...« 189 Dann folgt eine Aufzählung dessen, was für ihn das Wesen dieser Stadt repräsentiert, eine Auswahl, in der die Gegenstände, die Leidenschaften, die Geräusche, die Eindrücke, die Straßen und die Häuser, Feste und Leiden, Himmel und Hölle zu einem hintergründigen Pandämonium zusammenrücken. Die »Ausschweifungen ohne Durst«, die »Liebe ohne Seele «, die Gier nach dem Unendlichen noch im Bösen selbst, die Siege, die Feste, die melancholischen Faubourgs, die »hôtels garnis«, die Parks voller Seufzer und Intrigen, die Kirchen, die ihre Gebete in Musik zum Himmel speien, die Enttäuschungen des Kindes, die Spiele närrischer alter Weiber, Feuerwerke, Freudenausbrüche; das Laster in Seide und die Tugend, die über den Luxus in Verzückung gerät, die geretteten Grundsätze und die verhöhnten Gesetze, die nebelumhangenen Denkmäler und die metallenen Dome, von der Sonne entflammt; die Theaterköniginnen mit ihren Zauberstimmen und die Kloaken voller Blut. Die Apostrophierung der Großstadt schließt mit den Versen: [...] soyez témoins que j'ai fait mon devoir Comme un parfait chimiste et comme une âme sainte. Car j'ai de chaque chose extrait la quintessence, Tu m'as donné ta boue et j'en ai fait de l'or. 190
Nehmen wir das wörtlich, so heißt das, daß Baudelaire seine Dichtung der modernité als eine Art Alchimie versteht, den Dichter als einen inbrünstigen Sucher nach der »quinta essentia«, als einen Goldmacher, der aus dem Schmutz das reine Metall der Kunst herauszieht. Seinen Prosagedichten – Spleen de Paris –, deren Bestimmung, eine der Großstadtexistenz adäquate poetische Prosa zu schaffen, wir schon kennen, hat Baudelaire einen Vers-Epilog angehängt: Épilogue.
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»Salon de 1846«, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 496. »Projets d'un épilogue pour l'édition de 1861«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S.191. Ebd., S.192.
Le cœur content, je suis monté sur la montagne D'où l'on peut contempler la ville en son ampleur, Hôpital, lupanar, purgatoire, enfer, bagne,
Où toute énormité fleurit comme une fleur. Tu sais bien, ô Satan, patron de ma détresse, Que je n'allais pas là pour répandre un vain pleur;
Mais, comme un vieux paillard d'une vieille maîtresse, Je voulais m'enivrer de l'énorme catin, Dont le charme infernal me rajeunit sans cesse.
Que tu dormes encor dans les draps du matin, Lourde, obscure, enrhumée, ou que tu te pavanes Dans les voiles du soir passementés d'or fin,
Je t'aime, ô capitale infâme! Courtisanes Et bandits, tels souvent vous offrez des plaisirs Que ne comprennent pas les vulgaires profanes. 191
Die räumliche Situation erinnert sogleich an romantische Gedichte: der Dichter auf Bergeshöh, die Natur zu seinen Füßen. Man denke an Lamartines Isolement. Aber die Natur zu Füßen Baudelaires ist – in gewollter Chockierung romantischer Erwartungen – nicht die friedvolle Stimmung von Feld, Wald, Wiese, Bächlein und fernem Dorfkirchenglockengeläut am Feierabend, sondern die Stadt, deren Wesen bestimmt ist durch Hospital, Bordell, Fegefeuer, Hölle, Zwangsarbeit. Wo der romantische Dichter Gott anrief zum Zeugen seines einsamen Leids und seines Seelenbads in freier Natur, da ruft der Großstadtdichter Baudelaire Satan, den Taufpaten seines Elends, auf zum Zeugen dafür, daß er nicht eitle Tränen vergießen, sondern sich berauschen will an der ungeheuren Dirne Großstadt, deren infernalischer Reiz ihn unaufhörlich verjüngt – Privileg des Dichters, »Que ne comprennent pas les vulgaires profanes.« Sucht man in diesem Gedicht nach einer realen Beschreibung der Großstadt, so findet man nichts: alles Gegenständliche ist zum Gleichnis entwirklicht. Die Stadt, die zu Füßen des Dichters liegt, ist auch alles andere als das Sinnbild jener wie ein Bienenkorb summenden mondänen Gesellschaft, der in Balzacs Père Goriot der junge Rastignac den Fehdehandschuh entgegenschleudert. Der Vers »Hôpital, lupanar, purgatoire, enfer, bagne« umschließt sämtliche Hauptthemen Baudelaires, mit denen der Dichter der Fleurs du Mal die modernité artikuliert. »Hôpital« meint nicht ein reales Hospital, sondern ist gleichsam Sammeltitel für die Motive der Faubourgs, der »mortalité dans les faubourgs«, des Verfalls, der »charogne«, der dem Tode nahen alten Frauen, der »petites vieilles«, deren Augen für Baudelaire »Brunnen aus Millionen Tränen« 192 sind. »Lupanar«, »Bordell«, meint nicht das einschlägige Etablissement, sondern die Prostitu191 192
»Le Spleen de Paris«, ebd., S. 364. »Les Fleurs du mal«, ebd., S. 90 (»Les petites vieilles«). 59
tion in einem weiteren Sinne. »Purgatoire« und »enfer« vollends abstrahieren von jeder Gegenständlichkeit und sind doch konkretisiert als ganz und gar diesseitige Wesensbestimmungen der Großstadt: nicht ein Jenseits, sondern das irdische Leben selbst ist die Strafe von Fegefeuer und Hölle; Satan ist in der Großstadt angesiedelt. »Bagne«: das reale Zuchthaus ist zum Begriff der Zwangsarbeit, der Mechanisierung und Entfremdung durch die Industrialisierung verallgemeinert; es ist die Welt des » ouvrier courbé qui regagne son lit« 193 . Die entwirklichten Gegenstände werden durch ihre Abstrahierung hindurch zu mythischen Wesenheiten, indem sie ganz dem Äußerlichen entzogen und auf das Innere bezogen werden. Das Gegenständliche wird bloßes Zeichen für das Wesen, und das indizierte Wesen kristallisiert sich zur Allegorie. Um Innenlandschaft zu werden – das heißt um den Menschen tatsächlich als Produkt der modernité darzustellen –, muß die Außenlandschaft entwirklicht und projiziert werden. Den Übergang vermittelt die Allegorie. Die Stadtlandschaft bei Baudelaire ist – wie Gerhard Hess 194 im einzelnen gezeigt hat – kein Abbild von Erscheinungen, sondern verzerrende Wiedergabe von ausgewählten Elementen, gespenstisch-expressiv, halluzinatorisch. Die imagination des Dichters destilliert in einem Prozeß der Abstraktion die Quintessenz aus der ungeschiedenen Gegenständlichkeit. Die Allegorie hält mitten im unaufhörlichen Wechsel, in der stetigen Wandlung das Bleibende fest: Paris change! mais rien dans ma mélancolie N'a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs, Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie, Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. 195
Die Allegorien, verinnerlichte Konstanten im Wechsel, sind wie Richtpunkte in der Bewegung und im Wandel der Stadt, die in dem Gedicht Les sept vieillards als ein ungeheuerliches, uferloses Meer erscheint, in dem die Seele schwerfällig und segellos tanzt wie ein alter Lastkahn: Et mon âme dansait, dansait, vieille gabarre Sans mâts, sur une mer monstrueuse et sans bords! 196
Wir tun, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern, gut daran, in Erinnerung zu rufen, was Walter Benjamin in jahrelanger Beschäftigung über das Bild der Stadt Paris bei Baudelaire erschlossen hat. In seinem Aufsatz »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, steht ein Abschnitt mit dem Titel: »Baudelaire oder die Straßen von Paris«. Dort heißt es: Baudelaires Ingenium, das sich aus der Melancholie nährt, ist ein allegorisches. Zum erstenmal wird bei Baudelaire Paris zum Gegenstand der lyrischen Dichtung. Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten. Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform 193 194
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Ebd., S. 94 (»Le crépuscule du soir«). Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires »Fleurs du mal«, Heidelberg 1953, S. 62 ff. »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 86 (»Le cygne«). Ebd., S. 88.
die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der Menge. Frühe Beiträge zur Physiognomik der Menge finden sich bei Engels und Poe. Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide bauen dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsatz nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Streich des Flaneurs. Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat, aber schon beginnt, mit dem Markt sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion. 197
Wir wollen die Gedanken dieser Passage einen Augenblick weiter verfolgen: einerseits den der »Intelligenz, die auf den Markt geht«, andererseits die gegenseitige Durchdringung der Bilder von Weib, Tod und Stadt Paris. Beider Vermittler ist die Menge, die die neue Form des Massenkonsums bestimmt: die Presse, die den Geist en gros verkauft; und die Warenhäuser, die » magasins de nouveautés«. Der Protest gegen den Massenbetrieb und gegen das Axiom »Zeit ist Geld« läßt den Dandy, der in allen Dingen das Gegenbild der Nützlichkeit und des Zur-WareWerdens ist, in den vierziger Jahren eine bezeichnende Mode kreieren: der Dandy geht, um zu dokumentieren, daß er Zeit hat, mit einer Schildkröte an der Leine spazieren. Wir kennen die Affinität zwischen der Selbstauffassung des Dichters bei Baudelaire und dem Dandy bzw. Flaneur bereits. Sie ist zu ergänzen durch die geräuschvolle Revolte des Bohémien, hat eine Entsprechung aber auch in der Kunstauffassung des l'art pour l'art. Das Künstlichkeitsideal des Dandy und das Prinzip des l'art pour l'art in der Formulierung, die später Stefan George finden wird, gehören geistesgeschichtlich zusammen: »Strengstes maass ist zugleich höchste Freiheit.« 198 Form wird gegen chaotisch-dynamische Bewegung gesetzt, das Durchschaute und Durchklärte gegen die Undurchschaubarkeit von Masse und Markt. Das Zur-Ware-Werden der geistigen Produktion, die Kapitalisierung des Geistes, die Balzac monumental in den Illusions perdues dargestellt hat, bestimmt auch das Verhalten des Dichters zu seinem Publikum. Erich Auerbach ist in dem GoncourtKapitel seines Buches Mimesis 199 der Frage nachgegangen, weshalb die Goncourts in ihrem Vorwort zu Germinie Lacerteux ihr Publikum regelrecht beschimpfen, wieso überhaupt das Verhältnis des Schriftstellers zu den Lesern im 19. Jahrhundert ein stets gereiztes ist. Er findet die Antwort auf diese Frage darin, daß die Autoren des 19. Jahrhunderts es mit einem im Arbeitstag erschöpften, anonymen Publikum zu tun haben, das zwar fast durchweg einem bestimmten Stand angehört, nämlich dem Bürgertum, das aber dem literarischen Erzeugnis nicht mehr das 197
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Walter Benjamin, »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: Schriften, Bd. 1, S. 416f. Stefan George, »Über die Dichtung«, in: Werke, Bd. 2, München 1983, S. 310. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern-München 61977, S.460ff. 61
Einmalige, sondern den Wert der Gebrauchsware, des Massenartikels abfordert, für dessen Kaufpreis man mühelosen Genuß erwartet. Wir haben ja die erste Blütezeit des Feuilletonromans hinter uns. Auerbach hätte seine Darlegungen mit den Feststellungen Benjamins präzisieren können. Der Dichter hat keinen Auftrag mehr, der ihn von dem Auftrag, wie er vom Verbraucher an den Produzenten von Konsumgütern gegeben wird, wesentlich unterscheiden würde. Und daher reagiert er mit einem bisher unerhörten Originalitätsbewußtsein und mit der Brüskierung seines Publikums, ohne das er doch nicht leben kann. L'art pour l'art ist – wie Walter Benjamin mit Recht gesagt hat – eine Bewegung, welche die Kunst dem Mißbrauch des zur Ware-Machens entziehen will 200 . Wie nahe Baudelaire der Erkenntnis dieses Vorgangs kam, zeigt eine auch von Walter Benjamin übersehene Tagebuch-Eintragung, in der es heißt: Si un poète demandait à l'Etat le droit d'avoir quelques bourgeois dans son écurie, on serait fort étonné, tandis que si un bourgeois demandait du poète rôti, on le trouverait tout naturel. 201
Der Dichter als Konsumware! In solcher Lage steht er vor der Wahl, sich in den Elfenbeinturm zurückzuziehen und dabei eventuell zu verhungern oder aber sich unter Wert zu verkaufen. Die Not des Sich-Verkaufen-Müssens, das heißt der Anpassung an das Gesetz des Marktes und des Massenartikels, kann zur tröstlichen Tugend nur werden, wenn das Verkaufen-Müssen umgedeutet wird zum willentlichen Sich-Verschenken des Dichters. Dieser Vorgang findet bei Baudelaire statt. Sein umfassendes Bild ist die Prostitution. Der Dichter prostituiert sich wie die Dirne, die zum Massenartikel geworden ist. Die Dirne ist ganz von der Anonymität der Ware und der Warenhäuser bestimmt; nirgends wird sie individuell bestimmt, etwa durch den geschlossenen Raum des Bordells, immer ist sie bei Baudelaire – wie Benjamin richtig sah – die Dirne der Straße 202 . Ungeschiedene Verbraucher wie die marktgängige Dirne hat auch der Dichter, dem das Verkaufen zum Verschenken gerät, und mit seiner Person wird die Brücke zu Gott geschlagen, der sich aus Liebe unterschiedslos verschenkt. Gott ist das am meisten prostituierte Wesen: L'être le plus prostitué, c'est l'être par excellence, c'est Dieu, puisqu'il est l'ami suprême pour chaque individu, puisqu'il est le réservoir commun, inépuisable de l'amour. 203
»Prostitution« meint also bei Baudelaire auch die Tugend des Verschenkens aus Liebe. Das ist gemeint, wenn er schreibt: »Qu'est-ce que l'art? Prostitution.« 204 Und kurz darauf – im Tagebuch – die Überlegung, daß diese Tugend korrumpiert wird durch den Besitztrieb: »L'amour peut dériver d'un sentiment généreux: le goût de la
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Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S. 374. »Fusées«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 660. Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, S. 491. »Mon cœur mis à nu«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 692. »Fusées«, ebd., S. 649.
prostitution; mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété.« 205 Zwischen den beiden soeben zitierten Stellen stehen nun im Tagebuch zwei kurze Absätze, durch welche sich der Kreis schließt: Le plaisir d'être dans les foules est une expression mystérieuse de la jouissance de la multiplication du nombre.
Tout est nombre. Le nombre est dans tout. Le nombre est dans l'individu. L'ivresse est un nombre. 206
Die Summe ist auch das Einzelne, bestimmt es. Fügen wir zur Ergänzung eine Stelle hinzu, die wir schon kennen: »Ivresse religieuse des grandes villes. – Panthéisme. Moi, c'est tous; tous, c'est moi.« 207 »Ivresse religieuse« in einer Stadt, die auch – im Versepilog zu den Prosagedichten – eine »ungeheure Dirne« genannt wird 208 , eine Prostitution, wie die Kunst, wie die Liebe Gottes. Die Zahlenmystik, die Baudelaire auf die großstädtische Menge anwendet, die das Individuum mit der Masse, die Zahl mit dem Ganzen, das Ich mit allen identifiziert, meint genau jene Kommunion, von der Baudelaire an anderen Stellen spricht: die von der modernité zugleich verhinderte alte und als Möglichkeit gebotene neue Weise der Kommunikation. Die Prostitution ist bei Baudelaire in ähnlicher – freilich nicht mehr romantischer – Weise verklärt wie Markt und Warenkonsum durch die glanzvolle Pariser Weltausstellung von 1855. Im doppelten, ja dreifachen Begriff der Prostitution – Verkaufen des Unverkäuflichen; Verschenken; Kommunion – ist die Vermittlung hergestellt zwischen der neuen geschichtlichen Realität der industrialisierten, großstädtischen Massengesellschaft und jener Dichtung, die unter diesen Verhältnissen allein möglich und notwendig ist.
»A une passante« – die verpaßte Chance Das Bild der Prostitution soll der letzte der Schlüssel sein, mit deren Hilfe wir nun versuchen wollen, das Geheimnis des Sonetts A une passante zu entriegeln: La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d'une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l'ourlet;
Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son ceil, ciel livide où germe l'ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. 205 206 207 208
Ebd. Ebd. Ebd., S. 651. »Projets d'un épilogue pour l'édition de 1861 « (Les Fleurs du mal), ebd., S. 191. 63
Un éclair... puis la nuit! – Fugitive beauté Dont le regard m'a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l'éternité?
Ailleurs, bien loin d'ici! trop tard! jamais peut-être! Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, O toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais! 209
Die Personen und der äußere Vorgang, der diesem Gedicht das Gerüst gibt, sind leicht zu bestimmen: Begegnung des Dichters mit einer in Trauer gekleideten Passantin inmitten lärmerfüllter Straße. Ein solcher Vorgang kann auf sehr verschiedene Weise dargestellt werden. Engen wir diese Möglichkeiten zunächst ein, indem wir die Bedingtheit der lyrischen Darstellung anwenden, zunächst in der allgemeineren Weise, wie Georg Lukács sie einmal formuliert hat. Die Lyrik, so schreibt Lukács, »kann das Phänomenalwerden der ersten Natur ignorieren und aus der konstitutiven Kraft dieses Ignorierens heraus eine proteische Mythologie der substantiellen Subjektivität schaffen« 210 . Wenden wir diese etwas abstrakt klingende Bestimmung auf unser Gedicht an, so heißt das, daß Baudelaire auf jede Beschreibung der »ersten Natur«, nämlich des Erscheinungsbildes der Stadt, verzichtet hat und daß gerade aus diesem Verzicht – der in keiner Weise die Stadt eliminiert, sondern im Gegenteil unheimlich existent werden läßt – die Besonderheit der Individuen des Gedichts, der Passantin, vor allem aber des dichterischen Subjekts, und in ihnen ganz und gar das Wesen des städtischen Menschen erwächst. Der Verzicht auf die Beschreibung von Stadt und Menge bewirkt es, daß Stadt und Menge in den Innenraum des Gedichts hereingenommen werden und sich aus dem Äußeren in die Substanz des Gedichts selbst verwandelt haben. Nur ein einziger Vers, der erste, evoziert akustisch Stadt und Menge und setzt mit dem »Betäuben« und »Heulen« sogleich die emotionale Beziehung zum Ich fest: »La rue assourdissante autour de moi hurlait. « Nicht die Menge, sondern die Straße heult und betäubt, das heißt die Straße enthält unausgesprochen die Menge, das Wesen der Straße, der Ort, wird von der Menge bestimmt. Mit Recht betont Walter Benjamin, daß in diesem Sonett »keine Wendung, kein Wort [...] die Menge namhaft [macht]. Und doch beruht der Vorgang allein auf ihr, wie die Fahrt des Segelschiffs auf dem Wind beruht« 211 . Die Menge treibt die Passantin herbei, schwemmt sie ganz plötzlich vor den Dichter; eine Frau in Trauer, groß, schmal, die mit reichgeschmückter Hand den bestickten Rocksaum hebt und wiegt. Warum in Trauer, und warum in majestätischer Trauer? Man darf ein doppeltes, vielleicht dreifaches Ziel darin suchen: 1. Verstärkung des Chocs – der Dichter verkrampft sich bei ihrem Anblick, erstarrt – »crispé comme un extravagant«. 2. Die elegante Bewegung der geschmückten Hand, Trauerkranz und Rocksaum, läßt mondänen, ja leichtfertigen Reiz und düstere Faszination des Todes zusammenschießen, und 3. frappiert die »douleur majestueuse«, die in der dichterischen Welt Baudelaires den modernen Heroismus des menschlichen Leidens repräsentiert. Alle Elemente des 209 210 211
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»Les Fleurs du mal«, ebd., S. 92f. Georg Lukâcs, Die Theorie des Romans, Berlin 1963, S. 60. Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Schriften, Bd. 1, S. 441.
großstädtischen Daseins scheinen sich im Auge der Passantin zu sammeln wie in einem Brunnen, aus dem der erstarrte Dichter die Essenz des Lebens trinkt: Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son œil, ciel livide où germe l'ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
Das Auge der Unbekannten als fahler Himmel, in dem sich der Orkan zusammenbraut. »La douceur qui fascine« und »le plaisir qui tue« thematisieren das Erscheinungsbild der gefährlichen Schönheit der in Trauer einherschreitenden Passantin, die unbekannt bleibt wie die Menge, der sie zugehört und aus der sie für einen Augenblick heraustritt; und sie ist individuell wie die zufällige Begegnung, individuell wie der Blitz, auf dessen Erlöschen wieder die Nacht folgt: »Un éclair... puis la nuit! – Fugitive beauté. « Georg Lukács fährt in der vorhin teilweise wiedergegebenen Bestimmung des Lyrischen fort: »[Für die Lyrik] ist nur der große Augenblick da, und in diesem ist die sinnvolle Einheit von Natur und Seele, oder ihr sinnvolles Getrenntsein, die notwendige und bejahte Einsamkeit vertraut geworden.« 212 Dieser lyrische Augenblick ist bei Baudelaire zum erstenmal so minimalisiert, so punktuell geworden wie nie zuvor; die unbestimmte Erlebnisgegenwart ist jetzt ganz präzis und wörtlich der Augen-Blick, der ganz flüchtige, momentane, wie ihn eben nur das Begegnen in menschenüberfüllter Straße als Aneinander-Vorbei kennt. Die lyrische Erlebniszeit ist unendlich verengt, ist darum chockhaft und läßt der Darstellung nur die Artikulationen des Chocs, den Blitz, auf den wieder die Nacht der undifferenzierten, anonymen Menge folgt. Die Zeit des einmaligen Augen-Blicks, bedingt von der zufälligen Begegnung in der Straße, der Großstadt, bestimmt also die Struktur unseres Gedichts: nur ein Augen-Blick, die Dauer eines Blicks, innerhalb der permanenten Bewegung der Straße, die im Imperfekt erscheint: »hurlait«. Aber die Bewegung selbst – »une femme passa « (Passé simple) – wird für einen Moment immobilisiert: das geschieht eindrucksvoll zuerst durch die Evokation des Statuenhaften in dem Bein, das sich doch bewegt: »Agile et noble, avec sa jambe de statue.« Und zum anderen ist die Bewegung immobilisiert für die flüchtige Dauer, innerhalb derer das Subjekt, das Dichter-Ich, im Auge der Passantin trinken kann: »je buvais« – im Imperfekt. Es ist so, als ob ein Film für einen Moment angehalten würde, seine Bewegung gestoppt. Die Affinität von Tod und Liebe – ein uraltes Thema –, »la douceur qui fascine et le plaisir qui tue«, ist diesmal ganz und gar gesehen und gestaltet vom Erlebnis der Großstadt und der Masse. Das Glück, das den Tod ausschiede, wird jetzt erst recht zu einem, das nicht festzuhalten ist, ja das nur noch als eine sogleich wieder entschwindende, von der Fluktuation der Menge hinweggeschwemmte Möglichkeit auftaucht. Und dabei ist es nach wie vor begriffen als umfassende Erneuerung, als Wiedergeburt des Menschen: »Fugitive beauté/Dont le regard m'a fait soudainement renaître.« Die Frauengestalt, die diese Möglichkeit des Glücks, der Wiedergeburt für einen Augenblick offenbart, ist ihrem Wesen nach ungreifbar, flüchtig: »fugitive beauté«. Marcel Proust wird dieses Motiv direkt von Baudelaire überneh212
Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Berlin 1963, S. 60 f. 65
men: seine Albertine – und mit ihr schließlich der andere Mensch schlechthin-wird zum »être de fuite«. Dem Gedanken der Wiedergeburt schließt sich sogleich die Frage nach einer Wiederbegegnung, nach einer Erfüllung in unbestimmten Zeiten an: »Ne te verrai-je plus que dans l'éternité? « Die Antwort erfolgt in einer Klimax, die Raum und Zeit umschließt und von der Hoffnung zum Zweifel führt, dessen »vielleicht« im Grunde bereits verneint; denn »wenn«, dann »zu spät«. Und das »zu spät« entwertet das »vielleicht einmal«, das gleich dem »vielleicht niemals« ist: »Ailleurs, bien loin d'ici! trop tard! jamais peut-être!« Weder weiß sie, wohin er geht, noch weiß er, wohin sie »flieht«. Das Thema der »fugitive« ist verbal wieder aufgenommen. Das Nichtwissen um den Weg gibt dem Zufall der Begegnung die Signatur der Unwiederholbarkeit, des absolut Einmaligen. Denn die großstädtische Masse macht den Zufall einer erhofften Wiederbegegnung ganz und gar unwahrscheinlich. Die Begegnung wird damit im Tiefsten fatal, weil sie das Verfehlen des Sinns als unaufhebbar, als Schicksal erst zum Bewußtsein bringt. Die größte Nähe der Menschen, die fast hautnahe Berührung in der Masse, ist zugleich ihre größte Ferne. Hier ist eine Grunderfahrung des Massenzeitalters antizipiert. Im letzten Vers des Sonetts, mit der Apostrophierung der verschwundenen Frau, wird die Unwiederbringlichkeit der Chance gedanklich in einer letzten Explikation dessen, was vorging, gesteigert – im Tempus des völlig Vergangenen, in der doppelt irrealen Bedingtheit des »was gewesen wäre, wenn«, zum Absolutum geschlossen durch die Sicherheit, der Annahme, daß sie, die »fugitive beauté», wußte, daß sie sein Glück gewesen wäre: » 0 toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais!« Die Erlebniszeit unseres Gedichts ist der Augenblick, dessen Vorher und Nachher an sich gleich sind – Nacht-Blitz-Nacht. Der Augenblick aber ist essentielles, lebenbestimmendes Ereignis, denn er markiert in einer allgemeingültigen, im betroffenen Subjekt reflektierten Weise, wie sie das Wesen des Lyrischen ausmacht, die für die Deutung der eigenen Existenz fundamentale Wendung von einem Zustand, in dem das Leben sinnlos erscheint, zu einem Zustand, in dem man plötzlich erfährt und weiß, daß es sinnlos ist – vom hoffnungsdurchwirkten Zweifel zur fatalen Gewißheit. Die Struktur dieser Wendung ist die des Chocs, der zufälligen Begegnung in der modernen Großstadt, genau übertragen in die psychologische Struktur und in die Zeit- und Raumstruktur unseres Gedichts und eingesenkt in die vorgängig strenge Form des Sonetts. Die Chance der Begegnung schlägt um in die Gewißheit des Verfehlens. Die ungeheuer vergrößerte, lebensbestimmende Möglichkeit des Zufalls läßt diesen selbst als das Wesen dieser Welt erscheinen. Seine gesteigerte Willkür aber macht die Entfremdung unaufhebbar. Der berühmte, traditonelle »coup de foudre», der blitzartig in der ersten Begegnung der Augen die Liebe für ein ganzes Leben entzündete, hat hier keine Zukunft mehr, sondern drückt dem Zweifel an der Sinnerfüllung das Siegel der Gewißheit über das Scheitern auf. Der eine Augenblick der Sichtung einer solchen Möglichkeit, des erhellenden Blitzes in der Nacht, ist auch bereits schon ihre endgültige Vernichtung. Das ist, in diesem einen Sonett verdichtet, zusammengehämmert, der Einblick in die »condition humaine«, wie sie die moderne Stadt, ihre Menschenhäufung und die moderne Arbeitswelt bestimmen.
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Die Übertragung ihrer Struktur in die Dichtung selbst macht jedoch diesen Einblick erst möglich. Es ist dies die Kunst der modernité. Ergänzen wir diese Betrachtung noch durch einige wenige Hinweise auf den sozusagen äußeren Aufbau des Gedichts, der sich sogleich als ein zugleich innerer erweist. Auch hier der Choc der enttäuschten Erwartung! Die Erwartung, daß die Einteilung der beiden Quartette des Sonetts auch die syntaktische Struktur bestimmt, wird nicht erfüllt. Der erste Vers beschwört die menschenerfüllte Straße: die alles bestimmende moderne, großstädtische Szenerie. Dann ein Punkt. Im zweiten Vers, ganz ausgefüllt durch attributive Bestimmungen, setzt das Erscheinungsbild der unbekannten Frau in Trauerkleidung ein. Diese Beschreibung ihrer Erscheinung und ihres Vorbeigehens verlängert sich in einem kompositorischen Rejet bis in das zweite Quartett, dessen ersten Vers sie noch füllt. Dann, mit »Moi« einsetzend, die Wirkung auf den Dichter: nicht als Gefühlserguß, sondern distanzierend objektiv. Das erste Terzett faßt Erscheinung und Wirkung optisch zusammen: »Un éclair... puis la nuit!« Flüchtigkeit, Augen-Blick, Ewigkeit-als Frage. Die Antwort erfolgt im zweiten Terzett – den Weg von der Hoffnung zur Resignation in einen Vers eingrenzend, Raum und Zeit einschließend: »Ailleurs, bien loin d'ici! trop tard! jamais peut-être.« »Jamais« ist kursiv hervorgehoben. Daraufhin die unwiderrufliche Trennung der so flüchtig zufällig zusammengeführten Lebenslinien – unwiderruflich, weil die Menge, die jene Begegnung herbeigeführt hat, sie auch für alle Zukunft ausschließt. »Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais. « Und dies – letzter resümierender Vers –, obwohl er sie geliebt hätte und obwohl sie es wußte. Die Struktur der Begegnung ist zugleich die Struktur des Sich-Verfehlens, der verpaßten Chance. Die Figur des Chocs, die Walter Benjamin in unserem Gedicht ausmachte, ist zu ergänzen durch diejenige des Zufalls, mit dem sie koinzidiert. Die ungeheure Erweiterung des Möglichen in der Großstadt wird zunichte gemacht durch die Anonymität der Menge, die, was sie in der plötzlichen Begegnung verheißt, sogleich wieder zurückzieht. Die Zufallsbegegnung von A une passante, die in ihr enthaltene Möglichkeit des Glücks wie sein Verfehlen substanzialisieren die tausendfachen Begegnungschancen der Großstadt und ihre Kommunikationslosigkeit zur widerspruchsvollen Einheit. Die Erwartung neuer Konstellationen des Zufalls läßt einen Rest von Hoffnung auf die Wiederholung der verpaßten Lebenschance. Es verwundert kaum, daß auch andere Dichter des 19. Jahrhunderts das Thema behandeln: Gérard de Nerval, Marceline Desbordes-Valmore, Sainte-Beuve 213 . Wir finden es wieder bei Verlaine und bei Mallarmé (in dessen Gedicht Apparition). Seine Geschichte ist damit nicht zu Ende. Ein Leben lang wird Paul Valéry, wie sein Meister Mallarmé, über den Zufall meditieren. Hoffnung, so formuliert er, ist Erwartung des Unwahrscheinlichen: »L'attente de l'improbable, c'est l'espoir.« 214 Sinnfindung ist, wie bei Marcel Proust, »Gnade des Zufalls«, des – wie es bei Camus einmal heißen wird – »Gottes der absurden Welt«. Und André Breton, mit ihm der Surrealismus, vertraut auf den » hasard objectif «, dessen Macht jeder Wahrscheinlichkeit spottet: »Les puissances du hasard 213
214
Kurt Reichenberger, »Die schöne Unbekannte«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 71 (1961), S. 129 ff. Paul Valéry, Cahiers VI, Paris 1958, S. 51. 67
objectif [...] se jouent de la vraisemblance.« 215 Breton, oder vielmehr das ErzählerIch seines Buches Nadja, wird zuteil, was Baudelaire und anderen versagt blieb. Der Surrealist, bereits vertraut mit der Problematik der großstädtischen Kontingenz, ist entschlossen, die Chance des Zufalls zu nutzen. Willentliche »disponibilité« für den hasard ermöglicht, daß die Zufallsbegegnung in einer Pariser Straße ihm Nadja beschert. Damit ist die Geschichte des Motivs bei ihrem vorläufigen Ende angelangt. Die Surrealisten hatten sich freilich schon an ganz andere Begegnungen gewöhnt. Ihr bewundertes Vorbild war Lautréamonts »rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie.« 216 Max Ernst hat die Struktur des surrealistischen Bildes in unmittelbarer Anlehnung an diese »zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch« definiert: «Accouplement de deux réalités en apparence inaccouplables sur un plan qui en apparence ne leur convient pas.« 217 Ein Gedicht, das gewisse Parallelen zu Baudelaires A une passante aufweist, trägt den Titel Mon rêve familier: Je fais souvent ce rêve étrange et pénétrant D'une femme inconnue, et que j'aime, et qui m'aime Et qui n'est, chaque fois, ni tout à fait la même Ni tout à fait une autre, et m'aime et me comprend.
Car elle me comprend, et mon cceur, transparent Pour elle seule, hélas! cesse d'être un problème Pour elle seule, et les moiteurs de mon front blême, Elle seule les sait rafraîchir, en pleurant.
Est-elle brune, blonde ou rousse? -je l'ignore. Son nom? Je me souviens qu'il est doux et sonore Comme ceux des aimés que la Vie exila.
Son regard est pareil au regard des statues, Et, pour sa voix, lointaine, et calme, et grave, elle a L'inflexion des voix chères qui se sont tues. 218
Die Ähnlichkeiten sind unverkennbar: die unbekannte Frau, die der Dichter liebt und die ihn wiederliebt, die ihn versteht. Unbekannt, sogar die Farbe ihrer Haare. Die Ähnlichkeit gilt auch für Einzelmotive und bis zum Wortgebrauch. Die »jambe 215 216
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218
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André Breton, L'amour fou, Paris 1937, S. 100. Lautréamont (d. i. Isidore-Lucien Ducasse), »Les Chants de Maldoror«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Pierre-Olivier Walzer), Paris 1970, S. 224 f. Zit. nach: M. Carrouges, André Breton et les données fondamentales du surréalisme, Paris 19504, S. 121. Zum Zufall vgl. Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973. Paul Verlaine, »Poèmes saturniens«, in: Œuvres poétiques complètes (hrsg. v. YvesGérard Le Dantec, Jacques Borel), Paris 1962, S. 63 f.
de statue« ist hier zum »regard de statues« geworden. Vergleichen wir weiter: die Straßenbegegnung, Auftauchen, Blick, Verschwinden sind als Motive verschwunden, sind in einen Traum verflüchtigt, der sich wiederholt, der vertraut geworden ist. Im Traum ist das, was in A une passante einmalig unwiederholbar war, wiederholbar, sogar vertraut geworden, dafür aber keineswegs wirklicher. Diese Frau, die den Dichter liebt, versteht, erfrischt, ist unwirklicher als jene Passantin Baudelaires, sie ist nicht einmal sich selber gleich. Sie kommt nur scheinbar mehrfach wieder, als pures Wunschbild. Das »fugitif« ist hier in anderer Weise gestaltet: die Struktur der Begegnung, des Choc, ist aufgegeben und durch die beliebige Begegnung im Traum ersetzt – dort freilich einem Rhythmus der Erscheinung unterliegend, der unberechenbar ist, der also den Zufallscharakter nicht völlig eliminiert.
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Paul Verlaine Verlaine hat sich selbst einen poète maudit genannt – und mit gutem Grund: 1844 in Metz geboren, geriet er, nach einer guten, aber bereits turbulent verbrachten Schulbildung, schnell – wie man zu sagen pflegt – auf die schiefe Bahn. Er wurde Bohemien von der untersten Sorte und verfiel sehr früh dem Alkohol. Sein Leben verlief von da an im Rhythmus des stetigen Wechsels zwischen Reue und Rückfall, Verkommenheit und Entschluß, neu anzufangen. In einer solchen kurzen Ära des Aufschwungs beschloß er 1870 zu heiraten. Dieses Heilmittel, an dem schon so mancher gesundete, hielt bei ihm nicht lange vor. Er lernte den damals 17jährigen Arthur Rimbaud kennen und ging mit ihm gemeinsam auf Reisen. Die beiden führten eine aufregende Ehe. Als Rimbaud ihn zu verlassen drohte, griff Verlaine zum Revolver und verletzte ihn leicht. Das war 1873 in Brüssel. Im Gefängnis erlebt er seine Konversion, und hier schreibt der Dichter, der seine unausrottbare Sinnlichkeit so gern in erotischen, ja lasziven Wiedererweckungen des 18. Jahrhunderts zu Papier zu bringen liebt, Verse voll religiöser Inbrunst. Auf die Entlassung aus dem Gefängnis folgt bald erneut der Rückfall. Der Rest seines Lebens ist unaufhaltsamer Niedergang, trotz aller Anstrengungen, dagegen anzukämpfen. Er lebt zeitweise im Armenhospital und stirbt 1896 im Elend. Verlaine ist, wie alle Symbolisten dieser ersten Generation, anfangs ganz vom Parnasse beeinflußt. Seine erste Gedichtsammlung, die Poèmes saturniens, die er 1866 veröffentlicht, sind von der Kunstauffassung des Parnasse geprägt, zeigen aber schon deutlich die Wirkung, die von den Fleurs du Mal auszugehen begann. Das vorhin kurz besprochene Sonett Mon rêve familier 219 gehört zu den Poèmes saturniens und zeugt für diese doppelte Herkunft. Wenn man Baudelaires Gedichte genau betrachtet in der Absicht, sie mit denen des späteren, eigentlichen Symbolismus zu vergleichen, so fällt auf, daß ein wichtiger Programmpunkt des Symbolismus in ihnen nicht oder kaum angelegt ist. Baudelaire kümmerte sich viel um rhythmische, aber noch nicht um eigentlich musikalische Wirkung. Seine »sorcellerie évocatoire« 220 stützt sich auf die Bilder, auf die Bedeutung der Sprache, die inhaltliche Assoziation, verzichtet aber noch auf die suggestive musikalische Wirkung, auf die Assonanzen und Konsonanzen. Auch wo er die Technik der Wiederholung anwendet, geht es ihm allein um inhaltliches, aber nicht um musikalisches Thematisieren, trotz oder wegen seiner Begeisterung für Wagner. Das wird entschieden anders mit Verlaine. Das ist bereits in dem Sonett Mon rêve familier erkennbar, das ja der Dichtung des späteren, reifen Verlaine doch noch ziemlich fern steht: »rêve étrange et pénétrant« – die Vokale é-é und die Wiederholung der Muta plus Liquida – tr – sollen musikalisch das »Druchdrin-
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Ebd. Charles Baudelaire, »Fusées«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 1, Paris 1975, S. 658 (siehe auch: »Critique littéraire«, Œuvres complètes, Bd.2, S.118).
gen« des »Seltsamen« beschwören. Ähnliches gilt für die Nasale und Wortwiederholungen der Zeile »D'une femme inconnue, et que j'aime et qui m'aime«. Reim, Binnenreim, liquide und schwere nasale Konsonanz erstreben die gleiche Musikalität, so wie auch die Anapher hier diesem Zweck dient: [...] et m'aime et me comprend. Car elle me comprend, et mon cœur, transparent Pour elle seule, hélas! cesse d'être un problème Pour elle seule, et les moiteurs de mon front blême, Elle seule les sait rafraîchir, en pleurant.
Die Technik der Wiederholung der Vokaltöne, der Worte, der Doppelkonsonanten verbindet sich mit dem mittels Syntax und Wortwahl erzielten Rhythmus. Im letzten Terzett des Gedichts verneint das voix der dritten Zeile, welches das »voix« der zweiten wiederholt, die gleichen, von den syndetisch-sperrenden »et«-s des zweiten Verses rhythmisierten a-Laute – und dies nicht nur dadurch, daß es der einzige -oa-Laut der dritten Zeile ist, sondern dieses Sammeln des bisher Punktuellen kommt auch durch die zentrale Stellung von voix in der Zäsur des letzten Verses zum Ausdruck: Son regard est pareil au regard des statues, Et, pour sa voix, lointaine, et calme et grave, elle a L'inflexion des voix chères qui se sont tues.
Diese Andeutungen mögen genügen, um verstehen zu lassen, daß Verlaine zu einer eigenen Poetik gelangte, in deren Zentrum das musikalische Element steht. 1874 schreibt er sein berühmtes, freilich erst zehn Jahre später veröffentlichtes Programmgedicht Art poétique, dessen erste Strophe das neue Prinzip provozierend voranstellt: »De la musique avant toute chose« 221 . Wir wollen diesen und die in den folgenden Versen des Art poétique genannten Programmpunkte an Beispielen verfolgen. Dazu nehmen wir das bekannte Gedicht Chanson d'automne: Les sanglots longs Des violons De l'automne Blessent mon cœur D'une langueur Monotone.
Tout suffocant Et blême, quand Sonne l'heure, Je me souviens Des jours anciens Et je pleure;
221
»Jadis et naguère«, in: Œuvres poétiques complètes, S. 326. 71
Et je m'en vais Au vent mauvais Qui m'emporte Deçà, delà, Pareil à la Feuille morte. 222
Daß die herausragende Qualität dieser drei Strophen die musikalische ist, braucht nicht eigens betont zu werden. Die vollständige erste Strophe des Art poétique lautet: De la musique avant toute chose, Et pour cela préfère l'Impair Plus vague et plus soluble dans l'air, Sans rien en lui qui pèse ou qui pose.
Was ist mit dem »Impair« gemeint, diesem »Ungleichen«, das, vage und in Luft löslich, ohne beschwerende und verzögernde Elemente in den Dienst der Musik treten soll? Mit »Impair« – groß geschrieben – meint Verlaine die Ungleichsilbigkeit der Verse, die Heterometrie also; und darüber hinaus zielt diese Forderung auf die Verwendung von Versarten, die in der französischen Lyrik selten geworden waren: 11-, 9-, 7-, 5- und 3-Silber, die Verse mit ungerader Silbenzahl also. Diese Verse binden den Rhythmus weniger als solche mit gerader Silbenzahl, und der Wechsel der Versarten innerhalb ein und derselben Strophe löst die Fesseln, die die Wiederholung der gleichen Versstruktur dem Rhythmus anlegt. Die apriorische Fixierung der Skansion soll damit vermieden, der Rhythmus von allem Ballast befreit werden; sein Charakteristikum soll prinzipiell das Vage, Unbestimmte und daher zu jeder Bestimmung Taugliche sein, jederzeit frei und verfügbar. Wie sieht das in der Praxis aus? Nehmen wir wieder die erste Strophe der Chanson d'automne. Wir haben zwei Versarten: 4-Silber und 3-Silber nach dem Schema: 4a 4a 3b 4c 4c 3b. Eine Schweifreimstrophe also: Les sanglots longs Des violons De l'automne Blessent mon cœur D'une langueur Monotone.
Die ganze Stimmung dieser Verse ist vom Zusammenklang der dunklen und nasalen Vokale, schwerer Konsonanz und Alliteration, vor allem des -l-, getragen. Die Monotonie des Herbstes, die Melancholie der Töne des verfallenden Jahres leben in der Wort- und Versmusik. Daß die Strophe nicht selbst von ihrem Gegenstand verschlungen wird, daß sie nicht selber monoton wird in der Erzeugung des Eindrucks der Monotonie, dafür sorgen allein die zwei Dreisilberverse mit ihrem andersartigen, aber nicht konträren Rhythmus. Dieser Rhythmus tritt indessen vor dem Musikalischen fast ganz zurück; seine Takte, seine Präzision sind wie aufge222
72
»Poèmes saturniens«, ebd., S. 72 f.
löst im nuancierten Gleichklang der Wörter. Daß dies möglich wird, ist nun freilich wesentlich mit das Verdienst einer anderen Seite von Verlaines poetischer Technik, einer besonderen Reimtechnik: Der Reim hat jeden Rest von Selbstzweck verloren. Ein einziger Satz spannt sich über den ganzen Strophenkörper; in der ersten Strophe gibt es keinerlei Interpunktionszeichen; nichts hemmt oder stoppt das Fließen der Tonfolge, die sich allein musikalisch variiert. Von der Syntax her betrachtet, sind die Sätze in Prosa. Keine Wortumstellung trägt zur Versifizierung bei. Der Reim ist nichts weiter als ein durch eine Reimentsprechung leicht unterstrichener Akzent in der musikalischen Folge. Jeder Anschein einer emphatisierenden Pause ist getilgt, denn alle Versschlüsse sind als solche unterdrückt, und zwar dadurch, daß jede Zeile »enjambiert«. Der Versakzent ist – so könnte man etwas zugespitzt sagen – eigentlich nur gerade noch soweit vorhanden, als nötig ist, um spüren zu lassen, daß er überwunden wurde. Diese so erzeugte zitternde Spannung konstituiert das Schwebende, Vage, Andeutende, Suggerierende, Stimmung unfaßbar Verdichtende und doch Transparente der besten Gedichte Verlaines. Die Präzision, die überwunden ist, bedeutet, übertragen auf die Wortwahl, die Entkonturierung des genauen Wortes durch seine Verbindung mit dem, was normalerweise nicht zu ihm gehört, also eine Art Verfremdung. Das »Schluchzen« – »sanglots« – ist menschlich, hier aber den Geigen des Herbstes zugeschrieben; und es ist »lang«, »longs«: die Fremdheit des Adjektivs »long« ist überwunden durch Alliteration und Assonanz: Les sanglots longs Des violons De l'automne...
»Violons«, ein sehr konkretes, gegenstandsnahes Wort, ist als »Geige des Herbstes« symbolisch entkonkretisiert: in ein und demselben Wort liegen das Konkrete und das Symbolische, das Präzise und das seiner gegenständlichen Umrisse Beraubte beisammen. Das entspricht der Forderung Verlaines nach einer Wortwahl, die es ermöglicht, daß eine unbegrenzte Bedeutungsstrahlung über die Grenzen des fixierten Wortgebrauchs hinaustritt; Wörter wählen, deren semantische Marksteine versetzbar sind, so daß der Bedeutungsboden des Gedichts schwebend wird, das Gedicht wie trunken, wie im Rauschzustand sich zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten verhaltend. Die Sprache suggeriert, ohne sich festzulegen. Die entfremdete Dingwelt erlaubt keine Gewißheit mehr, keine ihrer selbst sichere Aussage; und die symbolische Dichtung schlägt daraus poetisches Kapital. Das ist der Sinn der zweiten Strophe des Art poétique: Il faut aussi que tu n'ailles point Choisir tes mots sans quelque méprise: Rien de plus cher que la chanson grise Où l'Indécis au Précis se joint.
Nach dem vorher Gesagten verstehen wir auch Verlaines polemisch-ironischen Ausfall gegen den Reim, das heißt gegen den traditionellen Reimgebrauch, und im Zusammenhang damit gegen das Setzen starker Akzente vom Gedanklichen, dem
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Intellekt her, von der Rhetorik her, deren Effekthascherei den vom musikalischen Bau erzielten Schwebezustand zerstört, den Blick ins Unbegrenzte verstellt: Fuis du plus loin la Pointe assassine, L'Esprit cruel et le Rire impur, Qui font pleurer les yeux de l'Azur, Et tout cet ail de basse cuisine!
Prends l'éloquence et tords-lui son cou! Tu feras bien, en train d'énergie, De rendre un peu la Rime assagie. Si l'on n'y veille, elle ira jusqu'où?
Ô qui dira les torts de la Rime?
Aus der Tilgung des Konturstarken, des Konkret-Präzisen, der klaren Scheidungslinie zwischen den Dingen, aus der absichtlichen Erzeugung des Schwebezustands, der Offenheit der Bedeutung, der Fluktuation, ergibt sich logisch, daß der Zwischenraum zwischen den Dingen, der Trennungsgraben, aufgefüllt wird und durch das, was einen fließenden Übergang bewirkt: die Nuance, der Moment des Ineinanderübergehens. Die Nuance, die nicht behauptet, sondern suggeriert, die keine Akzente der Unterscheidung setzt, sondern im traumgleichen Bereich das Geschiedene verbindet zur Harmonie, die Grenzen tilgt: Car nous voulons la Nuance encor, Pas la Couleur, rien que la nuance! Oh! la nuance seule fiance Le rêve au rêve et la flûte au cor!
Ein Konturen-verwischen also, das die Linien aufhebt. Man denkt an die impressionistische Malerei, welche die immergleiche Kontur zugunsten des momentanen Eindrucks als des Wesentlicheren ignoriert. Die Eindrücke allein modulieren und reflektieren das Gefühl, die verworrenen Zustände der Seele, die sich der Definition entziehen. Was ungeklärt bleibt, erlaubt nur unbestimmten Ausdruck: anders gesagt – paradox: Das Vage ist die Präzision des Undurchschauten – »une série d'impressions vagues, tristes et gaies« nennt Verlaine eine seiner Gedichtsammlungen. Hauptträgerin ist die Musik: »De la musique avant toute chose«. Verlaine kommt zum Schluß auf sie zurück. Der musikalische Vers ist flüchtig wie der Klang, der von einer Seele zu anderen Himmeln aufsteigt: De la musique encore et toujours! Que ton vers soit la chose envolée Qu'on sent qui fuit d'une âme en allée Vers d'autres cieux à d'autres amours.
Die Tilgung der Konturen auf die Aufhebung der Grenzen entläßt den Vers, den kein Einschnitt mehr hemmt, in das Ungefähre, in das Wagnis des offenen Hori74
zonts und des Verschwimmens in der Ferne; alles andere aber ist – keine Kunst: ist – nur Literatur. Que ton vers soit la bonne aventure Eparse au vent crispé du matin Qui va fleurant la menthe et le thym. Et tout le reste est littérature.
Verlaine hat seinen Art poétique im Jahre 1874 formuliert. Und im gleichen Jahr hat er die Gedichtsammlung veröffentlicht, die dieses Programm am reinsten verwirklicht. Schon in dem paradoxen Titel dieser Gedichtsammlung kommt die Vorherrschaft des Musikalischen zum Ausdruck: Romances sans paroles. Und der Untertitel nennt diese Gedichte: Ariettes oubliées- »Vergessene Liedchen«. Betrachten wir kurz als vielleicht eindrucksvollstes Beispiel das Gedicht Il pleure dans mon Cœur. Il pleut doucement sur la ville. (Arthur Rimbaud)
Il pleure dans mon cœur Comme il pleut sur la ville; Quelle est cette langueur Qui pénètre mon cœur?
Ô bruit doux de la pluie Par terre et sur les toits! Pour un cour qui s'ennuie Ô le chant de la pluie!
Il pleure sans raison Dans ce cœur qui s'écœure. Quoi! nulle trahison? ... Ce deuil est sans raison.
C'est bien la pire peine De ne savoir pourquoi Sans amour et sans haine Mon cœur a tant de peine! 223
Sie werden ohne weiteres bemerkt haben, daß die auffälligste Strukturschicht dieses Gedichts aus Vokalgleichklängen oder Anklängen, aus Alliterationen und Assonanzen, aus Parallelismen, aus der Wiederkehr von Versen in Nuancenabweichungen und aus Wiederholungen von Worten besteht, bei denen die Bedeutung eigentlich nur die durch das Tongebilde suggerierte Stimmung unterstreicht. Die Basis für diese Dichtweise ist die Überzeugung, daß eine Art von prästabilierter 223
»Romances sans paroles«, ebd., S. 192. 75
Harmonie zwischen der Lautung des Worts und seiner Bedeutung besteht. Das ist eine bekannte Eigentümlichkeit des Symbolismus, deren Voraussetzung die uns schon geläufige Theorie der Synästhesien ist. Die deutlich zu verfolgende Linie dieser Konzeption wird markiert durch Nervals Vers dorés, Baudelaires Correspondances und schließlich Rimbaud. Rimbaud hat in seinem Gedicht Voyelles, ebenfalls einem Sonett, ein System der suggestiven Bedeutungswerte und Farbwerte der Vokale aufgestellt: A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles, Je dirai quelque jour vos naissances latentes: A, noir corset velu des mouches éclatantes Qui bombinent autour des puanteurs cruelles,
Golfes d'ombre; E, candeurs des vapeurs et des tentes, Lances des glaciers fiers, rois blancs, frissons d'ombelles; I, pourpres, sang craché, rire des lèvres belles Dans la colère ou les ivresses pénitentes;
U, cycles, vibrements divins des mers virides, Paix des pâtis semés d'animaux, paix des rides Que l'alchimie imprime aux grands fronts studieux;
O, suprême Clairon plein des strideurs étranges, Silences traversés des Mondes et des Anges: O l'Oméga, rayon violet de Ses Yeux! 224
Rimbaud hat, wie wir sehen, vor allem Farbwerte angegeben. Ein späterer Symbolist, René Ghil, fügt noch die Töne, das heißt die Musikinstrumente hinzu: A, noir, les orgues; E, blanc, les harpes; I, bleu, les violons; O, rouge, les cuivres; U, jaune, les flûtes. 225
Vergleichen wir die Systeme, dann zeigt sich, daß Ghil von Rimbaud bei den Vokalen I, O und U abweicht. l ist bei ihm nicht »purpurrot« wie bei Rimbaud, sondern »blau«, O nicht »violett«, sondern »rot« und U nicht »grün«, sondern »gelb«. Die Symbolisten sind also selbst geteilter Meinung, und in der Tat gibt es darüber keine einhellige Auffassung und braucht es auch nicht zu geben. Die synästhetische Wirkung, die Vokalen eigen ist, kann eben erst durch die Auswahl von Worten mit entsprechender Bedeutung zur Wirkung gebracht werden. Und sogleich ist zu ergänzen, was in den genannten Systemen nicht berücksichtigt ist, daß nämlich bei
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Arthur Rimbaud, Œuvres complètes (hrsg. v. Antoine Adam), Paris 1972, S. 53. René Ghil, Traité du verbe. Avec Avant-dire de Stéphane Mallarmé. Nouvelle Edition augmentée et avérée, Paris 1887, S. 44.
der Erzeugung dieser synästhetischen Wirkung auch die Konsonanten eine wichtige Rolle spielen. Verlaines Gedicht ist ein Musterbeispiel dafür. Daß in den Versen »Il pleure dans mon cœurl Comme il pleut sur la ville« die Konsonantengruppe -pl-, die sich auch in den folgenden Versen wiederfindet – zweimal »pluie« –, und die verwandte Konsonantengruppe -br- (»bruit«), ja überhaupt die Häufung der Liquidae r und l zusammen mit den Vokalgleichklängen mit größter akustischer Intensität den Eindruck des Weinens und des Regnens heraufbeschwören, steht außer Zweifel. Damit ist aber ein Weiteres, Wesentliches erreicht: Die Wirkung des ganzen Gedichts ist inhaltlich auf dem Trick – wenn wir einmal so sagen dürfen – aufgebaut, daß das äußere Geschehen des Regnens über der Stadt in engste Beziehung gesetzt, ja identifiziert wird mit dem Weinen im Herzen des Dichters. Diese Identifikation wird rein stilistisch nicht hergestellt; es bleibt beim Vergleich, mit »comme«. Sie braucht das ganz moderne Wagnis, etwa zu sagen: »es regnet in meinem Herzen«, nicht, und zwar deshalb nicht, weil Assonanzen und Alliterationen diese Identität musikalisch-suggestiv konstituieren und eine weitere Vermittlung überdies durch die Benennung des Seelenzustands – durch »langueur« – vollzogen wird. Jetzt verstehen wir das Geheimnis der ersten Strophe: Il pleure dans mon cœur Comme il pleut sur la ville; Quelle est cette langueur Qui pénètre mon cœur?
Ich mache nur am Rande darauf aufmerksam, wie sehr hier die Stadt innerlich geworden, das Stadterlebnis zum Gleichnis für den Menschen geworden ist. Diese von der Wortund Versmusik getragene, mit Hilfe von Assonanzen und Alliterationen von einem Wort und Vers zum anderen weitergetragene Struktur läßt sich durch das ganze Gedicht hindurch verfolgen. Der Übergang zu harten Tönen – Quoi, pourquoi –, zu Hiaten – trahison, sans haine – und zu scharfen explosiven Konsonanten – pire peine, tant de peine – verschiebt die melancholisch sanfte Stimmung des Anfangs zu einer solchen des bohrenden Schmerzes, der bitteren, unerklärten Qual. Man könnte nahezu jeden Vokal, jeden Konsonanten, dazu ihre Verwendung im Reim, als konstitutive Elemente der Thematisierung und als Materialien der Architektur dieses Gedichts erkennen und einordnen. Dieses ganze kleine, scheinbar naiv-einfache und natürliche Gedicht ist ein Produkt höchster künstlerischer Anstrengung. Die musikalische Tektonik ist so dominant und nimmt die Wortbedeutung so weit in sich auf, daß diese letztere ihres Für-Sich-Seins völlig verlustig geht, verschmilzt mit ihr so, daß der Eindruck entsteht, als wäre das Ganze in der Tat eine »Romance sans parole« – wenn Dichtung eben ohne Worte denkbar wäre. Auch diese Unmöglichkeit ist später ja versucht worden. Verfallen wir also nicht in den Irrtum, der noch in mancher Literaturgeschichte spukt, daß Verlaine ein Genie der Leichtigkeit gewesen sei. Was so ganz spontan, einfach, natürlich aussieht, ist in Wahrheit ein höchst raffiniertes Kunstgebilde. Das gilt auch für das berühmte Gedicht:
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la lune blanche Luit dans les bois; De chaque branche Part une voix Sous la ramée... Ô bien aimée. 226
Den Aufbau dieses dreistrophigen Gedichts hat Wolfgang Kayser in seinem Buch Das sprachliche Kunstwerk 227 eingehend untersucht, auf dessen scharfsinnige Analyse ich hier nur verweisen kann. Höchste Schlichtheit und Transparenz der Stimmung als Ergebnis größter Kunstfertigkeit, äußerste Natürlichkeit als Produkt poetischer Virtuosität liegt auch bei dem Gedicht Le ciel est, par-dessus le toit vor, das in die 1881 erschienene Sammlung Sagesse gehört: Le ciel est, par-dessus le toit, Si bleu, si calme! Un arbre, par-dessus le toit, Berce sa palme.
La cloche, dans le ciel qu'on voit, Doucement tinte. Un oiseau sur l'arbre qu'on voit Chante sa plainte.
Mon Dieu, mon Dieu, la vie est là, Simple et tranquille. Cette paisible rumeur-là Vient de la ville.
- Qu'as-tu fait, ô toi que voilà Pleurant sans cesse, Dis, qu'as-tu fait, toi que voilà, De ta jeunesse? 228
Das metrische Schema ist: 8A 4b 8A 4b. Alternierende Versarten, alternierende Reime. Vierzeilige Strophen. Ganz einfach also. Die Klangmalerei ist hier ganz auf die Reime verlagert, auf eine Wiederholung hingearbeitet, die an die Grenze des Primitiven reicht. Das Prinzip des leoninischen Reims – erinnern wir uns der entsprechenden Forderung Baudelaires – greift teilweise auf drei Viertel des Verses über und wird bis zur Wiederholung der gleichen Worte in den 8-Silbern vorange226 227
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»La bonne chanson« VI, in: Œuvres poétiques complètes, S. 145 f. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern-München 121967, S.156ff. »Sagesse«, in: Œuvres poétiques complètes, S. 280.
trieben. Was die Wiederholungen vom Vers noch übrig lassen, dient in den ersten beiden Versen dazu, die beiden gegenständlichen Hauptmotive – »ciel« und »arbre« – mit Attributen auszustatten, die zum räumlich-visuellen noch das akustische Element fügen: »cloche« und »oiseau«. An sich nichts weniger als originell: Himmel, Baum, Glocke und Vogel sind romantische Requisiten, deren abgestandener Reiz in dieser sparsamen Instrumentierung plötzlich wieder aufersteht, weil in raffinierter Simplizität auf alles prätentiöse Gehabe verzichtet wird. Die Rhetorik vertilgt sich selbst in der Beschränkung auf ihre allereinfachsten Mittel: La cloche, dans le ciel qu'on voit, Doucement tinte. Un oiseau sur l'arbre qu'on voit Chante sa plainte.
Daß der Dichter von dem Himmel sagt, daß man ihn sieht, daß er das gleiche auch von dem Baum sagt, ist, rein sachlich gesehen, überflüssig. Der poetische Effekt ist, daß das Selbstverständliche plötzlich den Wert des Wesentlichen erhält – das ist wohl die raffinierteste Verwendung der Stilfigur des Pleonasmus, die es gibt – und damit auch die Perspektive angibt, ohne daß diese irgendwie präzisiert wäre: Blick aus dem Fenster des Zimmers, offensichtlich gegen Abend; das Präzisevereint mit dem Unpräzisen-gemäß dem Art poétique. Ist es ein Pleonasmus? Oder nicht zugleich oder vielmehr das begrenzte Stück Himmel beim Blick aus dem (Gefängnis-)Fenster? Die dritte Strophe ist die einzige von den vieren, die keinen leoninischen Reim, keine überreiche Wiederholung der Reimworte bringt: Mon Dieu, mon Dieu, la vie est là, ...... Cette paisible rumeur-là...
Was hat dies zu besagen? Der Leser oder Hörer ist auf die Reimwortwiederholung eingestimmt, »là-là« genügt seiner Erwartung nicht: automatisch setzt er infolgedessen »vie« in »la vie est là« und »paisible rumeur-là« gleich, er identifiziert sie, das Metaphysische und das Akustische. Auf die Apostrophierung Gottes, die dem Angerufenen die momentane Erfüllung des Wunschbildes nach Frieden, Ruhe, Klarheit darbietet, folgt die Rückwendung zum Ich in der wiederholten Frage, was aus dem Menschen von einst geworden ist – emphatisch verstärkt nicht nur durch die Wiederholung der lautlich stark akzentuierten, stakkatoartigen Frage und der Fixierung auf das hic et nunc – »toi que voilà « –, sondern vor allem auch durch die Verwandlung des fragenden Ich in das befragte Du, das einen dramatisierenden Imperativ möglich macht: Qu'as-tu fait, ô toi que voilà Pleurant sans cesse, Dis, qu'as-tu fait, toi que voilà, De ta jeunesse?
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Dieses Gedicht hat, ohne es aussprechen zu müssen, die Elemente früherer Dichtung seit der Romantik mitverwertet, indem es deren mühsam erarbeitete Stimmungsbilder einfach zwischen den Zeilen mitwirken läßt. Eine minimale Zahl von traditionsbeladenen Konkreta – »ciel«, »toit«, »arbre«, »cloche«, »oiseau«, »ville« – ruft eine ganze Atmosphäre zur gesammelten Wirkung auf: nicht namhaft gemacht, aber vor dem Auge des Lesers konturlos und doch gesichert existent sind Abend, Herbst, Blick aus dem Fenster, Melancholie, Einsamkeit, ennui. Verlaines beste Gedichte erwachsen aus der hohen Kunst, mit den einfachsten Mitteln die dichteste Wirkung zu erzielen und – wie er es wollte – durch die Verbindung von Kontur und Konturlosigkeit in das kleinste, formal geschlossenste Gebilde eine grenzenlose Dimension hereinzuholen. Verlaine gehört zu jenen Dichtern der neuen Generation, die von ihren Zeitgenossen noch verstanden wurden. Er hätte offizielle Anerkennung gefunden, wäre sein Leben nicht als ein Skandal erschienen. Ungleich schlechter erging es Mallarmé und Rimbaud, bei denen der Bruch mit der poetischen Tradition die Kritik in größte Verlegenheit bringen mußte. Der bedeutende Kritiker Gustave Lanson nimmt die poetische Revolution, die um 1885 das Gesicht der französischen Poesie mit dem Erfolg des Symbolismus insgesamt zu verändern beginnt, zwar sehr ernst, steht aber den wichtigsten Erscheinungen ziemlich ratlos gegenüber. Für Baudelaire hat er in seiner Histoire de la littérature française immerhin eine ganze Seite übrig. Mallarmé muß sich mit einem einzigen Satz begnügen: »Mallarmé, qui a exercé par sa conversation, paraît-il, exquise, une action considérable, est un artiste incomplet, inférieur, qui n'est pas arrivé à s'exprimer.« 229
Noch schlimmer ergeht es Rimbaud: Er erscheint lediglich in einer Fußnote, im Tone der Beiläufigkeit. Und alles, was Lanson über ihn zu sagen hat, ist: »Il fut un des ouvriers de la première heure du symbolisme.« 230 Einen Lautréamont hat Lanson überhaupt nicht wahrgenommen, doch dürfen wir ihm dies nicht verübeln: der Surrealismus hatte ihn noch nicht entdeckt. Wir wollen ihn nicht ganz unterschlagen.
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Gustave Lanson, Histoire de la littérature française, Paris 111909, S.1129. Ebd.
Comte de Lautréamont Der Name ist das einem Romanhelden von Eugène Sue entlehnte Pseudonym eines Mannes namens Isidore Ducasse, über dessen Leben nicht viel mehr bekannt ist, als daß er 1846 in Montevideo von französischen Eltern geboren wurde, in Paris die Ecole polytechnique besuchte, daß er ohne jeden Kontakt mit Literaten lebte und 1870, mit 24 Jahren also, einsam in einem Hotel verstarb. Im Jahre 1868 übergab er einem Verleger das Manuskript seiner Chants de Maldoror. Der Verleger jedoch zog, erschrocken vor der eigenen Courage, das kaum gedruckte Buch wieder aus dem Handel. Erst 1890 wurde es einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Lautréamont gilt als Urvater des Surrealismus, der Poesie des Unbewußten, der wirren Assoziation und der Halluzination, die vor nichts zurückschreckt und überall jene Grenzen überschreitet, die der Aussage dessen gesteckt sind, was man nicht eingestehen darf: Abgründe, die auf den Marquis de Sade zurückverweisen; Satanismus, Revolte und Sprachalchimie, die an Nerval und Baudelaire, an der Nachtseite der Romantik und am roman noir orientiert sind. Manche Kritiker bezeichnen Lautréamonts Werk als Produkt von Krankheitszuständen, von Fieberwahn. Viktor Klemperer sieht in den Chants de Maldoror »wilde Prosafetzen«, romantische Themen, die »unter der Verzerrung des Irrsinns kaum noch erfaßbar sind« 231 . Franz Rauhut 232 vermutet ein verspätetes, katastrophenhaftes Pubertätserlebnis. Der Verdacht der Geisteskrankheit scheint nahezuliegen, aber warum soll ein Autor nicht dichterisch auszudrücken versuchen, was ein Kubin und andere mit den Mitteln der bildenden Kunst darzustellen versucht hatten. Man vergleiche nur, wie Maldoror, das Ich des Werks, sich im 4. Gesang sieht: Je suis sale. Les poux me rongent. Les pourceaux, quand ils me regardent, vomissent. Les croûtes et les escarres de la lèpre ont écaillé ma peau, couverte de pus jaunâtre. Je ne connais pas l'eau des fleuves, ni la rosée des nuages. Sur ma nuque, comme sur un fumier, pousse un énorme champignon, aux pédoncules ombellifères. Assis sur un meuble informe, je n'ai pas bougé mes membres depuis quatre siècles. Mes pieds ont pris racine dans le sol et composent, jusqu'à mon ventre, une sorte de végétation vivace, remplie d'ignobles parasites, qui ne dérive pas encore de la plante, et qui n'est plus de la chair. Cependant mon cœur bat. Mais comment battrait-il, si la pourriture et les exhalaisons de mon cadavre (je n'ose pas dire corps) ne le nourrissaient abondamment? Sous mon aisselle gauche, une famille de crapauds a pris résidence, et, quand l'un d'eux remue, il me fait des chatouilles. Prenez garde qu'il ne s'en échappe un, et ne vienne gratter, avec sa bouche, le dedans de votre oreille: il serait ensuite capable d'entrer dans votre cerveau. Sous mon aisselle droite, il y a un caméléon qui leur fait une chasse perpétuelle, afin de ne pas mourir de 231
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Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 19.-20. Jahrhundert, Berlin 1956,S.152. Franz Rauhut, »Das französische Prosagedicht«, in: Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen, Bd. 2, Hamburg 1929, S. 47. 81
faim: il faut que chacun vive. Mais, quand un parti déjoue complètement les ruses de l'autre, ils ne trouvent rien de mieux que de ne pas se gêner, et sucent la graisse délicate qui couvre mes côtes: j'y suis habitué. 233
So geht es weiter, über den ganzen Körper hinweg, in der geheiligten Reihenfolge der traditionellen Beschreibung des menschlichen Körpers; und doch eine totale Umkehrung alles Idealisierenden; das Extrem einer Ästhetik des Häßlichen. Aber denken wir an Baudelaire, etwa an La charogne, dann erscheint das nicht mehr so verwunderlich. Gemeint ist natürlich nicht ein reales physisches Aussehen, sondern ein geistiger Zustand, eine Befindlichkeit des Menschen schlechthin. Auch bei Lautréamont ist der Ekel vor dem Leben so angewachsen, daß er seine Verzweiflung nur noch los wird, indem er Häßlichkeit, Verfall und Empörung in den dichtesten symbolischen Bildern des Abstoßenden beschwört. Bei Rimbaud finden wir Ähnliches. Diese grausige Vision wird zum Symbol des Menschen, der sich gegen einen grausamen Gott empört. Hauptthema der Chants de Maldoror ist der Aufruhr gegen die Menschheit und deren Schöpfer. Das Ich, das sich in der vorhin zitierten Weise sieht, hat das Gelübde abgelegt, »de vivre avec la maladie et l'immobilité jusqu'à ce que j'eusse vaincu le Créateur...« 234 Den Schöpfer überwinden! Das Böse tun, um das Böse zu vernichten, das ist – ganz im Sinne des Marquis de Sade – ein Grundthema Lautréamonts. Wir fanden es auch bei Baudelaire. Das Verbrechen, um das Verbrechen aufzuheben. In einer ungeheuerlichen Phantasmagorie von Metamorphosen, in der das Lebendige tot, das Anorganische lebendig wird, verwandelt sich Maldoror in einen Polypen, der zum Angriff auf Gott ansetzt: » attaquer, par tous les moyens, l'homme, cette bête fauve, et le Créateur...« 235 Wir verstehen, weshalb Albert Camus Lautréamont, zusammen mit Sade, Nietzsche, aber auch mit Rimbaud und den Surrealisten unter die Söhne Kains, unter die Vertreter der »metaphysischen Revolte« einreihte 236 . Von Camus aus öffnet sich in der Tat ein Weg zum Verständnis des Phänomens Lautréamont. Ihm und Rimbaud hat Camus in dem Kapitel »La révolte métaphysique« seines Buches L'homme révolté einen ganzen Abschnitt gewidmet, in dem die Chants de Maldoror als ein Werk der Rache an Gott, der für alles Böse verantwortlich ist, interpretiert wird, als Revolte gegen eine absurde Schöpfung, gegen die Herrschaft des Bösen, die Gott zum Schuldigen stempelt, wenn er allmächtig ist, und die ihn als Allmächtigen negiert, wenn er das Böse wider Willen zulassen mußte 237 . Camus erkennt in den Chants de Maldoror die eigene Thematik der Absurdität wieder. Die Devise seines Dramenhelden Caligula – »être aussi cruel [que les Dieux]« 238 – könnte auch diejenige Maldorors sein. Die Freiheit – so lautet die Konsequenz Maldorors wie diejenige 233
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Lautréamont (d. i. Isidore-Lucien Ducasse), » Les Chants de Maldoror«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Pierre-Olivier Walzer), Paris 1970, S. 169 f. Ebd., S. 170. Ebd., S. 87. Albert Camus, L'homme révolté, Paris 1951, S. 43 ff. Ebd., S. 107 ff. Albert Camus: »Caligula«, in: Théâtre, récits, nouvelles, (hrsg. v. Roger Quilliot), Paris 1962, S. 67 (» ... J'ai simplement compris qu'il n'y a qu'une façon de s'égaler aux Dieux: il suffit d'être aussi cruel qu'eux«).
des Camusschen Caligula – läßt sich nur dadurch erringen, daß man Gott oder den Göttern die Führung im Bösetun aus der Hand nimmt: Überbietung und Einholung des Absurden durch denjenigen, der von ihm betroffen ist, durch sein Opfer, durch den Menschen. Im dritten Gesang Maldorors erscheint eine verrückte Frau, die von Kindern malträtiert wird: » Les enfants la poursuivent à coups de pierre, comme si c'était un merle.« 239 Dieser Satz, der die absurde, sinnlose Grausamkeit des Schicksals, die Grundlosigkeit der »condition humaine« beinhaltet, kehrt als Leitmotiv in diesem Abschnitt immer wieder. Das Kind dieser Frau ist einem Lustmord ohne Lust zum Opfer gefallen; der Täter ist Maldoror. Die wahnsinnig gewordene Mutter beklagt den Mörder, weil seine Tat nur dem unüberwindlichen Haß auf die Menschen und die Schöpfung entspringen konnte. Wir haben hier, wenn ich mich nicht täusche, das erste Beispiel für ein charakteristisches Motiv der neueren französischen Literatur vor uns, den unmotivierten Mord, den meurtre gratuit – ein Motiv, das seine letzte Ursache in dem Welt- und Menschenbild hat, dem auch die philosophischen Theorien von der »Geworfenheit«, der »Absurdität«, der »Grundlosigkeit«, kurz die Existenzphilosophien entstammen. Wir finden das Motiv des meurtre gratuit in der Literatur wieder bei André Gide, bei Sartre, bei Malraux, bei Jean Genet und bei Camus. Zu den Hauptproblemen des letzteren gehört die beunruhigende Frage, ob nicht der Mord – oder auch der Selbstmord – die Konsequenz des absurden Denkens sei. Camus hat sich damit besonders in seinem Aufsatz Le meurtre et l'absurde auseinandergesetzt. In seinen 1943/44 geschriebenen Lettres à un ami allemand wirft er den Deutschen vor, sie hätten den Menschen verraten, indem sie die Absurdität der Götter mit der Absurdität des eigenen Handelns beantwortet hätten, die Ungerechtigkeit des Lebens durch die Ungerechtigkeit den Menschen gegenüber 240 . Nur die menschliche Solidarität gegen das Absurde – in dem Sinn, wie er sie bereits zum Thema seines Romans La Peste gemacht hatte – ist das humane Verhalten in der absurden Welt. Von hier aus erklärt sich auch der erste Vorwurf, den Camus gegen Lautréamont erhebt, daß er nämlich nicht nur Gott, sondern auch den Menschen, also nicht nur den Schuldigen, sondern auch das Opfer verdammt, daß er demzufolge in den Nihilismus einmündet 241 . Daraus leitet sich dann der zweite Vorwurf ab, der gleichermaßen auch Rimbaud trifft: die Revolte, die zum Nihilismus wird, erliegt leicht der Versuchung des banalsten Konformismus, des Verrats an der humanen Revolte 242 . Lautréamont hat nach seinen Chants de Maldoror noch ein zweites kleines Werk geschrieben, in dem er alles widerruft und sich anpaßt; Rimbaud gab mit 19 Jahren die Revolte auf, um Waffenhändler zu werden. Mit welchem Recht Camus den Autor der Chants de Maldoror in die Reihe der Dichter der révolte métaphysique aufnimmt, möge ein Beispiel zeigen: ein Abschnitt aus dem dritten Gesang, den ich mit geziemender Verkürzung und Behutsamkeit wiedergebe. Der Schauplatz selbst ist ein Ort, den wir bereits aus Musset, Flaubert und Baudelaire als literaturwürdig kennen: das Bordell, als Einrichtung 239 240 241 242
»Les Chants de Maldoror«, in: Œuvres complètes, S. 136 f. Albert Camus, Lettre à un ami allemand, Paris 1948, S. 77. L'homme révolté, S. 108. Ebd., S.113 f. 83
bekanntlich fast so alt wie die Menschheit, als literarisches Symbol aber recht modern. Neugierig tritt Maldoror in das verruchte Haus ein. Er findet dort ein redebegabtes Haar, das in verzweifeltem Monolog nach seinem Herrn ruft, der es hier verlor, und nach den Gründen fragt, weshalb dieser Herr überhaupt hierher kam und sich mit einer Dirne beschmutzte. Der lange Monolog, dessen Einzelheiten ich übergehe, von dem aber zu sagen ist, daß er nicht nur von der Begegnung mit einer Dirne, sondern auch von einem Knabenmord spricht, wird immer wieder leitmotivisch durch die indirekte Frage des zuhörenden Maldoror unterbrochen: »Et je me demandais qui pouvait être son maître!« 243 Er erhält die Antwort auf die Frage, als der Herr zurückkommt, um das verlorene Haar wieder an sich zu nehmen. Es ist Gott, »le Tout-Puissant« 244 , »le Créateur« 245 , je Grand-Tout« 246 , voller Scham über die eigene Tat und mit den Vorwürfen Satans beladen. Reumütig hält er Gericht über sich selbst ab und anerkennt das Recht des Menschen auf Revolte gegen seinen Schöpfer: Comment les hommes voudront-ils obéir à ces lois sévères, si le législateur luimême se refuse le premier à s'y astreindre? ... Et ma honte est immense comme l'éternité! 247
Der seiner Schuld einsichtig gewordene Gott versetzt sich selbst in den Anklagezustand noch am anrüchigen Ort seines Vergehens! Das ist starker Tobak, und die von mir nur angedeutete Weise der Schilderung und Inszenierung ist es noch mehr. Davon, daß die Chants de Maldoror nur aus »wilden Prosafetzen« bestehen, kann keine Rede sein. Als Beleg dafür noch ein Abschnitt aus dem zweiten Gesang. Es ist Mitternacht. Von der Bastille zur Madeleine fährt ein vollbesetzter Pferdeomnibus. Es ist, als ob nicht der Arm des Kutschers die Peitsche, sondern die Peitsche den Arm bewegte. Die Fahrgäste wirken wie Leichen in dem Omnibus, der den Raum verschlingt: Il s'enfuit! ... Mais, une masse informe le poursuit avec acharnement, sur ses traces, au milieu de la poussière. »Arrêtez, je vous en supplie; arrêtez... mes jambes sont gonflées d'avoir marché pendant la journée... je n'ai pas mangé depuis hier... mes parents m'ont abandonné... je ne sais plus que faire... je suis résolu de retourner chez moi, et j'y serais vite arrivé, si vous m'accordiez une place... je suis un petit enfant de huit ans, et j'ai confiance en vous...« Il s'enfuit!... Il s'enfuit!... Mais, une masse informe le poursuit avec acharnement, sur ses traces, au milieu de la poussière. 248
Nur ein junger Mann zeigt Mitleid, aber die Blicke der empörten Mitfahrer gebieten ihm Ruhe, »et il sait qu'il ne peut rien faire contre tous.« 249 Eine Träne der Hilflosig243 244 245 246 247 248 249
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»Les Chants de Maldoror«, in: Œuvres complètes, S. 149. Ebd., S. 152. Ebd., S. 154. Ebd. Ebd., S. 155. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86.
keit rollt über sein Gesicht, und er fühlt, daß er nicht heraustreten kann aus der Zeit, in die er »geworfen« wurde: Il se démène, mais en vain, dans le siècle où il a été jeté; il sent qu'il n'y est pas à sa place, et cependant il ne peut pas en sortir. Prison terrible! Fatalité hideuse! 250
Der Omnibus, das Symbol der Geworfenheit flieht weiter. Ein Lumpensammler nimmt sich des verlassenen Kindes an. Sein bohrender Blick verfolgt drohend den Omnibus. Seine Drohung geht auf in der Drohung des Dichters: Race stupide et idiote! Tu te repentiras de te conduire ainsi. C'est moi qui te le dis. Tu t'en repentiras, va! tu t'en repentiras. Ma poésie ne consistera qu'à attaquer, par tous les moyens, l'homme, cette bête fauve, et le Créateur, qui n'aurait pas dû engendrer une pareille vermine. 251
Es ist ein sehr modernes Symbol, das des Omnibusses, dem der Umstand, daß er noch von Pferden gezogen wird, nichts von seiner Eindringlichkeit nimmt. Es faßt hier die grausame Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden des anderen zusammen, die Inhumanität der modernen Gesellschaft, der das Elend am Wege nicht so wichtig ist wie die Minute, die man früher zu Hause auf dem Kanapee sitzt. Der Humane, das ist der Lumpensammler, das Strandgut dieser Gesellschaft. Die Revolte wandelt sich unversehens in Revolution. Man hat vermutet, daß Lautréamont sozialrevolutionären und anarchistischen Zirkeln nahestand. Beweise gibt es freilich nicht. Der nächste Poet der Revolte, Rimbaud, wollte als Siebzehnjähriger an der Pariser Kommune teilnehmen. Die poetische Prosa der Chants de Maldoror ist sehr ungleich und ungleichwertig. Ihre Metaphorik ist zuweilen bestürzend modern, weil sie gleichsam die Trümmer einer chaotisierten Welt zusammenzwingt in Reihen, die verschiedene Möglichkeiten offenlassen, sich nicht festlegen. Von einem jungen Mann heißt es in den Chants de Maldoror, er sei schön [...] comme la rétractilité des serres des oiseaux rapaces; ou encore, comme l'incertitude des mouvements musculaires dans les plaies des parties molles de la région cervicale postérieure; ou plutôt, comme ce piège à rats perpétuel, toujours retendu par l'animal pris, qui peut prendre seul des rongeurs indéfiniment, et fonctionner même caché sous la paille; et surtout, comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie! 252
Die Metaphorik versichert sich des absoluten Zufalls als der Wesensbestimmung einer chaotisierten Welt. Das ganz und gar Unvereinbare wird zusammengezwungen, als sei dies der Zustand dieser Welt. Was hier vorliegt, ist der sprachliche Nachvollzug des Chaotischen, des Zerreißens der Dinge, das »Zersägen« der Welt, nach einem Ausdruck, der sich bei Lautréamont 253 findet und den Hugo
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Ebd. Ebd., S. 87. Ebd., S. 224f. »Poésies«, in: Œuvres complètes, S. 260. 85
Friedrich 254 auch bei anderen modernen Dichtern nachgewiesen hat. Das Zusammenbringen von Gegensätzlichem, Unvereinbarem, Grausigem, Banalem, Technischem und Wissenschaftlichem besagt ja nichts anderes, als daß die Dichtung sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das Zerfallene, Undurchschaubare als solches mit den Mitteln der Sprache zu bannen. Das ist der Strukturzwang der modernen Poesie. Dekomponieren und Deformieren, wie Baudelaire es formuliert hat. Der Umstand, daß das Publikum das zeitgenössische ist, daß es derselben Welt zugehört, besagt darum noch nicht, daß die Dichtung, die ihr Gesetz dieser Welt entnimmt, jenem Publikum unmittelbar zugänglich sein müsse. Es ist eben das Wesen dieser modernen Welt, daß sie der Dichtung, das heißt ihrer dichterischen Deutung, Formen aufzwingt, die ihrer Undurchschaubarkeit und Parzellierung selber entstammen. Das Kunstverständnis hat es schwerer als je zuvor, mit den Geschmackskriterien der Tradition oder des Alltags auszukommen, und die Vermittlung zwischen Autor und Publikum bedarf der Provokation oder aber der Verzauberung durch Mittel, die den Leser selbst in Zustände versetzen, die ihm neue Dimensionen eröffnen. Der Leser soll, so schreibt Lautréamont, von der Sehweise des Autors so gebannt werden, daß er die Begrenztheit der eigenen Natur vergißt und sich bewegungslos magnetisieren läßt: il faut, [...] avec du bon fluide magnétique, le mettre ingénieusement dans l'impossibilité somnambulique de se mouvoir, en le forçant à obscurcir ses yeux contre son naturel par la fixité des vôtres. 255
Den Erfolg würde Lautréamont nach seiner eigenen Aussage erst durch den Leser bestätigt finden, der von ihm sagt: »Il m'a beaucoup crétinisé [...] c'est le meilleur professeur d'hypnotisme que je connaisse!« 256 Damit ist gewiß nicht gemeint, der Leser solle »verblödet« werden. »Verblöden« – »crétiniser« – heißt nichts anderes hier, als den Leser in einen von allen Vorurteilen und Bedingtheiten freien, somnambulen Zustand versetzen, in dem er offen ist für das, was ihm die Dichtung sagt. Hypnose meint Ausschalten aller Denkhindernisse, Überwindung aller Barrieren des vorgängigen Bewußtseins. Die Sprache, die dies erzielt, wirkt magisch. Wir sind also gar nicht so weit entfernt von der Theorie Baudelaires, von der »sorcellerie évocatoire« 257 , und von der beschwörenden Wirkung, die sich Verlaine von der Musik des Verses verspricht. Und wir sind vor allem nicht weit entfernt von Rimbaud, der Lautréamont so wenig gekannt hat wie dieser ihn. Die Ursachen sind die gleichen, nun aber zum Programm geworden, das keine Unentschiedenheit mehr kennt. Weil das Normale, die Norm des Lebens, sich ins Gegenteil verkehrt hat, wird dann bei Rimbaud wie bei Lautréamont die Abnormität zum Programm der Dichtung, die sich eben darin als Dichtung ihrer Zeit, als moderne Dichtung begreift. Von hier aus ist Rimbaud dann als ein Dichter zu verstehen, der, aus gleichem Lebensekel heraus wie Baudelaire, zum Dichter der Revolte gegen Gesell254
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Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967,S.21. »Les Chants de Maldoror«, in: Œuvres complètes, S. 247. Ebd. Charles Baudelaire, »Fusées«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 1, Paris 1975, S. 658. (siehe auch: »Critique littéraire«, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 118).
schaft und Dichtungstradition wird. Rimbaud wollte als Halbwüchsiger auf die Barrikaden gehen, und er schrieb die ersten Gedichte im »vers libre«, die die französische Poesie kennt. Hugo Friedrich zitiert in seiner Struktur der modernen Lyrik, auf die wir immer wieder zurückgreifen müssen, einen Satz aus dem vorzüglichen Rimbaud-Buch von Jacques Rivière, wo es heißt: Die Hilfe, die [Rimbaud] uns bringt, besteht darin, daß er uns den Aufenthalt im Irdischen unmöglich macht... Die Welt sinkt in ihr ursprüngliches Chaos zurück, die Dinge treten wieder mit jener furchtbaren Freiheit hervor, die sie besaßen, als sie noch keinem Nutzen dienten. 258
Hugo Friedrich kommentiert: »Seine Wirrnisse und Abnormitäten sind Gehorsam gegenüber einer geschichtlichen Lage.« 259 Das läßt sich noch präzisieren. Wir gehen kaum fehl, wenn wir sagen, daß jene Befreiung der Dinge zu ihrer furchtbaren Freiheit, von der Rivière spricht, in Wahrheit ihren Grund in der Herrschaft einer Dingwelt hat, die aus ihrer Nutzung, ihrer Beherrschung durch den Menschen zur Herrschaft über den Menschen und das heißt zur Deshumanisierung gelangt ist. Aus diesem Grunde ist Rimbauds Dichtung – und zwar deutlicher als jede andere – zu einer Dichtung der chaotischen Welt geworden, deren Zerrissenheit das menschliche Wesen selbst fragmentarisiert. Seine Dichtung ist ein Akt eruptiven Aufbruchs zur anarchischen Freiheit; sie verstummt in dem Augenblick, da die Anarchie sie selbst aufzulösen droht. Wahrscheinlich fällt dieser Augenblick mit dem Zeitpunkt zusammen, da Rimbaud auch vor den Trümmern seiner konkreten Hoffnungen im gesellschaftlich-politischen Bereich steht. Freilich wird niemals nachzuweisen sein, was Rimbaud wirklich, ganz plötzlich veranlaßt hat, mit der Dichtung zu brechen, keine Zeile mehr zu schreiben und dafür in allerlei Geschäften durch die Welt zu reisen.
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Zit. nach: Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 94. Ebd., Hamburg 1956, S. 71 (in der erweiterten Neuausgabe gestrichener Satz). 87
Arthur Rimbaud Jean-Arthur Rimbaud wurde am 20. Oktober 1854 in Charleville geboren, von Eltern, deren die Biographen beim besten Willen nicht mehr Böses nachsagen können, als daß der Vater ein ziemlich leichtlebiger Offizier und die Mutter eine etwas beschränkte Frau war, die ihre beiden ungebärdigen Söhne – der ältere Bruder Arthurs blieb immer ein Taugenichts – durch große Strenge buf dem Pfad der Tugend zu halten gedachte. Der junge Rimbaud lehnte sich in kindlichem Trotz gegen die Mutter auf. Das frühe Gedicht Les poètes de sept ans bekennt den Widerwillen vor der bornierten Mutter, vor der sich der Sohn in die wohl verriegelte Freiheit des häuslichen Klosetts zurückzieht. Mehrfach reißt er von zu Hause aus. Der maßlose Lesehunger des jungen Rimbaud erstreckt sich auf alles, nur nicht auf die Schulbücher, die ihm die Mutter täglich aufzwingt. Er ist Musterschüler aus Hypokrisie. Am Gymnasium von Charleville hat er das Glück, einen jungen Lehrer zu finden, der sein Freund wird und der ihm die Lektüre vermittelt, die die Schule normalerweise nicht bietet: jene lateinischen Klassiker, die nicht keimfrei genug sind, um zur Schullektüre zu taugen, ferner François Villon, Rabelais, die Pléiade, Historiker und sozialistische Theoretiker wie Michelet, Proudhon, Saint-Simon, Cabet, aber auch so suspekte Dichter wie Baudelaire und Poe und zahllose, auch zeitgenössische realistische Romane. Der Krieg von 1870 erfüllt ihn mit fanatischem Haß gegen Regierung und herrschende Gesellschaft. Er schreibt Gedichte gegen den Krieg, begeistert sich für die Kommune, wütet gegen die Schänder der Freiheit und die Verräter an der Revolution. Mehr als ein Jahr lang, von 1872 bis 1873, führt er zusammen mit Verlaine ein dichterisch fruchtbares Bohemeleben, bis der eifersüchtige Freund auf ihn schießt. Mit fünfzehn Jahren hatte Rimbaud sein erstes Gedicht geschrieben. Mit neunzehn Jahren, 1873, gibt er erstmals etwas in Druck: die Prosagedichte Une saison en enfer. Er kümmert sich jedoch überhaupt nicht um den Absatz des Werks, schreibt keine poetische Zeile mehr, reist durch ganz Europa, nach Niederländisch-Indien, Arabien, Ägypten, Abessinien, verfaßt ein paar geographische Berichte, betätigt sich kaufmännisch und installiert schließlich ein Geschäft für Waffenhandel für den Negus. Ein Tumor am Knie verschlimmert sich so, daß ihm das Bein amputiert werden muß. Er läßt sich nach Frankreich transportieren und stirbt 1891, mit 37Jahren also, im Krankenhaus von Marseille. Will man seiner pietätvollen Schwester glauben, so hat er auf dem Totenbett zum Christentum zurückgefunden, was natürlich nicht der Wahrheit entspricht.
Abrechnung mit der Tradition Rimbauds Werk wie seine Persönlichkeit selbst müssen sich bis heute alle Deutungen gefallen lassen, die seine Interpreten haben wollen. Je nach Bedarf und 88
Legendenbildung, die sich vorwiegend an das Faszinosum seiner plötzlichen Abkehr von der Dichtung heftet, erscheint er als Anarchist oder als Bohemien, der gerne ein braver Bürger geworden wäre, als Defätist oder als ein durch die Umstände verhinderter Patriot, als metaphysischer Dichter oder als Hedonist, als genialer Lümmel oder als ein Heiliger der Gosse. Paul Claudel, der jeden bekehren wollte, hat Rimbaud gleichsam postum bekehrt. Er gibt vor, Rimbauds Werk stehe am Anfang seiner eigenen Konversion. Er nennt ihn einen »mystique à l'état sauvage« 260 ; von hier aus ist es nicht weit zum »croyant sans ma foi«, der am Ende des Lebens doch gefunden haben soll, was er immer suchte: nämlich die Kirche. Diese einseitigen Interpretationen hat Etiemble in seinem geistvollen Buch Le mythe de Rimbaud 261 einer scharfsinnigen Kritik unterzogen. Guy Michaud, Verfasser einer umfangreichen Geschichte des Symbolismus, erklärt Rimbauds Dichtung aus Pubertätserlebnissen, verbunden mit der Aufsässigkeit des nach Unabhängigkeit dürstenden Knaben gegen die strenge Zucht der Mutter, aus einer krankhaften Neigung zum Schutz und aus dem Ausbrechen aus der aufgezwungenen Hypokrisie 262 . Wie das autobiographische Gedicht Les poètes de sept ans bezeugt, entwickelte der junge Rimbaud eine große Sympathie für arme, häßliche, verwahrloste Kinder. Die entsetzte Mutter drückte ihm als Gegengift für so vulgäre Neigungen eine distinguierende Bibel in die Hand. Unleugbar sind die Spuren einer frühreifen pubertären Erregung und unterdrückten erotischen Phantasie. Der junge Rimbaud ist nach Michaud »un visuel qui, en attendant d'être un voyant, sera volontiers un voyeur.« 263 Natürlich sind die Biographen auf diesem Gebiet fleißig tätig gewesen: mit dem erquicklichen Ergebnis, daß die realen erotischen Erlebnisse des jungen Rimbaud kaum über einen flüchtigen, einer Wirtstochter geraubten Kuß hinausgegangen sein dürften. Rimbaud war ein »timide«. Seine Liebesgedichte wie Ce qui retient Nina oder Comédie en trois baisers sind literarisch gespeiste erotische Träume. Aber auch hier ist Rimbaud originell in der Abwandlung der Motive. Das schon durch seine Heterometrie bemerkenswerte Sonett Rêve pour l'hiver gibt einen Beleg dafür. Es ist eine Liebesidylle, die das alte, etwas skabröse Motiv einer neckischen Suche nach dem Floh, der die Geliebte bedrängt, wieder aufnimmt. Es bringt jedoch eine feine Abwandlung. Das hilfreiche Tierchen, es ist jetzt eine närrische Spinne, ist nur noch Metapher für den Kuß, der sich selbst nachläuft: Puis tu sentiras la joue égratignée... Un petit baiser, comme une folle araignée, Te courra par le cou...
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Paul Claudel, »Accompagnements: Arthur Rimbaud«, in: Œuvres en prose (hrsg. v. Jacques Petit, Charles Galpérine), Paris 1965, S. 514. René Étiemble, Le mythe de Rimbaud, 4 Bde., Paris 1952-61. Guy Michaud, Message poétique du Symbolisme, Paris 1961, S. 130. Ebd. 89
Et tu me diras: »Cherche!« en inclinant la tête, – Et nous prendrons du temps à trouver cette bête – Qui voyage beaucoup... 264
Das ist außerordentlich feine poetische Erotik. Aber sie hat ihren Gegenpol. Die Fremdheit, in der die Frau dem scheuen Rimbaud erscheinen mußte, erzeugte in ihm offensichtlich eine Misogynie, die man nur mit Vorbehalt in einen Zusammenhang mit seinem homosexuellen Verhältnis zu Verlaine bringen darf. Die Zeugnisse für einen gewissen Frauenhaß, ähnlich demjenigen Baudelaires, sind nicht zu übersehen. Betrachten wir das Sonett Venus Anadyomène. Hier präsentiert sich die einer alten Badewanne wie einem Sarg entsteigende illustre Liebesgöttin als ein fetthalsiges, kurzrückiges Weib mit Pomade in Haar, übelriechend, »avec des déficits assez mal ravaudés«: Comme d'un cercueil vert en fer blanc, une tête De femme à cheveux bruns fortement pommadés D'une vieille baignoire émerge, lente et bête, Avec des déficits assez mal ravaudés;
Puis le col gras et gris, les larges omoplates Qui saillent; le dos court qui rentre et qui ressort; Puis les rondeurs des reins semblent prendre l'essor; La graisse sous la peau paraît en feuilles plates;
L'échine est un peu rouge, et le tout sent un goût Horrible étrangement; on remarque surtout Des singularités qu'il faut voir à la loupe...
Les reins portent deux mots gravés: Clara Venus; ˜– Et tout ce corps remue et tend sa large croupe Belle hideusement d'un ulcère à l'anus. 265
Die schaumgeborene Venus, die stinkend einer sarggleichen Badewanne entsteigt, mit peinlichen Krankheiten behaftet, das ist nicht nur Misogynie, sondern offensichtlich die Verzerrung und Verhäßlichung eines der schönsten und ältesten mythologischen Themen. Wir können sie nur als totale Abrechnung mit der Dichtungsgeschichte, als radikalen Bruch mit einer Tradition verstehen, die Rimbaud als Gesamtheit falsch, unecht und verwerflich erscheint. Das erotische Idealbild der Mythologie, von Tausenden von Malern gemalt und Tausenden von Dichtern besungen, wird hier in sein Gegenbild verkehrt. Gewollte Provokation. Gewiß: Der junge Rimbaud sucht sein Heil zunächst im paganistischen Formkult des Parnasse. Die Widmung des Gedichts Ce qu'on dit au poète à propos des fleurs an den Wortführer des Parnasse, Théodore de Banville, 264
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Arthur Rimbaud, »Poésies«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Antoine Adam), Paris 1972, S. 32. Ebd., S. 22.
ist ohne Ironie. Grausiger Sarkasmus aber ergießt sich über die althergebrachte Blümchenpoesie: das Waldveilchen wird zur gezuckerten Spucke schwarzer Nymphen. Das lyrische Blumenbeet wird zum saftlosen Gemüsegarten: Toujours les végétaux Français, Hargneux, phtisiques, ridicules, Où le ventre des chiens bassets Navigue en paix, aux crépuscules... 266
Die Blumen des modernen Sängers müssen anders aussehen: De tes noirs Poèmes, – Jongleur! Blancs, verts, et rouges dioptriques, Que s'évadent d'étranges fleurs Et des papillons électriques!
Voilà! c'est le Siècle d'enfer! Et les poteaux télégraphiques Vont orner, – lyre aux chants de fer, Tes omoplates magnifiques! 267
Das ist ein ganz und gar neuer Ton, der bei Baudelaire anklang, bei Lautréamont provozierend durchbrach und der sich jetzt der strengen Form der Poesie bemächtigt, rücksichtslos! Das ist – erstmals in solcher Unmittelbarkeit und Konsequenz – Lyrik der technisierten Welt. Jeder Zweifel an der vollen Bewußtheit, mit der diese Wendung vollzogen wird, ist ausgeschlossen. Diese Welt erlaubt den Gesang von Blumen, Wiese, Bach und wonniger Maienminne nicht mehr. Nicht umsonst ist der mittelalterliche Jongleur als Prototyp des alten Sängers beschworen. Aber die Spiegelungen von weiß, grün, rot durch sein Gedicht verwandeln die Farben ins Immergleiche, Ungeschiedene. Sein Gedicht ist schwarz, dem höllischen Zeitalter gemäß, das dasjenige der modernen technisierten Welt ist. Die Leier des modernen Sängers besteht aus Telegraphenstangen, die auf seinen Schultern wachsen. Die Blumen der Dichtung sind fremd, naturfern, sie sind produziert, verdinglicht, maschiniert, wie die elektrischen Schmetterlinge. Kein Zweifel, daß Rimbaud sich der säkularen Wende bewußt ist. Seine Dichtung hat eine neue Sprache; sie hat eine Diktion, die revolutionär die Bruchstücke der modernen Welt in einen lyrischen Stil hereinreißt, der alle Tradition vom Tische fegt. Diese Revolution ist gespeist von der radikalen Verwerfung alles dessen, was der unheiligen Gesellschaft heilig ist: der Moral, der Familie, des Vaterlands, des »patrouillotisme« 268 – wie Rimbaud sagt –, der satten Spießer, die an Festtagen die alte Uniform anziehen und sich heroisch-elitenhaft gebärden, der Religion, des Kriegs, des Besitzes und eines Gottes, der es nur mit der Bourgeoisie hält. Die berühmten voyant-Briefe Rimbauds werden geschrieben, während in Paris die Kommune niedergeschlagen wird. Wir müssen diese Briefe genauer besehen. Sie 266 267 268
Ebd., S.56. Ebd., S. 60. »Lettre à Georges Izambard, 25.8.1870«, ebd., S. 238. 91
rechnen ab mit der bisherigen Dichtung und entwerfen Rimbauds eigene Theorie vom Dichter als einem Seher, einem Propheten.
»Je est un autre« – die Voyant-Theorie Es handelt sich um zwei Briefe aus einer Zeit, in welcher Rimbaud inmitten einer persönlichen Krise und in der Erschütterung durch die Pariser Ereignisse seine Tage, äußerlich gesehen, völlig sinnlos verbringt. Mutter und Freunde drängen, er möge einen soliden bürgerlichen Beruf ergreifen; und offenbar hat auch der einstige Lehrer und Freund Izambard Rimbaud an die Pflicht gemahnt, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Ihm antwortet Rimbaud am 13. Mai 1871 und gesteht ein, daß er seine Zeit damit verbringe, alte Schulkameraden in üblen Wirtshäusern mit noch übleren Witzen zu unterhalten und sich dafür mit Bockbier bezahlen zu lassen. Und dann kommt ein Satz, der mindestens einen der Hintergründe für seine Haltung beleuchtet: »Eines Tages« – so schreibt Rimbaud Je serai un travailleur: c'est l'idée qui me retient quand les colères folles me poussent vers la bataille de Paris, – où tant de travailleurs meurent pourtant encore tandis que je vous écris! Travailler maintenant, jamais, jamais; je suis en grève. 269
Diesem Satz dürfen wir ein Doppeltes entnehmen: einmal, daß Rimbaud seinen Dichterberuf als Arbeit im Sinne jener Arbeiter auffaßt, die sich durch den Kommune-Aufstand eine bessere Zukunft erkämpfen wollen; zum zweiten, daß es ihm unmöglich ist, ruhig einer Arbeit nachzugehen, während jene Arbeiter in Paris sterben. Aber Rimbaud hat noch einen anderen Grund: Maintenant, je m'encrapule le plus possible. Pourquoi? Je veux être poète, et je travaille à me rendre Voyant: vous ne me comprendrez pas du tout, et je ne saurais presque vous expliquer. Il s'agit d'arriver à l'inconnu par le dérèglement de tous les sens. Les souffrances sont énormes, mais il faut être fort, être né poète, et je me suis reconnu poète. Ce n'est pas du tout ma faute. C'est faux de dire: Je pense: on devrait dire: On me pense. – Pardon du jeu de mots. JE est un autre. Tant pis pour le bois qui se trouve violon, et nargue aux inconscients, qui ergotent sur ce qu'ils ignorent tout à fait! 270
Bevor wir überlegen, was gemeint ist mit dem Sich-zum-Seher, zum voyantmachen und mit dem »JE est un autre«, wollen wir uns die Parallelstellen ansehen. Zwei Tage später, am 15. Mai 1871, schreibt Rimbaud einen langen Brief an seinen Schulfreund Paul Demeny. Darin heißt es: »Car JE est un autre. Si le cuivre s'éveille clairon, il n'y a rien de sa faute.« Und weiter: La première étude de l'homme qui veut être poète est sa propre connaissance, entière; il cherche son âme, il l'inspecte, il la tente, l'apprend. Dès qu'il la sait, il doit la
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»Lettre à Georges Izambard, 13.5.1871 «, ebd., S. 248. Ebd., S. 249.
cultiver; cela semble simple: en tout cerveau s'accomplit un développement naturel; tant d'égoïstes se proclament auteurs; il en est bien d'autres qui s'attribuent leur progrès intellectuel! – Mais il s'agit de faire l'âme monstrueuse: à l'instar des comprachicos, quoi! Imaginez un homme s'implantant et se cultivant des verrues sur le visage. Je dis qu'il faut être voyant, se faire voyant. Le Poète se fait voyant par un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens. Toutes les formes d'amour, de souffrance, de folie; il cherche lui-même, il épuise en lui tous les poisons, pour n'en garder que les quintessences. Ineffable torture où il a besoin de toute la foi, de toute la force surhumaine, où il devient entre tous le grand malade, le grand criminel, le grand maudit, – et le suprême Savant! – Car il arrive à l'inconnu! Puisqu'il a cultivé son âme, déjà riche, plus qu'aucun! Il arrive à l'inconnu, et quand, affolé, il finirait par perdre l'intelligence de ses visions, il les a vues! Qu'il crève dans son bondissement par les choses inouïes et innommables: viendront d'autres horribles travailleurs; ils commenceront par les horizons où l'autre s'est affaissé! 271
Wenige Dichterbriefe sind so oft von den Literarhistorikern gedeutet und kommentiert worden – und keineswegs einheitlich. Wir wollen die Grundgedanken herausgreifen: Der Dichter soll Seher sein, soll sich zum Seher machen. Das erstere ist ein uralter Gedanke griechischer Herkunft: Die »mania«, der göttliche Wahnsinn des Dichters, die inspirierte Schau; der »poeta vates« wieder aufgegriffen im Mittelalter in der Konzeption des »poeta theologus«, mit dem Platonismus in der Renaissance neuerweckt und abermals rezipiert von der Romantik und verschmolzen mit dem Geniekult. Gänzlich neu aber ist der Gedanke, daß man sich zum SeherDichter machen muß, und neu der Weg, auf dem dies geschieht. Die platonische und die romantische Theorie geben hierfür keine Erklärung. Rimbaud hatte indessen noch eine andere Quelle: die Kabbala, eine im 13. Jahrhundert niedergelegte, aber in ihren Elementen gnostischer, platonischer, pythagoreischer und mystischer Herkunft schon viel ältere jüdische Geheimlehre, die ihren Anhängern das Wissen um Gott und die Geheimnisse der Welt verhieß und mit diesem Wissen und Eindringen in den Weltplan sogar eine direkte Partizipation an der Weltherrschaft Gottes. Kabbalistische Ideen hatten sich von jeher mit der spiritualistischen Dichtungstheorie verbunden. Die illuministischen Strömungen, mit ihnen Swedenborg, sind von dieser Tradition beeinflußt. Alle diese okkultistischen Theorien laufen auf den Gedanken hinaus, daß mit ihrer Hilfe auch die nicht wahrnehmbare Welt erkannt werden könne – das Unbekannte. Diese Vorstellung, verbunden mit gnostischen Anschauungen und pythagoreischer Zahlenmystik, lebt bei Ronsard und Maurice Scève, wird selbst im 17. Jahrhundert durch den Quietismus weiter tradiert und erzeugt am Ende des 18. Jahrhunderts eine ganze Flut von okkultistischen Schriften. Von ihrem Einfluß auf Nerval, Balzac, Baudelaire und andere war bereits die Rede. In den Jahren vor 1870 wird die Kabbala mehrfach ins Französische übersetzt, und wir finden Wesentliches daraus bei Rimbaud wieder. Die Herstellung einer Verbindung zwischen Mensch und Gott erscheint in der kabbalistischen Tradition in Gestalt der Vorstellung, daß der göttliche Geist im Menschen und speziell im Dichter auf der menschlichen Seele spiele wie auf einer Saite. Dieses Bild von der Saite der menschlichen Seele, auf der ein anderer spielt,
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»Lettre à Paul Demeny, 15.5.1871 «, ebd., S. 250-251. 93
das wir auch bei Baudelaire finden, erscheint wörtlich bei Rimbaud wieder. Der Dichter, der sich zum voyant gemacht hat, dessen »Ich« nun »ein Anderer« ist, schaut sich selber, das heißt der Tätigkeit »des Anderen« zu: er tut nur den ersten Bogenstrich: Cela m'est évident: j'assiste à l'éclosion de ma pensée: je la regarde, je l'écoute: je lance un coup d'archet: la symphonie fait son remuement dans les profondeurs, ou vient d'un bond sur la scène. 272
Anstatt zu sagen: »je pense« muß es heißen: »On me pense« – » Es denkt mich «. Nicht der Dichter selbst, sondern ein anderes Wesen, der Andere: »JE est un autre«. Wohl gemerkt: es handelt sich nicht um den christlichen Schöpfergott! Der Mensch, der Dichter, muß sich jedoch darauf vorbereiten, sich bereit machen, und zwar auf einen Weg der Qualen, der Tortur: bei Rimbaud durch absichtliche und ungeheuerliche Wirrnis aller Sinne – »un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens«, durch alle Leiden, Torheiten, Gifte hindurch, mit übermenschlicher Kraft: »ineffable torture«; der Weg zum »suprême Savant«, zu dem, der um das Geheimnis der Welt und des Weltplans weiß, führt über die Stationen des »grand malade, grand criminel, grand maudit«. Seine Seele muß monströs werden, nach dem Muster der »comprachicos«, das heißt der Knabenkäufer und verderber. Die Seele muß zur Hölle werden – später: »Une saison en enfer«. Der Lohn ist die große Entschleierung des Mysteriums: »arriver à l'inconnu« – das, was schon Baudelaire wollte, was auch Lautréamont vorschwebte. Wenn das »Kupfer als Trompete aufwacht«, das »Holz sich als Geige wiederfindet«, so ist es nicht seine Schuld, sondern die der Verwandlung der Materie, des Dinghaften, in Aussage über seine Essenz, in Einblick in das Weltgeheimnis. Wer sich durch seelische Tortur auf die Verbindung mit dem obersten Geist vorbereitet, der bildet nach der Kabbala ganz besondere Organe der Erkenntnis aus. Der qualvolle Weg des »dérèglement de tous les sens« bedeutet, sich zum Monstrum zu machen – mit dem Bild Rimbauds: sich selbst Warzen ins Gesicht zu pflanzen und sie zu pflegen. Der Prozeß der Entriegelung der Weltgeheimnisse, der zum »Ankommen im Unbekannten« führen soll, verläuft, wie Rimbaud in immer neuer Wendung wiederholt, über das »dérèglement«, über die frei-willige Zerstörung der gesamten geistigen und sittlichen Organisation des Ich. Das heißt: es soll die Identität des Ich selbst zerstört werden, um seine zeiträumliche Begrenzung aufzuheben und dadurch den Zugang zum Geheimnis, zum Unbekannten, zu erschließen und die Dichtung zu entbinden: Dichtung des Sehers, des voyant – »Il s'agit d'arriver à l'inconnu par le dérèglement de tous les sens.« Walther Küchler, sonst ein glänzender Kenner und Übersetzer seines Lieblingsdichters Rimbaud, hat den Sinn von Rimbauds voyant-Theorie völlig verfälscht, als er das »JE est un autre« mit dem Goethe-Wort gleichsetzte: »Werde, der Du bist« 273 . Zuviel Goethe-Verehrung kann zuweilen schädlich werden. Genau das Gegenteil ist gemeint: »Gib den auf, der Du bist«. Das geht bis zu der uneingestandenen, aber wiederum an der Kabbala 272 273
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Ebd., S. 250. Walther Küchler, Arthur Rimbaud. Bildnis eines Dichters, Heidelberg 1948, S. 104.
orientierten Vorstellung des »Gott-gleich-Werdens, An-ihm-Teilhabens«. In diesem Sinne – noch nicht eigentlich in dem Sinne einer Revolte gegen die Götter – zieht Rimbaud auch den Mythos von Prometheus heran: Der Dichter ist wahrhaftig der Dieb des göttlichen Feuers: »le poète est vraiment voleur de feu.« 274 Und noch ein weiterer wichtiger Gedanke, ursprünglich pythagoreischer Herkunft, dürfte der Kabbala entnommen sein: der Gedanke von der Entwicklung der Welt auf das Ziel der Einheit und Harmonie zu. Dieser Gedanke verbindet sich bei Rimbaud mit dem zeitgenössischen utopischen Sozialismus, von dem noch zu sprechen sein wird. Die »Ankunft im Unbekannten« ist auch so zu verstehen, und die neue Poesie des voyant wird die Entwicklung nicht mehr begleiten, sondern ihr, dem Prozeß des Fortschritts, immer voraus sein. Ich muß hier eine weitere, eminent wichtige Stelle aus dem Brief an Paul Demeny anführen: Unmittelbar nach der Identifizierung des Dichters mit dem »Voleur de Feu« heißt es weiter: Il [das heißt der Dichter] est chargé de l'humanité, des animaux même; il devra faire sentir, palper, écouter ses inventions; si ce qu'il rapporte de là-bas a forme, il donne forme; si c'est informe, il donne de l'informe. Trouver une langue...
Der Dichter hat die Menschheit, ja die Welt, als Auftrag. Er hat ihr Wesen zu vermitteln, ob es geformt, gestaltet oder ob es ungeformt, chaotisch ist. Das ist der Entschluß zur Form der Formlosigkeit in der modernen Welt, für die es die adäquate Dichtersprache zu finden gilt: »Trouver une langue«. Und dann der Entwurf eines Zukunftsbildes von der Sprache her, aufbauend auf der alten Vorstellung der platonischen und aristotelischen Sprachphilosophie, daß in der Sprache die Kategorien des Seins zur Entdeckung bereitliegen, und einmündend in den – utopischen – Gedanken von der zukünftigen Einheit, mit der nur eine schon latent vorhandene Einheit aktualisiert wird und ihren Ausdruck eben in einer universellen Dichtersprache findet: »Du reste, toute parole étant idée, le temps d'un langage universel viendra! « Man muß schon – so wird hier eingeschoben – ein Akademiker sein, noch toter als ein Fossil, um das Wörterbuch irgend einer jetzt existierenden Sprache zu schreiben! Jene universelle Sprache wird Sprache der Seele für die Seele sein, das heißt wahrhaft kommunikative Sprache, »résumant tout, parfums, sons, couleurs, de la pensée accrochant la pensée et tirant. « Wir stoßen also wieder auf die Synästhesien, bei denen der Laut den entsprechenden Geruch, der Geruch die entsprechende Farbe und die »correspondance« dieser Sinneseindrücke die All-Einheit der Welt hinter den Dingen offenbart, jetzt aber begriffen als eine vom Dichter zu entrollende Gedankenkette des Fortschritts auf ein Ziel zu. Der Dichter destilliert aus seiner Zeit heraus jene Wesenheiten, in denen sich die Universalseele zur Zukunft entfaltet. Man denkt an Hegel, aber ergänzt durch den sozialistischen Utopismus: Le poète définirait la quantité d'inconnu s'éveillant en son temps, dans l'âme universelle: il donnerait plus – que la formule de sa pensée, que la notation de sa marche
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»Lettre à Paul Demeny, 15.5.1871«, in: Œuvres complètes, S. 252; auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 95
au Progrès! Énormité devenant norme, absorbée par tous, il serait vraiment un multiplicateur de progrès!
»Sa marche« und »multiplicateur de progrès« sind von Rimbaud selbst unterstrichen. Hier wird evident, wie sehr Rimbauds Stilkonzeption eine Konsequenz der historischen Lage und seines geschichtlichen Bewußtseins ist: die Abnormität, die seinen Stil auszeichnet, ist die Norm der Zeit, die, jetzt noch als solche unerkannt, einmal von allen als solche abgenommen und absorbiert, das heißt überwunden und fruchtbar gemacht werden wird. Deshalb ist der Dichter ein »Vervielfältiger des Fortschritts«. Rimbaud scheut nicht davor zurück, den Charakter der Zukunft zu bestimmen: »Cet avenir sera matérialiste, vous le voyez ... « Gemeint ist bei Rimbaud weder der mechanische Materialismus der Aufklärungsphilosophie noch der dialektische Materialismus von Marx, sondern – darauf sei vorläufig nur kurz hingewiesen – der Materialismus, wie ihn Lukrez in seinem De natura rerum vertreten hat. Auf Lukrez' Spuren werden wir noch bei einzelnen Gedichten stoßen. Dieser Materialismus der Zukunft ist für Rimbaud – wiederum pythagoreisch – die Harmonie und Zahlenkonkordanz der Dinge: »Toujours pleins du Nombre et de l'Harmonie, ces poèmes seront faits pour rester. « Nun wird man freilich nach Zahlensymbolik in den Gedichten Rimbauds vergeblich suchen. Was er meint, ist vielmehr die eingefangene Harmonie des Disharmonisch-Chaotischen, Deformierten, die Dissonanz, die allein durch Dichtung und Zukunft sich selber aufhebt oder aufheben soll. Gerade darin ist die neue Poesie dem historischen Augenblick verpflichtet und zugleich jeweils voraus, antizipiert sie die Zukunft, so wie der Seher-Dicher der wahre »Bürger« im Sinne der Revolution ist: »L'art éternel aurait ses fonctions, comme les poètes sont citoyens. La Poésie ne rythmera plus l'action; elle sera en avant.« Und noch einmal erscheint ein dem sozialistischen Utopismus entlehnter Gedanke: die Emanzipation der Frau. Sie wird eine neue Dimension der zukünftigen Wahrheit erschließen, wenn die Frau erst zur neuen Dichtung greift: Quand sera brisé l'infini servage de la femme, quand elle vivra pour elle et par elle, l'homme, – jusqu'ici abominable, – lui ayant donné son renvoi, elle sera poète, elle aussi! La femme trouvera de l'inconnu! Ses mondes d'idées différeront-ils des nôtres? – Elle trouvera des choses étranges, insondables, repoussantes, délicieuses; nous les prendrons, nous les comprendrons. «
Bis dahin erwarten wir von den Dichtern Neues an Form und Gedanken – »demandons aux poètes du nouveau«. Auch der neue Dichter ist nur Moment im Fortschritt, freilich Instrument des Prozesses. Wenn er abtritt, wird sein Blick ins »Unbekannte« von anderen aufgenommen-und vertieft, seine Horizonte werden von anderen »Arbeitern« erweitert: Il arrive à l'inconnu, et quand, affolé, il finirait par perdre l'intelligence de ses visions, il les a vues! Qu'il crève dans son bondissement par les choses inouïes et innomma-
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bles: viendront d'autres horribles travailleurs; ils commenceront par les horizons où l'autre s'est affaissé! 275
Bemerkenswert ist auch hier wieder die Solidarität, ja quasi-Identität von Dichter und Arbeiter, erwachsen aus der spontanen, revolutionären Solidarität mit dem Proletariat als dem die Zukunft bestimmenden Produkt des Industriezeitalters. Hier erscheint ein unüberhörbares sozialrevolutionäres Pathos. Für Rimbaud war es ein Bündnis, das die Zukunft bestimmt. Diese Zuwendung zur Geschichte läßt ihn auch die abgelaufene Geschichte der Dichtung neu sehen und werten. Der moderne Dichter, der voyant, ist der »action«, der Tat, voraus. Die Griechen haben wenigstens die » action« begleitet: »En Grèce [...] vers et lyres rythment l'Action.« 276 Von da an ist dann freilich alles »prose rimée», »jeu«, avachissements et gloire d'innombrables générations idiotes« 277 – mit der einzigen Ausnahme Racines. Sonst nichts als Spielerei – bis zur Romantik. Rimbaud hat den Zusammenhang von Romantik und Revolution erkannt. Das bestimmt seine Wertung. Aber die ersten Romantiker waren voyants, ohne sich darüber klar zu sein; sie waren – mit einem Symbol des Fortschritts ausgedrückt – » locomotives abandonnées, mais brûlantes« 278 . Lamartine war gelegentlich voyant, auch der Hugo der Spätzeit und der Misérables. Musset ist für Rimbaud ein typisch französischer Schwätzer, Vorbild für Pubertätspoesie. Mit 17 Jahren, so meint Rimbaud, schreibt jeder französische Oberschüler seinen Rolla. Dann kommt die zweite Generation, die Rimbaud noch unter dem Begriff »romantisch« faßt: »Les seconds romantiques sont très voyants: Th. Gautier, Lec[onte] de Lisle, Th. de Banville« 279 – die Parnassier also. Aber erst Baudelaire bedeutet den Durchbruch. Rimbaud hat gesehen, daß mit ihm die Poésie moderne einsetzt: »Baudelaire est le premier voyant, roi des poètes, un vrai Dieu.« 280 Gottgleich, mit nur einer Einschränkung: er blieb zu sehr der überlieferten Form verhaftet: «les inventions d'inconnu réclament des formes nouvelles.« 281 Mit Baudelaire beginnt die Zukunft. Und Rimbaud will als Dichter ihr Bereiter sein, prometheisch, titanisch, dem göttlichen Feuer gefährlich nahe. Es scheint, als hätte Rimbaud den utopischen Roman von Etienne Cabet, Voyage en Icarie (1840), in diesem Sinne verstanden. Neben Proudhon dürfte Cabet am Anfang von Rimbauds Sympathie für den Kommunismus gestanden haben. Dem voyant – so erinnern wir uns – ist verheißen, im »Unbekannten anzukommen« durch eine Selbstaufgabe des Ich und durch eine Dichtersprache, die alle Formlosigkeit der chaotischen Moderne nachzuvollziehen bereit ist, dadurch, daß jenes Ich gleichsam nur Medium ist; durch eine poetische Sprache endlich, die im Chaotisch-Dissonantischen, im Sprengen der Form, zu jener Einheit vorstößt, welche die Zukunft birgt. Es scheint, als hätte die voyant-Theorie ihren Grund in dem Entschluß und in der Forderung, daß der Dichter sich bis zur Selbstzerstörung sei275 276 277 278 279 280 281
Ebd., S. 251. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd., S. 253. Ebd. Ebd. Ebd., S. 254. 97
nes Ich der Aufgabe widme, Medium der Moderne und Verkünder des Fortschritts zu sein. Jenes Unbekannte, bei dem angekommen werden soll, ist für die jeweils gegenwärtige Dichtung das Unfaßbare, nicht Ausdrückbare, Verborgene, noch Verborgene. Die prophetische Mission, die Rimbaud der Dichtung zuschreibt, kann sich nur an der zeitadäquaten Sprache selbst, das heißt an einer Sprache, die sich im Chaotischen zurechtfindet, orientieren. Die diffusen Elemente, die äußersten Gegensätze, gehen miteinander Verbindungen ein, durch welche sich die gleichsam zufälligen Aggregatzustände der Dinge verwandeln. Die Funktion der Dichtersprache ist daher analog zum chemischen Prozeß oder vielmehr – da die Aufgabe des Dichters eine Art Magie ist – ein alchimistischer Versuch.
»Je suis au plus profond de l'abîme« – »Une saison en enfer« Im letzten Werk Rimbauds, Une saison en enfer, steht ein längerer Abschnitt, der den Titel trägt: Alchimie du verbe. Rimbaud, schon am Ende seiner schnellen Entwicklung, bezeichnet die hier dargestellte Theorie als »histoire d'une de mes folies« 282 . Wir dürfen sie gleichwohl als ganz wesentlich betrachten, weil sie sachlich an die voyant-Briefe anschließt, an das »dérèglement de tous les sens«. Wenn Rimbaud nun, enttäuscht von dem Zerrinnen seiner utopischen Hoffnungen, auch seine Dichtertheorie als »folie« abtut, so bleiben für uns diese Aussagen doch der Schlüssel für die Entriegelung seiner Gedichte. Rückschauend heißt es: »Je finis par trouver sacré le désordre de mon esprit.« 283 Und dann: » J'écrivais des silences, des nuits, je notais l'inexprimable. Je fixais des vertiges.« 284 Welches seine Mittel waren, wollen wir im folgenden sehen. Une saison en enfer ist Rimbauds letztes Werk. Es ist – und darauf spielt der Titel an – eine Konfession; Konfession über ein höllisches Dasein; Konfession besonderer Art freilich, in lyrischer Prosa, die, so reflektiert und kunstvoll wie sie immer sein mag, doch wie ein Schrei der Verzweiflung ist, auf den als furchtbare Lösung der Konformismus eines banalen, wenn auch abenteuerlichen Lebens folgt. In Une saison en enfer steht ein Doppelabschnitt, überschrieben Délires. Délires I trägt den Titel: Vierge folle, L'Époux infernal. Es ist die Übertragung des Verhältnisses zu Verlaine, erweitert ins Generelle, aus dem Privaten emporgehoben ins Verbindliche, als »confession d'un compagnon d'enfer« 285 . Das leidende Ich dieser Passage erscheint als vom Dämon gepackte Witwe, »Sklavin des höllischen Gatten« – »esclave de l'Epoux infernal« 286 , von Satan im Leben, begriffen diesmal als Verrat an der doch so stark gefühlten Menschlichkeit: »J'ai oublié tout mon devoir humain pour le suivre. Quelle vie! La vraie vie est absente [...] Le Démon!« 287 Und dann ein Satz, der offenbart, wie sich hier persönliche Erfahrung als eine universelle begreift: » L'amour est à
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»Une saison en enfer«, ebd., S. 106. Ebd., S. 108. Ebd., S. 106. Ebd., S. 102. Ebd. Ebd., S. 103.
réinventer ...« 288 Das war das Versprechen, dessen Erfüllung er von dem Dämon – Verlaine – erhofft hatte. Und die Kehrseite des Dämonisch-Höllischen war eben das Humane: der »Epoux infernal« der »vierge folle« – der »törichten Jungfrau« (in Anspielung auf ein biblisches Gleichnis) war das zutiefst Menschliche der Hinwendung zu der geplagten Kreatur, Licht im Schmutz, während aller Glanz im Leben kein Licht der Menschlichkeit kennt: Dans les bouges où nous nous enivrions, il pleurait en considérant ceux qui nous entouraient, bétail de la misère. Il relevait les ivrognes dans les rues noires. Il avait la pitié d'une mère méchante pour les petits enfants. – Il s'en allait avec des gentillesses de petite fille au catéchisme. – Il feignait d'être éclairé sur tout, commerce, art, médecine. -je le suivais, il le faut! 289
Der Literarhistoriker, der seine Aufgabe nicht nur in der Aufdeckung von Quellen sieht, ist frappiert von der Feststellung, daß für Rimbaud sich das so ganz persönliche Verhältnis zu Verlaine im Lichte eines Satanismus darstellt, das demjenigen eines Lautréamont im tiefsten ähnlich ist: das Verstehen des Bösen, die Bejahung des Bösen aus Verzweiflung am Guten, aber ohne Lösung, ohne Trost. Dichtung übertreibt und ist gerade deshalb wahrer als das Leben in seinem Streuungscharakter. In dem homosexuellen Verhältnis zu Verlaine ist vorübergehend praktiziert, was Baudelaire theoretisch als notwendige Überwindung der bösen Schöpfung, der gemeinen Natur, konzipiert hatte durch Bejahung dessen, was die Gesetze als widernatürlich verurteilen. Sogenannte Natur wird zum Gefängnis des Menschen, zu dem ihn ein übelwollender Gott verdammt hat. Und die Sehnsucht des Gefangenen ist das Finden des Unbekannten inmitten der Wüste des Lebens: »nous dormirons sur les pavés des villes inconnues, sans soins, sans peines.« 290 Das alte Motiv des Reisens, um im Unbekannten anzukommen, des Erdendaseins als Pilgerschaft, gibt Rimbauds persönlichem Schicksal einen Aspekt, der dieses Dichterleben und seine kurze poetische Verwirklichung für uns exemplarisch werden läßt. Der »époux infernal« erscheint als ein moderner Mystiker, als ein Vertreter der »docta ignorantia« aus der Erfahrung einer substantiellen Bodenlosigkeit heraus: Que devenir? Il n'a pas une connaissance, il ne travaillera jamais. Il veut vivre somnambule. Seules, sa bonté et sa charité lui donneraient-elles droit dans le monde réel? [...] Parle-t-il à Dieu? Peut-être devrais-je m'adresser à Dieu. Je suis au plus profond de l'abîme et je ne sais plus prier. 291
Stellen wie diese haben Claudel – nach seinem eigenen, oft bekundeten Eingeständnis – zur Konversion veranlaßt.
288 289 290 291
Ebd. Ebd., S.103 f. Ebd., S. 105. Ebd. 99
Für Rimbaud war Verlaine eine singuläre Inkarnation der »condition humaine« und des authentischen Zweifels am Sinn der Existenz. Und so erscheint – periphrastisch – das Bild der Marionette: Hélas! il avait des jours où tous les hommes agissants lui paraissaient les jouets de délires grotesques: il riait affreusement, longtemps. – Puis, il reprenait ses manières de jeune mère, de sœur aimée. S'il était moins sauvage, nous serions sauvés! Mais sa douceur aussi est mortelle. Je lui suis soumise. – Ah! je suis folle! 292
Das ist das Eingeständnis der »vierge folle« Rimbaud, gegenüber dem »époux infernal«, den sie verführt hat: Verlaine. Und der Schluß des Abschnitts meint das menschliche Dasein, das Mitmenschliche als Schicksal schlechthin: »Drôle de ménage!«
»Alchimie du verbe« – Entwurf einer neuen Dichtungssprache Délire II trägt den Untertitel Alchimie du verbe. Die Konfession wird hier zu einer solchen der einstigen Gläubigkeit gegenüber einer neuen Dichtersprache, die Rettung verhieß: »Je croyais à tous les enchantements. J'inventai la couleur des voyelles! – A noir, E blanc, I rouge, O bleu, U vert.« 293 Wir kennen diese Theorie, kennen Rimbauds Voyelles-Sonett. Wie er selbst darüber später dachte, ist für uns zunächst gleichgültig, weil seine Theorie die Praxis seiner Dichtung in der Tat doch bestimmt hat. Wichtig ist vor allem, was Rimbaud selbst über die Gründe für dieses Vorgehen aussagt: Je réglai la forme et le mouvement de chaque consonne, et, avec des rhythmes instinctifs, je me flattai d'inventer un verbe poétique accessible, un jour ou l'autre, à tous les sens. Je réservais la traduction. 294
Also Auswahl und Anordnung überlegt, auch bei jedem Konsonanten! Dazu Rhythmen aus dem Instinkthaften heraus, das also eingeplant wird in die Erzeugung von Assoziationen. Dabei muß sogleich gesagt werden, daß zwar durch dieses Verfahren assoziativ inhaltliche Vorstellungen geweckt werden sollen, daß dies aber nicht bloß vom Inhalt der Wörter her geschieht; ja, es ist zumindest bei einer ganzen Reihe von Gedichten offenkundig, daß allein schon Ton – sowohl Harmonie wie vor allem auch Dissonanz – wie auch Rhythmus von sich aus Vorstellungen evozieren sollen, bei deren sprachmagischer Zubereitung auf einen vorgängigen Sinn verzichtet wird. Bei dem Gedicht, das Rimbaud selbst in Délires II als erstes Beispiel anführt, ist der Zusammenhang von Wortbedeutung und phonischen Korrespondenzen durchaus noch gewahrt. Als Beleg die erste Strophe:
292 293 294
Ebd. Ebd., S. 106. Ebd.
100
Loin des oiseaux, des troupeaux, des villageoises, Que buvais-je, à genoux dans cette bruyère Entourée de tendres bois de noisetiers, Dans un brouillard d'après-midi tiède et vert? 295
Der von den Vokalgleichklängen erstellte Stimmungszusammenhang schließt die betreffenden Wörter zu Gruppen zusammen, die dann auch von der Bedeutung her sich als Sinneinheiten verstehen lassen: oiseaux, villageoises, bois, noisetiers – in den folgenden Strophen dann auch boire, Oise, voix, soir; andererseits troupeaux, genoux, entouré; bruyère, brouillard usw. Dieser Zusammenhang wird verschiedentlich ganz aufgegeben. Rimbaud gesteht selbst: »Aucun des sophismes de la folie, – la folie qu'on enferme, – n'a été oublié par moi…« 296 Gemeint sind Gedichte, in denen nur noch die Töne, Laute und Rhythmen regieren, wo kein Sinn mehr feststellbar ist; Gedichte, die wie reine Beschwörungen des Absurden klingen; wo also der Versuch, das Unsagbare, weil begrifflich nicht Faßbare, zum Ausdruck zu bringen, an die absolute Grenze stößt. Nehmen wir ein Beispiel: Das Gedicht Le cœur volé. 297 Seine Form ist die des Rondeau, speziell des Triolets: Mon triste cœur bave à la poupe, Mon cœur est plein de caporal: Ils y lancent des jets de soupe, Mon triste caeur bave à la poupe: Sous les quolibets de la troupe Qui pousse un rire général Mon triste cœur bave à la poupe, Mon cœur est plein de caporal!
Ithyphalliques et pioupiesques Leurs insultes l'ont dépravé! A la vesprée ils font des fresques Ithyphalliques et pioupiesques. Ô flots abracadabrantesques, Prenez mon cœur, qu'il soit sauvé: Ithyphalliques et pioupiesques Leurs insultes l'ont dépravé!
Quand ils auront tari leurs chiques, Comment agir, ô cœur volé? Ce seront des refrains bachiques Quand ils auront tari leurs chiques: J'aurai des sursauts stomachiques Si mon cœur triste est ravalé:
295 296 297
Ebd., S. 106 f. Ebd., S. 111. In der zitierten Ausgabe erscheint dieses Gedicht unter dem Titel »Le cœur du pitre«. Der ursprüngliche Titel war »Le cœur volé«. 101
Quand ils auront tari leurs chiques, Comment agir, ô cœur volé? 298
Es ist schwer, den Sinn solcher Gebilde auszumachen. In jedem Falle aber müssen wir sie als ernste, wenn auch gescheiterte Versuche auffassen, der Sprache mehr zu entlocken, als sie hergibt. Das Grunderlebnis ist eben die Existenz des Unerklärten, Unbekannten, das mit den gewohnten Kategorien der Sprache nicht einzufangen ist. Was ihrer Begrifflichkeit sich nicht erschließt und was einer neuen Kombination der sprachlichen Sinnträger auch noch verschlossen bleibt, das erhofft Rimbaud eine Zeitlang von einer Alchimie der Sprache, ja er träumt vom poetischen Wort, das »eines Tags allen Sinnen« zugänglich ist. Und er gesteht auch den Experimentalcharakter dieser Gedichte ein: »Ce fut d'abord une étude. J'écrivais des silences, des nuits, je notais l'inexprimable. Je fixais des vertiges.« 299 Also »Schweigen, Schwindel, Unausdrückbares« festhalten. Das heißt: die ganze Dichtersprache, die Dichtung selbst, zum Adynaton machen. Die Alchimie du verbe versucht sich darin, die Gegenständlichkeit aus einem Aggregatzustand in einen anderen zu verwandeln; und nicht nur das: sie vollzieht Metamorphosen, beraubt die Substanzen ihrer Akzidentien, um ihnen andere beizugeben und damit die Substanz selbst zu wechseln. Das sind die «étranges fleurs« der neuen Dichtung. Der Abschnitt Alchimie du verbe gibt das Triumphgefühl wieder, das Rimbaud hatte, als er den richtigen Weg gefunden zu haben glaubte: »Enfin, ô bonheur, ô raison, j'écartai du ciel l'azur, qui est du noir, et je vécus, étincelle d'or de la lumière nature.« 300 Der vom Blau zum Schwarz verwandelte Azur steht auch im ersten Vers des Gedichts Ce qu'on dit au poète. Das Glücksgefühl des Fundes ist begründet in dem Augenblickseindruck, daß mit solcher Behandlung der Sprache ein Geheimnis aufgedeckt wurde, dessen Entdeckung den Dichter selbst als einen kosmischen Goldfunken, als den von der Natur zum Seher Bestimmten erscheinen läßt. Vereinigung des bisher Unvereinten und dadurch Enthüllung des Verborgenen; Meer und Sonne, das Konträrste, miteinander vermischt, gleichgesetzt: das ist das Auffinden des Ewigen-Wahren, wie die unmittelbar folgende Strophe besagt: Elle est retrouvée! - Quoi? – l'Éternité. C'est la mer mêlée Au soleil. 301
Die Überzeugung von der Realität der Metamorphose, von der Austauschbarkeit der Dinge, die dadurch ihre hintergründige Identität offenbaren, kann vor dem Menschenbild, und vor der Person des Dichters selber, nicht haltmachen. Kosmische Trunkenheit verwandelt ihn in eine Märchenoper, in der jede Verwandlung möglich ist:
298 299 300 301
»Poésies«, ebd., S. 46f. »Une saison en enfer«, S. 106. Ebd., S. 110. Ebd.
102
Je devins un opéra fabuleux: je vis que tous les êtres ont une fatalité de bonheur: l'action n'est pas la vie, mais une façon de gâcher quelque force, un énervement. La morale est la faiblesse de la cervelle. A chaque être, plusieurs autres vies me semblent dues. Ce monsieur ne sait ce qu'il fait: il est un ange. Cette famille est une nichée de chiens. Devant plusieurs hommes, je causai tout haut avec un moment d'une de leurs autres vies. 302
Hier scheint schon die Entdeckung Prousts bereitzuliegen, daß jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens ein anderer ist, daß er auch stets ein anderer sein kann oder sein könnte. Welcher psychologische Reichtum liegt hier für die Entdekkung bereit. Rimbaud freilich beschließt diesen Abschnitt: »Ainsi, j'ai aimé un porc.« 303 Austauschbarkeit, Wandelbarkeit, Reduzierung der Sprache auf den evokatorischen Wert von Alliteration und Assonanzen könnte die Vermutung nahelegen, Rimbaud verfahre völlig willkürlich, er zerstöre den Zusammenhang von Sprache, Begriff und Ding mit rein subjektivistischer Machtvollkommenheit. Der an sich glückliche Begriff der »diktatorischen Phantasie« 304 , mit dem Hugo Friedrich das Wesen des Rimbaudschen Dichtens bestimmt, könnte der Gefahr eines solchen Mißverständnisses die Wege ebnen. Aber schon Jacques Rivière hat in seinem Rimbaud-Buch davor gewarnt und auf die Bedeutung der folgenden Stelle aus der Alchimie du verbe hingewiesen: Il [le poète] devra faire sentir, palper, écouter ses inventions; si ce qu'il rapporte de Là-Bas a forme, il donne forme; si c'est informe, il donne de l'informe. Trouver une langue. 305
Die »Erfindungen« des Dichters erhalten ihr Gesetz von dem, was der Dichter »làbas« vorfindet, was er von dort mitbringt, von der Objektwelt. Es ist daher keineswegs so, daß die Gedichte, die der »alchimistischen « Poetik folgen, sich der Willkür der lautmalerischen Assoziationen durchweg beugen. Hugo Friedrich zitiert als Beispiel für den Verzicht auf Sinn den ersten Vers des Gedichts Mes petites amoureuses und bemerkt: »Die Dissonanz zwischen absurdem Sinn und der absoluten Tonkraft wird nicht mehr aufgelöst.« 306 Die ersten beiden Strophen dieses Gedichts lauten: Un hydrolat lacrymal lave Les cieux vert-chou: Sous l'arbre tendronnier qui bave, Vos caoutchoucs
Blancs de lunes particulières Aux pialats ronds,
302 303 304
305 306
Ebd., S.110 f. Ebd., S.111. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967, S. 81 ff. Jacques Rivière, Rimbaud, Paris 1930, S. 252. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 93. 103
Entrechoquez vos genouillères Mes laiderons! 307
Sehen wir uns noch das Gedicht Âge d'or an, das freilich zu den am schwersten verständlichen gehört: Quelqu'une des voix Toujours angélique - Il s'agit de moi, – Vertement s'explique:
Ces mille questions Qui se ramifient N'amènent, au fond, Qu'ivresse et folie;
Reconnais ce tour Si gai, si facile: Ce n'est qu'onde, flore, Et c'est ta famille!
Puis elle chante. Ô Si gai, si facile, Et visible à l'œil nu ... - Je chante avec elle, -
Reconnais ce tour Si gai, si facile, Ce n'est qu'onde, flore, Et c'est ta famille!... etc...
Et puis une voix - Est-elle angélique! – Il s'agit de moi, Vertement s'explique;
Et chante à l'instant En sueur des haleines: D'un ton Allemand, Mais ardente et pleine:
Le monde est vicieux; Si cela t'étonne!
307
»Poésies«, in: Œuvres complètes, S.40 f.
104
Vis et laisse au feu L'obscure infortune.
Ô! joli château! Que ta vie est claire! De quel Âge es-tu, Nature princière De notre grand frère! etc...
Je chante aussi, moi: Multiples sueurs! Voix Pas du tout publiques! Environnez-moi De gloire pudique... etc...
308
Es sind acht Vierzeiler- und zwei Fünfzeilerstrophen; wahrscheinlich ist das Metrum unter Einfluß Verlaines gewählt: »l'Impair«. Das Lied ist offenbar eine Art von Wechselgesang, aber nicht von Personen, sondern von Stimmen. Daß dieser oder jener Mensch, dem mehrere Leben zukommen, auch ein Engel sein kann, wissen wir aus der Alchimie du Verbe. Hier nun stellt sich die Stimme eines Engels als Gesprächspartner des Dichters dar: Quelqu'une des voix Toujours angélique - Il s'agit de moi, – Vertement s'explique:
»Irgendeine der Stimmen« – es bleibt unbestimmt, weshalb »irgendeine«. Offenbar liegt die Vorstellung der beseelten, sprechenden Natur vor, die wir schon aus Nervals Vers dorés kennen. Daß es eine Engelstimme ist, das scheint allein vom sanften Klang der Laute – »toujours angélique« – herzukommen, vom Wortklang suggeriert. Die Präzision ist also nur Resultat der Assoziation. Ganz klar ist allerdings, daß die Stimme sich offen ausspricht und daß sie zum Dichter spricht. Die zweite Strophe zeigt, daß jene Stimme Antwort auf ein unablässiges Fragen des Dichters gibt, auf Tausende von Fragen, die sich »verzweigen« und die letztlich alle nur in »ivresse et folie« einmünden. Man kann jetzt vermuten – nur vermuten – welche Vorstellung dahintersteckt. Wenn wir annehmen, daß die Engelstimme eine Stimme aus dem Sphärenchor ist, daß wir also die phythagoreische Vorstellung der Sphärenharmonie vor uns haben, die der Dichter durch seine Fragen zum Hören bringt, dann könnten wir auch die Warnung der Stimme verstehen: die Warnung, zuviel zu verlangen, Tausende von Fragen zu stellen, die in den Wahnsinn führen, also Infragestellung der Theorie des voyant, seiner »ivresse et folie«; wir verstünden dann auch den Rat, sich mit den Grenzen zu bescheiden, die dem Dichter als Mensch gesteckt sind. So jedenfalls präsentiert sich die fünfte Strophe:
308
»Vers nouveaux et chansons«, ebd., S. 79 ff. 105
Reconnais ce tour Si gai, si facile: Ce n'est qu'onde, flore, Et c'est ta famille! ... etc...
Wie ein Refrain der unendlichen Fortsetzung ist das » etc. « an die Strophe angehängt – endlos, antwortlos, durch keinen Reim gestützt. Bleib – so ist es offenbar gemeint – beim Einfachen, Leichten, als dem Dir Gemäßen und Verwandten, bei Welle und Blüte. Wir können dies so verstehen, daß die Stimme den Dichter auf die eindeutige, sich mit dem Faßbaren bescheidene Sprache verweist, daß sie ihn wieder mit sich selbst identisch machen will. Die Wahl der Worte »gai«, »facile«, »onde«, »flore« deutet an, daß es sich um eine Rückkehr nicht ins banale Leben, sondern in ein naturhaft-idyllisches, mit dem Kosmos harmonisierendes Leben handelt. Kein faustisch-revoltierendes Fragen, sondern friedliches Einordnen in die Natur. Deshalb trägt das Gedicht auch den Titel Âge d'or. Und die »voix angélique« ist Reminiszenz an das Goldene Zeitalter, in dem die Dinge, vor allem aber die Bäume, noch zu den Menschen sprachen und die Götter die Herden der Menschen bewachten. Letzteres Motiv ist in der vierten Strophe erkennbar: die Stimme singt und wird dem bloßen menschlichen Auge sichtbar, dem Auge desjenigen, der sich ihrer Aufforderung fügt, der mitsingt mit der beseelten Natur: Puis elle chante. Ô Si gai, si facile, Et visible à l'œil nu... - Je chante avec elle, -
Die Stimme wird also mehr als bloß hörbar, sie wird auch sichtbar: also in doppelter sinnlicher Gewißheit erfahren, über jeden Zweifel erhaben. Dann erscheint die erste Strophe wieder, mit ihr erneut die Stimme; durch geringe Variation ist aus der Unbestimmtheit Bestimmtheit, aus der Feststellung des »toujours angélique« jetzt die Apostrophe des unzweifelhaften Geistes geworden: Et puis une voix - Est-elle angélique! – Il s'agit de moi, Vertement s'explique;
Einen Augenblick überlegt man, ob die Modifikation des Textes nicht dazu zwingt, in dieser Stimme jetzt schon diejenige des Dichters zu sehen, der sich nun – bereits überzeugt – dem Chor der beseelten Natur angeschlossen hat. Ich wage mich nicht festzulegen. Aber möglich wäre es, denn Leben und Singen sind in Arkadien identisch, und wir haben hier eine Rückkehr des Bewußtseins ins Goldene Zeitalter der Harmonie von Sinn und Leben vor uns. Die folgenden Strophen widersprechen dieser Annahme nicht. Im Gegenteil! Die Stimme – die zweite – singt sogleich, zur Schwester des Windhauchs geworden, selber also beseelte Natur jetzt, voll, glühend, in einem »deutschen« Ton. »Deutsch« besagt nichts anderes als guttural, rauh, naturhaft. Und damit rückt diese Strophe wieder in die arkadische Tradition,
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deren Dichtung und Sprache, wie kunstvoll und gefühlvoll sie immer sein mag, doch stets rustikal, ländlich, naturnah bleibt: »voce rustica« bei den Italienern, »baja y rústica lyra« bei den spanischen Bukolikern. Die Hinwendung zu Arkadien erfolgt zu allen Zeiten aus der Abwendung vom schlechten, von Fortuna beherrschten Leben der Städte und der Gesellschaft. So auch hier, übertragen: der Dichter soll seine antwortlosen Fragen an die fehlerhafte Welt aufgeben und die Wirrnis des Lebens hinter sich verbrennen: Le monde est vicieux; Si cela t'étonne! Vis et laisse au feu L'obscure infortune.
Das Wunschreich Arkadien ist zeitlos. Rimbaud faßt es auch als Wunschschloß ohne Alter, Inbegriff des ungetrübten Daseins, fürstlichen Wesens wie dasjenige »unseres großen Bruders«, unter dem wohl eine Art Gottheit der Natur zu verstehen ist: Ô! joli château! Que ta vie est claire! De quel Âge es-tu, Nature princière De notre grand frère! etc...
Und die Stimme des Dichters vereinigt sich endgültig mit ihren vielzähligen Schwestern, wird selber Teil der Natur, Stimme, die nicht jeder versteht und deren Ruhm ohne Makel und ohne Sünde ist: wiedergefundene Unschuld, identisch mit dem Verzicht auf Fragen und auf faustisches Streben: Je chante aussi, moi: Multiples sœurs! voix Pas du tout publiques! Environnez-moi De gloire pudique... etc...
Die Sehnsucht nach dem Idyllischen, nach dem Wunschland problemloser Harmonie, kommt nicht von ungefähr. Als Teilmotiv ist es in etlichen Gedichten Rimbauds anzutreffen. Von dem Poète de sept ans wird in dem gleichnamigen, autobiographischen Gedicht gesagt, daß er Romane schreibt über das Leben in der Großen Wüste, in welcher die geraubte Freiheit noch leuchtet, Romane über die Gesellschaft und dagegen Träume träumt von Liebeswiesen, Düften, Goldflaum und ungestörter Ruhe: - Il rêvait la prairie amoureuse, où des houles Lumineuses, parfums sains, pubescences d'or, Font leur remuement calme et prennent leur essor! 309
309
»Poésies«, ebd., S. 44. 107
Das Ideal der Eintracht mit allen Wesen der Natur, der Identität von Gesetz und Neigung ohne Sündenbewußtsein, des ewigen Sonntags der Seele, ermangelt nun freilich prinzipiell aller Dynamik, jeden Prozesses. Es ist Beruhigung im Geschehnislosen, für Rimbaud nur als Wunschtraum greifbar und seiner Natur nur als ein solcher zugänglich. Der Zwischenbereich, in dem sich seine Vorstellungen dauerhafter ansiedeln konnten, stellt – wiederum im Bereich der Mythologie – das Panisch-Dionysische anstelle des Panisch-Appollinischen dar. Von hier aus führt dann der Weg zu Lukrez und zu Venus als dem Symbol einer Kosmogonie durch die Liebe. Der Übergang wird vielleicht markiert durch das Gedicht Tête de faune. In dem Venusgedicht Soleil et chair erscheinen die »satyres lascifs« und die »faunes animaux« 310 als Symbole der Liebeskraft, die im Sinne Lukrez' als kosmisches Prinzip verstanden sind. Ähnliches haben wir bereits in dem kurzen dreistrophigen Gedicht Tête de faune vor uns: Dans la feuillée, écrin vert taché d'or, Dans la feuillée incertaine et fleurie De fleurs splendides où le baiser dort, Vif et crevant l'exquise broderie,
Un faune effaré montre ses deux yeux Et mord les fleurs rouges de ses dents blanches Brunie et sanglante ainsi qu'un vin vieux Sa lèvre éclate en rires sous les branches.
Et quand il a fui – tel qu'un écureuil – Son rire tremble encore à chaque feuille Et l'on voit épeuré par un bouvreuil Le Baiser d'or du Bois, qui se recueille. 311
Das Motiv als solches ist nicht neu. Es ist romantisch, vor allem aber parnassischpaganistisch. Von jeher haben lüsterne Faune die arkadischen Wälder durchstreift und badende Nymphen erschreckt. Die Motivforschung hat längst festgestellt, wo der Faun vorher auftaucht: bei Laprade, bei Banville, bei Victor Hugo, bei Demeny; und man hat direkte Anklänge festgestellt. Hier aber – wesentlicher Kunstgriff! – fehlt die Nymphe, die der Faun erschreckt. Sie ist durch den Wald, durch den Schauplatz der traditionellen Szenerie ersetzt 312 . Hier soll nun nur auf Folgendes hingewiesen werden: Rimbaud scheut sich nicht, das Wort »feuillée«, das er im ersten Vers bringt, schon im zweiten Vers zu wiederholen; auf »fleurie« (v.2) unmittelbar »fleurs« (v.3) folgen zu lassen. Im letzten Quartett sind alle vier Reimwörter für das Ohr vokalgleich: »écureuil«, »feuille«, »bouvreuil«, »recueille«. Die Reime, das ist überhaupt zu sagen, bilden in ihrer allmählichen Aufhebung der lautlichen Differenzierung einen Prozeß von der aufgeschreckten Stille bis zu deren Wieder310 311 312
Ebd., S. 7. Ebd., S.38. Zur »Correspondance«-Struktur dieses Gedichts von Rimbaud: Jacques Gengoux, La pensée poétique de Rimbaud, Paris 1950.
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kehr. Strophe 1: or, fleurie, dort, broderie – klar durch Bedeutung und Klang geschiedene Reimwörter. In Strophe 2 ist diese Verschiedenheit bereits durch die Quasi-Homophonie zweier Reimwörter gedämpft: yeux, blanches, vieux, branches. Es handelt sich um phonematische Reime. In Strophe 3 viermal: -euil (euille). Fast überflüssig, auf die Alliterationen -f, r, die mutae plus liquidae -fl, bl, gl, br, spl, vr, gl hinzuweisen: feuillée, écrin, fleurie, fleur, splendide, broderie, faune effaré, fleures rouges, blanches, brunie, branches, sanglante, tremble. Dann die Farben: rot, weiß, blutig-braun, grün, gold. Das Gelächter »zittert« als sei es körperlich. Und golden ist der erschreckte Kuß des Waldes, den man sehen kann. Wichtiger noch erscheint in unserer Betrachtung jetzt der Umstand, daß in diesem Gedicht auf solche Weise ein Moment festgehalten ist, in dem der Faun, als Prinzip einer naturhaften Liebeskraft, die mittägliche Stille des schlummernden Kusses aufstört, daß er selber erschrickt – »effaré« ist ein Schlüsselwort! –, daß er aber ein Geheimnis entschleiert, indem er mit seinem Lachen, das noch über den Blättern nachzittert, die geheime Liebeskraft der schlafenden Natur für einen Augenblick aufweckt, nämlich den goldenen Kuß des Waldes, der sich, verängstigt durch einen Dompfaff, wieder in sich selber, zu stiller Kontemplation, zurückzieht – »qui se recueille«. Es ist die in der Mittagsruhe schlummernde, verkannte kosmische Liebeskraft. Wir werden ihr, philosophisch instrumentiert, in dem Gedicht Soleil et Chair wiederbegegnen – und schließlich in Mallarmés berühmtem Gedicht L'aprèsmidi dun faune.
Das Bild der Venus bei Rimbaud Sie erinnern sich an das Sonett Vénus Anadyomène, in dem die Liebesgöttin als fettes, krankes, degoutantes Weib aus einer sarggleichen Badewanne steigt – ein Bild, entstanden in einer Epoche, da Rimbaud auf alle Frauenliebe endgültig verzichten zu müssen glaubt und da sich ihm die Hoffnung auf Schönheit überall außer in der Dichtung bereits verschlossen hat. Das Häßliche und Grausame erscheint ihm als das absolut Herrschende, auch im Schönen Verborgene. Rimbaud hat indessen auch einmal andere Vorstellungen gehabt, wobei freilich zu sagen ist, daß er, anders als etwa Baudelaire, niemals die Schönheit des menschlichen Körpers und speziell des weiblichen Körpers als solche bedichtet hat. Von misogynen Zügen in seiner Dichtung haben wir schon gesprochen. Auf fragwürdige Erklärungsversuche wie die einer möglichen Impotenz oder krankhaften Neigung zur Masturbation brauchen wir nicht einzugehen. Erotische Anfangserlebnisse, die bestimmend wurden, hat es sicher gegeben; man braucht, um diese Vermutungen bestätigt zu finden, nur Rimbauds Prosafragmente zu lesen, die den Titel tragen: Les déserts de l'amour. Diesen Fragmenten ist ein Avertissement vorangestellt, in dem es von dem Ich der beiden folgenden Abschnitte heißt: N'ayant pas aimé de femmes, – quoique plein de sang! – il eut son âme et son cœur, toute sa force, élevés en des erreurs étranges et tristes. Des rêves suivants, – ses amours! – qui lui vinrent dans ses lits ou dans les rues, et de leur suite et de leur fin, de douces considérations religieuses se dégagent [...] Mais, cette bizarre souffrance
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possédant une autorité inquiétante, il faut sincèrement désirer que cette âme, égarée parmi nous tous, et qui veut la mort, ce semble, rencontre en cet instant-là des consolations sérieuses et soit digne! 313
Im ersten Prosastück heißt es: » Cette fois, c'est la Femme que j'ai vue dans la ville, et à qui j'ai parlé et qui me parle.« 314 Sie kommt in sein Zimmer, geht wieder. Er begreift, daß es ihr tägliches Leben war, dies zu tun. Für ihn aber war sie die Frau schlechthin gewesen, »Elle«, mit großem Anfangsbuchstaben. Und Sie, diese große Erwartung, wird niemals wiederkehren: »Elle n'est pas revenue, et ne reviendra jamais [...]. Vrai, cette fois, j'ai pleuré plus que tous les enfants du monde.« 315 Gehört diese Stelle in die uns so gut bekannte Motivreihe der Begegnung mit der Unbekannten? Das zweite Fragment beschreibt die Begegnung mit einem Dienstmädchen, noch einmal voll der Hoffnung. Über das Ende der recht nahegehenden Begegnung kann man alle Spekulationen anstellen: »Puis, ô désespoir, la cloison devint vaguement l'ombre des arbres, et je me suis abimé sous la tristesse amoureuse de la nuit.« 316 Was immer vorgegangen sein mag: das Versprechen, das diese Begegnungen zu enthalten schienen, blieb unerfüllt. Und die konkrete erotische Unerfülltheit wurde zur Enttäuschung aller mit der Liebe verbundenen Erwartungen des Lebens. Die Psychoanalyse hat hier ein dankbares Betätigungsfeld. Eines ist sicher, und davon können wir ausgehen: die Erwartungen des überreifen Knaben weiteten sich ins Metaphysische. Das pubertäre erotische Verlangen begreift sich als Moment einer – freilich zum umfassenden Wunschbild verwandelten – Weltherrschaft der Liebe. Erinnern wir uns noch einmal der Vénus Anadyomène, und vergleichen wir damit einen isolierten Vierzeiler Rimbauds: L'étoile a pleuré rose au cœur de tes oreilles, L'infini roulé blanc de ta nuque à tes reins La mer a perlé rousse à tes mammes vermeilles Et l'Homme saigné noir à ton flanc souverain. 317
Zum Verständnis mag ein weiteres Gegenbild dienen: Verse, in denen die Frau jede Fähigkeit, ihr Liebesversprechen an den Mann zu halten, eingebüßt hat. In dem Gedicht Les sœurs de charité erscheint ein junger Mann von zwanzig Jahren, braun, schön, leuchtenden Auges: »Impétueux avec des douceurs virginales/Et noires ...« 318 Erzitternd vor den »laideurs de ce monde« und mit einer »blessure éternelle et profonde« geschlagen, wird er vom desperaten Begehren nach einer »Schwester der barmherzigen Liebe«, einer »sœur de charité« erfaßt. Aber die Frau, großgeschrieben, stellvertretend für alles Weibliche, rächt eine unbestimmte Schuld des Mannes und vermittelt nichts als Qual: Mais, ô Femme, monceau d'entrailles, pitié douce, Tu n'es jamais la sœur de charité, jamais, 313 314 315 316 317 318
»Les Déserts de l'amour«, in: Œuvres complètes, S. 159. Ebd., S.161. Ebd. Ebd., S. 160. »Poésies«, ebd., S. 53. Ebd., S. 51 f.
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Ni regard noir, ni ventre où dort une ombre rousse, Ni doigts légers, ni seins splendidement formés. Aveugle irréveillée aux immenses prunelles, Tout notre embrassement n'est qu'une question [...]
Alle weiblichen Eigenschaften sind nur Scheinantworten auf die Frage des vom Leben verwundeten Jünglings, der sich darauf der Muse und der Gerechtigkeit zuwendet und, enttäuscht auch von diesen beiden »sœurs implacables«, seine »blutende Stirn« der Natur und den Wissenschaften darbietet, um sich, abermals verzweifelnd, Träumen und Reisen auszuliefern, bis ihm schließlich der Tod sich als einzige, letzte »sœur de charité« offenbart. Dieser Gedanke erinnert stark an Baudelaire, vor allem die letzte Strophe: Qu'il croie aux vastes fins, Rêves ou Promenades Immenses, à travers les nuits de Vérité, Et t'appelle en son âme et ses membres malades, O Mort mystérieuse, ô sœur de charité!
Beachten wir, daß die in diesem Gedicht genannten Stationen – Frau, grüne Muse (also Dichtung), »glühende Gerechtigkeit«, gemeint ist Revolutionsbegeisterung, Wissenstrieb, er erscheint als » noire alchimie « und » saintes études « – die Lebensstationen Rimbauds selbst bezeichnen: endlose Traumreisen durch die Nächte der Wahrheit, bis zum Tod, der einzigen wirklichen »sœur de charité». Der Ausdruck »charité« zeigt eine Orientierung am christlichen Begriff der barmherzigen, zuwendenden Liebe zur leidenden Kreatur. Aber der Tod ist nur Erlösung vom Leben, nicht aber Eingang in ein ewiges Jenseits. Der so verstandene Tod hebt alle Hoffnung auf »charité« auf. Er ist die definitive Verzweiflung, wenn nicht, optimistischer, der Eingang ins Unbekannte. Kehren wir nun zu unserem Vierzeiler L'étoile a pleuré rose zurück, in dem sich eine ganz andere Hoffnung für die gleiche Sehnsucht auftut, freilich in Gestalt eines paganistischen Mystizismus, erneut verdichtet im Bilde der Frau als dem Symbol allesumfassender Liebe. In dem Vierzeiler begegnen wir den wichtigsten Motiven des Gedichts Les sœurs de charité wieder: 1. Dem verwundeten, blutenden Mann: »L'homme [a] saigné noir à ton flanc souverain«. Sein »schwarzes Bluten« faßt das dunkle, im Schoß der Frau verströmende stürmische Begehren »avec [ses] douceurs virginales et noires« zusammen. 2. Der Frau, die in Les sœurs de charité keine Antwort auf die »dunkle« Frage wußte, deren riesige Pupillen in unerweckter Blindheit verharren – »Aveugle irréveillée aux immenses prunelles«; deren Blick und Schoß, deren Liebkosung und Brust sich dem Aufgehen in Liebe, der Antwort auf die große Frage, verweigern: »Ni regard noir, ni ventre où dort une ombre rousse, / Ni doigts légers, ni seins splendidement formés.« In unserem Vierzeiler erscheinen diese Attribute der Frau wieder, als »mammes vermeilles «, als »flanc souverain «, aber nun durch Verlagerung der Farbattribute in Beziehung zur kosmischen Natur einerseits und zum Mann andererseits: »La mer a perlé rousse a tes mammes vermeilles», und: »L'homme [a] saigné noir à ton flanc souverain«. Schon durch eine ganz neue Aufteilung der wesentlichen At111
tribute ist eine enge Beziehung des vorher so qualvoll Getrennten hergestellt: zwischen dem Mann und der Frau. Und die Frau, die ihren Herrinnenschoß dem »schwarzen Blut« des verwundeten Manns darbietet, ist in unnachahmlicher, alles Sinnliche zum Symbol verwandelnder Verdichtung zu allen Dimensionen der Schöpfung in Beziehung gesetzt: Die Sterne weinen rosig in ihr Herz, die Unendlichkeit gleitet weiß vom Nacken bis zur Lende wie in einer unaufhörlichen Liebkosung, und das Meer perlt rosig um die purpurnen Spitzen ihrer Brust. Das ist unendlich viel mehr als der sozusagen malerische Vorwurf: eine nackte Frau, vom Meerwasser umspült. Und das ist viel mehr als bloße Beziehung der Momente, es ist schon Identifikation. Diese Frau ist die selber sich in Liebe verzehrende, hingebende Natur und Welt. Stern, Meer und Unendlichkeit scheinen nur für sie da zu sein, für sie, die sich der dunklen Sehnsucht des verwundeten Mannes hingibt. Die Sprache selbst sagt diese Identifikation auch suggestiv-magisch aus: mit den Mitteln der Synästhesie und dem Mittel der absoluten Metapher: »L'étoile a pleuré rose au cœur de tes oreilles.« Aufgelöst würde das, mit den bisherigen Mitteln der Sprache, etwa heißen: »Das Licht der Sterne übergoß Dich wie mit rosigen Tränen, die in Dein Herz flossen; und diese Tränen waren wie Töne, die Dir durchs Ohr ins Innerste drangen.« So könnte man auch sagen; aber die unvergleichliche Dichte des Verses wäre dahin. Und was schlimmer wäre: die Sinneseindrücke – Hören, Sehen, Fühlen – wären zwar vorhanden, so wie auch das Gestirn, von dem alles ausgeht, aber sie wären nur miteinander verglichen, sie würden Stern, Tränen, Rosa, Herz und Ohren in substantieller Getrenntheit belassen. In dem Vers unseres Gedichts aber schließen sie sich zu einer gewissermaßen ontologischen Einheit, zu einer vorbestimmten Harmonie, in der eines für das andere da ist, zur letztlichen Identität der Elemente, in welcher die Frau zum Wesensträger des kosmischen Geschehens wird und dessen Sinn repräsentiert. Der zweite Vers führt diese Identifikation weiter: »L'infini roulé blanc de ta nuque à tes reins ... « An die Stelle des Sterns, der konkreten Repräsentanz der kosmischen Weite, tritt der abstrakt-metaphysische und zugleich religiös geladene Begriff des »infini«, der Unendlichkeit, die, wie wir wissen, für Rimbaud und Baudelaire auch für das »inconnu« steht. Sogleich aber wird das Abstrakt-Irrationale sinnlich konkretisiert, indem es »weiß« – wie mit liebkosender und unschuldiger Hand – anatomisch präzis vom Nacken zu den Lenden, also dezent über den Rükken, gleitet. Im dritten Vers erscheint als weiteres Symbol der Unendlichkeit und der befriedeten Unruhe das Meer, dessen Liebkosung nun noch konkreter und perspektivisch gleichsam punktuiert ist: » La mer a perlé rousse à tes mammes vermeilles.« Betrachten wir nun die drei Verse im Ganzen: Zuerst ihre Subjekte: »étoile«, »infini«, »mer« in der Folge des kosmischen Aufbaus: die Grenzenlosigkeit gespannt zwischen Gestirn und Meer, Himmel und Erde. Und das vierte Subjekt, das des letzten Verses, ist der Ausgelieferte: der Mensch, der Endliche, der Verlorene, Blutende, der sein Heil nur in jenem die kosmische Liebe vermittelnden Wesen findet, in dem sich der Kosmos selbst offenbart, der sein liebstes Geschöpf ist. Sehen wir uns die Verben der ersten drei Verse an: pleuré, roulé, perlé. Sie dürfen als nahezu homophon gelten. Ihr liquider Lautcharakter vermittelt den Eindruck einer großen sanften Liebkosung, in welcher sich étoile, infini und mer zusammen-
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finden. Ihre Entsprechung im vierten Vers ist eine ganz andere: saigné – das »Bluten« der begrenzten Kreatur, das auf Stillung wartet. Betrachten wir nun nach den Subjekten und den Verben die synästhetisch so eng mit jenen verbundenen Farben: rose, blanc, rousse. Fragen wir danach, warum der Stern rosa weint, die Unendlichkeit weiß fließt, das Meer rot perlt, so könnte man antworten: weil die diesen Farben eigentümlichen Symbolassoziationen – wie etwa »rosa« = Hoffnung, »weiß« = unschuldig-unendlich, »rot« = Liebe – Stern und Unendlichkeit und Meer selber affizieren und anthropomorphisieren. Aber diese Antwort wäre unzureichend. Die Farbsymbole haben eine doppelte Funktion; anders gesagt, sie sind zugleich von dem Wert mitbestimmt, den sie dem Objekt, nämlich der nur vermittels ihrer Körperteile erscheinenden Frau verleihen sollen: »rose« ist somit – als Farbe der Zukunftshoffnung, so vom Stern her – auch auf das »Herz deiner Ohren« bezogen; »blanc«, als »Unbegrenztes und Unschuldiges« auf die vom »infini« liebkoste Haut vom Nacken zur Lende; » rousse « – rot, Liebe – auf die »mammes vermeilles«. Sehen wir uns nun die Reihenfolge dieser Farbadjektive an: rose, blanc, rousseletzteres verstärkt zu vermeilles, dann entdecken wir, daß sie sich – im LichtvollLebendigen bleibend – zunehmend intensivieren, um im letzten, vierten Vers, auf das ungeschiedene »Schwarz« zu stoßen: Das »schwarze Bluten« des Mannes vereinigt das Rot des kosmischen Lebens und der Liebe mit der Dunkelheit seiner Existenz, in ihm ist alles, ungeschieden, unklar, verdunkelt, aber alles gleichwohl enthalten. Wenn wir nun mit dem vierten Vers dasselbe tun wie mit den vorangehenden drei Versen – und dazu sind wir sicherlich berechtigt –, wenn wir nämlich das Farbadjektiv sowohl auf das Subjekt als auf das Objekt, und das heißt auf den ersten und zweiten Versteil beziehen, dann zeigt sich folgendes: Der Mensch, das Opfer, das Begrenzte und an seiner Begrenztheit Leidende, blutet schwarz. »Noir« aber deutet auch voraus auf »ton flanc souverain». Wie bei allen Farben in der Dichtung Rimbauds, so ließe sich auch für »noir« eine ganze Skala von Symbolwerten aufstellen, die, so häufig sie sind, nicht einfach vertauschbar sind. Hier sind mit Sicherheit vorhanden: »noir« als Symbol für «mauvais sang« 319 , oft bei Rimbaud vorkommend, um das Blut des zum Elend prädestinierten Menschen zu bezeichnen; aber auch »noir« im Sinne einer »Dunkelheit«, deren Schicksal noch offen ist für den Augenblick, da sie von der Berührung mit anderen Kräften erhellt wird. Das zwischen Mann und Frau, Mensch und Göttin vermittelnde noir – hier syntaktisch nur an »l'Homme« angeschlossen – ergibt sich auch aus einer Parallelstelle aus dem Gedicht Soleil et chair, wo die Entsprechung zu dem »flanc souverain« folgendermaßen detailliert ist: »son ventre neigeux brodé de mousse noire« 320 . Gemeint ist Venus, hier wie dort. Wenn »noir« – wie wir glauben – sich nicht nur auf »l'Homme«, sondern auch auf den »flanc souverain« bezieht, dann meint das Hinüberströmen des schwarzen Menschenblutes zum Schoß der herrscherlichen Frau die Erlösung des Menschen im Bild der vollendeten Liebesbegegnung von Mann und Frau, zugleich die Verei-
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So etwa in dem »Mauvais sang« betitelten Abschnitt der »Saison en enfer«, Œuvres complètes, S.94. »Poésies«, ebd., S.11. 113
nigung des Endlichen mit dem Unendlichen, das »Ewigkeit« erschließt im Sinne eines schon einmal zitierten Gedichts: Elle est retrouvée! - Quoi? – l'Éternité. C'est la mer mêlée Au soleil. 321
Ich möchte diese Interpretation noch durch eine letzte Überlegung von der Struktur her stützen. Betrachten wir noch einmal vertikal die Reihen der Wortentsprechungen in ihrem zeiträumlich-dimensionalen und in ihrem Intensitätsaspekt: 1. étoile – infini – mer – Homme: Von der Unendlichkeit zum Endlichen, von oben nach unten den Kosmos durchschreitend – von Vers 1 bis Vers 4. 2. Pleuré – roulé – perlé – saigné – von Vers 1 bis Vers 4: Verben des Fließens und Strömens, einmündend in das Verströmen menschlichen Blutes; alle vier mitbestimmt nicht nur von der von oben nach unten, vom Unbegrenzten ins Begrenzte führenden Reihe der Subjekte, sondern auch von 3. der Abfolge der Farben – rose, blanc, rousse, vermeille, noir – vom Hellen zum Dunklen führend. 4. Die Abfolge der Körperteile, aus denen sich das Bild der ungenannten Frau zusammensetzt, führt einmal von Oben nach Unten und zum anderen vom RäumlichFlächigen zum Punktuellen: cœur de tes oreilles – de ta nuque à tes reins – tes mammes vermeilles – ton flanc souverain. Bei allen vier Reihen stellen wir eine Intensivierung fest, eine Steigerung, ein Herabsteigen von oben nach unten – eine sich verengende Perspektive, deren Linien sich gleichsam in jenem Punkte der Berührung von oben nach unten, von Unendlichem und Endlichem treffen, auf dem die Vereinigung der beiden Dimensionen, der beiden Seinsweisen, stattfindet. Man könnte diese Linienführung graphisch am Gedicht selbst darstellen, ohne die Wortstellung der Verse zu malträtieren. Die Identität von Subjekt und Objekt in den ersten drei Versen – die Identität der Oberwelt – führt so aus inhaltlichem und strukturellem Zwang zur Identifikation des Getrennten im letzten Vers, mit anderen Worten zur Vereinigung von Mann und Frau, Mensch und Göttin; denn die ungenannte Frau ist Venus. Der mythologische Augenblick, dessen sich das Gedicht bedient, ist die Geburt der Venus: vergleichbar der berühmten Darstellung, die Botticelli diesem Motiv gegeben hat. Die Quelle für Rimbauds Venusauffassung ist die gleiche wie diejenige Botticellis: nämlich Lukrez' De natura rerum. Lukrez, dessen Werk in der italienischen Frührenaissance tiefe Spuren hinterlassen hatte, wurde in Frankreich zuerst bekannt durch Jean Dorat, den Lehrer der Pléiade-Dichter am Collège Coqueret. Der Eindruck, den Lukrez' atomistische Weltentstehungslehre, sein Venuskult und seine epikureische Philosophie hinterließen, ist in vielen Gedichten der Pléiade zu verspüren. Und Montaigne zitiert ihn nicht weniger als 149 mal 322 . Lukrez' Werk gehörte zu den Büchern, die Izambard seinem Schüler Rimbaud vermittelt hatte. De na321 322
»Une saison en enfer«, ebd., S.110. (Hervorhebungen von E. K.) Diese Zahl findet sich bei Eleonore Belowski, Lukrez in der französischen Literatur, Diss. Berlin 1934.
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tura rerum ist eine materialisitische Kosmogonie im Sinne Demokrits und Epikurs. Die Welt ist entstanden aus einer Verbindung von Atomen. Die Entstehung des Geistes, der – körperverhaftet – mit dem Körper stirbt, ist der Gipfel dieser Atomverbindung. Der Tod ist ein reines Naturphänomen. Lukrez versucht, den Menschen von der Furcht vor den Göttern zu befreien, ihn aus den selbstgeschaffenen Ketten seiner Gottes- und Schicksalsvorstellungen zu lösen. Eigentümlicherweise hat er seine materialistische Naturphilosophie und Kosmogonie mit einem Venuskult verbunden. Venus ist Symbol einer mütterlichen Weltkraft, aus der jene Liebeskraft hervorgeht, welche die Verbindung der Atome und somit die Entstehung der Welt bewirkt. In dieser Liebeskraft ist die Einheit aller Dinge und Wesen beschlossen; sie involviert auch eine epikureische Moral der unschuldigen Sinnlichkeit, die sich mit der Vorstellung eines Goldenen Zeitalters der Unschuld verbinden kann. Alle diese Elemente, einschließlich des letzteren, finden wir bei Rimbaud wieder. Rimbauds Revolte gegen den Christengott führt ihn – nun mit Hilfe von Lukrez – auf den gleichen Weg, den schon Gérard de Nerval eingeschlagen hatte: zu der Hoffnung, daß die antiken Götter wiederkehren – bei Rimbaud: daß die Zeit der lukrezischen Venus wiederkommen möge. Deutlichster Niederschlag dieser Gedanken ist Rimbauds umfängliches Gedicht Soleil et Chair. Das Gedicht Soleil et Chair, entstanden im April 1870, also im Alter von knapp sechzehn Jahren, trug ursprünglich den Titel Credo in Unam, womit, in Anspielung auf das christliche Credo in unum Deum, Venus gemeint ist. Der endgültige Titel deutet auf die Vereinigung von Sonne und Fleisch, aktivem und passivem, männlichem und weiblichem Prinzip, schließt gleichsam den Androgynmythos ein, meint also das gleiche, wie die Vermischung von Meer und Sonne, die zur »éternité« finden läßt. Die ersten Verse von Soleil et Chair sind eine Apotheose der Entstehung einer Welt, in der die universelle Liebeskraft zur Verbindung drängt, die Erde sich zur Hochzeit rüstet, alle Keime tragen, wo alles sprießt und wächst: Le Soleil, le foyer de tendresse et de vie, Verse l'amour brûlant à la terre ravie, Et, quand on est couché sur la vallée, on sent Que la terre est nubile et déborde de sang; Que son immense sein, soulevé par une âme, Est d'amour comme dieu, de chair comme la femme, Et qu'il renferme, gros de sève et de rayons, Le grand fourmillement de tous les embryons! Et tout croît, et tout monte! 323
Nach diesem Hymnus auf die überquellende Fruchtbarkeit der von Saft und Strahlen schwangeren Erde, die vom Liebesfeuer brennt, erfolgt die Anrufung der Göttin, die Evokation der Zeit ihrer Herrschaft, die alle Zeichen eines ebenso dynamisch-sinnlichen wie ewig jugendlichen und unschuldigen poetischen Zeitalters trägt:
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»Poésies«, in: Œuvres complètes, S. 6. Die folgenden Zitate ebd., S. 7-11. 115
- Ô Vénus, ô Déesse! Je regrette les temps de l'antique jeunesse, Des satyres lascifs, des faunes animaux, Dieux qui mordaient d'amour l'écorce des rameaux Et dans les nénufars baisaient la Nymphe blonde!
Diese Zeit, da göttliche Satyrn und Faune aus Liebe in Baumrinden bissen und zwischen Wasserrosen blonde Nymphen küßten, sie ist auch die Zeit, da der »Weltsaft«, das Wasser der Flüsse und das Rosa-Blut der grünen Bäume in den Adern Pans ein Universum zeugten, die Zeit, in welcher die Hirtenflöte ohne Unterlaß die große Hymne der Liebe spielte, wo die lebendige Natur auf alles Antwort gab und alle Tiere sich liebten. Und weiter: »je regrette les temps de la grande Cybèle ... «, die Zeit der Göttin der Erde und der Fruchtbarkeit, die, von ihrem erzenen Wagen herab, aus riesigen Brüsten unendliches Leben rieseln ließ für den kindhaften Menschen der Unschuld: » – Parce qu'il était fort, l'Homme était chaste et doux. « Das Elend begann, als der Mensch Einsicht in die Dinge gewann – Sünde durch Erkenntnis – und er dafür die Angst vor den Göttern erntete. Oh! si l'homme puisait encore à ta mamelle, Grande mère des dieux et des hommes, Cybèle; S'il n'avait pas laissé l'immortelle Astarté Qui jadis, émergeant dans l'immense clarté Des flots bleus, fleurs de chair que la vague parfume, Montra son nombril rose où vint neiger l'écume, Et fit chanter, Déesse aux grands yeux noirs vainqueurs, Le rossignol aux bois et l'amour dans les cœurs!
Dann folgt das Glaubensbekenntnis an die mütterliche Göttin, deren Schaumgeburt der Dichter soeben geschildert hat: »Je crois en toi! je crois en toi! Divine mère / Aphrodite marine!...« und die Absage an den Christengott: [...] Oh! la route est amère Depuis que l'autre Dieu nous attelle à sa croix; Chair, Marbre, Fleur, Vénus, c'est en toi que je crois!
Jetzt ist der Mensch traurig und häßlich, der Schönheit abgeschworen; die Erde ist nun sein Gefängnis, und sein Idol, die Frau, ist nicht einmal mehr zur Kurtisane fähig. - C'est une bonne farce! et le monde ricane Au nom doux et sacré de la grande Vénus!
Aber aus dem Übermaß des Elends, nach dem Durchlaufen der Erbärmlichkeit, erwächst die Hoffnung auf Wiederkehr der goldenen Zeit: »- Car l'homme a fini! l'Homme a joué tous les rôles!« Das Endzeitbewußtsein, das auch Baudelaire kannte, läßt Rimbaud nun alle mythischen Bilder der Hoffnung heraufbeschwören und mit ihnen einen neuen Triumph der Venus ausstatten. Venus wird auferstehen und Welt und Mensch erlösen:
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Tu viendras lui donner la Rédemption sainte! - Splendide, radieuse, au sein des grandes mers Tu surgiras, jetant sur le vaste Univers L'Amour infini dans un infini sourire! Le Monde vibrera comme une immense lyre Dans le frémissement d'un immense baiser!
- Le Monde a soif d'amour: tu viendras l'apaiser.
[...] O splendeur de la chair! ô splendeur idéale! O renouveau d'amour, aurore triomphale...
Und die Schlußverse preisen noch einmal eine zukünftige Welt der wiederhergestellten Harmonie, eine Welt, in welcher jene in dem von uns behandelten Vierzeiler in Aussicht gestellte Vereinigung von Mensch und Überwelt möglich wird: » – Les Dieux écoutent l'Homme et le Monde infini!« Diese enthusiastisch geschilderte Endzeit ist nur eine, freilich eine der wichtigsten Verheißungen, nach denen der junge Rimbaud gierig gegriffen hat. Bald wurde er sich bewußt, daß sie alle trogen und daß sein Leben, durchschüttelt von der an alle Extreme und an alle Grenzen stoßenden Erkenntnisgier, im Ziellosen verströmen würde, gleich dem trunkenen Schiff, dem »bateau ivre«, dem großen Symbol eines seiner berühmtesten Gedichte.
»Illuminations« und »Une saison en enfer« – das Prosagedicht bei Rimbaud Wir müssen uns noch mit den beiden letzten Werken Rimbauds beschäftigen, die als eine Einheit konzipiert wurden: mit den Illuminations und mit Une saison en enfer. Beide konfrontieren uns mit dem Problem des Poème en prose, des Prosagedichts, auf dessen Geschichte wir jetzt kurz eingehen müssen 324 . Natürlich hat man Vorläufer für die Prosagedichte des 20. Jahrhunderts gesucht und auch welche gefunden. Als erstes Beispiel wird meistens ein Text von Montesquieu genannt, eine Anrufung der Musen, die ursprünglich den zweiten Teil des Esprit des lois einleiten sollte. Als Prosagedicht kann man neben dieser Invocation auch Montesquieus Erzählung Le Temple du Gnide auffassen; und man könnte desgleichen, vielleicht mit mehr Recht, gewisse Passagen aus dem Werk Rousseaus, wie überhaupt der Vorromantiker, in die Vorgeschichte des Prosagedichts einreihen: die Grenze zwischen lyrischer Prosa und Prosagedicht ist fließend. 324
Auskunft über Entstehung und Geschichte des Prosagedichts geben zwei schon etwas ältere deutsche Arbeiten: Franz Rauhut, Das französische Prosagedicht, Hamburg 1929, und Victor Klemperer, Moderne französische Lyrik, Neuauflage Berlin 1957. Zu erwähnen sind weiterhin: Fritz Nies, Poesie in prosaischer Welt, Heidelberg 1964; Monique Parent, Le poème en prose. 117
In der Vorromantik sind wir auch, wenn wir die Ossianischen Gesänge und Gessners Idyllen dazurechnen; in der Romantik sind wir mit Novalis' Hymnen an die Nacht. Wir dürfen jedenfalls sagen, daß das moderne Prosagedicht, Gedicht als abgeschlossene Einheit, ein Produkt der Romantik ist, wobei bemerkenswert ist, daß dieses Prosagedicht, das ja gleichsam die strenge klassische Scheidung der Gattungen aufhebt, sehr bald als eine Gattung sui generis verstanden wurde. Von Prosagedichten in diesem Sinne kann man wohl erstmals bei Chateaubriand sprechen, der in seinen Roman Atala freie Übertragungen von Indianerlyrik in Prosa eingestreut hat. 1840 veröffentlicht George Sand in der Revue des Deux Mondes eine Novelle in lyrischer Prosa, die den Titel trägt: Le Centaure; ein Hymnus der rauschhaften, ganz und gar romantisch-pantheistisch getönten Lebens- und Naturbegeisterung, gedämpft durch Resignation vor den Geheimnissen der Natur. Der ein Jahr vorher verstorbene Verfasser dieses Werks war Maurice de Guérin, den Rilke später ins Deutsche übersetzte. Zum eigentlichen Ausgangspunkt für das Poème en prose wurde indessen ein Werk von Aloysius Bertrand: Gaspard de la nuit, das 1842 erschien, dessen erste Teile jedoch schon 1826-1830 entstanden waren. Gaspard de la nuit enthält alle geläufigen romantischen Motive. Bertrands Originalität besteht im wesentlichen darin, diesen Motiven die Form einzelner, lyrisch überhöhter Prosastücke gegeben und bereits das moderne Stadterlebnis aufgenommen zu haben. Auf Aloysius Bertrand berufen sich in der Folgezeit nahezu alle Autoren von Prosagedichten, vor allem zunächst Baudelaire. Sein Zeugnis ist geeignet, die Funktion des Prosagedichts erkennen zu lassen. Ich habe auf die Widmung von Arsène Houssaye, die er seiner Sammlung von Prosagedichten voranstellte, schon früher hingewiesen und erinnere jetzt an das, was er dort sagte. Das Prosagedicht soll sein eine: prose poétique, musicale sans rhythme et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s'adapter aux mouvements lyriques de l'âme, aux ondulations de la rêverie, aux soubresauts de la conscience. 325
Das wird durchaus auch auf die Prosagedichte Rimbauds zutreffen. Diese poetische Prosa begreift Baudelaire als Ausdruck der »vie moderne« und speziell als poetischen Niederschlag der Erfahrungen der »fréquentation des villes énormes«. Wir gehen also kaum fehl mit der Annahme, daß wir das Prosagedicht verstehen müssen als eine Form, welche vor allen anderen die Poesiefähigkeit des prosaischen modernen Lebens unter Beweis stellen soll 326 . Die Aufhebung der Grenze zwischen Poesie und Prosa erscheint hier also eindeutig als Konsequenz der modernité, des Zwangs zur Poetisierung einer Welt, die nicht mehr im überkommenen Sinne poetisierbar ist, sondern neuer Formen bedarf. Der Vergleich zwischen Prosagedichten und Versgedichten Baudelaires, die das gleiche Thema haben, zeigt, daß die Prosagedichte analytischer sind und zugleich das Poetisch-Synthetische zu bewahren trachten. Es handelt sich also wahrscheinlich nicht so sehr um eine Prosaisierung des Verses als um eine Poetisierung der Prosa, als Versuch, mit ihr 325
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Charles Baudelaire, »Le Spleen de Paris«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 1, Paris 1975, S. 275 f. Dazu: Fritz Nies, Poesie in prosaischer Welt, Heidelberg 1964.
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die Poesiefähigkeit einer modernen Welt zu erweisen, die ohne die Anstrengung des analytischen Denkens auch in der Poesie nicht zu bewältigen ist. Für einen Lautréamont wird freilich das Prosagedicht zum Vehikel eines entfesselten, visionären, das Unterbewußte programmatisch nach oben kehrenden Aufruhrs, in dem sich das Nicht-fertig-Werden mit der modernen Welt als ein Suchen nach dem Unbekannten auch stilistisch eruptiv entlädt. Von hier aus führt ein Weg zu Rimbaud, sowohl zu den Illuminations wie zu Une saison en enfer. Die genannten Werke Rimbauds sind verschieden zu beurteilen, und zwar bereits insofern, als Une saison en enfer von Rimbaud selbst druckfertig gemacht wurde, während die Illuminations in einem Zustand vorliegen, der keine Ordnung, keine Logik und keine Spur von endgültiger Überarbeitung erkennen läßt. Dazu kommt die gewollte Dunkelheit dieser aus Prosagedichten und Versgedichten zusammengesetzten Sammlung. Rimbaud selbst bezeugt: » J'ai seul la clé de cette parade sauvage.« 327 Kein Wunder, daß die Rimbaud-Forschung sich daran die Zähne ausbeißt.
»Illuminations« – die entfesselte Revolte Die Verlegenheit, in welcher sie sich angesichts der Illuminations befindet, resultiert nicht nur aus der Dunkelheit, dem Fehlen jeden roten Fadens, dem Mangel an Ordnung und logischem Aufbau, sondern auch daraus, daß die Entstehungszeit der meisten Stücke unbekannt ist. Nur einige wenige Versgedichte sind von Rimbaud mit einem Datum versehen worden. Der einzige Zeuge, der zur Verfügung steht, ist so unzuverlässig wie ein Zeuge nur sein kann: es ist Verlaine. Es ist zwar ziemlich sicher, daß die meisten Stücke der Illuminations, vielleicht alle, aus der Zeit von Rimbauds enger Verbindung mit Verlaine stammen. Und Verlaine ist sogar der erste Herausgeber der Illuminations. Rimbaud war in Afrika verschollen; Verlaine hielt ihn für tot und veröffentlichte 1886 die Illuminations. Er konnte jedoch weder über Entstehungszeit noch über die Art, wie die Manuskripte in seine Hand gelangt waren, noch über etwaige Absichten Rimbauds verbindliche Auskunft geben. Verlaine befand sich in diesen Jahren im Zustand permanenter Delirien. Er wurde überhaupt nicht mehr richtig nüchtern, und Rimbaud selber kümmerte sich nicht mehr um seine Gedichte. Als er in Abessinien von der Publikation der Illuminations hörte, blieb er völlig desinteressiert. Die Verwirrung in der RimbaudForschung erreichte ihren Höhepunkt, als 1949 ein Buch erschien, das die ganze Chronologie über den Haufen zu werfen drohte: Henri de Bouillane de Lacoste, Rimbaud et le problème des Illuminations 328 . Der Verfasser hielt sich an einige Äußerungen Verlaines, untersuchte und verglich die Handschrift Rimbauds in den in Frage kommenden Jahren und glaubte folgern zu müssen, daß die Illuminations erst zwischen 1873 und 1875 geschrieben wurden, das heißt nicht vor, sondern nach Une saison en enfer. Das ließ anderen Interpreten keine Ruhe. Antoine Adam stellte die Theorie auf, die Illuminations seien erst während Rimbauds Rei327 328
»Illuminations«, in: Œuvres complètes, S. 126. Henri de Bouillane de Lacoste, Rimbaud et le problème des Illuminations, Paris 1949. 119
sen nach Skandinavien und nach Italien, vor der endgültigen Ansiedelung in Afrika, die 1880 erfolgte, entstanden. Einem holländischen Literarhistoriker, Daniel de Graaf, war das noch nicht genug: er versuchte zu beweisen, daß Rimbaud bis zum Ende seines Lebens dichterisch tätig war. Das sind reine Spekulationen. Und auch die Theorie von Bouillane de Lacoste erweist sich als höchst unwahrscheinlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die Illuminations genau das Stadium von Leben und Dichtung darstellen, das Rimbaud in seiner autobiographischen Saison en enfer widerruft bzw. als vergangene Verirrung hinstellt. Damit sind freilich die immanenten Rätsel der Illuminations nicht gelöst. Bereits der Titel ist doppeldeutig: Illuminations heißt »Erleuchtungen«. Nach dem Zeugnis Verlaines haben wir aber auch »Farbstiche« darunter zu verstehen: »Le mot Illuminations est anglais et veut dire gravures colorées – coloured plates.« 329 In der Tat wirken verschiedene Gedichte auch so. Wie schon angedeutet, können neuere Deutungen die Annahme nicht widerlegen, daß die Illuminations in der Zeit der Verbindung mit Verlaine entstanden sind, daß sie Erzeugnisse derjenigen Epoche sind, in welcher Rimbaud glaubte, seine voyant- und Alchimie-Theorie in dichterische Praxis umsetzen zu können, zum Unbekannten vorzustoßen, eine Art von Halbgott zu werden. Der Gesamteindruck der Illuminations ist so, daß man sie als ein Produkt des gelungenen »dérèglement de tous les sens« ansehen könnte. Manche Stücke könnten unter der Einwirkung von Haschisch geschrieben sein. Naturbilder, freilich ganz unkonventioneller Art, stehen neben halluzinatorischen Traumbildern, neben Visionen, in denen die Revolte, ja die entfesselte Anarchie lebt, in denen jeder feste Standort aufgegeben ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ungeschieden ineinander vermengt sind. Ein Grundmotiv ist deutlich erkennbar; der Haß auf das zeitgenössische Leben, auf die Zivilisation, auch die gemein und häßlich gewordene Welt. In den Manuskripten stand, soweit sich das noch feststellen läßt, an erster Stelle das Prosagedicht Après le Déluge. Viele Interpreten sehen in ihm – vielleicht mit Recht – das Schlüsselgedicht der Illuminations. Wir wollen es als Ganzes betrachten. Aussitôt que l'idée du Déluge se fut rassise, un lièvre s'arrêta dans les sainfoins et les clochettes mouvantes, et dit sa prière à l'arc-en-ciel à travers la toile de l'araignée. Oh! les pierres précieuses qui se cachaient, – les fleurs qui regardaient déjà. Dans la grande rue sale les étals se dressèrent, et l'on tira les barques vers la mer étagée là-haut comme sur les gravures. Le sang coula, chez Barbe-Bleue, – aux abattoirs, – dans les cirques, où le sceau de Dieu blêmit les fenêtres. Le sang et le lait coulèrent. Les castors bâtirent. Les » mazagrans « fumèrent dans les estaminets. Dans la grande maison de vitres encore ruisselante, les enfants en deuil regardèrent les merveilleuses images. Une porte claqua, et, sur la place du hameau, l'enfant tourna ses bras, compris des girouettes et des coqs des clochers de partout, sous l'éclatante giboulée. Madame*** établit un piano dans les Alpes. La messe et les premières communions se célèbrèrent aux cent mille autels de la cathédrale. Les caravanes partirent. Et le Splendide-Hôtel fut bâti dans le chaos de glaces et de 329
Zit. nach: Arthur Rimbaud, Œuvres complètes (hrsg. v. Rolland de Renéville/Jules Mouquet), Paris 1963, S. 785.
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nuit du pôle. Depuis lors, la Lune entendit les chacals piaulant par les déserts de thym – et les églogues en sabots grognant dans le verger. Puis, dans la futaie violette, bourgeonnante, Eucharis me dit que c'était le printemps. Sourds, étang; – Écume, roule sur le pont et pardessus les bois; – draps noirs et orgues, – éclairs et tonnerre, – montez et roulez; – Eaux et tristesses, montez et relevez les Déluges. Car depuis qu'ils se sont dissipés, – oh ! les pierres précieuses s'enfouissant, et les fleurs ouvertes! – c'est un ennui! et la Reine, la Sorcière qui allume sa braise dans le pot de terre, ne voudra jamais nous raconter ce qu'elle sait, et que nous ignorons. 330
Was soll das heißen? Après le Déluge ist nicht das dunkelste Gedicht der Illuminations und läßt doch divergierende Deutungen zu. Für den einen Rimbaud-Forscher ist es entstanden nach einer Reise Rimbauds zum Polarkreis, ist also eine verrätselte ReiseImpression; für einen anderen ist mit der »Sintflut« der Krieg von 1870/71 gemeint; wieder ein anderer sieht in dem Gedicht den Ausdruck von Rimbauds Gemütszustand nach dem skandalösen Ende der Freundschaft zu Verlaine. Viel besser ist es, sich an das Thema selbst zu halten, vom ersten Satz auszugehen: Dort ist deutlich gesagt, daß wir die Sintflut konkret und symbolisch zu verstehen haben. Sie ist vorbei, so lange vorbei, daß die Erinnerung, der Gedanke an die Katastrophe sich schon beruhigt hat, der Hase sein Dankgebet der erwachenden Natur verrichtet, die Blumen sich wieder ans Licht recken. Die Erinnerung ist soweit erloschen, daß die Menschen es bereits wieder genauso treiben wie zuvor: sie handeln in den schmutzigen Städten wie zuvor, und untereinander, in den Schlachthöfen, in den Zirzensen fließt das Blut ebenso wie die Milch, so als hätte das Siegel Gottes nie die Fenster erbleichen, das heißt seine Strafe nie über sie kommen lassen. Die Kinder – noch in den Trauerkleidern der Waisen – beziehen Zukunftshoffnungen aus Märchenbildern. Wie eh und je verhält sich die Welt, als sei nichts gewesen; Madame sowieso installiert in den Bergen ein Klavier für die Sommerfrische, die Kinder feiern Erstkommunion, als würden sie dadurch tatsächlich besser; die Kaufleute senden Karawanen aus, sie wollen Geschäfte machen, wie der Mann, der am Nordpol ein Hotel errichtet. Und die Dichter, inspiriert von der wiedererstandenen Natur, die alles beschönigt, verkünden überzeugt, es sei Frühling. Das ist – in einer Folge von sich überblendenden, Natur und menschliches Treiben ineinanderschiebenden Bildern – das mit Reliefs ausgestattete Abziehbild einer in die Absurdität zurückfallenden Welt; einer Welt, die fromme Gebete und unschuldige Wünsche mit derselben scheinheiligen Unschuldsgebärde vorbringt wie sie Blut fließen läßt und dem Geld nachläuft. Und so ruft der Dichter – angewidert – zu einer neuen Sintflut auf: » – Sourds, étang, – Ecume, roule sur le pont et pardessus les bois [...] Eaux et tristesses, montez et relevez les Déluges.« Alles in dieser Welt ist, was es vorher war: ennui. Und die Natur spielt das Spiel der Menschen mit, bestärkt sie, als die alte Hexe, die niemals ihr Geheimnis preisgibt und den Menschen sicher in seinen Illusionen wiegt. In diesem Gedicht lebt der Gedanke einer radikalen Reinigung der Menschheit. Rimbaud hat ein Sündenbewußtsein, das ein zutiefst christliches genannt werden 330
»Illuminations«, in: Œuvres complètes, S. 121 f. 121
müßte, wenn es sich nicht zur Revolte gegen den Christengott wenden würde und dabei bliebe. Die Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter der Unschuld – die wir aus dem ebenfalls den Illuminations zugehörenden Gedicht Age d'or kennen – bleibt in Après le Déluge unausgesprochen. Vorherrschend ist der Aufruf zur Zerstörung der Welt, auf die Schlimmeres nicht mehr folgen kann. Hier ist der Punkt, an dem Rimbaud zum Anarchisten wird. Wir wissen, mit welcher Begeisterung er auf der Seite der »communards« stand. Sein Gedicht Le Forgeron ist der beredteste Ausdruck einer Hoffnung auf Änderung der Welt durch die revolutionäre Arbeiterschaft. Die geschichtliche Enttäuschung findet ihren Niederschlag in einem auf der Grenze zum Nihilismus stehenden Anarchismus. In einem geradezu fanatischen Versgedicht der Illuminations ruft er zur totalen Vernichtung auf, zur Rache für die Ströme vergossenen Bluts, für die irdische Hölle: Et toute vengeance? Rien!... – Mais si, toute encor, Nous la voulons! Industriels, princes, sénats, Périssez! puissance, justice, histoire, à bas! Ça nous est dû. Le sang! le sang! la flamme d'or! [...] Europe, Asie, Amérique, disparaissez. Notre marche vengeresse a tout occupé, Cités et campagnes! – Nous serons écrasés! Les volcans sauteront! et l'océan frappé... 331
Das ist authentisches revolutionäres Pathos, aber von der Verzweiflung ins Anarchische gewendet, zur Vernichtung aller Institutionen. Aus den zuletzt zitierten Versen wird die Nähe zur Sintflut-Vorstellung deutlich. Aber am Schluß dieses Gedichts steht der resignierte Vermerk von Rimbauds Hand: »Ce n'est rien! j'y suis! j'y suis toujours.« Der Gott, der diese Welt billigt, herrscht weiter und korrumpiert die menschliche Natur: »Christ! ô Christ, éternel voleur des énergies« 332 , wie es in dem Gedicht Les premières communions hieß. Es wird alles so bleiben, obgleich die raison immer wieder die Menschen zur Erneuerung aufruft. In dem Prosagedicht A une raison heißt es: »Un pas de toi c'est la levée des nouveaux hommes et leur en-marche.« 333 Aber jeder Aufschwung verläuft im Sande, und die raison selbst läßt sich von jedem mißbrauchen: »Arrivée de toujours, qui t'en iras partout.« 334 Von tiefster Resignation ist auch das Versgedicht der Illuminations erfüllt, das den Titel Le pauvre songe trägt. Vielleicht, so heißt es in der ersten Strophe, werde ich eines Abends in einer alten Stadt friedlich sterben, wenn ich auf alle Hoffnungen, auf alle Träume geduldig verzichtet habe: - Ah! songer est indigne Puisque c'est pure perte!
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»Vers nouveaux et chansons«, ebd., S. 71. Dieses Gedicht ist in der Erstausgabe der »Illuminations« von 1886 enthalten. »Poésies«, ebd., S. 65. »Illuminations«, ebd., S. 130. Ebd.
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Das alte Symbol des Sinnsuchers, des Wanderers, wird negativ gewendet: es wird zum Symbol des Nicht-Findens, des Zwangs zur Resignation: Et si je redeviens Le voyageur ancien, Jamais l'auberge verte Ne peut bien m'être ouverte. 335
Immer wieder bricht indessen die Sehnsucht nach einem Reich der Unschuld durch, das sich nicht anders als heidnisch darstellen kann. Das kleine Prosagedicht Antique ist eine gravure colorée, ein Farbstich in Sprache, das Thema wieder ein Faun: »gracieux fils de Pan!« 336 Die Stirn bekränzt mit Blumen und Beeren, vom Wein betropft, mit leuchtenden Eckzähnen, einer Brust, die einer Zither gleicht; und Glockentöne kreisen um seine blonden Arme. Das Herz schlägt in einem Leib, in dem ein doppeltes Geschlecht im Schlafe liegt – das Bild sinnlicher Kraft, Anmut und Unschuld, das in der Doppelgeschlechtlichkeit, im Androgyn, den Zustand einer harmonischen Welt vor dem Zerfall und vor dem Sündenfall beschwört. Die gleiche Sehnsucht, aber zum bewegten Bild und als Traumzustand gestaltet, finden wir in den Prosagedichten Matinée d'ivresse und Aube. Beide halten offenbar die Eindrücke eines Haschischrausches fest; sie bieten Visionen, die sich nach einem »dérèglement de tous les sens« einstellen. Das erste Gedicht – Matinée d'ivresse 337 – preist enthusiastisch die dem schrecklichen Prozeß der Vergiftung entwachsene Schönheit und ihre »promesse surhumaine«, die zugleich »démence« ist. Diese »promesse« wird präzis bezeichnet: On nous a promis d'enterrer dans l'ombre l'arbre du bien et du mal, de déporter les honnêtetés tyranniques, afin que nous amenions notre très pur amour.
Niederlegung des Baums der Erkenntnis, des Sündenfalls, Verbannung aller Scheinmoral und Verwirklichung der reinen Liebe. Und dann Lobpreis der Methode, die solche Einsicht gibt; Preis dem Gift: »Voici le temps des Assassins.« Wobei mit »assassin« die Haschaschins, die Anhänger des Alten vom Berge gemeint sind, und nicht die Mörder, deren Name »assassin« von jener Sekte herstammt. Vielleicht soll es auch doppeldeutig sein. Das zweite Gedicht – Aube – ist eine Alba, ein Tagelied besonderer Art: sie fixiert den Traum einer Liebesberührung mit der Morgenröte. Es beginnt gleichsam mit einer Vollzugsmeldung: »J'ai embrassé l'aube d'été.« 338 Dann wird der Leser an den Anfang des Traums versetzt. In den Palästen war noch Ruhe, das Wasser lag still. Die Schattenfelder verließen die Waldstraße noch nicht. Ich weckte den regen Atem der lauen Winde, die Edelsteine blickten auf, und die Flügel erhoben sich lautlos... Das ist der Traum vom Menschen, der, gereinigt vom Schlaf und befreit 335
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»Vers nouveaux et chansons«, ebd., S. 75. Dieses Gedicht ist in der Erstausgabe der »Illuminations« von 1886 enthalten. »Illuminations«, ebd., S. 127. Ebd., S. 131. Ebd., S. 140. 123
vom Gestern, am Morgen eine schlummernde Natur weckt, die sich ihm ebenso unschuldig, noch nicht vom Tag befleckt, entgegenneigt wie seinesgleichen. Ihm offenbart sie sich, und das erste Ereignis, das dem Traumwanderer begegnet, ist eine Blume, die ihm ihren Namen sagt, und das heißt ihr Wesen preisgibt. Lachend schreitet er weiter, bis er auf silbernem Gipfel die Göttin erkennt. Die Morgenröte wird zur greifbaren Wesenheit von Fleisch und Blut. Er hebt die Schleier der flüchtenden Göttin, einen nach dem anderen, in der Allee, in der Ebene, in der Stadt, durch deren Türme und Kuppeln er sie jagt. Bei einem Lorbeerhain erhascht er sie: En haut de la route, près d'un bois de lauriers, je l'ai entourée avec ses voiles amassés, et j'ai senti un peu son immense corps. L'aube et l'enfant tombèrent au bas du bois.
Au réveil, il était midi.
Traumhaft verbunden sind in diesem Gedicht das Reale und das Irreale. Der Morgenspaziergang erscheint, für sich genommen, mit ganz konkreten, gegenständlichen Elementen. Aber schon Wald, Schatten, Edelsteine, Flügel, Blumen haben Eigenleben, treten aus der Passivität heraus. Dieses Leben aber hat nur eine Richtung, nämlich die auf eine Realisierung des Irrealen zu, auf die Konstituierung von deren Vereinigung hin. Das Unwirkliche wird für wenige Augenblicke kraft der Poesie so greifbar wirklich wie die Morgenröte, die das Ich dieses Gedichts für kurze Zeit im Arm hält, so daß es die Unendlichkeit ihres Körpers zu ermessen vermag. Und dadurch wird nun auch das letzte Kunststück möglich: Die Gestalt gewordene Morgenröte kann auf den Boden fallen, weil sie Gestalt geworden ist, und sie kann den Fingern entgleiten, weil sie eben doch zugleich unfaßbar ist. Und noch ein zweites wird möglich: mit ihr fällt das Kind auf den Waldboden nieder. Wir erfahren nicht, woher es plötzlich kommt. Ist es reine, notierte Traumassoziation? Rimbaud gibt keine Erklärung, und wir können es als Symbol der Erneuerung verstehen oder – wahrscheinlicher – als Symbol einer ebenso fruchtbaren wie flüchtigen Vereinigung mit der Göttin, das wie sie zwischen den Fingern verrinnt. Denn es war Mittag, und der Träumer erwachte. An diesem Gedicht ist zu beobachten, wie das Gegenständliche, Wirkliche, den Charakter des Wirklichen verliert und wie das Unwirkliche Gestalt annimmt. Beide kommen einander näher, vereinigen sich. Es ist eines der Geheimnisse der Rimbaudschen Dichtersprache, daß sie das Unfaßbare, das Unbekannte, die Idee, das Abstrakte, in das sinnliche Bild übersetzt, daß sie durch die Entrealisierung des Realen und durch die Realisierung des Irrealen diese beiden Bereiche miteinander verschmilzt. Rimbaud scheut hier auch vor dem vermeintlich Widersinnigen nicht zurück. Die Stilfigur des Adynaton hat für ihn nicht nur hyperbolische Funktion, sie ist auch nicht bloß Metapher für eine »verkehrte Welt«, sondern beschwört ebenso Realitäten und Identitäten wie die absolut gewordene, das Verglichene gleichsetzende Metapher. »Il y a une cathédrale qui descend et un lac qui monte« 339 , heißt es in einem Prosagedicht der Illuminations einmal. Kathedrale und See haben 339
Ebd., S. 123 (»Enfance III«).
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nichts miteinander zu tun, und schon gar nicht steigt eine Kathedrale nieder, während der See nach oben steigt. Und doch zwingt die Vorstellung vom steigenden und fallenden Wasser beide Bereiche zusammen. Die Revolte des Geistes ist bei Rimbaud eben auch eine Revolte der Sprache. Der anarchische Wille zum Zerstören der gemeinen Welt, ein Wille, der – ausgesprochen oder unausgesprochen – seine Impulse von der Vision einer besseren Welt empfängt, bedeutet in der Alchimie der Sprache die Trennung des Zusammengehörenden, die Verbindung des Fremden: Ver-fremden des Vertrauten und Aufhebung der schon vorhandenen Fremdheit: Brücken über Abgründe durch Auflösung des Vordergründigen. Zerreißen des Bestehenden, weil es schlecht ist; Zersplitterung in seine Elemente, um diese Elemente zu einer neuen Ordnung zu fügen, die sich dann als die wahre Ordnung, als Welt der wiederhergestellten Einheit, Harmonie und Unschuld, als Entdeckung und Realisierung der verborgenen »Ewigkeit«, offenbaren wird. Auch das Gedicht Eternité, das wir kennen, steht in den Illuminations 340 . Das ist die Hybris Rimbauds in jener Zeit, die Hybris der Theorie des voyant und der metaphysischen Revolte. Ihr Ende fällt mit jenen Wochen zusammen, in denen Rimbaud sich von Verlaine zu lösen beginnt. Der Wahnwitz der abgelaufenen Epoche wird ihm erschreckend deutlich, damit auch der Tod aller seiner Hoffnungen, Wünsche, Illusionen. Mit einer an Masochismus grenzenden Erbarmungslosigkeit beginnt er jetzt, alles zu widerrufen, was ihm bisher das Höchste schien. Von April bis August 1873 schreibt er in poetischer Prosa die Konfession seines Lebens, vor allem der soeben abgelaufenen Epoche, nieder, die ihm nun als ein »Aufenthalt in der Hölle« erscheint. Une saison en enfer ist die rückhaltlose Abrechnung mit dem bisherigen Leben, den bisherigen Überzeugungen, mit der ekstatischen Überspanntheit des Geistes, des Übermenschentums, das an eine Neuerschaffung der Welt geglaubt hatte: J'ai créé toutes les fêtes, tous les triomphes, tous les drames. J'ai essayé d'inventer de nouvelles fleurs, de nouveaux astres, de nouvelles chairs, de nouvelles langues. J'ai cru acquérir des pouvoirs surnaturels. Eh bien! je dois enterrer mon imagination et mes souvenirs!... Enfin, je demanderai pardon pour m'être nourri de mensonge. Et allons. 341
Aber der Zusammensturz aller Hoffnungen läßt ihn nach einer helfenden Hand Ausschau halten, die er nicht findet: »Mais pas une main amie! et où puiser le secours?« 342 Der Rimbaud dieser Zeit hat verzweifelt nach Hilfe gesucht und hat sie nicht gefunden. Er erkennt sich als einen »maudit« 343 , als Angehörigen einer »race inférieure« 344 – beides in einem Gedicht mit dem beziehungsreichen Titel Mauvais sang. Das Problem des Bösen, das er für sich in der Zuwendung zu einer moralfreien Natürlichkeit, die Übernatürlichkeit werden sollte, überwunden geglaubt hatte, stellt sich ihm jetzt schärfer als je zuvor. Er macht die Entdeckung, daß er der 340 341 342 343 344
Genauer: in der Erstausgabe der, »Illuminations« von 1886. »Une saison en enfer«, ebd., S. 116. Ebd. Ebd., S. 96. Ebd., S. 95. 125
Erbsünde nicht entrinnen kann, daß er für sein ganzes Leben vom Christentum gezeichnet ist, denn ein Heide würde die Höllenqual nicht kennen: »L'enfer ne peut attaquer les païens.« 345 Anklagen gegen Gott und Aufschreie der Sehnsucht nach Gott wechseln sich ab: pourquoi Christ ne m'aide-t-il pas, en donnant à mon âme noblesse et liberté? Hélas! l'Evangile a passé! 346 J'ai dit: Dieu. Je veux la liberté dans le salut[ ...]. 347
Aber diese »Freiheit im Heil«, ohne die er nicht zu leben vermochte, konnte er im Christentum nicht finden. Und so blieb ihm das schreckliche Fazit: »La vie est la farce à mener par tous.« 348
345 346 347 348
Ebd., S. 100. Ebd., S. 95. Ebd., S. 99. Ebd.
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Stéphane Mallarmé
Biographie und Werk – Einheit in der Trennung Wir wenden uns jetzt einem Dichter zu, der es mit sich selbst leichter hatte als Rimbaud, der aber seine Kunst dafür umso schwerer nahm: Stéphane Mallarmé. Mallarmé hat länger gelebt als Rimbaud: 1842 bis 1898. Aber sein Kunstbegriff war zu hoch, zu anspruchsvoll, als daß er ihm erlaubt hätte, viel zu schreiben. Sein Œuvre ist schmal: knapp 60 Versgedichte, dazu einige Prosagedichte und Aufsätze und Artikel. Die kritische Gesamtausgabe seiner Werke ist nur deshalb ein Band von über 1600 Dünndruckseiten geworden – in der Bibliothèque de la Pléiade –, weil die Herausgeber – Henri Mondor und G. Jean-Aubry – auch eine umfängliche englische Grammatik und eine Abhandlung über die antiken Götter aus der Feder Mallarmés aufgenommen haben 349 . Über Mallarmés Leben brauchen wir nicht viele Worte zu verlieren. Verglichen mit dem eines Rimbaud oder Verlaine verlief es eigentlich ereignislos. Die Biographen haben keinen Skandal entdecken können. Dieser Mann, der Verständnis für alle menschlichen Schwächen hatte, der sogar Verlaines turbulentes Dasein für in seiner Weise exemplarisch hielt, ist kein »poète maudit«. Er überrascht durch eine solide, bürgerliche Existenz ohne große Aufregungen. Rund dreißig Jahre hat er brav sein Brot verdient als Gymnasiallehrer für Englisch. Sein Werk ist ganz frei von jedem bekenntnishaften Zug. Wenn es bei Rimbaud, Verlaine, Baudelaire immer wieder aufs neue reizt, Zusammenhänge zwischen Dichtung und Dichterexistenz aufzudecken, so ist bei Mallarmé gerade die Trennung von Leben und Dichtung ein Faszinosum für die Forschung, ein Faszinosum, das sowohl in Mallarmés Charakter wie in seinen ästhetischen Prinzipien gründet. Die Analogie von Biographie und Werk, die Einheit dieses Lebens, ist gerade in der Trennung zu suchen. Mallarmé hat indessen keineswegs völlig zurückgezogen gelebt. 1871 kam er aus der Provinz nach Paris zurück, nachdem er in Tournon, Besançon und Avignon seinen Schülern englische Grammatik eingetrichtert hatte, arbeitete an Zeitschriften mit und machte sich als Chefredakteur einer Modezeitung verdient: La dernière mode, gazette du monde et de la famille. Sein unersättlicher Schönheitsdurst fand auch hier eine seiner Ansicht nach durchaus erquickliche Stillung.
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Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes (hrsg. v. Henri Mondor, G. Jean-Aubry), Paris 1945. Über die Ergebnisse der älteren Mallarmé-Forschung liegt ein detaillierter und kluger Forschungsbericht vor von: Eva Maria Lüders, »Sechzig Jahre MallarméForschung«, in: Romanistisches Jahrbuch 8 (1957), S. 146ff. 127
Wenn sich heute klar übersehen läßt, welche tiefe Wirkung dieser Dichter trotz seines Hermetismus hinterlassen hat – auf Valéry, Stefan George, T. S. Eliot, Rubén Dario und viele andere mehr –, so war doch seine Wirkung auf die Zeitgenossen mehr eine solche seiner Persönlichkeit als seiner Dichtung. Jeden Dienstag abend empfing Mallarmé in seiner Wohnung in der Rue de Rome seine Freunde. Alle Zeugnisse von diesen Zusammenkünften stehen unter dem Eindruck einer bestrickenden Persönlichkeit, die alle, die mit ihr in Berührung kamen, in ihren Bann zog. Man braucht nur Paul Valérys Lettre sur Mallarmé 350 nachzulesen, um zu erfahren, daß die Abende in dem kleinen Salon der Rue de Rome für eine ganze Generation zu einem Erweckungserlebnis mit fast religiösen Akzenten wurden. Ich sage: mit fast religiösen Akzenten, obwohl von Gott kaum die Rede war, wohl aber von einer Kunst, die als eine Religion begriffen wurde. Mallarmés Jünger – von solchen darf man sprechen – bildeten eine Art Sekte, die in ihrem fast kultisch verehrten Meister einen Heiligen der Kunst sahen, während andere seine Dichtung völlig ablehnten. Mallarmés Auffassung war, daß ein Gedicht ein Mysterium sei, für welches der Leser selbst den Schlüssel suchen müsse: » un mystère dont le lecteur doit chercher la clef.« 351 Das war und ist vielen zu strapaziös, zumal Mallarmé es dem Leser so schwer wie möglich gemacht hat. Was sowohl das Publikum wie den Kritiker vollends verwirrt, ist der Umstand, daß Mallarmé durchaus verschiedene Deutungen ein und desselben Gedichts für legitim erklärt; und einem Kritiker, der ihm eine Interpretation eines seiner Gedichte zusandte, soll er hochbefriedigt geantwortet haben, auch er übernehme diese Interpretation, denn sie sei viel besser als seine eigene. Manche seiner Kritiker haben dies als einen Witz betrachtet. Es ist aber keiner! Mallarmé konnte jedoch auch sauer reagieren: Als ihn jemand fragte, ob das Thema eines seiner Gedichte das Morgenrot oder das Abendrot sei, gab er bissig zur Antwort: »Nein, es ist meine Kommode«. Die Spaltung in bedingungslose Verehrer und völlig ablehnende Kritiker ist bis zum heutigen Tag geblieben. Für die einen ein Hohepriester der poésie pure, ist Mallarmé für die anderen ein Gaukler, der die Leute narren will, oder ein Mann, dessen überspannte Kunstauffassung ihn eigentlich überall scheitern ließ: ein Kuriosum, das eher Mitleid als Bewunderung verdient. Freilich: Mallarmé trieb die Dunkelheit bis zum Exzeß, kühl, überlegt und besessen von dem Gedanken, daß Gedichte umso vollkommener seien, je dunkler sie sind. Je dunkler, desto weiter die Horizonte zum Unbekannten hin. Dichtung, die erklärt, hat in dem Maße, als sie erklärt, keinen Raum für das Geheimnis, das eine suggestive Sprache im mitkreierenden Leser erraten läßt. So etwas ist nicht nach jedermanns Geschmack und schon gar nicht für Literaturkonsumenten, die von der Kunst erbaut werden möchten oder gar ihr Feierabenderholung abverlangen; Freizeitgestaltung läßt sich mit Mallarmé nicht erreichen. Aber der Literaturhistoriker zumindest darf sich nicht mit einem Achselzucken über das Phänomen Mallarmé beruhigen. Es gibt ganz vernünftige Leute, die sich weigern, Mallarmé als einen bedeutenden Dichter anzuerkennen, und es gibt auch unter Berufsliteraturfremden viele, die ihn nicht le350
351
Paul Valéry, »Lettre sur Mallarmé«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Jean Hytier), Bd. 1, Paris 1957, S. 633 ff. Edmond et Jules de Goncourt, journal. Memoires de la vie littéraire 1891-1896 (hrsg. v. Robert Ricatte), Bd. 4, Paris 1956, S. 368.
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sen, ohne es freilich laut einzugestehen. Die Kritik, soweit sie riskiert wird, geht dann davon aus, daß ein Dichter deutlich genug sagen müsse, was er überhaupt meint, jedenfalls soweit, daß sein Werk sich dem Verständnis nach kurzer Bemühung offenbart. Die Sprache müsse auch als Dichtersprache ihrer Rolle als Mittel der allgemeinen Verständigung treu bleiben. Hier muß nun freilich ein Fragezeichen gesetzt werden: mit welchem Recht wird diese Forderung an die poetische Sprache gestellt? Und wenn ein Kritiker meint, Mallarmés Umgang mit der Sprache gleiche den Rechenkünsten eines Mathematikers, denen kein Laienverstand mehr zu folgen vermöge, so muß man ernsthaft dagegen fragen, warum prinzipiell der modernen Kunst nicht erlaubt sein soll, was man der modernen Naturwissenschaft ohne weiteres konzediert und sogar hochanrechnet. Mallarmé selber ließen solche Urteile allerdings kalt. Sie konnten ihn nur in seiner Auffassung bestärken, daß Dichtung ein Mysterium sei, das nicht für jeden bestimmt ist: Ainsi les premiers venus entrent de plain-pied dans un chef-d'œuvre, et depuis qu'il y a des poètes, il n'a pas été inventé, pour l'écartement de ces importuns, une langue immaculée, – des formes hiératiques dont l'étude aride aveugle le profane et aiguillone le patient fatal; – et ces intrus tiennent en façon de carte d'entrée une page de l'alphabet où ils ont appris à lire! 352
»Peindre non la chose mais l'effet qu'elle produit« – zur Sprach- und Dichtungstheorie Mallarmés Mallarmé hat sich hinsichtlich seiner Kunstkonzeption eine eigene Sprachphilosophie zurechtgelegt, die freilich in ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln weit zurückreicht. Für Mallarmé gibt es zwei Sprachen: eine, die an das tägliche Leben, an die unreine, profane, zweckverhaftete Existenz gebunden ist, eine rein utilitaristische Sprache; und eine andere, sich in der Dichtung aktualisierende, die ihre eigene, autonome Logik hat, eine Logik, die dem Wesen der Welt der Ideen entspricht, eine Sprache, die von allen Schlacken der Banalität, von allen Spuren des Mißbrauchs befreit ist. Und die Dichtung, die solche metaphysische Horizonte der Existenz erschließt, ist es darum auch, die dem Leben Sinn verleiht, sofern es einen solchen überhaupt gibt. So hat man die Definition der Poesie zu verstehen, die Mallarmé 1884 niederschrieb: La poésie est l'expression, par le langage humain ramené à son rythme essentiel, du sens mystérieux des aspects de l'existence: elle doue ainsi d'authenticité notre séjour et constitue la seule tâche spirituelle. 353
Mallarmé wollte, das geht hieraus hervor, und das wollen wir zum Verständnis festhalten, ebenso – oder noch mehr – ein Denker sein als ein Dichter, und zwar ein Dichter und Denker der selbstgewählten Einsamkeit. Er steht am äußersten 352 353
»L'art pour tous«, in: Œuvres complètes, S. 257. Correspondance (hrsg. v. Henri Mondor, Jean-Pierre Richard), Bd. 2 (1871-1885), Paris 1965, S. 266. 129
Ende einer Linie, die vom Publikum weg in das spirituelle Reich der autonomen Kunst führt: keiner hat mit solch gewaltsamer Hartnäckigkeit wie er daran gearbeitet, eine Dichtersprache zu schaffen, deren Kennzeichen größte Ferne von der Sprache der bloßen Mitteilung ist: seine Sprache bewahrt einen Rest von zweckhafter Kommunikation ausschließlich im Bereich der Suggestion, für deren zündenden Funken nur Auserwählte bestimmt sind. Und selbst das suggerierte Bild soll im Gedicht gleichsam wieder verschwinden, um als bleibender Eindruck nur noch die Idee zu hinterlassen. Die Idee soll plastisch hervortreten dadurch, daß ihre ganze Materialität wie eine ausgetrocknete Schale, wie überflüssig gewordene Kleidung von ihr abfällt. Was erscheinen soll, ist »le Rêve dans sa nudité idéale« 354 . Es ist also im Grunde das Unmögliche versucht: nämlich das NichtErscheinende zur Erscheinung zu bringen. Mallarmé hat dafür immerhin einen anschaulichen Vergleich: den mit einer Zigarre. Die sprachliche Materie ist unerläßlich, aber sie soll als solche, nachdem sie ihren Dienst geleistet hat, zur Erde fallen, wie die Asche einer Zigarre, die nach dem »clair baiser du feu« 355 ihren Rauch zum Himmel steigen läßt. Das Materiell-Wirkliche soll vertilgt werden, denn es ist gemein: Exclus-en si tu commences, Le réel, parce que vil 356
Alles Wirkliche wird daher entwirklicht, ist nur noch als Idee da, und das heißt für den eingeweihten Leser: als Wirkung. Nicht der Gegenstand, sondern seine Wirkung soll sprachlich Gestalt annehmen – wie Mallarmé an seinen Freund Cazalis schreibt: Ziel ist es »de peindre, non la chose, mais l'effet qu'elle produit.« 357 Ein Gedicht soll also letztlich nicht auf Worten, sondern auf Intentionen aufbauen; und die Worte müssen hinter den suggerierten Empfindungen verschwinden: »Le vers ne doit donc pas, là, se composer de mots, mais d'intentions, et toutes les paroles s'effacer devant les sensations ...« 358 Mallarmé reißt, wie angedeutet, die Disjunktion von Autor und Publikum zum Abgrund auf. Jeder Gedanke von »delectare et prodesse« ist aufgegeben. L'art pour l'art wird jetzt zur poésie pure der absoluten Zweckfremdheit, denn sie erschließt letztlich das Nichts, das dem reifen Mallarmé identisch wird mit der Welt der Idee: bodenloses Geheimnis, substanzlose Substanz. Mallarmé spricht keine bestimmte Leserschicht mehr an, es sei denn die, die er sich selbst, als Mitwisser und esoterischer Sektenbruder, erzeugt. Der soziologische Zusammenhang von Künstler und Publikum, von Produzent und Konsument, ist nur noch als Negation faßbar. Das ist die vollendete Entfremdung der verdinglichten Welt und Gesellschaft, die nun aus der äußersten Not eine Tugend macht: die Tugend einer Sprache, die vom Alltag so weit entfernt ist wie möglich, die sich zur Idee selbst spiritualisiert. Das kann nur geschehen, wenn die Sprache von allem Explikativen und Kommuni354
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»Lettre à Henri Cazalis, 3.6. 1863«, in: Correspondance, Bd. 1, (1862-1871), Paris 1959, S.90. »Hommages et Tombeaux«, in: Œuvres complètes, S. 73. Ebd. »Hérodiade«, ebd., S. 1440 (Anmerkung). Ebd.
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kativen befreit wird, und das heißt für den Dichter zum Beispiel, immer Anfang und Ende wieder zu streichen: »Il faut toujours couper le commencement et la fin de ce qu'on écrit.« 359 Auch am Gedicht noch zerstören, was explikativ sein könnte. Ergebnis ist also in jedem Fall ein Torso, ein Fragment, das geheimnisvolle Ergänzungen suggeriert, aufzwingt, offenläßt. Indem die Worte völlig ihrer gewohnten Funktion beraubt, und das heißt nach Mallarmé ihrem Mißbrauch entzogen werden, offenbaren sie erst ihren ursprünglichen Sinn, und man überläßt sich ihrer Führung ins Unbekannte: L'œuvre pure implique la disparition élocutoire du poète, qui cède l'initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité mobilisés; ils s'allument de reflets réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries, remplaçant la respiration perceptible en l'ancien souffle lyrique ou la direction personnelle enthousiaste de la phrase. 360
Etwas weniger dunkel ausgedrückt heißt das: völlige Ausschaltung des willkürlich befindenden Dichters; Abtretung der Sinngebung an die von jedem Zweck emanzipierte Sprache; Neufügung und Kombination der Wörter, die dann durch ihr neues gegenseitiges Verhältnis, durch nicht geahnte Bezüglichkeiten bisher verborgene Zusammenhänge aufleuchten lassen. Der Vers, der eine solche Sprache rhythmisiert, der so isolierte und ungewohnt plazierte Wörter zu einer neuen Einheit schließt, ergibt dann ein total Neues, Unbekanntes. Mit den Worten Mallarmés: Le vers qui de plusieurs vocables refait un mot total, neuf, étranger à la langue et comme incantatoire, achève cet isolement de la parole: niant, d'un trait souverain, le hasard demeuré aux termes malgré l'artifice de leur retrempe alternée en le sens et la sonorité, et vous cause cette surprise de n'avoir ouï jamais tel fragment ordinaire d'élocution, en même temps que la réminiscence de l'objet nommé baigne dans une neuve atmosphère. 361
Hier fällt ein für Mallarmé überaus wichtiges Schlüsselwort: hasard – »Zufall«. Wir werden davon anläßlich der späteren Werke Igitur und Un coup de dé jamais n'abolira le hasard noch ausführlich sprechen müssen. Vorläufig sei nur gesagt, daß die normale Sprache, die Sprache der Mitteilung, für Mallarmé Produkt einer schlechten Wirklichkeit, Produkt der gleichen Kontingenz ist, die auch die banale Lebenswirklichkeit beherrscht. Die größtmögliche Entfernung von dieser Sprache bedeutet dann den Sieg über die Kontingenz, das Hinter-sich-Lassen der kruden Realität und das Aufsteigen in eine Idealwirklichkeit, in das unerschlossene Absolute. Hasard kennzeichnet bloßes, nur sich selber präsentierendes Sosein, das keinen Sinn außer dem des Un-Sinns enthält. Ihn hat die Dichtersprache zu überwinden. Wie das praktisch geschieht oder geschehen soll, werden wir noch sehen. Ich habe, als ich von »schlechter Wirklichkeit« sprach, nicht von ungefähr einen Ausdruck verwendet, der an Hegel gemahnt. In der Forschung wird bis heute die Frage diskutiert, ob Mallarmé von Hegel beeinflußt wurde und wie tief dieser Einfluß ging. Die Parallelen sind in der Tat auffällig. Wie Hegel, so war auch Mallarmé 359 360 361
»Lettre à Henri Cazalis, 25.4.1864«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 117. »Variations sur un sujet« (Crise de vers), in: Œuvres complètes, S. 366. Ebd., S. 368. 131
zutiefst von der absoluten Analogie und letztlichen Identität des Logischen und des Realen überzeugt. Auch für Mallarmé galt der Satz: »Nur das Wirkliche ist wahr«, wobei das Wirkliche eben nicht identisch ist mit der bloßen Realität, sondern mit dem »Vernünftigen«. Und dieses »Wirkliche« und »Vernünftige« wollte Mallarmé eben die Sprache durch deren Rückführung auf ihre autonome, unverstellte Logik entbinden lassen. Auch ein weiterer, berühmter Ausspruch Mallarmés paßt genau in die Hegelsche Philosophie: »tout, au monde, existe pour aboutir à un livre.« 362 Wäre Hegel ein Dichter und nicht ein Philosoph gewesen, dann hätte er seine Theorie von der Selbstverwirklichung, dem progressiven Zu-sich-selbst-kommen des Weltgeistes in die Worte Mallarmés kleiden können! Wir wollen diesen Komplex jetzt nicht weiter verfolgen, sondern, bevor wir uns die Gedichte selbst ansehen, zum Abschluß unserer vorläufigen Erörterung von Mallarmés Ästhetik noch ein berühmtes, vielzitiertes Wort heranziehen, das folgendermaßen lautet: Je dis: une fleur! et, hors de l'oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d'autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l'absente de tous bouquets. 363
Wenn er, der Dichter, »Blume« sagt, dann ersteht, dem Eindruck der Musik vergleichbar, die Idee der Blume, die man vergebens in der Anhäufung aller Blumensträuße, das heißt in ihrer vollständigen realistischen Beschreibung suchen würde. Und sie ersteht trotz oder vielmehr wegen der Tilgung aller Konturen, aller üblichen Unterscheidungen und Grenzen, weil der Dichter das Gewohnte und Verfälschende eliminiert und unerkannte Beziehungen herstellt, an denen sich wahrnehmbar die Idee »Blume«, ihre Essenz, kristallisiert. Das klingt platonisch – und viel ist schon über eine platonische Mitgift in Mallarmés Ästhetik diskutiert worden! Wir sind wieder bei der geheimnisvollen Alchimie der sprachlichen Elemente, der gänzlich neuen Verbindungen, welche unbekannte Stoffe entdecken lassen. Jetzt aber noch viel radikaler und konsequenter als je zuvor. Mit Mallarmé versucht sich die Dichtung im absoluten Sinn, an der Quinta Essentia und am Stein der Weisen. Die Ansätze dazu sind schon in den frühen Gedichten spürbar; voll entwickelt wurden sie aber erst in der zweiten Epoche, die man in Mallarmés Dichterdasein von der ersten, mehr parnassischen, zu unterscheiden pflegt.
»L'art seul, limpide et impeccable« – die erste Schaffensperiode Mallarmés Die erste Periode steht ganz unter einem Doppelgestirn: Baudelaire und Parnasse, und bei letzterem vor allem Théodore de Banville. Von Banville hat Mallarmé den Kult der Form geerbt: Vers, Reim, Strophe, von Baudelaire nahezu sämtliche Themen und Motive seiner frühen Gedichte. Und die Mehrzahl dieser frühen Gedichte hat er im Parnasse contemporain, der Sammlung, die jener Schule die Eti362 363
»Variations sur un sujet« (Quant au livre), in: Œuvres complètes, S. 378. »Variations sur un sujet« (Crise de vers), ebd., S. 368.
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kette gab, veröffentlicht. Als charakteristisch für die erste Periode darf man das 1863 entstandene Gedicht Les Fenêtres ansehen. Als Auftakt für die zweite Periode gilt der 1865 entstandene, aber erst 1876 in überarbeiteter Gestalt veröffentlichte Après-midi d'une faune. Die Gedichte der ersten Periode stehen, wie gesagt, im Zeichen Baudelaires. Wer in dem Gedicht Tristesse d'été die folgenden Verse liest, weiß, wo sie herkommen: Mais ta chevelure est une rivière tiède, Où noyer sans frissons l'âme qui nous obsède Et trouver ce Néant que tu ne connais pas! 364
Das ist noch Baudelaire – und doch auch bereits Mallarmé. Nicht nur wegen des Nachdrucks auf dem Néant, das für Mallarmé so wichtig wird, sondern wegen des eigentümlichen Gebrauchs des Infinitivs, wie ihn Baudelaire noch nicht kannte: Infinitiv statt der zu erwartenden finiten, konjugierten Form. Doch noch bleibt Baudelaires Einfluß stark. Die Thematik von Ennui, Mort, Vice in dem Sonett Angoisse läßt keinen Zweifel über die Provenienz. Das Sonett Renouveau nimmt das Baudelairesche Thema der Elévation auf. Wir finden Satan, die Prostituierte und manches andere aus den Fleurs du Mal wieder, auch die Synästhesien, aber diese jetzt nicht mehr so sehr von den Sinnen, vom Sensualistischen, als vom Intellekt her dargestellt. Für das Thema der Reise ins Unbekannte nach dem desillusionierenden Erfahrungsdurchgang durch alle Möglichkeiten des Lebens hat Mallarmé, der, anders als Baudelaire, diese Erfahrungen wahrlich nicht selber erschöpft hat, schon in einem Frühgedicht wunderbare Verse gefunden, in Brise marine. Alle Motive, die wir kennen, sind hier gesammelt: trunkene Vögel im Schaum des Meeres und im Flug zum Unbekannten; Vision einer exotischen Natur, Gesang von Seeleuten; Aufruf an ein Schiff, die Anker zu lichten; Schiff ohne Masten; Abreise als Flucht, ohne anzukommen. Unvergeßlich ist aber etwa der erste Vers mit seiner unnachahmlichen Verdichtung der Desillusion von Geist und Körper, deren Suche nach Erfüllung ins Leere verläuft, nachdem sie alle Stationen durchmessen hat: »La chair est triste, hélas! et j'ai lu tous les livres.« 365 Das Ennui-Thema erfährt in diesem Gedicht eine Wendung, die bereits den reifen Mallarmé ahnen läßt: der Ennui wird zu einem Ennui: der unbestimmte Artikel bedeutet, daß es noch viele andere ennuis gibt, und er bewirkt das Erscheinen eines bestimmten, vereinzelten, darum präziser drückenden und doch im Vagen verbleibenden Ennui, den grausame Hoffnung um die Selbsterlösung betrügen und enttäuschen, als wäre er eine Person. Personifiziert, vermenschlicht wie die Menschen, die ohne Hoffnung nicht sein können, glaubt er noch an die Realität der Symbolik von Taschentüchern, die Abschied und Wiedersehen winken: Un Ennui, désolé par les cruels espoirs, Croit encore à l'adieu suprême des mouchoirs!
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»Du Parnasse contemporain«, ebd., S. 37. Ebd., S. 38. 133
Als ob die Reise nicht eine Reise ins Unbekannte wäre, die keine Rückkehr zum Unerträglichen oder unwiederholbaren Ausgangspunkt kennt! Den zukünftigen Mallarmé faßt man auch in dem Gedicht Les Fenêtres, dessen Kern wiederum ein Thema Baudelaires bildet. Der Blick aus dem Fenster, diesmal einem Hospitalfenster. Der Dichter identifiziert sich mit dem Kranken, der sehnsüchtig nach draußen blickt. Aber was er in den Straßen erspäht, sind – Galeeren. Mallarmé hat die Kunst von Anfang an als etwas Heiliges, als das einzig Wahre, Erhabene und Unzerstörbare begriffen: »il n'y a de vrai, d'immuable, de grand et de sacré que l'Art« 366 , so schreibt er einmal an seinen Freund Cazalis. Der gleiche Cazalis schwärmte glühend für eine junge, offenbar berückende Engländerin, die es anscheinend auch Mallarmé einigermaßen angetan hatte, denn Mallarmé erklärte sich auf Cazalis' Bitte hin bereit, dessen Liebe zu bedichten. Er bat sich indessen die nötige Zeit aus: laisse moi donc tout le temps d'en faire. [...] Je ne veux pas faire cela d'inspiration; la turbulence du lyrisme serait indigne de cette chaste apparîtion que tu aimes. Il faut méditer longtemps: l'art seul, limpide et impeccable, est assez chaste pour la sculpter religieusement. 367
Die Kunst ist etwas zu Heiliges und Reines, als daß man sich dem ersten Impuls hingeben, sich einer Inspiration überlassen dürfte. Mallarmé hat an einzelnen Gedichten jahrelang gefeilt: Schönheit war ihm gleich Reinheit, Makellosigkeit, Unbeflecktheit. Nicht zufällig ist seine Lieblingsfarbe weiß; und eines seiner Lieblingswörter ist vierge, zumeist adjektivisch gebraucht. Ich weise voraus auf eines der berühmtesten Gedichte Mallarmés: Le vierge, le vivace et le bel aujourd'hui, in dem das »Weiß« der Reinheit verkörpert ist im Schwan, dem Symbol von Dichter, Dichtung und Makellosigkeit. Mehrerer Monate und etlicher Mahnungen des Freundes bedurfte es, bis Mallarmé sein Gedicht auf die junge Engländerin vorlegte. Es trägt den Titel Apparition 368 . Wer eine enthusiastische Beschreibung der weiblichen Schönheit oder einen gefühlvollen Preis der Liebe des Freundes erwartet, wird tief enttäuscht. Es fängt freilich an mit einem romantischen Requisit der Liebesdichtung, mit dem unverwüstlichen Mond, der immer neuen Generationen von Liebenden lyrische Komplizendienste leisten muß. Mallarmé läßt ihn einfach traurig werden: »La lune s'attristait.« Dann erscheinen etwas unvermittelt Seraphine in Tränen, die, den Bogen in der Hand, aus dem Frieden duftiger Blumen sterbende Geigen aus weißen Seufzern ziehen, die über das Azurblau der Blütenkronen gleiten. Es ist auf die hohe Musikalität dieser Verse zu achten, auf die schwebende Musikalität, bei welcher die liquiden r und l die Melodie der Vokalreihen tragen, auf Assonanzen und Alliterationen, die » blancs sanglots glissant sur l'azur des corolles«. Mallarmé hat auch von Verlaine gelernt, den er bewunderte:
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»Lettre à Henri Cazalis, 24.7. 1863«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 94. »Lettre à Henri Cazalis, 1.7. 1862«, in: Correspondance, Bd. 1, S.35136 (Hervorhebungen von E. K.). »Premiers poèmes«, in: Œuvres complètes, S. 30.
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La lune s'attristait. Des séraphins en pleurs Rêvant, l'archet aux doigts, dans le calme des fleurs Vaporeuses, tiraient de mourantes violes De blancs sanglots glissant sur l'azur des corolles.
Man hat in diesen Einleitungsversen die Erinnerung an den kurz vorher erfolgten Tod einer Schwester Mallarmés sehen wollen. Aber der Dichter gibt keinen eindeutigen Anhaltspunkt dafür, und wir brauchen uns nicht darum zu kümmern. Wichtig ist jedoch die Feststellung, daß für den Preis der Schönheit jener Engländerin zunächst eine Atmosphäre der Trauer geschaffen ist, von der man noch nicht weiß, ob sie sich auf jenes Mädchen, auf den Freund oder auf den Dichter selbst bezieht. Erst später ist zu erkennen, daß die erste Glücksstunde des Freundes zusammenfällt mit einem trübsinnigen Umherirren des nun eingeführten Ich, dem das gleiche Mädchen erscheint, gleichsam als Verkörperung aller bisherigen Träume, aber ungreifbar als bloße Erscheinung, real und irreal zugleich. Das konkrete Glück des Freundes – immerhin präzis benannt mit einem »premier baiser« -wird mit der Unerfülltheit des eigenen Sehens konfrontiert. Der »erste Kuß« ist bezogen auf das Mädchen, das dem Dichter, dem Ich, jedoch nur als Märchen-Erscheinung begegnet. Jetzt verstehen wir auch die ersten Verse besser: nicht im einzelnen, denn einzelnes soll ja nach dem Willen des Dichters gar nicht ganz entschlüsselt werden, aber als ein höchst komplexes, differenziertes und doch zu einer Synthese von Farben, Tönen und Emotionen gediehenes Stimmungsbild sind sie zu werten, dessen erlesener Reiz und dessen unnachahmliche Dichte aus der Verbindung von Realem und Irrealem erwachsen. Wenn die Seufzer »weiß« sind, dann wird hier nicht eine vorgängige, vergleichsweise naheliegende Synästhesie vorgeführt – eine solche wären eventuelle »blasse« Seufzer –, sondern der »Seufzer« als verhaltene Klage wird mit dem »Weiß« der Unschuld zusammengezwungen: »blasse« Seufzer stünden immerhin in der alten Tradition, dass unglückliche Liebe bleich, blaß und hohlwangig macht. »Weiße« Seufzer aber sind ganz neu! Die Synästhesie wird gewaltsam produziert und dadurch existent. Es treten die Vorstellung der Unschuld – sei's einer Verstorbenen, sei's einer vergangenen unglücklichen Liebe – und die Vorstellung der beherrschten Trauer zu einer Wortfigur zusammen, welche die Idee, die Essenz einer sehr spezifischen Melancholie hervorzaubert. »Sterbende Geigen aus weißen Seufzern, die über das Azurblau der Blütenkelche gleiten.« Unschuld, Traum sind akustisch, auditiv und taktil vereint. Die stillen Blumen sind «vaporeuses«, also von einer undurchsichtigen Transparenz wie Dunst. Sie sind entstofflicht. Aus diesen zu halbdurchsichtigen Schleiern entwirklichten Blumen holen Seraphine die sterbenden Geigen aus weißen Seufzern: es sind die gleichen Engel, von denen man weiß, daß sie sonst unaufhörlich das Lob Gottes zu singen bestimmt sind. Mitleidvoll suchen sie jetzt für ihren Bogen Geigen aus menschlichen Seufzern, um auf ihnen zu spielen. Mit ihnen trauert der Himmel selbst über den der Unschuld zugefügten Schmerz. Das ist alles total unwirklich! – nicht in seinen Elementen, aber in der Kombination dieser Elemente, die diese entwirklicht. Total unwirklich, und doch zur neuen, neugeschaffenen seelischen Wirklichkeit gediehen. Konstruiert, wenn Sie so wollen, aber zu einer poetisch erlebbaren Überwirklichkeit transfiguriert, die – in diesem Falle – an Bilder von Marc Chagall gemahnt. 135
Nach dieser Einleitung, Hintergrund für das Folgende, kommt die zeitliche und ereignishafte Präzisierung: » – C'était le jour béni de ton premier baiser.« Ein – im Gegensatz zu den im voraus angedeuteten Gefühlen – jetzt »gesegneter«, glücklicher Tag, für das Mädchen und den Freund. Sogleich wird diese glückhafte Ebene wieder verlassen. Das Dichter-Ich geht, in Erinnerungen verloren, durch die einleitend entworfene Seelenlandschaft, jetzt konkretisiert zur Stadtlandschaft, sich berauschend an dem »Duft der Trauer«, den der einmal »gepflückte Traum« im Herzen zurückläßt. »Parfum de tristesse« nimmt die »Trauer« des Mondes wieder auf: Ma songerie aimant à me martyriser S'enivrait savamment du parfum de tristesse Que même sans regret et sans déboire laisse La cueillaison d'un Rêve au cœur qui l'a cueilli.
Mit den elliptischen Metaphern »parfum de tristesse« und »cueillaison d'un Rêve« ist nicht nur eine ganze Dimension unfixierter schmerzlich-süßer Erinnerung erschlossen, sondern auch die Vorstellung vom »Verwelken« beschworen; und der »Duft der Trauer« ist der Duft verwelkender Blumen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der letzte Vers dieses Abschnitts: »La cueillaison d'un Rêve au cœur qui l'a cueilli.« »cueillaison« und »cueilli« – die Wiederholung ist Absicht – zwingen »cœur« in die substantielle Einheit herein, welche die Alliteration stiftet, und relevieren das großgeschriebene »Rêve«, das der Dichter an den der weinenden Séraphine anschließt. Dem Dichter, der so, die Augen zum alten Straßenpflaster niedergesenkt, trauernd durch die Straßen irrt, erscheint plötzlich, lachend, glücklich, am Abend noch Sonne im Haar, das Mädchen, das an diesem Tage seinen ersten Kuß erhielt. Für den Dichter ist dieses Mädchen das Märchenwesen seiner Jugend, die »Fee mit dem Hut aus Klarheit«, aus deren Händen es einst in seinen Träumen »weiße Sträuße aus duftenden Sternen schneite«: J'errais donc, l'œil rivé sur le pavé vieilli Quand avec du soleil aux cheveux, dans la rue Et dans le soir, tu m'es en riant apparue Et J'ai cru voir la fée au chapeau de clarté Qui jadis sur mes beaux sommeils d'enfant gâté Passait, laissant toujours de ses mains mal fermées Neiger de blancs bouquets d'étoiles parfumées.
Wiederum wird eine Struktur sichtbar, die primär musikalisch ist, die aber vordergründig bliebe, wäre sie nur das: »J'errais donc, l'œil rivé sur le pavé vieilli«. Vielleicht schon »errais«, sicher aber rivé und schließlich riant und »apparue [...] dans la rue« wirken, als hätte allein der »Rêve« sie erzeugt. Ähnliches gilt, wiederum an »rêve« angeschlossen, für »pavé vieilli«, »cheveux«, »voir«, aber auch schon »rêvant«, »vaporeuses«, »violes«, »s'enivrait«, »savamment«. Die »blancs bouquets« der letzten Zeile sind Entsprechung zu den »blancs sanglots« des vierten Verses, die »étoiles parfumés am Schluß weisen zurück auf das «parfum de tristesse» im mittleren Teil, dieses aber wieder auf den Anfang des Gedichts: »La lune s'attristait«. Es ist, als ob die Laute selbst weiterzeugen, die Wörter, die Spra-
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che selber produktiv, kreativ würde! Das »als ob « ist unzureichend: Mallarmé wollte es wirklich so. Nimmt man das Gedicht wörtlich, so ist fast alles unmöglich, unwirklich. An konkreten Daten liegen nur vor: Tag des Kusses, Gang des Dichters durch die Stadt, Begegnung mit dem Mädchen. Im übrigen aber liegt vor eine Komposition von Farben, Erinnerungen, Tönen, Empfindungen, die jenen bestimmten Tag nur noch zum bloßen Treffpunkt der Gefühle, zum Sammlungsort der Träume machen. Von dem Freund wird überhaupt nicht gesprochen. Und das Glück des Mädchens ist – kontrastierend – ganz und gar auf das Dichter-Ich bezogen. Der Schnee von weißen Sträußen duftender Sterne evoziert die unschuldigen Knabenträume von unbegrenztem Glück, heraufgerufen durch die märchenhafte Erscheinung eines Mädchens, dem der empfangene Kuß noch als Lachen auf den Lippen schwebt, wie die Tagessonne am Abend im Haar. Das Gedicht zeigt die Struktur der Zufallsbegegnung in der Straße der Stadt, und es ist darin sicherlich von Baudelaires Sonett A une passante angeregt. Aber die Figur des zufälligen Begegnens und Für-immer-Trennens zweier Menschen, die sich vielleicht geliebt hätten, die Kompositionsfigur des Sich-Verfehlens also, ist bei Mallarmé völlig verändert: die Frau – die bei Baudelaire in Trauerkleidern einherging, bei Mallarmé aber vor Glück strahlt – weckt nicht gegenwärtige Wünsche, sondern ruft vergangene Träume auf, über denen bereits die Schatten der Resignation lagern. Die Zukunftsperspektive, bei Baudelaire noch in dem »vielleicht«, auch in »niemals«, gewahrt, ist hier von vorneherein aufgegeben. Der ganze Vorgang ist zum Traum entwirklicht, und als Traum sollte er Gestalt gewinnen, indem er das reale Geschehen auflöst. Apparition wurde 1863 geschrieben, gehört also noch der ersten Periode an. Das Gedicht ist auch – wie wir sahen – noch durchaus verständlich. Die Interpretation hat es noch nicht allzu schwer. Das wird anders, wenn wir spätere Gedichte in Augenschein nehmen. Um 1864 verraten Gedichte wie Angoisse und Tristesse d'été eine Lebensangst, eine vertiefte Melancholie, die schon erkennen lassen, daß für Mallarmé der Ennui zu einer beherrschenden Lebenserfahrung wird. Im gleichen Jahr schreibt er an Cazalis: chaque jour le découragement me domine, je meurs de torpeur. Je sortirai de là abruti, annulé. J'ai envie de battre les murs de ma tête pour me réveiller. 369
Dieses tiefe, kaum begründbare Ungenügen am Leben verdichtet sich zu einer Erfahrung der Nichtigkeit und des Nichts. Während der hohe Anspruch der Kunst, gerade als Gegensatz zu und als Rettung aus der schlechten Wirklichkeit zur unablässigen Suche nach dem Reinen und Absoluten führt, offenbart der erweiterte Blick zunehmend die alleinige Existenz des Nichts. Während Mallarmé nächtelang über seiner Hérodiade sitzt, begegnet er dem Nichts in furchtbarer Gestalt. Darüber schreibt er im März 1864:
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»Lettre à Henri Cazalis, 23.3. 1864«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 111. 137
en creusant le vers à ce point, j'ai rencontré deux abîmes, qui me désespèrent. L'un est le Néant, auquel je suis arrivé sans connaître le Bouddhisme [...] Oui, je le sais, nous ne sommes que de vaines formes de la matière, mais bien sublimes pour avoir inventé Dieu et notre âme. 370
Mallarmé hat den frommen Glauben seiner Jugend restlos verloren. Es bleibt nur die Hoffnung, die Abgründe des Nichts mit der dichterischen Verwirklichung der nicht existierenden Seele zu füllen, den Traum zu schaffen, der nicht existiert, durch die herrliche Lüge der Kunst: [Proclamer], devant le Rien qui est la vérité, ces glorieux mensonges! Tel est le plan de mon volume lyrique et tel sera peut-être son titre, La Gloire du mensonge ou le Glorieux mensonge. Je chanterai en désespéré 371
Aber die Kunst, die aus dem Nichts erwächst, erhält aus diesem ihr Gesetz: Das absolu der Dichtung und das néant der Existenz werden schließlich identisch. 1866 schreibt Mallarmé in einem Brief: »après avoir trouvé le Néant, j'ai trouvé le Beau« 372 : Der unlösbare Zusammenhang mit seiner Dichtung erhellt auch aus einem Prosaabschnitt der Variations sur un sujet: Crise de vers. Dort heißt es von dem idealen Gedicht, daß es den »totalen Rhythmus« 373 erstreben müsse und daß dies bedeute: ein schweigendes Gedicht, aus weißen Stellen: »[...] le poème tu, aux blancs« 374 . Das Schweigen ist die Entsprechung des Nichts; die Entsprechung des Nichts, des negativen Absoluten, ist das farblose Weiß; das Weiß aber ist die absolute Reinheit, ist auch das » Weiß« des Papiers, seiner »Unbeschriebenheit«. Unbeschrieben aber setzt voraus, daß es beschrieben werden sollte, dafür da ist. Also zugleich: Negativität. Das gilt auch für vierge. Mallarmé verfolgt seine Gedanken mit einer erschreckenden Konsequenz und Logik: Absolutes, Nichts, fleckenlose Reinheit – diese Bestimmungen einer – in exakter Entsprechung zur totalen Ennui-Erfahrung – ins Leere umschlagenden Idealität fallen schließlich zusammen mit der kalten, unberührbaren Schönheit, der Sterilität.
Die zweite Schaffensperiode – das Thema der sterilen Schönheit in der »Hérodiade« Das wird die Thematik einer der berühmtesten Dichtungen Mallarmés sein: der Hérodiade. Den Weg hatte Baudelaire gewiesen, dessen Vorliebe für die Lesbierinnen und dessen Haß auf die unreine Natur Resultate des gleichen Lebensgefühls waren. Mit Recht hat die Forschung bei der Suche nach Anregungen für Mallarmés Hérodiade auf die folgenden Baudelaire-Verse hingewiesen:
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»Lettre à Henri Cazalis, fin avril 1866«, ebd., S. 207. Ebd., S. 208. »Lettre à Henri Cazalis, juillet 1866«, ebd., S. 220. »Variations sur un sujet« (Crise de vers), in: Œuvres complètes, S. 367. Ebd.
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Ses yeux polis sont faits de minéraux charmants Et dans cette nature étrange et symbolique Où l'ange inviolé mêle au sphynx antique, Où tout n'est qu'or, acier, lumière et diamants Resplendit à jamais comme un astre inutile La froide majesté de la femme stérile. 375
Die »kalte Majestät der unfruchtbaren Frau«, der unberührten Engel, die sich mit der antiken Sphynx verbinden, mit Augen aus betörenden Mineralen, ein unnützes Gestirn. Damit ist ziemlich genau das Wesen von Mallarmés Hérodiade-Gestalt gekennzeichnet. Und wörtliche Anklänge sichern diese Quelle. Wie sehr das Thema der sterilen Schönheit in der Luft lag, wie sehr es Gipfel einer Epoche der Lyrik war, die ihre Grundmotive zur letzten Konsequenz voranzutreiben versuchte, zeigt der Umstand, daß man außer auf Baudelaire noch auf eine ganze Reihe möglicher oder wahrscheinlicher Vorgänger bzw. Vorbilder verweisen kann: auf das Gedicht Isis von Villiers de l'Isle-Adam, auf das Gedicht Diane au Bois von Théodore de Banville, auf die Salammbô Flauberts. Es liegt hier ein Grundthema vor, durch das die ganze Zeit ein unverwechselbares Signum erhält. Der Beginn der Arbeit an der Hérodiade fällt zusammen mit dem Beginn der zweiten Periode in Mallarmés Dichten, mit der Neukonzeption seiner Sprachauffassung und Poetik. Im Oktober 1864 schreibt er an Cazalis: Pour moi, me voici résolument à l'œuvre. J'ai enfin commencé mon Hérodiade. Avec terreur car j'invente une langue qui doit nécessairement jaillir d'une poétique très nouvelle, que je pourrais définir en ces deux mots: Peindre non la chose, mais l'effet qu'elle produit.
Und weiter die uns schon bekannte Stelle: »Le vers ne doit donc pas [...1 se composer de mots, mais d'intentions, et toutes les paroles s'effacer devant les sensations...« 376 Mallarmé wollte die Hérodiade zu einem Theaterstück erweitern. Von den Vorarbeiten dazu ist nichts erhalten. Der Text, der heute allein vorliegt, besteht aus drei Teilen, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind: 1. Ouverture, 2. Scène, 3. Cantique de Saint Jean. Zuerst ist das Mittelstück entstanden: Scène, ein Dialog zwischen Hérodiade und ihrer Amme. Mallarmé unterbricht die Arbeit mehrfach. Erst 1887 wird der endgültige Text der Scène veröffentlicht. Der erste Teil, Ouverture, ein Monolog der Amme, ist später geschrieben und erst postum erschienen. Das gleiche gilt von dem dritten Teil, dem Cantique de Saint Jean. In Mallarmés Hérodiade sind die Herodias und die Salome der Bibel zu einer Gestalt verschmolzen. Im 19. Jahrhundert erst, zum ersten Mal in Heinrich Heines Atta Troll, ist eine geheime Liebesbeziehung zwischen Herodias bzw. Salome und Johannes dem Täufer, dessen Kopf Salome verlangte, konstruiert. Die stärkste Ausprägung hat dieses neue Motiv bekanntlich in Oscar Wildes Salomé gefunden. Auch Mallarmé übernimmt es, aber in einem anderen Sinn: die in ihre Reinheit 375
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Charles Baudelaire, »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Claude Pichois), Bd. 1, Paris 1975, S. 29 (Hervorhebungen von E. K.). »Hérodiade«, in: Œuvres complètes, S.1440 (Anmerkung). 139
vernarrte, kalte Schönheit Hérodiade fühlt sich durch einen Blick des Johannes in ihrer Jungfräulichkeit versehrt. Dieser Makel kann nur mit dem Blut des Mannes getilgt werden. Aus Mallarmés Werk, das letztlich Fragment geblieben ist, geht dieses Grundmotiv nicht deutlich hervor. Graf Robert de Montesquiou – das Modell für den Helden von Huysmans Roman A Rebours und für den Charlus von Marcel Proust – bezeugt es jedoch in seinen Erinnerungen völlig glaubhaft als eingestandene Absicht Mallarmés. Ouverture ist, wie gesagt, der Monolog der Amme, in dem das Charakterbild Hérodiades gespiegelt wird, aber durch ein dichtes Netz von Metaphern und Bildern hindurch. Er beginnt mit Zeilen, in denen vermöge ausgesuchter Wortwiederholungen, Parenthesen und Reime das Nichts eisig und feindlich in den Vers schneidet: Abolie, et son aile affreuse dans les larmes Du bassin, aboli, qui mire les alarmes, Des ors nus fustigeant l'espace cramoisi, Une Aurore a, plumage héraldique, choisi Notre tour cinéraire et sacrificatrice, Lourde tombe qu'a fuie un bel oiseau, caprice Solitaire d'aurore au vain plumage noir... Ah! des pays déchus et tristes le manoir! 377
Schlüsselwort dieser Verse ist aboli, »abgeschafft«, »beseitigt«. »Abgeschafft«, zum Nichts geworden ist die Morgenröte, und so kann sie, genau wie in einem anderen Gedicht Mallarmés – Don du poème – als heraldischer Vogel, als Rabe erscheinen, der mit seinen schrecklichen Flügeln die Tränen des ebenfalls beseitigten Teiches schlägt, der mit nacktem Gold den scharlachroten Raum peitscht und sich als Sitz den Turm der Hérodiade, »notre tour«, erwählt hat, den Turm der Asche und des Opfers, schweres Grab, aus dem ein schöner Vogel entflohen ist. Welcher schöne Vogel vor dem schwarzen Raben des Nichts geflohen ist, sagen die folgenden Verse: Pas de clapotement! L'eau morne se résigne, Que ne visite plus la plume ni le cygne Inoubliable [...]
Der weiße unvergeßliche Schwan, Symbol der Reinheit, gibt sich selber auf; er verbrennt sich unter dem scharlachroten Himmel, den der Rabe, die schwarzgewordene Morgenröte, peitscht. Ist er auch der Schwan Ledas? Ist er Jupiter? Die Liebe? Jetzt verstoßen? Der Monolog wird zum Aufschrei: »Crime! bûcher! aurore ancienne! supplice!« Gemeint ist, ohne daß dies auch nur einmal direkt ausgesprochen würde: die Selbstverbrennung der Reinheit, die sich in kalter, selbstvergötzender Sterilität vernichtet. Gemeint ist Hérodiade, die einem Stern verfiel, der niemals zum Leuchten kam: »le diamant pur de quelque étoile [...] qui ne scintilla jamais.« Sämtliche folgenden Verse des Monologs sind eine verschleiernde Evokation Hérodiades, eingesenkt in Gegenstände ihrer Umgebung, in ihre Attribute, ihre 377
Ebd., S. 41.
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Kleidung gemäß dem Prinzip, die Worte nur als Zeichen der Wirkungen zu setzen, mit Absichten den Vers aufzubauen – alles mit einem Nenner, einer Grundvorstellung, dem Schatten: »ombre magicienne«, »ombre d'une princesse«; und auf eine Farbe: die der Finsternis und des Todes, auf die Zeit der Agonie und auf das Schweigen: A l'heure d'agonie et de luttes funèbres! [...] du silence et des noires ténèbres. 378
Die sterile Selbstvergötzung der Keuschheit gerinnt zu immer neuen Bildern. Ist in ihrem Bett überhaupt einmal der Duft menschlichen Haares zum Baldachin aufgestiegen? Dieser Duft in den Haaren des »kalten Kindes« 379 ist eingeschlafen, weil unnütz geworden; das Gold erloschen und der Glanz verhüllt. Der Mond wird zum Zeiger einer Uhr, an welcher als Gewicht Satan hängt. Und die Uhr zersticht die Zeit mit ihrem Ticken aus Tränen, Tropfen für Tropfen; kein Engel begleitet mehr ihren Schatten: Ni le dais sépulcral à la déserte moire, Le parfum des cheveux endormis. L'avait-il? Froide enfant, de garder en son plaisir subtil Au matin grelottant de fleurs, ses promenades, Et quand le soir méchant a coupé les grenades! Le croissant, oui le seul est au cadran de fer De l'horloge, pour poids suspendant Lucifer, Toujours blesse, toujours une nouvelle heurée, Par la clepsydre à la goutte obscure pleurée, Que, délaissée, elle erre, et sur son ombre pas Un ange accompagnant son indicible pas!
Sie werden vielleicht verspürt haben, wie diese Verse – ihrem Inhalt getreu – auf Dissonanzen und Wortzusammenstößen aufgebaut sind: Zerstörung jeder Harmonie, aus der eben als Idee die Selbstzerstörung zum Nichts aufsteigen soll. Durch die harten Enjambements und Rejets bricht sich der Rhythmus des Satzes am Rhythmus des Verses. Das Versende mit seinem syntaktisch so eng mit dem folgenden verbundene Reimwort schneidet geradezu schmerzhaft in den Satz. Besonders deutlich etwa: » Que, délaissée, elle erre, et sur son ombre pas/Un ange accompagnant son indicible pas!« Das Wagnis des homonymen Reimpaares pas – pas wirkt wie eine schrille Dissonanz, welche die Harmonie geradezu aufruft, bloß um sie sogleich zu vernichten. Das sind Verse von jener Art, von der Mallarmé sagte: »mon vers [...] fait mal par instants et blesse comme du fer!« 380 Die Ouverture schließt mit der Wiederholung des Bildes von Schwan und Stern. Die Röte der prophetischen Zeit weint traurig auf das Mädchen herab, das sich im eigenen Herzen exiliert, weil es dem sterbenden Sterne folgt, der nicht mehr glänzt:
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Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., S.1441 (Anmerkung). 141
[...] l'enfant, exilée en son cœur précieux Comme un cygne cachant en sa plume ses yeux, Comme les mit le vieux cygne en sa plume, allée De la plume détresse, en l'éternelle allée De ses espoirs, pour voir les diamants élus D'une étoile mourante, et qui ne brille plus. 381
Im zweiten Teil, Scène, dem Dialog zwischen Amme und Hérodiade, schließt die Amme an ihren Monolog an: »Tu vis! ou vois-je ici l'ombre d'une princesse?« 382 Zweimal versucht die Amme, die totgeglaubte Hérodiade zum Leben zu erwecken, das heißt ihre stolze Sterilität und Unzugänglichkeit zu brechen: durch einen Kuß und durch das Angebot von duftendem Haarwasser. Angewidert von der unkeuschen Berührung stößt Hérodiade die Amme zurück: ihre Haare sind »immaculés«, unbefleckt und daher »immortels«; ein Kuß würde sie töten. Und kein Parfum soll ihr Haar zum Instrument des Vergessens menschlicher Leiden machen: ihr Haar soll Gold sein, für immer die Jungfrau unter den Düften, mit grausamen Blitzen von der »froideur stérile du métal « 383 . Aber der Spiegel, in den Hérodiade jetzt blickt, wird für einen Augenblick zur Verführung durch die unbarmherzige Kälte, die er zurückwirft. Es ist die Eiseskälte des gefrorenen Ennui, Symbol der unfruchtbaren Öde und Einsamkeit: »0 miroir!/Eau froide par l'ennui dans ton cadre gelée«. Wie viele Male hat sie in diesem Spiegel Träume gesucht und Erinnerungen, die wie Blätter sind, und immer fand sie sich selber wie einen fernen Schatten: an manchen Abenden mußte sie im unerbittlichen Spiegel die ganze Nacktheit ihres Traums erkennen: Mais, horreur! des soirs, dans ta sévère fontaine, J'ai de mon rêve épars connu la nudité!
Aus der Klage über die dergestalt offenbarte Nichtigkeit ihres hohen Traums erwächst eine Frage, die die Rückkehr ins Menschlich-Irdische, Lebendige anzukündigen scheint: »Nourrice, suis-je belle?« Zum dritten Male versucht es jetzt die Amme, ermutigt durch diese Anzeichen von Schwäche. Sie macht eine Bewegung, als wolle sie das Haar des Mädchens ordnen. Sofort stößt Hérodiade sie zurück, wie angeekelt von der unreinen Berührung dieser »main [...] sacrilège«, dieser Versuchung durch einen Dämon. Die Amme aber will ihre Chance wahren; sie suggeriert in zweideutigen Anspielungen auf einen künftigen Liebhaber erotische Wünsche und erschreckt Hérodiade durch die Vision eines Körpers, der eingehen wird wie eine welkende Blume; sie beschwört die Qual verspäteter Reue. Hérodiade rettet sich in die Bejahung des Grauens und der Versteinerung, in den sublimen Egoismus der nur für sich selbst daseienden Einsamkeit: »Oui, c'est pour moi, pour moi, que je fleuris, déserte!« 384 Nur für sich allein, für niemand sonst, soll ihre Schönheit blühen. Trotzig bejaht sie ein Leben, in dem der Schrecken un-
381 382 383 384
Ebd., S.43. Ebd., S.44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 47.
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fruchtbarer Keuschheit regiert, wo sie, im kalten Schimmern blasser Klarheit auf ihrem Lager ruht wie ein unbewältigtes Reptil mit seinem unnützen Fleisch: J'aime l'horreur d'être vierge et je veux Vivre parmi l'effroi que me font mes cheveux Pour, le soir, retirée en ma couche, reptile Inviolé sentir en la chair inutile Le froid scintillement de ta pâle clarté Toi qui te meurs, toi qui brûles de chasteté, Nuit blanche de glaçons et de neige cruelle!
Aber die verzweifelte Apotheose der eisigen, narzißtischen Reinheit, der inhumanen, unnützen Idolatrie und der brennenden Keuschheit, endet in der Erkenntnis: »oui! je le sens, je suis seule.« 385 Vergeblich wehrt sie sich gegen eine Zukunft, in welcher der »verhaßte Blick der Venus« sich an ihr rächen wird, der Stern, dessen Licht jeden Abend verlangend durch die Zweige der Bäume glüht. An die Stelle des Schlußsymbols der Ouverture vom sterbenden kalten Stern, der nicht mehr leuchtet, tritt jetzt das Symbol des glühenden Venussterns. Das »Adieu«, mit dem Hérodiade die Amme verabschiedet, hat eine doppelte Bedeutung: Abschied vom alten Ideal der unfruchtbaren, hybriden Reinheit, von einer Schönheit, die unnütz ist und das Nichts nur bestätigt, die tot ist, die jetzt als »Lüge« der »nackten Blume ihrer Lippen « erscheint. Die Lüge der Lippen ist aber bereits wieder eine doppelte: denn sie lügt auch in der Umkehr. Dafür tritt jetzt die Hoffnung auf Unerfahrenes, Unbekanntes ein, auf ein Geheimnis, das sich nach der Erfahrung zur Verfügung erschließen wird und durch die »Trennung von den kalten Edelsteinen«: Vous mentez, ô fleur nue De mes lèvres. J'attends une chose inconnue Ou peut-être, ignorant le mystère et vos cris, Jetez-vous les sanglots suprêmes et meurtris D'une enfance sentant parmi les rêveries Se séparer enfin ses froides pierreries.
Den Zusammenbruch des Stolzes dürfen wir uns also nicht als endgültig vorstellen. Die Erkenntnis der eigenen Schwäche, der verletzte Stolz, wird tödlich für den Mann, der diese Schwäche erspäht. Und dieser Mann ist sogar ein Heiliger, Johannes der Täufer. Der dritte Teil ist der Todesgesang des Täufers, in triumphierender Bejahung des auserwählten Märtyrertums. Interpunktionslos spannt sich ein einziger Satz über sieben Vierzeilerstrophen hymnischen Charakters. Der letzte Sinn der Cantique de Saint-Jean wird sich wohl kaum erschließen lassen – Mallarmé hat keine Hilfe für seine restlose Entschlüsselung gegeben. Vielleicht ist es der, daß die Erweckung der Schönheit zum Leben zugleich den Tod bedeutet. Die Alternative führt, wie auch immer entschieden, jedesmal zurück ins Nichts.
385
Ebd., S. 48. 143
»L'après-midi d'un faune« – Der Versuch der Verewigung der Schönheit als Urproblematik der Dichtung Mallarmés Als Mallarmé die Arbeit an seiner Hérodiade zum erstenmal unterbrach, tat er es, um seinen Monologue d'un Faune zu schreiben, eine Ekloge, die zuerst für die Bühne bestimmt war. Das war 1865. In jener Zeit blühte die Mode der Intermezzi, der Einakter, in denen ohnehin berühmte Schauspieler zusätzlich brillieren konnten. 1863 hatte Théodore de Banville einen solchen Einakter geschrieben und aufführen lassen: Diane au bois, eine Pastorale, die auch als Anregung für Mallarmés »Faun« gelten darf. Banville selber war es, der Mallarmé ermutigte, etwas Ähnliches zu schreiben. Der Monologue d'un Faune gelangte jedoch nicht zur Aufführung, weil er nicht genügend Handlung enthielt. Er wurde auch nicht veröffentlicht. Elf Jahre später machte sich Mallarmé an eine Überarbeitung, die – mit einer einzigen Ausnahme – keinen Vers der alten Fassung in seiner ursprünglichen Gestalt beließ. Auch der Titel wurde geändert: aus dem Monologue d'un Faune wurde L'après-midi d'un faune. Mallarmé reichte das Gedicht der Zeitschrift Parnasse contemporain ein. Die Herausgeber, unter denen der noch junge Anatole France schon eine starke Rolle spielte, lehnten es ab, obwohl Banville dafür sprach und obwohl Leconte de Lisle den Abdruck empfahl, weil das Gedicht, wie er meinte, ohnehin niemand gefallen oder mißfallen würde, da kein Mensch es verstehe. Es blieb bei der Ablehnung. Mallarmé reagierte sauer, entschloß sich dann aber, sich nicht zu ärgern: Si j'avais pris autrement la chose [...] je me croirais obligé d'aller gifler les trois juges, quels qu'ils soient: et leur flanquer mon pied quelque part… 386
Der Skandal öffentlicher Ohrfeigen und Fußtritte »quelque part« fand also nicht statt. Mallarmé ließ den Après-midi dun faune ein Jahr später – 1876 – als Luxusausgabe in einer Auflage von 195 Exemplaren, illustriert von Manet, drucken. Manet, dann die Musik von Débussy: es gibt doch eine »wechselseitige Erhellung der Künste«. Was ist nun der Inhalt dieses berühmten Gedichts? Ein Faun entdeckt durch das Laubwerk hindurch einen Schwarm von Najaden, die bei seinem Anblick entsetzt die Flucht ergreifen. Zwei Nymphen aber ahnen nichts von der Gefahr: sie schlafen, sich innig umschlungen haltend, im Schatten eines Baums am Fluß. Der Faun trägt sie behutsam in einen sonnendurchglühten Garten. Er will die Einheit ihrer Zweisamkeit nicht trennen, er will sie beide besitzen und kann sich nicht für eine von ihnen entscheiden bzw. nicht für ein Nacheinander. Seine Unentschiedenheit dauert so lange, bis beide seinen Armen entgleiten, fliehen und verschwinden. Der Faun bleibt mit seiner Erinnerung zurück, von der er nicht mehr weiß, ist sie Erinnerung an reales Geschehnis oder nicht vielleicht nur Erinnerung an einen Traum, geboren allein aus seinen Wünschen und Begierden. Traum und Wirklichkeit vermischen sich; der Faun schläft wieder ein. Unter den möglichen Vorbildern und Anregungen, welche die Forschung ausgemacht hat, ist vor allem die schon erwähnte Pastorale Banvilles zu nennen: Diane 386
»L'après-midi d'un faune«, ebd., S.1455 f. (Anmerkung).
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au bois. Dort scheitern die erotischen Pläne eines Satyrs, weil er sich zwischen zwei Nymphen nicht entscheiden kann. Albert Thibaudet 387 vermutete, daß ein Gemälde von François Boucher, das Mallarmé in der Londoner Nationalgalerie gesehen hatte, ihm die Anregung für sein Gedicht gegeben hätte. Es handelt sich um das Bild Pan et Syrinx, auf dem man zwei rosige Nymphen an einer Quelle erblickt und über sie, begehrlich gebeugt, Pan. Ein besonders scharfsinniger Forscher kam auf die Idee, Mallarmés Faun verdanke seine Existenz der Einsicht des Dichters, daß er selber ein Fauntyp sei, weil er spitzige Ohren habe. Damit sind nun freilich auch nicht alle Rätsel gelöst, und wir tun besser daran, Mallarmé und seinen Faun nicht biographisch oder anthropologisch zu identifizieren. Und doch hat bereits der erste Vers des Gedichts eine doppelte Bedeutung, die Faun und Dichter gleichsetzt, allerdings nicht im biographischen Sinne, sondern auf der Ebene der Kunst: »Ces nymphes, je les veux perpéteur.« 388 Es spricht der Faun. Die Nymphen sind den Händen des Fauns entglitten, verschwunden. Das Erlebnis wird irreal, zum Traum, doch diesen gilt es festzuhalten. Die »Verewigung« des Traums, der entschwundenen Erscheinung, des Irrealen, ist aber gearde auch die Aufgabe des Gedichts und mithin des Dichters. Jener erste Satz bildet keinen vollständigen Vers. Zum Alexandriner, der in dieser Dichtung verwendet wird, fehlen noch zwei Silben. Mallarmé setzt sie, allein, in die zweite Zeile, so daß der einleitende Satz isoliert dasteht, wie ein Programm, und so daß die weißgebliebene Stelle – ein stummer Alexandriner gleichsam – die Pause der suchenden Erinnerung markiert. Was sie findet, ist zunächst nichts weiter als ein atmosphärischer, körperloser Abglanz, ungreifbar, obwohl Farbe von Körpern, in schlaferfüllter Luft: Si clair, Leur incarnat léger, qu'il voltige dans l'air Assoupi de sommeils touffus.
So wenig fixierbar soll die Erinnerung an den Körper der Nymphen sein, daß der Dichter auch auf das existenzsetzende Verbum »ist« verzichtet – »Si clair, leur incarnat léger«. Und mitten im Vers, das heißt an der im Alexandriner für Zäsuren völlig ungewöhnlichen Stelle, bricht dieser erste Aufschwung der Erinnerung ab, so als hätte sie sich vollends aufgelöst. In insgesamt zwei Versen hat Mallarmé ein impressionistisches Bild beschworen, das eine Stimmung von schlaftrunkenem Sommermittag darbietet, in welcher die Luft ganze Bündel von Schlaf enthält und die Besinnung sich träge zur Konturlosigkeit verflüchtigt. Dem Faun kommen Zweifel, ob die Nymphen nicht überhaupt nur Traumgebilde waren, erstanden aus der Summe von Begierden vieler Nächte: Aimai-je un rêve? Mon doute, amas de nuit ancienne, s'achève En maint rameau subtil, qui, demeuré les vrais Bois mêmes, prouve, hélas! que bien seul je m'offrais Pour triomphe la faute idéale de roses. 387 388
Albert Thibaudet, La Poésie de Stéphane Mallarmé, Paris 1926, S. 394. »L'aprés-midi d'un faune«, in: Œuvres complètes, S. 50. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 145
Der Faun wird hier zum Philosophen, was man nur deshalb nicht sogleich merkt, weil die Aufmerksamkeit von dem auffälligen Bild und von dem Geheimnis der »faute idéale des roses« gefesselt wird. Erschien in den ersten Versen das Körperhafte der nackten Nymphen in schwebende Farbspuren der schlafschwangeren Luft verflüchtigt, so wird jetzt ein rein Geistiges, das daraus entstand, in Konkretes verwandelt. Der Zweifel, ob das Erlebnis mit den Nymphen überhaupt Realität war, verzweigt sich bis in feinste Verästelungen, das heißt bis in die letzten Überlegungen; die »feinen« Äste nehmen das Bild sofort wieder ins Geistige zurück, denn »fein« wird mit »subtil« ausgedrückt. Die Vorstellung des Zweigs aber löst eine Assoziationskette aus, welcher der Dichter folgt, weil sie gerade eine seiner Grundintentionen instrumentiert: den Übergang vom Realen zum Irrealen und umgekehrt. Die Unfähigkeit zu sagen, was wirklich war, gibt allein dem Zweifel Realität; und so verwandeln sich die Verstellungen des Zweifels zum konkreten Walde selbst; »demeurés les vrais / Bois mêmes«. Durch diesen Kunstgriff verwandelt sich aber der Wald, das Rosengebüsch, in dem doch die Begegnung mit den Nymphen stattgefunden haben müßte, kraft des Zweifels selber in Irreales zurück. Und dieses Irreale, dieser Traum, mit dem der Faun – wie er sagt – sich einem trügerischen Triumph darbot, erscheint nun, weil plötzlich die Perspektive des Dichters hinzukommt, als die eigentliche Wesenheit: »bien seul je m'offrais / Pour triomphe la faute idéale de roses«. Anstatt die Rosen zu pflücken, hat er sich an ihre »ideale Abwesenheit« gehalten. Das heißt aber: sie sind nicht als Einzelnes, sondern nur als Essenz, als Idee, wirklich. Was der Faun, hier wie stets in der bukolischen Literatur Vertreter des lasziven, naturhaft-triebhaften Prinzips, als selbstverschuldeten Trug beklagt, erscheint durch die komplex-paradoxale Formulierung als eine Mallarmé heilige Überzeugung, die Thema und Aufbau des Ganzen erhellt: das Unsagbare, Ideale, Traumhafte fixieren, dessen man im Einzelnen und Dinghaften nicht habhaft werden kann. »Rose« ist im ganzen Werk Mallarmés auch Symbol der Dichtung, der Verwandlung des Sinnlich-Materiellen in geistige Substanz. Das ganze Gedicht fixiert das Unaussprechbare des Wachtraums, der sich anstrengenden und wiederaufgebenden Erinnerung. Der Faun indessen kann sich dabei noch nicht beruhigen: » Réfléchissons ...«. Nachdenken soll die dunkle Erinnerung erhellen – der Rest des Verses bleibt weiß, und erst nach einem großen Durchschuß führt ein Satz weiter, dessen erster Teil unterschlagen wird: ou si les femmes dont tu gloses Figurent un souhait de tes sens fabuleux!
Aber die Erinnerung nimmt Konturen an. Die Nymphen waren ja so verschieden: Sollte die Illusion aus den blauen und kalten Augen, der Quelle von Tränen, der einen, keuscheren der beiden Nymphen, aufgestiegen sein? Aber kann die andere, deren Seufzer er vernahm, nur ein heißer Mittagswind in seinem zottigen Fell gewesen sein und nicht mehr? Aber nein! – »que non«. Es ist nur die eigene, sinnlich erregte Phantasie, und in der trägen, schweren Hitze, welche die Morgenfrische verdrängt hat, murmelt kein anderes Wasser als das, was seine Hirtenflöte in das von Tönen benetzte Wäldchen ergießt und den Ton in trockenen Regen auflöst, so 146
daß er als sichtbarer und heiterer Kunsthauch der Inspiration zum Himmel aufsteigen kann: [...] il disperse le son dans une pluie aride, C'est, à l'horizon pas remué d'une ride, Le visible et serein souffle artificiel De l'inspiration, qui regagne le ciel.
Die Kunst, der Gesang der Hirtenflöte, ist das einzig Wirkliche. Der Hauch des Flötenspielers verwandelt sich zum »Regen von Tönen«, dessen Atem in unbekannte Höhen dringt. Wieder ist der Faun zum Sprecher für die Mallarmésche Ästhetik geworden. Der Gedanke an seine Kunst gibt ihm noch einmal das Vertrauen zurück, die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit der Nymphenbegegnung doch noch zu erkennen. Er ruft die Flußufer Siziliens – des arkadischen Landes – auf zu erzählen, wie es war: Contez, in Großbuchstaben, als Beschwörung einer sich im Dunst des Mittags auflösenden Wahrheit. In 61/4 Versen wird nun – kursiv gedruckt – in indirekter Rede der Vorgang berichtet: CONTEZ »Que je coupais ici les creux roseaux domptes Par le talent [...]« 389
Erzählt, daß ich hier die hohlen Schilfrohre schnitt, welche das Talent gezähmt – das heißt die Schilfrohre, die der Künstler zur Flöte verwandelt –, wie auf dem grau-grünen Gold der fernen Wiese ein animalisches Weißes wogte und wie dieses Weiße sich beim langsamen Präludium meiner Flöte als Schwarm von Schwänen, nein, als Schwarm von Najaden flüchtend rettete oder untertauchte... Die ganze mit Contez eingeführte Stelle steht im Präsens, weil das Gegenwartstempus dem Bericht den Geschehnischarakter sogleich wieder zur Hälfte entzieht und zum Traume verwandelt, zur nur visionären Gegenwart, so wie die Ungewißheit, ob es Schwäne oder Najaden waren, und das »oder« zwischen »retten« und »untertauchen« erneut den Zweifel heraufruft: »Ce vol de cygnes, non! de naïades se sauve Ou plonge...« 390
Der Vers läuft ins Leere aus, wie die sich auflösenden Konturen der vagen Erinnerung. Der Faun bricht ab. Jeder Versuch, zur Gewißheit zu gelangen, scheitert an der Mittagsglut. Der Faun verzichtet auf eine künstlerische Evokation, kehrt zurück zu seiner tierisch-erotischen Natur, zu einer Sinnlichkeit, die Realitäten verspricht. Gewiß trägt er in seinem Brustfell den Biß eines göttlichen Zahns, Zeichen seiner künstlerischen Berufung, aber seine Kunst, seine Flöte, erzeugt doch nur eine leere, monotone Folge, eine alles versprechende und nichts haltende Modulation der Liebe. Weg also mit der Flöte, dem Instrument, das die Liebe vertreibt, indem sie sie nur besingt – so wie ihr Ton die Nymphen vertrieben hat! Syrinx, die Flöte aus 389 390
Ebd., S.50f. Ebd., S. 51. 147
Schilf, soll wieder am See anwachsen, blühen und ihn erwarten, während er, zum Sinnentrieb zurückkehrend, lange von den göttlichen Frauen reden und in vergötzenden Bildern noch ihrem Schatten den Gürtel rauben will, trunken vom Wein und von der Lust: Tâche donc, instrument des fuites, ô maligne Syrinx, de refleurir aux lacs où tu m'attends! Moi, de ma rumeur fier, je vais parler longtemps Des déesses; et par d'idolâtres peintures, A leur ombre enlever encore des ceintures […] 391
Der plötzlich aufbrechende Haß gegen die Hirtenflöte ist der Haß des Triebwesens gegen den Zwang zur Vergeistigung, der doch – Urproblematik aller Kunst – sinnliche Materialität als zu überwindende voraussetzt. Wir müssen uns hier des mythologischen Themas erinnern: Des Fauns Haß ist panischer Herkunft, denn Pan hatte einst die Nymphe Syrinx verfolgt, die seinem gierigen Zugriff durch Verwandlung in das Schilfrohr entzogen wurde, das Apollo zum Instrument der Kunst bestimmte. Der Aufruhr des Fauns ist der Aufruhr der Triebnatur gegen die Verflüchtigung des Triebs in der Kunst, gegen die Vergeistigung des Sinnlichen. Jetzt verzichtet der Faun auf den Anruf der sizilischen Musen, deren Erzählung dessen, was war, seine Phantasie nicht befriedigt. Er ruft Erinnerungen auf, die seine Phantasie zum Trümmerfeld erotischer Sehnsüchte zu wandeln vermag: » O nymphes, regonflons des SOUVENIRS divers«. Stand oben »Contez« in Großbuchstaben gedruckt, so jetzt »souvenirs«. Das Wissen aus dem Bericht führte ins Leere, Ungreifbare. Die von der erotischen Phantasie vertieften Erinnerungsspuren sollen den Traum zur sinnlich erlebbaren Realität verwandeln: »aufblähen« – »regonfler« will er die Erinnerungen. Und jetzt wird, wieder kursiv und wieder zum Präsens übergehend, berichtet, wie die Nymphen, mit Schreckensrufen vor seinem lüsternen Auge flüchten, wie sie ihr Glühen im Fluß ertränken, wie das »herrliche Bad der Haare in der zitternden Klarheit des edelstein-funkelnden Wassers« 392 entschwindet. Nur zwei Nymphen bleiben liegen, eng im Schlaf umschlungen mit »verwegenen« Armen – »bras hasardeux«. Die sinnliche Überreizung des Fauns sieht ein Bild, wie es das 18. Jahrhundert in die Bukolik projizierte, nicht ohne Anknüpfungspunkt an frühere Schäferdichtung: die Nymphen umschlingen sich in der sehnsuchtsvollen Qual der Unerfüllbarkeit der lesbischen Liebe; sie genießen die Sehnsucht, die aus dem Übel erwächst, zwei sein zu müssen, sich nicht vereinigen zu können. Ohne ihre Umschlingung zu lösen, trägt der Faun sie aus dem »frivolen Schatten« dieser zweideutigen Nymphenliebe zu einem Gebüsch, dessen Rosen all ihren Duft zur Sonne verströmen und in dem der Faun seine Gier im hellen Licht des Tages stillen will. Hier unterbricht der Faun die Folge der »aufgeblähten« Erinnerungen, hingerissen von der »wilden Wonne« am langsam besiegten jungfräulichen Widerstand, von der Flucht vor der »trinkenden Feuerlippe«, dem geheimen Schrecken des noch unschuldigen nackten Fleisches: 391 392
Ebd. Ebd., S. 52. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate.
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Je t'adore, courroux des vierges, ô délice Farouche du sacré fardeau nu qui se glisse Pour fuir ma lèvre en feu buvant, comme un éclair Tressaille! la frayeur secrète de la chair [...]
Nach diesem Ausbruch der Wollust kehrt der Faun zur Erinnerungsfolge zurück. Weil er, anders als die Götter, seine Gier nicht zähmen, sich nicht für eine der beiden entscheiden konnte, sondern zugleich die bereits in ihrem Widerspruch Nachlassende und die Widerspenstige haben wollte, deshalb gelang es beiden, sich seinen Armen zu entwinden und für immer zu entfliehen: »Sans pitié du sanglot dont j'étais encore ivre.« »Undankbar« sind die Nymphen, was sich aus der Perspektive des Fauns nur so erklärt, daß er sie von ihrer Unerfülltheit erlösen wollte. Die exaltierte Sinnlichkeit hält über den Bericht vom kläglichen Ende der Begegnung hinaus an, ja steigert sich noch durch die Herausforderung. Dann werden eben andere ihm das Glück gewähren und ihre Haare um die Hörner seiner Stirn winden. Die Erinnerung hat nur eine Realität heraufrufen können, die sich als unerfülltes Begehren erneut ins Unwirkliche verweisen lassen muß. Daher tritt an die Stelle der unbefriedigenden Erinnerung nun die trotzige Erwartung von der Zukunft. Die Gier des Fauns vermißt sich gar, beim nächsten Fest sich an der Liebesgöttin selbst zu vergreifen. In dem Kurzvers: »Je tiens la reine!« gipfelt diese Exaltation der unbefriedigten Lust. Dann folgt ein Blanc, die Stummheit eines einsichtigen Gedankens bekundend. Und im nächsten Halbvers die Idee, daß die gescheiterte Nymphenbegegnung schon die Züchtigung so vermessener Wünsche bedeute: »O sûr châtiment...«. Der Zwölfsilber ist immer noch nicht vollständig. Erneut folgt nach diesem Absturz in die Desillusion, die den Vers zerschneidet und Vollkommenheit zerreißt, ein Durchschuß, ein Blanc der abermaligen Besinnung, des Stutzens, und darauf der Rest des Verses, der sich im Fluß der Enjambements über zwei weitere Verse fortsetzt. Der Realitäten verheißende Auftrieb der Sinne bricht jetzt, nach dem Höhepunkt, in der Glut der Mittagshitze zusammen: Non, mais l'âme De paroles vacante et de corps alourdi Tard succombent au fier silence de midi [...] 393
Nein, es gibt weder Erfüllung noch Strafe! Die Seele, die kein Wort mehr findet, und der schwer gewordene Körper erliegen dem herrischen Schweigen des Mittags. Der blasphemische Wunsch fällt dem Vergessen des Schlafs anheim, und die Ruhe dringt ein im Rausch, den der offene Mund des auf dürstendem Sand Liegenden aus der weinzeugenden Sonne trinkt: Sans plus il faut dormir en l'oubli du blasphème, Sur le sable altéré gisant et comme j'aime Ouvrir ma bouche à l'astre efficace des vins!
Bleiernde Müdigkeit vertilgt alle Konturen sowohl der Erinnerung wie der angestachelten Zukunftswünsche. Gähnend schlürft der Einschlummernde bacchische 393
Ebd., S. 53. Auf dieser Seite auch die beiden folgenden Zitate. 149
Trunkenheit des Vergessens, aus der doppelten Wirkung der ermüdenden Sonne und der Sonne, die Wein erzeugt. Und es reicht gerade noch zu einem letzten Gedanken: Abschied an das aus der Erinnerung beschworene Nymphenpaar und vage Hoffnung, den Schatten, zu dem es sich verflüchtigte, im Schlafe wiederzufinden: » Couple, adieu; je vais voir l'ombre que tu devins. « – » Den Schatten will ich sehen, zu dem du wurdest. « Das im ersten Vers programmierte »Perpetuieren« der Nymphen ist zur Fixierung des Ungreifbaren, des Schattens, dessen Körperlichkeit nie faßbar war, geworden. Was der erwachende Faun als Spiegelung eines Traums festzuhalten versuchte, löst sich erneut im Schlafe auf. Das Wachsein reicht nur zur Konkretisierung des Zweifels und zu sich selbst verbrennenden Begierden. Dem gierigen Zugriff der puren Sinnlichkeit, welche das Instrument der Kunst, hier die Hirtenflöte, wegwirft, zerrinnt der Traum zwischen den Fingern, und seine »Verewigung« ist die Auflösung zum Schatten, den kein Wachbewußtsein zu fixieren vermag. L'après-midi d'un faune ist schon etliche Male interpretiert worden. Ich habe bei meiner notwendig unvollständigen Analyse vier von diesen Interpretationen verwertet, zu verbinden und zu ergänzen versucht: die von Albert Thibaudet 394 , von Franz Rauhut 395 , von Viktor Klemperer 396 und von Kurt Wais 397 . Es ist schwer, darüber hinaus über ein solches, gewollt dunkles Gedicht etwas Verbindliches zu sagen. Ein paar Bemerkungen müssen sich aber noch anschließen. Der Faun ist, darin dem Satyr gleich, in der bukolischen Tradition das sinnlichlaszive, vitale, antikontemplative Element, die brutale Störung der Harmonie, der stets versuchte Mißbrauch der Schönheit. Schönheit ist, und damit sind wir sogleich auch bei Mallarmé, etwas Geistiges, ihr Genuß aber ist stets auch animalisch, naturhaft, sinnlich, und solcher Genuß der Schönheit ist auch der Kunst selbst immanent. Wie kann Kunst sie genießen, ohne die Schönheit zu zerstören oder ohne sich selbst aufzugeben? Der bukolische Antagonismus von Satyr und Nymphe ist zum Problem der Ästhetik selbst geworden. Die Kunst, die sich der Schönheit nicht anders als auch materiell bemächtigen kann, wirft – wie der Faun – die Hirtenflöte, das heißt sich selbst weg. So bleibt nichts anderes übrig als der qualvolle Versuch, die Erscheinung, den Traum, das von aller Materialität und Realität Befreite zu »verewigen«, zu perpetuieren. Darin fallen Dichterwunsch und Wunsch des Fauns anfänglich und endlich – im einleitenden »Perpetuieren« und im ausklingenden Fixieren des »Schattens« – zusammen. Einfangen der Essenz unter Verzicht auf die kunstfeindliche Körperlichkeit. In diesem Zusammenhang kommt dem Mythos von der Syrinx zentrale Bedeutung zu: die zum Schutz vor der Gier Pans zum Schilfrohr verwandelte Nymphe, aus der die Panflöte gefertigt wird: Überwindung und Verwandlung der Sinnlichkeit in und durch die Kunst. Mallarmés Faun hat an beidem teil, ist aber, als Faun, rückfällig; und nur die unwiderstehliche Mittagshitze verweist die Sinnlichkeit wieder zurück ins Entstofflicht-Idealische. 394 395
396
397
Albert Thibaudet, La Poésie de Stéphane Mallarmé, Paris 1926. Franz Rauhut, »Das Romantische und Musikalische in der Lyrik Stéphane Mallarmés«, in: Die Neueren Sprachen, Beiheft 11, Marburg 1926. Victor Klemperer, Moderne französische Lyrik (Dekadenz-Symbolismus-Neuromantik). Studie und kommentierte Texte, Neuausgabe Berlin 1957 (Zu Mallarmé: S. 121-130). Kurt Wais, Mallarmé. Dichtung, Weisheit, Haltung, München 1952.
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Auch wenn wir nicht ganz sicher sind, damit den Sinn des Gedichts zu treffen, so greifen wir doch kaum völlig daneben. Dafür zeugt die Dichtersprache selbst: ihre sublimierte, zum Geist hin transparent gewordene Sinnlichkeit; ihre sinnlichen Bilder, die sich in abstrakter Anschaulichkeit selber aufheben: »la faute idéale de roses«; ihre unvergleichliche Komprimiertheit, die doch nichts anderes erzeugt als eine ganz und gar geistige Kristallisation. Die Worte lassen reine, in der Luft schwebende Stimmung gerinnen – etwa: »le fier silence de midi«, das sich zur handelnden Wesenheit verleiblicht, Stimmung, die in der Spannung einer elliptischen Syntax und einer von strengster Form gezähmten metrischen Auflösung schwebt. Die exuberante Sinnlichkeit, die der Faun verkörpert, löst sich im Übergang von Traum und Wachzustand, zerrinnt im Widerspiel von strengster Form und enthemmter Syntax, ist geborgen in Vers und Melodie. Die bewahrte Strenge von Alexandriner und Reim beherrscht die syntaktische Sprengung der Metrik, die bedingt ist durch eine Neuordnung der untergründigen Möglichkeiten einer suggestiven Sprache. Wendungen wie die »in Büscheln von Schlaf schlummernde Luft« sind charakteristisch für eine Komprimierung und Konzentration des Atmosphärischen, für die Verdichtung der Stimmung, die allein aus der äußersten Gespanntheit der Sprache zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten erzeugt wird. Diese Gespanntheit lebt von der bewußten Unentschiedenheit zwischen Traum und Wachen, zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, dem sich im ungelösten Zweifel verdichtenden Problem von Realität und Traum, das sich als Kunstproblematik selbst darstellt und in seiner Substanz festgehalten werden soll: »Ces nymphes, je les veux perpétuer.« Typographische Besonderheiten, Durchschüsse, Großbuchstaben suggerieren Traum, Gedanken, Übergänge vom Realen zum Irrealen. Die Sprache gibt, indem sie Eindrücke kristallisiert, die geistigen Hintergründe des Geschehens, wobei das Geschehen essentiell irrelevant wird. Der Traum entgleitet in dem Augenblick, da er materiell greifbar zu werden scheint, dem Zugriff. Das ist die Idee der Kunst, die sich selbst zum Problem wird in dem historischen Augenblick, da sie definitiv sowohl auf das »delectare« – und das heißt auch auf das »Genießen« – wie auf das »prodesse« verzichten will, um poésie pure zu werden. Damit kommen wir wiederum zur Frage nach der geschichtlichen Bedingtheit solcher Dichtung zurück. Und ausnahmsweise sind wir berechtigt, uns einmal der vielgerühmten gegenseitigen Erhellung der Künste zu bedienen. Mallarmés Aprèsmidi hat eine ganze Reihe von Komponisten fasziniert, unter ihnen, wie bekannt, Debussy. Der Dichter wohnte der ersten Aufführung des Musikstücks bei und schrieb daraufhin an den Komponisten: Votre illustration de l'Après-midi d'un faune, qui ne présenterait de dissonance avec mon texte, sinon qu'aller plus loin, vraiment, dans la nostalgie et dans la lumière, avec finesse, avec malaise, avec richesse. 398
Mallarmé rühmte also an Debussys Vertonung, daß sie Sehnsucht und Licht seines Textes mit einem geradezu schmerzhaften Reichtum und einer Freiheit noch gesteigert habe. Ich habe einmal einen Kollegen, der Philosoph und Musikkenner zugleich ist – Ludwig Giesz in Heidelberg – um eine Formulierung seiner Eindrücke 398
»L'après-midi d'un faune«, in: Œuvres complètes, S. 1465 (Anmerkung). 151
von der Debussyschen Musik gebeten und nach kurzer Überlegung die Antwort erhalten: »sublimer Genuß der Langeweile«. Diese Bestimmung, die – einmal erfolgt – vom Musikalischen her auch Mallarmés Text erhellt, situiert den Après-midi d'un faune als eine moderne Kunstproblematik historisch in die vollendete Erfahrung der Verdinglichung, in die Epoche der sogenannten Décadence, in der die Kunstwirklichkeit als einzige authentische Wirklichkeit sich an das Destillieren des Irrealen halten muß. Mallarmés Dichtung ist gleichsam der zur reinen Stimmung oder besser: Gestimmtheit gediehene künstlerische Extrakt der Ennui-Erfahrung, wobei wir Ennui als den erkenntnisträchtigen anthropologischen Niederschlag der Sinnentleerung der Wirklichkeit und den Genuß des Ennui als die Chance der Kunst in der modernen Welt zu verstehen haben: Ästhetisierung der Lebensöde als Signatur der Décadence. Der gleiche befreundete Kollege, den ich vorhin erwähnte, hat mich auch auf einen Abschnitt von Nietzsches Zarathustra hingewiesen, betitelt: Mittags. Zarathustra, Prophet einer schon sehr modernen Welt, erfährt in »goldener Traurigkeit« das Glück, im Grase liegend, in – wie es heißt –, der »feierlichen Stunde, wo kein Hirt seine Flöte bläst« 399 : Heißer Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen. Sieh doch – still! der alte Mittag schläft, er bewegt den Mund: trinkt er nicht eben einen Tropfen Glücks - einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks, goldenen Weins? [...] So – lacht ein Gott. Still! 400
Und weiter: »Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif?« 401 Und dann: (Aber da schlief er schon von Neuem ein, und seine Seele sprach gegen ihn und wehrte sich und legte sich wieder hin) – Laß mich doch! Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? O des goldnen runden Balls! 402
Glück, nur noch faßbar zwischen Traum und Wachen im Stillstand des Tages. Das ist der gleiche Befund, die gleiche seelische Erfahrung wie bei Mallarmé. Ein Gedicht des Zarathustra, zweimal angeführt, spricht von der Lust, die Ewigkeit will. Und Nietzsches Werk endet mit der Forderung: »[...] herauf nun, herauf, du großer Mittag!« 403 Der große Mittag, zwischen Morgen und Abend, Vergangenem und Kommendem, ist auch als Traum das allein Gegenwärtige, doch als Erinnertes schon wieder Vergangenheit, als »après-midi« auch dieses Restes von Wirklichkeit bereits wieder beraubt. Die Konsequenz für Mallarmé lautet: Fixierung des Unwirklichen in einer Welt, die sich selber des Wirklichen sofern dieses sinnerfüllt war, begeben hat. Das alte bukolische Motiv des Fauns ist bei Mallarmé zum thematischen Träger der Problema399
400 401 402 403
Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, MünchenBerlin-New York 1980, S. 343. Ebd. Ebd., S. 344. Ebd. Ebd., S. 408.
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tik der Kunst in der modernen Welt geworden. Der Absolutheitsanspruch der Kunst, der poésie pure, der sich daraus ergibt, daß sie sich dem Nichts konfrontiert sieht, muß sich notwendig immer wieder selbst in Frage stellen, muß immer wieder neu ansetzen und muß sich schließlich begreifen als unablässig erneuerten Versuch der Überwindung einer allesbeherrschenden Kontingenz. Welches Licht von dieser Konzeption her auch auf den Après-midi d'un faune fällt, wird sich an der Betrachtung von Mallarmés Gedichten Igitur und Un coup de dés erweisen. In Hérodiade hatte Mallarmé die Unfruchtbarkeit der zum reinen, sich selbst vergötternden, dem Leben sich entfremdenden Geistwesen sich sublimierenden Keuschheit als Thema gewählt; in L'après-midi d'un faune hatte er die Problematik der sich der Spiritualität entledigenden Kunst zum Vorwurf genommen und die Lösung, nämlich die Fixierung des Zwischenbereichs zwischen dem Idealen und dem Realen, des Traums, wenn nicht in der Theorie, so doch im Gedicht selbst gefunden. Die große Aporie aber zwischen dem Absolutheitsanspruch der Kunst und ihrer Bindung an zeitverhaftete Materialität, der Sprache der Mitteilung, war damit nicht gelöst. Mallarmé hat diese Aporie schon vor dem Après-midi zum Gegenstand eines längeren Prosagedichts gemacht, das den mysteriösen Titel trägt: Igitur ou la folie d'Elbehnon.
»Igitur« und »Un coup de dés« – der Zufall als Schlüsselwert im Werk Mallarmés Dabei ist der Titel noch nicht einmal so dunkel wie das Werk selbst. Igitur ist der Name des Helden. Er ist einem Satz der Genesis, zweites Kapitel, entnommen: Igitur perfecti sunt coeli et terra et omnis ornatus eorum (»Also sind vollendet Himmel und Erde mit all ihrem Schmuck«). Igitur ist also – so dürfen wir vorwegnehmen – jemand, der Himmel und Erde vervollkommnen soll. Elbehnon ist, hebräisch, der Sohn der Elohim, das heißt der Engel, die Gott als Werkzeuge der Schöpfung aus sich hervorgehen ließ, identifiziert mit den Sternen. Igitur ist das große »Also«, Sohn der Elohim, der Sternenengel, das »Also«, das »Folglich«, zwischen der Absicht der Schöpfung und ihrer Ausführung. Vielleicht müßte man sagen: das »Also« zwischen der guten Absicht der Schöpfung und der schlechten Ausführung. Bei Mallarmé sind somit Igitur, das »Also« der Genesis, und Elbehnon gleichgesetzt, der Titel ist aber auch »ou la folie d'Elbehnon«: das zum Irdischen orientierte schöpferische Prinzip trägt die Zeichen des Wahnsinns. Den Wahnsinn am Schöpferischen aber begreift Mallarmé als die Affinität zwischen dem Absoluten und dem Nichts – Absolu und Néant –, also durchaus im Rahmen einer Fragestellung, die sowohl der Hérodiade wie auch dem Après-midi d'un faune zugrundeliegt: sowohl absolute Geistigkeit wie absolute Sinnlichkeit schlagen um in die totale Unfruchtbarkeit bzw. in die vollkommene Verflüchtigung der Realität als Ausweg aus einem unlösbaren Dilemma. Wir wissen, daß für Mallarmé das Ideale, die geistige Essenz, sich aus der »Abwesenheit« oder »Abschaffung« des Einzeldings, der konkreten Realität, ergibt, aus ihrer Überwindung. Ich erinnere an die »faute idéale de roses«, an das »abolir«, an die »absence«, Symbole der Ausschaltung des kontingenten Charakters der Welt 153
kraft einer die Kontingenz vernichtenden Dichtersprache. Die Grunderfahrung ist der ennui, die Lebensöde, das Stillstehen der Uhren in ihrem öden Ticken selbst, aus dem heroisch der Anspruch auf Absolutheit, auf Fixierung des Traums zwischen Wachsein und Schlaf, zwischen Morgen und Abend geschöpft wird. Das Erlebnis des Fauns ist der Große Mittag, wie wir sahen; das Erlebnis Igiturs ist die Mitternacht. Die Immobilisierung der Zeit, und das heißt die Aufhebung der irreversiblen Verlaufszeit, ist der Griff ins Absolute, der sich aber zugleich als Griff ins Nichts erweist. Das ist das Dilemma, ist die Aporie, auf die Mallarmé stößt und die ihn nicht mehr losläßt. Sie bildet auch das unbeantwortet gebliebene Fragezeichen hinter seiner Konzeption der poésie pure. Aus dieser Erfahrung erwächst eine Angst – angoisse gehört zu den Schlüsselwörtern seiner Dichtung – die Angst vor der Ohnmacht des Dichters angesichts dieser Aporie. Und – nun schließt sich der Kreis – diese Ohnmacht, impuissance, steht wiederum in direktem Bezug zum ennui. Diese impuissance ist der ennui. Schon in einem früheren Gedicht, dem Sonett Renouveau, hatte es geheißen: »L'impuissance s'étire en un long bâillement« 404 . Im Aprés-midi d'un faune dankt der Faun ab vor der Unmöglichkeit, seine Erinnerung festzuhalten, den Traum zur Realität zu verwandeln. Er tut es in einem Gähnen, das seinen Mund der trunkenmachenden Sonne öffnet und transponiert seine Hoffnung ins Schattenreich des Schlafs, in das Nichts, zu dem die Nymphen sich auflösten. Absolu, Néant und Ennui gehören also engstens zusammen. Mit dieser Trias, die sowohl die eigentliche Kunstproblematik Mallarmés wie ihre geschichtliche Gebundenheit beschließt und offenbart, ist auch die Thematik von Igitur situiert. Im dritten Abschnitt von Igitur heißt es bezeichnenderweise: » Ici: névrose, ennui (ou Absolu!)«. 405 »Ennui ou Absolu« – also vertauschbar-und die Besessenheit durch diese Konstellation als Neurose. Nehmen wir, um die gedankliche Tragweite von Igitur ermessen zu können, noch ein paar weitere Zeugnisse zu Hilfe. Igiturs Bekenntnis: »J'ai toujours vécu mon âme fixée sur l'horloge« 406 . Und seinen Wunsch, einmal das »présent absolu des choses« 407 , die »absolute Gegenwart der Dinge« zu fixieren, sie von aller Zeitlichkeit zu befreien. Igitur ist hier gleich Mallarmé. Wir sind damit wieder bei dem Identischwerden von absolu und néant und bei der impuissance des Dichters. Wenn überhaupt, so ist die zeitlose Essenz der Dinge nur durch Besiegung ihrer Kontingenz, ihrer substantiellen Zufälligkeit zu erlangen: »le hasard, vaincu mot par mot« 408 . Hören wir nun noch, was Mallarmé selbst über sein Gedicht Igitur schreibt: C'est un conte, par lequel je veux terrasser le vieux monstre de l'impuissance, son sujet, du reste, afin de me cloîtrer dans mon grand labeur déjà réétudié. S'il est fait, je suis guéri. Similia similibus. 409
404 405 406 407 408 409
»Du Parnasse contemporain«, in: Œuvres complètes, S. 34. »Igitur ou La Folie d'Elbehnon«, ebd., S. 439. Ebd. Ebd., S. 435. »Variations sur un sujet« (Quant au livre), ebd., S. 387. »Igitur ou La Folie d'Elbehnon«, ebd., S.1580 (Anmerkung).
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Ein Werk also, bestimmt, das »alte Monstrum der Impuissance« niederzuwerfen, das als eine Krankheit erscheint, die er – homöopathisch – mit Gleichem heilt – »similia similibus«, das heißt mit der Darstellung der Impuissance. Die Impuissance ist das »sujet« von Igitur. Mallarmé hat Igitur eine Bemerkung vorangestellt, in welcher die Intelligenz des Lesers aufgerufen wird, das Werk selbst in Szene zu setzen: »Ce Conte s'adresse à l'Intelligence du lecteur qui met les choses en scène, elle même.« 410 Die »Intelligence« des Lesers ist mit Majuskel geschrieben – sie hat es trotz dieses Appells an ihr Ehrgefühl schwer genug. Der erste Abschnitt, betitelt Introduction und Ancienne étude, wäre völlig dunkel und zunächst zu vernachlässigen, enthielte er nicht wichtige Stichworte: Quand les souffles de ses ancêtres veulent souffler la bougie, (grâce à laquelle peutêtre subsistent les caractères du grimoire) – il dit »Pas encore!«
Nur mit Hilfe der folgenden Abschnitte läßt sich das enträtseln: Igitur, der letzte in der langen Reihe seines Geschlechts, hat von seinen Ahnen den Auftrag, mit einer großen Tat, einer Erlösungstat, die freilich Selbstaufgabe bedeuten wird, abzuschließen. Aber er will noch nicht. Das Zauberbuch seiner Ahnen – »grimoire« – ist noch nicht entschlüsselt, seine Lettern sind nur zu lesen im Licht der noch brennenden Kerze, das heißt seines eigenen Lebens. Welches Fazit wird sich aus dieser letzten, von den Vorfahren geforderten großen Tat ergeben: »pas d'astres? le hasard annulé?« – Wird die Tilgung der Erfahrungen seines ganzen Geschlechts die Tilgung des Zufalls sein? Igitur hat diese vage Hoffnung; er schöpft sie aus der einfachen Tatsache, daß er Schatten zu produzieren vermag, indem er über das Kerzenlicht bläst. Wird er entdecken, daß das Absolute, das die Unsterblichkeit negiert – also die Ewigkeit negiert – außerhalb des Lebens existiert? – Soweit die Introduction. Dem eigentlichen Conte geht noch ein Argument voraus. Aber dieser Inhaltsangabe können wir kaum etwas entnehmen, was nicht besser durch die folgenden Abschnitte zum Ausdruck käme. Die Handlung des Conte – wenn wir von Handlung überhaupt sprechen dürfen – beginnt mit dem Abschnitt Minuit. Die Gegenwart der Mitternacht erscheint – darin liegt ihre Entzeitlichung und ihr Charakter als Moment der Entscheidung zum Absoluten – als zunehmende Abwesenheit von allem Gegenständlichen: Certainement subsiste une présence de Minuit. L'heure n'a pas disparu par un miroir, ne s'est pas enfouie en tentures, évoquant un ameublement par sa vacante sonorité. Je me rappelle que son or allait feindre en l'absence un joyau nul de rêverie, riche et inutile survivance, sinon que sur la complexité marine et stellaire d'une orfèvrerie se lisait le hasard infini des conjonctions. 411
Die abwesende Stunde »fingiert« einen nichtigen Edelstein des Traums, und die Verbindung von gegenseitigen »Nichtsen«, »réciproques néants«, hinterläßt – wie es weiter heißt – »l'essence«, erzeugt »le présent absolu des choses«. Die gegenwärtige und durch Abwesenheit der Dinge verlängerte – »subsister« – Absolut410 411
Ebd., S. 433. Auf dieser Seite auch die beiden folgenden Zitate. Ebd., S. 435. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 155
heit ist kraft der totalen Abwesenheit zugleich völlige Klarheit – und: Unfruchtbarkeit. Die sich selbst aufhebende Zeit, die sich selbst vertilgende, weil verewigte Mitternacht, ist Sterilität: C'est le rêve pur d'un Minuit, en soi disparu, et dont la Clarté reconnue, qui seule demeure au sein de son accomplissement plongé dans l'ombre, résume sa stérilité sur la pâleur d'un livre ouvert que présente la table; page et décor ordinaires de la Nuit, sinon que subsiste encore le silence d'une antique parole proférée par lui, en lequel, revenu, ce Minuit évoque son ombre finie et nulle par ces mots: J'étais l'heure qui doit me rendre pur.
Das geöffnete Buch auf dem Tisch und eine Kerze, die es beleuchtet, sind die einzigen sichtbaren Gegenstände; sie verbleiben aber allein als Symbolträger: das Kerzenlicht – das Leben Igiturs; das geöffnete Buch, das allein durch die Kerze seines Lebens lesbar ist, ist die Geschichte, das Vermächtnis seiner Ahnen, das eine Prophezeiung und Forderung an Igitur enthält, einzulösen in der Mitternacht, mit deren Absolutheit und Reinheit sich das Ich Igiturs identifiziert – »J'étais l'heure qui doit me rendre pur« – frei von aller Materialität. Die Lösung von der Materialität, das Absterben, birgt noch die Hoffnung, als Schatten weiterzuleben und sich in Ewigkeit zu verwandeln. Eine Hoffnung, die auch – auf seine Weise – der einschlafende Faun hegte. Das »reine Feuer« des unnütz, d. h. »unfruchtbar« gewordenen »reinen Diamanten der Uhr« verkündet: »Adieu, nuit, que je fus, ton propre sépulcre, mais qui, l'ombre, survivante, se métamorphosera en Eternité.« 412 Die Zeit sagt sich von ihrem Wesen, der Zeitlichkeit los und wird Ewigkeit; hebt sich auf ins Nichts. Die absolute Mitternacht wird, wie im folgenden expressis verbis gesagt wird, für Igitur zur Verschmelzung seiner identisch gewordenen Zukunft und Vergangenheit. 413 Der zweite Abschnitt trägt die Überschrift: Il quitte sa chambre et se perd dans les escaliers. Igitur wird zum Schatten, er verliert alles Individuell-Zufällige, wird gleich der Nacht, die kaum noch das Geräusch der sterbenden Uhr, der Zeit, wahrzunehmen vermag: »L'ombre disparue en l'obscurité, la Nuit resta avec une douteuse perception de pendule qui va s'éteindre et expirer en lui [...]« 414 Noch ist ein Rest von Zeit und Dinglichkeit und Vergänglichkeit vorhanden. Der Schatten – Igitur – hat noch individuelle Konturen. Das Zimmer ist noch als Ort zu verifizieren. Noch sind Zeitlosigkeit und Ortlosigkeit nicht völlig hergestellt. Noch vernimmt Igitur Geräusche. Aber nun löst sich das Zimmer zum Absoluten, Bodenlosen hin auf in einem Verwandlungsprozeß, wie er in solch abstrakter Bildhaftigkeit vielleicht nur noch mit den Mitteln des Films als visuellem Prozeß adäquat wiedergegeben werden könnte. Der Raum wird zur geometrischen Figur, seine drei Dimensionen werden gleichsam kongruent. Zwei Spiegel, die er hatte, fangen an, sich zu drehen, sich ineinander zu winden, und alles bisher noch Unterscheidbare wird im Nichts, in einer Leere vermischt und absorbiert. Diese Spiegel sind gleich zwei langen Wänden des Zimmers, an denen Tausende von Vorfahren, ihr Buch und ihre Kerze in der Hand, entlang, stehen und sich nun in der Spiralbewegung der Spiegel auf412 413 414
Ebd., S. 436. Ebd., S. 438. Ebd., S. 436.
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lösen. Der Spiegel wird zum Grab, zum Verlöschen des Geschlechts, das mit Igiturs Tod erfolgt: »je vais m'oublier [...] et me dissoudre en moi.« 415 Der Übergang zum Absoluten ist der Übergang ins Nichts. Selbst das Unendliche, dessen Entdeckung Igitur sich insgeheim als Lohn seines Opfers erhofft hatte, enthüllt sich als trügerisch. Das Unendliche schien ihm – gemäß einer optimistischen philosophischen Logik – eine sinnvolle Aufhebung der Zeitlichkeit, ein echter, realer Gegensatz zum Endlichen zu sein. Aber jetzt steht er vor dem »mensonge exploré de l'infini« 416 , in dem Augenblick, da die Zeit aufgehört hat, die Welt der Erscheinungen zu teilen, die in schweren Schlaf verfallen: à présent que le temps a cessé et ne les divise plus [les apparitions], retombées en un lourd somme, massif, [...] dans le vide duquel j'entends les pulsations de mon propre cœur. 417
Die letztere Formulierung identifiziert das »Leere«, le vide, mit den Pulsschlägen seines Herzens. Das ist die Gewißheit, daß das Absolute gleich dem Nichts, nicht aber gleich der Unendlichkeit sein wird. Das letzte Ticken der Uhr wird identisch mit den Schlägen seines Herzens. Trotz der Zweifel an dem bisherigen Glauben, daß aus der Vernichtung des Zufalls, das heißt der Vernichtung des kontingenten Lebens und der Ahnenreihe, das infini erwachse – » L'infini sort du hasard, que vous avez nié. L'infini enfin échappe à la famille, qui en a souffert [...]« 418 – trotz dieser Zweifel entschließt sich Igitur, den Auftrag seiner Ahnen zu erfüllen und so dem Zweifel selbst ins Absolute hin zu entrinnen. Er verläßt das Zimmer und greift zu dem Giftkelch, »qui renferme la substance du Néant« 419 . Der freiwillige Tod, der die Zufälligkeit und Zeitlichkeit in einer letzten Bestätigung vernichtet, soll ein Akt der absoluten Selbstbestimmung sein. Vorher aber – in dem eingeschobenen dritten, Fragment gebliebenen Teil – legt Igitur seinen Ahnen Rechenschaft über sein Leben ab: »Écoutez, ma race, avant de souffler ma bougie – le compte que j'ai à vous rendre de ma vie – Ici: névrose, ennui (ou Absolu!).« 420 Jetzt erfahren wir, daß Igitur einem Urgeschlecht angehört – daher wohl Elohim-Elbehnon –, das sich die übermenschliche Aufgabe gestellt hat, die Menschheit von Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Kontingenz zu befreien, daß er, Igitur, bestimmt war, durch eine Tat Vergangenheit und Zukunft aufzuheben – die Geschichte zu vertilgen: »Igitur a été jeté hors du temps par sa race.« 421 Der Ennui wird – so dürfen wir einflechten – zum Stillstand der sinnlos gewordenen Geschichte führen, die eliminiert werden soll, um ein Absolutes zu eröffnen, das sich als Nichts offenbaren wird. Igitur soll den Auftrag erfüllen; daher sein Name; »also, somit«. Aber sein Versuch dazu – das zeigt ihm der vertiefte Blick in den Spiegel – bewirkt einen Prozeß der Entmenschlichung als Resultat der progressiven Befreiung von der Zeitlichkeit, die 415 416 417 418 419 420 421
Ebd., S.439. Ebd., S.438. Ebd. Ebd., S. 434. Ebd., S. 439. Ebd. Ebd., S. 440. 157
sein Ich selbst vernichtet. Der Spiegel wirft eine schattenhafte Fratze zurück, bevor diese sich, unter Auflösung aller Konturen ins Nichts, von der Reinheit des Spiegels löst und vergeht. Die Angst vor dem »horreur de cette éternité« 422 hat Igitur vor den Spiegel getrieben: Et quand je rouvrais les yeux au fond du miroir, je voyais le personnage d'horreur, le fantôme de l'horreur absorber peu à peu ce qui restait de sentiment et de douleur dans la glace, nourrir son horreur des suprêmes frissons des chimères [...] et se former en raréfiant la glace jusqu'à une pureté inouïe, – jusqu'à ce qu'ïl se détachât, permanent, de la glace absolument pure, comme pris dans son froid [...] 423
Der Verlust des Spiegelbilds ist der Verlust der Individualität, der Identität, und das heißt die Verwandlung ins Nichts. Das ist das Ergebnis des Vorstoßes zum Absoluten, das Ergebnis des Versuchs, die »Idée« 424 seines Geschlechts zu verwirklichen. Die Tat, die diese »Idée« verwirklichen soll, führt notwendigerweise in den Tod, das heißt den Selbstmord. Als in der Zeit Geschehendes ist der Tod aber, den Zufall negierend, selber ein Zufall, insofern der Zufall das Wesensmerkmal des kontigenten Daseins ist. Die Vorbemerkung zum vierten Teil bestätigt dies ausdrücklich: Bref dans un acte où le hasard est en jeu, c'est toujours le hasard qui accomplit sa propre Idée en s'affirmant ou se niant. Devant son existence la négation et l'affirmation viennent échouer. 425
Vor der Existenz des hasard scheitert sowohl seine Bejahung wie seine Negation. Und dann folgt – als Konsequenz – ein bekanntes Stichwort der Modernität: »Il contient l'Absurde.« 426 Dieser Abschnitt ist betitelt: Ce coup de dés. Offenbar hat Mallarmé ihn erst Jahre später eingeschoben, zu einer Zeit, als er an dem Gedicht Un coup de dés n'abolira jamais le hasard arbeitete. Wie vom zweiten Teil drei, so haben wir von diesem Teil zwei verschiedene Versionen. In dem einen schüttelt Igitur den Würfelbecher nur, in dem anderen würfelt er die »Ideale Zahl«, um seinen Ahnen zu beweisen, daß auch diese Aufhebung des Zufalls dem Zufall verhaftet ist, daß somit die Leugnung des Zufalls, die von ihnen geforderte Tat Wahnwitz ist: »folie« 427 . Aber er hat, auftragsgemäß, bevor er stirbt, diesen »Acte« auf sich genommen; Igitur bejaht die »folie« des Versuchs der Zufallsvertilgung als die Notwendigkeit der Idee: [Il] admet l'acte, et, volontairement, reprend l'Idée, en tant qu'Idée: et l'Acte (quelle que soit la puissance qui l'ait guidé) ayant nié le hasard, il en conclut que l'Idée a été nécessaire. 428
422 423 424 425 426 427 428
Ebd., S. 441. Ebd. Ebd., S. 434. Ebd., S. 441. Ebd. Ebd., S. 434. Ebd., S. 441.
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Igitur akzeptiert die »folie« der Leugnung des nicht zu leugnenden Zufalls als eine Notwendigkeit, eben weil diese »folie« als folie in der Tat eine Art Leugnung des Zufalls darstellt: » [il] peut dire que, par le fait de cette folie, le hasard étant nié, cette folie était nécessaire. – A quoi? (Nul ne le sait [...].)« 429 – Das ist die Bejahung des Unmöglichen. Sogleich folgt noch eine weitere Bestimmung. Die Tat, die die »notwendige Idee« verwirklichen sollte, »est parfaitement absurde sauf que mouvement (personnel) rendu à l'Infini: mais que l'Infini est enfin fixé.« Diese Tat ist vollkommen absurd, mit der Einschränkung, daß sie persönliche Bewegung für das Unendliche ist, daß sie das Unendliche fixiert, das heißt als ein Ziel der Bewegung ansetzt und somit zu einer geistigen Existenz bringt – und sei es in Erschaffung aus dem Nichts. Die folie d'Elbehnon, der wahnwitzige Versuch einer Erlösung der Menschheit aus der Zeitlichkeit, durch einen Abkömmling eines Engelsgeschlechts, besteht darin, daß sie den »Zufall auf das Unendliche reduziert«, das dann »irgendwo existieren muß«: »il réduit le hasard à l'Infini – qui, dit-il, doit exister quelque part.« Absolu und Infini fallen also im Bewußtsein doch noch zusammen: »grâce à l'absurde«, wie es heißt. Freilich im Bewußtsein der »folie« des ständigen Aufbegehrens gegen Zeitlichkeit und Kontingenz. Jetzt erscheinen Igitur die »Idée« und auch der Auftrag seines Geschlechts doch noch als sinnvoll; und er begreift seinen freiwilligen Tod, das Aufgeben seines Lebens und die Beendigung seines Geschlechts als Überwindung des hasard: » Il ferme le livre – souffle la bougie, – de son souffle qui contenait le hasard: et, croisant les bras, se couche sur les cendres de ses ancêtres. « Das Absolute ist im Tod verschwunden, mit ihm das Nichts, und es bleibt die makellose Reinheit als zur Realität gebrachte Existenz der Idee des Absoluten: »Le Néant parti, reste le château de la pureté.« 430 Damit schließt der letzte Abschnitt von Igitur. Fazit: das Absolute, insofern es eben gefaßt werden muß als Gegensatz zur Kontingenz, zur Zeitlichkeit, zur zufallsbeherrschten materiellen Realität, ist unerreichbar, aber als stets – sei's wie immer wahnwitzig – anzustrebende Idee existent, als Über-Realität, als Gedachtes und als Gedachtes auch wirklich für die Dichtung. Die Absurdität des Lebens selbst provoziert diese Gegenbewegung, in der Mallarmé nach dieser für ihn geradezu tragischen Auseinandersetzung den Sinn und die Legitimation seines Dichtens findet. Das absolute Dichtungsideal soll sich im immer wiederholten Vorstoß zu seinen mit dem Nichts zusammenfallenden, nunmehr erkannten Grenzen erfüllen. Rufen wir uns jetzt ins Gedächtnis zurück, was wir über Ennui und Impuissance eruiert haben. Der Ennui hat, indem ihm Ausweglosigkeit eigen ist, mit der Idealität gemeinsam die Vorstellung von Unendlichkeit, erzwingt sie geradezu, coincidentia oppositorum. Ennui, das ist die zum Gefühl der Endlosigkeit verdichtete Erfahrung der Lebensöde, die alle Realität zu jener Unwirklichkeit gerinnen läßt, mit der Dichtung es jetzt zu tun hat und aus der sie ihre Substanz bezieht. Sie wird motivlich gefaßt in der Zeitaufhebung des Mittags – im Après-midi d'un faune – und der Mitternacht – in Igitur: Stillstand der Zeit als große Chance der Aufhebung der Zeit.
429 430
Ebd., S. 442. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 443. 159
Impuissance ist die in der gleichen geschichtlichen Erfahrung wurzelnde lähmende Angst, daß die Erkenntnis von der Identität des Absolu mit dem Néant und der Stérilité den Dichter eigentlich zum Verzicht auf das Dichten zwingt, auf ein Dichten, das angesichts dieser Sachlage des Überwindenmüssens des Zufalls selber auf den Zufall des Gelingens, den »Acte«, des Würfelspiels, angewiesen ist. Man hat mit Recht gesagt, daß die Dichtungskonzeption eines Mallarmé und Valéry eigentlich nur jenes vollkommene Gedicht zuläßt, das überhaupt nicht zu schaffen ist. Das war in der Tat ihr großes Problem. Mallarmé hat Igitur geschrieben, [pour] terrasser le vieux monstre de l'Impuissance [...]« 431 Diese »Ohnmacht« als Symbol aufgezwungener, unverlierbarer Unfruchtbarkeit erscheint in der neueren Literatur in konkreterer Symbolik auch als Impotenz, schon bei Baudelaire. Und ich möchte nicht unterlassen, Walter Benjamin zu zitieren, der dieses moderne literarische Motiv geschichtlich präzis zu situieren versuchte: Männliche Impotenz – Schlüsselfigur der Einsamkeit, in ihren Zeichen vollzieht sich der Stillstand der Produktivkräfte – ein Abgrund trennt den Menschen von seinesgleichen. 432
Fassen wir noch einen weiteren Aspekt ins Auge: In Igitur ist unschwer ein bekanntes romantisches Thema zu erkennen, da Igitur als Elbehnon Abkömmling eines Geschlechts von Engeln ist, das die Zeitlichkeit und Kontingenz der Welt aufheben, also eine Ungerechtigkeit der Schöpfung tilgen will. Es ist das Thema des gegen Gott und Schicksal revoltierenden Engels. Dieses romantische Thema ist jetzt eingesenkt in eine bereits ganz moderne Erfahrung: in die Erfahrung der Absurdität des menschlichen Daseins. Vor der großen humanen Revolte eines Albert Camus gegen die Absurdität ist also Mallarmé im Rahmen seiner eigenen Kunstproblematik zu dem Gedanken durchgestoßen, daß es »notwendig« -nécessité – sei, dem Absurden eine Idee als wie auch immer unerreichbares Ziel abzutrotzen. Das ist – gerade vor dem Hintergrund des Mallarméschen Denkens – eine heroische Bejahung des Sinns inmitten einer sinnlos-absurden Welt – fruchtbar und in die Zukunft weisend freilich zunächst nur im Bereich der Dichtung selbst. Die Mallarmésche Kunst aber offenbart hier ihre zutiefst humane Grundlage. Wir begreifen von dem jetzt erreichten Standort her auch, warum eine Dichtung, die der Sprache diese Idee abtrotzen will, dunkel sein muß. Und noch ein weiteres Thema oder Motiv von Bedeutung wollen wir kurz und zuletzt betrachten: Das Würfelspiel. Es lebt von der Problematik des Zufalls, die gleichfalls in der neueren Literatur von fundamentaler Bedeutung ist. Ich darf hier wieder skizzieren und ergänzen, was von Walter Benjamin darüber anläßlich Baudelaires gesagt wurde. Wir kennen die Struktur der Zufallsbegegnung, erwachsen aus dem Erlebnis der modernen Großstadt. Der Zufall ist dort affirmiert als Problem der Isolierung und Entfremdung des Individuums, so sehr, daß er – in der Dichtung – zum Schlüssel für das neue Wesen des Menschen und seiner Gesellschaft wird – monumental dann bei Marcel Proust. Hasard-Spiel und Lotterie, dem sich das Bürgertum erst im 19. Jahrhundert mit Lust widmet, gehören als Massenphänome431 432
Ebd., S. 1580 (Anmerkung). Walter Benjamin, »Zentralpark«, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main 1955, S. 485.
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ne erst in die moderne Zeit. Das Hasardspiel bedeutet Negation der Arbeit, der Vergangenheit, ist der Gegenpol zur Mühe der anstrengenden Vorbereitung auf ein sinnvolles Ziel. Es bezweckt Aufhebung und Überwindung des immergleichen Tuns, zu dem die Arbeit als Lohnarbeit im 19. Jahrhundert herabgesunken ist. Spiel will also – so sieht es Benjamin vor dem Hintergrund des modernen Industriezeitalters mit seinen kapitalistischen Auswüchsen – das menschenfeindliche Wesen der entfremdeten Arbeit, des immergleichen Handgriffs aufheben. Spiel ist stets neuer Einsatz mit der Hoffnung, daß der Zufall jenen tötenden Lebensmechanismus annulliere, den der Zufall der Bestimmung eines Lebens zur Lohnarbeit erst geschaffen hat. Baudelaire sah nicht von ungefähr – wenn wir Benjamin folgen dürfen – im Hasardspiel ein heroisches Aufbegehren 433 . Schließen wir jetzt an, was wir von Igitur wissen, so bestätigt sich dieser Gedankengang. Es sieht freilich so aus, als hätte Mallarmé schon einen Zustand antizipiert, in welchem die Entfremdung des Menschen von seiner Tätigkeit, und das heißt die Selbstentfremdung, sich nicht mehr auf eine Klasse beschränkt, sondern die ganze Gesellschaft erfaßt hat. Baudelaire hatte schon die irreversible Zeit als einen Spieler dargestellt, der bei jedem Wurf gewinnt: Souviens-toi que le Temps est un joueur avide Qui gagne sans tricher, à tout coup! c'est la loi. 434
Darin steckt unausgesprochen der Gedanke, daß die hasard-beherrschte Kontingenz nur durch einen gegenläufigen Hasard beeinflußt werden könnte. Das ist auch ein Gedanke Igiturs. Dort sollte die Kontingenz selbst, Vergangenheit und Zukunft, als Inbegriffe einer schlechten Geschichte und einer schlechten Wirklichkeit ohne Hoffnung zur Absolutheit und Zeitlosigkeit aufgehoben werden – durch den Akt des »coup de dés« als Auftrag und Vermächtnis eines uralten Engelsgeschlechts, als Erlösung. Von dieser Hoffnung blieb nichts übrig, als der mutige Entschluß, unentwegt mit den Mitteln der Dichtung anzukämpfen gegen die unleugbare Herrschaft der Absurdität und des Zufalls und sich dabei die Realität eines idealen Ziels zu schaffen. An eine Selbstaufhebung des Zufalls, an das Gelingen der Revolte, vermag Mallarmé nicht mehr zu glauben. Und so wird diese Einsicht zum Thema seines rätselhaftesten und eigenartigsten Gedichts: Un coup de dés jamais n'abolira le hasard. Von der »Nutzlosigkeit« der poésie pure war zu sprechen, der »beauté pure«, die zu nichts mehr dienen will, von impuissance und stérilité. Nutzlosigkeit wird für einen Stéphane Mallarmé zur letzten Würde und Auszeichnung der Poesie in einer Welt der alles vereinnahmenden Zwecke. Die Würde erwächst aus der Trauer darüber, daß es nicht anders sein kann: »Tristesse, que ma production reste, à ceuxci, par essence, comme les nuages au crépuscule ou des étoiles, vaine« 435 : Der melancholische Grundton verrät, daß die Nutzlosigkeit als eine erzwungene, nicht freiwillige erfahren wird. Angesichts des Vokabulars, das Mallarmé verwendet, wundert einen sozusagen nichts mehr. Aber gerade dieser Umstand verlangt das 433 434 435
»Über einige Motive bei Baudelaire«, ebd., S. 450. Charles Baudelaire, »Les Fleurs du mal«, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 81. »Variations sur un sujet« (Conflit), in: Œuvres complètes, S. 358. 161
Wundern! Wieso spricht dieser Dichter, dieser Esoteriker, so ökonomisch von »production«? Bei Rimbaud hätten wir uns darüber nicht gewundert, begriff er doch sein Dichten als Arbeit, solange er sich mit den Arbeitern des Kommuneaufstands identifizierte. Von Mallarmé ist ähnliches nicht zu erwarten. Umso mehr Aufmerksamkeit scheint mir folgende Äußerung zu verdienen: Ah! à l'exprès et propre usage, du rêveur se clôture, au noir d'arbres, en spacieux retirement, la Propriété, comme veut le vulgaire: il faut que je l'aie manquée, avec obstination, durant mes jours – omettant le moyen d'acquisition – pour satisfaire quelque singulier instinct de ne rien posséder et de seulement passer, au risque d'une résidence comme maintenant ouverte à l'aventure qui n'est pas, tout à fait, le hasard, puisqu'il me rapproche, selon que je me fis, de prolétaires. 436
Der »dunkle« Mallarmé macht es uns auch hier nicht leicht. Wir sind jedoch ermächtigt, den folgenden Sinn zu erschließen: Ein »nicht ganz zufälliger Zufall« bringt den Dichter in die Nähe des Proletariers: Der Verzicht auf den Besitz, erzwungen beim Proletarier, freiwillig beim Dichter, der instinktiv sich herrschendem Besitzdenken verschließt, hat eines vor allem gemeinsam: die »Nutzlosigkeit«, die Sterilität der Produktion. Darin liegt aber auch die insgeheime, von Mallarmé hier ausgesprochene Solidarität derjenigen, deren Arbeitsprodukt dazu verurteilt ist, nur anderen oder auch, weil nicht dem Produzenten selbst, niemandem zu nutzen; »nicht ganz zufällige« Solidarität derjenigen, denen der soziale Zufall ein Schicksal zugewiesen hat, aus dem auszubrechen angesichts des ökonomischen Kausalmechanismus nahezu hoffnungslos ist. Müssen wir uns, wenn wir hier auf der richtigen Spur sind, noch darüber wundern, daß Mallarmé sein Produkt, die Poesie, dem Mißbrauch entziehen will, indem er es systematisch verdunkelt? Ist nicht seine ganze Ästhetik Ausdruck jeder Art von Gefolgschaft gegenüber der verdinglichten, arbeitsteiligen, ökonomisierten Gesellschaft? Sollte das künstlerische Weltbild, sollte die Ästhetik des esoterischen, hermetischen Kunstpriesters Mallarmé etwa ungeachtet seiner Komplexität und evasorischen Sublimation eine Struktur aufweisen, die sich durchaus homolog zur konkreten gesellschaftlichen Situation verhält? Wenn wir Stellen wie die zitierte – zugegebenermaßen seltene Stellen – richtig interpretieren, dann zeigt das opake Gespinst vielfältiger Vermittlungen plötzliche Lücken, Durchsichten, Einblicke, die uns das Werk Mallarmés, seinen Begriff der poésie pure, das »ontologische Schema« 437 , das Hugo Friedrich ausmachte, in neuer Weise sehen lassen. Es ist dabei kaum zu übersehen, daß dem Zufall ein Schlüsselwert zukommt. Hasard bildet ein Zentrum, in dem alle Ebenen, alle Schichten sich berühren und das in alle hineinwirkt. Gemeinsame Bezugspunkte sind die Erfahrung einer schlechten und sinnwidrigen Realität als universaler Kontingenz und der Einbruch in den Mechanismus dieser Realität kraft der kalkulierten Dienstbarmachung bzw. Unterwerfung dessen, was als Gesetz dieser Realität empfunden wird: des Zufalls selbst. Daher soll die Sprache selbst sich von dem befreien, was an ihr zufällig und willkürlich ist, für den Au436 437
Ebd. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967, S. 122ff.
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genblick der Poesie. Dichten ist ständiges Überwinden des Zufalls: »[le] hasard vaincu mot par mot [...]« 438 Ihn definitiv besiegen zu wollen und den Menschen aus der Kontingenz befreien, dies allerdings ist »folie«, ist ein »acte absurde« in absurder Welt. Igiturs Versuch, die Identität des Menschen mit sich selbst wiederherzustellen, indem der Zufall durch den »absoluten Zufall« besiegt wird, erweist nur die Identität von hasard absolu und néant. Die Annullierung des hasard führt in den Tod. Doch die Aporie dieses »acte absurde« muß durchdacht werden, sie ist »idée nécessaire«, obwohl »folie«; und Dichtung erfüllt ihren höchsten Anspruch in solcher Welt nur, wenn sie permanent zu dieser Aporie vorstößt, wenn ihre Sprache immer wieder diesen Prozeß vollzieht. Dem Auftrag seiner Ahnen folgend, setzt Igitur alles auf die eine, die »einzige« Zahl, gewinnt und stirbt. Die Selbstvernichtung des Zufalls, die Findung des Absoluten, fällt in das Nichts. Den Zufall eliminieren bedeutet, die Notwendigkeit des Möglichen zu berauben, und das heißt: des Lebens selbst. Unweigerlich aber enthüllt sich dieses Leben damit als das Universum der Absurdität. Es scheint, als sei in dieser Erkenntnis das Geheimnis von Mallarmés letzter und dunkelster Dichtung beschlossen: Un coup de dés jamais n'abolira le hasard. Dieses Gedicht ist in Mallarmés Todesjahr erschienen. Es im Rahmen dieser Vorlesung zu interpretieren, ist unmöglich. Ich gestehe auch, daß ich einen solchen Versuch nicht unternehmen würde, ohne mich vorher zu einem MallarméSpezialisten ausgebildet zu haben. Ganze Bücher sind diesem einen Gedicht schon gewidmet worden 439 . Nur ein paar knappe Hinweise: Es fängt damit an, daß der Satz: Un coup de dés jamais n'abolira le hasard auch gelesen werden könnte: le hasard jamais n'abolira un coup de dés. Die von der Schulgrammatik sanktionierte Folge: Subjekt, Prädikat, Objekt ist Mallarmé völlig egal. Zwischen die vier Glieder des Satzes sind lange Parenthesen eingeschoben, das Ganze somit zu einem Monstrum von Satz ausgedehnt, der nicht weniger als 21 Seiten beansprucht und keinerlei Interpunktion aufweist. Dieser Umfang kommt freilich nicht allein durch die Zahl der Worte zustande, sondern mehr noch durch die weißen Flächen, die Durchschüsse, die Verteilung der Worte auf die Seiten. Auf das erste Satzglied – »Un coup de dés« – folgt erst einmal eine leere Seite, dann eine, die zu Dreivierteln weiß bleibt, bevor »Jamais« auftritt, mit einem langen, von links oben bis rechts unten über zwei Seiten und den Mittelfalz hinweglaufenden Satz. Die Anordnung der Satzglieder mit dem Weiß des Blattes, den Zwischenräumen, ergibt Gebilde, deren Symbolwert allenfalls zu ahnen, aber nicht genau zu bestimmen ist. Der Weg zum Verständnis dieses Gedichts führt, wenn es einen gibt, über Igitur. Von der Hoffnung Igiturs, dem erfüllten Vermächtnis des revoltierenden Menschenund Engelsgeschlechts, einer zweiten Erlösung, blieb nichts übrig als der Entschluß, unentwegt mit den Mitteln der Dichtung anzukämpfen gegen die Absurdität des kontingenten Lebens. Dichtung ist unablässiger Kampf gegen den Zufall, der doch, als Signatur der verhaßten Realität und als ein Moment des Möglichen im Notwendigen, in die Dichtung eingehen muß insofern, als Dichtung ihn überwindet. Diese Konzeption der Dichtung bedarf des Zufalls als ihres konstitutiven Wider-
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»Variations sur un sujet« (Quant au livre), in: Œuvres complètes, S. 387. Vgl. z. B. Robert Greer-Cohn, » Un coup de Dés« – An exegesis, New Haven 1949. 163
stands, an dem sie sich entzündet. Es ist auch der Kampf der Sprache gegen ihre eigene Zufälligkeit, ein Kampf, bei dem der Zufall selbst eingesetzt wird gleich dem Würfelwurf, ein Kampf gegen die Zufälligkeit der Signifikanten um die Erkenntnis der verschütteten Signifikate, deren Wiederentdeckung gleich ist dem schöpferischen Akt. Die letzten Worte von Mallarmés letztem Werk – dem Coup de dés – lauten: »Toute Pensée émet un Coup de Dés.« 440 Der Coup de dés läßt eine Folgerung als gewiß erscheinen: niemals wird der Zufall den Zufall vernichten, doch jede schöpferische Tat ist ein partieller Sieg über die Kontingenz, über das falsche Sein, über die sinnentfremdete Realität. Nur im einzigen und einzigartigen Augenblick der poésie pure vertilgt der Zufall sich selbst. Wir wollen die Frage stellen, ob, was wir bisher eruiert haben über die Vorstellungswelt Mallarmés und die Möglichkeiten ihrer Reduktion auf die Grundtatsachen gesellschaftlicher Natur, auch tauglich ist für die Interpretation einzelner Gedichte, die, ganz und gar jenseits aller Realität angesiedelt, mit dieser nichts zu tun zu haben scheinen. Muß nicht das wirklichkeitsfremde Gebilde sich letztlich als dasjenige erweisen, das kraft jener gewollten Ferne sich als von dieser Wirklichkeit besonders stigmatisiert zeigt? Wir wollen es uns nicht leicht machen – Mallarmé gestattet dies einfach nicht, zumal auch das Leichteste bei ihm zum Schwierigsten wird. Bevor wir ihn verlassen, wollen wir noch einen Blick auf zwei weitere Gedichte werfen: ein Versgedicht und ein Prosagedicht: Autre Éventail (de Mlle Mallarmé) und Le Nénuphar blanc.
»Autre Éventail de Mlle Mallarmé« – Möglichkeiten der Interpretation Éventail – man trug Fächer in der Gesellschaft, die Damen natürlich – Requisit der Mode, der Koketterie, der Verschleierung, der Verschönerung, des Geheimnisses, der Galanterie, der kultivierten Erotik. Die Dame, die schmachtende Bewunderer kollektionierte, ließ sich den Fächer mit galanten Versen beschreiben, mit Huldigungen, an denen nicht nur momentane Pflichtübung oder Enthusiasmus, sondern auch poetischer Ehrgeiz sich kristallisieren konnte. Es sind Gelegenheitsverse, vers de circonstance, belanglose Drechseleien meist. Mallarmé, Direktor eines Modejournals, wäre nicht Mallarmé gewesen, hätte er nicht selbst die Gelegenheitsgedichte dieser Art mit der makellosen Eleganz seiner »écriture« ausgestattet. 18 sogenannte Eventails, meist Vierzeiler, hat er diversen Damen in den Fächer geschrieben 441 . Doch der Fächer wurde ihm selbst Gegenstand der Poesie oder besser: poetischer Gegenstand. Von den drei mehrstrophigen Gedichten, die ihm gewidmet sind, greifen wir eines heraus: Autre Eventail, Untertitel: de Mademoiselle Mallarmé. O rêveuse, pour que je plonge Au pur délice sans chemin,
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»Un coup de dés jamais n'abolira le hasard«, in: Œuvres complètes, S. 477. Die Sammlung der »Eventails« findet sich in der zitierten Ausgabe auf den Seiten 107110.
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Sache, par un subtil mensonge, Garder mon aile dans ta main.
Une fraîcheur de crépuscule Te vient à chaque battement Dont le coup prisonnier recule L'horizon délicatement.
Vertige! voici que frissonne L'espace comme un grand baiser Qui, fou de naître pour personne, Ne peut jaillir ni s'apaiser.
Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu'un rire enseveli Se couler du coin de ta bouche Au fond de l'unanime pli!
Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d'or, ce l'est, Ce blanc vol fermé que tu poses Contre le feu d'un bracelet. 442
Man mag sich, einer ernstzunehmenden, aber längst modisch verkommenden Fragestellung gehorchend, fragen: worauf beruht die »gesellschaftliche Relevanz« eines Gedichts über den Fächer? Die Antwort auf diese Frage lautet für's erste: darin, daß es dieses Gedicht gibt und daß es fasziniert. Keine Frage: das Gedicht ist dunkel, von gewollter, raffinierter, ausgeklügelter Dunkelheit. Der Leser soll herausfinden, was es enthält, nicht bloß an Sicherem, sondern auch an Möglichem. Das bedeutet freilich noch keine absolute Beliebigkeit, sondern besagt, daß die Sinnschichten, die im Gedicht hermetisch geborgen sind und aufgedeckt werden können, miteinander in Beziehung stehen, vielleicht: daß die eine der anderen Metapher ist und umgekehrt. Eindeutig auszumachen ist nur folgendes: Es spricht ein Ich, dieses Ich ist der Fächer, der sich in der Hand eines Mädchens – Mlle Mallarmé – befindet, und es ist dieses Mädchen, zu dem er spricht, in fünf Vierzeilerstrophen. Wahrzunehmen ist ein Erlebnisvorgang, wechselnde, sich steigernde Empfindungen des Fächers, der, von der Hand des Mädchens entfaltet, bewegt wird, zusammengefaltet, an den Mund geführt und an das blitzende Armband des Mädchens gelehnt wird wie ein Szepter. Wer, wie ich soeben, diesen Vorgang beschreibt, schreckt sogleich zurück, weil er sich sofort bewußt wird, daß solche Konkretheit der Entkonkretisierung des Vorgangs total unangemessen bleibt. Klar ist, daß der Fächer für etwas anderes steht, für ein Wesen, das seine Gedanken und Wünsche auf ihn überträgt und auf die Si-
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»Feuillets d'album«, ebd., S. 58. 165
tuation des Fächers in der Hand des ihn bewegenden Mädchens. Ist es der Liebende schlechthin, ist es der Dichter? Oder beides? Wir wollen zwei Interpreten miteinander konfrontieren, die nicht anstehen oder anstanden, sich unter Wahrung der kontroversen Meinungen des größten Respekts zu versichern. Beiden gebührt das Prädikat höchster Kompetenz. Ich nenne zuerst Hugo Friedrich. Seine Deutung des Gedichts – in Die Struktur der modernen Lyrik – lautet wie folgt: Ein zwiefacher Vorgang spielt sich ab, ein dinglicher und ein geistiger. Der erste ist so einfach wie möglich: ein offener Fächer wird bewegt und dann zusammengefaltet. Der Vorgang ist jedoch identisch mit dem geistigen; man kann zur Not sagen, daß er diesen symbolisiert. Nämlich: im Fächer lebt >die reine, weglose Lust< nach oben, in die unbegrenzt sich weitende Idealität. Doch der >Raum< – stellvertretend für die Idealität – >erschauert wie ein großer Kuß, der, irregeworden, weil er für keinen entsteht, nicht heraus noch zur Ruhe kann<. Auch das Absolute leidet an der Isolierung; sein >Kuß< findet den Geist nicht, der ihn empfangen sollte. Daher schließt sich der Fächer. Auch der hinaufstrebende Wille mißlingt, sinkt auf sich selbst zurück, behält nichts als das >begrabene Lächeln<, das Wissen vom zwiefachen Mißlingen. Nur eines bleibt: >rosige Ufer still auf dem Gold der Abende< – der Schimmer des Absoluten. Er bleibt im doppelten Wortsinn: er kommt nicht voran, wird nie zum vollen Licht; aber er bleibt auch als Verewigung durch das Wort, das sich am Unmöglichen versucht hat. Im Wort, obschon es insuffizient ist, hat das Nichts mit seiner eigenen Isolierung eine behelfsmäßige Stätte. Die Symbolsprache der letzten Strophe drückt das so aus: >Das ist er, der weiße geschlossene Flug, den du ans Feuer eines Armbands lehnst<. Durch das schöne, dunkle Gedicht zieht eine tiefe Resignation. 443
Hören wir nun, nach Hugo Friedrich, einen anderen großen Romanisten: Leo Spitzer, über dasselbe Gedicht. Ich referiere in verkürzender Form das einschlägige Kapitel von Spitzers Gastvorlesung im Sommersemester 1958 in Heidelberg, gedruckt unter dem Titel Interpretationen zur Geschichte der französischen Lyrik 444 : »O Rêveuse« – das Mädchen wird ganz auf den Zustand »träumerisch« festgelegt, mit großen Anfangsbuchstaben, in einer Haltung, die durch das ganze Gedicht, für den ganzen Vorgang verbindlich ist. Der Fächer, zu dem der Liebhaber geworden ist, will «plonger au pur délice«. Daß nicht »dans le pur délice« steht, sondern »au pur délice«, nimmt die zweifellos erotisch gemeinte Hinwendung zurück ins Distanzierte, Ungefährliche. »Sans chemin« dürfte eine ähnliche Funktion haben: Bedarf das Ziel keines Weges? Das Begehren wird gleichsam unwirklich. Und nur unter dieser Voraussetzung, und weil das Mädchen auf den Zustand der Träumerei festgelegt wird, der auch der Unschuld erlaubt, die Grenze zur Sinnlichkeit aufzulösen, nur deshalb darf der Fächer dem Mädchen zumuten, seinen »Flügel« (»aile«) in der Hand zu behalten und so zu tun, als wisse sie nichts von der Lust, welche sie dadurch dem Fächer bereitet; das dürfte gemeint sein mit dem »subtil mensonge«, um den die »Träumerische« gebeten wird. Ungeklärt muß noch bleiben, weshalb von »aile« gesprochen wird, weshalb damit die Assoziation »Vogelflügel« erzeugt wird. Ist es nur, um das »battement« der folgenden Strophe vorzubereiten: die Be-
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Hugo Friedrich, op. cit., S. 132 f. Leo Spitzer, Interpretationen zur Geschichte der französischen Lyrik, Heidelberg 1961.
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wegung des Fächers als Flügelschlag? »Vielleicht – so meint Spitzer – ist auch das träumende Mädchen diejenige, die ihn als Vogelflügel sieht.« 445 Etwas leichter hat man es mit der zweiten Strophe. Frische Abendluft holt sich das Mädchen aus jedem Schwenken des Fächers, jedem Flügelschlag des in der Hand Gefangenen, mit dem sich zart – »délicatement« – der Horizont weitet – knüpft »délicatement« an an »pur délice sans chemin« der ersten Strophe? Ein dramatisches Moment führt nach Spitzer das »vertige« der dritten Strophe ein. Wem ist schwindelig zumute? Dem Fächer? Vom Hin und Her der Bewegung? Der Raum, den er durchmißt, erzittert wie ein großer Kuß, der, wie immer begehrt, doch unwirklich bleibt. Jetzt wird – so Spitzer – die erotische Situation des Fächers, also des Liebhabers klar: er möchte küssen wie der Raum, aber da er nicht küssen kann, ist er »fou«, »toll«, »verwirrt«, »schwindelig«. Der Kuß wird geboren, aber dabei verhindert, geboren zu werden, denn er kann kein Ziel finden – »fou de naître pour personne«. Spitzer fährt fort: »Dieses peinliche Gefühl des erotischen Zitterns, des Schwindel-Glückseins der >folie<, das der Leser in seinen eigenen nervlichen Erinnerungen solcher Situationen gut miterleben kann, ist natürlich durch die unantastbare keusche Natur des Mädchens gegeben.« 446 Von den Empfindungen und Wünschen des Liebhabers-Fächers war in den ersten drei Strophen vorwiegend die Rede. In Strophe IV wird nach den Gefühlen des Mädchens gefragt: »Sens-tu [...]?« Doch eine Antwort gibt das Mädchen nicht. Wir erhalten nur die Antwort, die in der Frage liegt: fühlst Du das »paradis farouche« wie ein »begrabenes Lachen« vom Winkel Deines Mundes zum Grunde des »unanime pli« fließen! Das Mädchen hat den Fächer inzwischen gefaltet und zum Munde geführt, so darf man schließen. Bei Spitzer heißt es: >Le paradis farouche< – das muß offenbar die wütende Geschlechtsliebe mit ihren maßlosen Genüssen sein, die Steigerung des >pur délice sans chemin<, des direkten Genusses. Das Paradies ist begraben nach dem Aufflammen des Begehrens in dem Kuß, der verhindert wurde – >enseveli< = begraben ist eine endgültige Besiegelung des Schicksals des Liebesverlangens. Das geträumte Paradies der Lust ist ebenso begraben, wie ein Lachen bei ihr begraben ist. 447
Bevor Spitzer auf die fünfte Strophe, die letzte, eingeht, rekapituliert er die Erscheinungsweisen des Fächers: in Strophe I erschien er als »Flügel«, offen in der Hand des Mädchens; in Strophe II geschwenkt, »battement«, dann, in Strophe III als durch die Bewegung vom Schwindel erfaßt; in Strophe IV zusammengefaltet zum Stab, zum »unanime pli«, in dem das »paradis farouche» sich birgt wie ein »begrabenes Lachen«, sehen wir ihn in Strophe V als Szepter, als fürstlichen Stab und zugleich als »blanc vol fermé», als verhinderten weißen Flug: gehemmter Flügelschlag, gefangen wie im »coup prisonnier« von Strophe II. Das Szepter ist das Szepter der Herrschaft über die »rosa Ufer«, die »rivages roses», den stilliegenden goldenen Abend, »stagnants sur les soirs d'or«. Die Bewegung des begehrenden, herrscherlichen Fächers ist stillgelegt. Ahnungsvoll ob der Gefahr hat die »rêveuse« ihn zusammengefaltet, seinen Flug gehemmt und ihn ans Feuer ihres Arm445 446 447
Ebd., S. 182. Ebd., S.183. Ebd. 167
bands gefesselt. Doch etwas Enttäuschendes liegt über dem Sieg der Jungfräulichkeit über die Leidenschaft, wie Spitzer meint: »Der weiße, verhinderte Flug des Fächers kommt neben ein Feuer zu stehen, das weiterglüht, wie auch das Mädchen vielleicht eines Tages aus der Stagnation herausfinden und das >paradis farouche< des erotischen Liebesglücks erfahren wird.« 448 Leo Spitzer hat die – sehr viel kürzere – Deutung unseres Gedichts durch Hugo Friedrich gekannt und hat sie »in extenso« zitiert, so wie wir auch. Er konfrontiert sie mit seiner eigenen, in geistreicher Weise: Wir haben jetzt vor uns zwei Interpretationen von Romanisten. Der eine behauptet, es sei hier gestaltet das Absolute und das Wort, die nie zueinanderkommen können, und der andere Romanist glaubt, es handelt sich um die Keuschheit des Mädchens, die durch den Fächer versinnbildlicht wird. Es scheint eine verzweifelte Situation zu sein! Ich erinnere mich, daß ich in jüngeren Jahren einmal in einer Fakultätskommission zu beraten hatte, wie ein Professor der Assyriologie ersetzt werden sollte; der Fachvertreter gab einen Bericht und schloß einen Kollegen definitiv aus. – »Was hat er denn so Furchtbares gemacht?« – »Oh, er übersetzt ganz falsch.« – »Geben Sie uns ein Beispiel«, haben wir gesagt. Das Beispiel für die Übersetzung war ungefähr: »Die Pferde trabten majestätisch dahin.« Und wir fragten: »Was ist der richtige Sinn?« – »Götter, gebt uns den langersehnten Regen!« Es war so; ich übertreibe nicht! Kein wesentliches Wort der einen Übersetzung war mit der anderen gemeinsam, und die Grundsituation war eine andere. Wir haben uns alle gesagt: »Es muß mit der Assyriologie schlecht stehen ... Gott sei Dank, daß wir nicht ein solches Fach haben! « Nun, es scheint aber hier, angesichts des Mallarmé-Gedichtes, daß wir mitten in der Assyriologie drin sind!! 449
Spitzer versucht, die Divergenz näher zu bestimmen, wenn er sagt: » Herr Friedrich kennt den ganzen Mallarmé ausgezeichnet – ich gehe mehr von dem einzelnen Gedicht aus.« 450 Daran liegt es in der Tat: Hugo Friedrich beharrt darauf – ich habe mit ihm darüber gesprochen –, daß nur bei Heranziehung des gesamten ontologischen Schemas, aller Ausgestaltungen von Mallarmés Symbolwelt, das Einzelgedicht adäquat interpretiert werden kann. Spitzer dagegen abstrahiert von allem, was er ansonsten über Mallarmé weiß. Die Divergenz respektierend, wendet er sich an seine Zuhörer bzw. Leser: »Ich muß Sie in dieser assyrischen Situation belassen.« 451 Wir fragen: Liegt eine solche wirklich vor? Ich glaube nicht. Die folgenden, noch unausgereiften Bemerkungen zum Eventail de Mlle Mallarmé zielen auf eine Vermittlung der beiden Positionen. Die vermittelnde Schicht, die wir zu entdecken glauben, ist ein Mythologem, das vielleicht nur deshalb noch nicht entziffert wurde, weil man es nicht zu entziffern wagte in Anbetracht eines Gedichts, das Mallarmé Mademoiselle Mallarmé, der Vater seiner Tochter gewidmet hat oder haben soll. Versuchen wir Spitzers »erotische« Deutung weiterzudenken bis hin zur Ermittlung einer Schicht, die nur neben der mythologischen auch eine eindeutig sexualsymbo-
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Spitzer, op. cit., S. 184. Ebd., S. 186f. Ebd., S. 187. Ebd.
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lische Komponente zu haben scheint. Man wird verstehen, daß ich mich bei der Darlegung dieses Aspekts einer gewissen Zurückhaltung befleißige. Was ist das für ein Fächer, der in der Hand eines träumerischen Mädchens sich als Flügel, als von der Hand des Mädchens liebkoster und in die Liebkosung »eintauchender« Flügel versteht? Die Träumende weiß nicht, weiß kaum, was ihr geschieht, indem sie den Flügel dieses Vogels in ihrer Hand bewahrt. Hunderte von Gemälden, Zeichnungen, Graphiken, ja Skulpturen belegen, zwischen den Extremen von äußerster Dezenz und massiver Obszönität, was hier gemeint ist: Leda und der Schwan – die Jungfrau in unbestimmter Erwartung des Numinosen und der Schwan, Jupiter, der Fürst der Götter. Kein Wunder, daß er am Schluß, im Bild des gefalteten Fächers, zum herrscherlichen »Szepter« wird, obgleich gefangen und gehemmt am weißen Flug seines Schwan-Seins durch den Widerstand der Unschuld. Bezwungen, stagnierend, ruht das Szepter, der zusammengefaltete Fächer, am Arm des Mädchens, das ihn gefaltet hat, zur Ruhe gezwungen. Es hat seinen Schwindel gezähmt, den »grand baiser«, der außer sich ist – »fou« –, weil ohne Ziel, ohne Erfolg, und weder aufbrechen noch Beruhigung finden kann- » ne peut j aillir ni s'apaiser«. Die erotische Metaphorik ist hier so deutlich, daß sie auch als sexuelle Metaphorik begriffen werden muß. Im Weder-Noch, ja in der unbefriedeten Lust dieses Weder-Noch ist das Leben »begraben« und aufgehoben vom Mundwinkel des Mädchens bis zum Grund des, nach manchem Flügelschlag, zusammengefalteten Fächers. »Unanime pli« – Fächer-Schwan hat sich abgefunden mit dem Nicht-Vollziehen, mit der nur halb befriedigten Lust, mit der Respektierung einer Keuschheit, die nur im Traume sich ergab. Jupiters, des göttlichen Verführers Herrschaft, sein Szepter »stagniert«. Die hochgradige erotische Spannung ist nicht zu übersehen. Sie gipfelt in der dritten, der mittleren Strophe des Gedichts: im Schwindel – »vertige« –, im Raum, der erschauert wie ein »großer Kuß«, der weder aufbrechen noch befriedet werden kann. »Jaillir« und »apaiser« sind durchsichtige erotische Metaphern. Der erreichte Zustand kaum erfüllter Lust, halb eingelösten Versprechens, weglosen Eintauchens, vorzeitig abgebrochenen Flügelschlags, gefangener Berührung, gebremsten Fluges der weißen Flügel ist eingeschlossen auch in der Wendung »le paradis farouche« – einem Oxymoron fast. Wir sind einem ähnlichen Vorkommen von »farouche« schon einmal begegnet. Ich erinnere an den Faun, der die beiden Nymphen davonträgt, die ihm dann doch noch entfliehen: Je t'adore, courroux des vierges, ô délice Farouche du sacré fardeau nu qui se glisse Pour fuir ma lèvre en feu buvant[...] 452
»Délice farouche«, «paradis farouche«, beides meint dasselbe: die zitternde Widerspenstigkeit des jungfräulichen Fleisches, das zurückgenommene erotische Versprechen. »Délice«, »pur délice« enthält auch unser Gedicht, im zweiten Vers. In Strophe IV wird es gleichsam lokalisiert zum Paradies, das greifbar nahe ist und sich doch der Verwirklichung entzieht. Schlägt man im Wörterbuch nach, was »farouche« bedeutet, so wird man im Micro-Robert belehrt: »qui n'est pas apprivoisé 452
»L'après-midi d'un faune«, in: Œuvres complètes, S. 52. 169
et s'enfuit quand an l'approche« – oder: »qui redoute par tempérament le contact avec d'autres personnes« – und schließlich »d'une rudesse sauvage«. Die Nymphen sind den Armen des Fauns entschlüpft, bevor er seine Lust stillen konnte, aber er will den Traum festhalten: »Ces nymphes, je les veux perpétuer. « Der Fächer, der Vogel, der Schwan hat angesetzt zum weißen Flug im »subtil mensonge« der liebkosenden Hand des Mädchens. Doch »weglos« – »sans chemin« – bleibt die Lust – »pur délice« –, und das Paradies, zu dem der Schwan vorgedrungen ist, verweigert sich: das Mädchen – »farouche« – »begräbt« das »Paradies« wie das Lachen ihres Mundes, indem sie den Fächer zusammenfaltet zum »unanime pli«. »Unanime« meint: mit Zustimmung des Fächers, des Liebenden, des Vogels, des Schwans selbst. Als herrscherliches, fürstliches Szepter, Insignie der Herrschaft über »rosige Ufer«, »stagniert« er im Gold des Abends, Herrscher und Gefangener zugleich, am feurigen Armband des Mädchens stillgelegt und darauf wartend, daß er, der Fächer, zu neuem Flug seiner Schwingen entfaltet werde. Es bedarf nicht allzu vieler Phantasie, um sich klar zu werden, daß der Flügelschlag das einzige physische Mittel des arm- und händelosen Schwans ist, sich Ledas zu bemächtigen. Ist er lahmgelegt – das heißt der Fächer gefaltet –, so ist der Schwan gefangen, in unmittelbarer Nähe des Ziels, das doch unerreichbar bleibt. Erinnert sei noch an zahlreiche Darstellungen des Mythos, in denen der Schnabel des Schwans den Mund Ledas küßt. Ich finde dieses Motiv wieder in Strophe IV unseres Gedichts. Das Herabfließen des «paradis farouche« und des »rire enseveli« vom Mundwinkel des Mädchens auf den Grund des » unanime pli « hat hier seinen Bildvorwurf. Halten wir inne. Daß der Fächer auch als Vogel zu sehen ist, ist kaum zu bestreiten. Daß er ein Schwan ist, ebenso wenig. Man weiß, welche Rolle der Schwan in Mallarmés Werk spielt. Zu den großen Motiven, die sich in der Kunstgeschichte mit dem Schwan assoziieren, gehört die Verbindung der ihm eigenen Göttlichkeit mit Menschlichem: Zeus und Leda. Daß Mallarmé dieser Mythos in seiner Bildlichkeit vorschwebt, hat überhaupt nichts Erstaunliches. Eher wäre es ein Grund zum Verwundern, wenn der größte Schwanenliebhaber unter den Dichtern, der auch noch eine lange Abhandlung über die antike Mythologie übersetzt hat, den Mythos von Leda und dem Schwan niemals und nirgends verwendet hätte 453 . Ein Einwand scheint meine Hypothese zu widerlegen oder ihr doch im Wege zu stehen: Leda hat es mit dem göttlichen Schwan ja wirklich gehabt; sie schenkte ihm immerhin zwei Eier, aus denen Helena und die Dioskuren Kastor und Pollux ausschlüpften – während unser Gedicht keinen Liebesvollzug kennt, nur die Berührung, den Quasivollzug. Aber gerade darauf kommt es Mallarmé an! Auch noch im Nénuphar blanc. Das Begehren des erotisierten Fächers, des Schwans wird suspendiert in der Berührung und im Widerstand des Mädchens, an dessen nur im träumerischen Zustand nachgiebiger Keuschheit. Nur der letzte Vers – »contre le feu d'un bracelet« – läßt vermuten, daß es sich, wie bei Hérodiade, um eine »cha453
In diesem Zusammenhang wäre auch ein Jugendgedicht Mallarmés zu erwähnen: »A une petite laveuse blonde«, ebd., S.16 ff.; zum Leda-Mythos und zur folgenden Interpretation von Mallarmés »Nénuphar blanc« vgl. Erich Köhler, »Seerose und Schwanenei. Zu Mallarmé: Le nénuphar blanc«, zuletzt in: E. K., Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1982, S. 213-241.
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steté qui brûle« handelt. Der Fächer ist der Schwan, der Schwan ist Zeus. Die Berührung des göttlichen Herrschers – siehe sein Szepter – mit der irdischen Frau ist auch die Berührung des Geistes mit der Materie. Der Schwan ist auch Symbol des Dichters, seine »Weiße« ist die »pureté « der Dichtung. Seine Lust, seine Wonne noch ist rein, »pur délice«, von einer »Reinheit« aber, die nicht wäre und nicht zustande käme ohne die ständige, bejahte Verführung zur Erfüllung der Lust. Erfüllung aber wäre zugleich deren Tod, wäre auch der Tod der Dichtung, das Absterben des Geistes. Der Fächer in der Hand des Mädchens ist wie der Schwanenhals, den Leda wie liebkosend hält auf einem berühmten Gemälde Leonardo da Vincis, das im übrigen eine überaus zurückhaltende, verträumte, keusche Leda zeigt. Nichts ist hier zu verspüren von jener anderen Seite des Leda-Mythos, dem manche Darstellungen huldigen, von der sodomitischen – von »la belle et la bête«. So unwirklich wie die erotische Begegnung von Fächer und Mädchen, so unwirklich, erfunden, wie Zeus und Leda, so wirklich sind beide als Schöpfungen des Geistes und dessen eigener Wirklichkeit. Lüge sind sie, als Erfundenes, Lüge, als Fiktion, aber herrliche Lüge, weil den Trümmern einer nichtigen Realität abgerungen. Wir stoßen auf Mallarmés Traum von einem »Livre«, dem Buch der poésie pure, dem er den Titel geben wollte: »La Gloire du mensonge» oder »Le Glorieux Mensonge« 454 . Gemeint ist die Welt, erschaffen aus der Begegnung der Dichtung mit dem Nichts: die Wirklichkeit des Absoluten als herrliche Lüge. Werfen wir noch einmal einen Blick auf unser Gedicht, Strophe I, Vers 3: »subtil mensonge«. Vorspiegeln soll die Träumerische die Einwilligung in die Liebkosung ihrer Hand, feinsinnige, kaum bewußte »Lüge«, aus der entsteht, was das ganze Gedicht ausmacht, verengt im Erotischen und ausgeweitet zur universalen Funktion der Poesie: der herrlichen Lüge der Kunst der Erschaffung einer Welt aus der sündigen und sich doch ihrer »Reinheit« vergewissernden Berührung des Geistes mit dem Fleisch, die schon immer Erkenntnis verhieß, ihr Versprechen aber nur hält, wenn man ihr nicht erliegt. Mallarmé hat das » Livre «, das » Le Glorieux Mensonge « heißen sollte, nicht geschrieben oder vielmehr: es ist Fragment geblieben. Wie heißt es bei Hugo Friedrich? [der Schimmer des Absoluten] bleibt im doppelten Wortsinn: er kommt nicht voran, wird nie zum vollen Licht; aber er bleibt auch als Verewigung durch das Wort, das sich am Unmöglichen versucht hat. 455
Ich glaube, die Vermittlung ist hergestellt zwischen einer Interpretation, die zu sehr, weil allein auf der erotischen Bedeutungsschicht, auf dem vordergründigen Vorgang insistierte, und einer Deutung, die zwar nicht zu hoch griff, aber nicht wahrhatte, was hier sublimiert wurde. Weder brauchte Leo Spitzer Hugo Friedrichs Deutung zu verwerfen noch Hugo Friedrich diejenige Leo Spitzers. Sie haben beide Recht, aber nur zusammen. Wir sind heraus aus der »assyrischen Situation«, aber – wie ich glaube – nur dank der Einsicht in die subtil kaschierte Wirksamkeit des Leda-Mythos, der beides enthält: das erotische Begehren und den Aufstieg der 454 455
»Lettre à Henri Cazalis, fin avril 1866«, in: Correspondance, Bd. 1, S. 208. Friedrich, op. cit., S.132 f. 171
Poesie zur Erkenntnis – göttliche Erlösung aus der Sterilität, die bewahrt, was an ihr keusch war – als »pureté« – und sich doch dem göttlichen Kusse hingibt.
»Le Nénuphar blanc« – der Traum des nicht stattfindenden Glücks Wir finden die Spur des Mythos, von dem wir sprachen, auch im letzten Gedicht, das wir besprechen wollen, im Prosagedicht Le Nénuphar blanc. In der Mitte des letzten Abschnitts finden Sie: »un noble œuf de cygne, tel que n'en jaillira le vol [...] «. 456 Ich denke, daß »jaillir« und »vol« deutlich an Eventail erinnern, und daran, daß Leda ihrem Zeus nicht gleich fertige Kinder, sondern erst einmal Schwaneneier gebärt. Was sollte das Schwanenei hier, wenn es nicht eine Signalfunktion hätte! Zwar ist der Stellenwert dieses Motivs kaum zu vergleichen mit der Funktion, die es im Eventail hat, ist es eher Begleitmotiv; wir wollen es gleichwohl im Auge behalten, denn immerhin wird das »Schwanenei« identifiziert mit der Blume, die den Titel unseres Prosagedichts hergibt: mit der weißen Seerose. Bei unserem Versuch einer Interpretation können wir ausgehen von einer Studie von Hugo Friedrich, in Band I seiner 1972 erschienenen Aufsätze: Romanische Literaturen 457 . Zunächst gilt es zu skizzieren, was vorgeht in unserem Gedicht, was geschieht: J'avais beaucoup ramé, d'un grand geste net assoupi, les yeux au-dedans fixés sur l'entier oubli d'aller, comme le rire de l'heure coulait alentour. 458
So beginnt das Prosagedicht. Selbstvergessen, in sich versunken, rudert das Ich, der Dichter, an einem »flammenden Julitag« 459 auf einem schmalen, sich vielfach verästelnden Fluß, richtungslos, wie es scheint, und doch, wie wir etwas später erfahren, mit dem Ziel, der Freundin einer Freundin, einer unbekannten Dame, einen unerwarteten Besuch abzustatten. Dämmerndes Nichtstun, Nichtsdenken, vages Träumen, allein dem Geräusch des Ruderns hingegeben, Träumerei ohne Inhalt zunächst, steht am Anfang: Bewußtlosigkeit, die plötzlich durchbrochen wird: die Fahrt des Kahns wird aufgehalten, mitten im Fluß, durch ein dichtes Gebüsch von Schilf. Aufgescheucht aus seiner inhaltslosen, ruhigen Träumerei, findet der Ruderer zurück zu seiner »identité mondaine«, zu seinem realen Ich. Doch die Rückkehr zum Bewußtsein wird erst recht zum Geheimnis. »Terme mystérieux de ma course« ist das Wäldchen aus Schilf; die leichten Wellen des Flusses, gespeist hier von Quellen, sind wie die Lässigkeit eines Teiches, dessen sanfte Falten das Zögern bedeuten, das die Quelle kennt, die weiterfließen soll: »elle étale un nonchaloir d'étang plissé des hésitations à partir qu'a une source.« Die Quelle, die zögert, das Wasser, das sie gebiert, weiterzugeben, und dieses Zögern anzeigt im leisen Wellengang des Teiches, das ist nicht nur ein anschauliches, obgleich intellektualisiertes Bild, sondern 456 457 458 459
»Le Nénuphar blanc«, in: Œuvres complètes, S. 286. Hugo Friedrich, Romanische Literaturen, Bd. 1, Frankfurt/Main 1972, S. 227-236. »Le Nénuphar blanc«, in: Œuvres complètes, S. 283. Ebd., S. 284 (»juillet de flamme«). Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate.
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auch Vorwegnahme des Widerstands gegen die Hin- und Preisgabe an das Andere, das Fremde. Das aus seiner Träumerei aufgestörte Ich, der Ruderer, ist gezwungen, sich zu erinnern: »Qu'arrivait-il, où étais-je?« Jetzt erkennt er: Hinter dem Schilfgebüsch, das den Lauf seines Kahns aufhielt, beginnt die Domäne, der Besitz, der Park jener unbekannten Dame, die er aufsuchen wollte: » l'inconnue à saluer. « Seine Phantasie beginnt zu arbeiten: die »feuchte« Zurückgezogenheit, die jene Dame gewählt hat in undurchdringlicher Einsamkeit – »retraite aussi humidement impénétrable« ist so ganz nach seinem Geschmack. Gewiß hat sie aus jenem Kristall – dem Wasser – den Spiegel ihres Inneren gemacht zum Schutz gegen die indiskrete Helligkeit des Nachmittags. Der kühle Silberdunst der Weisen verschmilzt mit der Klarheit ihres Blicks, der mit jedem Blatt vertraut ist. Der einsame Ruderer hat, erwacht aus seinem Traum, angestoßen durch das angetroffene Hindernis, begonnen, in seiner Vorstellung die Welt zu konstruieren, in welcher die Dame lebt. Jetzt schon ist sie so sehr das Geschöpf seiner Phantasie, daß wir ahnen, ihre Wirklichkeit könnte dem Bild nur schaden, könnte nur enttäuschen. Er hält inne. Umrahmt von zwei Blancs steht der etwas rätselhafte Satz: »Toute je l'évoquais lustrale.« »Lustrale«, alle fünf Jahre wiederkehrend, zugleich die Vorstellung von »Reinheit« und Glanz beschwörend, meint eine Seltenheit, die so selten ist, daß es sich verbietet, auf eine Begegnung mit ihr zu bauen. Sie kann imaginiert, jedoch kaum jemals angetroffen werden. Wieder ahnen wir, daß der Ruderer davor zurückscheuen wird, das von ihm entworfene Wunschbild zu verifizieren, die Kristallisation seiner Idealvorstellungen einer Probe auszusetzen. Der Ruderer überrascht sich dabei, wie er in seinem Kahn vorgebeugt sitzt, wie spähend, ob aus dem Bilde seiner Phantasie sich eine Gestalt löst, die jener Phantasie Wirklichkeit verleiht; er lächelt selbst angesichts der von ihm entworfenen »possibilité féminine«. »Die Fremde ist nicht da«, so kommentiert Hugo Friedrich, »aber eine Wesenheit ist da: die als Schweigen waltende Spannung ihres möglichen Kommens – die schweigende Spannung der Möglichkeit. [...] nicht die Realität einer anwesenden Frau wird sein seelisches Ziel, sondern die von ihm selber hervorgebrachte bloße Möglichkeit, deren Vorrang vor dem Wirklichen sich bald herausstellen wird.« 460 Ein fast unmerkliches Geräusch unterbricht die Stille der Meditation, ein Geräusch wie ein Schritt, das sogleich wieder erlischt: » Le pas cessa, pourquoi?« 461 Wieder beginnt die Phantasie zu arbeiten, das Bild konkretisiert sich. Es ist der Schritt, das vermutete Schreiten der Unbekannten, das den Anstoß gibt zu einem Bild, das, fast lasziv weibliche Eleganz, gesichtslose Betörung beschwörend, den erotischen Impuls offenbart, der mit am Anfang der Kahnfahrt stand. Jener kaum vernommene, eher erahnte Schritt ist das »subtil secret des pieds«, die, kommend, gehend, den Geist dorthin führen, wo der »teure, verborgene Schatten« – Rest der sinnlichen Wünsche? – ihn haben will. Das Bild der Unbekannten, geformt von der Phantasie, vom Wunschbild, wird zur Erscheinung der erträumten Geliebten, verborgen in Batist und Spitzen eines zum Boden fließenden Faltenrocks, den das
460 461
Friedrich, Romanische Literaturen, S. 230. »Le Nénuphar blanc«, S. 285. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 173
Schreiten der zwiefach wissenden Pfeile, das heißt der Beine, öffnet zum Schritt und ihn umfließt von der Zehe bis zur Ferse: Subtil secret des pieds qui vont, viennent, conduisent l'esprit où le veut la chère ombre enfouie en de la batiste et les dentelles d'une jupe affluant sur le sol comme pour circonvenir du talon à l'orteil, dans une flottaison, cette initiative par quoi la marche s'ouvre, tout au bas et les plis rejetés en traîne, une échappée, de sa double flèche savante.
Unverkennbar ist das sinnlich-erotische Element dieser Vision. Es wird noch gesteigert, da der Betrachter, unser Ruderer, nach den Ursachen für das Verharren der Schritte der Unbekannten fragt und, sie imaginär apostrophierend, befragt: »- A quel type s'ajustent vos traits, je sens leur précision, Madame, interrompre chose installée ici par le bruissement d'une venue, oui! ce charme instinctif d'en dessous que ne défend pas contre l'explorateur la plus authentiquement nouée, avec une boucle en diamant, des ceintures. Si vague concept se suffit: et ne transgressera le délice empreint de généralité qui permet et ordonne d'exclure tous visages [...]«
Die für einen kurzen Augenblick geradezu aufdringliche Sinnlichkeit und Erotik wird im Kontext sogleich zurückgenommen: die Wonne (»délice«) ist »empreint de généralité«, die alte Hinwendung zum Einzelnen. Die Konkretisierung des Begehrens ist vermieden im Ausschalten eines individuellen Gesichts. Die in Gedanken gesprochene Apostrophierung der Dame ist damit beendet. Noch hat sich das Begehren nicht im Weiß des Zeilenabstands verflüchtigt: »Ma présentation, en cette tenue de maraudeur aquatique, je la peux tenter, avec l'excuse du hasard. « Doch der Entschluß zur Tat hält inne, bevor er gefaßt ist; weicht dem nächsten Gedanken: » Séparés, on est ensemble. « Wahres Beieinandersein gibt es nur in der Trennung. Mehr als durch einen Besuch, ja mehrere Besuche, gelingt es mir so, in der Schwebe auf dem Wasser, wo mein Traum die Unentschiedene (nicht Erkannte) zurückhält, in ihre unbestimmte Intimität einzudringen. Wie müßig wären all diese Reden des Besuchers im Vergleich zu jener, die ich jetzt hielt, um nicht gehört zu werden, und wie vieler solcher Reden bedürfte es, um jene Übereinstimmung, jene Harmonie zu erlangen, die mir jetzt zuteil wurde, das Ohr am Holz des Bootes, hinhorchend zum stillgewordenen Ufer. Um wie vieles wirklicher, wesentlicher, schöner, substantieller ist der Traum, ist die bloße » possibilité féminine« als ihre tatsächliche Erscheinung, die alles Lügen strafen könnte – und wahrscheinlich würde! »Séparés, on est ensemble. « Einheit wird erlebt im Getrenntsein, ja nur noch im Getrenntsein (»absence«). Sie löst sich auf, wenn das sinnstiftende Getrenntsein überbrückt wird. Das Eindringen in die Intimität der Frau, die Vermischung mit ihrem Wesen, ist nur als partielles, nie als Ganzes möglich. So schreibt Mallarmé hier-typisch für seinen Spätstil – unter befremdlichem Gebrauch des Teilungsartikels: »je m'immisce à de sa confuse intimité [...]« Wieder folgt ein Blanc. Der Entschluß, auf das Abenteuer zu verzichten, um seinen Gehalt nicht zu zerstören, hat es nicht leicht angesichts der verführerischen Nähe der Unbekannten: » La pause
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se mesure au temps de ma détermination.« 462 Die Zeit steht still für die Dauer der schweren Entschließung – neues Blanc. Zur Entscheidungshilfe wird aufgerufen nicht etwa der Verstand, die Überlegung, nein, sondern der Traum selbst: » Conseille, ô mon rêve, que faire.« Es ist der Traum, dem der Ruderer die Entscheidung anheimstellt, dessen Rat er folgt: ein alles zusammenfassender Blick noch auf die »vierge absence éparse en cette solitude«, auf die »jungfräulich unberührte, in diese Einsamkeit ausgestreute Nicht-Anwesenheit«, dann Wegrudern, sachte, ohne Geräusch. Die Mitnahme der »vierge absence éparse en cette solitude« ist die Bergung eines Erlebnisses in der Erinnerung, ist so, comme on cueille, en mémoire d'un site, l'un de ces magiques nénuphars clos qui y surgissent tout à coup, enveloppant de leur creuse blancheur un rien, fait de songes intacts, du bonheur qui n'aura pas lieu et de mon souffle ici retenu dans la peur d'une apparition, partir avec: tacitement, en déramant peu à peu sans du heurt briser l'illusion [...]
Niemand, der plötzlich hinzukäme, sollte Kenntnis nehmen vom »rapt de mon idéale fleur.« So wie wenn man »in Erinnerung an einen schönen Platz eine der zauberhaften geschlossenen Seerosen pflückt, die plötzlich da sind, in ihrem hohlen Weiß ein Nichts bergend [...], das geschaffen ist aus unversehrten Traumgebilden, aus dem Glück, das nie kommt, und aus meinem Atem, den ich anhielt aus Furcht vor einer Erscheinung: fortgehen damit, unhörbar, langsam wegrudernd, so daß kein Stoß die Täuschung (illusion) zerbricht [...], noch irgend jemand den >Raub meiner idealen Blüte< bemerkt: >le rapt de mon idéale fleur<.« 463 Folgen wir Hugo Friedrich, den wir schon zitierten, und dessen Übersetzung wir gelegentlich benutzten: Der Schluß des Textes sichert die erworbene Traumidealität: >Wenn sie aber [die Unbekannte], gelockt von ungewöhnlichem Gefühl, erschienen ist, die Sinnende oder die Stolze, die Wilde, die Fröhliche, dann schadet es ja nichts diesem unsagbaren Antlitz, das ich für immer nicht kennen werde![...] [Denn] ich manövrierte nun nach der Regel: löste und drehte mein Boot und folgte dem Wogen des Flusses, mit mir nehmend, wie ein edles Schwanenei, daraus niemals der Flug entsteigt, [...] meine unwirkliche Beute (mon imaginaire trophée), die nichts anderes in sich trägt als das kostbare Freisein von sich selber...< 464
Bevor Hugo Friedrich mit seinem Kommentar fortfährt, resümiert er, mit folgenden Worten: Das Prosagedicht Le Nénuphar blanc [...] ist ein Gespinst aus Sichtbarem und nur denkend Erfaßbarem. Es verschwebt zwischen Bild, Erzählung und Symbolik. Sein Verlauf führt über mehrere Ebenen. Als Bild entfaltet sich eine einsame, grüne, nachmittägliche Flußlandschaft im glühenden Juli, mit Schilfbüscheln, Wasserblüten, Binsen, Weiden, mit Einblick in einen Park und seine Quelle. Knappes Realgeschehen spielt sich ab: Rudern, ein schwaches Geräusch läßt den Ruderer aus seiner 462 463 464
Ebd., S. 286. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Übersetzung nach: Friedrich, Romanische Literaturen, S. 232. Ebd., S. 233. 175
Selbstvergessenheit aufwachen; sein Boot ist in der Nähe des Parks stecken geblieben, er vergewissert sich, wo er ist; ein neues Geräusch, so schwach wie das erste, meldet sich, der Träumende erdichtet sich eine im Park gehende Dame, und dann, mit dem Blick über die Einsamkeit schweifend, kehrt er um und rudert zurück. Das ist alles. 465
Ich könnte es dabei belassen, und für alles Weitere auf die Interpretation von Hugo Friedrich verweisen, die wir in wichtigen Zügen bereits herangezogen haben, doch sind, glaube ich, noch Entdeckungen darüber zu machen, welche Erzähl-, Symbolund Bildgeschichten ursprünglich heterogener, sich aber nun verbindender Art jenen Sinn und jenes Thema konstituieren. Betrachten wir zuerst den erzählten Vorgang, reduzieren wir ihn auf seine einfachste, nüchternste Form: ein Mann sucht die Begegnung mit einer Unbekannten. Aus Angst, die Wirklichkeit könnte das Ideal seines Traumes für immer zerstören, verzichtet er auf die Realisierung der schon greifbar nahen Chance. Wir haben vor uns eine Figuration, die wir kennen: die Begegnung mit der schönen Unbekannten, das Verpassen eines Glücks, das plötzlich möglich schien. Bei Baudelaire Chance des Zufalls der Großstadt und der Menge, ist es diese Großstadt und ihre Menge selbst, welche die Chance wieder zunichte macht. Bei Mallarmé sind wir nicht in der Großstadt, sondern in idyllischer Landschaft mit auffällig viel Wasser, wovon noch zu sprechen sein wird. Alle Voraussetzungen für das Gelingen der Begegnung sind gegeben, und selbst von der unbekannten Dame wird andeutungsweise gesagt, daß sie bereit sei für die Begegnung. Frei-willig wird aber auf diese Möglichkeit verzichtet – was »conditio sine qua non« ist für das Thema und für den Sinn des Gedichts. Damit eine Situation geschaffen wird, die solches bereitstellt, mußte zum Motiv der verpaßten Großstadtbegegnung mit der schönen Unbekannten ein zweites hinzutreten, das ebenfalls die Figur der Begegnung enthielt, in ihr aber auch die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung. Es ist das uralte bukolische Motiv der Liebesbegegnung unter freiem Himmel, in lieblicher Landschaft. Victor Hugo hatte in einem Gedicht, das wir seinerzeit interpretierten 466 , die virgilisch-antike Linie dieses Motivs mit der mittelalterlichen, der Begegnung von RitterDichter und Hirtin, verschmolzen. Der Held der Pastourelle ist meist ein von Skrupeln nicht eben geplagter Abenteurer des Liebestriebs, ein erotischer Wegelagerer, verwandt einer Art Faun. Davon ist ein Rest in unserem Gedicht zu spüren in dem »maraudeur aquatique«. Noch etwas anderes gemahnt von Ferne an die Schäferin der Bukolik, ja an das Mädchen der alten, volkstümlichen Lyrik, der Romanze: die Frau ist grundsätzlich liebesbereit, sie erwartet den Mann. Das gilt auch für die unbekannte Dame unseres Gedichts, obgleich nur angedeutet: das ergibt sich nicht nur aus der sinnlichen Beschreibung ihres imaginierten Schreitens, das sich dem spähenden Blick öffnet, nicht nur aus der Angst des Ruderers, sie könnte plötzlich erscheinen und ihn gleichsam zur Begegnung zwingen, sondern in verhaltener Deutlichkeit aus dem letzten Satz des Gedichtes im Bild »jeder Dame«, »toute dame«, die das »Freisein von sich selbst«, »la vacance[...] de 465 466
Ebd. »Elle était déchaussée, elle était décoiffée« (»Les Contemplations« I, XXI); vgl. Erich Köhler, zuletzt in: E. K., Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historischsoziologischen Literaturwissenschaft, München 1976, S. 240-244.
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soi« 467 , in den Alleen ihres Parks aufsucht und lange innehält vor der Frage, ob sie die Quelle, den Bach, überschreitet, auf den sie stößt, das heißt die selbstgesetzten Grenzen hinter sich läßt. Mit »toute dame« ist die Frau ihrer Individualität enthoben, ist sie generalisiert, ist sie Frau schlechthin. Ihre Einsamkeit ist Bedingung dafür, daß sie den Mann erwartet wie die Prinzessin des Märchens, die Königstochter im Turm. Der Erwartete ist auch für sie der Unbekannte, ist der Mann aus der Fremde. Sie ist immer noch Nausikaa, die nicht nur den Mann aus der Fremde erwartet, sondern den göttlichen Fremden. Obwohl ich diesen Archetypus – und ich bin dabei nicht allein – nämlich den Archetypus der Hierogamie, der göttlichen Hochzeit – auch in moderner Literatur aufgespürt habe, würde ich zögern, bei unserem Gedicht von ihm zu sprechen, wäre nicht – mit dem Schwanenei – die Anspielung auf den Hieros gamos zwischen Zeus und Leda. Das Schwanenei, so unvermittelt auftauchend, hat den Charakter eines Signals. Beschworen ist diese Begegnung, um vermieden werden zu können, vermieden, um beschworen werden zu können, als Nicht-Seiendes, Nicht-Eingetretenes wirklich, weil im Aussprechen des Nicht-Seins tatsächlich geschaffen und erschaffen. »Faute idéale de roses« 468 , so hieß es früher schon – »rapt de mon idéale Fleur«, so heißt es jetzt. Der »Raub der idealen Blume« hat zur Voraussetzung den Verzicht auf jede einzelne, auf alle einzelnen Blumen. Der erotische Gehalt der Metapher von der gepflückten (See)rose ist evident, unverkennbar – der dümmste Schlagertext spekuliert darauf genauso treffsicher wie das Volkslied und wie alte Kunstdichtung – er bleibt bestehen, auch wenn er sich selbst aufhebt in der Entkonkretisierung. Die Seerose aber ist auch gleich dem »edlen Schwanen-Ei«, aus dem kein Flug aufsteigt, weil es hohl bleibt, wie die hohle Weiße, »la creuse blancheur«, der Seerose, unbefruchtet, ein Nichts – »un rien« 469 – bergend als stets vorhandene Möglichkeit – als Möglichkeit, die nicht realisiert wird, weil die Realisierung der einen, vielleicht enttäuschenden Möglichkeit alle anderen für immer ausschlösse. Daher will der Ruderer keines der vielen möglichen Gesichter der Unbekannten sehen, und das heißt auch sie selbst nicht. Hätte der Ruderer nicht auch ein Fußgänger sein können? Wie Baudelaires Flâneur? Oder mit dem Wagen unterwegs? Vergleichbar, modernisiert, ReiterRitter der Pastourelle. Statt der Seerose hätte es eine Rose getan. Warum Kahn, warum Fluß, warum Wasser, Teich, Quelle? Die Frage ist so müßig nicht, daß man sie nicht stellen sollte. Nichts ist in der Dichtung selbstverständlich im Sinne des Belanglosen. Interpretiert man ein Werk der Kunst, versucht man es zu begreifen, dann sollte, was dabei sozusagen voraussetzungslos gegeben ist, nicht einfach selbstverständlich, belanglos, der Befragung unwert sein. Wir machen einen Umweg, der einiges einbringt, einen Umweg, zu dem uns Hugo Friedrich ermuntert, obwohl er von dem Ziel, bei dem wir anlangen werden, nichts wissen will, da er ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Psychoanalyse hegt. Friedrich verweist auf Rousseau, auf die mit Recht berühmte, einzigartige Cinquième Rêverie d’un promeneur solitaire, auf den bei Rousseau erstmals auftauchenden, »entschlossene[n], sich 467 468 469
»Le Nénuphar blanc«, S. 286. »L'après-midi d'un faune«, ebd., S. S0. »Le Nénuphar blanc«, ebd., S. 286. 177
selber wollende[n] undpreisende[n] Subjektivismus einer im Wachtraum wirkenden Phantasie«. 470 Die Zentralbegriffe sind nahezu dieselben wie bei Mallarmé: rêve, songe, illusion, imagination, auch délice bzw. délicieuse extase als Grunderlebnis des Wachtraums. »Erst das Nicht-Gegenwärtige ist das wahrhaft Anwesende« 471 , so formuliert Friedrich die Erfahrung, die Rousseau in seinen Beziehungen zu Mme de Warens macht, und vergleicht damit Mallarmés »Séparés, on est ensemble«. Und schließlich der berühmte Satz aus der Nouvelle Héloise: Le pays des chimères est en ce monde le seul digne d'être habité, et tel est le néant des choses humaines, qu'hors l'Etre existant par lui-même, il n'y a rien de beau que ce qui n'est pas. 472
Die Analogien zu Mallarmé liegen, wie Friedrich sagt und wir nur bestätigen können, auf der Hand, auch wenn von direktem Einfluß keine Rede sein kann. Und noch auf eine weitere »spezielle Analogie« macht Friedrich aufmerksam, auf die »Zusammengehörigkeit von Wasserlandschaft und Trauminnerlichkeit, Einsamkeit, Eintauchen in die innere Zeit, Selbstvergessenheit« 473 . Friedrich zieht aus dieser Analogie, die er mit sicherem Instinkt erspürt, keine tiefenpsychologischen Konsequenzen. Wir wollen davor nicht zurückschrecken. Friedrichs Kennzeichnung der »Zusammengehörigkeit von Wasserlandschaft und Trauminnerlichkeit« enthält mit »Einsamkeit, Eintauchen in die innere Zeit, Selbstvergessenheit« ganz wesentliche Elemente einer wohl nur psychoanalytisch aufzuschlüsselnden Befindlichkeit. Nicht nur um die gemeinsame Erfahrung von der wahren Existenz des Ich in der Ferne von seinem empirisch-gesellschaftlichen Ziel geht es bei der Parallele Rousseau-Mallarmé, sondern auch um die spezifischen Erlebnisformen. Ich nehme die These vorweg: Was Rousseau mit Mallarmé hier zusätzlich verbindet, ist die Symbolik des Verlangens nach der Rückkehr in den Mutterschoß. Ich weiß, daß wir uns dabei auf schwankendem Boden befinden, aber nach Freud, C. G. Jung und Erich Neumann stehen wir dem Unbewußten nicht mehr so hilflos gegenüber, daß wir darauf verzichten müßten, uns seiner zur Erklärung sonst dunkel bleibender Phänomene zu bedienen. Die Hamburger Romanistin Margot Kruse hat als erste die berühmte Cinquième Rêverie Rousseaus von der Vorstellung der Rückkehr in die Geborgenheit des pränatalen, embryonalen Zustands, des individuellen Paradieses her interpretiert 474 . Jenes vollkommene Glück, jene Harmonie mit sich selbst als Erfahrung idealer Wunschexistenz, die Rousseau schildert, tragen alle Züge des »rein vegetativen, unbewußten und geborgenen Daseins[...], wie es dem Menschen nur vor seiner Geburt gegeben ist«. 475 Die symbolischen Konstituenten dieser glückhaften 470 471 472
473 474
475
Friedrich, Romanische Literaturen, S. 235. Ebd. Jean-Jacques Rousseau, »Julie ou la nouvelle Héloïse«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond), Bd. 2, Paris 1964, S. 693. Friedrich, Romanische Literaturen, S. 236. Margot Kruse, »Zur Interpretation von Rousseaus >Cinquième Rêverie< und Laforgues >Aquarium<, in: Der Vergleich. Festschrift für Hellmuth Petriconi. Hamburg 1955, S. 91 ff. Ebd., S. 92.
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Erfahrung sind: Geborgenheit im einsamen Kahn, der leise und sanft sich auf dem See wiegt – hier dem Bieler See –, willenloses Sich-Treiben-Lassen ohne Ziel und Zweck, offen für die Welt des Traums. Das Glück entspringt »aus der Losgelöstheit von allem Tun und Wollen« 476 , »[der Dichter] ruht in dem Schiffsleib und läßt sich auf den sanften Wogen dahingleiten« 477 . »Sowohl der Kahn als auch das leise wiegende Wasser [das die »mille rêveries confuses« 478 ermöglicht] gehören als Symbole in den mütterlichen Bezirk.« 479 Rousseau hat, so Margot Kruse, in dem »Bild der Kahnfahrt nicht nur ein Einswerden mit der Natur, sondern gleichzeitig auch eine Rückkehr in den Mutterschoß zur Darstellung [gebracht]« 480 . Eine »rêverie délicieuse« ist bei Rousseau Ergebnis des sanften Wiegens im Hin und Her der Bewegung des Wassers, das ausreicht, »pour me faire sentir avec plaisir mon existence sans prendre la peine de penser«. 481 Margot Kruse beruft sich in diesem Zusammenhang auf Erich Neumanns Ursprungsgeschichte des Bewußtseins: »Ein embryonaler noch unentfalteter Ich- und Bewußtseinskeim schläft im vollkommenen Runden und erwacht in ihm. Dabei ist es unwichtig, ob es sich um eine Selbstdarstellung dieser psychischen Stufe handelt, die sich im Symbol manifestiert, oder ob ein späteres Ich dieses sein VorStadium als Vergangenheit beschreibt. Da das Ich im Embryonalzustand, auch im seelischen, keine Eigenerfahrung hat und haben kann – noch schlummert sein erfahrendes Bewußtsein als Keim –, beschreibt das spätere Ich diesen früheren Zustand, von dem es unbestimmte, aber symbolisch faßbare Kenntnis hat, als >vorgeburtliche< Zeit. Es ist die Zeit des Daseins im Paradies, in dem die Seele ihren vorweltlichen Ort hat, die Zeit vor der Geburt des Ich, des unbewußten Geborgenseins, des Schwimmens im Teich der Ungeborenen.« 482 Bezieht man jene auch bei Rousseau so wichtige »rêverie délicieuse» als die Erschließerin vorgeburtlichen Existenzglücks mit ein, dann ist es nicht mehr allzu schwer, die symbolischen Elemente des Archetypus in Mallarmés Prosagedicht wiederzuerkennen: Kahn, Wasser, Teiche, Quellen, Einsamkeit, Traum. Ernest Fraenkel hat ihn in einigen Gedichten Mallarmés gefunden, seltsamerweise aber nicht im Nénuphar blanc. In seinem Vortrag La Psychologie au service de la science de la littérature 483 zitiert Fraenkel u. a. zwei Strophen von Mallarmés Gedicht Une dentelle s'abolit. Sie lauten: Mais, chez qui du rêve se dore Tristement dort une mandore Au creux néant musicien
476 477 478
479 480 481 482 483
Ebd., S. 93. Ebd. Jean-Jacques Rousseau, »Les rêveries du promeneur solitaire«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond), Bd. 1, Paris 1959, S. 1044. Margot Kruse, op.cit., S. 94. Ebd. »Les rêveries du promeneur solitaire«, S. 1045. Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, Zürich 21974,S.26. Ernest Fraenkel, »La psychologie au service de la science de la littérature«, in: Cahiers de l'Association Internationale des Études Françaises 7 (1955), S. 23 ff. 179
Telle que vers quelque fenêtre Selon nul ventre que le sien Filial on aurait pu naître. 484
Diese Verse blieben schlechthin unverständlich, würde man in Laute mit dem hohlen Nichts aus Musik nicht zugleich die Beziehung zu dem Bauch, dem »ventre« sehen, der offenbar eine Art von Wiedergeburt verheißt in dem sich traurig vergoldenden Traum. Behalten wir das hohle Nichts im Gedächtnis. Le Nénuphar blanc ist weniger direkt und doch deutlich genug, ist man einmal aufmerksam geworden auf die Phänomene der Tiefenpsychologie. Ganz seinen Träumen hingegeben, den Blick nach Innen gerichtet, überläßt sich der Ruderer dem vagen Ziel seiner Fahrt, bis er an einem Schilfgebüsch aufgehalten wird – » terme mystérieux de ma course, au milieu de la rivière« 485 –, in einem »fluvial bosquel« 486 , im »lässigen Teich« und im zögernden Wasser einer Quelle. Bis hierher könnte man sich zufrieden geben mit einer allgemeinen literarischen und mythologischen Tiefenpsychologie im Sinne von Gaston Bachelards L'eau et les rêves 487 . Doch der Ort, an dem unser Ruderer den »terme mystérieux de sa course« findet, grenzt an die »retraite aussi humidement impénétrable« der unbekannten Dame. Gewiß: die »feuchte Undurchdringlichkeit der zurückgezogenen Dame« kann harmlos sein, warum steht sie da? Hätte sie nichts zu besagen, dann brauchte unser Ruderer nicht seine »lucidité« 488 aufzubieten, um »interroger jusque là le mystère« 489 . Wohl und sicher fühlt unser Ruderer sich nur, weil auf dem Wasser, geborgen in seinem Kahn, den zu verlassen er sich hütet, in dem er jetzt, am »terme mystérieux«, am sanfte Wellen bildenden »lässigen« Teich – »nonchaloir d'étang« 490 – angekommen, eher zu liegen als zu sitzen scheint. Von hier aus erfolgt die »évocation lustrale« der »possibilité féminine«. Vom Anfang eines »esclavage« ist die Rede, verglichen mit den Gurten, die den Fuß des Ruderers an das Holz des Bootes fesseln, so wie man eins ist mit dem Instrument seiner Zauberkünste [...] commencement d'esclavage dégagé par une possibilité féminine: que ne signifiaient pas mal les courroies attachant le soulier du rameur au bois de l'embarcation, comme on ne fait qu'un avec l'instrument de ses sortilèges. 491
Ein seltsamer Vergleich. Doch wer sich einmal auf den Archetypus »Rückkehr in den Mutterschoß« eingelassen hat, mag in ihm gar ein Bild für die Nabelschnur sehen, die den Embryo nährt, seine Geborgenheit sichert. Vom Kahn aus entwirft der Ruderer das Bild der unbekannten Frau, doch nur »von unten« – »d'en dessous« – als sich öffnendes Schreiten, dem »explorateur« nicht verschlossen durch einen 484 485 486 487
488 489 490 491
»Poésies«, in: Œuvres complètes, S. 74. »Le Nénuphar blanc«, ebd., S. 284. Ebd. Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essais sur l'imagination de la matière. Paris 1960. »Le Nénuphar blanc«, in: Œuvres complètes, S. 285. Ebd. Ebd., S. 284. Ebd.
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Gürtel, unter Ausschluß jeden Gesichts – »exclure tous visages«, als »délice empreint de généralité« 492 , als unbestimmte, allgemeine Wonne, gesichtsloses, glückliches Wohlbefinden. »Séparés, on est ensemble« – das Getrenntsein ist unaufhebbar, doch nur durch es weiß man von der Einheit, der ursprünglichen Einheit des Unbewußten im pränatalen Zustand. Nur in der Bewußtlosigkeit des Traums ist das Sich-Vermischen mit der »confuse intimité« der Frau möglich; in der Schwebe des Wassers hält der Traum die »Unentschiedene« zurück: »je m'immisce à de sa confuse intimité, dans ce suspens sur l'eau, où mon songe attarde l'indécise...». Gesichtslos ist die imaginierte Frau, von jener »généralité qui permet et ordonne d'exclure tous visages«. Alle Individualität ist verdrängt zugunsten der geheimnisvollen Funktion, die ihr im Traum zufällt. Außer Faltenrock, Spitzen, Füßen ist sie nichts als »teurer Schatten, verborgen in Batist« – »la chère ombre enfouie en de la batiste«. Ungelüftet bleibt das »subtil secret des pieds», und »Schläfrigkeit verhüllt« die Klarheit des Bewußtseins in dem Ruderer, der es sich versagt, den Kopf so hoch zu heben, daß er über das Schilf blicken, das heißt etwas erkennen kann. So bleibt es beim »Mysterium« des Unbekannten: [...] n'est-ce, moi, tendre trop haut la tête, pour ces joncs à ne dépasser et toute la mentale somnolence où se voile ma lucidité, que d'interroger jusque-là le mystère.
Das Ohr an das Holz des Kahns gepreßt, horcht der Ruderer, nach der »Rede, die er hielt, um nicht gehört zu werden«, hinein in das Schweigen ringsum. Für einen Augenblick ist die Welt paradiesisch vollkommen im Stillstand des Bewußtseins nach dem Beschwören des Geheimnisses, an welches eben dieses Bewußtsein nur rührt, um es nicht zu zerstören und um sich selber zum Schweigen zu bringen. Doch von Dauer ist dieser Augenblick nicht: »Conseille, ô mon rêve, que faire.« Alles was bleibt, einzige Möglichkeit, etwas mitzunehmen vom Erlebnis der vorbewußten embryonalen Existenz, von der totalen Autarkie, der beschützten uteralen Geborgenheit des einsseienden Getrennten: mit einem Blick die unberührte Abwesenheit zusammenfassen, die in dieser Einsamkeit verstreut ist, und damit wegfahren: »Résumer d'un regard la vierge absence éparse en cette solitude et [...] partir avec...« 493 . Das Einsammeln und Mitnehmen der »vierge absence« wird verdeutlicht im Vergleich mit dem Pflücken einer Seerose. Das Gewicht des Symbols, welches dem Gedicht den Namen gab, ergibt sich aus den näheren Bestimmungen: »magisch und verschlossen«, umschließt das »hohle Weiß der Seerose ein Nichts, entstanden aus intakten Träumen«, aus »Glück, das nicht stattfinden wird«, und aus dem Atemzug, der angehalten wird aus Angst, das beschworene Bild könnte von der Wirklichkeit einer Erscheinung zerstört werden. »Abwesenheit« – »absence» –, ein »Nichts«, »un rien«, nicht stattfindendes Glück ist der Inhalt des Symbols, an dem beherrschend ist das Hohle, die »creuse blancheur»: leerer, verschlossener Innenraum als höchste kostbare Beute, die fluchtartig geborgen wird: »rapt de mon idéale fleur« – und im nächsten Abschnitt als »mon imaginaire trophée«. Diese »trophée» bezieht sich auf das zweite Symbol, 492 493
Ebd., S. 285. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 286. 181
das »noble œuf de cygne«. »Noble« verweist auf quasi göttliche Herkunft, auf die Hierogamie, Zeus und Leda, wie wir mutmaßten, aber aus dem Schwanenei wird diesmal kein Flug entsteigen – »tel que n'en jaillira le vol« –, es ist leer, hohl wie die Seerose, und was es enthält, ist nichts anderes als die »vacance exquise de soi«, das köstliche Freisein von sich selbst einer Frau, die dieses Freisein sucht. »Schoß«, Mutterschoß, ist Ursymbol der Menschheitsfrage nach der Herkunft. Eine Vielfalt von Einzelsymbolen, oft ambivalenter oder plurivalenter Art, instrumentiert es, mit Vorzug Tal, Brunnen, Quelle, Wasser, Höhle, Grotte, Teich, Kahn. Als Sigmund Freud – so sagt Erich Neumann – »alles Hohle als weiblich erkannte, hätte er es zu Recht erkannt, wenn er es als Symbol erfaßt hätte. Wenn er es als >weibliche Genitale< deutet, mißversteht er es zutiefst, weil weibliches Genitale nur ein winziger Teil des Archetyps der Ur-Mutter ist.« 494 So scheint es in der Tat zu sein, auch wenn das eine das andere nicht ausschließt. Auch bei Mallarmé finden sich Spuren der Vorstellung, daß der bergende Mutterschoß jener »Magna Mater« gehört, die bereits auch den gefährlichen, destruierenden Aspekt zeigt, der sich dann zum Vater verselbständigen wird. Wenn unser Ruderer sich rasch entfernt, um einem tatsächlichen Erscheinen der Unbekannten zu entgehen, dann stellt er sich diese vor in ihrem sowohl heiter-freundlichen wie möglicherweise stolzabweisenden Aspekt: »la Méditative ou la Hautaine, la Farouche, la Gaie..." 495 . Wir wollen diese Spur nicht weiterverfolgen, vielmehr festhalten, was wir ermittelt haben, nämlich zwei thematische Aufbauschichten unseres Prosagedichts, die seine Struktur bestimmen: 1. Das Thema der Begegnung mit der Unbekannten, des möglichen, aber verfehlten Glücks, wobei das Verfehlen schon akzeptiert ist und umgemünzt in die Erfahrung, die aus dem Absurden poetisches Kapital schlägt. 2. Tiefenpsychologisch die Symbolik der Sehnsucht nach der Rückkehr in den pränatalen Zustand des paradiesischen Freiseins von Leid, des Geschütztseins im Mutterschoß, geborgen wenigstens als Erinnerung, die Konturen annahm im Tagtraum der Kahnfahrt. Beide Themen erweisen sich als deckungsgleich insofern, als das ganze Gedicht sich darstellt und begreifen läßt als ein vergeblicher und daher entschlossen abgebrochener Versuch der Rückkehr des leiderfahrenen Bewußtseins in das bewußtlose Glück des vorgeburtlich-embryonalen Zustands im Mutterschoß auf dem Weg über das Aufsuchen der »Inconnue«. Das Scheitern ist vorab, vom nicht zu tilgenden Bewußtsein, in Kauf genommen. Der Traum selbst, angerufen, rät ab vom Versuch des Verwirklichens, sorgt aber dafür, daß noch im Scheitern selbst, im Nichtsein, im Nichts, das aus den »intakten Träumen« erstand, die Erinnerung daran als »ideale« Beute und Trophäe geborgen und eingebracht wird – unwirklich und doch wirklich, als poetische Realität: als Traum, Unbewußtes konstelliert vom Bewußtsein. Dichtung der Absence, einer Absence, die sich nur darstellen kann als imaginierte Présence. In seiner Struktur der modernen Lyrik stellt Hugo Friedrich zwei gegensätzliche Selbstbestimmungen moderner Poesie einander gegenüber 496 : den Satz Paul Valé494 495 496
Erich Neumann, op. cit., S. 24. »Le Nénuphar blanc«, in: Œuvres complètes, S.286. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956. Erweiterte Neuauflage 1967,S.142.
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rys: »Un poème doit être une fête de l'Intellect« 497 – und den Satz des Theoretikers des Surrealismus, André Breton: »Un poème doit être une débâcle de l'intellect« 498 . Einmal Primat des Rationalen, das andere Mal Primat des Irrationalen. Hugo Friedrich sieht – gewiß mit Recht – in diesen so konträr erscheinenden Formulierungen keinen absoluten Widerspruch, sieht darin nicht das Zeugnis unvereinbarer Verschiedenheit, sondern die spannungsreiche Polarität moderner Kunst überhaupt, die sich in extremen Gegenpositionen auslegende immanente Dialektik der modernen Poesie, die das Kennzeichen ihrer Struktureinheit ist. Wir haben in der Tat gesehen, daß bei den großen Autoren, die am Anfang der modernité stehen, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, die größte, formschaffende Anstrengung des Intellekts allein den konturlosen Traum, die äußerste Bemühung des Geistes allein, das als Wesen selbst erscheinende Irrationale als das Grundphänomen einer von undurchschaubaren Kräften getriebenen Welt zu bannen vermag. Der Forderung nach größter Freiheit steht diejenige nach größter Formenstrenge gegenüber: beschlossen in der Theorie von Sprengung und Neufügung, wobei dann sowohl das eine wie das andere Prinzip im Vordergrund stehen kann. Äußerste Strenge der Form ist das poetische Prinzip eines Dichters, der das Erbe Mallarmés in voller Bewußtheit und Konsequenz übernommen hat: Paul Valéry.
497 498
Paul Valéry, »Littérature«, in: Œuvres (hrsg. v. Jean Hytier), Bd. 2, Paris 1960, S. 546. André Breton, Paul Eluard, »Notes sur la poésie«, in: La révolution surréaliste 12 (15 déc. 1929), zit. nach: La Révolution surréaliste. Collection complète, Paris 1975, S. 53. 183
Paul Valéry
Zur Biographie Valérys 1871 geboren, verbrachte Valéry, Sohn eines französischen Beamten und einer italienischen Mutter, die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in Südfrankreich, war ein Schüler unter Mittelmaß, kam 1892 nach Paris und zählte bald zu den Eingeweihten im Kreise Mallarmés. Bis dahin hatte Valéry bereits etliche Gedichte geschrieben, die nichts chlechter, und einige wenige, die besser waren als die Normalproduktionen der zeitgenössischen symbolistischen Schule. Die Faszination, die von Mallarmés Persönlichkeit und Werk auf alle seine Jünger ausging, wirkte sich bei Valéry so aus, daß er für einige Zeit auf eigene Dichtung verzichtete. Von 1892, dem Jahr, da er in den Bannkreis Mallarmés geriet, bis etwa 1900 hat er nur ganz wenige und in den Jahren nach 1900 überhaupt keine Verse geschrieben. Bis zu seiner Heirat – 1900 – verdiente er sein Brot als Angestellter im Kriegsministerium, von 1900 ab als Sekretär eines Nachrichtendienstes, der Agence Havas. Daß Valéry als Dichter wieder produktiv wurde, ist dem Anstoß seiner Freunde zu verdanken. André Gide, der 1909 die so berühmt gewordene Nouvelle Revue Française gegründet hatte, erbat von Valéry die Erlaubnis, dessen gesamte Jugenddichtung in einer Nummer seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Valéry gab dem Drängen Gides erst nach, nachdem seine Freunde selbst ein Manuskript zusammengestellt hatten. Er überarbeitete sämtliche vorhandenen Gedichte und schrieb, immer wieder neu feilend, noch ein weiteres großes Gedicht, das erst 1917 fertig wurde und das zu seinen bedeutendsten gehört: La jeune Parque. Der Erfolg der Jeune Parque ermutigte ihn wieder zur »fabrication poétique« 499 – wie er seine dichterische Tätigkeit nannte –, und als er 1920 den Cimetière marin publiziert hatte, war er zum gefeierten, unbestritten erstrangigen Dichter avanciert. 1922 gab er die Gedichtsammlung Charmes heraus, wurde als Nachfolger von Anatole France in die Académie Française gewählt, dann zum Professor für Poetik am Collège de France ernannt. Er schrieb zwischen 1924 und 1944 die hochbedeutsame Prosa seiner Variétés neben Werken wie Eupalinos, L'âme et la Danse, Mon Faust und starb am 20. Juli 1944 in Paris. Wenige Monate vor seinem Tod, im Januar 1944, schrieb der 73jährige in einem Brief: » ... la marque du réel, c'est l'insignifiance absolue.« Und weiter: Je sens les Idées... m'envahir, se disputer la vie, [...] mais d'autre part je me perçois allant et agissant en plein automatisme et somnambulisme. Je me perçois mon propre fantôme, mon revenant régulier. Tout ce que je fais fut
499
Zit. nach: Paul Valéry vivant, Marseille 1946, S. 289.
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déjà fait. Tous mes pas et mes gestes peuvent se passer de moi, comme les actes insensibles et essentiels de la vie se passent de nous. 500
Ist das snobistisch-ästhetizistisch angehauchter Alterspessimismus, die Abgekehrtheit eines Greises, dem das entfliehende Leben alles Tun zum nichtigen Automatismus der Wiederholung werden läßt, einschließlich des Denkens selbst? Oder kehrt für Valéry im Alter eine Erfahrung wieder, die er einst in einem Brief an Gide mit dem Satz ausgedrückt hatte: »Je ne suis pas un poète, mais le Monsieur qui s'ennuie..." 501 Es ist, am Ende dieses Lebens, wieder eine Erfahrung der Leere, des Nichts, die den jungen Valéry genauso tief beunruhigte wie seinen Meister Mallarmé. Wenn er als 73jähriger erkennt: »la marque du réel, c'est l'insignifiance absolue«, so bestätigt diese Feststellung nur die Auffassung von der totalen Sinnlosigkeit des Lebens als dem absoluten Gegensatz einer aus dieser Erfahrung selbst erwachsenen Idee der reinen Idealität.
Grundzüge der poésie pure bei Valéry
Die Konzeption der poésie pure lebt auf dem Boden des Abgrunds zwischen Ideal und Wirklichkeit, und Jahre früher hatte Valéry die Überzeugung formuliert Que l'univers n'est qu'un défaut Dans la pureté du Non-être. 502
Wir sehen, daß Valéry an Mallarmés Einsicht in die Identität des Absoluten und des Nichts teilhat. Wir sind bei ihm wieder bei der »faute idéale de roses« 503 . Das Leben selbst ist nur ein Versehen, das es durch Denken und Dichten zu beheben gilt. Denken und Dichten zielen darauf, die Absence der Dinge zu bewirken, die Welt von ihnen zu reinigen. Das spricht nicht gerade für eine geschichtliche Wirklichkeit, die solche Konzeptionen hervortreibt. Aber Valéry starb noch zwei Wochen vor der Bombe von Hiroshima! Das letzte Zitat verrät einen Philosophen, der ja auch Mallarmé sein wollte. Es stammt aus einem der zahlreichen Gedichte, in denen Valéry das Symbol der Schlange, und zwar der Schlange vom Baum der Erkenntnis heranzieht. Für Valéry ist das Dichten und die Problematik des Dichtens selbst identisch mit dem Erkenntnisproblem. In den Briefen vom Januar 1944 steht auch der folgende Passus: Le serpent se mange la queue. Mais ce n'est qu'après un long temps de mastication qu'il reconnaît dans ce qu'il dévore le goût de serpent. Il s'arrête alors. Mais, au bout
500 501 502 503
Ebd., S. 275. André Gide – Paul Valéry, Correspondance (1890-1942), Paris 1955, S. 138. »Ebauche d'un serpent«, in: Œuvres, Bd. 1, Paris 1957, S.139. Stéphane Mallarmé, »L'après-midi d'un faune«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Henri Mondor, G. Jean Aubry), Paris 1945, S. 50. 185
d'un autre temps, n'ayant rien d'autre à manger, il s'y remet. Il arrive alors à avoir sa tête dans sa gueule. C'est ce qu'il appelle >une théorie de la Connaissance<. 504
Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, der Uroboros, sich bis zum Kopfe selbst auffrißt, ist ein Symbol der Erkenntnis, die nach dem Durchgang durch die Reflexion die Reflexion selbst aufhebt und entweder zur naiven mythischen Weisheit oder zur Erkenntnis des Nichts führt. Wir finden dieses Symbol auch in der deutschen Klassik bei Goethe und – viel beziehungsreicher – bei Kleist, wo die mechanische Grazie der Marionette den Punkt der Überwindung bezeichnet, da – wie es heißt – »die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinandergreifen« 505 . »Nur ein Gott« – so heißt es bei Kleist – könne »sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen« 506 . Solche Erkenntnis ist uns verwehrt – ich zitiere immer noch Kleist –, »seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist« 507 . »Entweder gar keines oder ein unendliches Bewußtsein« 508 – so heißt es gegen Ende des Marionettentheaters. Das Heil der Philologie ist manchmal in der Komparatistik beschlossen! Ich zitiere jetzt die vorletzte Strophe von Valérys Cimetière Marin: Hydre absolue, ivre de ta chaire bleue, Qui te remords l'étincelante queue Dans un tumulte au silence pareil... 509
Erkenntnis führt zurück zu einem Befund, in dem die Gegensätze, die sie provozierten, im Nichts der Gleichheit und im Schweigen des Wissens darum zusammenfallen. Bei Kleist hatte es noch – in rousseauisch-optimistischer Geschichtsphilosophie – anders geendet: »Wir müßten wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Allerdings – so lautet die Antwort – das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.« 510 Ein solcher heroischer Optimismus ist bei Valéry nicht mehr zu entdecken. Jedenfalls nicht mehr im hohen Alter. Die große Hoffnung, die er indessen lange Zeit festhielt, war eine Rettung ähnlicher Art, die Rettung durch das absolute Bewußtsein als Durchgang zur Wahrheit, die Rettung durch den Intellekt. Und damit ist auch sein Verhältnis zu Mallarmé bestimmt, auch sein langes Schweigen als Dichter, das uns als Schlüssel für sein Werk überhaupt dienen kann. Der Baum der Erkenntnis und die Schlange der Erkenntnis, Sündenfall und Würde des Menschen sind Grundthemen seiner Dichtung.
504 505
506 507 508 509 510
Zit. nach: Paul Valéry vivant, op. cit., S. 276. Heinrich von Kleist, »Über das Marionettentheater«, in: Sämtliche Werke und Briefe (hrsg. v. Helmut Sembdner), Bd. 2, München 21961, S. 343. Ebd., S. 342. Ebd. Ebd., S. 345. »Le Cimetière Marin«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 151. Kleist, op.cit., S. 345.
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Wir wissen, daß Mallarmé zu einer Konzeption der poésie pure gelangt war, bei der er letztlich – im Zuge einer totalen Entmaterialisierung und Überwindung der Mitteilungssprache als Produkt der Kontingenz – zu einem Punkte gelangt war, an welchem der Anspruch auf das Absolute die Identität des Unendlichen mit dem Nichts offenbarte. Schönheit der Dichtung besteht in der Fixierung des ungreifbaren Zwischenbereichs zwischen Idee und Wirklichkeit, des »Traums «. Schönheit ist Kristallisierung des Nichts. So ist es zu verstehen, wenn Valéry, hierin durchaus Mallarmésche Gedanken weiterverfolgend, das Gedicht einmal als »fragment parfaitement exécuté d'un édifice inexistant« 511 bezeichnet und ein anderes Mal formuliert: »Il n'est rien de si beau que ce qui n'existe pas.« 512 Bei solchem absoluten Anspruch an Kunst, der Forderung, ihre Materialität bis auf den letzten Rest zu vertilgen, wird jedes künstlerische Gelingen zum einmaligen Wunder, wo nicht zur Unmöglichkeit. Es bedeutet äußerste Ferne zum Leben: »Rien de si pur ne peut coexister avec les conditions de la vie.« 513 Valéry verwendet ein anschauliches Bild, um diesen Gedanken auszudrücken: Wir können die Idee der Vollendung nur für Augenblicke streifen, so wie die Hand nur für einen Augenblick gefahrlos durch die Flamme streichen kann. Die Flamme ist unbewohnbar, und die Wohnungen der höchsten, reinsten Klarheit müssen leer bleiben: »La poésie absolue ne peut procéder que par merveilles exceptionnelles.« 514 Angesichts dieses Befunds hat Valéry – gerade durch den Umgang mit Mallarmé darin bestärkt – für lange Jahre auf die Poesie resigniert verzichtet. Während seiner Studienzeit in Montpellier – Valéry studiert dort von 1889 bis 1892 Jura – veröffentlicht Valéry eine Reihe von Gedichten in Zeitschriften. Erst viele Jahre später – 1920 – wird er sie in überarbeiteter Form unter dem Titel Album de vers anciens gesammelt herausgeben. Aus diesen Gedichten, bei denen bereits die Häufigkeit mythologischer Themen auffällt, greifen wir ein Sonett über die Geburt der Venus heraus. Es ist 1890 in einer Studentenzeitschrift in Montpellier erschienen unter dem Titel Celle qui sort de l'onde,1891 in leicht veränderter Gestalt in der Zeitschrift L'Ermitage. Ich wähle dieses Gedicht, erstens weil es einen Vergleich mit dem uns bekannten Venusgedicht Rimbauds nahelegt 515 , zweitens weil sich daran gut erkennen läßt, in welcher Weise Valéry seine frühen Gedichte überarbeitet hat. Der Vergleich zweier verschiedener Fassungen desselben Gedichts ist besonders instruktiv. Der erste Quatrain des Sonetts lautet in der älteren Fassung: La voici! fleur antique et d'écume fumante La nymphe magnifique et joyeuse, la chair Que parfume l'esprit vagabond de la Mer, Celle qu'une eau légère encore diamante. 516
1920 – dreißig Jahre später – bietet sich diese erste Strophe folgendermaßen dar: 511 512 513 514 515 516
»Fragments des mémoires d'un poème«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 1490. »Au sujet d'Adonis«, ebd., S.480. »Avant-Propos à la Connaissance de la Déesse«, ebd., S. 1275. Ebd., S. 1275-1276. »Venus Anadyomène « (s.o.). Œuvres, Bd. 1, S. 1541. 187
De sa profonde mère, encore froide et fumante, Voici qu'au seuil battu de tempêtes, la chair Amèrement vomie au soleil par la mer, Se délivre des diamants de la tourmente. 517
Was hat sich verändert? Zunächst einmal hat Valéry den Zeigefingerhinweis als Auftakt aufgegeben: das »voici« von »La voici!« – mit Ausrufezeichen – ist dezent in die zweite Zeile verlagert. Der Hinweis auf die Antike und auf die Schaumgeburt ist verschwunden, ebenso der Vergleich mit der Nymphe, die dem Wasser entsteigt. Nicht mehr der Duft des vagabundierenden Geistes des Meers bestimmt den 3. Vers, vielmehr herrscht jetzt der bittere Geschmack des Meers, der das »Fleisch « – »Venus« – aus- und vor die Sonne gespieen, erbrochen hat (»vomie«). Überhaupt ist der heitere, leichte Charakter der ersten Version getilgt zugunsten einer grandiosen Vertiefung, zugunsten eines fast gewaltsamen Naturereignisses. »Fleur«, »nymphe magnifique et joyeuse« und »parfume« sind verschwunden, an die Stelle der »eau légère» treten die »tempête« und die »tourmente«, an die Stelle des »leichten Wassers« der tosende Seesturm. Es ist nicht mehr das »leichte Wasser«, welches das Fleisch der Venus mit Diamanten überglänzt, sondern dieses Fleisch befreit sich von den Diamanten des sturmgepeitschten Wassers. Das Reimwort »diamante« ist durch »tourmente« ersetzt. Das Meer ist zur »tiefen Mutter« geworden, die von der Venus »noch kalt« und schon »dampfend« zugleich entbunden wird. Der Ort des Geschehens ist präzisiert: der Strand des Meeres, umschrieben als »sturmgepeitschte Schwelle« – »seuil battu de tempête». Die Prädikatsergänzung des Satzes ist in fast quälender Umstellung an die erste Stelle gerückt- »De sa profonde mère«. Das Subjekt, in der ersten Version noch ein doppeltes, nämlich »nymphe« und »chair«, ist jetzt auf »la chair« reduziert. In der ersten Version hatte der Dichter mit Hilfe des »La voici!« einen reinen Nominalsatz, ohne Prädikatsverb, bilden können. Jetzt führt er ein Prädikat in den letzten Vers ein, das durch einen ganzen Vers getrennt vom Subjekt ist: » [...] la chair [...] Se délivre (...] «. Die schon in der ersten Fassung große Wirkung dieser Stellung des Subjekts – »la chair« –, im Reim und als Gegenrejet stehend, bleibt erhalten. Aus dem idyllischen Bild mit Blume und Nymphe, die duftend aus sanftem Meerwasser steigt, ist ein dynamischer Vorgang geworden: widerwillig speit die tiefe Mutter »Meer« der Sonne am sturmgepeitschten Ufer das Fleisch, die »Venus«, entgegen, die sich ihrerseits »befreit« von dem Element, das sie geboren hat. Vergleichen wir weiter! Zweiter Quatrain in der älteren Fassung von 1891: Elle apparaît! dans le frisson de ses bras blancs Les seins tremblent, mouillés à leurs pointes fleuries D'océaniques et d'humides pierreries; Des larmes de soleil ruissellent sur ses flancs! 518
In der Fassung von 1920 heißt es:
517 518
Ebd., S. 77. Ebd., S. 1541.
188
Son sourire se forme, et suit sur ses bras blancs Qu'éplore l'orient d'une épaule meurtrie, De l'humide Thétis la pure pierrerie, Et sa tresse se fraye un frisson sur ses flancs. 519
Vielleicht ist Ihnen bereits aufgefallen, daß diese Strophe in ihrer zweiten Fassung eine musikalische Dimension dazugewonnen hat. Wiederum ist eines der vier Reimwörter durch ein neues ersetzt: »fleuries« durch »meurtries«. Und mit »fleuries« sind auch die zitternden Brüste mit ihren benetzten Spitzen verschwunden. An ihre Stelle ist ein Vers getreten, den ich nicht verstehe: »Qu'éplore l'orient d'une épaule meurtrie.« »Eplore« – »in Tränen gebadet« – sonst nur als Adjektiv verwendet, erscheint bei Valéry als transitives Verbum; Der »Orient« ist zur Not als »Morgen«, als aufgehende Sonne, verständlich, die verwundete Schulter eventuell als Folge der etwas violenten Geburt. Aber alles zusammen bleibt dunkel, und fast bedauert man das Verschwinden der »zitternden Brüste«. Vielleicht müssen wir die ersten Verse folgendermaßen verstehen: »Ihr Lächeln formt sich und folgt auf ihren weißen Armen, welchen der Morgen über eine wundgestoßene Schulter klagt, dem reinen Edelgestein der feuchten Thetis.« Die Edelsteine der Meeresgöttin Thetis sind natürlich die kristallenen Wasserperlen auf den Gliedern der dem Wasser entsteigenden Venus. Es ist ein zauberhaftes Bild, das die Geburt der Venus mit der Erscheinung einer blühenden Frau gleichsetzt, die sich aus dem Meer löst, von Wasser und Sonne glitzernd überflutet. Valéry hatte in seiner Heimatstadt Sète genug Gelegenheit, solche Szenen zu beobachten. In der ersten Version hatte der letzte Vers des zweiten Quatrains gelautet: »Des larmes de soleil ruissellent sur ses flancs!» Das ist nicht schlecht, aber unendlich besser und bildhafter, im Zusammentreten von Auge und Empfindung zwingender ist die letzte Fassung: »Et sa tresse se fraye un frisson sur ses flancs.« Es ist klar, wie hier zwei Vorstellungen ineinander verschlungen sind: Die Haarflechte bahnt sich einen Weg, dieser Weg aber ist der Schauder, das Erschauern, das der Körper verspürt, wenn etwas Nasses, zumal nasses Haar ihn berührt. En passant sei auf die Wiederholung von f und r und l bzw. fl und fr, aber auch auf tr verwiesen – liquid, flüssig, den Schauder durch das Berühren der Haut durch nasses Haar fast körperlich spürbar machend – auch in den vielen s: »Et sa tresse se fraye und frisson sur ses flancs. « Besehen wir uns noch die beiden Terzette: das erste lautet in der Fassung von 1891: Les graviers d'or qu'arrose sa marche gracile Croulent sous ses pieds fins et la grève facile Garde les frais baisers de ses pas puérils. 520
Der endgültige Text:
519 520
Ebd., S. 77. Ebd., S.1541. 189
Le frais gravier, qu'arrose et fuit sa course agile, Croule, creuse rumeur de soif, et le facile Sable a bu les baisers de ses bonds puérils; 521
Die wichtigsten Veränderungen sind die folgenden: »sa marche gracile« ist ersetzt durch »sa course agile«. »Les graviers d'or« ist dem »frais gravier« geopfert, vielleicht der Assonanz wegen, sicher aber auch, um eine Silbe weniger zu haben, denn so kann Valéry neben der verbalen Bestimmung »arrose« noch eine zweite einfügen: »fuit«. So wie »course« statt »marche« schon die Bewegung leichter und geschwinder gemacht hatte, so betont das neue »fuit« die Schnelligkeit der Bewegung, das flüchtige Wegstreben vom Herkunftsort. Daß das »f« in »fuit« auch lautliches Pendant zu dem ebenfalls neu eingeführten »frais« ist, das ist leicht zu ersehen: der Vers erhält einen ausgeglichenen Rhythmus und eine neue Musikalität: »Le frais gravier, qu'arrose et fuit sa course agile«. Der erstaunlichste Vers ist wohl der zweite dieses Terzetts, wohl einer der absonderlichsten Alexandriner der französischen Poesie. Hatte es in der ersten Version geheißen: »Les graviers d'or qu'arrose sa marche gracile/Croulent sous ses pieds fins [...] «, so lesen wir jetzt: »Le frais gravier, qu'arrose et fuit sa course agile,/Croule, creuse rumeur de soif, et le facile« [2 + 6 + 4 Silben]. Vielleicht bliebe diese Formulierung ohne Verständnis und ohne Reiz, wenn es nicht weiter hieße: »und der leichte Sand hat den Kuß ihrer kindlichen Sprünge getrunken«. Der frische Meeresstrand, benetzt von der soeben dem Wasser entstiegenen Venus und von ihr im flinken Lauf verlassen, fällt mit vernehmlichem Geräusch zusammen unter ihrem flüchtigen Schritt, ausgetrocknet und dürstend nach dem Trank der Küsse ihrer kindlichen Sprünge. Seltsam: »leichter Sand« erscheint nicht als »sable léger«, sondern als »sable facile«, »leicht« also im übertragenen Sinne, im geistigen, nicht materiellen. Das hat zu besagen, daß der Sand nicht nur leicht an Gewicht ist, sondern daß er der Venus sich leicht, ja liebesbereit, hingibt. Dieses »facile« ist in der zweiten Fassung einzigartig hervorgehoben durch seine Stellung im Reim, durch seine Voranstellung vor dem Substantiv und durch seine Trennung von diesem Substantiv und durch Gegenrejet. Valéry hat dieses Terzett zugleich so abgeändert, daß er darin sein Ideal einer vollkommenen Anpassung der »sons«, der Laute, an Rhythmus und Sinn verwirklichen konnte. Im ersten Vers: fr, gr, rr, f, s, rs, im zweiten Vers: cr, l, cr, r, r, f, t, im dritten Vers: s, bl, b, l, b, s, s, b, p. In diesem dritten Vers scheint der Kuß die gesammelte Assoziationskraft aller Labiale zu beschwören: Le frais gravier, qu'arrose et fuit sa course agile, Croule, creuse rumeur de soif, et le facile Sable a blu les baisers de ses bonds puérils.
Zitieren wir noch das letzte Terzett (Version von 1891):
521
Ebd., S. 77.
190
Et le golfe a laissé dans ses yeux fous et vagues Où dort le souvenir des mobiles périls L'eau riante, et la danse infidèle des vagues! 522
Fassung von 1920: Mais de mille regards ou perfides ou vagues, Son œil mobile mêle aux éclairs de périls L'eau riante, et la danse infidèle des vagues. 523
Das »Mais« der letzten Fassung setzt in ganz anderer Weise als das »Et« der ersten Fassung die gefährlichen Aspekte der Venus gegen das liebestrunken-zarte Bild des vorausgehenden Terzetts ab. Wir könnten diesen Vergleich noch weiter ausbauen, um spezifische Verfahrensweisen Valérys zu verfolgen, aber auch, um allgemeinere Schlüsse über den Entstehungsprozeß einer anspruchsvollen Dichtung zu ziehen. Halten wir indessen fest: Valéry ist ein Dichter, der sich bei einem ersten Einfall nicht beruhigen kann. Er ist von tiefstem Mißtrauen gegenüber der Intuition erfüllt. Jahre später formuliert er: »L'intuition sans l'intelligence est un accident« 524 . Die Behauptung, die so vielen literarischen Urteilen zugrundeliegt, die Behauptung, daß Dichtung von Gefühlen und Emotionen lebt und daher ihre Qualität bezieht, weist er ganz entschieden zurück. So schreibt er einmal: L'homme exalté ou ému croit que son verbe est un vers et que tout ce qu'il place par le ton, la chaleur et le désir dans sa parole s'y trouve et se communique. Mais c'est l'erreur commune en fait de poésie. Les mauvais vers sont faits de bonnes intentions. C'est cette illusion qui pousse aux vers sans lois préétablies. Il y a plus de bons vers faits froidement qu'ils n'en est de chaudement faits; et plus de mauvais faits chaudement. On dirait que l'intelligence est plus capable de suppléer à la chaleur, que la chaleur à l'intelligence. 525
Die Inspirationstheorie erscheint Valéry absurd – »Les Dieux nous gardent du délire prophétique!« 526 »L'enthousiasme n'est pas un état d'âme d'écrivain.« 527 Dichtung entsteht nicht aus Eingebungen, sondern aus wohlüberlegt gesetzten Worten. Valéry hat darüber ein in seiner Übertreibung leise ironisches Gedicht geschrieben, betitelt Poésie: Je cherche un mot (dit le poète), un mot qui soit: féminin, de deux syllabes, contenant P ou F, terminé par une muette, et synonyme de brisure, désagrégation;
522 523 524 525 526 527
Ebd., S. 1541. Ebd., S. 77. »Choses tues«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 497. »Autres Rhumbs«, ebd., S. 677-678. »Rhumbs«, ebd., S. 628. »Note et Digression«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 1205. 191
et pas savant, pas rare. Six conditions – au moins! 528
Dichten ist ein mühseliges geistiges Handwerk – bei dem der Satz: »den Seinen gibt's der Herr im Schlaf« keine Gültigkeit besitzt. In dem jungen Paul Valéry aber verdichten sich die Zweifel, ob seine poetische Berufung überhaupt einen Sinn hat. Im Oktober 1892 fährt er, wie schon öfter, zu einem Onkel nach Genua. Und hier ereignet sich, was der Forschung bis heute Rätsel aufgibt. In einer Gewitternacht beschließt er, auf die Poesie gänzlich zu verzichten: »Nuit effroyable – passée sur mon lit – orage partout – ma chambre éblouissante par chaque éclair- Et tout mon sort se jouait dans ma tête. Je suis entre moi et moi.« 529 So beschreibt Valéry selber diese Nacht. Er beschließt, nach Paris zu gehen und dort Naturwissenschaften zu studieren. Er kehrt indessen noch einmal nach Montpellier zurück und schreibt dort La soirée avec Monsieur Teste.
»Monsieur Teste« – das Ideal des reinen Denkens Der Abschied von der Dichtung bedeutet für Valéry die ganz entschiedene Hinwendung zum Ideal des reinen Denkens, zu der nun – anstelle der versagenden Dichtung – allein den Weg zum Absoluten versprechenden Reflexion. Die von der Poesie nur im Wunder eines Augenblicks erreichbare Freiheit von Leben, Materie, Kontingenz und Unreinheit soll sich als Freiheit des Intellekts verwirklichen. Für dieses Stadium in Valérys Entwicklung könnte es keinen prägnanteren Ausdruck geben als eben die Soirée avec Monsieur Teste. Dieses Werk, eine Art von Romanbruchstück, wurde 1896 in der Zeitschrift Le Centaure veröffentlicht. Der Held heißt nicht zufällig »Herr Kopf«. Er versucht, das Ideal des reinen Denkens zu verwirklichen, will kraft einer stets wachen Reflexion alles bloß Emotionale durchklären, will das Unbewußte, den Traum, will alles Dunkle verbannen. Sein Ziel ist dasjenge Valérys: » [dominer] le sensible et l'intelligible.« 530 »Herr Kopf« ist ein einsamer Asket des Geistes, der in sich – wie es heißt – »die Marionette abgetötet hat«, das heißt keine Handlung automatisch vollzieht, keine Gewohnheit unreflektiert durchläßt, sondern ein Leben absoluter Klarsicht und Bewußtheit führt. Aus seinem Wortschatz hat er alles verbannt, was nicht präzis ist. Der Erkenntniswille, von dem er beseelt ist, zielt vor allem auf Erkenntnis seiner selbst. Monsieur Teste liest nicht, er schreibt nicht, er denkt nur und sieht sich beim Denken zu: »Je suis étant, et me voyant« 531 . Ja er sieht sich als einem Sehenden zu: »me voyant me voir, et ainsi de suite ..." 532 Denken allein genügt nicht, man muß von dem Gedachten auch Besitz ergreifen: »trouver n'est rien. Le difficile est de s'ajouter ce qu'on trouve.« 533 Monsieur Teste denkt intensiv in der universalen Dimension, die Valéry an 528 529 530 531 532 533
»Autres Rhumbs«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 676. Ebd., S.1434. »Au sujet d'Eurêka«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 854. »Monsieur Teste«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 25. Ebd. Ebd., S.17.
192
Leonardo da Vinci extensiv verwirklicht sieht. Die heroische Attitude des Willens zur Selbsterkenntnis als Zentrum des Weltbegreifens aber hat als letzte Quelle zweifellos Descartes, mit dem Valéry sich eingehend beschäftigt hat. Alle Gefühle Testes werden registriert, mit genauen Etiketten versehen und eingeteilt. Am Schluß schläft er ein, aber nicht, ohne auch den Schlaf und den Traum zu analysieren. Valéry schreibt später im Vorwort zu einer englischen Ausgabe des Monsieur Teste: Teste fut engendré [...] pendant une ère d'ivresse de ma volonté et parmi d'étranges excès de conscience de soi. J'étais affecté du mal aigu de la précision [...] Je rejetais non seulement les Lettres, mais encore la Philosophie presque tout entière, parmi les Choses Vagues et les Choses Impures auxquelles je me refusais de tout mon cœur. 534
Valéry weiß, daß sein Monsieur Teste ein konstruiertes »Monstrum« ist, ein Monstrum des Bewußtseins. Madame Teste schreibt über ihren Gatten: C'est un trésor scellé que sa tête, et je ne sais s'il a un cœur. Sais-je jamais s'il me distingue; s'il m'aime ou s'il m'étudie? Ou s'il étudie au moyen de moi? 535
Das klingt furchtbar. Die Zerebralität hat jedes Gefühlsleben absorbiert. Aber Valéry war von einem tiefen Mißtrauen gegenüber allem bloß Gefühlsmäßigen, Unexakten, Unreflektierten erfüllt. Ohne dem Positivismus zu verfallen, sah er doch das Heil in den von ihm bewunderten Naturwissenschaften und in der Mathematik. Aus diesem Grunde deutet er in seinem großen Essay Introduction à la méthode de Léonard de Vinci den großen Italiener als einen Mann, der die Möglichkeiten des Intellekts nach allen Richtungen hin ausgeschöpft hat. Und er schafft in Monsieur Teste, in den gleichen Jahren, einen Typus Mensch, der eigentlich ein Übermensch ist, der vollständig zu Ende gedacht hat und der jederzeit über sein Denken verfügt. Monsieur Teste hat sich von seinem affektiven, empirischen, der Kontingenz entworfenen Ich gänzlich befreit. Er kultiviert nicht nur ein Über-Ich, das dem empirischen Ich kritisch zusieht und es kontrolliert, sondern dieses empirische Ich ist schlechthin vertilgt. Traurig genug, daß es immerhin noch unter ganz gewöhnlichen Magenverstimmungen leidet. Von Monsieur Teste heißt es: Il était l'être absorbé dans sa variation, celui qui devient son système, celui qui se livre tout entier à la discipline effrayante de l'esprit libre, et qui fait tuer ses joies par ses joies, la plus faible par la plus forte [...] Et je sentais qu'il était le maître de sa pensée. 536
»Le maître de sa pensée« – kein Zweifel, daß hier das Ideal Valérys vorliegt – die Personifizierung des absoluten und autonomen Bewußtseins.
534 535 536
Ebd., S. 11-12. Ebd., S. 31. Ebd., S.18. 193
Herr Teste bewegt sich ständig an den Grenzen der Denkmöglichkeiten. Valéry identifiziert ihn mit dem »démon de la possibilité« 537 und nennt ihn »le sanctuaire et le lupanar des possibilités« 538 – »Allerheiligstes und Bordell des Möglichen«. Eine solche erkenntnistheoretische Haltung muß egozentrisch sein. Maurice Bémol gibt ihr in seinem gescheiten Buch Paul Valéry 539 den Namen »Valérysme«. Mit Recht zitiert Bémol in diesem Zusammenhang einen Vers aus dem Gedicht Cimetière Marin: »O pour moi seul, à moi seul, en moi-même.« 540 Und einen zweiten aus einer der Narzissusdichtungen Valérys: »Le plus beau des mortels ne peut chérir que soi.« 541 Der bei Valéry so häufig anzutreffende Narzißmythos gehört in diesen Zusammenhang. Es ist an dieser Stelle unvermeidlich, auf Valérys Verhältnis zu zwei großen Gestalten der französischen Geistesgeschichte einzugehen. Der Antagonismus Descartes – Pascal hat Valéry immer wieder beschäftigt, weil sich in ihm sein eigenes Weltbild klärte. Wie seine Einstellung sein mußte, läßt sich bereits aus dem bisher Gesagten ableiten. Descartes gehört zu Valérys großen Vorbildern und Lehrmeistern, Pascal aber ist für Valéry Gegenstand von Bewunderung und Haß zugleich. Descartes verkörpert für Valéry das reine Denken aus dem Selbstbewußtsein – »cogito ergo sum« –, Pascal aber prägte den Satz: »Le moi est haïssable.« 542 Descartes stellte sein Ich als denkendes Ich ins Zentrum rationalen Weltbegreifens, Pascal aber stieß überall auf die Grenzen der Ratio und zuallererst im Innern des Menschen selbst: »Le cœur a ses raisons, que la raison ne connaît point.« 543 Descartes' Denken führt nach Valéry von Zweifel zu Zweifel zu hoher Gewißheit und zu jenem »Moi le plus pur, le moins personnel, qui doit être le même en tous, et l'universel en chacun« 544 . Dazu noch ein aufschlußreiches Zitat, das zeigt, was Valéry in Descartes sucht und findet: Le Je et le Moi explicitement évoqués devant nous introduire à des manières de penser d'une entière généralité, voilà mon Descartes. Empruntant un mot à Stendhal, qui l'a introduit dans notre langue, et le détournant un peu pour mon usage, je dirai que la vraie Méthode de Descartes devait se nommer l'égotisme, le développement de la conscience pour les fins de la connaissance. 545
Egotismus- Entfaltung des Selbstbewußtseins zum Zwecke der Erkenntnis. Das Heil des Menschen liegt für Valéry allein in der Erkenntnis durch das Denken. Und daraus erwächst die scharfe Wendung gegen Pascal, der intellektuelle Erkenntnis und Seelenheil auseinandergerissen, ja zueinander in Gegensatz gebracht hat: »Il a exagéré affreusement, grossièrement, l'opposition de la connaissance et du sa537 538 539 540 541 542
543 544 545
Ebd., S. 14. Ebd., S. 43. Paris 1949. »Le Cimetière marin«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 149. »Fragments du Narcisse«, ebd., S. 128. Blaise Pascal, »Pensées«, in: Œuvres complètes (hrsg. v. Jacques Chevalier), Paris 1954, S. 1126. Ebd., S.1221. »Une vue de Descartes«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 826. Ebd., S. 839.
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lut.« 546 Pascal stieß überall auf Abgründe, die ihn zum Verzicht auf rationales Denken und zur Hinwendung zu dem nicht beweisbaren, verborgenen Gott führten, anstatt das Denken selbst voranzutreiben. Pascals berühmte »Wette« war für Valéry ein Skandalon, die Pensées eine ständige Provokation. Valéry konnte Pascal ferner eine Haltung nicht verzeihen, die wir heute als Engagement bezeichnen würden. Pascal wurde zum Verräter an der Kunst und am Denken, als er seine Apologie des Christentums schrieb: Qu'est ce que l'Apologétique? Faire de bons chrétiens avec de mauvais raisonnements, utiliser la logique et la mort, etc. Le Serpent peut-il faire pire? Voilà ce que je nomme impur, que je ne puis supporter, et que je ressens comme un attentat. S'il existe une Ethique de l'esprit, rien ne l'offense davantage. 547
»Ethik des Geistes« – fast sind wir versucht, dies mit »intellektueller Redlichkeit« zu übersetzen! Und an anderer Stelle heißt es: [...] je n'ai jamais songé à contester l'extraordinaire puissance intellectuelle de Pascal, ni sa valeur d'écrivain, mais je trouve en lui, plus je le considère, ce que j'appelle son impureté et que j'oppose à ce que j'appelle la pureté cartésienne. 548
Pascal blieb für Valéry zeitlebens ein Ärgernis. Valéry ging sogar soweit, Pascal zu verdächtigen, er habe aus reinem Philosophenneid Descartes angegriffen. Wie aber hat Valéry sich zu solchen Gehässigkeiten gegen Pascal und die Jansenisten hinreißen lassen wie der fromme Paul Claudel, der Port-Royal noch einmal zerstört hätte, wenn dies nicht schon früher gründlich genug besorgt worden wäre? Wenn Pascal ein »impur« ist, weil sein Werk bestimmte Zwecke verfolgte, so ist eigentlich alle Literatur »impur«. In der Tat ist Valéry früh zu dieser Einsicht gekommen und hat daher eine Zeitlang die Literatur radikal abgelehnt. Auch der Autor, der sich bemüht, von jedem Zweck zu abstrahieren, schreibt doch für einen Leser; er denkt notwendigerweise an diesen Leser. Dadurch wird sein Werk »unrein«, weil der Geschmack des Lesers das Werk des Autors mitbestimmt und den Autor in eine » dépendance d'autrui« bringt, »dont l'esprit et les goûts que nous lui prêtons s'introduisent dans l'intime du nôtre.« 549 Der Autor verliert dadurch seine Seele, er wird korrumpiert. Die Konsequenz muß sein, gar nichts mehr zu schreiben und nur noch sich selbst zu genügen. Monsieur Teste verwirft denn auch die Literatur, sie gehört für ihn zu den »Choses Vagues et les Choses Impures« 550 , von denen Valéry auch an anderen Stellen spricht, jedesmal mit großen Anfangsbuchstaben. Valéry wappnet sich gegen den literarischen Aberglauben, in einer für ein großes Publikum geschriebenen Literatur Offenbarungen über das wirkliche Leben zu erwarten. Von der Wahrheit einer Romanfigur zu sprechen sei, wie Valéry einmal meint, genauso richtig wie eine Aussage über das Nervensystem der Mona Li-
546 547 548 549 550
»Variation sur une pensée«, ebd., S. 473. Ebd., S. 468. Frédéric Lefèvre, Entretiens avec Paul Valéry, Paris 1926, S. 83-84. »Fragments des mémoires d'un poème«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 1466. »Monsieur Teste«, ebd., S. 12. 195
sa oder über die Leber der Venus von Milo 551 . Von diesem Standort her wird begreiflich, daß Valéry im Roman keine Kunstgattung sah. An dieser Verachtung des gewichtigsten Genres der modernen Literatur hat er immer festgehalten. Der Roman entfremdet den Leser von sich selbst, spaltet ihn, anstatt ihn zum Bewußtsein seiner selbst zu führen. Der Leser »est absorbé par ce qu'il dévore [...] il est en proie à une sorte d'aliénation [...] il n'est plus lui-même.« 552 Valéry hat viele Jahre hindurch auch auf die Poesie verzichtet, weil selbst sie ihm nicht rein, nicht geistig genug schien, weil sie seinem Anspruch auf Erkenntnis nicht genügte. Um wieder zu ihr zurückzufinden, mußte er diesen Anspruch mit der Dichtung erst vermittels der Ästhetik der poésie pure versöhnen. Poésie pure meint Freiheit von aller Zweckhaftigkeit, äußerste Ferne von der utilitaristischen Prosa. Valéry erklärt selbst dazu: Je dis pure au sens où le physicien parle d'eau pure. Je veux dire que la question se pose de savoir si l'on peut arriver à constituer une de ces œuvres qui soit pure d'éléments non poétiques. 553
Poésie pure ist also Freiheit von allem Nicht-Poetischen. Valéry weiß, daß dies stets nur annähernd erreicht werden kann: »J'ai toujours considéré, et je considère encore, que c'est là un objet impossible à atteindre, et que la poésie est toujours un effort pour se rapprocher de cet état purement idéal.« 554 »Absolu« wäre nach Valérys Ansicht vielleicht treffender als »pur«: »Mieux vaudrait [...] peut-être, dire poésie absolue.« 555 Absolute Poesie ist Unabhängigkeit von allem Kontingenten, vor allem von Zeitgeschmack. 1932 schreibt Valéry: [...] quand je suis revenu, après plus de vingt ans de recherches non littéraires, à la Poésie, cette étrange entreprise ne s'est présentée à moi que sous l'aspect »absolu« – c'est-à-dire comme ne devant prendre quelque valeur que de qualités intrinsèques, indépendantes (autant que faire se pouvait) du goût de l'époque, du pressentiment du goût de l'époque prochaine, du décor et de la <sensibilité modernes<. 556
Kein Zweifel, daß solche Ästhetik ganz ausschließlich vom Primat des Intellekts bestimmt sein muß. Im Denken allein besteht für Valéry die Würde des Lebens und die Aufhebung seiner Nichtigkeit. Wirkliches Sein gibt es nur als vollkommenes Bewußtsein: Les choses du monde – so schreibt er einmal – ne m'intéressent que sous le rapport de l'intellect: tout par rapport à l'intellect. Bacon dirait que cet intellect est une Idole. J'y consens, mais je n'en ai pas trouvé de meilleure. 557
551 552 553 554 555 556 557
»Rhumbs«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 639. »Propos sur la poésie«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 1374. »Poésie pure«, ebd., S. 1457. Ebd. Ebd., S. 1458. Œuvres, Bd. 2, S. 1603. Paul Valéry vivant, op. cit., S. 93.
196
Fast das gleiche sagte Monsieur Teste von sich: »Je confesse que j'ai fait une idole de mon esprit, mais je n'en ai pas trouvé d'autre.« 558 Kunst ist für Valéry Ergebnis rationaler Anstrengung. Er verwirft jede Enthusiasmus- und Inspirationstheorie: L'enthousiasme n'est pas un état d'âme d'écrivain... 559 La littérature n'est rien de désirable si elle n'est un exercice supérieur de l'animal intellectuel. 560
Mallarmés Werk wird gerühmt als »tentative la plus audacieuse et la plus suivie qui ait jamais été faite pour surmonter ce que je nommerai l'intuition naïve en littérature.« 561 Valéry nennt die literarische Produktion eine »fabrication« 562 und das Gedicht definiert er einmal als »une sorte de machine à produire l'état poétique au moyen des mots« 563 . Schreiben ist für ihn eine mathematische Operation: »Ecrire (au sens littéraire) prend toujours pour moi figure d'une sorte de calcul.« 564 Gefühle müssen heraus aus dem Kopf, um Gegenstand der Dichtung werden zu können. Die Dichtung hat analog zur Musik zu verfahren, deren Harmonie auf mathematischen Verhältnissen beruht: Je me justifie par l'exemple du musicien qui traite par calculs d'harmonie, développe et transforme. – Je tiens ceci du travail des vers, qui oblige à disposer des mots, tout autrement que dans l'usage... 565
Das erklärt die Rolle der Technik, der Metrik, des Reims der musikalischen Effekte von Assonanz und Alliteration, kurz der Form bei Valéry. Nur vollendete Form verleiht der Dichtung die Dignität des Geistes. Die Form ist der Inhalt. Allein dadurch wird die Dichtersprache zum Organ einer Erkenntnistheorie. Jetzt verstehen wir Valérys Definition des Gedichts als eines »Festtags des Intellekts«: Un poème doit être une fête de l'Intellect. Il ne peut être autre chose. Fête: c'est un jeu, mais solennel, mais réglé, mais significatif[...] On célèbre quelque chose en l'accomplissant ou la représentant dans son plus pur et bel état [...] On organise tout le possible du langage. 566
Man »organisiert« für dieses Fest alle »Möglichkeiten« der Sprache. Nach dem Fest aber, das heißt nach der Arbeit des Geistes an der Sprache, wird alle Materie verbrannt, die dazu diente: »La fête finie, rien ne doit rester. Cendres, guirlandes foulées.« 567 Valérys Intellektualismus treibt logischerweise zur Bejahung der Klarheit. Aber er ist überaus skeptisch gegenüber der vielgepriesenen Klarheit seiner Landsleute. Er unterscheidet eine echte und eine falsche Klarheit, eine solche, die 558 559 560 561 562 563 564 565 566 567
»Monsieur Teste«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 37. »Note et Digression«, in: Œuvres, Bd. 1, S.1205. »Rhumbs«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 633. »Stéphane Mallarmé«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 620. »Poésie et pensée abstraite«, in: Œuvres, Bd. 1, S.1329. Ebd., 1337. Œuvres, Bd.2, S.1515. Ebd. »Littérature«, ebd., S. 546-547. Ebd., S. 547. 197
in Wahrheit geheimnisvoll ist, und eine solche, die nur simplifiziert und damit verfälscht. Diese letztere ist gemeint, wenn Valéry erklärt: »l'esprit clair fait comprendre ce qu'il ne comprend pas.« 568 Wer in die Tiefe steigt, wird notwendigerweise dunkel, aber seine Dunkelheit ist »limpide«: Obscur se fait nécessairement celui qui ressent très profondément les choses et qui se sent en union intime avec ces choses mêmes. Car la clarté cesse à quelques coudées de la surface.« 569
Valéry, dem wie seinem Meister Mallarmé der Vorwurf des Hermetismus gemacht wurde, hat sich dazu bekannt und gleichzeitig dagegen verwahrt. Die Dunkelheit seiner Aussage ist in der kristallenen Klarheit seiner Verse geborgen. Wie sie zustande kommt, lassen zwei Sätze verstehen, in denen Valéry die dichterischen Intentionen Mallarmés charakterisiert: »tenir le langage de la poésie toujours fortement et presque absolument, distinct du langage de la prose«, und: »le contenu du poème devait être aussi di f férent de la pensée ordinaire que la parole ordinaire est di f férente de la parole versifiée.« 570 Geistige Klarheit allein ist die Rettung aus dem chaotischen Leben und der Kontingenz. Nur mit ihrer Hilfe verwandelt die Poesie die Leere in Substanz der Form, an welcher sich die reine Idee kristallisiert, mit den Mitteln einer Sprache, die ihrer Zufälligkeit enthoben wird, indem der Geist in Form und Musik, in hellbewußter Neukonstellation, ihre verschüttete Ideehaltigkeit und Harmonie wiederherstellt. Dichtung soll alles Seiende wieder in Idee zurückverwandeln oder vielmehr: verwandeln, denn Valéry glaubt nicht an einen göttlichen Schöpfungsakt. Das Wort, der Logos, stand nicht am Anfang der Schöpfung, sondern steht gleichsam an ihrem Ende, ist ihr Ziel. Dichtung hat also geschichtsphilosophischen Rang. Und an Mallarmé rühmte Valéry deshalb: »Il ne voyait à l'univers d'autre destinée concevable que d'être finalement exprimé. On pourrait dire qu'il plaçait le Verbe, non pas au commencement, mais à la fin dernière de toutes choses.« 571 – »Verbe« – großgeschrieben, als Logos! Die absolute Geistigkeit freilich wäre das Schweigen, der Verzicht auf die Benennung überhaupt, die Namenlosigkeit, das Nichts: wie Valéry es selbst in einem Vers des Gedichts Le rameur ausdrückt: »Je remonte à la source où cesse même un nom.« 572 Valéry hat diesen Gedanken, der in letzter Konsequenz in eine Mystik einmünden würde, für die Gott mit dem Nichts gleich wird, nur gestreift. Kunst ist nicht als Schweigen möglich, auch wenn sie dieses Schweigen als das Verstummen des die Erkenntnis vollendenden Geistes heraufruft. Kunst bleibt notwendig immer der Materialität verhaftet, dem unreinen Leben, dem Zufälligen. Sie impliziert damit auch stets notwendig eine Negation der Absolutheit und Reinheit. Als Instrument der Erkenntnis hat sie die Erdenschwere der Materie, die sie überwinden soll, doch stets als »conditio sine qua non«. Was bei Mallarmé noch mehr als tragische Ahnung erschien, ist bei Valéry ins Licht eines hellen Bewußtseins gerückt, um dessentwillen er viele Jahre hindurch schwieg. 568 569 570 571 572
»Choses tues«, ebd., S. 496. »Mauvaises pensées«, ebd., S. 789-790. »Stéphane Mallarmé«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 668. Ebd., S. 622. »Le rameur«, Ebd., S. 153.
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Das Leben, so wie es sich darbietet, ist der Sündenfall, der die Reinheit der Idee in die schmutzige, befleckende Kontingenz herabzerrt. Schon der Begriff des Sündenfalls ist für den religiös indifferenten Valéry einer der großen Mythen, die sein Denken instrumentieren. Das gilt auch für das folgende: Jener Sündenfall – vollzogen am Paradiesesbaum – ist verursacht durch die Begier nach Erkenntnis, die nicht ohne das Instrument der geschaffenen Materie möglich ist. Wieder sind wir bei der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, und beim Baum der Erkenntnis, und damit zugleich beim Problem der erkenntnistheoretischen, das Absolute anvisierenden Funktion der Kunst. Es gibt kaum ein größeres Gedicht Valérys, in dem nicht die Motive des Baums der Erkenntnis und der Schlange eine wichtige Rolle spielen. Die Schlange ist das Prinzip der Verführung, die auch Verführung zur Auflehnung gegen den dunklen Ratschluß des Schicksals oder Gottes ist, und das Prinzip des Erkenntnisdurstes zugleich. Von dieser Schlange wird sogar die delphische Priesterin in dem Gedicht Pythie gebissen. Und ein längeres Gedicht Valérys ist ihr allein gewidmet. Es ist das Gedicht Ébauche d'un serpent, eine Kosmogonie im kleinen: Gott, der ewigen Selbstbetrachtung müde, hat die Zeitlichkeit geschaffen, und sein erster Schöpfungsakt war die Spaltung in Gutes und Böses durch die Schaffung des Prinzips der Verführung, des luziferischen Aufruhrs. Die Schlange drückt den Haß gegen den Schöpfer aus, der Luzifer ins Schattenreich verbannte und ihn zwingt, sich durch die Verführung des Menschen zu rächen: Mais, le premier mot de son Verbe, MOI! ... Des astres le plus superbe Qu'ait parlés le fou créateur, Je suis!... Je serai!... J'illumine La diminution divine De tous les feux du Séducteur! 573
Die Schlange ist das Produkt der göttlichen Selbstspaltung: ihr Geist ist, von Gott selbst stammend, das Instrument der Vernichtung der Reinheit: Mon Innombrable Intelligence Touche dans l'âme des humains Un instrument de ma vengeance Qui fut assemblé de tes mains! [...] Je vais, je viens, je glisse, plonge, Je disparaîs dans un cœur pur! Fut-il jamais de sein si dur Qu'on n'y puisse loger un songe! 574
In den folgenden Versen evoziert die Schlange die Verführung Evas. Die Sprache der Verführung, der einschmeichelnden Sinnlichkeit nutzt in diesen Versen alle Möglichkeiten der Assonanz und Alliteration für die Suggestionseffekte der Liebkosung und des Schlangenhaften – d, l, i:
573 574
»Ebauche d'un serpent«, ebd., S.139 f. Ebd., S. 140 f. 199
Dore, langue! dore-lui les Plus doux des dits que tu connaisses! Allusions, fables, finesses, Mille silences ciselés. 575
Und die Schlange apostrophiert den Baum der Bäume, den Baum der Erkenntnis, dessen Wachsen allein das Unendliche gebiert: Arbre, grand Arbre, Ombre des Cieux, Irrésistible Arbre des arbres,... [...] Tu peux repousser l'infini Qui n'est fait que de ta croissance, Et de la tombe jusqu'au nid Te sentir toute Connaissance! 576
Die Rache der luziferischen Schlange, das ist der der Unreinheit des menschlichen, sinnlichen Lebens bedürfende, von der Schlange geweckte Durst nach Erkenntnis, der das Nichts zur Existenz bringt: Il me suffit que dans les airs, L'immense espoir de fruits amers Affole les fils de la fange... - Cette soif qui te fit géant, Jusqu'à l'Etre exalte l'étrange Toute-Puissance du Néant! 577
Der Erkenntnisdurst, der aus der Verunreinigung der Idee durch die Schaffung des Fleisches, der Materie, als Drang zur Selbstüberwindung erwächst, schafft Sein aus dem Nichts. Das ist die Größe des Geistes. Wie im Alten Testament, so fällt auch im mythischen Bild Valérys der Dualismus von Idee und Leben, Geist und Materie mit der Antinomie von Sinnlichkeit und Geistigkeit zusammen. Damit stehen wir vor der Grundantinomie, die sich in fast jedem Werk Valérys aufzeigen läßt: esprit und sensibilité. Sensibilité ist für Valéry ein ebenso zentraler Begriff wie esprit. Sensibilité meint Sinnlichkeit, Affekt, aber auch geistiges Sensorium – sensibilité intellectuelle. Zuweilen sind esprit und sensibilité gleich animus und anima. Nie sind sie völlig getrennt, und stets ist das eine für das andere eine gefährliche Verführung. Die allegorische Figur der »Lust«, deren Verführung Faust in Valérys Faustdichtung ausgesetzt ist, ist nichts anderes als jene »sensibilité intellectuelle« und gleich im Sinne Epikurs und Lukrez', die Valéry sehr genau studiert hat. Aber jeder der beiden Pole gelangt erst durch den anderen zum Bewußtsein seiner selbst. Der Idealfall, der eben auch derjenige der absoluten Dichtung sein würde, wäre die Identität von Idee und Leben, von Trieb und Geist, von Sinnlichkeit und Intellekt. Verzweifelt richtet die vom Drängen der Sinne gequälte Pythia des Valéryschen Gedichts La Pythie an die Götter die Frage, ob der Klang des göttlichen Orakelwor575 576 577
Ebd., S.142 f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146.
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tes schöner klinge, wenn das reine Instrument unter dem Ansturm des Bösen zerstört, wenn die Saite zerbrochen wird: Pourquoi, Puissance Créatrice, Auteur du mystère animal, Dans cette vierge pour matrice, Semer les merveilles du mal? Sont-ce les dons que tu m'accordes? Crois-tu, quand se brisent les cordes Que le son jaillisse plus beau? 578
Die Erkenntnis der Wahrheit setzt den Durchgang durch das Leben, die Verunreinigung des Reinen voraus. Dieses ebenso ontologische wie erkenntnistheoretische wie auch ästhetische Problem bildet das Grundthema fast aller größeren Dichtungen Valérys. Dreimal – in verschiedenen Epochen seines Lebens – hat Valéry das Narcissus-Thema zum Gegenstand seiner Dichtung gewählt: der schöne Jüngling Narziß hat – im antiken Mythos – die Liebe der Nymphe Echo verschmäht und wird dafür von Venus zu einem Leben der unstillbaren Sehnsucht nach Erfüllung seiner Liebe zu sich selbst, nach Selbstidentität, gestraft und schließlich in die Blume gleichen Namens verwandelt. Bei Valéry wird Narziß zum Symbol egoistischer Selbstvergötzung, steriler Reinheit der Idee, die sich dem Leben verschließt und somit auch wirklicher Erkenntnis. Der Spiegel der Quelle, in dem sich Narziß in der Sehnsucht nach Vereinigung mit sich selbst verzehrt, spiegelt nur die Nichtigkeit solcher Hoffnung: »reflet de la froide vérité... reflet de mon idée dans mon néant.« 579 Narziß hat die Verführung der »sensibilité« allein auf sich selbst gekehrt. Das Ideal der Selbsterkenntnis und des Selbstbewußtseins schlägt um in bloße Selbstbespiegelung: Mais moi, Narcisse aimé, je ne suis curieux Que de ma seule essence; Tout autre n'a pour moi qu'un cœur mystérieux, Tout autre n'est qu'absence. 580
Es fehlt uns die Zeit, uns auf den Begriff der Absence einzulassen. Es gibt mehrere Aufsätze darüber, sogar ein ganzes Buch. Hier meint »absence« die Ignorierung des anderen Menschen, die Weigerung, sich auf anderes als das Ich zu beziehen. Die von Narziß abgewiesene Nymphe erleidet das gleiche Schicksal der vom Leben nicht vermittelten und aufgehobenen Unfruchtbarkeit: ihr Schicksal ist es: »N'être que blanche et belle [...] Le froid gémissement d'une virginité/A l'ennui le plus pur à jamais condamnée.« 581
578 579 580 581
»La Pythie«, ebd., S. 134. Paul Valéry, Lettres à quelques-uns, Paris 1952, S. 81. »Fragments du Narcisse«, in: Œuvres, Bd. 1, S. 128. »Cantate du Narcisse«, ebd., S. 417, 418. 201
»La jeune Parque« – zum Antagonismus von esprit und sensibilité Das Problem des reinen Geistseins und seiner Unfruchtbarkeit ist auch Gegenstand des berühmten Gedichts La jeune Parque. Auf dieses Gedicht wollen wir noch eingehen. Valéry hat es 1917 veröffentlicht. 582 Die Jeune Parque umfaßt 512 Verse, Alexandriner, die, wie Valéry selbst gesteht und wie Stiluntersuchungen bestätigen, die zu jener Zeit sehr intensive Racine-Lektüre des Dichters verraten. Die Jeune Parque ist der mitternächtliche Monolog eines jungen Mädchens, dessen Name mit den drei Parzen nur insofern etwas zu tun hat, als dieser Name einen wichtigen Hinweis auf die Allgemeinheit ihres Problems und auf den schicksalhaften Charakter ihres Bewußtseinsdramas enthält. Es geht um das Schicksal des menschlichen Bewußtseins, um die erwachende Sinnlichkeit eines jungen Mädchens, um den Konflikt von esprit und sensibilité und um das Problem der poésie pure, ja der Dichtung zugleich. Das Mädchen erwacht mitten in der Nacht. Getrieben von einer unerklärlichen Unruhe verläßt es sein Lager. Mit der langsamen Loslösung vom Schlaf kommt das Mädchen zum Bewußtsein seiner Lage, der Lage einer lähmenden Kontaktlosigkeit gegenüber dem Leben. Sie hört ein Weinen – der Wind? Wir verstehen bald; es ist ihr zweites, soeben erwachendes, unbefriedigtes Ich, ihre körperliche Natur. Sie verläßt das Haus, geht zum Meer, immer mehr erfüllt von einem ihr unverständlichen Schuldgefühl, wie verfolgt von einem Traum: »La houle me murmure une ombre de reproche« 583 . Wie ein welkes Blatt setzt sich die unklare Empfindung zwischen die »Inseln ihrer nackten Brust«: Et quel frémissement d'une feuille effacée Persiste parmi vous, îles de mon sein nu? ...
Sie erinnert sich, wie sie sich ihres Körpers bewußt wurde, wie ihre Hand – » distraitement docile à quelque fin profonde« – der erwachenden Sinnlichkeit folgte, vor der sie einen Schauder verspürt, sie, die sich in ihrem Wunsch nach reinem Geist-Sein dem unbekannten Himmel verbunden weiß und doch vom Gedanken an Untergang beseelt ist: Je scintille, liée à ce ciel inconnu... L'immense grappe brille à ma soif de désastres.
»Pur« und »surnaturel« steht die Traube der Sterne über ihr: Je suis seule avec vous, tremblante, ayant quitté Ma couche [...] 582
583
Den ausführlichsten Kommentar – es gibt deren viele – enthält ein umfängliches Buch von Hans Sorensen: La poésie de Paul Valéry. Etude stylistique sur la Jeune Parque, Kopenhagen 1944. Von diesem Buch hat jede Interpretation auszugehen. Erhellend in vielen Details ist eine Hamburger Dissertation von Lisa Schroeder: Valérys »Jeune Parque«, Hamburg 1955 (Hamburger Romanistische Studien, Reihe A, Bd. 39). L. Schroeders Untersuchung bedient sich der Psychoanalyse, was zu einigen Übertreibungen, aber auch zu etlichen Entdeckungen führt [Anmerkung Erich Köhler]. »La jeune Parque«, ebd., S. 96. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate.
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J'interroge mon cœur quelle douleur l'éveille, Quel crime par moi-même, ou sur moi consommé?... 584
Welche Sünde hat sie begangen, welche Schuld auf sich geladen, sie, die wie Narziß sich stets selber zusah und ihre eigene Tiefe auszuschöpfen trachtete? Je me voyais me voir, sinueuse, et dorais De regards en regards, mes profondes forêts. 585
Aber wie immer sie über sich selbst reflektiert und das eigene Bewußtsein erhellt, sie versteht das Neue nicht. Die »tiefen Wälder« ihrer Sinnlichkeit – »forêt sensuelle« 586 heißt es in einem anderen Gedicht – bleiben dunkel. Auf ihrem Lager hatte sie gelegen, sicher, daß sie des neuen Erlebnisses Herr würde, Herrin über den Körper, der sich geheimnisvoll regte: [...] maîtresse de mes chairs, Durcissant d'un frisson leur étrange étendue, Et dans mes doux liens, à mon sang suspendue [...] 587
Herrin über ihr Fleisch, trotz der Verhärtung, die der Schauder des neuen Erlebens an der »seltsamen Ausdehnung« ihres Fleisches, wohl ihre Brüste, verursacht. Mit Recht verweisen die Kommentare auf Mallarmés Hérodiade: »[...] le soir, retirée en ma couche, reptile/Inviolé [...]« 588 . Der Blick der Jeune Parque wird klarer: in den »profondes forêts« der vergebens durchleuchteten Sinnlichkeit verfolgte sie eine Schlange, die sie gebissen hat; in einem mit Durchschuß vom Kontext isolierten Vers: »J'y suivais un serpent qui venait de me mordre.« 589 Die Schlange ist die Schlange der luziferischen Verführung, Sinnlichkeit und Erkenntnis in einem, Verlust der jungfräulich reinen Geistigkeit und Erschließung einer neuen Dimension zugleich. Es folgen verzweifelte Ausrufe: »Quel repli de désirs, sa traîne!... Quel désordre« Welche Kette von Wünschen, ihr Schwanz – der Schlange. Welcher »désordre« erfaßt die Schätze ihres begierigen Geistes! Und doch fühlt sich die Jeune Parque mehr »erkannt« als »verwundet«: O ruse!... A la lueur de la douleur laissée Je me sentis connue encor plus que blessée...
Kein Zweifel, daß »connue« hier den doppelten biblischen Sinn von »erkennen« enthält, ohne daß dies ganz wörtlich zu nehmen wäre. Das Gift der Schlange, es ist ihr Gift. Dieser Vers wiederholt das »connaître« und fügt ihm das »Aufklären« bei: »Le poison, mon poison, m'éclaire et se connaît». Das Gift des Schlangenbisses gibt einer Jungfrau Farbe, die bisher nur sich selbst zugewandt war: »Il colore 584 585 586 587 588
589
Ebd., S. 96 f. Ebd., S. 97. »Aurore«, ebd., S. 112. Ebd., S. 97. »Hérodiade«, in: Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes (hrsg. v. Henri Mondor, G. Jean-Aubry), Paris 1945, S. 47. Œuvres, Bd. 1, S. 97. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 203
une vierge à soi-même enlacée». Mit diesem Bild ist der geradezu lesbische Charakter eines weiblichen Narzißmus beschworen. Rätselhaft bleibt der Jeune Parque, was für ein Wesen es ist, das hier plötzlich vor ihr aufersteht, sich ihrem bisherigen Ich gegenüberstellt und zu ihm spricht, zu dem Ich, das nur sich selbst besaß: »Et quel silence parle à mon seul possesseur?« Die Jeune Parque empfindet das Neue noch ganz als Gefahr, symbolisiert im Biß der Schlange der Verführung; daher auch die negative Kennzeichnung: ruse, poison, traître. Und doch ahnt sie, daß die Schlange in ihr selbst wohnt, Teil ihrer selbst ist, ihr natürliches, affektives, sensitives Wesen. Und so bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß aus der schweren Wunde des Bisses, die doch »plus connue que blessée« ist, die bisher unbekannte Schwester ihrer selbst aufersteht und brennt: »Dieux! Dans ma lourde plaie une secrète sœur/Brûle [...]«. Das ist die Erkenntnis der Gespaltenheit, eines doppelten Ich. Jetzt aber wehrt sie sich, einerseits sehnsüchtig ihr altes Ich beschwörend, andererseits heftig jene »Schwester« zurückstoßend. In 46 Versen weist sie die Verführung von Schlange, gleich Schwester, ab, um sie in die schwarze Nacht ihrer Herkunft zu verdammen: Fuis-moi! du noir retour reprends le fil visqueux! Va chercher des yeux clos pour tes danses massives. Coule vers d'autres lits tes robes successives, Couve sur d'autres cœurs les germes de leur mal, [...] Moi, je veille[ ...] 590
Sie ruft ihren Stolz auf, sie vor den eigenen verführerischen Bildern, dem Biß der Schlange, zu schützen: Je m'accoude inquiète et pourtant souveraine, Tant de mes visions parmi la nuit et l'œil, Les moindres mouvements consultent mon orgueil. 591
Das geistige Ich, das reine, selbstbezogene, das unberührte, gewinnt also vorübergehend wieder die Oberhand über die Sinnlichkeit, über die Schlange, über die »Schwester«. Aber sogleich kommt das Bedauern: zu süß war der Schmerz des Bisses, ja göttlich war der Biß: Mais je tremblais de perdre une douleur divine! Je baisais sur ma main cette morsure fine, Et je ne savais plus de mon antique corps Insensible, qu'un feu qui brûlait sur mes bords [...] 592 .
Von ihrem einstigen, unempfindlichen, kühlen Körper ist nichts übriggeblieben als das Feuer, das seit dem Biß in ihr brennt. Und so ahnt sie plötzlich, daß dieses Neue ihr wirkliches Ich sein könnte, die »Schwester«, und daher traurig das Adieu an die Schwester, das Ich, das Lüge und sterblich ist, weil es sich, wie die Jeune 590 591 592
Ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 99.
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Parque meint, so leicht wieder vertreiben läßt: »Adieu, pensai-je, MOI, mortelle sœur, mensonge..." 593 . Aber der Biß der Schlange läßt sich nicht verleugnen, die »Schwester« ist nicht zum Verschwinden zu bringen, die Erinnerung an das Erlebnis läßt sich nicht abtöten. Ohne Wirkung bleibt auf die Dauer der Appell zur Beruhigung der aufgewühlten, erwachten Sinnlichkeit. Das neue Erlebnis ist auch Erkenntnis: »[...] et mes yeux sont ouverts.« 594 Aber wieder erwacht der Trotz der befleckten Reinheit. Sie ist nur überrascht worden durch die Schlange, in einem Augenblick, da ihre Aufmerksamkeit schlief: »Tu regardais dormir ma belle négligence...« 595 . Die Jeune Parque erinnert sich jetzt der Tage ihrer frühen Jugend, da sie die Braut der Sonne war, vermählt allein der unberührten Natur, lebend im Schweigen reiner Akte: [...] J'étais l'égale et l'épouse du jour, Seul support souriant que je formais d'amour [...] 596
Unvergänglich schien das Glück dieser Unschuld, der Zeit, da die Dolden der Blumen ihrem streifenden Kleide »gehorchten«: »Qui laissais à ma robe obéir les ombelles.« 597 Jetzt aber empfindet sie die Nutzlosigkeit ihrer Schönheit und die Unmöglichkeit, alle Sehnsüchte ihres Wesens ungestillt zu lassen. Mit Allmacht drängt sich als einzige Lösung aus dem Konflikt der Gedanke an den Tod auf: »Glisse! Barque funèbre...« 598 . Aber wieder faßt sie sich, abermals sträubt sich der Reiz des Neuen gegen den Untergang. Das Eins-Sein mit sich selbst, das narzißtische Selbstbewußtsein jener Zeit erscheint trotz des beschworenen Glücks nunmehr als öde. Das gewollte Eins-Sein des Narzißmus setzt ja den Prozeß des Zwei-Sein-Wollens voraus: die Spaltung des Androgyns, die sich nicht rückgängig machen läßt. Die Erkenntnis hat den Stand der Unschuld aufgehoben. Sie erkennt in sich höllische Abgründe: » Mon œil noir est le seuil d'infernales demeures!« Der Blick, den dieses zur Schwelle infernalischer Räume gewordene Auge wirft, ist dem lichten Tag, der Helle des Bewußtseins, entfremdet: »Je ne rends plus au jour qu'un regard étranger...«. Vorher dem Tag vermählt, ist dieser ihr jetzt fremd. Die reine Jungfräulichkeit, das heißt das reine, konfliktlose Geistsein, ist unwiderruflich dahin. Der Tag ist der »nuit curieuse«, das heißt der Neugier der erwachten Sinnlichkeit, gewichen. Wie immer sie sich wehrt, ihr ganzes Ich ist dem Neuen geöffnet. Sie will ihren Körper als kühle Marmorstatue sehen, unberührbar, aber der Marmor ist klaffend geöffnet, wider Willen bereit: »mon marbre béant« 599 . Erneut richtet sich der Blick auf die Vergangenheit. Aber dieses Mal hat diese Vergangenheit den Glanz des fraglosen Erfülltseins verloren. Sie wird daher zur »Beute eines gefährlich auf sie gerichteten Blicks «, wie es in einem anakoluthischen Vers heißt, dessen Inversion auch von Mallarmé stammen könnte: »O DANGE593 594 595 596 597 598 599
Ebd. Ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd. Ebd., S. 100. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 101. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 205
REUSEMENT de son regard la proie!« Farben und Bewegung der unschuldigen Jugendzeit erscheinen in der Retrospektive des neuen Erwachens als ennui, wenn auch als »clair ennui«. Als gleichförmiger, statischer, sich bloß wiederholender Ablauf stellt sich diese Zeit jetzt dar. Der Tag unter diesen Tagen offenbart sich nun als »jour ennemi«. Wird die Zeit (»Temps«, großgeschrieben) es wagen, aus den Gräbern meiner Erinnerung einen Abend wieder auferstehen zu lassen, einen Abend voller Tauben und Seerosen am Teich, voller unschuldiger Wellen. Doch jener Abend war voller Verführung. Ein Faun, die lockende Flöte an dem Munde von Edelsteinzähnen, wagte in Schattenwind und Träumerei weinend den geheimen Kuß unter Blumen: ... sa peau Frissonne, c'est le dire absurde d'un pipeau, Flûte dont le coupable aux dents de pierrerie Tire un futile vent d'ombre et de rêverie Par l'occulte baiser qu'il risque sous les fleurs. 600
Die Nymphe – die Jeune Parque von damals – hat der Verführung des faunischen Flötentons widerstanden, aber noch heute errötet sie vor Scham darüber, daß die Verführung überhaupt an sie herantreten konnte. Faun und Nymphe sind hier selbstverständlich nur Bilder für die erste pubertäre Erregung der Jeune Parque, aber auch für die erste Begegnung mit der Sinnlichkeit der Kunst: »Souvenir, ô bûcher, dont le vent d'or m'affronte« 601 . Sie hat widerstanden, aber die verbrannte Erinnerung an diesen Abend hinterläßt ein »silence complice«, einen »trouble transparent« 602 , Komplize der Schlange. Wieder appelliert jetzt die Jeune Parque an ihre Widerstandskraft, an den »refus/D'être moi-même en flamme une autre que je fus ...« 603 . Sie will nicht in der entflammten Sinnlichkeit eine andere sein als diejenige, welche sie war. Sie will sich den Frieden der nicht in Frage gestellten Unschuld erhalten. Aber die Erinnerung ist Gegenwart geworden. Ihr Blut brennt in den Adern, ihre Stirn erbleicht, sie fühlt erschaudernd die Nähe des Todes. Sie ruft ihn auf als Befreiung und Erlösung. Sie vermeint zu sterben. Aber es ist nur der endgültige Tod des alten Ich, das stirbt in vollem Erwachen des Neuen. Ja: die Hingabe an den Tod erscheint schon identisch mit der Hingabe an das neue Leben, wie die Bejahung der erwachten Sinnlichkeit. Es ist das Bild vom Liebestod, aus dem Neues gebiert. Und plötzlich ist die Natur wie ein einziger sprießender Frühling voller Fruchtbarkeit und quellenden Wassers, das die Erregung des Blutes ankündigt: ... La renaissante année A tout mon sang prédit de secrets mouvements: Le gel cède à regret ses derniers diamants... Demain, sur un soupir des Bontés constellées,
600 601 602 603
»Episode«, ebd., S. 84. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd.
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Le printemps vient briser les fontaines scellées: L'étonnant printemps rit, viole...[...] 604
Der Frühling – als Liebesfrühling – wird die versiegelten Quellen aufbrechen; der erstaunliche Frühling lacht, er vergewaltigt... Nur das viole macht die in diesen Versen verborgene erotische Symbolik transparent. In diesem Augenblick, da sich Sinne, Körper und Geist ganz hingeben wollen, da sie weiß, daß dies ihr Schicksal ist, sträubt sie sich erneut gegen ihre Bestimmung zur Liebe, zum Vergänglichen, zur Berührung mit dem Animalischen – » moi si pure« 605 . Sie ist und will sein – als Parze – unsterblich durch Reinheit – Instrument des Göttlichen – und wehrt sich gegen den Einzug des Körperlichen in das Geistige. Zwischen Verneinung und Bejahung bleibt sie ratlos – Narzißmus auf der Schwelle der Selbstaufgabe. Ihr Mitleid mit sich selbst dehnt sich aus auf alles, was am gleichen Schicksal teilhat: Chaque baiser présage une neuve agonie... [...] J'ai pitié de nous tous [...] 606
Mitleid mit allen, die geboren werden, um wieder sterben zu müssen. Sie gibt es auf, gegen das Schicksal, lieben und gebären zu müssen, anzukämpfen. Tränen bringen Erleichterung. Aber sogleich kommt die bohrende Frage des hell gebliebenen Bewußtseins: woher kommt die Träne? Wer ruft sie: » – Qui t'appelle au secours de ma jeune blessure?« Die Trauer fließt aus der stolz gebliebenen und doch schon geschwächten Seele, die zum Labyrinth geworden ist: »Tu procèdes de l'âme, orgueil du labyrinthe. « Dem Bild der Seele als Labyrinth folgt das Bild der Seele als einer Grotte der Angst, aus der das geheimnisvolle Salz die stumme Träne sickern läßt: D'une grotte de crainte au fond de moi creusée Le sel mystérieux suinte muette l'eau.
Instinktiv bewegt sich die Jeune Parque auf die Klippen des Meeres zu, sich ihrer Schwäche bewußt, ihrer Schwäche aus Schnee, der dahinschmilzt, der Schwäche ihrer jungfräulichen Kälte, die dem Neuen weicht, das sie immer noch für eine Falle des Bösen hält: »Ma faiblesse de neige/Marchera-t-elle tant qu'elle trouve son piège?« 607 Ganz unvermittelt folgt darauf die Frage: »Où traine-t-il, mon cygne, où cherche-t-il son vol?« 608 Was hat der Schwan, der plötzlich als Gegenstand der Sehnsucht vor dem Auge der Jeune Parque auftaucht, zu bedeuten? Der Schwan ist ein sehr fleischlich gesinnter Liebhaber insofern, als Zeus sich in seiner Gestalt der Leda bemächtigte. Er ist aber auch der heilige Vogel Appollons und als solcher Symbol des Dichters, zugleich jedoch Sinnbild der Reinheit, der Keuschheit, der
604 605 606 607 608
Ebd., S. 102 f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 105. Ebd. 207
Unbeflecktheit. Göttlich in all diesen Bedeutungen, schließt er Sinnlichkeit und Geistigkeit ein, ist also für die Jeune Parque, die ihrer Reinheit nachtrauert und sich nach der Liebe sehnt, das Symbol der idealen Einheit von Sinnlichkeit und Geist. Aber auf die Frage: » Où traîne-t-il, mon cygne, où cherche-t-il son vol?« erfolgt keine Antwort. Die Sehnsucht nach dem göttlichen Liebhaber bleibt unerfüllt, wie wir rund hundert Verse später erfahren: Ni, par le Cygne-Dieu, de plumes offensée Sa brûlante blancheur n'effleura ma pensée... Il eût connu pourtant le plus tendre, des nids! 609
Die Nacht neigt sich dem Ende. Die aufsteigende Sonne erhellt den Geist, aber sie wärmt noch nicht. Die Jeune Parque will nun ihre Erinnerung begreifen, nicht mehr nur erleben. Sie gelangt zu der Einsicht, daß sie zur Liebe bestimmt ist, aber ihre Hingabe solle eine Hingabe an die Natur, an die Sonne, an das Universum sein, und diese Hingabe ist Aufgabe des Ich, ist Tod. Abermals erscheint der Tod als Lösung. In neuer Weise stellt sich somit das alte Problem: die Hingabe an die Sensibilität als Verzicht auf das reine Geist-Sein. Geheimnisvoller denn je erscheint das eigene Ich: »Mystérieuse MOI, pourtant, tu vis encore!« 610 Noch ist ihr Geschick nicht vollzogen! Das Erwachen des Tages ist zunächst wie ein schwerer Schock, denn nichts ist überwunden: »O rude/Réveil d'une victime inachevée... [...]« 611 . Die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des alten Ich in der Hingabe an das Universum belebt das »unvollendete Opfer«, als das sie sich fühlt: Tout va donc accomplir son acte solennel [...] [...] de restituer la tombe enthousiaste Au gracieux état du rire universel. 612
Ihr »Tod«, der vermeintliche Tod ihres alten Ich, hat die Erwartung enttäuscht. Denn ihre Bereitschaft war narzißtisch unfruchtbar geblieben – vergebens, vergebens die Hoffnung auf den Tod: Attente vaine, et vaine... Elle ne peut mourir Qui devant son miroir pleure pour s'attendrir. 613
Sie kann das Verharren im reinen Geist-Sein nicht aufgeben und wird daher die narzißtische Wendung der erwachten Sinnlichkeit auf sich selbst nicht los. Langsam gelangt die Jeune Parque zu einem Ja, zu einer Bejahung des Verrats, den das Fleisch an ihr beging: Hier la chair profonde, hier, la chair maîtresse M'a trahie... Oh! sans rêve, et sans une caresse! ... 614 609 610 611 612 613
Ebd., S. 108. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd., S. 107.
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Sie erkennt ihren Fehler: die narzißtische Selbstliebe, aus der sie jedoch nun als eine andere hervorgeht: »Au milieu de mes bras, je me suis faite une autre...« 615 Inmitten der liebenden Umarmung ihrer selbst ist sie verändert! Und: Doucement, Me voici: mon front touche à ce consentement... Ce corps, je lui pardonne, et je goûte à la cendre. Je me remets entière au bonheur de descendre, Ouverte aux noirs témoins, les bras suppliciés, Entre des mots sans fin, sans moi, balbutiés... Dors, ma sagesse, dors. Forme-toi cette absence; Retourne dans le germe et la sombre innocence. Abandonne-toi vive aux serpents, aux trésors... Dors toujours! Descends, dors toujours! Descends, dors, dors!
Der Abstieg in die Tiefen, den Schlangen der Verführung folgend und den Schätzen der Sehnsucht, ist so finster nicht: »[ ...] Le noir n'est pas si noir...«. Die folgenden Verse, nach dem Erwachen aus einem Traum, den die Jeune Parque für den Tod hielt, sind eine lange Apostrophierung ihres Lagers, ihres Bettes: DÉLICIEUX LINCEULS, mon désordre tiède, Couche où je me répands, m'interroge et me cède [...]
»Köstliches Leichentuch« – der Tod der Unschuld ist schmerzlich-süß. Das Linnen ihres Bettes ist das Leichentuch des alten Ich; die feuchte Unordnung, die ihr Körper hinterließ, stellt Fragen, die sie nicht mehr zurückweisen kann. Das alte Ideal der Reinheit stirbt auf dem Lager – »idole« 616 wird es genannt, das Idol des Geistes, das Idol der Unberührtheit: Dans vos nappes, où lisse elle imitait sa mort L'idole malgré soi se dispose et s'endort [...]
Die Entscheidung fällt für das Leben, für die Liebe, in der Anrede an die »geheime Arche«, mit der sicherlich ihr Körper gemeint ist: Arche toute secrète, et pourtant si prochaine, Mes transports, cette nuit, pensaient briser ta chaîne; Je n'ai fait que bercer de lamentations Tes flancs chargés de jour et de créations!
Leben und künftiges Leben ruhen im Schoße des Körpers, den sie jetzt schöner als je zuvor erkennt: »O, sur toute la mer, sur mes pieds, qu'il est beau!« Dann folgen zwei Verse, in denen die Jeune Parque fast jubelnd die Entdeckung ihres Leibes begrüßt, in der Erkenntnis, daß sie ihr Geist-Sein nicht völlig verloren hat in der Bejahung des Körpers, daß vielmehr nur ein Schleier von ihm genommen ist, der sich in Richtung des Körpers verflüchtigt: 614 615 616
Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 110. Auf dieser Seite auch die folgenden Zitate. 209
Tu viens! ... Je suis toujours celle que tu respires, Mon voile évaporé me fuit vers tes empires...
Am Ufer des Meeres opfert sie ihr altes Ich, das ein «monstre de candeur« war. Ein letztes Widerstreben besiegend, apostrophiert sie die Sonne als Symbol des Lebens und der Wiedergeburt, als das Feuer, dem eine Jungfrau aus Blut mit Dankbarkeit zustrebt, als dem Licht der neuen Erkenntnis. Man denkt unwillkürlich an die Schlange des Luzifer – des Lichtbringers: Alors, malgré moi-même, il le faut, ô Soleil, Que j'adore mon cœur où tu te viens connaître, Doux et puissant retour du délice de naître, Feu vers qui se soulève une vierge de sang Sous les espèces d'or d'un sein reconnaissant!
Das ist der Schluß des Gedichts: Die Synthese von Esprit und Sensibilité, von Geist und Körper ist erreicht. Es ist auch die Versöhnung von poésie pure und Kontingenz. Am Ende aber stimmt die Jeune Parque also ein in die Verführung, in die Doppelung und Bereicherung ihres Wesens, die allein den Weg zur Erkenntnis neuer Dimensionen öffnet. Die Quellen der Jeune Parque sind leicht zu finden: neben einem Gedicht von Maurice de Guérin – La Bacchante – vor allem Mallarmés Hérodiade. Valérys Gedicht endet – wie der Cimetière marin – mit der Konsequenz, daß der Geist nur zu sich selbst kommt durch die Bejahung des Lebens, daß er sich selbst erkennt allein in der Spannung zwischen Idee und Körperlichkeit. Valéry hat dafür noch ein anderes Symbol gefunden: das der Tänzerin, die alle materielle Schwere in Bewegung transformiert, in dem Werk: L'âme et la danse. Für den dort zuschauenden Sokrates ist die Tänzerin »l'acte pur des métamorphoses« 617 , ständige Bewegung zum Unendlichen hin, die Überwindung des Zufalls – »le hasard absent« 618 –, aber doch stets wieder zur Erde zurückfallend, deren Schwerkraft sie – als Symbol des stets sich erhebenden Geistes – immer aufs neue überwindet. Das Leben wird bejaht, mit dem Ziel, es selbst durch seine Zeitlichkeit und Sinnlichkeit hindurch erkennend zu überwinden. So heißt es am Schluß des Gedichts Cimetière marin: »Le vent se lève!... il faut tenter de vivre!« 619 Die im reinen Denken unter Verzicht auf das Leben erworbene Freiheit vom Kontingenten wäre Selbstaufgabe der Individualität, ohne welche die Idee nicht zum Erkenntnisgegenstand distanziert werden könnte. Das Absolute wird tatsächlich zum Nichts, wenn es das von Kontingenz und Zeitlichkeit bedingte Partikuläre und Individuelle negiert. Das ist letztlich auch die Lösung von Valérys Spätwerk, seiner FaustDichtung: Mon Faust.
617 618 619
»L'âme et la danse«, in: Œuvres, Bd. 2, S. 165. Ebd., S. 154. Œuvres, Bd. 1, S. 151.
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Bibliographie
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