Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 10
Vorstoß nach Kopaar von Arndt Ellmer
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan,...
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Atlan - Minizyklus 05 Dunkelstern Nr. 10
Vorstoß nach Kopaar von Arndt Ellmer
Wir schreiben das Jahr 1225 NGZ. Atlan, der unsterbliche Arkonide, ist gemeinsam mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf die Fährte der Lordrichter von Garb gestoßen, die mit riesigen Armeen ihrer Garbyor-Völker und geraubter varganischer Technologie an vielen Orten des Universums wirken. Zunächst wurden sie in der Southside der Milchstraße mit ihnen konfrontiert, und nun stehen sie in der Kleingalaxis Dwingeloo wieder im Kampf gegen die unheimlichen Invasoren. Nach einigen unerfreulichen Begegnungen wissen sie zumindest, dass sich hinter den Garbyor die ehemaligen »Horden von Garbesch« verbergen und die Lordrichter Zugang zum Mikrokosmos der Varganen suchen. Mittels einer Verkleinerungstechnologie und der Schwarzen Substanz scheint dies auch zu gelingen – Atlan und Kythara geraten prompt in eine Falle. Ein ganzer Raumsektor wurde zum eigenständigen Miniaturuniversum gemacht, und die beiden befinden sich mitten in diesem Gebiet. Ihnen bleiben nicht viele Optionen – eine davon ist der VORSTOSS NACH KOPAAR …
Vorstoß nach Kopaar
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wagt alles, indem er bis an die Grenzen des Universums vorstößt. Farangon - Ein Cappin gerät unter Verdacht, weil er sich vorbildlich verhält. Yagul Mahuur - Der Lordrichter beaufsichtigt die Vorgehensweise seines Erzherzogs und stellt ihm einen Konkurrenten zur Seite. Erzherzog Garbgursha - Der Zaqoor hetzt die AMENSOON. Veschnaron - Der Gestaltwandler nimmt sich Freiheiten, die ihm nicht zustehen.
1. »Verfluchte Höllenbrut!« Die Golfballraumer tauchten dicht hinter uns auf, keine 20 Millionen Kilometer entfernt. Ihre Bordgeschütze spien Feuer. Durch die relative Verkleinerung beim Übertritt in den Mikrokosmos hatten sie leider nichts von ihrer energetischen Wirksamkeit eingebüßt. Der Kardenmogher flog ein Ausweichmanöver, das ihn aus der Schusslinie brachte. »Das war knapp«, hörte ich Offshanor sagen. Kalarthras blieb stumm, aber seine bleichen Wangen zuckten vor Erregung. Der Kardenmogher spulte die Notetappe von zwei Lichtjahren ab, orientierte sich kurz und verschwand wieder, bevor die Verfolger auftauchten. Meine vage Hoffnung, wir könnten die Golfballraumer durch das simple Manöver abgehängt haben, erfüllten sich nicht. Noch während ich die nächste Hyperraumetappe programmierte, tauchten sie wieder auf, diesmal nicht im Pulk, sondern ungleichmäßig über den Raumkubus verteilt, in dem sie uns geortet hatten. Den nächsten Fluch zerbiss ich zwischen den Zähnen. Was für ein Pech aber auch!, spottete mein Extrasinn. Hattest du etwas anderes erwartet? Ich ersparte mir die Antwort. Es wurde immer deutlicher, dass es an den Hypertastern dieser Schiffe lag. In einem Bereich von drei bis fünf Lichtjahren waren sie in der Lage, Fahrzeuge selbst im Hyperraum anzupeilen und zu verfolgen. Sie setzten al-
les daran, den Kardenmogher aufzubringen und mich in ihre Hände zu bekommen. Dass die Lordrichter es auf mich abgesehen hatten, wusste ich seit jenen Andeutungen der Eishaarfeld-Erscheinung auf Maran'Thor. Inzwischen lag das zwei Monate zurück. Wieder führte ich den Kardenmogher in den Hyperraum, ließ ihn diesmal eine Etappe von vierzig Lichtjahren zurücklegen. Hatten die Garbyor bisher vermutet, das kleine Fahrzeug könne keine größeren Distanzen bewältigen, dann wurden sie jetzt eines Besseren belehrt. »Wo steckt die AMENSOON?«, wollte ich von DENMOGH, wie ich den Kardenmogher getauft hatte, wissen. »Tut mir Leid, Atlan. Ihr aktueller Standort ist im Augenblick nicht erkennbar.« Kythara war mit der Doppelpyramide auf Tauchstation gegangen, nachdem sie drei Tage lang mit den Patrouillenschiffen der Garbyor »Katz und Maus« gespielt hatte. Genützt hatte es uns wenig, denn unser erster Anflugversuch auf Kopaar war kurz vor dem Ziel entdeckt worden. Blieb noch die MORYR. Zu ihr existierte bisher keine Funkverbindung. Sie war 200 Lichtjahre von Kopaar entfernt in den Ortungsschutz einer Sonne gegangen. Bisher gingen wir davon aus, dass sie ebenfalls in den Mikrokosmos versetzt worden war. Sie stellte unsere fünfte Kolonne dar, eine Eingreiftruppe, von deren Existenz die Garbyor bisher nichts wussten. Oder zumindest ihren Standort nicht kennen, sagte mein Extrasinn. Im Gegensatz zu unserem. »Die Golfbälle sind wieder da«, murmelte Offshanor.
4 Ihr Abstand betrug dreieinhalb Lichttage. Wie eine Schleppe zog der Kardenmogher sie hinter sich her. Nach der nächsten Hyperetappe hatte sich die Distanz auf ein Lichtjahr vergrößert, schrumpfte jedoch sofort wieder. Die Golfballraumer entwickelten sich langsam, aber sicher zu Kletten. Ich wandte mich an DENMOGH. »Gibt es Sonden an Bord, mit denen sich eine energetische und optische Simulation des Kardenmoghers fahren lässt?« »Ja. Ein kleines Kontingent solcher Tarnbojen ist vorhanden.« »Wir versuchen es.« Nach unseren bisherigen Erkenntnissen unterschieden sich die physikalischen und hyperphysikalischen Gegebenheiten des Mikrokosmos nicht von denen des Normalraums. Die Emissionen einer solchen Boje würden folglich ebenfalls identische Werte liefern. »Neue Etappe über zehn Lichtjahre«, entschied ich. »Nach der Rückkehr fünf Sekunden Aufenthalt zum Ausschleusen der Boje. Reicht das?« »Ja«, erklärte DENMOGH. »Anschließend setzen wir eine Etappe über vierzig Lichtjahre, die uns weiter weg vom Zentrum des Mikrokosmos führt.« Der Kardenmogher verschwand wieder im Hyperraum. Schweigend saßen wir in den Sesseln vor den virtuellen Steuerpulten, beobachteten das Blinken rätselhafter Lichter. Ich beäugte misstrauisch die grafischen Abbildungen der Steuervorgänge in den Hologrammkuben. Der Kardenmogher folgte meinen Befehlen, aber technisch stellte er nach wie vor eine Welt voller Wunder für mich dar. Kalarthras hingegen ließ alles mit Gleichmut über sich ergehen. Er kannte das seit Äonen, hatte die Entwicklung miterlebt bis zur Hoch-Zeit varganischer Technik. In der heutigen Zeit allerdings stellten der Kardenmogher, die Umsetzer und anderes lediglich Relikte dar, technische Artefakte, mit denen Wesen wie die Garbyor mehr oder weniger
Arndt Ellmer blind herumspielten. Die Ereignisse um die Psi-Quelle hatten es deutlich gezeigt. Durch ihre Manipulation war sie zu einer stellaren Gefahr geworden, die wir zum Glück hatten ausschalten können. »Die Boje ist ausgeschleust«, meldete DENMOGH. Der Kardenmogher verschwand erneut im Hyperraum, kehrte wenige Sekunden später ins Normalkontinuum zurück. »Zielstern ist eine weißgelbe Sonne, die Entfernung zu Kop-7 beträgt viereinhalb Lichtjahre.« »Die Golfbälle sind wieder da«, wiederholte Offshanor. Er schien den Spruch zum geflügelten Wort machen zu wollen. Zwei der Golfballraumer hingen in unserem »Kielwasser«. Der dritte kümmerte sich um die Boje. Augenblicke später empfingen unsere Orter den winzigen Energieausbruch, mit dem die varganische Simulationssonde sich selbst zerstört hatte. »Und nun?« Kalarthras schien ebenso ratlos wie der Ganjase. »Abhängen können wir sie nicht«, sagte ich. »Egal, wohin wir fliegen. Den Mikrokosmos verlassen können wir auch nicht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten.« Die beiden sahen mich merkwürdig an, jeder auf seine arttypische Weise. Beide zweifelten an meinem Verstand. »Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Ich will jetzt keine Wunder verkünden. Möglichkeit eins: Wir vernichten uns selbst. Ihr stimmt mir sicher zu, wenn ich das keinesfalls für sinnvoll halte. Möglichkeit zwei: Wir dringen in die Peripherie des Mikrokosmos vor.« »Das ist im Endeffekt das Gleiche wie deine erste Option!«, sagte Offshanor. »Vermutlich sterben wir lediglich langsamer.« »Die Garbyor rechnen nicht damit. Vor allem aber werden sie uns überallhin folgen, wohin wir fliegen.« Ihr Auftrag lautete nach wie vor, mich in ihre Gewalt zu bekommen. Der Vargane
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oder auch der Ganjase spielten in den Überlegungen der Lordrichter vermutlich keine Rolle. »Kalarthras, das ist dein Job«, fuhr ich fort. »Du kennst dich mit dem Kardenmogher besser aus als wir. Dank deines Wissens kannst du seine Kompatibilität mit varganischer Technik wie den Umsetzern optimal einschätzen. Und du weißt, wie er in Grenzsituationen reagiert.« Der Teint des Varganen hatte sich in den vergangenen Tagen mehr und mehr verdunkelt. Jetzt aber hatte ich den Eindruck, als sei er übergangslos erbleicht. »Dein Vertrauen in mich scheint grenzenlos, Atlan. Bitte erwarte nicht zu viel.«
* Seit der endgültigen Serienreife des Syntrons in der Mitte des 5. Jahrhunderts NGZ kannten wir in der Milchstraße ein paar Funktionsprinzipien von mikrokosmischen Feldern. Wir wussten, wie man mit Hilfe winziger Projektoren in einem kleinen Würfel oder einer Gürtelschnalle noch winzigere Energiefelder extrem stark krümmte und dadurch Mikrokosmen erzeugte, deren Dimensionen zwar nicht unendlich, aber dennoch gigantisch waren. In ihnen ließen sich bequem Datenbestände unterbringen, für die man jahrtausendelang riesige Speicheranlagen benötigt hätte. Bei den Umsetzern der Varganen, etwa auf Kopaar, handelte es sich im Unterschied etwa zum Syntron um Makrotechnik. Mit gewaltigen Anlagen und einem Energieaufwand, der garantiert die Kapazität etlicher Sonnen verschlang, wurde eine Raumkrümmung um den Standort der gigantischen Projektionsmaschinen erzeugt. Durch die Krümmung verschwand der betreffende Raumsektor aus dem Normaluniversum, schrumpfte gewissermaßen auf Punktgröße. Im Innern jedoch blieben die Ausmaße des Raumsektors, die Größe der Himmelskörper und der Lebewesen in ihren Relationen gleich. Die Verkleinerung oder Schrumpfung erfolgte lediglich relativ zur
bisherigen Außenwelt. »Die erste Etappe ist jetzt programmiert«, meldete DENMOGH. »Wir nähern uns der Randzone bis auf zwei Lichtjahre.« Das Hologramm über den virtuellen Steuerpulten zeigte das Abbild des Miniuniversums mit seinen rund 55.000 Sonnen. Das Licht der zahlreichen anderen Sterne sowie des galaktischen Hintergrunds von Dwingeloo existierte nach wie vor, aber der Kardenmogher blendete es aus. An seiner Stelle zeigte er das rötlich schwarze Flimmern des Weltraums, wie es sich uns auf den Displays der Orter darstellte. Als diffuse Wand begrenzte es den Mikrokosmos nach innen wie nach außen. Inzwischen war ich längst überzeugt, dass es sich um eine Falle gehandelt hatte. Kopaar war in dem Augenblick aktiviert worden, als wir die unsichtbare Grenze überschritten hatten. Die Lordrichter ließen wirklich nichts unversucht. »Etappe einleiten!«, befahl ich. Mit meinen Gedanken weilte ich bei Kythara und der AMENSOON. Hoffentlich waren sie in Sicherheit und behielten Farangon im Auge. Nur er konnte der Verräter sein. Er hatte uns auf die »Hintertür Kopaar« aufmerksam gemacht. »Rücksturz!«, verkündete DENMOGH. Der Kardenmogher tauchte in den Normalraum ein. Die Nähe zur Trennschicht war noch nicht so groß, dass wir mit Problemen rechnen mussten. DENMOGH justierte die Taster auf höchste Empfindlichkeit. Sie bestrichen die flimmernde Trennschicht pausenlos, erstellten ein fünfdimensionales Raster. Eines wurde schnell deutlich: Es handelte sich nicht um einen Vorhang, den man mit entsprechendem Energieaufwand durchstoßen konnte. Die hyperdimensionale Schicht glich eher einer festen Wand. »Unterlichtmessung negativ«, lautete die Auskunft des Fahrzeugs. »Überlichtmessung negativ.« Eine Feststoff-Kugelschale hätte auch keine andere Wirkung gezeigt.
6 Alle Schiffe, die in diesen Mikrokosmos gelangten, saßen in der Falle, es sei denn, sie verfügten über die technischen Mittel, die undurchlässige Schicht räumlich und zeitlich begrenzt aufzulösen. »Näher heran«, wies ich den Kardenmogher an. »Wir gehen auf eine Lichtwoche!« Eine grelle Glutbahn machte uns darauf aufmerksam, dass wir uns mit den Messungen viel Zeit gelassen hatten. Die Garbyor waren da, noch immer mit den drei Schiffen, als gäbe es keine anderen. Das Schirmsystem wehrte den Streifschuss spielend ab. Bisher hatten die Golfballraumer keinen Direktbeschuss gewagt, der uns hätte vernichten können. Die Angst, das Schiff mit seinen Insassen zu vernichten, war zu groß. Die Furcht vor den Lordrichtern. Uns verschaffte es Handlungsspielraum. Wer zum Schluss am längeren Hebel saß, musste sich erst noch zeigen. Und wieder einmal fragte ich mich, warum der Lordrichter damals nicht sofort versucht hatte, mich in seine Hand zu bekommen. So ein Eishaarfeld besitzt nun mal keine Hände, spottete der Extrasinn. Oder was dachtest du? Das Denken hattest du mir schon in Abrede gestellt, oder täusche ich mich da? Er ersparte mir eine Antwort. Ich hätte auch keine Zeit gehabt, mich mit dem Produkt der ARK SUMMIA zu streiten. Die Garbyor blieben uns auf den Fersen. »Eine Lichtwoche Annäherung, das ist genug!« Kalarthras zeigte leichte Nervosität. Er hob den Kopf und sah mich an. »Hast du einen Grund für deine Bedenken?«, fragte ich. »Sieh selbst!« Das rötlich schwarze Flimmern veränderte sich. Die filigranen Strukturen wuchsen, je näher wir uns an den Grenzbereich wagten. Sie verwandelten sich in feurige Zungen. »Trotzdem«, sagte ich. »Wir nähern uns auf einen Lichttag!« Wenn die hyperphysikalische Trenn-
Arndt Ellmer schicht ihre volle Wirkung entfaltete, dann tat sie es im Bereich von ein paar Lichtminuten oder Lichtstunden. Alles andere hätte mich gewundert. Um eine Trennschicht von Millionen Kilometern Dicke aufrechtzuerhalten, und das bei einem Hohlraumdurchmesser von 230 Lichtjahren, benötigte man vermutlich die Energie eines halben Universums. Nein, die Trennschicht war dünn, zumindest was ihren Energieanteil im Normaluniversum anging. Für den hyperphysikalischen Teil galten andere Maßstäbe. »Atlan hat Recht«, stimmte Heroshan Offshanor mir zu. »Es ist unsere einzige Chance.« Angesichts der drei Schiffe, die uns auf den Fersen blieben, hatten wir gar keine andere Wahl.
* Zehn Lichtstunden Distanz, das schien so etwas wie die magische Grenze zu sein. Der Kardenmogher näherte sich der Zone in flachem Winkel. Erste feurige Zungen rasten uns entgegen, sie veranlassten DENMOGH zum sofortigen Abdrehen. »Die Garbyor folgen uns!« Kalarthras' Stimme schwankte. Er wollte es nicht glauben. »Sie führen lediglich Befehle aus, die für sie über allem anderen stehen. Ich bin überzeugt, würden wir sie fragen, sie hätten von sich aus bestimmt keine Lust, hinter uns herzufliegen.« Die Befehle der Garbyor … gegeben von den unnahbaren, mysteriösen und doch scheinbar omnipräsenten Lordrichtern … Befehle, die mir galten. Oder zumindest auch mir. Was – und vor allem: wer – steckte dahinter? Ein alter Bekannter etwa? Wer konnte schon ein solches Interesse an mir haben? Ich grub in meiner Erinnerung, fand aber keinen Hinweis, der mir weiterhalf. War der Grund in der Tatsache zu suchen, dass ich einst in den Mikrokosmos der Varganen verschlagen worden war? Aber
Vorstoß nach Kopaar worum speziell ging es den Lordrichtern? Welches Wissen oder welche Fertigkeiten erwarteten sie sich von mir, die ihnen von Nutzen sein konnten? Sosehr ich mir auch das Gehirn zermarterte, mir fiel nichts ein. Aber manchmal ist selbst mir der Kopf wie mit Brettern vernagelt. Eher so manches Mal, flüsterte der Logiksektor. Cappins – Varganen – Garbyor – Horden von Garbesch, wo existierte in meiner Vergangenheit eine Verbindung? Narr! Kann es nicht einfach nur die Tatsache sein, dass du schon einmal in den Mikrokosmos der Varganen gereist bist? Wahrscheinlich hatte der Extrasinn Recht. Die Lordrichter zeigten deutliches Interesse an der Anaksa-Station, wo der falsche Veschnaron nicht viel erreicht hatte. Er hatte gehofft, Kythara und ich würden ihm Wege öffnen, die ihm bisher verwehrt geblieben waren. Seither verstärkten die Garbyor ihre Jagd auf mich. Immer öfter ging es mir wie in dem terranischen Märchen vom Hasen und vom Igel. Wenn der Hase ans Ziel kam, war der Igel schon da. Man konnte auch mit einer anderen Redewendung sagen, viele Hunde waren des Hasen Tod. Doch wie man es auch drehte und wendete: Mir war offensichtlich die Rolle des Hasen zugewiesen worden. »Wir gehen auf neun Lichtstunden Distanz«, sagte ich. »Kalarthras, was sagen die Systeme des Kardenmoghers?« »Sie sind in Ordnung. Willst du es wirklich wagen?« »Wir fliegen eine Hyperetappe über eine Distanz von vier Lichtjahren entlang der Peripherie.« Kalarthras starrte wieder auf das Hologramm mit den feurigen Zungen, die sich uns entgegenschnellten. Der Flug in einer Sonnenkorona verlief ähnlich. Ab und zu schleuderte der Stern Protuberanzen ins All hinaus, die selbst einem Raumschiffsgiganten wie der SOL oder BASIS hätten zum
7 Verhängnis werden können. Der Kardenmogher verschwand im Hyperraum. Den Übertritt begleitete ein violetter Blitz, der über das Hologramm der Außenbeobachtung raste. DENMOGH gab Alarm. Der Rücksturz erfolgte drei Sekunden zu früh. Die zurückgelegte Distanz betrug lediglich 3,6 Lichtjahre. Ich nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Meine Blicke fraßen sich an den Ortungsanzeigen fest. Die Garbyor mussten jeden Moment auftauchen. Sie kamen – auf irregulären Bahnen rasten sie durch die Peripherie. Zwei waren uns voraus, einer versuchte uns zu folgen, aber sein Kurs führte viel zu steil in die Trennschicht zwischen den beiden Universen. Kalarthras richtete sich erfreut auf. »Sie haben ihre Schiffe nicht mehr unter Kontrolle.« »Sie unterliegen den Einflüssen der Relativität stärker als der Kardenmogher«, sagte Offshanor. »Wundert dich das?« Mühsam entfernten sich die Garbyor ein Stück von der Gefahrenzone, hielten nach uns Ausschau und programmierten ihre Antriebssysteme neu. »DENMOGH, wir kommen ihnen zuvor.« Diesmal wählte ich zwei Lichtjahre Sprungdistanz, um ihnen Gelegenheit zum Aufholen zu geben. Den Abstand zur Trennschicht verringerten wir auf sechs Lichtstunden. Die Gefährten ahnten es noch nicht, aber das war erst der Anfang. Ich wollte so nahe an den Grenzbereich heran, wie der Kardenmogher es bewältigen konnte. Natürlich wollte Kalarthras kein solches Risiko eingehen, aber nach 50.000 verschlafenen Jahren gestand ich ihm die entsprechende Vorsicht und Zurückhaltung zu. »Tiefer in der Zone messe ich ein Raumbeben an«, meldete der Kardenmogher. »Ermittle die genauen Koordinaten, falls das möglich ist«, forderte ich ihn auf. Der doppelte Kegelstumpf führte die Hyperraumetappe aus.
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Augenblicke später veränderte sich das All um uns herum. Die Sterne verschwanden mit Ausnahme der 55.000 innerhalb des Mikrokosmos. Wir hatten die Lichtmauer erreicht. Sie zeigte an, seit wie vielen Stunden dieser Teil des Universums von der stellaren Umgebung Dwingeloos abgeschnitten war. Gleichzeitig bildete die Lichtmauer auch die Grenze zu jenem Bereich, in dem es nach theoretischen Erkenntnissen kein Durchkommen gab. Kalarthras sprang auf. »Wir nähern uns einer Zone deutlicher RaumZeit-Verzerrungen!« Ich nickte. »DENMOGH, wie groß ist das Gefahrenpotenzial für das Schiff?« »Es liegt zwischen zwanzig und vierzig Prozent.« Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Aber noch befanden wir uns in einer relativ sicheren Zone. Die eigentliche Hölle lag jenseits der vierten Lichtstunde. Und genau dorthin dirigierte ich den Kardenmogher.
* Kalarthras stieß einen Schrei aus, als die feurigen Zungen aus der blutrot verästelten Schwärze sich uns so weit entgegenstülpten wie noch nie. Die Ortung gab Alarm, doch DENMOGH schaltete sie wieder ab. Der Kardenmogher fing an zu wackeln. Übergangslos erfassten nur vage geahnte Kräfte das Fahrzeug und schüttelten es durch. Ich behielt nach wie vor die Ortung im Blick. Die optische Darstellung interessierte mich nicht. In Flugrichtung entstanden aus dem Nichts Hyperstürme, wälzten sich uns in den Weg, lösten sich wieder auf. Die feurigen Zungen der Grenzzone verschwanden übergangslos. Sie entpuppten sich im Nachhinein als Schöpfungen der RaumZeit-Verzerrungen, die uns eine Umgebung vorgaukelten, die es nicht gab. »Ganz ruhig bleiben«, sagte ich. »DENMOGH, wie sieht es mit der Flugstabilität aus?«
»Leichte Einschränkungen, ansonsten stabil.« Wieder wackelte der Kardenmogher. Es erinnerte mich an einen Karaketta-Raser aus meiner Jugend, dessen Trägheitsstabilisatoren während eines Extremparcours ausgefallen waren. Draußen glätteten sich die Feuerzungen. Sie bildeten zwei parallel zueinander verlaufende Ebenen, eine über, eine unter dem Schiff. Der doppelte Kegelstumpf raste dazwischen entlang, und er schien die beiden imaginären Wände zu berühren. Dass der Kardenmogher mit annähernd fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit dahinraste, brachte Kalarthras ins Schwitzen. Energiefelder hielten uns in unseren Sitzen, sonst wären wir herausgeschleudert worden und an den Wänden zerschellt. Der Kardenmogher ächzte in allen Fugen. Kalarthras und Offshanor warfen immer wieder hektische Blicke nach links und rechts, als müssten sie umherfliegenden Gegenständen ausweichen. »Situationsreport: keine Ausfälle. Alle Systeme stabil«, meldete DENMOGH. »Näher heran!«, sagte ich. »Atlan, lass es gut sein!« Ich ignorierte den Varganen. »Positionsbestimmung der Verfolger!« Einer flog schräg über uns, keine zehntausend Kilometer entfernt. Wir sahen zu, wie sich die Hülle des Schiffes nach und nach zu einem Schlauch verzerrte, den starke Gravitationskräfte in Fetzen rissen. »Es handelt sich um eine optische Täuschung«, informierte DENMOGH uns. »Eine Positionsbestimmung ist unmöglich.« Der Kardenmogher änderte den Kurs, führte eine Notetappe durch. Wir sahen den tiefschwarzen Aufriss zwischen den Feuerzungen, auf den wir zurasten, dann verschwand das Fahrzeug im Hyperraum. Übergangslos endete das Rütteln. Dafür huschten blassblaue Flammen um den Kardenmogher. Das Hyperraumtriebwerk meldete eine Belastung von hundertzwanzig Prozent für die Dauer von siebzehn Sekunden. Die blauen
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Flammen breiteten sich rasch aus, bis sie einen lodernden Vorhang rund um das Schiff bildeten. Und dann mit einem Schlag erloschen. Jemand oder etwas schien dem Kardenmogher von hinten einen Tritt zu versetzen, der ihn vorwärts durch eine gelbe Öffnung ins Nichts schleuderte, besser gesagt in den Glutofen der Trennschicht, aus dem es kein Entrinnen gab. Die grelle Erscheinung leuchtete noch auf der Netzhaut nach, als sich das Schiff bereits mit einer Kurzetappe aus der Gefahrenzone bugsiert hatte. Hinter uns loderte eine gigantische Flammenwand empor. Vor ihr huschten dunkle Schatten durch das Hologramm, verbogen sich unter dem Einfluss starker Gravitationskräfte und verschwanden außerhalb des Bildrands. »Abstand vergrößern auf sechs Lichtstunden«, sagte ich, ohne den Blick von den Trümmern des Golfballraumers zu nehmen. »Was ist mit den beiden anderen Verfolgern?« »Sie halten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter einer Raumkrümmung auf, verfolgen uns aber nach wie vor«, meldete DENMOGH. »Danke!« Wir hatten einen kleinen Erfolg erzielt. Das war in dieser Zeit voller Fehlschläge wenigstens ein Lichtblick. Ein winziger! Und um welchen Preis. Wir brachten den Kardenmogher und uns selbst in Gefahr, um ein oder zwei Golfballraumer der Garbyor abzuhängen, von denen es im Mikrokosmos vermutlich Dutzende oder Hunderte gab. Sie würden die Verfolgung aufnehmen, sobald man ihnen den Befehl dazu erteilte. »Was jetzt?«, knurrte Kalarthras. »Wenn wir schon hier sind, können wir ebenso gut gleich den Durchbruch versuchen!«
* Nach der Ankunft im Mikrokosmos hatten wir uns über die Möglichkeiten einer
Rückkehr ins Standarduniversum unterhalten, über die Gefahr, die eine Benutzung des Umsetzers mit sich brachte, wenn wir unsere räumliche Kontraktion beibehielten und als millimetergroße Winzlinge ans Ziel gelangten. Besonders lange hätten wir uns der Rückkehr nicht erfreut. Ähnlich lag der Fall, wenn wir einen Durchbruch versuchten. Die Membran, egal wie dick sie war, bestand aus einer vier- und einer fünfdimensionalen Komponente. Entweder schleuderte es uns in den Hyperraum oder ein Paralleluniversum, was vermutlich noch das angenehmere Schicksal war, oder es zerquetschte uns in der Trennschicht, weil sie keinerlei Permeabilität besaß. Wenn wir wohlbehalten in unsere Welt zurückkehren wollten, dann mussten wir den Mikrokosmos auflösen. Im Klartext hieß das, den Umsetzer abschalten oder, weil das gegen die Truppen von Garbyor kaum machbar war, ihn zerstören. Kalarthras sah das ebenso. Der Vargane erhob nicht einmal Einspruch gegen diesen Plan, obwohl er die Zerstörung eines varganischen Artefakts zumindest billigend in Kauf nahm. Mit der Zerstörung eines solchen Umsetzers vernichteten wir einen der Übergänge in den Mikrokosmos, in den die Varganen vor 50.000 Jahren zurückgekehrt waren. Dass alle diese Überlegungen an der Realität vorbeigingen, zeigte der Kollisionsalarm, den der Kardenmogher kurz darauf auslöste. Die Ortung lieferte verwirrende Daten, kein Wunder in dieser Zone von Turbulenzen aller Art. Ich richtete meinen Blick auf das Hologramm mit der optischen Darstellung. Aus den Schlieren und rötlich faserigen Netzgeweben schälte sich ein Golfballraumer, wand sich wie ein Wurm in der Umklammerung der Fäden, blieb trotz extremer Schubwerte hilflos hängen. »Der Lockvogel verschwindet jetzt besser«, empfahl Offshanor. »Sonst erwischt es ihn auch noch!« DENMOGH führte endlich die von mir angeordnete Kurskorrektur aus.
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Wieder schüttelte es den Kardenmogher durch, der in seiner Schutzhaut wie irr im Hyperraum hin und her zu rasen schien. Erste Gravospitzen durchdrangen die Absorberfelder. Die Prallfelder unserer Kontursessel verhinderten das Schlimmste. Oder auch nicht. Irgendwo hinter uns explodierte der Golfballraumer, während er uns in den Hyperraum zu folgen versuchte. Ein Teil der Energien raste hinter uns her. Der Kardenmogher fing Feuer. Ich sah Rauch, der übergangslos das Heck des Doppelkegels einhüllte. Dazwischen schlugen grünliche Flammen ins Freie. Die Schwerkraft wurde aufgehoben. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Heroshan Offshanors Blut perlte und vor seinem Gesicht trieb. Er wollte es abwischen, aber er brachte die Arme nicht einmal bis zum geschlossenen Helm. Die rötlichen Verästelungen eines umfassenden Energienetzes rasten mit einem Mal auf uns zu, bis einzelne Fäden das Hologramm ausfüllten. Das Letzte, was ich mitbekam, war ein Schlag, der die Welt auseinander riss.
2. »Deflektorsystem?« »Aktiviert!« »Ortungsschutz?« »Aktiviert!« Kythara warf Gorgh-12 einen irritierten Blick zu. Der Insektoide schlug die Mundzangen gegeneinander. »Gibt es Korrekturanweisungen?« »Nein, nein, es ist alles in Ordnung!« In Wahrheit war gar nichts in Ordnung. Gorgh war an Bord, ebenso Farangon, einer der cappinschen Pedotransferer. Letzteren hielt die Varganin für einen Verräter oder Agenten, von Ersterem hatte sie geglaubt, dass die Garbyor sein Todesimpuls-Implantat anmessen konnten und deshalb immer nach kurzer Zeit am Standort der AMENSOON auftauchten.
Jetzt aber hing das Oktaederschiff schon seit einem halben Tag wieder im Ortungsschutz der gelben Sonne Kop-2, von der aus der Kardenmogher gestartet war. Die Entfernung zu Kopaar betrug 15 Lichtjahre, ein Katzensprung gewissermaßen, zumindest für eine entsprechend groß dimensionierte Katze. Bisher näherte sich kein Golfballraumer. Nach tagelangen Verfolgungsjagden und Ablenkungsmanövern konnten die Garbyor unmöglich glauben, dass sich das Varganenschiff in Luft aufgelöst hatte. Also musste es einen anderen Grund geben. Sie fanden die AMENSOON nicht. Nach Kytharas Ansicht hing es mit der Besatzung des Kardenmoghers zusammen. Zwei der drei Insassen zählten zu den potenziellen Verrätern, wenn auch unfreiwillig. Atlan – sein Zellaktivator und seine Ritteraura ließen sich mit geeigneten Instrumenten durchaus erkennen, auch auf größere Entfernung. Vom Arkoniden selbst wusste sie, dass es Hilfsvölker höherer Entitäten gab, Kosmokratendiener und ähnliche, die solche Geräte benutzten. Aber Atlan schied für Kythara aus. Sie fühlte das. Und sie glaubte fest daran. Wenn es so wäre, hätten die Lordrichter von Garb wesentlich früher Möglichkeiten gehabt, ihn in ihre Gewalt zu bringen. Offshanor kam nicht in Frage. Der ganjasische Kommandant der MORYR war über jeden Zweifel erhaben. Außerdem gehörte sein Schiff erst seit kurzem zu dem kleinen Verband. Blieb als Einziger Kalarthras. Der Vargane war nach seiner Erweckung nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Dazu hatte er sich äußerlich verändert. Kythara argwöhnte, es könnte auch auf sein Inneres zutreffen. Wenn es stimmte, dann wusste der Vargane nichts davon. Er hielt es sogar selbst für möglich, Zielpunkt für die Erfassungsgeräte der Garbyor zu sein. Kalarthras, ein manipulierter Vargane? So etwas wie eine fünfte Kolonne der Lordrichter? Ein Spion wie Veschnaron?
Vorstoß nach Kopaar Kythara wollte auch daran nicht glauben. Sie fand gute Gründe, die dagegen sprachen. Seine Aufrichtigkeit und seine Selbstzweifel zum Beispiel. Oder die Tatsache, dass die Garbyor Gestaltwandler wie den falschen Veschnaron einsetzten, um Atlan und die Varganin in die Anaksa-Station zu locken und zu hoffen, sie würden dem Imitator weiterhelfen. Darauf hätten die Lordrichter verzichten können, wenn Kalarthras einer von ihnen gewesen wäre. Im Gegenteil, mit seiner Hilfe hätten sie längst Zugangsberechtigungen zu allen Stationen und Anlagen der Varganen besessen. Sie hätten überhaupt keine fremde Hilfe benötigt. Und Atlan? Welche Rolle spielte er in dem düsteren Plan? Sie musterte die Anzeigen der Ortung und des Hyperfunks. Bisher gab es vom Kardenmogher kein Lebenszeichen. Niemand wusste, ob er Kopaar erreicht hatte oder sich noch auf dem Weg dorthin befand. »Farangon«, sagte die Varganin nach einer Weile, »kannst du mir sagen, wie sich Garbyor gewöhnlich verhalten, wenn sie ein Schiff jagen und es spurlos verschwindet?« »Sie verstärken die Suchtrupps. In einem Mikrokosmos wie diesem wissen sie aber auch, dass sie sich Zeit lassen können. Die AMENSOON kann ihnen nicht entkommen. Wenn sie die Suche allerdings einstellen, haben sie andere Befehle erhalten.« Das hieß in diesem Fall, die Golfballraumer hatten den Kardenmogher entdeckt und machten Jagd auf ihn. Kythara überlegte, ob sie den letzten Standort der MORYR anfliegen sollte, um das Schiff zur Unterstützung zu rufen. Sie unterließ es. Bisher wussten die Garbyor nur von der Anwesenheit der AMENSOON. Vielleicht hatten sie auch den Kardenmogher entdeckt, aber den würden sie schnell als Beiboot der größeren Einheit identifizieren. Den Lordrichtern waren Kardenmogher und Hegnudger bekannt. Das Vorhandensein solcher Waffensysteme im Mikrokosmos
11 musste sie in höchste Alarmbereitschaft versetzen. »In der Nähe Kopaars messen wir verstärkte Aktivitäten«, sagte Farangon. »Wir versuchen, Einzelheiten zu erkennen.« Der Ganjase ermittelte mit Hilfe der AMENSOON-Ortung, dass drei Golfballraumer Jagd auf ein Raumfahrzeug machten, das zu klein oder zu gut getarnt war, um als Echo auf dem Schirm zu erscheinen. »Der Versuch ist hiermit fehlgeschlagen«, stellte Kythara fest. Es untermauerte ihren Verdacht. Der Kardenmogher war entdeckt worden, weil sich Kalarthras an Bord befand. Wenn sie jemals eine zweite Chance erhalten würden, durfte der Artgenosse nicht dabei sein. Allerdings – und das wusste sie aus der langen Erfahrung ihres Lebens – gab es in solchen Fällen nie eine zweite Chance. »Bereitmachen zum Alarmstart«, sagte sie. »Das wäre ein Fehler«, wagte Farangon einen Einwand. »Wir sollten unsere Position und Existenz wirklich nur dann preisgeben, wenn der Kardenmogher aus eigener Kraft nicht mehr weiterkommt.« Kythara gab ihm in Gedanken Recht. Sie hätte sich nicht anders verhalten. Der Ganjase, wenn es sich um einen Verräter handelte, war nicht auf sie hereingefallen. Sie versuchte, ihn mit ihren mentalen Kräften auszuloten. Dabei fand sie nichts, was sie irgendwie irritiert hätte. Farangon hatte es so gemeint, wie er es gesagt hatte. War er doch kein Verräter? Außerdem, wer war eigentlich nicht verdächtig? Sie wollte ihm sagen, wie sehr es ihr Leid tat, ihm die ganze Zeit über unrecht getan zu haben. Eine innere Stimme hielt sie davon ab. Es war zu früh. Auch lag es nicht in ihrer Absicht, Kalarthras in seiner Abwesenheit bloßzustellen. Wenn, dann sollte er selbst vor die versammelte Mannschaft treten und es ihr erklären. Eine Weile verfolgten die Insassen der AMENSOON die Jagd mit Hilfe der Ortung.
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Arndt Ellmer
Danach verlagerte sich das Geschehen offensichtlich an den Rand der 230 Lichtjahre durchmessenden Raumkugel. Wesentliche Vorgänge ereigneten sich auf der dem aktuellen Standort der AMENSOON entgegengesetzten Seite von Kop-2. Sie blieb auf die Auswertung von Funksprüchen angewiesen, die zwischen den Golfballraumern und dem Planeten Kopaar hin und her eilten. Es gab nicht viele davon, und sie enthielten lediglich Anfragen und Anweisungen über das weitere Vorgehen. Kythara rechnete nicht damit, dass der Kardenmogher noch lange unterwegs sein würde. »In der Nähe der Grenzschicht kommt es zu Raumbeben«, sagte Gorgh aber dann. »Jetzt kann der Kardenmogher zeigen, was in ihm steckt.«
* Die Ortungsanzeigen bewegten sich allesamt im kritischen Bereich. Eine halbe Stunde dauerte das Bombardement inzwischen. Raumbeben durchzogen den Randbereich des Mikrouniversums, vermischt mit Hyperentladungen, winzigen Strukturrissen und Energieausbrüchen. Jedes Mal, wenn ein Schiff in den Hyperraum wechselte, entstand eine zusätzliche Zone, in der sich die Phänomene aufschaukelten. Nach und nach vereinigten sich diese Zonen zu einer einzigen. Es führte zu einem Energieausgleich auf hohem Niveau. Nach einer Weile sank der Level deutlich ab, die Phänomene verliefen sich. Die Orter registrierten eine Explosion. Kythara stöhnte leise. Ihre Hände zitterten, als sie mehrere Schaltungen an ihrer Konsole vornahm. Ein zusätzlicher Bildschirm erhellte sich. Er zeigte eine Ausschnittsvergrößerung jenes Sektors, in dem sich die Explosion ereignet hatte. »Ein Golfballraumer«, stieß sie hervor. Dennoch suchte sie weiter nach den typischen Emissionen des Kardenmogher. Erst als das zweite Schiff der Garbyor in der
Randzone explodierte, beruhigte sie sich ein wenig. Eine dritte Explosion folgte wenig später. Nach ihr stand der Himmel am Rand des Mikrokosmos über mehrere Bogenminuten in Flammen. Die Orter fingen das Lodern wilder Hyperphänomene ein, Durchbrüche aus höheren Dimensionen, denen selbst eine »ultimative Waffe« wie der Kardenmogher nichts entgegenzusetzen hatte. »Es existiert ein Zusammenhang zwischen den Vorgängen dort draußen und den Emissionen, die wir seit kurzem von Kopaar empfangen«, sagte Farangon. »Ich habe Noganesch gebeten, sich das näher anzusehen.« Der Chefwissenschaftler der MORYR hielt sich im Labortrakt der AMENSOON auf. Per Bildfunk holte Farangon ihn in die Zentrale. »Auf Kopaar kommt es zu irregulären Energieausbrüchen«, berichtete der Ganjase. »Wir können auf diese Entfernung den genauen Ort nicht bestimmen. Aber es liegt nahe, dass sich die Vorgänge im Bereich des dortigen Umsetzers abspielen.« Kythara nickte. »Vielleicht ist das die Chance, den Umsetzer außer Gefecht zu setzen. Wir müssen nur genügend Golfballraumer in die Grenzschicht jagen. Sie explodieren, im Gegenzug kommt es am Umsetzer zu Rückschlagsphänomenen. Er wird mit Hyperenergie überladen, explodiert ebenfalls und vernichtet den gesamten Planeten und alle Anlagen, die dort existieren.« »Wir messen Schwankungsbreiten, die … jedes Maß sprengen«, fuhr Noganesch hastig fort. Seine Stimme klang kratzig. Kythara sah, dass er einen ängstlichen Blick zur Seite warf. »Sprich weiter!«, forderte sie ihn auf. »Wovor hast du Angst?« »Wir sind nicht sicher«, sagte er. »Einige Ausschläge im ultrahohen Frequenzbereich lassen befürchten, dass die Schwarze Substanz auf Kopaar außer Kontrolle gerät.« »Verstanden, Noganesch. Ich bereite alles für die Evakuierung vor.« Sie gab Anweisungen an die Crew, nahm
Vorstoß nach Kopaar gleichzeitig mehrere Schaltungen an ihrem Terminal vor. Dabei behielt sie ununterbrochen die Ortung im Blick. Wo steckte der Kardenmogher? Sie hatten die Spur des kleinen Fahrzeugs verloren. Außer dem Lodern war da nichts mehr. Eine Weile starrte Kythara stumm auf die Anzeigen. Die Energieausschläge der Explosionen ebbten langsam ab, die Hyperphänomene verabschiedeten sich mit ein paar letzten Blitzen, die den Raumsektor in eine Bebenzone verwandelten. Dort existierten Kräfte wie im Innern einer Sonne, die alles zerquetschten, was sich in ihrem Einflussbereich aufhielt. Durch ihre dreidimensionale Ausdehnung nahmen sie mit der Zeit ab, doch die Ausläufer würden selbst nach Stunden oder Tagen noch zu messen sein. Die AMENSOON meldete, dass alle Anweisungen ausgeführt waren. Die KorridorStrecke war geräumt, der Hangar stand offen. Aus dem Labortrakt drang ein Keuchen, im nächsten Augenblick vom Alarm übertönt. »Die Schwarze Substanz reagiert!«, zirpte Gorgh. Es hielt ihn nicht mehr in seinem Sessel. Mit seinen dürren Insektenarmen deutete er wie anklagend auf den Bildschirm. Kythara schloss als Letzte den Helm ihres Kampfanzugs. Seit sie das Zeug an Bord genommen hatten, existierte ein speziell auf den Behälter und seinen Inhalt ausgerichteter Notfallplan. Er sah im schlimmsten Fall sogar eine Vernichtung der Laborsektion vor, wenn das Schiff als Ganzes dadurch vor Schaden bewahrt werden konnte. Inzwischen ahnte die Varganin jedoch, dass ein solcher Fall nicht eintreten würde. »Automat, warte, bis ich das Kommando gebe«, sagte sie. »Das Labor ist geräumt, die automatische Zusatzabschirmung aktiv«, bestätigte das Schiff. Der abgeschirmte Behälter hing mitten in einem Antigravfeld, ein vierzig mal sechzig mal fünfzig Zentimeter großer Quader aus rötlichem Metall. Den Großteil des Volu-
13 mens der nicht ganz zehn Kilogramm schweren Kiste nahmen Energieerzeuger, Speicherzellen und Schirmfeldprojektoren in Anspruch. Im Innern selbst hing in einem gelblich transparenten Fesselfeld die Schwarze Substanz, eine winzige, exakt 25,7 Gramm schwere Wolke aus schneeflockenähnlichen Partikeln von schwarzer und grauer Farbe. Die Taster übermittelten wahnwitzige Werte, die es innerhalb des bekannten Spektrums gar nicht gab. Die Wolke geriet in Wallung, wirbelte die Flocken wild durcheinander, rotierte gleichzeitig um drei Achsen. Plötzlich existierte mitten in dem Behälter eine raumzeitliche Verzerrung. Sie entstand nicht nach und nach, sie materialisierte blitzartig. Optisch ließ es sich an einer permanent wechselnden Deformation der rotierenden Wolke erkennen. Die schwarzen und grauen Partikel schienen zudem abwechselnd zu wachsen und zu schrumpfen. Grelle Entladungsblitze zuckten im Innern und machten die Aufnahmekamera vorübergehend blind. Die Automaten der AMENSOON stimulierten sie mit elektrischen Impulsen, bis sie wieder ein Bild lieferte. Die Masse innerhalb des Behälters nahm sprunghaft zu. Vierzig Gramm zeigte das Messgerät an, eine halbe Sekunde später achtzig Gramm. Die Schneeflocken klumpten zusammen, bildeten erst einen unregelmäßigen Kuchen, dann einen hoch verdichteten Teig. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Masse acht Kilogramm und besaß eine Dichte wie die von hochwertigem Stahlplast. »Das Ding saugt Energie aus dem Nichts«, stieß Farangon hervor. Kythara sah ihn zum ersten Mal fassungslos, mit geweiteten Augen und wetzenden Lippen. Seine Hände bewegten sich fahrig auf den Armlehnen hin und her. »Die Garbyor überschätzen sich, wenn sie glauben, die Technik der Varganen jemals beherrschen zu können«, sagte sie. »Behälter ausschleusen!« Die Tür des Labors stand offen. Ein
14 Transportfeld erfasste den Behälter, zog ihn in zwei Metern Höhe in den Korridor und mit hoher Beschleunigung Richtung Hangar. In seinem Innern entstand eine exponentiell anwachsende Energiekonzentration. Kythara fragte sich, ob die Schwarze Substanz Energie aus einem anderen Universum zapfte oder ob sie sie aus dem Dunkelstern holte. Gab es sie also doch, die von Farangon angesprochene Verbindung durch die Hintertür? »Vorgang außer Kontrolle«, meldete die AMENSOON. »Schneller!«, rief die Varganin. »Raus mit dem Ding!« Der Automat beschleunigte den Behälter auf zwanzig Meter pro Sekunde. Dennoch dauerte es noch vier Sekunden, bis er den Hangar endlich hinter sich ließ. Weitere zehn Sekunden vergingen, bis er die Schirmstaffel des Oktaeders durchquerte. Erneut beschleunigte das Kraftfeld die Kiste, erst auf tausend, dann auf fünftausend Meter pro Sekunde. Dann entließ es den Behälter aus seinem Bann. Noch existierte die Bildübertragung aus dem Innern. Kythara sah, wie die Schwarze Substanz unter dem hohen Innendruck Lichtblitze auszusenden begann. Die Verdichtung war inzwischen so hoch, dass sie trotz der Einflüsse der Sonnenkorona die Gammastrahlung messen konnten, die das Ding emittierte. »Damit hatten wir uns den Tod an Bord geholt«, sagte Farangon. »Wir sollten es besser nie wieder tun.« »Dazu dürfte es auch wohl kaum mehr kommen.« Allein die Beschaffung dieser Probe hatte einen hohen Blutzoll gefordert. Das würde sich nicht mehr wiederholen. Kythara musterte Farangon unter halb gesenkten Lidern. Warum hatte er immer die passende Bemerkung zur Hand und vertrat nie eine von der Vernunft abweichende Meinung? Hohe Intelligenz und Selbstbeherrschung waren nichts Ungewöhnliches, aber bei Farangon legte sie unbewusst noch immer andere Maßstäbe an.
Arndt Ellmer Ich werde ihm Abbitte leisten müssen, dachte sie. Irgendwann. Das Schlimme an Verdächtigungen aller Art war, dass immer etwas hängen blieb, selbst nach dem klarsten Freispruch. »Kop-2 fängt an zu reagieren!«, meldete Gorgh in diesem Augenblick. »Wir sollten verschwinden!«
* Kytharas Gedanken jagten sich. Seit einer halben Stunde beobachtete die AMENSOON die Entwicklung im Innern des Sterns. Erst hatten die Hyperorter nur leichte Veränderungen im Emissionsverhalten der Sonne festgestellt. Inzwischen veränderte sich der Energiehaushalt. Zwei Minuten nach dem Ausschleusen war der Behälter geplatzt. Die Schwarze Substanz hatte sich in der Fotosphäre verteilt und war von den gewaltigen Anziehungskräften schnell in die Tiefe gerissen worden. Entgeistert hatten sie in der AMENSOON verfolgt, wie die Flocken noch immer Energie aus dem Nichts saugten. Nach dreißig Minuten stand fest, dass der Vorgang offensichtlich von außen gesteuert wurde beziehungsweise aus hyperphysikalischen Gründen nicht umkehrbar war. Eine Art hyperphysikalische Kernreaktion. Nach drei Stunden jagte die erste Protuberanz aus der Korona ins All, als musste sich der Stern ein Ventil gegen den Überdruck schaffen. Die Masse von Kop-2 nahm zu, ebenso der Energielevel im Innern. Wir sind schuld, dachte Kythara. Wieso mussten wir das Zeug unbedingt mit uns schleppen? Wenn sie es wenigstens gegen Kopaar zum Einsatz hätten bringen können … Vom Kardenmogher gab es noch immer kein Lebenszeichen. Die Varganin musste inzwischen befürchten, dass er die Vorgänge an der Grenzschicht des Mikrokosmos nicht überstanden hatte. Und mit ihm wären auch Atlan und Kalarthras aus ihrem Leben verschwunden … Nein, das wollte sie sich nicht
Vorstoß nach Kopaar vorstellen. »Ich habe eine Hochrechnung durchgeführt«, unterbrach Farangon die Stille. »Die Eruptionen nehmen innerhalb von vier, fünf Stunden so stark zu, dass das Schiff nicht mehr zu halten ist.« »Wir warten so lange, wie es irgendwie geht«, sagte Kythara. Sie hielten dreieinhalb Stunden unter mittleren bis hohen Gefahrenwerten durch, ohne dass das Schiff von einer der Protuberanzen getroffen wurde. Dann ließ sich die Position im Schutz der Korona nicht mehr halten. Ein Flug nach unten in ruhigere Zonen der Fotosphäre kam nicht in Frage. Die Triebwerke hätten den Schub nicht aufbringen können, um jemals wieder ins All zu starten. Kythara gab den Befehl zum Abflug. Langsam löste sich die AMENSOON aus der Korona, blieb noch eine Weile in der Nähe der Sonne hängen, bis die Orter einen deutlichen Ausschlag zeigten. »Alle Energien auf das Deflektorfeld!«, ordnete die Varganin an. Man konnte ja nie wissen …
3. »Grenzwerte stabil! Grenzwerte stabil …« Erst drang es wie das ferne Murmeln eines Baches in mein Bewusstsein, dann verstand ich die gesprochenen Worte. Mühsam öffnete ich die Augen, entdeckte das Hologramm mit den Sternen und darunter die Bereitschaftsanzeigen des Kardenmoghers. Welche Grenzwerte meinte er? Salziges Sekret verklebte meine Augen, ich sah kaum etwas. Die Augäpfel brannten. Ich brauchte als Erstes Wasser, um mein Gesicht zu waschen. »Kalarthras?«, fragte ich. »Offshanor?« Ich erhielt keine Antwort. Die beiden Sessel neben mir waren leer – nein, ich bildete es mir im ersten Augenblick nur ein. Die Sessel fehlten. Einflüsse aus Raum und Zeit hatten sie aus dem Schiff entfernt. Vermutlich trieben sie dort, wo sich der Kardenmo-
15 gher vor kurzem noch befunden hatte. »Hast du Aufzeichnungen, was passiert ist?«, ächzte ich. »Ich kann dich beruhigen«, sagte DENMOGH. »Im Augenblick gibt es lediglich Schwierigkeiten mit der Steuerung von Prall- und Deflektorfeldern.« »Der Brand im Heck …« »Es existiert kein Brand, Atlan.« »Ich habe doch deutlich gesehen, dass …« »Was die Außenkameras übertrugen, waren Aufnahmen des Golfballraumers. Es hat ihn zerrissen, ein Teil seiner Außensektionen und Triebwerke ist abgebrannt. Der Rest wurde zwischen Gravitationsscheiben zerrieben.« Nochmal Glück gehabt, Alter! »Ich brauche Wasser!« Ein Roboter schwebte heran, brachte mir einen feuchten Lappen, mit dem ich das Gesicht abwusch. Anschließend reichte er mir einen Becher mit dem köstlichen Nass. »Könntest du die Deflektorfelder jetzt abschalten?«, fragte ich. »Bitte gedulde dich noch ein wenig.« Es dauerte weitere zwei Minuten, bis die Selbstreparaturfunktion des Kardenmoghers endlich ein Ergebnis erzielte. Ich nutzte die Zeit und sah mir die Aufzeichnungen an. Der zweite Golfballraumer war auseinander geplatzt wie ein Ballon, in den man zu viel Luft pumpte. Dazwischen entdeckte ich das Hyperecho des dritten Schiffes, das uns verfolgt hatte. Sein Pilot flog einen Schlingerkurs, der viel Energie benötigte, aber das Risiko verringerte, von einer der Stoßwellenfronten getroffen zu werden, die inzwischen entlang der Grenzschicht rollten. Ein wenig erinnerte mich die grafische Darstellung der hyperphysikalischen Vorgänge an Gewitterfronten, die nacheinander vorbeizogen. Mit etwas Glück schlug der Blitz nicht ein. Bei hohen Metallkonzentrationen lag die Wahrscheinlichkeit allerdings sehr hoch. In dem aktuellen Fall war der Kardenmogher gegenüber den Golfballraumern klar im Vorteil.
16 »Das dritte Schiff ist soeben gegen eine Schwerkraftwand geprallt«, meldete DENMOGH. Fast gleichzeitig lösten sich die Deflektorfelder auf. Kalarthras und Offshanor hingen in ihren Prallfeldern und kamen soeben zu sich. »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Wie es aussieht, haben wir sie abgehängt.« Der Vargane sah mich erstaunt an. »Alle drei?« »Alle drei. DENMOGH irrt sich nicht.« »Na dann.« Kalarthras wandte sich dem Ganjasen zu. »Bei so viel Glück kann einem schon unheimlich zumute werden.« »Die technische Überlegenheit des Kardenmoghers hat uns das Leben gerettet«, fuhr ich fort. »Die Spezialeinheit der Varganen ist für Situationen wie diese gebaut.« Ein Wunder war es keines. Das Volk aus dem Mikrokosmos hatte schon vor Jahrhunderttausenden an den Prinzipien des Universenwechsels gearbeitet. Es war gut vorstellbar, dass es sich bei dem Kardenmogher um einen Universentaucher handelte, mit dem man gefahrlos vom Standarduniversum in den Mikrokosmos wechseln konnte und wieder zurück. Vorausgesetzt, die Techniker in den Umsetzerstationen kannten sich mit ihren Maschinen aus. Bei den Garbyor konnten wir das nicht voraussetzen. Sie hatten es geschafft, den Umsetzer auf Kopaar zu aktivieren und die für uns gedachte Falle zuschnappen zu lassen. Mehr schienen sie nicht zuwege zu bringen. Das Abschalten des Umsetzers wurde für sie vermutlich zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. Überrangkodes und ähnliche Sicherheitsmaßnahmen gab es auf Kopaar bestimmt genug, mit deren Hilfe die Varganen die Befehlsgewalt an sich reißen konnten. Die Frage war nur, wie viele Garbyor auf dem Planeten arbeiteten und wachten. Wenn ein Landekommando erst gar nicht bis zu den Schaltzentralen durchdrang, halfen alle Kodes und Kenntnisse nichts. »Die Auswertung aller hyperphysikalischen Phänomene ist abgeschlossen«, verkündete DENMOGH.
Arndt Ellmer Ich richtete mich im Sessel auf. »Wir sind ganz Ohr!« Der Bericht der Kardenmoghers bestätigte meine Vermutungen. Die Grenzschicht ließ sich auf herkömmliche Weise nicht durchdringen, geschweige denn zerstören. Das projizierte Hyperfeld war fest in den universellen Konstanten verankert, der Mikrokosmos selbst war die Ursache, dass der Druck vom Standarduniversum auf die Trennschicht zu einer Verfestigung dieser Schicht führte. In der herkömmlichen Physik unseres Standarduniversums hätte man gesagt, dass innen im Bereich der Grenzschicht ein leichter Überdruck herrschte, der vom Standarduniversum durch Gegendruck ausgeglichen wurde. Undurchdringlich, es sei denn, man baute Schleusen ein. Bisher hatten wir keine einfliegenden oder abfliegenden Schiffe beobachtet. »Und jetzt?«, wollte Offshanor wissen. »Wir gehen auf Schleichfahrt nach Kop5«, schlug ich vor. Der Blauweiße Riese zählte zu den vorab vereinbarten Treffpunkt-Sternen, an denen wir nach dem jeweils anderen Schiff Ausschau halten würden. Im Ortungsschutz des Riesen wollten wir uns eine Pause gönnen und die Situation innerhalb der 230-Lichtjahre-Kugel beobachten. Dass die drei Verfolgerschiffe vernichtet worden waren, würde auf Kopaar nicht unbeachtet bleiben. Irgendwann tauchten garantiert Suchschiffe auf, die nach Überresten Ausschau hielten oder wissen wollten, ob es auch Trümmer der verfolgten Beiboot-Einheit gab.
* Draußen gleißte der Blaue Riese. Drinnen im Kardenmogher bildete der Schimmer des blauen Metalls einen kaum wahrnehmbaren Kontrast. Im weißblauen Licht verwischten sich viele Konturen, verwandelte sich die Ebene mit der Steuerzentrale in einen Ort
Vorstoß nach Kopaar sanften Nebellichts, in dem lediglich die holografischen Terminals in ihren roten und grünen Farben Orientierung boten. Wir schwenkten unsere Kontursessel, sodass wir einander ins Gesicht sehen konnten. Inzwischen waren wir uns ohne Ausnahme über unsere Situation im Klaren. Wir saßen in einer nahezu perfekten Falle. Besser hätten sie die Garbyor nicht vorbereiten können. Und wer hatte uns auf die Bedeutung Kopaars hingewiesen und einen Zusammenhang mit Anaksa konstruiert? Farangon! Ich bedauerte, ihn nicht auf diesen Flug mitgenommen zu haben. Zu dritt wäre es uns garantiert gelungen, ihn aus der Reserve zu locken. Eine unbedachte Handlung, ein heimlicher Funkspruch vielleicht … Farangon wird nie so dumm sein, euch in die Falle zu gehen!, meinte der Extrasinn. Hast du schon wieder vergessen, wie kooperativ er sich verhält? Natürlich konnte es auch anders sein. Farangon gab sich keine Blöße, er verhielt sich völlig normal. Aber das wollte nichts heißen. Das zeitliche Zusammenfallen seiner Vorschläge und unseres Pechs passt zu keinem anderen so gut wie zu Farangon, machte ich dem Extrasinn begreiflich. Natürlich. Du solltest in deiner Gewissheit über seine Identität nur nicht den Fehler begehen und ihn unterschätzen. »Wir können ein paar Tage in der Deckung dieses Sterns bleiben«, sagte ich zu den Gefährten. »Irgendwann werden sie uns aufspüren. Selbst wenn wir dann wieder fliehen und uns einen anderen Stern aussuchen, wird es nicht lange dauern, bis sie uns finden.« »Es liegt wohl doch an mir«, meinte Kalarthras. »Irgendetwas messen sie an, was ich in mir trage.« »Der Kardenmogher hat alles untersucht. Du bist nicht verwanzt und auch nicht suggestiv beeinflusst. Wenn es etwas gäbe, dann deine Ausstrahlung als Vargane. Aber ich glaube nicht daran.« Im Vergleich mit
17 meiner eigenen Aura oder dem Potential des Aktivatorchips war die Ausstrahlung des Varganen verhältnismäßig gering. Er zog auch keine Schleppe einer abweichenden Strangeness hinter sich her, die seine Rückkunft aus einem anderen Universum dokumentierte. »Erst einmal spielt es keine Rolle, wen von uns sie anmessen und dadurch die Position des Kardenmoghers erkennen«, fuhr ich fort. »Wichtig ist allein, dass wir uns nicht in die Rolle passiver Flüchtlinge drängen lassen dürfen. Wir ergreifen die Initiative. Dadurch zwingen wir die Garbyor zu einer Reaktion.« »Und sind ihnen jedes Mal einen Schritt voraus!«, sagte Offshanor. »Ich bin dabei!« Wir mussten den Umsetzer zerstören, nur so wahrten wir unsere Chance auf eine Rückkehr ins Standarduniversum. Den Umsetzer selbst stellte ich technologisch auf dieselbe Stufe wie die so genannten DrugunUmsetzer, jene vermutlich der Technologie der Kosmokraten entstammenden Geräte, wie es sie in dezentralisierter Form in den Kosmischen Burgen der Sieben Mächtigen gegeben hatte. Sie waren eingesetzt worden, um die Burgen aus ihren Verstecken in einem Mikrokosmos ins Standarduniversum zu holen. Darüber hinaus hatten die DrugunUmsetzer auch als Transportsystem zur Beförderung von Objekten über gewaltige kosmische Entfernungen hinweg gedient. Ich war überzeugt, dass wir bei exakter Kenntnis des varganischen Umsetzers auf ähnliche oder identische Funktionen stoßen würden. Leider konnte mir Kalarthras auf eine entsprechende Frage keine Antwort geben. Er wusste nur, dass die varganischen Experimente mit den Umsetzern weit zurückreichten. Chefwissenschaftler Haitogallakin und seine Mitarbeiter hatten einst eine ganze Reihe von Labor- und Versuchswelten eingerichtet. Eine der wichtigsten war Ephaiston, 3585 Lichtjahre von Kopaar entfernt. Farangon hatte die Entfernungen und die Namen genannt. Näher an Kopaar lag Gala-
18 dat mit 1719 Lichtjahren, während die Entfernung zwischen Ephaiston und Galadat 5291 Lichtjahre betrug. »Die Hintertür zum von den Garbyor abgeriegelten Dunkelstern und der Anaksa-Station in seiner Akkretionsscheibe aus Schwarzer Substanz vergessen wir dabei am besten!«, eröffnete ich dem Varganen und dem Ganjasen. »Von Kopaar aus werden wir den Zugang wohl nie nutzen können.« Eine andere Möglichkeit, die Pläne der Lordrichter und ihrer Helfer zu durchkreuzen, stellte die Schwarze Substanz an sich dar. Ihre Untersuchung hatte ergeben, dass die Obsidian-Form als Anker für hyperenergetische, pseudomaterielle Einschlüsse des UHF-Bereichs diente oder gar reine PsiMaterie darstellte, während normale Hyperkristalle deutlich weiter unten im hyperenergetischen Spektrum angesiedelt waren. Vielleicht bot genau diese Erkenntnis eine Chance, das gespeicherte Potenzial freizusetzen, es gewissermaßen zu zünden. Das hätte dann zweifellos das Ende des Dunkelsterns und der Anaksa-Station zur Folge gehabt. Bei der Frage nach den Mitteln dazu waren wir von vornherein auf den Hegnudger gekommen, dieses faustgroße Kristalloktaeder, mit dem wir bereits in der Milchstraße im Kampf gegen die Psi-Quelle Erfolg gehabt hatten. Mit seiner Hilfe konnten wir Gravo-Zyklon-Projektoren so verstärken, dass auch extrem starke Psi-Potenziale im UHF-Frequenzbereich des hyperenergetischen Spektrums in den Hyperraum abgestrahlt werden konnten. Die einzige Voraussetzung dafür war, möglichst nahe und genau ans Ziel heranzukommen. Angesichts der Truppenmassierung am Dunkelstern war genau dies derzeit nicht gewährleistet. Hier wäre die von Farangon erwähnte Hintertür hilfreich gewesen, sofern sie groß genug für den Kardenmogher war. Egal wie, es führte kein Weg daran vorbei, wir mussten erneut nach Kopaar vorstoßen, Golfbälle hin oder Golfbälle her.
Arndt Ellmer »Eine Bitte habe ich an euch«, sagte ich abschließend zu den Gefährten. »Schweigt Farangon gegenüber von unseren Plänen. Wenn er nichts weiß, schadet es ihm nicht. Sollte er aber der Verräter sein, ist es besser, er kennt unsere Absichten nicht.« Offshanor zog die Stirn kraus. »Ich bin mir inzwischen sicher, er ist es.«
* Der Bordkalender zeigte inzwischen den 18. Juli 1225 NGZ. Damit waren seit dem Zuschnappen der Falle vier Tage vergangen. Innerhalb des Mikrokosmos ereignete sich nichts Auffälliges. Wir entschlossen uns, nach Kop-2 zurückzukehren, dem ersten Anlaufpunkt auf der vereinbarten Liste, von wo aus wir mit dem Kardenmogher gestartet waren. Wenn die AMENSOON sich irgendwo versteckt hielt, dann dort. »Der Flugverkehr im Raum Kopaar hat zugenommen«, stellte Offshanor fest. »Es sieht aus, als würde sich dort einiges tun.« Ich nickte. »Sie machen den Anlagenkomplex dicht. Offenbar rechnen sie damit, dass wir noch am Leben sind. Oder sie erwarten einen Angriff der AMENSOON.« Fällt dir eigentlich auf, dass weder der vermutete Standort der AMENSOON noch der des Kardenmogher Ziel von Golfballraumern ist? Natürlich fällt mir das auf. Manchmal nervte der Extrasinn mit seinen Hinweisen auf so banal Offensichtliches. Ich hätte viel darum gegeben, ihn bei Bedarf abschalten zu können. »Da ist noch etwas«, fuhr der Ganjase fort. »Kop-2 produziert extrem viele und starke Eruptionen. Der Stern ist offensichtlich in eine Phase erhöhter Aktivität eingetreten.« Ich warf einen Blick auf die Orteranzeigen. Für eine planetenlose gelbe Normalsonne ohne störenden Zwergbegleiter lagen die Ausbrüche der Fotosphäre in einer Größenordnung, die sofort meinen Verdacht erweckte. Die Eruptionen konnten unmöglich
Vorstoß nach Kopaar natürlichen Ursprungs sein. »Wir starten sofort!«, wies ich DENMOGH an. Übergangslos erfüllte mich Sorge um Kythara und die Besatzung der AMENSOON. Durch die waghalsigen Manöver an der Grenzschicht hatten wir für schätzungsweise zwei Stunden keine Möglichkeiten gehabt, Ortungsinformationen aus dem Mikrokosmos einzuholen. Das varganische Oktaeder konnte in dieser Zeit vernichtet worden und in eine Sonne gestürzt sein. Das Aufheizen der Sonne stand aber nicht im Zusammenhang mit einem Angriff auf die AMENSOON. Dennoch ebbte das flaue Gefühl in meinem Magen nicht ab. Der Kardenmogher löste sich aus der Korona von Kop-5 und beschleunigte dicht über der Sonnenoberfläche. Nach dem Erreichen der Mindestbeschleunigung wechselte er sofort in den Hyperraum. Das Manöver über 93,2 Lichtjahre war exakt berechnet. Auf der Kopaar abgewandten Seite der gelben Sonne schlüpfte der Kardenmogher aus dem Hyperraum und leitete das Bremsmanöver ein. »Ortung!«, meldete DENMOGH. »Es ist die AMENSOON-Signatur!« »Gerafften Hyperimpuls an AMENSOON!« Ich sah die Gefährten erleichtert an. Das Schiff war heil, die Insassen vermutlich auch. Extrem gefährlich nahmen sich allerdings die Eruptionen aus, die wie Geschosse aus der Korona des Sterns hinaus ins All rasten. Die AMENSOON floh vor ihnen. Wir sahen, dass sich ein Hangar öffnete. Der Kardenmogher schoss auf das Oktaeder zu, während dieses mit wahnwitzigen Werten beschleunigte, um die Geschwindigkeit für das Einschleusungsmanöver zu erreichen. Kop-2 schleuderte uns ein halbes Dutzend Eruptionen hinterher. »Bei den Sternengöttern«, stieß ich hervor. »Wenn das so weitergeht, verwandelt sich der Stern bald in eine Supernova.« Wie immer, wenn Schwarze Substanz im Spiel ist!, merkte mein Extrasinn an. Wir hatten Kop-2 spektral vermessen,
19 aber keine Hinweise darauf gefunden. Meinte denn der Logiksektor etwa … Ich schlug mir in Gedanken gegen die Stirn, was ihm einen Heiterkeitsausbruch entlockte. Natürlich! Ich sah den roten Quader vor mir, der im Labortrakt hing und vermutlich nicht mehr dort war. Kythara musste schwerwiegende Gründe gehabt haben, ihn aus dem Schiff zu entfernen und in die Sonne zu schleudern. Die beiden Fahrzeuge trafen sich bei 38,779 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Der Kardenmogher führte die letzte Feinanpassung durch, dann glitt er in den Hangar, dessen Schott sich sofort hinter uns schloss. Die AMENSOON beschleunigte. Gleichzeitig zeichnete sich im Steuerhologramm des Kardenmoghers der Kopf der Varganin ab. »Geht es euch gut?« Täuschte ich mich, oder war in ihrer Stimme ein Unterton, der über die gewohnte Fürsorge einer Kommandantin hinausging? »Ja, Kythara«, antwortete ich. »Wir haben alles unbeschadet überstanden. Von unseren Verfolgern können wir das nicht sagen.« »Ich erwarte euch in der Zentrale. Unser Flugziel ist übrigens Kop-1.« Das war der planetenlose Rote Zwerg, 3,8 Lichtjahre von Kopaar entfernt. »Wir sind schon unterwegs.«
4. Zehn Tage zuvor … Das Abbild eines Daorghor schälte sich aus dem Nebel des Hologramms, wogte hin und her, stabilisierte sich schließlich und nahm Haltung an. »Mein Gebieter …« Erzherzog Garbgursha reagierte mit einer Geste des Unwillens. »Was gibt es?« Konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Viel zu wichtig waren die Gedanken, denen er nachhing. »Die GARB-ONZYN hat den Einsatzort erreicht, Erzherzog!«
20 »Schon?« Sein Blick wanderte zur Generalanzeige. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Garbgursha strich über die unscheinbare kleine Kugel an seinem Gürtel. Sie war milchig trüb. Er nahm sie aus dem Etui und hielt sie in der rechten Hand vor sich hin. Augenblicklich baute sich über der Kugel ein Hologramm auf. Für gewöhnlich enthielt es die Koordinaten und die Entfernung des georteten Ziels relativ zum Standort des Geräts. Jetzt aber zeigte sie nichts an. Die Entfernung des feindlichen Schiffes von der Kugel war zu groß. »Wir gehen in eine Parkbahn und bereiten alles für den Empfang des Arkoniden vor.« »Ja, mein Erzherzog«, dienerte der Daorghor und klackte mit den Mundzangen. Der Automat blendete ihn aus dem Hologramm aus, die tanzenden Sterne seiner Heimatgalaxis Vancanar. In letzter Zeit wünschte er sich immer wieder dorthin zurück, gerade so, als habe er nur noch diese eine Chance, die Heimat wiederzusehen. Unsinn!, schalt er sich. Mit seinen 189 Jahren hatte er den Zenit seines Lebens noch längst nicht überschritten. Wenn ihn etwas stoppen konnte, dann höchstens das Todesimpuls-Implantat, das er ebenso trug wie alle anderen Kämpfer für Garb und das seine Loyalität zu den Lordrichtern und seinen Glauben an Trodar nur noch verstärkte. Allein schon sein legendärer Ruf, den er unter den Garbyor genoss, trug viel dazu bei, ihm das Dasein angenehm zu machen. Dennoch … Die Gedanken an Vancanar häuften sich, die Bilder aus den Arsenalen von Zaqoorski prägten sich ihm in jeder neuen Nacht mit stärkerer Intensität ins Bewusstsein. Damals, als er sich, vom Ehrgeiz beinahe aufgefressen, zur Leibgarde des Lordrichters Yagul Mahuur gemeldet hatte, war er über Leichen gegangen, ein übliches Verfahren aller, die nach oben wollten. Sie schafften ihre Konkurrenten auf mehr oder weniger geschickte Weise aus dem Weg. Wer sich dabei besonders dämlich anstellte, landete in der nächsten Konverterkammer.
Arndt Ellmer Garbgursha hatte damals alles unternommen, um die Pannenstatistik zu seinen Gunsten zu verändern. Selbst die Konverterkammern waren in der fraglichen Nacht ausgefallen, und von den Opfern seiner heimlichen Umtriebe hatte nie jemand auch nur eine Spur gefunden. Mit etwas Glück dauerte es Jahrtausende, bis ein möglicher Umbau von Zaqoorski so weit fortgeschritten war, dass man die im Tiefkeller in Plastikblöcken eingegossenen Toten fand, in ihren Umrissen für die Nachwelt konserviert, im Innern von den Maden aufgefressen. Aber all das besaß im Leben des Erzherzogs Garbgursha keine Bedeutung mehr. Eiseskälte kroch seinen Rücken empor, strich gleichzeitig über seinen Kopf mit dem schwarzen Stoppelhaar. Er fuhr herum, rechnete voller Schreck mit dem Erscheinen des Eishaarfelds von Yagul Mahuur. Aber er täuschte sich. Der Lordrichter erschien nicht, die intensive Aura der Macht blieb aus, die er immer dann spürte, wenn er diesem Wesen gegenüberstand. Automatisch schweiften Garbgurshas Gedanken weiter, schlug er den Bogen zwischen dem Lordrichter und seinem Vertrauten Heronar alias Veschnaron. Ein Trobyor, ein einfacher Soldat als Freund und engster Vertrauter eines Lordrichters – es war seltsam. Viele Jahre hatte sich Garbgursha darüber keine Gedanken gemacht. Inzwischen aber waren Dinge vorgefallen, die er mit geschärften Sinnen anders sah als früher. Auf unbegreifliche Weise änderte sich seine Perspektive, nicht nur was den Dunkelstern und die Artefakte der Varganen betraf, sondern auch die Vorgänge in seiner Heimat. Der ewige Kampf in Vancanar, das Prinzip der Auslese – ihm fiel der Sinn nicht mehr ein. Woher rührte der immer währende Kampf? Wer hatte einst den Angriff gestartet, und worauf reagierten die Garbyor heute? Verstand er Trodar noch so, wie es einst gemeint war? Ich verändere mich! Eisiger Schrecken begleitete die Feststellung. Oder verändert
Vorstoß nach Kopaar
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sich das Universum um mich? Veschnaron war der Auslöser gewesen. Garbgursha hatte erlebt, wie der legendäre Vertraute zum Lordrichter gerufen worden, aber nicht mehr zurückgekehrt war. Der Erzherzog hielt es für wenig plausibel, dass Veschnaron für sein Versagen in der AnaksaStation bestraft worden war. Eher hing es mit dem geheimnisvollen Auftauchen und Verschwinden der Lordrichter zusammen. Hatte Yagul Mahuur seinen Vertrauten mit auf eine Reise im Eishaarfeld genommen? Früher wäre Garbgursha nie auf den Gedanken gekommen, sich solche Fragen zu stellen. Inzwischen aber hatte sich etwas verändert, und je länger er darüber nachdachte, desto eher glaubte er daran. Kam es tief aus seinem Innern. Erwachten Urerinnerungen seines Volkes? Garbgursha erwischte sich alle paar Stunden dabei, wie er spontan seine Gestalt wechselte, einfach um sicher zu sein, dass diese seine Fähigkeit noch funktionierte. Wie Heronar war er ein Gestaltwandler, aber Heronar hatte noch nie den Kontakt zu ihm gesucht, und wenn, dann war er ihm ähnlich geheimnisvoll und charismatisch vorgekommen wie der Lordrichter. All das war sehr merkwürdig. Auch wenn Garbgursha sich früher nie über so etwas den Kopf zerbrochen hätte, reichte es hier und heute dazu aus, Stunden des Tages darauf zu verwenden …
* Heronar erwartete ihn unter dem zwanzig Meter hohen Portal der gewaltigen Anlage. Links und rechts standen zwei kleine Projektoren, die Prallfelder erzeugten. Sie verhinderten, dass der Torbogen unter den Erschütterungen des Kampfes in sich zusammenstürzte. Garbgursha hob die Hand zum Gruß. Heronar beachtete es nicht. Stumm deutete er hinauf zum Himmel, wo die Beiboote der Garbyor einen Vargrin nach dem anderen zu Staub zerbliesen.
»Dieser Dscherbal des siebten Domai wird als Tag der Verzweiflung in die Geschichte der Varganen eingehen«, verkündete Heronar mit hallender Stimme. »Nachfolgende Generationen werden zittern und sich verkriechen, wenn sie den Namen ›Garb‹ auch nur hören!« Garbgursha erschauerte unter dem Eindruck der Stimme und den Worten des Artgenossen. Heronar sprach wie einer der obersten Anführer. Dem Erzherzog schoss spontan ein Gedanke durch den Kopf. Wer hat ihn dazu autorisiert? Yagul Mahuur? Oder einer der Lordrichter in Gruelfin? Heronar breitete die Arme aus, vollführte eine alles umfassende Geste, dann lachte er plötzlich. »Die Ruinen der Rhoarxi sollen bleiben, wie sie sind. Aber alle Siedlungen der Varganen-Nachkömmlinge werden dem Boden gleichgemacht. Wo sie standen, soll kein Stein auf dem anderen bleiben und kein einziger Halm mehr wachsen!« »Heronar!«, sagte Garbgursha mit eindringlicher Stimme. Es war ihm ein Rätsel, wieso Yagul Mahuur einen einfachen Trobyor zum Feldherrn gemacht hatte. »Wir sollten uns um unsere Truppen kümmern, die wir befehligen.« Bisher hatte Heronar Dutzende von Funksprüchen ignoriert. Die Garbyor warteten auf weitere Anweisungen. »Du hast Recht, Erzherzog«, lautete die Antwort, diesmal leicht mürrisch und mit einem teilnahmslosen Unterton – ganz so, wie er Heronar kannte. »An die Arbeit!« Als über dem Portal der Götter die Nacht hereinbrach, lebte auf Fenxen kein einziger Varganensprössling mehr. Ein paar tausend hatten es geschafft, rechtzeitig in Raumschiffen zu fliehen, bevor die Flotte von Garb erschienen war. Die Garbyor würden sie jagen, und wenn es dabei bis ans Ende des Universums ging. Der Erzherzog kehrte in das Kommandoschiff im Orbit zurück. Fast gleichzeitig mit ihm traf die Fähre des zweiten Heerführers ein. Garbgursha fiel die tiefe Unterwürdigkeit der Daorghor auf, die sie Heronar entge-
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Arndt Ellmer
genbrachten. Der Zaqoor beachtete sie nicht, als sei das seinem Status angemessen. »Ach, Garbgursha«, sagte er, als er den Erzherzog gewahrte. »Für dich liegt der nächste Auftrag vor. Am besten begibst du dich sofort in die Zentrale.« Erzherzog Garbgursha wollte Heronar später wegen dessen herablassender Art zur Rede stellen. Aber der Feldherr war nicht zu sprechen, und zu vorgerückter Stunde kam Garbgursha nicht mehr dazu, sein Vorhaben auszuführen. Lordrichter Yagul Mahuur hielt sich im Schiff auf …
* Es war jedes Mal ein gewohnter und dennoch merkwürdiger Anblick. Diesmal trat Garbgursha dem Artgenossen nicht als Zaqoor, sondern in der Gestalt eines insektoiden Daorghor gegenüber. Heronar agierte in der Gestalt eines Varganen – jenes Varganen namens Veschnaron, dessen Rolle er gegenüber dem Arkoniden und seinen Begleitern gespielt hatte. Seit zwei Wochen waren sie auf Krax, der eine offen, der andere heimlich. Sie arbeiteten sich gegenseitig zu. Während Veschnaron den Varganen in der Plateaustadt die Vorzüge einer Kooperation mit raumfahrenden Artgenossen des großen Garb-Reiches schmackhaft machte, führte Garbgursha die Horden der Dunkelheit durch die ozeanischen Spalten bis dicht an das Festland heran. Dort errichteten sie ihre Bohrtürme, versenkten die Sprengköpfe in den Tiefen der Klippen und warteten ab. Die Taktik ihres Vormarsches entsprach dem üblichen Prozedere. Veschnaron agierte als Vargane unter den Nachkommen seines Volkes. Gelang es ihm, diese zu einer friedlichen Kooperation mit Garb zu bewegen und die Quoten für alle wichtigen Versorgungsgüter wie Metall, Nahrung und Wissen zu akzeptieren, dann war es gut. Lehnten die Varganischen das Ansinnen ab und ließen sich auch durch versteckte oder danach offene Drohungen nicht dazu bewegen, sprachen
die Waffen. Im Fall von Krax gedachte Lordrichter Mahuur ein Exempel zu statuieren. Die Klippen wehrten die Gewalten des Ozeans von den Wärmeschluchten ab. In Form von tiefen Spalten und Schluchten führten sie weit ins Meer hinaus, spalteten die Fluten in zwei Teile und nahmen ihnen dadurch auch einen Teil ihrer Wucht. Rund um Zhenrow existierten zweihundert dieser Spalten. Wenn sie in sich zusammenbrachen, stürzten die Wasser des Meeres bis in die Wärmeschluchten des Kontinents, begruben die Tiefenheizung unter sich und raubten dem Festland damit einen Großteil der Wärme. Innerhalb weniger Monate würde sich auf dem Festland eine dicke Eisschicht bilden, die Varganischen hätten keine Existenzgrundlage mehr und mussten verhungern. Die Chance, dass Artgenossen in Raumschiffen auftauchten und sie retteten, hielt Garbgursha für ziemlich gering. Veschnaron kam. Diesmal schienen sich die Bewohner dieser Welt für eine Kooperation entschieden zu haben, anders als ihre Artgenossen auf Fenxen. Erzherzog Garbgursha bevorzugte die Methode des Kampfes, aber in Fällen wie diesem sah er keinen Sinn in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Ein Volk, das nicht einmal Flugzeuge kannte, keine Kanonen besaß und sich der natürlichen Feinde mit Hilfe von Speeren, Pfeil und Bogen erwehrte, stellte keinen Gegner für kampferprobte Garbyor dar. Sie im Fall einer Ablehnung jämmerlich untergehen zu lassen war noch immer besser, als gegen sie kämpfen zu müssen. Genauso gut hätte man gegen Grashalme kämpfen können. Dort, wo die Klippen in das Felsland der Küste und die ozeanischen Spalten nahtlos in die Wärmeschluchten übergingen, stieg der Vargane mit zwei Dutzend Männern und Frauen in die Schlucht hinunter, wo Garbgursha mit seinem insektoiden Gefolge wartete. »Hört mich an, ihr Männer und Frauen meines Volkes!«, verkündete Veschnaron
Vorstoß nach Kopaar laut. »Von diesem Augenblick an braucht ihr keine Angst um eure Zukunft mehr zu haben. Garb schützt euch und euer Land. Diese tapferen Soldaten der Daorghor führen Projektoren mit sich, deren Energie für viele hundert Jahre reicht. Die Geräte verhindern, dass die Ozeane die Klippen zerstören und das Meer die Wärmeschluchten flutet. Bei Gefahr schicken die Lordrichter von Garb Truppen und Maschinen. Sie helfen Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte bei der Verstärkung der Klippen. So wird auch der Erosion Einhalt geboten. Das und vieles andere wird Garb euch schenken, Schutz vor Angriffen aus dem All, Hilfe bei Versorgungsproblemen. Eure Welt kann nicht viel selbst erzeugen. Wenn eure Population wachsen soll, braucht ihr hochwertige Nahrungsmittel. Garb schickt sie euch. Die Lordrichter verlangen in eurem Fall nur eine einzige Gegenleistung: Soldaten.« Erzherzog Garbgursha traute seinen Daorghor-Gehörgängen nicht. Veschnaron hatte keine Rücksprache mit Yagul Mahuur gehalten. Er hatte es auch nicht für nötig gehalten, sich mit ihm, dem Erzherzog, abzusprechen. Er traf Entscheidungen, die weit über seine Kompetenz hinausgingen. In diesen Augenblicken spürte der Zaqoor eine bisher nie gekannte Ohnmacht in sich. Hilflos stand er da. Zum Glück sprach niemand ihn an, er hätte keine Antwort gewusst. Veschnaron ist der enge Vertraute des Lordrichters!, redete er sich ein, um sich zu beruhigen. Aber was ist er noch? Wie eng muss die Beziehung zu Yagul Mahuur sein, damit er sich solche Dinge herausnehmen kann? In einer anderen Situation hätte er den Artgenossen zur Seite genommen und ihn befragt. So aber ziemte es sich nicht, Heronar in Varganengestalt vor den Ohren der Varganen in ein schlechtes Licht zu rücken. Also ergriff Garbgursha das Wort, wie es vereinbart war. »Ich bin Erzherzog Garbgursha, einer der Befehlshaber der Schutztruppen in Gantatryn. Ich bestätige, was Ve-
23 schnaron gesagt hat. Wir werden uns der Aufgabe als Schutzmacht des Planeten Krax würdig erweisen.« Im Geist überschlug der Zaqoor, wie viele Soldaten die Population der Varganen in jedem Standardjahr zur Verfügung stellen konnte. Er kam auf ungefähr 100.000. Das war nicht viel, aber immer ein großer Beitrag eines kleinen Volkes. Die Varganen von Fenxen würden nie in diese Verlegenheit kommen. »Zwei Schiffe des Erzherzogs werden jetzt auf dem höchsten Plateau landen und alles ausladen, was ihr zur Feier eines großen Festes benötigt«, verkündete Veschnaron. Beifall brandete auf. Jetzt hatte er die Herzen seiner vermeintlichen Artgenossen endgültig für sich gewonnen. Und er badete in dem Applaus, genoss ihn sichtlich. Dabei entwickelte er eine Ausstrahlung, die Garbgursha fast schon in Depressionen verfallen ließ. Veschnaron verbreitete eine Aura, als sei er der Herrscher nicht nur von Krax, sondern des gesamten Universums. Erzherzog Garbgursha fröstelte trotz seiner DaorghorChitingestalt und sah zu, dass er so schnell wie möglich zurück in sein Schiff kam …
* »Was willst du hier?« Der Shiruh wich hastig zur Seite. Zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit rollte er den Saugrüssel ein. Erzherzog Garbgursha hatte nicht vor, es dabei bewenden zu lassen. Er baute sich vor dem Wesen mit den Abzeichen eines Instrumententechnikers auf. »Gib mir Antwort!« Der Shiruh bewegte hilflos die verkümmerten Flügel und verschränkte die Arme zum Zeichen, dass er derselben Meinung wie Garbgursha war. »Falls du mich nicht kennst, noch nie meinen Klackrhythmus gehört hast und mich nicht riechen kannst, ich bin der Erzherzog.«
24 Die Arme schlugen waagrecht gegeneinander. »Aber ja! Aber ja!«, sollte das heißen. Garbgursha musterte den Shiruh genauer. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Kopf des Wesens anders war als üblich; im Bereich des Unterkiefers wies er starke Deformationen auf. »Du kannst nicht sprechen«, stellte der Zaqoor verblüfft fest. »Entschuldige, ich habe es nicht sofort bemerkt.« Ein senkrechtes Klacken der Arme: »Keine Ursache, alles in Ordnung!« Garbgursha hatte von diesen bemitleidenswerten Wesen gehört. Sie zählten zu den unfreiwilligen Versuchskaninchen, die an den ersten Probeläufen der Umsetzer beteiligt gewesen waren. Die Deformationen waren durch Verzerrungen der Raumzeit innerhalb der Anlagen auf Kopaar entstanden. Mehrere hundert Fälle hatte es gegeben. Inzwischen war das Problem behoben, aber die Betroffenen hielten sich noch immer auf den Welten von Kop-3 auf. Ein Besuch in einem Flaggschiff wie der GARBONZYN zählte vermutlich zu den schönsten Erlebnissen im Leben eines ShiruhTechnikers. Garbgursha rief eine Ordonnanz herbei und trug ihr auf, den Shiruh durch das Schiff zu führen. Anschließend setzte der Erzherzog seinen Weg in die Zentrale des Schiffes fort. Der stumme Techniker hatte ihn beeindruckt. Erst jetzt fiel dem Zaqoor ein, dass er noch immer nicht wusste, was der Shiruh in der Nähe seiner Kabine gesucht hatte. Verlaufen konnte er sich nicht haben, das wäre den Automaten aufgefallen. Überhaupt, wieso hatte er keine Meldung erhalten? In der Zentrale gab er als Erstes seinen Kode ein und fragte die Speicher ab. Der Zaqoor wäre fast vom Hocker gefallen. Aber das ist doch unmöglich!, dachte Garbgursha. Es existierte kein Hinweis. In der Nähe seiner Kabine hatte sich niemand aufgehalten.
Arndt Ellmer Ich leide unter Halluzinationen! Hastig machte der Erzherzog einen Medocheck. Er blieb ohne Befund. Es konnte nicht sein. In einem Korridor, in dem er sich zusammen mit dem Shiruh aufgehalten hatte, durfte den Aufnahmegeräten kein solcher Fehler unterlaufen. Der Korridor war leer und blieb leer. Es gab keinen Shiruh und auch ihn selbst nicht. Erzherzog Garbgursha blieb nur noch eine Möglichkeit. Er kehrte an die Stelle zurück und suchte danach erneut die Zentrale auf. Diesmal fand er den Speichersektor mit der Aufzeichnung sofort. »Wer hat die erste Aufnahme gelöscht?«, wollte er wissen. Niemand bekannte sich schuldig, und er war überzeugt, dass keiner ihm etwas verschwieg. Die Mitglieder der ZentraleSchicht waren ebenso ratlos wie er. Unerklärliche Vorgänge an Bord eines Flaggschiffes gehörten nicht gerade zu dem, was sich ein Kommandant und schon gar nicht sein Erzherzog wünschte. Garbgursha setzte alle Hebel in Bewegung, den Krüppel aufzuspüren. Die Wachmannschaften fanden die bewusstlose Ordonnanz, die sich nach dem Erwachen an nichts erinnerte. Garbgursha ließ die Erinnerungen mit Gewalt aus ihrem Gehirn holen. Er wurde Zeuge einer ihm vertrauten Metamorphose des Gastes. Der Shiruh war zu einem Klumpen Gallerte geworden, die im Boden versickerte. Ein Gestaltwandler! Es musste sich um einen Zaqoor handeln und folglich um ein Wesen, das ihm zumindest namentlich bekannt war. Garbgursha fiel nur Heronar ein. Aber der weilte nicht auf Kopaar oder in einem Orbit um den dritten Planeten. Der Erzherzog vermutete ihn am Dunkelstern. Dort residierte zurzeit auch Yagul Mahuur, der Lordrichter. »Niemand verlässt das Schiff«, sagte Garbgursha hastig. »Schließt alle Schleusen, schaltet die Schutzschirme ein.« Seine Anordnung kam zu spät. Kurz nachdem die zwangsweise ihres Gehirnin-
Vorstoß nach Kopaar halts beraubte Ordonnanz starb, erfuhr der Erzherzog die bittere Wahrheit. Wer immer sich in die GARB-ONZYN geschlichen hatte, hielt sich nicht mehr in ihr auf. Es sei denn, die Gallerte war in einer der Konverterzonen verdampft. Selbstmord oder fahrlässige Selbsttötung traute Garbgursha aber keinem seiner Artgenossen zu …
5. Beim Anflug des Kardenmoghers auf Kopaar hatten wir bis zum Zeitpunkt unserer Entdeckung durch die Garbyor jede Menge Daten über den Planeten und seine Umgebung gesammelt. Rund um Kopaar hatte es von Schiffen nur so gewimmelt. Der Planet bildete das Zentrum regen Flugverkehrs, und es handelte sich nicht nur um Patrouillenschiffe, die zwischen den Planeten von Kop3 verkehrten. Wir hatten jede Menge Transporter gesehen, kastenförmige Gebilde, aber auch Gitterkonstruktionen von mehreren Kilometern Länge. Daneben hatte die Ortung vor allem Käferraumer der Shiruh erfasst. Inzwischen waren alle Daten ausgewertet und mit denen der AMENSOON verglichen. Von Kopaar aus flogen die Schiffe zu mindestens 14 anderen Welten im Bereich des Mikrouniversums. Die Garbyor unterhielten ein verzweigtes Netz von Routen, unabhängig davon, ob sich dieser Teil des Universums gerade im Normalraum oder im Mikrokosmos befand. Die Orter der AMENSOON hatten aber noch etwas anderes in Erfahrung gebracht. Seit ein paar Stunden flogen auch Schiffe zu einem merkwürdigen Gebilde, das sich nach eingehender Analyse am besten als lang gestreckter Hypertrichter darstellen ließ. Ob das völlig korrekt war, konnten wir nicht sagen. Ein Teil des Gebildes ragte in die sechste Dimension hinein, befand sich demnach außerhalb der Erfassungsmöglichkeiten unserer Geräte. Das Gebilde aus übergeordneten Feldlinien endete mit seiner Spitze 81 Lichtjahre vor Kopaar. Zum Rand des Mi-
25 krouniversums hin dehnte es sich über eine Strecke von ungefähr 35 Lichtjahren bis zu einem Durchmesser von etwa 16 Lichtjahren aus. War das die Hintertür zum Dunkelstern, von der Farangon gesprochen hatte? Wenn ja, ergaben sich zwangsläufig daraus Rückschlüsse. Der Ganjase wusste dann Dinge, die er gar nicht wissen konnte. Es sei denn, er unterhielt Kontakte zu den Garbyor. Ich befragte ihn dazu. »Es tut mir Leid, ich weiß darüber gar nichts, Atlan. Ich denke eher, dass wir es hier mit dem Ausgang zu tun haben, mit der Verbindung zum Standarduniversum.« Ich wandte mich an Kythara. »Was ist deine Meinung?« »Ich stimme Farangon zu.« Ihr Blick besaß etwas Zwingendes, ich lauschte unwillkürlich in mich hinein. Seine Antwort ist absolut ehrlich, empfing ich die Gedanken der Varganin. Keine Anzeichen einer Mentalstabilisierung. Was allerdings nicht unbedingt etwas bedeuten musste. Mit der Fähigkeit des Pedotransfers konnten Cappins ihr Bewusstsein aus dem eigenen Körper in einen fremden transferieren und sich in dessen Bewusstsein einnisten. Je nach Auftrag blieben sie heimliche Lauscher im Hintergrund oder übernahmen den fremden Körper und drängten dessen Bewusstsein bis zur Reglosigkeit zurück. Diese Fähigkeit setzte voraus, dass der Pedotransferer in der Lage war, seine Gedanken gegenüber anderen Bewusstseinen abzuschirmen, eine natürliche Mentalstabilisierung also. Wie stark diese war und ob ein Pedotransferer Kythara etwas vorspiegeln konnte, wussten wir nicht. »Ausgang oder Hintertür«, sagte ich, »wir sollten es möglichst schnell herausfinden!«
* Ich verließ den Kommandoraum des Kardenmoghers und suchte meine Kabine auf. Nach einer Weile folgte mir Kythara unauf-
26 fällig. »Hältst du es wirklich für eine gute Idee, Farangon mit auf diesen Flug zu nehmen?«, fragte sie, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Ich nickte. »So haben wir ein Auge auf ihn. Gorgh und Kalarthras bleiben in der AMENSOON zurück, das ist genug kritisches Potenzial.« Sie bemerkte das Zucken meiner Mundwinkel und lachte. »Ausgerechnet die beiden ›harmlosesten‹ unter den Gefährten …« Wir befanden uns in keiner besonders rosigen Situation. Gorgh und Kalarthras stellten als mögliche unfreiwillige Verräter eine größere Gefahr dar als Farangon, wenn er absichtlich handelte. »Eigentlich steht jeder unter Verdacht«, sagte ich. »Du meinst mich!«, entrüstete sich Kythara nach kurzem Nachdenken. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« Sie stand mit flammendem Blick vor mir. »Du besitzt keine minutiösen Aufzeichnungen über dein bisheriges Leben«, schmunzelte ich. Sie sah mich wütend an. »Arkoniden und ihr fotografisches Gedächtnis. Pah!« »Es war nicht ernst gemeint, und ich glaube auch nicht, dass ein Körnchen Wahrheit dahinter steckt.« Sie sank in einen Sessel. »Lass mich mal zusammenzählen, was bei dir alles verdächtig erscheint – der Logiksektor, das fotografische Gedächtnis, die Ritteraura, der Aktivatorchip …« »Und überhaupt mein ganzer Lebenswandel auf Terra«, fiel ich ihr ins Wort. »Hast du soeben den leichten Ruck bemerkt?« »Natürlich.« »Dann komm.« Wir kehrten in die Steuerzentrale zurück. Der Kardenmogher hatte die AMENSOON verlassen. Im Schutz des Roten Zwergs beschleunigte er. Antiortungsfeld und Deflektorsystem waren aktiviert. Ich sah mich um. Offshanor stand bei Xarpatosch, dem Anführer des Trupps EliteCappins. Ein Stück abseits unterhielten sich
Arndt Ellmer seine fünf Begleiter mit Farangon. Keiner der Anwesenden erweckte den Eindruck, als könne er ein Wässerchen trüben. So kann man sich täuschen, Alter, dachte ich und nahm mir fest vor, Farangon nicht aus den Augen zu lassen. »DENMOGH, wir nehmen Kurs auf die Spitze des Trichters, bleiben aber drei bis vier Lichtmonate davon entfernt.« Die Erfahrungen beim Anflug auf Kopaar hatten uns gezeigt, dass die Ortungsgefahr auf größere Distanzen gering war. Erst wenn wir zu vorwitzig waren und den Schiffen der Garbyor zu nah auf die Pelle rückten, wurde es kritisch. Der Steuerautomat des Kardenmoghers bestätigte die Anweisung. Das Fahrzeug beschleunigte mit mittleren Werten, vermied weithin erkennbare Emissionen und bereitete sich auf die Hyperraumetappe von knapp 81 Lichtjahren vor. Was immer der Hypertrichter darstellte, er war nur eines von vielen Indizien, die wir seit der ersten Begegnung mit der Psi-Quelle gefunden hatten. Indizien für eine Machtgruppierung, die ihre Herrschaft über mehrere Galaxien auszudehnen versuchte. Noch blieben die Lordrichter ein relativ vager Begriff. Wir hatten bisher nur einen gesehen und diesen auch nur im Schutze seines »Eishaarfelds«. Wir hatten keine Hinweise, worum es sich bei diesen Wesen handelte und wonach sie strebten. Eine Umsiedlung in den Mikrokosmos erschien zu abwegig. Dazu hätten sie keine galaxienweiten Flotten um sich zu scharen brauchen und keine nach zig Millionen zählenden Hilfsvölker. Es hätte gereicht, ein paar Varganen aufzutreiben und zur Mitarbeit zu »überreden«. Der Ansturm auf Gruelfin war da ebenfalls sinnlos. Was aber war dann das Ziel der Lordrichter? Ich vermied es zu spekulieren. Ich hätte mir nur wieder den beißenden Spott des Extrasinns eingehandelt. Ein Signal wies auf das Ende der Hyperetappe hin. Die Aggregate des Kardenmo-
Vorstoß nach Kopaar ghers verzeichneten eine Störung durch den Trichter. »Die Abweichung liegt bei einem halben Lichtmonat«, erklärte DENMOGH in das Knattern der Strukturtaster hinein. »Keine temporale Abweichung.« Es hatte keine Transmission und kein Flug durch eine Raum-Zeit-Verzerrung stattgefunden. »Wir rühren uns nicht«, sagte ich. Erst mussten wir wissen, ob es Schiffe in der Nähe des Trichters gab, deren Orter Emissionen unserer fehlgeleiteten Rückkehr empfingen. »Haben wir einen Puls?« »Ist bisher nicht feststellbar«, antwortete DENMOGH. Antriebslos dümpelte der Kardenmogher durch den Leerraum, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde: Alles blieb ruhig. Zusammen mit Kythara nutzte ich die Zeit, den Trichter genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf optischem Weg war nichts zu erkennen. Es stimmte mich ziemlich nachdenklich. Gewöhnlich besaßen fünf- oder höherdimensionale Phänomene des Hyperraums irgendwo einen dreidimensionalen Abdruck im Standarduniversum. Hier war gar nichts. Der Hyperorter unseres Fahrzeugs stellte jedoch eine Ähnlichkeit oder Übereinstimmung der Hyperemissionen mit denen der Schwarzen Substanz fest. Von ihr entdeckten wir allerdings keine noch so winzige Spur. Aber auf der anderen Seite der Trichterspitze entdeckten wir in knapp einer halben Lichtwoche Entfernung einen Golfballraumer. »Wir haben den Puls!«, sagte Kythara plötzlich. Das Phänomen war uns inzwischen bestens vertraut. Mit der Präzision eines kosmischen Uhrwerks wechselte die Intensität der Emissionen alle 1,3753 Sekunden. Ich hatte schon damit gerechnet. Das Knattern der Strukturtaster war ein deutlicher Hinweis gewesen. »Es finden keine Transitionen statt«, stell-
27 te ich nach mehrfacher Überprüfung fest. Ein simpler Türöffner also? Ich wandte mich an Farangon. »Ist es das, was du mit ›Hintertür‹ gemeint hast?« »Ich wäre froh, wenn ich deine Frage mit Ja oder Nein beantworten könnte«, lautete die Antwort des Ganjasen. »Aber ich weiß es nicht.« Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, als wiche er mir aus. »Was schlägst du vor?«, wollte Kythara von mir wissen. »Wir warten. So lange, bis sich etwas tut. Irgendwann muss hier einer auftauchen, ein Herzog oder ein Lordrichter …« Es dauerte mehr als acht Stunden. Der 19. Juli brach an. An der Spitze des Trichters materialisierte ein Transportquader mit zwei Kilometern Kantenlänge. Er trat mit annähernd fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit aus dem Hyperraum aus. Einen winzigen Augenblick lang fing die Bildaufzeichnung des Kardenmoghers einen dünnen Leuchtfaden auf, der die Spitze des Trichters mit dem Quader verband. Dann war er auch schon verschwunden. »Wir sind nicht nah genug dran«, stellte Farangon fest. »Der Emissionseffekt der Leuchterscheinung lässt sich von hier aus nicht untersuchen.« Zwei weitere Materialisationen fanden statt. Alle drei Schiffe flogen ohne Aufenthalt Richtung Kopaar weiter. »Es ist Zeit, einen Plan für unser weiteres Vorgehen zu entwickeln«, sagte ich, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Farangon dachte vermutlich, wir wollten in den Hypertrichter eindringen, um zum Dunkelstem oder ins Standarduniversum zu gelangen. Ohne jedes Wissen über die Funktionsweise des Trichters erschien mir das zu gefährlich. Wenn schon, dann brauchten wir zuvor das Wissen eines Piloten, der ein solches Transportschiff flog. Heroshan Offshanor ahnte als Erster, worauf ich hinauswollte. »Ich bin einverstanden«, erklärte der Kommandant der MORYR.
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6. Atlan lebend in seine Gewalt bringen, so lautete der Auftrag des Lordrichters. Zwangsläufig ergab sich daraus, dass sie auch der Varganin namens Kythara habhaft werden mussten, und sei es als Lockvogel, damit der Arkonide auf ihre Forderungen einging. Die anderen Insassen der AMENSOON spielten in den Überlegungen des Lordrichters und damit in denen des Erzherzogs keine Rolle. Ob sie am Leben blieben oder als lästige Zeugen den Weg durch die Schleuse antraten, interessierte niemanden in Gantatryn. Wieder nahm Garbgursha die kleine Kugel aus dem Etui und starrte auf die milchige Oberfläche. Undeutlich bildete sich sein Gesicht darin ab. Das Hologramm über der Kugel blieb weiterhin leer. Die AMENSOON war noch nicht angekommen, die Falle nicht zugeschnappt. Der Zeitpunkt zum Zuschlagen ließ noch auf sich warten. Für Erzherzog Garbgursha gehörte das Warten auf den günstigsten Zeitpunkt zum Alltagsgeschäft. Der Lordrichter hatte seinen besten Doppelagenten im Einsatz, der die Vorarbeit leistete. Parallel dazu bereiteten Garbgursha und die Teams die perfekte Falle vor. Probeläufe der einzelnen Systeme fraßen endlose Energiemengen auf, aber die Bereitschaftsmeldungen wogen alles andere wieder auf. Der Countdown lief. Wann genau die AMENSOON eintreffen würde, ließ sich derzeit nicht vorhersagen. Informationen dazu lagen nicht vor. Garbgursha zog daraus den Schluss, dass der Agent keine Verbindung zur Außenwelt herstellen konnte, ohne sich zu verraten. Also mussten sie warten, die stündlichen Testmeldungen entgegennehmen, immer wieder die Ist-Werte mit den Soll-Werten der Techniker vergleichen und Warnungen nachgehen. Zweimal musste in diesen Tagen des Wartens ein Konverter ausgetauscht
werden, einmal ein Steuergerät im Bereich der Energiezapfung. Viermal versagten Konvikter für den Aufriss des Hyperraums und die Krümmung der Raum-Zeit-Struktur. Garbgursha gab Anweisung, die Hauptsysteme von dreifacher auf vierfache Redundanz aufzustocken und die Steueranlagen gleichzeitig von einem halben Dutzend Zentralen aus überwachen zu lassen. Dann endlich hatte er Grund, sich zufrieden zurückzulehnen, und tat es doch nicht. Die Sache mit dem Shiruh ging ihm nicht aus dem Kopf. Wenn es sich um einen Agenten der Gegenseite handelte, konnte die Falle jetzt nicht mehr zuschnappen. Ein Zaqoor als Überläufer? Erzherzog Garbgursha verneinte eine solche Möglichkeit entschieden. Seine Gedanken wanderten weiter zu einem anderen Gestaltwandler. Heronar hatte sich in der Vergangenheit als fast ebenso mächtig erwiesen wie sein Freund, der Lordrichter. Die beiden verband mehr als nur eine dienstliche Beziehung, da war sich Garbgursha inzwischen sicher. Der Erzherzog erinnerte sich an die Feier auf Treizen-Apkat …
* Das Gelände erstreckte sich über den halben Kontinent. Eingerahmt von Raumschiffen der Garbyor, ragten inselgroße Hologramme in den Himmel. Sie stellten berühmte Bauwerke verschiedener Planeten dar. Auch die Ruinen der Rhoarxi auf Fenxen befanden sich darunter. Erzherzog Garbgursha hielt das für nicht angemessen. Auf Fenxen gab es keine Kolonie, nichts und niemanden, mit dem man Handel hätte treiben können. Gleichzeitig verstand er aber, was Lordrichter Yagul Mahuur den Togronen damit sagen wollte. Wenn sie die Warnung verstanden, war es gut. Wenn nicht, würde es diesem Volk zum Nachteil gereichen. Die Reibereien zwischen Garbyor und Togronen nahmen in letzter Zeit zu. Das an-
Vorstoß nach Kopaar nähernd humanoide Volk reagierte sensibel auf den militärischen Druck, den die Flotten der Garbyor in Gantatryn erzeugten. Immer wieder tauchten Togronen auf und provozierten. Oder ließen sich provozieren. Mehrere planetare Stützpunkte der Garbyor waren vernichtet worden, von Felsstürzen, von Flutkatastrophen, von Vulkanausbrüchen. Die Togronen steckten dahinter. Sie setzten ihre Waffen nie direkt gegen die Garbyor ein, aber sie erzeugten geologische Katastrophen, mit deren Hilfe sie dasselbe Ziel erreichten. Garbgursha wusste, dass Yagul Mahuur nicht mehr lange zusehen würde. Er hatte Heronar geschickt, aber den hatten sie davongejagt. Inzwischen hatte es sich aber herumgesprochen, warum er sie aufgesucht hatte. Es sollte eine gemeinsame Feier werden. Sie sollte den Willen aller Beteiligten zum Ausdruck bringen, in dieser Galaxis friedlich miteinander zu leben. Die Togronen hatten keinen Alleinvertretungsanspruch, die Varganen auch nicht. Letztere wären nicht einmal auf den Gedanken gekommen, einen solchen zu erheben. Wenn sie gewusst hätten … Erzherzog Garbgursha verriet es ihnen selbstverständlich nicht. Auf keiner Welt kannten sie noch die großen Taten ihrer Vorväter. Sie wussten nicht um die Artefakte der Varganen, die auf vielen Welten lagerten. Sie kannten nicht einmal die vielen Stationen und hatten keine Ahnung, dass ihre Vorfahren Rebellen gewesen waren. Rebellen gegen den Willen des eigenen Volkes, das in den Mikrokosmos zurückgekehrt war. Dennoch hatten die Heimkehrer nicht alle Türen hinter sich zugeschlagen. Sie hielten Brücken offen, Brücken in den Mikrokosmos. Eine der dazu notwendigen Maschinen stand auf Kopaar. Zumindest glaubte Garbgursha an solche Zusammenhänge. Beweisen ließen sie sich wohl erst, wenn alle Artefakte erforscht waren und die Garbyor die technischen Zusam-
29 menhänge zwischen den Artefakten begriffen hatten. Wie lange das noch dauerte, vermochte der Erzherzog ebenso wenig wie die Wissenschaftler auf Kopaar und in der AnaksaStation zu sagen. Fest stand nur, dass Lordrichter Yagul Mahuur immer ungeduldiger wurde. Auf Heronar färbte es gewaltig ab. Der Vertraute des Lordrichters raste mit seiner Schwebeplattform über das Land von Treizen-Apkat, als seien alle Teufel des Universums hinter ihm her. Er schonte keinen seiner Mitarbeiter, verhielt sich gegenüber den Varganen mürrisch und bat die Togronen um Geduld. »Erzherzog Garbgursha«, meldete er sich über Funk, kaum dass er an der GARBONZYN vorbeigerast war, »ich brauche binnen Stundenfrist zwei Projektionsfelder, so groß wie der Hauptplatz von Apkat.« Garbgursha hielt sich zu diesem Zeitpunkt am Fuß der Steilhänge auf, um die Felsmassen mit Prallfeldern zu sichern. Eine Prüfung des Gesteins hatte ergeben, dass das Plateau den großen Massen der Schiffe und der Lebewesen nicht gewachsen sein könnte. »Ich lasse sie bringen. Es dauert zwei Stunden, bis sie aus dem Orbit herbeigeschafft sind.« »Das dauert zu lange.« »Tut mir Leid. Es geht nicht anders. Dann müssen wir den Beginn der Feier verschieben. Die Sicherheit der Teilnehmer geht vor.« »Ich lasse jeden hinrichten, der sich meinen Anordnungen widersetzt!«, tobte der Zaqoor. »Verstanden!« Garbgursha sah keinen Sinn darin, sich mit dem Vertrauten des Lordrichters zu streiten. Und er fragte sich, woher Heronar die Frechheit nahm, selbst Hinrichtungen zu verfügen. Er muss übergeschnappt sein, überlegte Garbgursha. Die ständige Nähe zu Yagul Mahuur ist ihm in den Kopf gestiegen. Er redet schon, als sei er selbst der Lordrichter.
30 Der Erzherzog beschloss, ab sofort ein wenig mehr auf Distanz zu dem Artgenossen zu gehen. Selbst wenn er als Vertrauter des Lordrichters hohes Ansehen genoss, war er noch lange nicht unfehlbar. Yagul Mahuur würde sich Amtsanmaßung nicht bieten lassen, die seine eigene Position schwächte. Garbgursha orderte die Felder samt Projektoren. Zwei Kampfgleiter schafften sie unter Lebensgefahr aus den Schiffen im Orbit herbei. Trotz dieser Hast benötigten sie dazu eineinhalb Stunden. Der Beginn der Feier wurde verschoben, und Heronar ließ kein Wort der Kritik verlauten. Der Erzherzog suchte den Pavillon für die Ehrengäste auf. Heronar eilte hektisch von einer Katakombe zur nächsten. Garbyor hörte das Gebrüll mehrerer Togronen, gefolgt von Schüssen. Auf der gegenüberliegenden Fassade der Pyramidenprojektion zeichneten sich die Silhouetten vorbeirasender Kampfroboter ab. Dem dumpfen Geballer folgte ein leises, deutlich kürzeres Zischen. Heronar tauchte auf. Ohne Garbgursha auch nur einen Blick zu widmen, vollzog er die Metamorphose vom Zaqoor zum Varganen. »Die Feier findet ohne Togronen statt«, sagte Veschnaron. »Ich informiere die Abgesandten.« Garbgursha nahm es mit einem zustimmenden Senken der rechten Handfläche zur Kenntnis. Längst waren die letzten Vorbereitungen abgeschlossen, seine Aufgabe damit beendet. Die Demontage nach der Feier würden die Roboter seiner Flotte besorgen. Einen Teil der Projektoren und Anlagen wollte Yagul Mahuur den Einheimischen zum Geschenk machen. Während die ersten Hologramme aufleuchteten und den Himmel von Horizont zu Horizont in eine bunte Weltenlandschaft verwandelten, nahm Garbgursha in dem für ihn vorgesehenen Sessel Platz. Nach einer Weile kehrte Veschnaron zurück. Ihm folgte die Delegation der Varganen-Nachfahren, die auf der rechten Seite des Throns Platz nahmen. Die linke Seite
Arndt Ellmer füllte sich mit den Kommandanten der Garbyor. Ein eisiger Wind im Nacken zeigte Garbgursha an, dass der Lordrichter eingetroffen war. Das Eishaarfeld schwebte hinauf zu dem Thron und blieb über ihm hängen. »Du hast alles getan, damit die Feier schnell beginnen kann«, hörte er die klirrende Stimme Yagul Mahuurs und wusste sofort, dass der Lordrichter ihn direkt ansprach. Garbgursha senkte den Kopf zum Zeichen seiner Zustimmung. »Mit allen Einschränkungen, die man in einem solchen Fall kalkulieren muss.« Er warf einen Blick zur Seite, sah durch einen der Ausgänge die Roboter, wie sie sich mit dem Abtransport der Toten mühten. »Entschuldigt mich einen Augenblick. Draußen scheint es Probleme zu geben.« So schnell die stämmigen Beine ihn trugen, eilte er ins Freie. Die Roboter wussten nicht, wohin sie die Toten bringen sollten. »So schnell wie möglich ins All«, entschied der Erzherzog. »Die Togronen dürfen keinen Grund haben, auf Treizen-Apkat zu landen. Bugsiert die Leichen in ihre Schiffe und versenkt diese anschließend in einer Sonne, mindestens dreißig Lichtjahre von hier entfernt. Wenn jemand fragt, die Delegation ist nie hier angekommen.« Er wollte zu seinem Sessel zurückkehren, dann entschied er sich doch für die Katakomben. Er folgte den noch vorhandenen Blutspuren. Ganz am Ende des Ganges fand er in einem der Ruheräume Heronar. Der Zaqoor schien bei Bewusstsein, aber er rührte sich nicht. Ein Feld schirmte ihn gegen alles ab. Er hörte nicht, was draußen vor sich ging, er sah es auch nicht. Als er sich bewegen wollte, konnte er nicht einmal die Finger rühren. Erzherzog Garbgursha wollte schier in den Boden versinken. Was er sah, war so unglaublich, dass sein Verstand es nicht akzeptieren wollte. Da lag der Vertraute des Lordrichters in einem Abschirmfeld gefangen …
Vorstoß nach Kopaar
31
War es die Strafe dafür, dass er die Togronen getötet hatte? Garbgursha hätte viel darum gegeben, es zu wissen. Oder doch lieber nicht? Was ging es ihn an? Er sieht mich nicht, und er hört mich nicht. Also weiß er später auch nicht, dass ich ihn in diesem Zustand entdeckt habe. Der Erzherzog kehrte auf die Tribüne des Pavillons zurück. Er ließ sich nichts anmerken, aber das Gesehene ging ihm noch lange durch den Kopf. Er hatte das Gefühl, auf einen wirklich wichtigen Hinweis gestoßen zu sein, der das Mysterium von Trodar betraf. Doch er war sich nicht sicher, ob er wirklich genauer darüber nachdenken sollte …
* »Ein Oktaederschiff? Bist du ganz sicher?« »Ja, Herr!« Garbgursha konnte es kaum erwarten. Übergangslos war alles weggewischt, was ihn bewegte. Das Verhalten Heronars, die Anordnungen des Lordrichters – was spielten sie jetzt noch für eine Rolle? Auf dem Bildschirm wanderten die Daten entlang, rasend schnell, wie er mit den Augen seines humanoiden Körpers feststellte. Seine Finger huschten über das Eingabefeld, justierten die vorhandenen Daten über das Varganenschiff so, dass er sie möglichst schnell mit den Orterdaten in Deckung brachte. Leicht vornübergebeugt stand der Erzherzog da, Hitze im Nacken. Seine Ohren glühten, die Augen fingen vor Erregung an zu brennen. Als er schon nicht mehr daran glaubte, kamen die überblendeten Daten und Grafiken endlich zum Stillstand. Sie zeigten eine hundertprozentige Übereinstimmung. »Es ist die AMENSOON!« Garbgursha sprach es beinahe ehrfürchtig aus. »Sie geht in den Ortungsschutz von Shuken«, meldete der Daorghor an der Ortung.
»Countdown-Ende!« Mehr sagte Garbgursha nicht. Die kurze Anweisung brachte etwas ins Rollen, wovon er selbst sich am wenigsten eine Vorstellung machte. Es wusste nur, dass sich etwas Gigantisches ereignen würde. Die Meldungen vom zentralen Umsetzer auf Kopaar hörten sich für ihn wie ein Bericht aus ferner Zukunft an. »Der Umsetzer übernimmt die Kontrolle über alle Peripherien. Die Sechs-D-Filter der Energiespeicher werden aktiviert. Das Krümmungspotenzial baut sich auf. In wenigen Augenblicken ist der Alpha-Punkt erreicht.« Lediglich mit dem Begriff »Krümmungspotenzial« konnte der Erzherzog etwas anfangen. Er hatte ihn bei der Lagebesprechung hoch über dem Dunkelstern gehört. Er beinhaltete den gesamten Vorgang, an dessen Anfang sie soeben standen. »Raumkrümmung im globalen Maßstab« hatte einer der Shiruh-Techniker es genannt. Garbgursha stellte es sich ungefähr so vor, als würde er eine Zeltplane an den vier Enden packen und diese nach unten ziehen, bis ein kleiner, kugelförmiger Innenraum entstand. Damit es ohne Fehler klappte, durfte er die Plane aber nicht an den vier Enden halten, sondern gleichmäßig rundherum. Dazu brauchte er ungefähr vier Dutzend Arme, und selbst dann gab es noch Lücken. Der Vergleich hinkte, aber er half ihm. Er wusste jetzt, dass die Arme des Umsetzers aus über viertausend Konviktern bestanden, von denen kein einziger ausfallen durfte. Lief das System erst im Dauerbetrieb, mussten permanent redundante Ersatz-Konvikter im Wechselpulsverfahren arbeiten, um beim Ausfall eines einzigen keine Störung des Gesamtsystems zu verursachen. Dennoch riss ihm das, was sich innerhalb kurzer Zeit entwickelte, fast die Beine unter dem Leib weg. Überall auf und über Kopaar schlugen die Taster und Orter aus. Ein schweres Raumbeben erschütterte übergangslos den gesamten Sektor mit mehreren hundert Lichtjahren
32 Durchmesser. Fassungslos nahm Garbgursha den Gleichmut der Wissenschaftler zur Kenntnis, ihre nüchterne Distanz, die sie sich zu diesem atypischen Beben bewahrten. »Atypisch« umriss nur dürftig das, was sich tatsächlich ereignete. Da schaukelte sich ein gewaltiges Beben auf, das keinen lokalisierbaren Ursprung besaß. Es kam von überall zugleich, während sich der Raum dahinter immer stärker krümmte. Ein wenig, so glaubte Erzherzog Garbgursha aus der Reihenfolge der Daten zu erkennen, lenkte das Beben auch von der Krümmungszone ab. Vielleicht war das der Grund, warum sich das Oktaederschiff am Roten Zwerg nicht rührte. Es unternahm keinen Fluchtversuch. Der wäre vermutlich auch sinnlos gewesen, denn schon zwei, drei Minuten nach der optimalen Entfaltung des Gesamtkonvikts konnte ein solcher Versuch im Nichts enden. Die Vorstellung, für alle Zeiten im Hyperraum zu stranden, half bestimmt nicht nur dem Arkoniden dabei, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Der Erzherzog dankte den Insassen des Oktaederschiffs für ihre Weitsicht. Hätten sie in ihrer Verzweiflung einen Ausbruch versucht, wären sie womöglich umgekommen. Lordrichter Yagul Mahuur hätte dem Erzherzog eine solche Nachricht nie verziehen. »Ein umsichtiger Feind ist ein guter Feind«, lautete eine alte Weisheit der Garbyor. Voller Ungeduld wartete Erzherzog Garbgursha darauf, dass der Vorgang der Raumkrümmung endlich abgeschlossen war und sich das Mikrouniversum gefestigt hatte. »Die Falle ist endgültig zugeschnappt«, meldete der Shiruh-Cheftechniker aus der Steuerzentrale Kopaars. »Jetzt kann keiner mehr hinaus.« Das Raumbeben klang nach und nach aus. So gleichmäßig, wie es von allen Seiten gekommen war, verschwand es wie durch ein Sieb, mit unendlich vielen Löchern.
Arndt Ellmer
* »An alle Einheiten! Die AMENSOON verlässt den Ortungsschutz von Shuken!« Sofort stürzte sich ein Schwarm Golfballraumer auf das Oktaeder und nahm die Verfolgung auf. Garbgursha mischte sich unauffällig unter sie. Ein paar Stunden begleitete er die sinnlose Jagd. Auf diese Weise würden die Garbyor nie an Atlan und Kythara herankommen. Dennoch ließ der Erzherzog die Verfolgung weiterlaufen. Sie würden ihm nicht entkommen, mochten sie auch noch so rätseln, wie es den Horden von Garb gelang, ihre Spur niemals zu verlieren. Und selbst wenn sie ein spezielles Ortungsgerät als Möglichkeit in Betracht zogen – ihnen fehlte jedweder Hinweis darauf, worum es sich handeln könnte und wo es sich befinden mochte. Nein, er vermochte jederzeit die Position des getarnten Schiffes auszumachen und die Schiffe seiner Streitmacht entsprechend zu dirigieren. Irgendwann würde auch ein Wesen wie Atlan die sinnlose Jagd satt haben. Dann musste er handeln, würde sich – auch völlig nach Plan – aus der Reserve locken lassen. Er würde Fehler machen und irgendwann versuchen, nach Kopaar durchzubrechen. Dort boten sich zahlreiche Möglichkeiten, ihn gefangen zu nehmen. Erzherzog Garbgursha mahnte seine Soldaten zur Geduld. Selbst wenn Tage vergingen, hatte das nichts zu bedeuten. Die AMENSOON hatte nur eine Chance. Es sei denn, sie stürzte sich mitsamt ihrer Mannschaft in eine der Sonnen. Sie kam! Erst sah es aus, als wolle sie nach Kopaar durchbrechen. Aber dann schwenkte sie ab, suchte ihr Heil in der Flucht, raste dem Rand des Mikrokosmos entgegen, vollführte zahllose Hyperraummanöver und verschwand schließlich von den Ortern und Tastern der Garbyor. »Keine Bange, sie ist noch da!«, verkündete Garbgursha über den Flottenfunk. Das
Vorstoß nach Kopaar Hologramm der kleinen Kugel zeigte es deutlich. Wie hätte sie auch fliehen sollen? Das Oktaeder besaß seines Wissens keine Möglichkeit, aus dem Mikrokosmos auszubrechen und gleichzeitig die Verkleinerung rückgängig zu machen. Ein Fluchtversuch endete unweigerlich im Tod der Besatzung und der Zerstörung des Schiffes. Natürlich wussten Wesen wie Atlan und Kythara das. Garbgursha rätselte, wieso sich die AMENSOON so lange Zeit ließ. Es machte den Erzherzog nervös. Er untersagte allen Shiruh, die nicht zur Besatzung gehörten, den Zutritt zum Flaggschiff. Und er schickte zusätzliche Patrouillen aus, Geschwader aus Beibooten und kleinen Raumjägern, die im Schutz ihrer Antiortungsfelder das Oktaeder einzukreisen suchten. Sie entdeckten ein fremdes Kleinfahrzeug von der Form eines 24-zackigen doppelten Kegelstumpfs, das sich in unmittelbarem Anflug auf Kopaar befand. »Datenspeicher, was ist das für ein Schiff?« Garbgursha verschluckte sich fast. »Typ unbekannt. Kleines Beiboot oder hochwertiges Fernraumschiff.« Der Erzherzog wollte es nicht wahrhaben. »Es muss in einem Zusammenhang mit der AMENSOON stehen.« Der Automat war anderer Ansicht. »Der Kurs der Kleinfahrzeugs weist keine Übereinstimmungen mit der Position des Oktaeders auf.« »Es muss aus dem Ortungsschutz von Jakeel oder Shuken kommen, den beiden bekannten bisherigen Standortsonnen der AMENSOON!«, beharrte Garbgursha. »Das ist möglich, aber nicht nachweisbar.« Erst einmal deutete alles auf einen raffinierten Plan des Arkoniden hin. Bei näherem Hinsehen allerdings stiegen Zweifel in dem Zaqoor hoch. Wenn es sich um einen Zufall handelte, wer lenkte dann das kleine Schiff? Cappins? Varganen, von denen es noch immer unentdeckte Populationen in Gantatryn gab?
33 Oder handelte es sich um aggressive Togronen, mit denen die Garbyor immer häufiger und heftiger aneinander gerieten? Nein, das fremde Fahrzeug deutete eher auf eine bisher unbekannte Macht oder Machtgruppe hin. »Vielleicht handelt es sich um die AMENSOON in einem Tarnschirm«, bemerkte einer der Piloten der GARB-ONZYN. »Unsinn! Die Position der AMENSOON wird nach wie vor exakt angezeigt.« Damit war der Fall für Garbgursha fast schon klar. Er hetzte seine Schiffe hinter dem Ding her. Das Ergebnis war ähnlich wie bei der AMENSOON. Die Garbyor konnten es nicht stellen, im Gegenteil, sie verloren drei Schiffe bei dem Versuch, den Doppelkegelstumpf an der Trennschicht zwischen den Dimensionen einzufangen. Das fremde Ding war stabiler und die Insassen klüger als die Garbyor in ihren Schiffen. Das wiederum deutete auf eine Verbindung mit den Varganen hin. Erzherzog Garbgursha kehrte mit seinem Schiff in einen Orbit über Kopaar zurück. Von jetzt an mussten sie doppelt und dreifach vorsichtig sein, sollte der Plan aufgehen. Im Gedanken, dass die AMENSOON irgendwann dicht über dem dritten Planeten auftauchen musste, leitete Garbgursha die nächste Phase ein. »Öffnet den Hypertunnel!«, befahl er den Shiruh auf der Oberfläche des Planeten.
7. Ein drei Kilometer langes Gitterschiff materialisierte, das erste seit zwölf Stunden. »Endlich!«, seufzte Kythara und schüttelte ihre hüftlange Goldlockenmähne. Dabei warf sie mir einen beinahe lasziven Blick zu. Mir wurde ganz anders. Ein typischer Fall von Selbsthypnose!, mäkelte der Extrasinn. Sie schaut alles andere als lasziv. Eher nachdenklich und gleichzeitig neugierig. »Wir nehmen den Kahn«, sagte ich.
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Farangon hob keineswegs überrascht den Kopf, stimmte mir dann mit einem Senken der Augenlider zu. »Ich hätte das auch vorgeschlagen.« Er bemühte sich augenscheinlich um Harmonie mit uns. »Wir liegen an der maximalen Entfernungsgrenze«, wandte Offshanor ein. »Wir sollten ein Stück näher heran.« »Bis dahin kann das Schiff schon weg sein«, hielt ich ihm entgegen. »Außerdem ist damit zu rechnen, dass ein Hyperraummanöver in dieser Umgebung zu unkalkulierbaren Emissionen oder Echos führt. Die Garbyor wissen sie garantiert zu deuten.« Der Ganjase stimmte mir zu, aber in seinem Gesicht las ich schwere Bedenken. Es war nicht nur die Entfernung, die ihm zu schaffen machte. Je fremdartiger das von ihm zu übernehmende Wesen war, desto schwieriger wurde es für ihn. Im schlimmsten Fall musste er den Vorgang der Pedotransferierung abbrechen und fand – wenn er Pech hatte – den Weg zurück in den eigenen Körper nicht mehr. Oder er löste bei einer gewaltsamen oder hektischen Übernahme des Opfers den Todesimpuls von dessen Implantat aus und starb mit dem Opfer. In jedem Fall war es äußerst gewagt, wozu er sich bereit erklärt hatte. Andererseits konnten wir nicht warten. Zu lange schon hielten wir uns in diesem künstlichen Mikrokosmos auf, in dem die Garbyor uns gefangen hatten. Vielleicht war der Lordrichter schon auf Kopaar eingetroffen. Dann sah er sich besser vor. Wenn unser Vorhaben klappte, von dem Farangon noch immer nichts Konkretes wusste, dann dauerte unser Aufenthalt hier nicht mehr lange. Heroshan Offshanor nickte uns ein letztes Mal zu. Einer der Cappins des Elite-Teams brachte die Wanne und stellte sie vor der Wand auf den Boden.
* Offshanor sah noch immer die Blicke der
Anwesenden auf sich gerichtet, teils erwartungsvoll, teils zweifelnd. Die Gesichter seiner Artgenossen drückten ohne Ausnahme Zuversicht aus, selbst Farangons. »Ich gehe jetzt!« Der Kommandant der MORYR stieg in die Wanne und schloss die Augen, nicht, weil er es nicht mit ansehen konnte, sondern um die Augen feucht zu halten. »Wenn es nicht klappt, gebe ich ein Zeichen. Wir müssen dann näher heran.« Atlan nickte, und Kythara verschränkte die Arme. Offshanor schickte sein Bewusstsein auf die Reise. Es war nicht leicht, in der Nähe einer hyperphysikalischen Erscheinung – in diesem Fall dem Materialisationstrichter – einen Bewusstseinstransfer herbeizuführen. Die Gefahr, das Bewusstsein in einem kritischen Augenblick nicht mehr in den eigenen Körper zurückführen zu können, war viel größer, als er die Gefährten glauben gemacht hatte. Gleichzeitig hatte seine Aussage allerdings auch dazu gedient, Farangon eine gewisse Nachlässigkeit vorzutäuschen. Vielleicht führte es dazu, dass der Ganjase seinerseits leichtsinnig wurde. Offshanor konzentrierte sich. Als Folge davon spürte er ein leichtes Kribbeln im Kopf. Es wanderte hinab zum Nacken, einem der wichtigsten neuronalen Knotenzentren. Von dort verteilte es sich über den ganzen Körper. Es war, als löse sich durch dieses Kribbeln eine Sperre, die im Alltagsleben nicht zu existieren schien. »Gute Reise!«, hörte er Atlan sagen. Im nächsten Augenblick sah er sich selbst von oben. Das war jedes Mal aufs Neue eine seltsame Perspektive. Der Kopf mit der Wölbung des Körpers darunter wirkte wie ein abgestellter Sack, der langsam in die Breite ging. Der Cappinkörper fing an, seinen molekularen Halt zu verlieren, wurde zu einer blasig aufgeschäumten, amorphen Masse. Offshanor löste sein Bewusstsein endgültig vom Körper. Er wusste, dass außer den Kleidern und einem Gallertklumpen nichts
Vorstoß nach Kopaar übrig blieb. Bei der Rückkehr der Seele in den Körper würde sich dieser aber innerhalb von Sekunden wieder in der ursprünglichen Form rekonstruieren. Das genetische Programm blieb vorhanden, dem Organismus fehlte lediglich die Spannkraft. Die Natur ließ in ihrem Evolutionsprogramm solche Möglichkeiten zu, nicht bei allen Völkern, aber bei manchen. Manche beschritten einen Jahrhunderttausende dauernden Weg zur körperlosen Intelligenz, andere entdeckten Psi-Gaben in sich oder bildeten diese aus dem genetischen Pool heraus. Die meisten Völker, die Offshanor kannte, setzten solche Fähigkeiten zum Wohl der Allgemeinheit ein. Es gab auch Ausnahmen, wie die Lordrichter wohl eine darstellten. Ob dahinter ein ganzes Volk steckte oder Individuen eines Volkes oder nur eine Person, das wusste bisher niemand. Fest stand nur, dass die so genannten Lordrichter von Garb ihre Fähigkeiten dazu benutzten, um möglichst viele Völker zu unterjochen beziehungsweise in ihre Herrschaftsstrukturen einzubinden. Warum sie es ausgerechnet auf den Arkoniden Atlan abgesehen hatten, das blieb dem Cappin allerdings ebenso ein Rätsel wie Atlan selbst. Offshanors Bewusstsein wechselte in jenen unerforschten Teil des Hyperspektrums, in dem es noch keine Sonden und Zapfvorrichtungen gab. Nichts störte das Kontinuum. Hier war es warm und ruhig, ein endloser fünfdimensionaler See, aus dessen Tiefe man an jeden Ort jedes Universums gelangen konnte. Oder sich verlor, wenn man das Ziel nicht fand. In diesem Fall kannte Offshanor die dreidimensionalen Koordinaten des Ziels, nicht aber den Weg, wie er an dieses Ziel gelangen konnte. Er entdeckte Hunderte von psionischen Abdrücken, lauter verschwindend kleine Tropfen in der glatten Oberfläche des psionischen Gewässers. Er betastete sie mit seinen Gedanken, lauschte in ihr Inneres, bis er den richtigen fand.
35 Kommandant des Gitterschiffes LAQAM GARB war ein Daorghor mit Namen Endaloger Qam, eines von vielen Insektenwesen der großen Gemeinschaft von Garb. Endaloger Qam flog das Gitterschiff seit mehr als zehn Jahren, und immer wieder kam er nach Kopaar. In letzter Zeit gehörte die Route Galadat-Kopaar zu seinen meistbefahrenen Strecken. Auch heute kam er mit technischem Gerät. Wie immer pflegte er die Sorgfalt vor der Gewohnheit. Das Gitterschiff blieb für eine knappe Stunde im Unterlichtflug. Qam kommunizierte mit der automatischen Programmstation in drei Lichttagen Entfernung, anschließend wechselte er ein paar Sätze mit der Mannschaft eines Golfballraumers, der einsam auf der entgegengesetzten Seite der Trichtermündung seine Bahn zog. Offshanor hielt sich im Hintergrund des Bewusstseins. Er kannte die Probleme mit dem Todesimplantat der Garbyor. Wenn er sich zu weit nach vorn wagte, aktivierte er den Todesimpuls. Oder seine psionischen Aktivitäten im Bewusstsein des Wesens führten zu einer Abschaltung des Implantats. Der Ganjase suchte nach einer Möglichkeit, den Daorghor dennoch zu beeinflussen. Er weckte leise Sehnsüchte in ihm, etwa die Lust auf einen Spaziergang »an Deck« über eine der Hochbrücken, die die einzelnen Sektionen der Gitterkonstruktion miteinander verbanden. Um es richtig genießen zu können, benötigte die LAQAM GARB einen Aufenthalt von mindestens zwei Stunden. Qam entschloss sich für die Pause. Er ordnete eine Triebwerksüberholung an, schickte einen Funkspruch nach Kopaar und kündigte seine Ankunft für den Nachmittag an. Gleichzeitig übermittelte er das Schiffslog mit der vollständigen Aufzeichnung aller Vorgänge vor, während und nach dem Transfer. Das meiste davon war ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Sollten sich die Wissenschaftler auf dem dritten Planeten damit herumschlagen. Er war Kommandant und Steuermann. Er trug für die Ladung Sorge, alles andere lag außerhalb seines Ein-
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flussbereichs. Qam verließ die Steuerzentrale und machte sich auf den Weg. Ein einziges Mal hielt er kurz an und fragte sich, was er hier tat. Aber dann spürte er wieder dieses unwiderstehliche Verlangen in sich, die Brücke zu beschreiten. Ein halbes Dutzend Besatzungsmitglieder hielt sich im Freien auf. Sie untersuchten die Vertäuung, prüften die Halterungen der Stahlseilrollen. Bei Flügen durch den Hypertrichter benutzten sie ausschließlich mechanische Systeme. In den ersten Stunden der Flugverbindung hatten die offenen Transporter bis zu fünfzig Prozent ihrer Ladung verloren, weil die Magnetsysteme und die Feldprojektoren versagten. Das Zeug trieb jetzt vermutlich irgendwo im Hypertrichter als Müll herum und bildete die Ursache für die permanenten Kollisionswarnungen. Offshanor ließ Qam die Aussicht genießen. Nach einer Weile wurde der Daorghor des Anblicks überdrüssig. Er schickte die Besatzungsmitglieder unter Deck, kehrte in die Steuerzentrale zurück und ließ diese räumen. Als Nächstes schaltete er alle Möglichkeiten der Außenbeobachtung ab. Ein geraffter und verschlüsselter Funkspruch verließ mit minimaler Sendeleistung das Gitterschiff und traf irgendwo im Nichts sein Ziel. Qam dachte sich nichts dabei, als die neue Ladung einschwebte. Das Containerensemble unterschied sich im Aussehen nicht von dem, was das Gitterschiff geladen hatte. Von der Besatzung trafen erste Anfragen ein. Er beruhigte die Garbyor, versprach ihnen baldige Aufklärung über die geheimnisvollen Vorgänge. Aus der neuen Ladung traf ein Funkspruch ein. Die Aktion versprach ein Erfolg zu werden.
* Es ging alles sehr schnell. Der durchtrainierte Cappinkörper Offshanors sank in sich zusammen. Sein molekulare Halt ging verloren. Knochen, Organe und Gewebe rutsch-
ten zu einem Gallertklumpen zusammen, dem man nur noch am Anzug ansah, dass es sich um ein Intelligenzwesen handelte, nicht um eine Amöbe. Gespannt standen wir im Halbkreis um die Wanne herum und beobachteten das Geschehen. Nur Kythara beteiligte sich nicht daran. Die Varganin beobachtete die Ortungsanzeigen und kommunizierte mit dem Kardenmogher. »Er ist jetzt drüben«, sagte Xarpatosch. »Sobald es geht, tritt er mit uns in Verbindung.« Wir warteten eine halbe Stunde, ohne dass sich etwas tat. Die Gallerte veränderte sich nicht. Sie zuckte nicht, bildete keine Blasen und verdampfte auch nicht. Eine Verfärbung oder Auflösung hätte den Tod des Bewusstseins angezeigt. Nichts geschah. Nach einer Weile verzögerte das Gitterschiff. Emissionen deuteten mehrere Testläufe der Antriebssysteme an. Der Kommandant checkte sein Fahrzeug. »Der Einflug in den Mikrokosmos ist offenbar nicht ungefährlich«, sagte Farangon. »Schaut euch die Nahaufnahme der Ladesektionen an. Alles ist mechanisch vertäut.« Ein kaum messbarer Funkspruch traf ein. Kommandant Qam informierte uns, dass wir andocken konnten. Ich nickte Kythara zu. Der Kardenmogher schob sich im Kriechtempo näher und glich seine Geschwindigkeit an. Über eine Stunde benötigte er für das Manöver. Ich wandte mich an Xarpatosch. »Deine Leute haben freie Hand. Drüben darf keine Rebellion gegen den Kommandanten ausbrechen.« Die Cappins zogen sich mit Ausnahme Farangons zurück. Ihn hielt ich mit einer Handbewegung zurück. »Wir brauchen deinen Rat, sobald wir Kopaar ereicht haben«, machte ich ihm begreiflich. Natürlich ahnte er längst, dass es nicht zurück ins Standarduniversum ging. Vielleicht hatte er es auch von Anfang an gewusst. Immerhin war es sein Hinweis gewesen, der
Vorstoß nach Kopaar uns nach Kopaar geführt hatte. Wenn wir tatsächlich durch die »Hintertür« zum Dunkelstern und in die Anaksa-Station gelangen wollten, führte unser Weg automatisch über den dritten Planeten. Der Kardenmogher baute sich noch während des Anflugs um. Unter den kundigen Anweisungen Kytharas nahm er das Aussehen eines Containerstapels an, der passgenau in eine der Lücken schwebte und dort zur Ruhe kam. Auf den Außenseiten bildeten sich mechanische Klammern und Spangen, die das Ganze mit dem Gestänge des Transporters verbanden. Niemand kam jetzt noch auf die Idee, dass es sich hierbei um das Kleinfahrzeug handelt, das die Golfballraumer durch den Mikrokosmos gejagt hatten. Solange niemand auf die Idee kam, ausgerechnet ins Innere dieser Container zu schauen, ging alles gut. »Es sind außer dem Kommandanten zehn Besatzungsmitglieder an Bord«, meldete Xarpatosch. »Meine Kämpfer haben sie übernommen und beeinflussen sie so sanft wie möglich.« Wir kannten die Risiken. Selbst das Auslösen eines einzigen Todesimpulses würde das Zentrum des Mikrokosmos mit den KopSonnen und Kopaar in Aufruhr versetzen. Am vorderen Teil des Gitterschiffs öffnete sich an der kugelförmigen Steuerzelle eine Schleuse. Die Besatzung gab uns zu verstehen, dass wir an Bord kommen konnten. Flüchtig dachte ich an eine Falle. Immerhin wussten die Garbyor, dass wir in der Nähe waren. Narr, den Cappins kannst du vertrauen! Farangon war auch ein Cappin. In Bezug auf seine Person war ich völlig anderer Meinung.
8. Kopaar kreiste als äußerster von drei Planeten um einen gelben Stern der G8-Klasse. Mit knapp 14.000 Kilometern Durchmesser, einem 26-Stunden-Tag, einer Schwerkraft
37 von 1,09 Gravos und zwei Monden besaß diese Sauerstoffwelt für Arkoniden, Terraner und Cappins recht annehmbare Lebensbedingungen. Das auffälligste Detail war ein Punkt in der Nähe des Äquators, der eine geradezu unglaubliche Energiesignatur aufwies. In der visuellen Ortung entpuppte sich das Ganze als gigantischer Anlagenkomplex von 200 Kilometern Durchmesser. Das entsprach den Ausmaßen einer Megametropole, nur dass sie ausschließlich aus technischen Anlagen bestand. Der Kardenmogher ortete große Mengen von Schwarzer Substanz, doch die gewaltigen Energieausstöße überdeckten teilweise sogar die Gigantwerte, die permanent freigesetzt wurden. Hinzu kamen schwere Strukturerschütterungen, die keinen Zweifel daran ließen, dass Kopaar der Standort eines Umsetzers war, den die Garbyor in praktischen Feldversuchen testeten. Dieses Mal griff uns niemand an. Im Orbit kreiste ein halbes Dutzend Golfballraumer, vermutlich das Wachkontingent für Kopaar. Diese Schiffe hatten nicht in die Jagd nach dem Kardenmogher eingegriffen und sich auch nicht sehen lassen, nachdem die drei Verfolger zerstört waren. »Wir hätten problemlos als verlorene Ladung getarnt herfliegen können«, meinte Kythara. Wie wir alle saß die Varganin in ihrem Sessel und beobachtete gebannt die Bildübertragung. Zwischen der Bodenstation und dem Gitterschiff lief der in solchen Situationen übliche Funkverkehr ab. Der Kommandant übermittelte Kennung und Daten des Schiffes, gab über Ladung und Mannschaft Auskunft. Die Soldaten am Boden überprüften die Angaben, ehe sie die Landeerlaubnis erteilten. Solche Abläufe unterschieden sich höchstens in Details voneinander. Im Großen und Ganzen waren sie aber auf Arkon, Terra, Gatas und Kopaar identisch. Endaloger Qam erregte – natürlich – keinen Verdacht. Der Daorghor merkte nichts von der Anwesenheit eines fremden Be-
38 wusstseins. Er fragte sich höchstens, wieso er in letzter Zeit immer wieder Wünsche hegte, die er sich für gewöhnlich nie während seines Dienstes erfüllte. Die Leitstelle erteilte dem Schiff die Genehmigung. Die LAQAM GARB verließ den Orbit und leitete das Landemanöver ein. Grünlich gelbe Energieblasen umwaberten die Gitterkonstruktion. Das drei Kilometer lange Vehikel erzeugte gehörige Turbulenzen in den obersten Schichten der Atmosphäre. Qam benutzte einen Korridor, der den Transporter hoch über dem Äquator auf eine parallele Bahn brachte. Trotz der starken Prallfeldsysteme wackelte und holperte der Gigant wie auf Treppenstufen abwärts. Auf einem unserer holografischen Monitoren sahen wir die zehn Daorghor, die sich in der Zentrale um ihren Kommandanten geschart hatten. Ihre Gliedmaßen bedienten in wirbelndem Stakkato Steuergeräte, mit denen sie die Fluglage des Vehikels stabilisierten. Inzwischen drang von draußen ein Donnern und Rauschen an unsere Ohren. Gleichzeitig meldete die Ortung, dass die Prallfeldsysteme des Transporters ungleichmäßig arbeiteten. »Kein Wunder bei der Hektik, welche die Daorghor an den Tag legen«, sagte Farangon. »Das ist normal, oder?«, fragte ich. Sein Kopf ruckte herum. »Natürlich. Es liegt an der Konstruktion. Die Gitterschiffe sind von ihrer Ladung her nie völlig ausbalanciert. Eine gewisse Absturzgefahr besteht immer.« Für uns stellte es keinen Trost dar, dass unser Container aus eigener Kraft fliegen konnte, es aber unter den gegebenen Umständen nicht tun durfte. Die Golfballraumer im Orbit hätten sofort Verdacht geschöpft. »Die Flughöhe beträgt derzeit sechzig Kilometer«, verkündete DENMOGH. Das Rütteln verstärkte sich. Der Transporter kippte nach rechts weg. Der Boden erhielt eine Neigung von gut dreißig Grad aus
Arndt Ellmer der Waagrechten. Wir verzichteten auf den Einsatz von Projektoren und klammerten uns an den Sesseln fest. Am Horizont tauchte die erste Signalboje auf, die den Weg zum Raumhafen wies. Für kurze Zeit war der Himmel leer gefegt. Alle Golfballraumer befanden sich unter dem Horizont. Ich ertappte mich dabei, wie ich Farangon verstohlen musterte. Der Ganjase saß entspannt in seinem Sessel. Er wird versuchen, Kontakt mit den Garbyor aufzunehmen, sobald wir gelandet sind, meldete sich mein Extrasinn. Die Daorghor im Transporter und die Cappins im Kardenmogher sind ihm egal. Er will dich und Kythara und vielleicht noch Kalarthras. Kalarthras mit seiner Erfahrung aus der Vergangenheit dieser Galaxis kannte ja vielleicht ein paar Geheimnisse der Varganen. Ähnlich lag der Fall bei Kythara. Und bei mir? Die Tatsache, dass ich einst in meiner Jugend für kurze Zeit in den Mikrokosmos der Varganen verschlagen worden war, konnte unmöglich der Grund für den Aufwand sein, den die Garbyor betrieben. Mit einem hektischen Schwenk kippte der Transporter in eine einigermaßen waagrechte Fluglage zurück. Dafür senkte sich der Bug steil nach unten, als wolle die drei Kilometer lange Konstruktion in einen unkontrollierten Sturzflug übergehen. Farangon klammerte sich bleich an seinem Sessel fest. Vermutlich beschäftigte er sich in Gedanken gerade damit, in welchen Körper er überwechseln könnte, falls sein eigener starb. Inzwischen lag die Flughöhe bei dreißig Kilometern. Bei zwanzig tauchten die ersten Signalstraßen auf. Sie zogen sich über freies Gelände und über die Dachareale der bebauten Zonen. Immer mehr technische Anlagen schoben sich über den Horizont. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um Versorgungsanlagen für die Bevölkerung, nicht jedoch um Anlagen, die zum Umsetzer gehörten. Die hatten die Varganen wohl kaum in die Hauptanflugschneise gesetzt.
Vorstoß nach Kopaar Umgekehrt hätten die Garbyor den Teufel getan, diese Schneise ausgerechnet über ein solches Gebiet zu führen. Zehn Kilometer über Grund erreichte der Transporter den endgültigen Landekorridor. Auf Grund der hohen Beladung und der damit verbundenen Massenträgheit konnte er jetzt nicht mehr vom Kurs abweichen. Und wenn, dann entfachten seine Triebwerke einen Orkan, der mindestens die Hälfte des Kontinents umgrub und alle Bauwerke zerstörte. Türme gerieten in das Blickfeld der Kameras. Sie standen gestaffelt um ein großes Areal verteilt, bildeten grob gesehen ein Hufeisen mit der Öffnung zur Anflugschneise. Eine blanke, spiegelnde Fläche erhob sich über den Horizont, die der Kardenmogher mit einem Durchmesser von etwa 45 Kilometern bezifferte. Die ersten Golfballraumer tauchten auf. Das Gitterschiff sank bis auf zwei Kilometer Höhe nach unten. Synchron dazu dehnte sich der Boden des Raumhafens wie Gummi in alle Richtungen aus. Ein letztes Mal schüttelte sich die LAQAM GARB, dann kam sie relativ zur Planetenrotation zum Stillstand. »Hiermit endet der kontrollierte Absturz«, stellte Xarpatosch fest. Der Transporter sackte durch, fiel fast so schnell wie ein Stein in die Tiefe und wurde schließlich langsamer. Mit einem deutlichen Scheppern und Klirren der Konstruktion setzte er wenig später auf. Linker Hand standen zwölf Golfballraumer, rechts drei Käferraumer der Shiruh, und hinter der LAQAM GARB ragten vier Transporter auf, zwei würfelähnliche Konstruktionen und zwei Gitterschiffe von etwas kleineren Abmessungen. »Willkommen auf Kopaar«, sagte Kythara. »Nächstes Mal bringen wir ein wenig mehr Geduld mit.« Ich richtete meine Aufmerksamkeit in den Hintergrund, wo an der Wand die Wanne stand. Die Gallertmasse fing an zu brodeln. Sie wuchs in die Höhe, nahm nach und nach
39 das Aussehen eines humanoiden Lebewesens an und füllte bald den Anzug aus. Heroshan Offshanor war zurückgekehrt. »Ich schaue kurz vorbei, weil ich euch die Informationen überbringen will, die ich inzwischen besitze«, verkündete der Ganjase hastig, aber klar artikuliert. »Außerdem brauche ich einen neuen Wirt. Endaloger Qam wird gerade von seinen Artgenossen in einen Schutzraum eingesperrt. Aber ihr braucht euch nicht zu sorgen – weder kann er sich aus eigener Kraft befreien, noch ahnt er etwas von meiner Gegenwart.« Er musste wohl unsere skeptischen Blicke bemerkt haben, denn er fuhr fort: »Ich habe es sogar geschafft, vorläufig jeden Verdacht auszuräumen, er sei von einem Pedotransferer übernommen worden. Die Garbyor sind nicht dumm, sie sind sogar übervorsichtig, wenn ich aus den beinahe paranoiden Reaktionen schließen darf. Aber Cappins sind auch nicht dumm. Es dürfte uns in jedem Fall ausreichend Zeit einbringen, bis sie erkennen, dass Qam keineswegs an der Kritterkrack-Neural-Leprose leidet, sondern dass sie mit ihrem Ursprungsverdacht gar nicht so falsch lagen.« Offshanor holte geräuschvoll Luft und blickte triumphierend in die Runde. Er stieg aus der Wanne, machte ein paar Lockerungs- und Bewegungsübungen und ging dann hin und her. »Der Umsetzer steht in der Tat auf Kopaar«, fuhr er fort. »Die Anlagen beginnen gleich hinter dem Raumhafen und erstrecken sich über ein Areal von zweihundert Kilometern Durchmesser. Es handelt sich allerdings nicht um ein varganisches Original. Die Garbyor haben den Umsetzer nachgebaut und ergänzen ihn Zug um Zug mit Varganentechnik. Die Transporter bringen die Einzelteile dieser Technik hierher. Und jetzt haltet euch fest. Der Hypertrichter verbindet den Mikrokosmos mit Ephaiston. Er stellt eine Schleuse dar, die direkt zu dieser Versunkenen Welt der Varganen führt.« »Was ist mit dem ›Projekt Durch-
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Arndt Ellmer
bruch‹?«, fragte ich. »Weißt du darüber etwas?« »Nein. Qam besitzt dazu keine Informationen, auch nicht darüber, was die Garbyor eigentlich im Mikrokosmos der Varganen wollen. Um mehr in Erfahrung zu bringen, mussten wir uns an den Befehlshaber des Stützpunkts wenden.« »Etwa ein Erzherzog?« Ich dachte automatisch an Wesen wie Garbhunar. »Nicht ganz. Er steht im Rang unter einem Erzherzog. Es ist der Marquis Loargant aus dem Volk der Shiruh.« Ein Marquis de Loargant also. Musste ich ihm schon begegnet sein? Oder einem seiner Vorfahren? Der Extrasinn verstand offenbar zur Zeit keinen Spaß und blieb stumm. Als Befehlshaber des Stützpunkts auf Kopaar und damit oberster Chef des Umsetzers verfügte der Marquis garantiert über weitergehende Informationen, etwa über die militärische Organisation der Garbyor. Vielleicht wusste er auch die eine oder andere Einzelheit über die Lordrichter. Ich sah Offshanor an. »Du kümmerst dich selbst darum?« »Ich bin nur zurückgekommen, um euch auf dem Laufenden zu halten. Und jetzt gehe ich wieder.« Sagte es und verabschiedete sich auf die unnachahmliche Weise eines jeden Pedotransferers.
* Diesmal bewegte sich Offshanor besonders vorsichtig. Er fand das Bewusstsein des Marquis als winzige Schaumkrone inmitten eines Ozeans aus psionischen Wellen und Untiefen. Schon bei der Annäherung ließ er äußerste Behutsamkeit walten, wich sowohl der Gischt als auch dem dunklen Sog anderer Bewusstseine aus und sank langsam auf den Shiruh zu. Der Kontakt erfolgte so unauffällig, dass sogar Offshanor Mühe hatte, ihn überhaupt zu erkennen. Als es so weit war, prasselte übergangslos
eine Unmenge an Gedanken und Informationen auf ihn ein. Er flüchtete in den hintersten Winkel des fremden Bewusstseins, aber selbst dort war es laut und hektisch. Der Marquis kommunizierte im Multitasking-Verfahren mit einem halben Dutzend seiner Untergebenen. Vier Konvikter – so entnahm er zumindest dem Gedankenchaos – standen kurz vor der Implosion. Die Redundanzsysteme übernahmen die Kontrolle, die Automatik trennte die schadhaften Geräte vom System. Loargant befahl, sie in starke Schutzfelder zu hüllen und sofort ins Freie zu bringen. Die Techniker schafften es im letzten Moment. Auf den Bildschirmen verfolgte der Marquis, wie sie draußen beschleunigten, schräg in die Höhe stiegen, sich schnell von den Anlagen entfernten und irgendwo über der Peripherie durchgingen. Zitronengelbe Entladungen zuckten bis fast hinauf in den Orbit, Restenergien, die sich unmittelbar auf der Oberfläche tödlich ausgewirkt hätten. Und das alles nur wegen dieses Atlan, den wir in der ganzen Sterneninsel suchen wie einen einzelnen Wassertropfen im Ozean. Sie, korrigierte sich Offshanor. Er durfte nicht anfangen, sich mit den Garbyor zu identifizieren, nicht einmal im Augenblick der tatsächlichen Verschmelzung. Loargant wusste nicht, wieso die Anlagen hochgefahren worden waren und der Umsetzer permanent arbeitete. Er vermutete, dass es sich um eine Falle handelte, in der Lordrichter Yagul Mahuur den Arkoniden fangen wollte. Dass zwei fremde Schiffe im Mikrokosmos aufgetaucht waren, wusste Loargant. Ob es sich um die Gesuchten handelte, entzog sich allerdings seiner Kenntnis. Der Marquis hasste diese Informationsstruktur, die nach Rängen gestaffelt war und aus Sicherheitsgründen immer nur bestimmte Teile preisgab. Als dummer Befehlsempfänger wollte er seinen Lebensabend nicht bestreiten, dann schon eher ehrenvoll im Kampf sterben. Aber wie sollte er sich gegen den direkten
Vorstoß nach Kopaar Befehl eines Erzherzogs auflehnen, ohne nicht sofort in Trodar aufzugehen – in Schande? Loargant gab ein lautloses gedankliches Rasseln von sich. Dabei hätte sein Tod nicht nur ihn, sondern seine gesamte Verwandtschaft die Existenz gekostet, als Futter für die riesigen Zungenschnalzer auf dem 40.000-Kilometer-Planeten Trouttor. Offshanor lauschte den Gedanken des Marquis und bezähmte nur mühsam seine Ungeduld. Die Informationen, die er in diesen wenigen Augenblicken erhalten hatte, waren an Brisanz kaum noch zu überbieten. Beim Hochfahren des Umsetzers handelte es sich also nicht um einen Test, sondern um eine wohl vorbereitete Aktion. Man hatte Atlan und die AMENSOON erwartet. Der Infiltrator war bestens instruiert – durch Yagul Mahuur selbst. Es bereitete dem Marquis eine gewisse Freude, wenn er daran dachte, dass einer der Hilfesuchenden zum Verräter eigener Sache werden würde … Loargant kannte keinen Namen – wozu auch? –, aber er war sich absolut sicher, dass der Infiltrator nichts unversucht lassen würde, Atlan zu einem Flug hierher zu bewegen. Bisher entwickelte sich alles eher gemächlich. Yagul Mahuur hatte sein Ziel noch nicht erreicht, denn Atlan steckte zwar in der Falle, war aber noch nicht von Erzherzog Garbgursha dingfest gemacht worden. Der Jäger war inzwischen mit seinem Schiff nach Kopaar zurückgekehrt und wartete in der Umlaufbahn ab. Offshanor wurde von Aufregung ergriffen. Wenn er eins und eins zusammen zählte, war einer der Golfballraumer hoch über dem Planeten folglich die GARB-ONZYN des Erzherzogs. Und der Verräter musste Farangon heißen. Wie auch immer dies hatte geschehen können. Dass ein Angehöriger seines eigenen Volkes mit den Garbyor unter einer Decke steckte, traf Offshanor schwer. Vor allen Dingen hatte er keine Erklärung. Keine Erklärung?, kam ein Gedankenecho zurück, kalt und unpersönlich.
41 Offshanor erschrak. Loargant schien etwas zu bemerken. Der kalte Verstand des Marquis erstarrte scheinbar für einen Augenblick, lauschte in die Gedankensäle, die vor einer Nanosekunde noch so geschäftig widergehallt hatten. Offshanor hielt still, schwebte wie ein Gazeschleier über dem Verstand des Garbyor. Dann, nach einer Weile, setzten sich die Gedanken des Shiruh fort. Er hatte keinen Verdacht geschöpft. Loargant führte den seltsamen Gedankenimpuls in sich auf die implodierten Konvikter zurück. Die Druckwelle hatte inzwischen die Anlagen erreicht. Vielleicht war ein wenig durch die Schirmstaffel gekommen. Oder es gab andere Probleme mit der Technik, die tief unter dem Fußboden arbeitete, Steueranlagen für die gewaltigen Energiezapfer, die alles aus dem Hyperraum von den umliegenden Sonnen holten, was sie zur Stabilisierung der gekrümmten Raumzeit benötigten. Der Cappin überlegte, wie er sich verhalten sollte. Einerseits war es wichtig, die Gefährten im Kardenmogher zu informieren. Andererseits besaß der Marquis viele wertvolle Informationen. Offshanor beschloss, noch kurze Zeit im Hintergrund zu bleiben und zu lauschen. Loargants Gedanken wanderten weiter. Wie an einer Schnur setzte er die eigenen Schlussfolgerungen fort. Lordrichter Yagul Mahuur legte Wert darauf, den Arkoniden lebend zu fangen. Dieses Einzelwesen schien für ihn einen ungeheuren Wert zu besitzen, eine Erkenntnis, der Loargant mit Unverständnis begegnete. Das Kollektiv wog millionenfach mehr als ein Einzelner. Mit Ausnahme der Lordrichter. Möglicherweise galt für diesen Atlan eine vergleichbare Regelung. Es hieß, er sei vor langer Zeit selbst einmal im Mikrokosmos gewesen. Vielleicht kannte er den Weg dorthin, den die Garbyor noch immer nicht gefunden hatten. Den Weg zum Volk der Varganen. Und dann?, fragte sich der Shiruh. Wenn
42 wir irgendwann dort sind – was wollen wir da? Offshanor konnte diese Frage auch nicht beantworten. Er wartete weiter, aber der Marquis befasste sich jetzt nur noch mit technischen Problemen der bevorstehenden Umschaltung auf die Redundanzebene Drei. Danach wartete die Ablösung, der Feierabend lockte im Kreis von Hunderten Artgenossen. Neben dem üblichen Gedankenaustausch zu Alltäglichem stand in diesen Tagen vor allem die eine Frage im Vordergrund. Wie lange hielt die Hypertrennschicht noch? Wie lange arbeitete der Umsetzer reibungslos, bis sie ihn abschalten und austauschen mussten? Dass es den Garbyor in dieser Zeit gelang, den Arkoniden einzufangen, daran zweifelte nicht einmal Loargant. Bei ihm überwog allerdings die Neugier auf das fremde Wesen mit dem Silberhaar. Offshanor zog sich noch ein Stück weiter in den Hintergrund zurück. Dort wartete er, bis Loargant seinen Platz in der Anlage verließ, einen Gleiter bestieg und zu seinem Quartier am Südende des Kontinents flog. Selbstverständlich behielt er auch über Nacht die Verantwortung für alles, was in den Umsetzeranlagen geschah. Ganz wurde er die Gedanken daran nie los. Der Cappin-Kommandant blieb noch eine Weile. Unbemerkt vom Bewusstsein des Marquis, hing er seinen eigenen Gedanken nach, die vor allem um eine Frage kreisten: Wie sollte er mit dem Risikofaktor Farangon umgehen? Alles in ihm schrie danach, kurzen Prozess mit dem Verräter zu machen, andererseits würde dieser ihnen im besten Fall vielleicht viele Zusammenhänge verraten und die Umstände seines Verrats erklären können, im schlechtesten aber ließ er sich immer noch instrumentalisieren und gegen seine derzeitigen Herren verwenden. Leider hatte Offshanor mit solchen Vorgehensweisen noch recht wenig Erfahrung. Er musste sich mit Atlan beraten. Ja, der Unsterbliche würde wissen, was zu tun war. Und wenn er
Arndt Ellmer riet, Farangon zu liquidieren – es wäre Offshanor eine tiefe Befriedigung gewesen, das selbst zu erledigen. Wie kann jemand sein eigenes Volk verraten?, fragte er sich. Kaum vorstellbar, kam die träge, schläfrige Antwort aus Loargants Bewusstsein, das allmählich in den Schlaf hinüberdämmerte. Es gibt kein Leben, außer in Trodar … Der Pedotransferer lauschte stumm. Schon nach kurzer Zeit forderte der Körper seinen Tribut von dem Shiruh. Offshanor nutzte die Gelegenheit und empfahl sich unbemerkt.
* Bis auf Kythara und Farangon – den Verräter! – hielt sich niemand in der Zentrale auf. »Wo ist Atlan?« Unsicher stieg Offshanor aus der Wanne. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen. Farangon deutete nach unten. »In einer der Schleusen.« Offshanor kam das merkwürdig vor. Mit ein paar schnellen Schritten stand er neben dem Sessel der Varganin. Kythara schien ihn nicht wahrzunehmen. Ihre Finger huschten so schnell über die holografischen Sensorboxen, dass er die Bewegungen kaum verfolgen konnte. »Was ist geschehen?« »Die Garbyor haben begonnen, die Container zu entladen. Ich nehme ein paar Veränderungen am Kardenmogher vor. Aber es wird nicht lange dauern, bis sie ihn entdecken.« »Ich muss zu Atlan.« »Was ist mit dem Marquis?«, fragte Farangon in diesem Augenblick. »Das Implantat hat Probleme gemacht. Ich brauche mehr Zeit.« Offshanor ging zum Antigravschacht und sank abwärts. Hoffentlich hatte der Verräter die Ausrede nicht bemerkt. Alles war still, aus keiner der Ebenen der Containersimulation drang ein Geräusch. »Atlan?«
Vorstoß nach Kopaar Das Gefühl der Beklemmung in Offshanor wuchs. Er schalt sich einen Narren. Wäre er nur in der Zentrale geblieben. Vermutlich hatte Farangon die Varganin unter Drogen gesetzt und die Kontrolle über das Schiff an sich gerissen. Wenn die Garbyor kamen, dann wollten sie vermutlich keine Container abtransportieren, sondern den Arkoniden und die Gefährten aus dem Fahrzeug holen. Sie wissen es also! Für Heroshan Offshanor war damit klar, dass der Verräter sein Ziel erreicht hatte. Aber warum unternahm er nichts gegen ihn, den Kommandanten der MORYR? Offshanor entdeckte einen Schatten tief unter sich und warf sich durch eine Öffnung in den angrenzenden Korridor. Aber der andere hatte ihn schon bemerkt. »Heroshan?« »Ja.« Es war Xarpatosch. Der Einsatzleiter trug einen schweren Handstrahler bei sich. »Farangon ist mit Kythara allein in der Zentrale«, sagte Offshanor. »So war es verabredet.« Der Kommandant der MORYR atmete erleichtert auf. »Sie passt also auf ihn auf!« »Nicht nur sie. Wenn er nur eine falsche Handbewegung macht, greift DENMOGH sofort ein.« »Ich muss dringend mit Atlan reden.« »Er ist noch unten. Die Garbyor sind einen halben Kilometer entfernt. Das verschafft uns ein wenig Luft.« Sie warteten gemeinsam, bis der Arkonide und die restlichen Cappins eintrafen. Offshanor berichtete wortgetreu, was er den Gedanken des Marquis entnommen hatte. Damit war es endgültig allen klar, und für die meisten bestätigte sich der schon vorhandene Verdacht. »Es erschwert uns die nächsten paar Stunden erheblich«, stellte der Arkonide fest. »Einer muss immer auf Farangon aufpassen.« »Er wird losschlagen, sobald er Verdacht schöpft«, sagte Xarpatosch. Atlan nickte.
43 »Noch geht er davon aus, dass wir den Umsetzer benutzen wollen, um ungehindert zum Dunkelstern zu gelangen. Natürlich kalkuliert er auch die zweite Möglichkeit ein. Aber bisher sieht er keine Anzeichen dafür.« »Was tun wir jetzt?«, wollte Offshanor wissen. »In die Zentrale zurückkehren und abwarten.« »Wir sollten losschlagen, solange die Garbyor noch weit genug vom Kardenmogher entfernt sind«, beharrte Offshanor. Atlans Gesicht wurde nachdenklich. »Wir dürfen das Dutzend Schiffe im Orbit nicht außer Acht lassen. Eines davon ist die GARB-ONZYN des Erzherzogs. Er koordiniert die Jagd nach uns. Wir warten, bis die Golfballraumer wieder unter den Horizont gesunken sind. Das Problem Farangon vertagen wir auf später, er kann im Moment nichts ausrichten, was unsere Lage verschlimmern würde.«
* Farangon selbst übernahm es, die Vorgänge im Orbit Kopaars zu überwachen. Ein wenig zollte ich ihm Hochachtung. Als Cappin kannte er die Möglichkeiten seiner Artgenossen genau, und er wusste, welche Absichten und Ziele die Garbyor verfolgten. Vermutlich würden wir nie erfahren, wie es den Soldaten des Lordrichters Yagul Mahuur gelungen war, Farangon umzudrehen, ohne dass dieser seinen psisensiblen Verstand verloren hatte. Freiwillig war er bestimmt nicht zum Gegner übergelaufen. Vielleicht war Fahrlässigkeit im Spiel, meinte der Extrasinn. Wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt, fällt man irgendwann. Ich rief Farangon zu mir. Er nahm im Sessel neben mir Platz. Halblaut setzte ich ihm auseinander, dass ich den Umsetzer dazu benutzen wollte, um den Mikrokosmos zu zerstören und wieder in den Normalraum zurückzukehren. Er verhielt sich aufgeschlossen, zeigte
44 Verständnis und brachte Zweifel an. Er glaubte nicht, dass wir damit unser Ziel erreichen würden. Der Flug zum Dunkelstern schien ihm die bessere Möglichkeit. »Warten wir es ab«, sagte ich vieldeutig. In den folgenden Minuten beobachtete ich ihn immer wieder. Er zeigte keinerlei Nervosität. Im Gegenteil, Farangon war die Ruhe selbst. Er war jetzt überzeugt, dass wir zum Dunkelstern fliegen wollten, konnte hinterher aber auch nicht behaupten, ich hätte ihm die Unwahrheit gesagt. »Die Garbyor sind noch vierhundert Meter entfernt«, meldete DENMOGH. Ich tauschte mit Kythara einen kurzen Blick. Sie senkte die Augenlider zum Zeichen, dass sie mit meiner Entscheidung einverstanden sein würde. »Alle Systeme bereitmachen zum Start.« Wenn es so weit war, musste alles schnell geschehen. Die Garbyor durften erst gar nicht merken, was eigentlich geschah. Ich schickte eine kurze Textnachricht an das Kommandopult. Die Varganin drehte sich kurz zu mir um. »Bereit?« Sie hatte die Nachricht gelesen und verriet ihre Professionalität einmal mehr dadurch, dass sie keine überflüssigen Fragen stellte. Wir lassen die Ladung verrutschen. Die Container des Kardenmogher fallen aus dem Schiff. Bis die Kerle wissen, wie ihnen geschieht, ist das Zeug spurlos verschwunden. »Bereit.« Ich hielt das für die überzeugendere Variante. Wenn dort, wo bisher Container standen, plötzlich ein Loch gähnte, würden die Garbyor sofort Alarm auslösen. Wenn sie aber mit ansahen, wie die Ladung verrutschte und ins Freie fiel, glaubten sie an Schlamperei ihrer Artgenossen. »Noch fünf Minuten bis zum Horizont«, sagte Farangon. Kythara checkte die Ortung aller Vorgänge, die mit dem Umsetzer in Zusammenhang standen. Alles lief reibungslos. Wir brauchten nur hinzufliegen.
Arndt Ellmer Aber so einfach würde es nicht sein. Die Garbyor hatten diesen Umsetzer selbst gebaut und ihn mit Aggregaten aus varganischen Beständen aufgerüstet und ergänzt. Alte Kodes in den Speichern des Kardenmogher halfen mit Sicherheit nicht, die Anlage für unsere Zwecke umzuprogrammieren. Farangon schien denselben Gedanken zur selben Zeit zu haben. Ich entdeckte plötzlich einen Ausdruck von Überraschung in seinem Gesicht. Dann verdüsterte es sich, nahm aber ziemlich schnell wieder einen gleichmütigen Ausdruck an. Ohne dass er es merkte, gab ich Offshanor hinter seinem Rücken einen Wink. »Zwei Minuten«, murmelte der Verräter in seinem Sessel. »DENMOGH, besitzen wir Daten, wann das nächste Transportschiff eintrifft?« Unter anderen Umständen hätte ich die Frage als Ausdruck der Sorgfalt empfunden. So aber lag klar auf der Hand, dass Farangon Zeit schinden wollte. Das Eintreffen eines weiteren Schiffes hätte unser Vorhaben verzögern und dem Verräter Zeit verschaffen können. »Es liegen keine Hinweise vor«, lautete die Antwort des Schiffes. In Gedanken zählte ich die letzten achtzig Sekunden mit. Nacheinander verschwanden die Golfballraumer unter den Horizont des Planeten. Alles, was sich jetzt um die Anlage herum ereignete, empfingen sie über Funk oder Satellit. Die Möglichkeit, mit ihren starken Geschützen unmittelbar aus dem Orbit einzugreifen, besaßen sie für die nächsten eineinviertel Stunden nicht. »Sie sind weg!« Ich blickte in die Runde. »Ihr wisst alle, worum es geht. Oberstes Ziel ist es, so schnell wie möglich von Kopaar wegzukommen.« Draußen im All hatten wir die geballte Kraft der Golfballraumer gegen uns. Aber irgendwo lauerte auch die AMENSOON. Die Besatzung würde sofort erkennen, was auf Kopaar vor sich ging. Das Oktaeder würde uns hoffentlich rechtzeitig zu Hilfe
Vorstoß nach Kopaar kommen. »Auf ein Wort, Farangon«, sagte Offshanor ziemlich laut. »Ich brauche noch ein paar Informationen über eure Erkenntnisse, während ich pedotransferierte!« Durch das Containerkonglomerat ging ein Ruck. Der Kardenmogher hatte sich in Bewegung gesetzt.
9. Es war ein lautloses Kräftemessen zwischen zwei Giganten. Beide waren Cappins vom Volk der Ganjasen, beide verfügten über die Parakraft der Pedotransferierung. Beide hatten sich dem Kampf gegen die Garbyor verschrieben, die nicht nur in Dwingeloo und der Milchstraße, sondern auch in anderen Galaxien wie Gruelfin ihr Unwesen trieben. Einer von ihnen hatte inzwischen die Seiten gewechselt. Ich vermochte nicht zu entscheiden, wie stark die Wut in ihrem Innern kochte, denn ihre Gesichter zeigten Gleichmut, fast schon Verständnis. Der Respekt der beiden voreinander war ziemlich groß. Weder Offshanor noch Farangon machte Anstalten, den Kontrahenten anzugreifen. »Es ist zwar ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, aber wir haben schließlich noch ein paar Minuten.« Farangon blickte abwechselnd zur Ortungsanzeige und auf Heroshan. »So wenig habt ihr herausbekommen?« »Das nicht. Aber im Moment haben wir wenig Zeit. Ich werde mich also auf das Wichtigste beschrä…« Der Kardenmogher half unabsichtlich dem Verräter. Er glitt in diesem Augenblick aus dem Gestänge ins Freie. Die ersten Garbyor bemerkten die rutschende Ladung und rannten davon. Andere blieben stehen und sahen zu. Dann aber wurden es immer mehr zusammenhängende Container, die zwischen den Gitterstäben des Transporters ins Freie rutschten und umfielen. Aus dem Poltern wurde Getöse, unterstützt von den Außenlautsprechern des Fahrzeugs.
45 Die letzten Garbyor brachten sich in Sicherheit. Einer sprach hastig in ein Funkgerät. »Phase Eins ist abgeschlossen«, meldete DENMOGH. »Ich starte Phase Zwei!« Farangon vergaß den Artgenossen. Ich sah, wie sich seine Hände um die Lehnen des Kontursessels klammerten. Die Knöchel traten weiß hervor. Er starrte auf den Bildschirm, der ihm die Umgebung des Kardenmoghers zeigte, auf der einen Seite die Hunderte von Metern hohe Konstruktion, auf der anderen die Anlagen am Rand des Raumhafens. Die geparkten Schiffe bekamen nichts von dem Vorgang mit, der Transporter stand zwischen ihnen und dem Fahrzeug. Im kreisenden Hologramm vor unseren Köpfen leuchteten Lämpchen und Sensorflächen auf. Der Kardenmogher war soeben in seinen Tarnanzug geschlüpft. Der Deflektorschirm und das Antiortungsfeld standen. Damit existierte das Fahrzeug nur noch für extrem sensible Taster und Orter. Kythara steckte ihre Arme bis zu den Ellenbogen in das Präferenzhologramm. Ihre Finger rasten über die Sensorfelder. Im Hintergrund entstand eine Reihe kleiner Monitorhologramme. Sie zeigten, wie sich Teile der Container gegeneinander verschoben, während das Konglomerat gleichzeitig vom Boden abhob und auf fünfzig Meter Höhe stieg. Dort gruppierten sich die Container um, setzten sich halbe Räume und halbe Wände wieder zu ganzen zusammen. Innerhalb von weniger als fünf Minuten baute sich der Kardenmogher zu dem Doppelkegelstumpf zurück, als der er in den Mikrokosmos gelangt war. »Atlan!« Farangons Stimme klang plötzlich schrill. »Was fliegt das Ding für einen Kurs?« Er hatte erwartet, dass wir am Boden blieben. Stattdessen stieg der Kardenmogher steil in die Atmosphäre Kopaars hinauf. »Alles läuft genau wie abgesprochen. Was soll die Frage?«, spielte ich den Ahnungslosen. Er nahm es mir nicht ab, aber es
46 verwirrte ihn dennoch. »Wir verschwinden so schnell wie möglich von hier!«, fügte ich hinzu. Farangon warf einen fast panischen Blick auf Kythara, die noch immer wie eine Weltmeisterin auf der holografischen Klaviatur des Kardenmoghers spielte. Ihr Gesicht zeigte volle Konzentration, die Lippen hatte sie aufeinander gepresst. »Ihr werdet nicht …« »Stör sie doch nicht!«, herrschte Offshanor den Artgenossen an. »Was jetzt kommt, geschieht außerhalb unserer Verantwortung. Es ist allein Atlans und Kytharas Angelegenheit.« Und Kalarthras' natürlich!, fügte ich in Gedanken hinzu. Bisher hatte sich niemand so recht Gedanken darüber gemacht, wie mit den Artefakten der varganischen Kultur verfahren werden durfte. Theoretisch fielen sie noch immer unter den Besitz der Varganen. Wobei die Lordrichter sich um diese Legitimation wohl kaum scheren würden. Juristische Spitzfindigkeiten helfen nicht gegen Transformbomben, meldete sich mein Extrasinn. Und zu große Langmut nicht gegen Top-Spione. Das saß! Und doch … uns fehlte noch immer der letztgültige Beweis. Farangon nagte an der Unterlippe. Ich sah, wie er nach der Bedienungsfläche schielte, mittels der sich auch die Funkverbindung aktivieren ließ. DENMOGH reagierte und zeigte damit, dass er Farangon unablässig beobachtete. Das Holopanel vor Farangons Sessel erlosch. Der Cappin hatte keinen Zugriff mehr auf Einrichtungen des Schiffes. Er wusste jetzt endgültig, dass er enttarnt war. »Was ist hier los?«, murmelte er. Heroshan Offshanor lachte. »Genau um diese Frage geht es mir. Hast du eine Antwort? Und denk gut nach – es sollte eine verdammt gute sein.« »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« Farangons Schultern sanken herab. Er schien übergangslos kleiner und älter
Arndt Ellmer geworden zu sein. Eigentlich erwartete ich, er würde jetzt sprechen und uns die Wahrheit sagen. Aber ich täuschte mich. Etwas in seinem Innern verhinderte die bessere Einsicht. Er tat, als ginge ihn das alles nichts mehr an. Ändern konnte er nichts mehr. Also tat er das, was ihm als Einziges übrig blieb. Er spielte den unbeteiligten Zuschauer.
* Der Kardenmogher erreichte zwanzig Kilometer Höhe. Die Luft um ihn herum bildete hektische Wirbel – das einzige Anzeichen, dass da etwas war. Ich tauschte mit Kythara einen knappen Blick. Jetzt oder nie! Ich griff in das Holo vor meinem Sessel. Auf dem Intern-Hologramm tauchten blassrosa Spindeln und mit bläulicher Energie gefüllte Rohre auf. Halbkugeln mit Stacheln drehten sich um 180 Grad, bis sie nach außen standen. Das technische Verständnis der Cappins reichte aus, zumindest einen Teil der varganischen Systeme zu identifizieren. Gebannt verfolgten sie, wie Abstrahlspindeln, Projektoren und Geschützmündungen in Position fuhren. Der Kardenmogher verwandelte sich ringsherum in eine Kampfmaschine. Meine Finger bewegten sich fast wie von selbst. Die Klaviatur des Fahrzeugs verfügte über intuitive Bedienungsfelder, die synchron funktionierten. Die Impulse von Kytharas Panel bildeten mit denen aus meinem so etwas wie eine harmonische Einheit. Wir bewegten uns nicht, gönnten einander keinen Blick, aber wir kommunizierten über die Eingabefelder miteinander. Wirklich beeindruckend, wie ihr euch versteht!, spottete der Extrasinn. Ich wandte leicht den Kopf und sah zu Farangon hinüber. Offshanor saß unmittelbar hinter ihm, jederzeit zum Eingreifen bereit. Auf der Stirn des Verräters bildeten sich Schweißperlen. Er schloss die Augen, aber
Vorstoß nach Kopaar im nächsten Augenblick riss er sie wieder auf. »Wusstest du eigentlich«, kicherte Offshanor hinter ihm, »dass der Kardenmogher über eine auch nach innen vektorierbare Para-Abwehr verfügt? Ich wette, jetzt weißt du es.« Farangon hatte offenbar versucht, sich mit Hilfe seiner Fähigkeit abzusetzen und die Garbyor zu warnen. Jetzt schlug er vor Verzweiflung die Hände vor das Gesicht. »Warum?«, fragte er, fast flehentlich. »Warum haltet ihr mich auf? Wir müssen doch etwas unternehmen, ehe die Garbyor …« »Das tun wir soeben«, antwortete ich. »Du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern.« Dreißig Kilometer Höhe. »Wir sind so weit!«, verkündete Kythara. »Der Abstand ist nicht groß genug. Vergiss die Schwarze Substanz nicht, mit der sie in den Anlagen experimentieren!« Die Garbyor gaben jetzt Alarm. Sie suchten nach den herausgefallenen Containern, fanden sie aber nicht. Auch der Marquis war rasch am Ort des Geschehens. »Alles bestens«, verkündete Xarpatosch. »Der letzte Pedotransferer kehrt soeben zurück.« Die Besatzung des Transporters hatte keinen direkten mentalen Kontakt zu den Cappin-Bewusstseinen gehabt, konnte also nicht viel über das sagen, was geschehen war. Fünfzig Kilometer Höhe! Der Kardenmogher sauste weiter. Wie ein Geschoss aus den Tiefen des Alls raste er davon. Draußen kochte die Luft und bildete einen trichterförmigen Wirbel. »Sie kommen!«, meldete DENMOGH. Der erste Golfballraumer tauchte über dem Horizont auf. Farangon nahm die Hände vom Gesicht. Er sondierte die Lage. Als er die Schiffe entdeckte, hellte sich seine Miene auf. »In wenigen Augenblicken erreichen wir die Maximalgeschwindigkeit«, sagte Kythara in meine Richtung.
47 »Ich bin so weit«, nickte ich. Wir hatten die dichten Schichten der Atmosphäre hinter uns. Der Kardenmogher erreichte ungehindert den freien Raum. Keines der Garbyor-Schiffe war nah genug, um auf uns schießen zu können. Sie beschleunigten, kamen aber in der Anfangsphase so nah über dem Planeten nur schwerfällig voran. Offshanor beugte sich nach vorn, dem Artgenossen entgegen. »Wir haben nur diese eine Chance. Sieh es ein!« Farangon erstarrte. Ruckartig wandte er den Kopf in meine Richtung. Fast schien es, als wolle er mich mit seinen Blicken verschlingen. Ich absolvierte die letzte Kodeabfrage und schaltete den Sicherungsmechanismus für den Hegnudger aus. Mit den nächsten Berührungen meiner Fingerspitzen aktivierten sich die Gravo-Zyklon-Projektoren. Außerhalb des Schutzschirms entstanden flirrende Feldwirbel, sie entlockten dem Verräter ein hektisches Keuchen. Mit dem Wissen der Cappins ahnte er ungefähr, um welche Art von Waffe es sich handelte. »Das – das …« Sein Krächzen verstummte. Aus weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie der Wirbel sich Richtung Planetenoberfläche ausdehnte, sich dabei kegelförmig nach unten weitete. Dabei saugte er Energie aus der Umgebung an, verwandelte die Gase der Luft in Energie, die er in Richtung Boden beschleunigte. Zur Wirkung der Gravo-Zyklon-Projektoren kam die verstärkende Wirkung des Hegnudgers hinzu. Er trieb das Wirbelfeld mit hoher Beschleunigung nach unten. Der Energieausstoß war so groß, dass der Kardenmogher dadurch einen zusätzlichen Beschleunigungsimpuls erhielt. »Zehn Sekunden«, sagte Kythara unbewegt. Die Feldwirbel erreichten die Planetenoberfläche. Der Kegel besaß inzwischen einen Durchmesser von fast tausend Kilometern. Einen Augenblick lang schien dort unten das Leben stillzustehen. Dann rotierte es
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übergangslos mit der vernichtenden Kraft eines gewaltigen Tornados. Der Unterschied zu diesem Naturphänomen war, dass die Feldwirbel nicht nur einen Sturm verursachten. Sie besaßen auch eine Gravokomponente. Weit unter uns rotierte die Schwerkraft und schaukelte sich zu gewaltiger Stärke auf. Alles, was in diese Mühle geriet, kam als feinster Staub wieder heraus. »Der Umsetzer löst sich auf!«, meldete DENMOGH. »Ich lege die Ausschnittvergrößerung in das Hologramm.« Für ein paar Sekunden sahen wir eine totale Unordnung dort, wo bis vor wenigen Sekunden akkurat Gebäude und Versuchsanlagen gestanden hatten. Dann existierte bis tief ins Innere des Planeten nur noch Staub. Wir zählten die Sekunden. Keine zwanzig dauerte es, bis die erste Magmafontäne aus dem Innern Kopaars in die Höhe schoss, inzwischen mehr als tausend Kilometer im Durchmesser. Wir entdeckten dunkle zuckende Würmer, die jedes Licht schluckten und sich vor der Glut in Sicherheit bringen wollten. Die ersten explodierten, und sie erzeugten Schockwellen, die bis in den Kardenmogher durchschlugen, das kleine Fahrzeug überrollten und vor ihm her ins All hinausjagten. Unsere Außenbeobachtung brach übergangslos zusammen. Irgendwo in den Tiefen des Fahrzeugs jaulten Aggregate. Der Kardenmogher fing an zu bocken, während aus dem Triebwerksbereich Donnerschläge bis in die Zentrale hallten. »Ich habe euch gewarnt«, murmelte Farangon. »Ihr wolltet nicht auf mich hören.«
* Die Gravo-Zyklon-Projektoren des Kardenmogher stellten eine verheerende Waffe dar. Ich verglich sie mit den Arkonbomben, gegen die auch kein Kraut gewachsen war. Nur zündete eine Arkonbombe den Kernbrand auf einem Planeten, der diesen innerhalb von wenigen Stunden und Tagen auffraß, die Planetenkruste gewissermaßen auf-
weichte, bis sie dem Innendruck nicht mehr standhielt. Die Varganenwaffe hingegen benötigte für denselben Effekt gerade mal ein paar Minuten. Der maximale Durchmesser des Wirkungskegels lag bei 10.000 Kilometern, das reichte aus, um einen Planeten von durchschnittlicher Größe innerhalb kurzer Zeit zu pulverisieren. Die Hologramme in der Zentrale flackerten. DENMOGH gab sich alle Mühe, sie einigermaßen zu stabilisieren. Wir sahen, wie Kopaar explodierte. Der Planet schleuderte sein Inneres ins Weltall. Das Magma verschluckte den Staub, der von der Oberfläche übrig geblieben war. Die Schwarze Substanz explodierte ebenfalls. Sie erzeugte zusätzlich Schockwellen und hyperenergetische Ladungen. Sie näherten sich mit Lichtgeschwindigkeit, und ihnen hatte der Kardenmogher in dieser Stärke nichts entgegenzusetzen. Noch hielt das kleine Raumfahrzeug seinen Kurs. Die Triebwerksleistung lag dicht unter dem Maximum. Der Kardenmogher beschleunigte weiter, aber die Gravoschockwellen rüttelten an ihm und versuchten, ihn aus seiner Bahn zu werfen. »Ich versuche, die Schockwellenfront mit Hilfe der Feldwirbelprojektion aufzuhalten«, sagte ich. Kythara verneinte. »Dazu fehlt uns die Energie. Wir brauchen sie auf der Schirmstaffel.« Uns blieb nichts anderes übrig, als dem sich ausbreitenden Chaos so lange standzuhalten, bis sich der Kardenmogher in den Hyperraum retten konnte. Weiter draußen im Mikrouniversum ging es derzeit ruhiger zu. Noch!, meinte der Extrasinn und erinnerte mich daran, dass sich die Schockwellenfront der Schwarzen Substanz vermutlich über den ganzen Mikrokosmos ausbreiten würde. Bis dahin, so hoffte ich, hatten wir die dann brüchige Trennschicht hoffentlich durchquert und waren wohlbehalten zurück im Standarduniversum.
Vorstoß nach Kopaar Eine Garantie dafür gab es allerdings nicht. Ich wandte mich an Farangon. »Hast du uns nichts zu sagen?« »Was sollte … Ach, es ist ohnehin zu spät!«, sagte er. »Ich verstehe euch nicht.« »Wir sitzen doch alle im gleichen Boot«, tat ich überrascht. Plötzlich traf ein Schlag wie von einem überdimensionalen Hammer den Kardenmogher. Der Doppelkegelstumpf fing an zu taumeln. Für uns sah es aus, als würde sich draußen das Universum plötzlich um uns drehen. Dann aber kamen die ersten Aussetzer der Gravoprojektoren durch. Der Schwerkraftvektor wechselte, fiel für Sekunden vollständig aus. Alarm heulte durch das kleine Schiff. DENMOGH meldete erste Materialschäden an den Abstrahlspindeln der Gravo-Zyklon-Projektoren. Er hätte sie nur einzufahren brauchen, aber das kostete wieder Energie. Und die brauchte er für die Schirmstaffel. Die Abbildungen in den Hologrammen flirrten. Die Schockwellenfront verzerrte die gesamte Raumzeit im System der gelben Sonne. Ein zweiter Schlag erschütterte den Kardenmogher. Diesmal krachte es anschließend. Ein Poltern zeugte davon, dass irgendwo ein Aggregat oder ein Gegenstand umgefallen war. Wir hörten die Schläge, mit denen er von Wand zu Wand fiel. Dort unten waren die Schwerkraftprojektoren ausgefallen. Spätestens jetzt begriff der Letzte in dem kleinen Fahrzeug, dass die Situation gefährlicher war, als wir angenommen hatten. Ein Denkfehler? Vermutlich nicht. Die Wirkung der Schwarzen Substanz stieg exponentiell. Was wir nicht hatten vorhersehen können, war ihr Verhalten unter der Einwirkung von GravoZyklon-Projektoren. Hier fehlte uns eindeutig Wissen, das weder der Kardenmogher noch Kalarthras oder Kythara besaß. Auch die Garbyor konnten so etwas nicht vorher-
49 sehen. »Schnallt euch jetzt besser an!«, forderte DENMOGH uns auf. »Es könnte euer Leben retten!« Wir folgten der Aufforderung und legten die mechanischen Sicherheitsgurte an. Sie pressten uns tief in die Kontursitze, das war gut so. Die Gravoprojektoren fielen wieder aus, diesmal für mehr als eine Minute. Um uns drehte sich alles, wir fuhren Karussell durch das halbe Universum. Keiner von uns wusste anschließend noch, wo unten oder oben war. Der Fußboden … Die Säulen unserer Sessel endeten im Nichts. Draußen tobten hyperenergetische Entladungen um das Schiff. Sie verzerrten die Raum-Zeit-Struktur im Kopaar-System. Es entstanden Zonen der Nichtwirklichkeit, Nischen ohne die gültigen Gesetze des Standarduniversums, wie sie in diesem Mikrokosmos herrschten. Der Fußboden war hineingeraten und deshalb nicht mehr sichtbar. Im dreidimensionalen Koordinatensystem gedacht, existierte er jetzt an einem anderen Ort. Dennoch trug er weiter das Gewicht der Sessel. War es das erste Zeichen, dass sich die Trennschicht auflöste und der gesamte Sektor mit seinen 230 Lichtjahren Durchmesser in den Normalraum zurückkehrte? DENMOGH gab erneut Alarm. Die Luftversorgung des Innenraums stellte ihren Betrieb ein. Alle Systeme, die nicht dringend für den Antrieb und die Schirmstaffel benötigt wurden, fuhren herunter. Wir spürten plötzlich, wie ein Sog den Kardenmogher erfasste. Gleichzeitig fiel die Bildübertragung erneut aus. Ich wartete auf Anzeichen des Wechsels, suchte auf den Ortern die typischen Ausschläge, die den Wechsel in den Hyperraum anzeigten. »Wir sind erst bei knapp dreißig Prozent Lichtgeschwindigkeit«, sagte Kythara. »Bis zur ›Schwelle‹ dauert es noch.« In den Tiefen des Kardenmoghers dröhnte und blubberte es. Keinem in der Zentrale fiel auf, dass der Boden wieder da war. Dafür
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nahm der Sog zu, der das Fahrzeug in einen Strudel hineinriss. DENMOGH versuchte mit allen Mitteln, die Fluglage zu stabilisieren und die Außenbeobachtung wieder in Gang zu bringen. Es gelang nicht. Stattdessen traf wieder ein Schlag das Schiff. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein, als sich über mir die Decke öffnete, eine Glutwolke aus Magma und Gasen auf uns herunterraste, durch den Boden hindurch und irgendwohin. Ein Blinzeln reichte, um die Unversehrtheit der Decke wiederherzustellen. Ich sah, wie Farangon das Gesicht verzog. Er tastete nach einer Tüte, öffnete seinen Helm und übergab sich. Als er sich den Mund abgewischt hatte, spülte er ihn mit der internen Wasserversorgung des Schutzanzugs aus. »Schließ den Helm wieder!«, forderte ich ihn auf. Er beachtete es nicht. »Wir sitzen alle in einem Sarg. Es gibt kein Entkommen!« Als habe er mit diesen Worten einen Schalter ungelegt, faltete etwas den Kardenmogher wie eine Ziehharmonika zusammen. Vor meinen Augen verschwamm die Zentrale, machte graurotem Schlierennebel Platz. Etwas stimmt nicht!, war mein letzter Gedanke, dann verlor ich das Bewusstsein.
Epilog Er verdankte es einzig seinem Piloten, dass er noch am Leben war. Jenseits des Schiffes wölbte sich Kopaar nach außen, schleuderte gewaltige Magmamassen ins All hinaus, die sofort eine Reihe Raumer verschlangen und auf der Stelle vernichteten. Die GARB-ONZYN flog schon weiter draußen. Sie verzichtete bis zuletzt auf den Einsatz der Schutzschirme, legte alle Energien in den Antrieb. Wie ein Geschoss und mit ächzendem Rumpf trieb der Pilot die Kugel in den freien Weltraum hinaus. Erzherzog Garbgursha beobachtete auf der Aufzeichnung, wie der Umsetzer explo-
dierte und sich im Umkreis von tausend Kilometern die Planetenkruste auflöste. Er entdeckte die Ballungen Schwarzer Substanz, die wie aufgeschreckte Tiere hin und her rasten, sich mit Energie aus dem Planeteninnern aufpumpten und dann ebenfalls explodierten. Um sie herum riss der Normalraum auf, verschlang Teile des Planeten auf Nimmerwiedersehen. Löcher entstanden im All rund um Kopaar, durch die Magma ins Nichts versickerte. Augenblicke später verschwanden die Löcher und hatten den halben Planeten verschluckt. Garbgursha wartete noch immer auf die Feindortung. Sie blieb aus. Kein fremdes Schiff befand sich in der Nähe. Die AMENSOON hing noch immer im Ortungsschutz des Roten Zwergs in 3,8 Lichtjahren Entfernung und rührte sich nicht. Schweren Herzens und mit Furcht vor den Konsequenzen machte sich der Erzherzog mit dem Gedanken vertraut, Lordrichter Yagul Mahuur über den Zwischenfall zu informieren, der einen herben Rückschlag darstellte. Garbgursha legte sich vielfach Worte zurecht, wie er es erklären sollte. Jedes Mal verwarf er sie wieder. Beschönigen half nichts, die nackte Wahrheit war wie immer in solchen Fällen das Beste. Wir haben versagt. Kopaar ist vernichtet. Nein, nicht nur Kopaar, stellte Garbgursha nach einem Blick auf die Orter fest. Überall im Mikrokosmos brachen gewaltige Raumbeben und Strukturerschütterungen los. Innerhalb weniger Atemzüge weiteten sie sich zu Hyperstürmen aus, wie der Erzherzog sie noch nie gesehen hatte. »Rotalarm für die gesamte Raumflotte!«, schrie er und wäre beinahe aus seinem Sessel gefallen. »Rette sich, wer kann!« Das Miniaturuniversum mit seinen 55.000 Sonnen drohte unterzugehen.
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Chaos im Miniaturuniversum von Michael Marcus Thurner Fast scheint es, als könne die AMENSOON den Garbyor nicht nur immer weiter entschlüpfen, sondern sogar zusätzlich noch Schaden anrichten. Doch nichts ist gewiss, solange der Verräter an Bord nicht endgültig enttarnt wurde. Ist es tatsächlich der Cappin Farangon? Oder verbirgt sich hinter der scheinbaren Allwissenheit der Lordrichter mehr, als Atlan bisher ahnen kann? Die Ereignisse in Dwingeloo steuern mit der Vernichtung Kopaars einem dramatischen Höhepunkt zu, denn nun entsteht CHAOS IM MINIATURUNIVERSUM