Was hast du im Sinn?
Anne Weale
Romana 1418 – 9-1/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL ...
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Was hast du im Sinn?
Anne Weale
Romana 1418 – 9-1/02
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL Am Morgen ihrer Entlassung war Lucia Graham aufgeregt und ängstlich zugleich. Seit ihrer Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis hatte sie sich nach Freiheit gesehnt. Sie hatte nicht die volle Strafe abgesessen, sondern wurde vorzeitig entlassen. Doch sie wusste, dass die Welt, in die sie zurückkehren würde, nicht mehr dieselbe war. Nun war sie vorbestraft und würde sicher keinen guten Job finden. Wer stellte schon eine Kriminelle ein? Nachdem Lucia ihre eigenen Sachen angezogen hatte, die nach der langen Zeit im Lager muffig rochen, brachte man sie ins Büro der stellvertretenden Direktorin. „Bestimmt haben Sie Angst", sagte die Frau mittleren Alters. „Versuchen Sie, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und noch einmal von vorn zu beginnen. Ich weiß, es ist leichter gesagt als getan, aber zum Glück gibt es jemanden, der Ihnen dabei helfen will." „Wer?" fragte Lucia verwirrt. „Das werden Sie bald herausfinden. Draußen wartet ein Wagen auf Sie. Leben Sie wohl und viel Glück." Die stellvertretende Direktorin schüttelte ihr zum Abschied die Hand und lächelte sie aufmunternd an. Als Lucia kurz darauf das Gefängnisgelände verließ, rechnete sie damit, einen Kleinwagen zu sehen, wie Sozialarbeiter ihn fuhren. Ihrer Meinung nach konnte es nur ein Sozialarbeiter sein, der ihr helfen wollte. Auf dem Parkplatz stand allerdings nur ein Wagen, eine offenbar neue schwarze Limousine. Noch während Lucia sie verblüfft betrachtete, stieg ein Chauffeur aus und kam auf sie zu. „Miss Lucia Graham?" „Ja." „Folgen Sie mir bitte." Er führte sie zur Limousine und öffnete ihr den Schlag. Sie fuhren durch eine Gegend, die im Gegensatz zu den meisten in Südengland nur spärlich besiedelt war. Nachdem sie durch ein hübsches Dorf gekommen waren, bog der Chauffeur schließlich auf ein großes Anwesen mit einem großen Haus, das größtenteils mit wildem Wein bewachsen war. In der Nähe des Hauses gabelte sich die Auffahrt. Ein Weg führte zur Rückseite des Gebäudes, der andere endete auf einem ovalen kiesbestreuten Platz. Dort stoppte der Chauffeur den Wagen. Fünf Minuten zuvor hatte Lucia ihn durch die Trennscheibe per Handy telefonieren sehen. Offenbar hatte er jemanden über ihre Ankunft informiert. Als er ihr den Schlag aufhielt, wurde die Haustür geöffnet, und eine Frau erschien. Lucia stieg aus. Auf den ersten Blick schätzte sie die Frau auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Sie trug eine weiße Bluse und einen Jeansrock, war blond und trug einen klassischen Bubikopf. Bis auf den Lippenstift schien sie ungeschminkt zu sein. „Miss Graham ... Herzlich Willkommen. Mein Name ist Rosemary." Sie schüttelte ihr die Hand. „Sicher können Sie jetzt eine Tasse Kaffee vertragen. Kommen Sie herein, dann erkläre ich Ihnen alles. Sie möchten sicher wissen, warum Sie hier sind." Dann hakte sie sie unter und führte sie ins Haus, als wäre sie ein gern gesehener Gast. Die geräumige Eingangshalle wurde von einer breiten Treppe beherrscht, und als Erstes fielen Lucia die Bilder an den Wänden auf. Im Wohnzimmer hingen ebenfalls zahlreiche Gemälde. Durch die geöffneten Terrassentüren hatte man einen herrlichen Blick auf den großen, gepflegten Garten. In der Nähe der Türen stand ein gedeckter Tisch. Nachdem sie Lucia bedeutet hatte, in einem Sessel Platz zu nehmen, setzte Rosemary sich ebenfalls und griff nach der Porzellankanne.
„Miss Harris und ich sind auf dieselbe Schule gegangen", erklärte sie. Miss Harris war die Gefängnisdirektorin. „Sie ist viel jünger als ich und gehörte zu den Mädchen, die ich unter meine Fittiche nehmen musste, als ich im letzten Jahr war. Wir haben uns bei den Schulfesten immer mal wieder getroffen. Wenn sie mich nicht gekannt hätte, dann hätte sie vielleicht nicht eingewilligt, dass ich Sie hierher bringe." Lucia schwieg. Im Vergleich zu ihrer Gefängniszelle wirkte dieser Raum geradezu überwältigend luxuriös. Sie fühlte sich, als würde sie nur träumen und jeden Moment aufwachen. Rosemary reichte ihr eine Tasse Kaffee. „Bitte nehmen Sie sich Milch und Zucker, wenn Sie mögen." Erst jetzt stellte Lucia fest, dass Rosemary älter sein musste. Die Vorderseite des Hauses hatte im Schatten gelegen. Hier, in der hellen Morgensonne, waren die feinen Fältchen um ihre Augen und ihren Mund zu sehen. Sie musste mindestens fünfundsechzig sein. „Ich möchte Sie nicht mehr länger auf die Folter spannen", fuhr Rosemary lächelnd fort. „Als ich die Schule verließ, wollte ich Künstlerin werden. Im ersten Jahr an der Kunsthochschule lernte ich meinen Mann kennen. Er wollte, dass ich mich ganz auf meine Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrierte. Und da ich ihn über alles liebte, brach ich das Studium ab." Sie machte eine Pause und schien sich an die Zeit zu erinnern. „Vor zwei Jahren starb mein Mann. Wie die meisten Witwen fand ich es sehr schwer, mich auf ein Leben allein einzustellen. Ich habe vier Kinder, die mich sehr unterstützen, aber sie leben ihr eigenes Leben. Eines von ihnen schlug mir vor, wieder mit dem Malen anzufangen, und das habe ich auch getan. Jetzt brauche ich jemanden, der mich auf meine Malreisen ins Ausland begleitet. Ich dachte, Sie könnten mich begleiten - um mir beim Malen Gesellschaft zu leisten und als eine Art private Reiseleiterin. Was halten Sie davon?" Für Lucia war es ein Geschenk des Himmels. Doch ihrer Ansicht nach musste Rosemary verrückt sein. „Warum ausgerechnet ich?" erkundigte sie sich. „Weil Sie nicht wissen, wohin, und die entsprechende Qualifikation haben. Sie sind eine begabte Malerin und sehr fürsorglich, wie Sie durch die aufopferungsvolle Pflege Ihres Vaters bewiesen haben." Verblüfft blickte Lucia sie an. „Wie können Sie mir vertrauen?" „Meine Liebe, Sie wurden wegen Betrugs verurteilt, nicht wegen Mordes. Meiner Ansicht nach war es eine zu harte Strafe, Sie ins Gefängnis zu schicken. Es gibt Situationen, in denen wir nun einmal dazu gezwungen sind, Dinge zu tun, die wir sonst nie tun würden. Was Sie getan haben, war nicht richtig. Aber meiner Meinung nach war es auch nicht so schlimm, dass man Sie nun aus der Gesellschaft ausstoßen sollte." In dem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Anzug und mit einem Mantel über dem Arm kam herein. Er nahm seine Krawatte ab und öffnete seinen obersten Hemdknopf. Sein Lächeln verschwand und wich einem überraschten Gesichtsausdruck, als er Lucia sah. Es war offensichtlich, dass er sie nicht erkannte. Sie hingegen erkannte ihn sofort wieder. Wie hätte sie ihn je vergessen können? Dies war der Mann, der bei ihrer Verurteilung eine wichtige Rolle gespielt hatte. Seine verächtlichen Blicke, als er im Zeugenstand gesessen und sie schwer belastet hatte, hatten sie in den langen, oft schlaflosen Nächten in ihrer Zelle verfolgt. „Oh ... Hallo, mein Schatz ... Ich wusste gar nicht, dass du heute kommst", sagte Rosemary und wandte sich dann an Lucia. „Das ist mein Sohn Grey. Grey, das ist Lucia Graham." Auch ihr Name schien ihm nicht bekannt vorzukommen. Während der Verhandlung hatte sie den Eindruck gehabt, dass Grey Calderwood ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte.
Allerdings war dieser Tag für ihn auch nicht so schicksalhaft gewesen wie für sie. Vermutlich hatte Grey Calderwood sie danach aus seinem Gedächtnis gestrichen. Außerdem hatte sie damals anders ausgesehen. Ihr Haar war modisch kurz und getönt gewesen. Jetzt war es lang und wieder hellbraun. Und sie hatte abgenommen. Nur wenige Leute hätten sie als die junge Frau wieder erkannt, deren Gesicht in allen Boulevardzeitungen abgebildet gewesen war. Grey Calderwood kam auf sie zu. Instinktiv stand Lucia auf und wappnete sich innerlich, weil sie damit rechnete, dass er sie doch erkannte. „Guten Tag." Er reichte ihr die Hand. Sie rang sich ein Lächeln ab. Deswegen hatte Rosemary also ihren Nachnamen nicht genannt. Weil sie gewusst hatte, dass sie, Lucia, sonst sofort die Flucht ergriffen hätte. Grey Calderwood wandte sich nun an seine Mutter und küsste sie auf die Wangen. „Ich habe eine harte Woche hinter mir", erklärte er. „Deswegen war mir nach einem Tag auf dem Land." Nun betrat noch jemand den Raum - eine grauhaarige Frau, die eine schlichte Bluse und einen Rock trug und eine Tasse mit Untertasse in der Hand hatte. „Ich habe Sie kommen sehen, Mr. Grey", sagte sie lächelnd. „Danke, Braddy." Er nahm ihr die Tasse ab und schenkte sich ein, während sie wieder das Zimmer verließ. „Ich störe hoffentlich nicht?" An Lucia gewandt, fügte er hinzu: „Da Sie nicht mit dem Wagen da sind, nehme ich an, dass Sie in der Nähe wohnen." „Ich hoffe, Lucia wird hier wohnen", verkündete Rosemary Calderwood. „Ich habe ihr gerade angeboten, mich auf meine Malreisen zu begleiten." „Oh, tatsächlich?" Er zog einen Ohrensessel heran, setzte sich darauf und kreuzte die Beine. Dann betrachtete er Lucia genauer. Gleich ... dachte sie. Und dann passierte es. Plötzlich funkelten seine grauen Augen kalt. „Wir sind uns schon einmal begegnet... im Gericht. Sie sind die Fälscherin." Im Stillen verabschiedete sie sich von dem Geschenk des Himmels. Sie hätte sich denken können, dass es nicht klappen würde. „Ja", erwiderte sie leise. „Was, zum Teufel, machen Sie in diesem Haus?" erkundigte er sich leise, während er sie durchdringend ansah. „Ich habe Lucia eingeladen", antwortete seine Mutter. „Ich wusste, dass sie heute Morgen entlassen werden sollte, und habe sie von Jackson abholen lassen. Wie du weißt, war ich nie glücklich über das Urteil, aber jetzt ist es vorbei. Sie braucht Hilfe, und ich brauche eine Reisebegleitung." „Du hast den Verstand verloren, Mutter." Bevor Mrs. Calderwood etwas erwidern konnte, begann das Telefon auf dem kleinen Tisch neben ihr zu klingeln. Nachdem sie sich bei Lucia entschuldigt hatte, nahm sie ab. „Hallo? Mary ... Schön, von dir zu hören! Kannst du bitte einen Moment warten? Ich bin gleich wieder da." Sie stand auf und fügte an ihren Sohn und Lucia gewandt hinzu: „Ich nehme den Anruf im Arbeitszimmer entgegen. Bitte nehmen Sie sich noch Kaffee, Lucia." Dann stand sie auf und verließ das Wohnzimmer. Grey Calderwood hatte sich ebenfalls erhoben. Er blieb stehen und betrachtete Lucia mit finsterer Miene. „Seit Ihrer Verurteilung ist nicht einmal ein Jahr vergangen. Warum sind Sie auf freiem Fuß?" „Ich wurde vorzeitig entlassen." Sie beugte sich vor und nahm die Kaffeekanne. „Möchten Sie noch eine Tasse, Mr. Calderwood?"
Grey Calderwood schüttelte den Kopf. „Hatte meine Mutter Kontakt zu Ihnen, als Sie im Gefängnis waren?" „Nein. Heute Morgen teilte mir die stellvertretende Direktorin mit, es gäbe jemanden, der mir dabei helfen wollte, noch einmal von vorn zu beginnen. Ein Chauffeur wartete draußen auf mich. Ich habe Mrs. Calderwood erst kennen gelernt, als ich hier angekommen bin." „Meine Mutter lässt sich manchmal von ihren Gefühlen leiten", sagte er kalt. „Sie können sich von Jackson überall hinbringen lassen und sein Handy benutzen, um bei den entsprechenden Behörden anzurufen. Dort wird man Ihnen Leute vermitteln, die Ihnen helfen können." Als Lucia sich Kaffee nachschenkte, musste sie sich zusammenreißen, damit ihre Hand nicht zitterte. Vor ihrer Haft war sie selbstsicher und kontaktfreudig gewesen. Gewisse Eigenschaften würde sie erst wieder erwerben müssen. Grey Calderwood machte sie allein durch seinen Blick unsicher. „Ich würde den Job, den Ihre Mutter mir angeboten hat, gern annehmen", erklärte sie. „Das kommt überhaupt nicht infrage!" entgegnete er scharf. „Meine Mutter braucht auf ihren Reisen jemanden, der hervorragende Referenzen hat und absolut zuverlässig ist, keine ehemalige Strafgefangene." Seine Stimme klang jetzt genauso wie damals im Gerichtssaal. „Ich habe mich keines Verbrechens schuldig gemacht, das mich nicht befähigt, für Kinder oder ältere Menschen die Verantwortung zu tragen." „Das kommt darauf an. Meiner Meinung nach sind Sie keine geeignete Begleiterin für meine Mutter." „Sollte sie das nicht selbst entscheiden?" Grey Calderwood presste die Lippen zusammen. Seine dunkelgrauen Augen funkelten kalt. „Vielleicht kommen Sie ja dadurch zur Vernunft." Er ging zu dem Sessel, über den er seinen Mantel gehängt hatte, und nahm ein Scheckbuch und einen offenbar teuren schwarzen Füller aus der Innentasche. Lucia beobachtete, wie er einen Scheck ausstellte, und überlegte dabei, welche Summe er wohl für angemessen hielt. Obwohl er ihr von dem Moment an, als er in den Zeugenstand getreten war und sie angesehen hatte, als wäre sie eine Schwerverbrecherin, unsympathisch gewesen war, bewunderte sie seine langen, schlanken Finger. „So ... damit müssten Sie klarkommen, bis Sie einen Job finden." Er reichte ihr den Scheck. Sie nahm ihn entgegen, um einen Blick darauf zu werfen. Ihre Eltern waren nie besonders wohlhabend gewesen, obwohl sie beide berufstätig gewesen waren - ihr Vater als Reporter bei einem Provinzblatt, ihre Mutter als Bibliothekarin. Und auch sie, Lucia, hatte immer sparsam leben müssen. Es handelte sich um eine vierstellige Summe, und ihr stockte der Atem. Natürlich wollte Grey Calderwood ihr nicht helfen. Selbst wenn ihre Strafe zehnmal so hoch gewesen wäre, hätte er sich nicht für sie interessiert. „Aber glauben Sie ja nicht, dass Sie noch mehr erwarten können", erklärte er scharf. „Es ist eine einmalige Zahlung. Ich gebe Ihnen das Geld unter der Bedingung, dass Sie für immer aus unserem Leben verschwinden ... Unter den gegebenen Umständen ist es sehr großzügig von mir, Ihnen überhaupt Hilfe anzubieten. Wenn Sie hier wieder auftauchen, werden Sie es bereuen. Ich kann Ihnen große Probleme machen - und genau das werde ich auch tun." „Oh, das tue ich. Sie haben es ja bereits getan", bemerkte Lucia trocken, während sie den Scheck zweimal faltete. „Das haben Sie sich selbst eingebrockt, obwohl Sie es natürlich nie zugeben werden. Sie glauben vermutlich selbst an die rührselige Version, die Ihr Anwalt zum Besten gegeben hat."
Es hatte keinen Sinn, sich mit ihm zu streiten. Schließlich war er privilegiert und würde nie verstehen, warum sie so gehandelt hatte. Im nächsten Moment gesellte Mrs. Calderwood sich wieder zu ihnen. „Tut mir Leid, dass ich euch allein lassen musste." „Ms. Graham hat ihre Meinung geändert", erklärte Grey. „Ihr ist klar geworden, dass es nicht der geeignete Job für sie ist." Sie wirkte enttäuscht. „Hat Grey Sie zu der Entscheidung bewogen, oder haben Sie sie selbst getroffen?" Instinktiv hatte Lucia den Scheck mit der Hand umschlossen. „Mr. Calderwood hätte es gern, dass ich mich so entscheide, aber es ist nicht der Fall. Wenn Sie sich wirklich sicher sind, würde ich gern für Sie arbeiten." „Das ist hervorragend", erwiderte Rosemary Calderwood und ignorierte die Tatsache, dass ihr Sohn wütend war. „Bestimmt würden Sie jetzt gern baden und sich umziehen. Ich habe schon ein paar Sachen für Sie herausgesucht, die meine Töchter hier gelassen haben und die Sie erst mal tragen können." Die grauhaarige Frau betrat wieder das Wohnzimmer. „Ich habe noch mehr Kaffee gekocht", verkündete sie. „Das ist Mrs. Bradley, meine Haushälterin", erklärte Rosemary. „Miss Graham zieht hier ein, Braddy. Würden Sie ihr bitte zeigen, wo sie vor dem Mittagessen baden und sich umziehen kann?" „Moment mal", sagte Grey scharf. „Mutter, ich mische mich nicht oft in deine Angelegenheiten ein, aber diesmal muss ich es tun. Ich kann nicht zulassen, dass du diese junge Frau einstellst." Er wirkte so autoritär, dass Lucia schon fürchtete, seine Mutter würde nachgeben. Schließlich hatte sie es damals bei ihrem Mann auch getan. Es sah allerdings so aus, als hätte sie inzwischen mehr Durchsetzungsvermögen. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen, mein Lieber", antwortete sie sanft, „aber rede bitte nicht in dem Ton mit mir. Dein Vater hat fünfzig Jahre lang über mich bestimmt. Von jetzt an werde ich tun, was ich für das Beste halte." Sie bedeutete Lucia und Mrs. Bradley, dass sie gehen konnten, bevor sie sich wieder an ihn wandte. „Du bleibst doch zum Essen, mein Schatz? Heute koche ich. Es gibt Lammkoteletts." Es war schon lange her, dass Lucia das letzte Mal in einer Wanne gelegen hatte, und selbst zu dem Zeitpunkt war es nicht in einem so luxuriösen Badezimmer wie diesem gewesen. Neben flauschigen hellblauen Handtüchern gab es einen großen Schwamm sowie eine Bürste, und in einem Regal hinter der Wanne standen verschiedene Flaschen und Tuben mit Schaumbad und Badeölen. An einem Haken neben der Dusche hingen sogar ein Bademantel und eine Duschhaube. Als sie den Föhn auf der Ablage neben dem Waschbecken gesehen hatte, hatte sie Mrs. Bradley gefragt, ob sie es noch schaffen würde, sich die Haare zu waschen. Die Haushälterin hatte geantwortet, sie hätte genug Zeit, da erst um eins gegessen würde. Gerade als Lucia ins Wasser tauchte, um ihr Haar nass zu machen, klopfte es an der Tür, und Grey Calderwood kam herein.
2. KAPITEL
Zuerst war Lucia zu erschrocken, um zu reagieren. Als Grey Calderwood dann näher kam, setzte sie sich schnell auf, so dass das Wasser beinah über den Wannenrand geschwappt wäre, und griff nach dem Schwamm, um ihre Brüste zu bedecken. „Wie können Sie es wagen, hier hereinzuplatzen!" fuhr sie ihn an. „Wie können Sie es wagen, meinen Scheck anzunehmen und dann gegen unsere Abmachung zu verstoßen!" konterte er, während er sie kalt musterte. Im Gefängnis hatte es Zeiten gegeben, in denen sie den Mangel an Privatsphäre besonders vermisst und sich unwillkommenen Annäherungsversuchen wehrlos ausgesetzt gefühlt hatte. Das hier war anders, aber genauso beunruhigend. Sie wusste, dass er ihr den Schwamm nicht wegnehmen oder sie berühren würde. Er war vielleicht ein Mistkerl, doch so schlimm nun auch wieder nicht. Zumindest hoffte sie es. Trotzdem war sie wütend, weil er sie nackt überrascht hatte. „Der Scheck liegt auf der Frisierkommode. Ich hatte nie die Absicht, ihn einzulösen. Nehmen Sie ihn, und verschwinden Sie", erklärte sie scharf. „Erst wenn ich einige Dinge klargestellt habe. Meine Mutter will ja nicht hören. Aber glauben Sie ja nicht, Sie könnten in dem Job eine ruhige Kugel schieben. Wenn Sie sich irgendetwas zuschulden kommen lassen, werden Sie es bitter bereuen. Damals sind Sie glimpflich davongekommen. Das werden Sie nicht noch einmal, dafür werde ich sorgen." Lucia war versucht, ihm einige Wörter an den Kopf zu werfen, die sie im Gefängnis gelernt hatte. Doch selbst nachdem sie Monate mit den Frauen zusammen verbracht hatte, bei deren Ausdrucksweise sie zuerst immer zusammengezuckt war, konnte sie es nicht. Außerdem hätte sie ihn damit nur in dem Glauben bestärkt, dass sie keine geeignete Gesellschafterin für seine Mutter wäre. „Ich bin Ihrer Mutter sehr dankbar für ihre Hilfe", erwiderte sie daher. „Ich werde ihr Vertrauen nicht missbrauchen." „Sehen Sie zu, dass Sie es nicht tun." Er verließ das Bad. Grey und seine Mutter saßen im Wohnzimmer und plauderten miteinander, als Lucia sich zu ihnen gesellte. Aus den Sachen, die Mrs. Calderwood für sie hingelegt hatte, hatte sie eine schlichte weiße Bluse und eine helle Khakihose herausgesucht. Grey stand auf, als sie den Raum betrat. Allerdings war ihr klar, dass er es nur tat, weil er es auf Grund seiner Erziehung von klein auf gewohnt war. „Was möchten Sie trinken, Lucia?" fragte Mrs. Calderwood. „Grey trinkt Gin Tonic, und ich nehme immer Campari Soda als Aperitif - es sei denn, ich bin allein. Dann trinke ich nie." „Könnte ich bitte etwas Nichtalkoholisches haben?" Nach monatelanger Enthaltsamkeit wollte Lucia keinen Schwips riskieren. „Natürlich. Orangen- oder Pfirsichsaft?" „Orangensaft bitte." Grey ging zu einem antiken Schrank, der eine Bar sowie einen Kühlschrank enthielt, und brachte ihr ein Kelchglas mit Saft und Eiswürfeln. Statt es ihr zu reichen, stellte er es jedoch auf den Tisch neben ihr. Sie hatte sich inzwischen zu seiner Mutter aufs Sofa gesetzt. „Danke." Unwillkürlich fragte sie sich, ob er den Körperkontakt mit ihr bewusst mied. Sicher hatte er vorher noch nie mit einem ehemaligen Häftling zu tun gehabt. „Wie war das Essen im Gefängnis?" erkundigte sich Rosemary Calderwood. „Ich schätze, wie im Internat ... matschige Kartoffeln und zerkochtes Gemüse." Lucia nickte. „So ungefähr. Aber ein Gefängnisaufenthalt soll ja auch keine Vergnügungsfahrt sein." „Nein, aber man sollte den Insassen vernünftige Ernährung bieten. Sie sehen sehr dünn aus. Das werden wir bald ändern. Braddy und ich sind beide hervorragende Köchinnen, und wir haben einen großen Gemüsegarten. Ich bin eine richtige Gesundheitsfanatikerin. Meine Kinder ärgern mich immer damit, aber ich finde, man ist, was man isst."
Rosemary, der die unverhohlene Feindseligkeit zwischen ihrem Sohn und Lucia nicht entging, hielt die Unterhaltung in Gang und erwies sich damit als perfekte Gastgeberin. Wäre Grey nicht gewesen, hätte Lucia sich wie im siebten Himmel gefühlt. Allein der Anblick des eleganten Wohnzimmers, das mit Antiquitäten und Perserteppichen eingerichtet und mit frischen Blumen aus dem Garten dekoriert war, tat ihr nach dem Gefängnisaufenthalt gut. Schließlich gingen sie ins Esszimmer, wo am Ende eines langen, polierten Tischs für drei Personen gedeckt war. Grey rückte seiner Mutter den Stuhl zurecht, und Lucia setzte sich ebenfalls. Kurz darauf erschien Mrs. Bradley mit dem ersten Gang, gegrillten Auberginen mit Kräutern und Schafskäse. „Trinken Sie Wein?" fragte Grey, nachdem er seiner Mutter ein Glas eingeschenkt hatte. Lucia beschloss, dass ein Glas nicht schaden konnte. „Ja, bitte." Er kam um den Tisch herum, und sie war sich überdeutlich seiner Nähe bewusst. Lag es daran, dass sie in den letzten Monaten nur Kontakt zu Frauen gehabt hatte? Der Gefängnisarzt und der Pfarrer waren die einzigen Männer gewesen, die sie gesehen hatte. Die Auberginen schmeckten köstlich. Der zweite Gang waren die Lammkoteletts, bestrichen mit Olivenpaste, und dazu gab es einen Salat. Während sie aßen, erkundigte Grey sich unvermittelt: „Tragen Sie eine PID?" Lucia erschrak, weil er wieder so feindselig wirkte. „Was ist eine PID?" fragte seine Mutter. „PID bedeutet ,Personal Identification Device'", erwiderte Lucia ruhig. „Es ist ungefähr so groß wie eine Taucheruhr und kann sowohl ums Fuß- als auch ums Handgelenk getragen werden. Es ist ein Sender, mit dem man ehemalige Häftlinge überwacht, die wie ich vorzeitig entlassen wurden und sich nur in einem bestimmten Gebiet aufhalten dürfen." Dann wandte sie sich an Grey. „Ich trage keine, Mr. Calderwood. Offenbar hielt man es nicht für nötig. Ich kann mich frei bewegen." „Vielleicht nicht, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das Land verlassen dürfen", sagte er streng. „Und wenn Sie nicht ins Ausland reisen dürfen, werden Sie meiner Mutter nicht viel nützen." Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Sie hatte das ungute Gefühl, dass er Recht hatte. „Miss Harris hat den Punkt angesprochen", ließ sich Mrs. Calderwood vernehmen. „Zum Glück kenne ich jemanden im Innenministerium. Netterweise hat er seine Beziehungen für mich spielen lassen. Da ich zwanzig Jahre lang als Schiedsfrau tätig war, kam man zu dem Ergebnis, dass ich mich dafür eigne, Lucia zu überwachen, bis sie sich frei bewegen kann. Solange ich bei ihr bin, unterliegt sie keinerlei Einschränkungen." Grey wirkte jetzt noch furchteinflößender. Offenbar hatte er geglaubt, eine Trumpfkarte auszuspielen. Lucia überlegte, ob er wohl auch Freunde in hohen Positionen hatte, die ihren Einfluss für ihn geltend machen konnten. Er war offenbar ein sehr willensstarker, ja rücksichtsloser Mann. Als Nachtisch gab es Rhabarberkompott mit Schlagsahne. Für einen Moment vergaß Lucia die Anwesenheit des Mannes, der ihr gegenübersaß, und sagte zu ihrer Gastgeberin: „Dieses Essen werde ich nie vergessen. Es war ..." Sie machte eine ausdrucksvolle Geste. „Es freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat. Und da es so ein schöner Tag ist, schlage ich vor, dass wir den Kaffee auf der Terrasse trinken, ja? Danach zeige ich Ihnen den Garten. Seit meine Kinder ausgezogen sind, ist das Gärtnern mein größtes Hobby", berichtete Rosemary. „Aber da es mir allmählich zu anstrengend wird, wende ich mich immer mehr der Malerei zu."
„Nach dem Kaffee muss ich los", erklärte Grey. „Ich hätte gar nicht erst blaumachen sollen." Noch während Lucia überlegte, dass diese Ausdrucksweise gar nicht zu ihm passte, blickte er sie an. Ihr war klar, was er in diesem Moment dachte: Aber ich bin froh, dass ich es getan habe, sonst hätte ich nicht von Ihnen gewusst. „Du arbeitest zu viel", bemerkte seine Mutter. „Pass auf, dass du nicht wie dein Vater wirst. Es gibt wichtigere Dinge im Leben." Lucia wusste nicht genau, was er beruflich machte. Auf jeden Fall musste er viel verdienen, wenn er sechsstellige Summen für Gemälde ausgeben konnte. Während der Verhandlung hatte die Regenbogenpresse ihn stets als „Tycoon und Kunstkenner" bezeichnet und sein Alter nach seinem Namen genannt. Damals war er sechsunddreißig gewesen. Da die meisten Millionäre in seinem Alter aus der Computerbranche kamen und er nicht gerade wie die britische Antwort auf Bill Gates aussah, lag es nahe, dass er die Früchte der Arbeitswut seines Vaters geerntet hatte. Calderwood Senior musste ein wohlhabender Mann gewesen sein, wenn man bedachte, wie exklusiv Greys Elternhaus war und dass seine Mutter nie gearbeitet hatte. Grey ging auf die Worte seiner Mutter nicht ein. Vielleicht hatte er es nicht zum ersten Mal gehört und nahm es daher nicht ernst. Er schien immer das zu tun, was er für das Beste hielt, egal, was andere ihm rieten. Er war offenbar sehr ehrgeizig. Allerdings vermochte Lucia nicht zu sagen, worauf sein Ehrgeiz abzielte. Höchstwahrscheinlich auf Geld oder Macht oder beides. Ihr waren kreative Menschen lieber - Künstler, Musiker, Dichter. Vermutlich war ein Gemälde für Grey eher eine Investition als eine Inspiration. Auf der Terrasse standen bequeme Korbsessel und Liegestühle. Am liebsten würde ich mich jetzt hinlegen und ein Nickerchen machen, dachte Lucia, während sie ihren Kaffee trank. Es war ein anstrengender Tag gewesen - erst die Entlassung, dann die geheimnisvolle Fahrt und die Auseinandersetzung mit Grey. In der letzten Nacht hatte sie kaum geschlafen. Nun fiel es ihr schwer, die Augen offen zu halten ... Auf der Rückfahrt nach London machte Grey sich Vorwürfe, weil er nichts von den Plänen seiner Mutter geahnt hatte und deswegen auch nichts mehr hatte tun können. Er hatte eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Fälscher vor Gericht zu bringen, und seine Mutter hatte es nicht gern gesehen. Er liebte sie und seine Schwestern, doch sie waren alle gleich: sentimentale, liberale Menschenfreunde, die für alles außer Verbrechen an Kindern, Tieren und der Menschheit immer eine Entschuldigung fanden. Und selbst in solchen Fällen suchten sie nach einer Erklärung für die Beweggründe des Schuldigen. Er gehörte nicht zu der Fraktion, die die so genannten Opfer der Gesellschaft bedauerte. Er betrachtete sich zwar nicht als Hardliner, doch er war Realist. Damals hatte er nicht bedauert, entscheidend an der Aufdeckung und der Bestrafung der Täter beteiligt gewesen zu sein. Nun, da er Lucia kennen gelernt hatte, war ihm nicht mehr so wohl bei der Vorstellung, was sie durchgemacht haben musste. Grey erinnerte sich daran, wie sie in der Badewanne ausgesehen hatte und der Anblick ihrer nackten Brüste ihn auch noch erregt hatte. Deswegen war er ihr gegenüber viel unfreundlicher gewesen als beabsichtigt. Ob man sie im Gefängnis auf Grund ihres attraktiven Äußeren sexuell belästigt hatte? So etwas kam ja oft vor, und zwar sowohl von Seiten der anderen Insassen als auch der Mitarbeiter. Und auf Grund der Tatsache, dass Lucia in den Augen von Frauen wie seiner Mutter eine Lady war, hatte sie im Gefängnis wahrscheinlich einen noch schwereren Stand gehabt. Unwillkürlich sah Grey sie in einer Zelle mit Schwerverbrecherinnen eingeschlossen vor sich, vor denen sie nicht fliehen konnte. Das machte ihn so wütend, dass er das Gaspedal noch
weiter durchtrat. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten hatte. Er nahm den Fuß vom Gas und versuchte an etwas anderes zu denken als an die junge Frau, die tief und fest geschlafen hatte, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. „Sie ist völlig erschöpft, die Arme. Lassen wir sie allein und machen einen Spaziergang", hatte seine Mutter geflüstert. Später beim Abschied hatte sie zu ihm gesagt: „Du bist doch nicht böse auf mich, weil ich dir vor dem Essen Kontra gegeben habe, oder? Dein Vater wäre wütend gewesen, aber ich glaube nicht, dass du so selbstherrlich und sensibel bist, wie er es war. Ich habe ihn zwar geliebt, aber nicht immer gemocht, weißt du. Wir waren nie Freunde und gleichberechtigte Partner, wie es bei Eheleuten eigentlich der Fall sein sollte ... und wie es hoffentlich bei dir und deiner Frau ist, wenn du eines Tages heiratest." Er hatte es zwar nicht zugegeben, doch er war wütend gewesen, weil sie ihn vor Lucia und Braddy zurechtgewiesen und gesagt hatte, er sollte nicht in diesem Ton mit ihr reden. Allerdings konnte er ihr nie lange böse sein. Zu der Zeit, als er sich die Hörner abgestoßen und noch nicht gewusst hatte, wie er am besten mit seinem Vater umging, hatte sie Auseinandersetzungen zwischen ihnen abgewendet. Er wusste, dass sie einen hohen Preis für ihre Liebe zu seinem Vater bezahlt hatte. Dieser hatte zwar immer behauptet, er würde sie über alles lieben, aber von ihr erwartet, dass sie seinem Bild von der perfekten Ehefrau entsprach. Einer ihrer sehnlichsten Wünsche war, dass er, Grey, in die Fußstapfen seiner Schwestern trat, indem er heiratete und eine Familie gründete. Allerdings hielt er es für unwahrscheinlich. Obwohl er diverse Beziehungen gehabt hatte, war nie eine Frau dabei gewesen, die ihn ernsthaft in Versuchung geführt hatte, seine Freiheit aufzugeben. Und vermutlich würde er dies auch niemals tun. Als Lucia wieder aufwachte, stellte sie fest, dass sie mit Rosemary allein war. Diese saß gerade an einer Stickerei. „Oh, tut mir Leid", sagte Lucia. „Wie lange habe ich geschlafen?" „Nur etwas mehr als eine Stunde. Sie müssen sich nicht entschuldigen, denn Sie haben es gebraucht. Grey ist wieder nach London gefahren. Er wohnt an der Themse. Länger als achtundvierzig Stunden halte ich es in London nie aus, dann muss ich aufs Land zurück. Ich sage Braddy Bescheid, dass Sie wach sind. Wir trinken Tee, und dann machen wir einen Ausflug." Um sieben aßen sie im Wohnzimmer zu Abend und sahen dabei die Nachrichten. Anschließend gab es ein Magazin übers Gärtnern, das Rosemary sich ansehen wollte, und danach eine beliebte Comedy Show. Als die Show vorbei war, erklärte Rosemary: „An Ihrer Stelle würde ich heute früh ins Bett gehen oder wenigstens im Bett lesen. Ich habe Ihnen einige Bücher auf den Nachttisch gelegt, die Sie vielleicht interessieren." Sie stand auf, und Lucia erhob sich ebenfalls. ¦ „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll, dass Sie mir diese Chance geben. Ich werde mein Bestes tun, damit Sie es niemals bereuen." „Das werde ich bestimmt nicht", erwiderte Rosemary freundlich. „Gute Nacht, Lucia. Hoffentlich schlafen Sie gut. Morgen werden wir unsere erste gemeinsame Reise planen." Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen legte sie ihr dann die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Wangen. Während ihrer Haft hatte sie festgestellt, dass sie die Schikanen einiger Wärterinnen und das feindselige Verhalten einiger Mitinsassen ertragen konnte. Wenn allerdings jemand unerwartet freundlich zu ihr war, verlor sie immer die Fassung. Nun schnürte ihr Rosemarys liebevolle Geste die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen. Lucia riss sich jedoch zusammen. Erst als sie allein in ihrem Zimmer war, sank sie in einen Sessel und ließ den Tränen freien Lauf.
Nachdem sie sich später fertig gemacht und das handgesmokte weiße Voilenachthemd angezogen hatte, das auf dem Bett lag, zog sie die Gardinen zurück und schaltete das Licht aus. Heute Abend war ihr nicht nach Lesen zu Mute. Sie wollte einfach nur in dem bequemen Bett liegen, den Mond betrachten und sich dabei an den Gedanken gewöhnen, dass sie nun wieder eine Perspektive hatte. Dass Grey seine Meinung über sie je ändern würde, konnte sie sich nicht vorstellen. Die Aussicht darauf, in den Augen vieler Menschen für immer als Verbrecherin abgestempelt zu sein, war deprimierend. Reiß dich zusammen, sagte Lucia sich dann, als ihre Lippen erneut zu beben begannen und sie wieder den Tränen nahe war. Was spielte es schon für eine Rolle, ob Grey sie weiterhin verachtete? Was wusste er als reicher Mann schon von den Problemen ganz normaler Leute? Offenbar war er es nicht gewohnt, dass sich ihm jemand widersetzte. Und wahrscheinlich würde er es ihr, Lucia, anlasten, dass er seine Mutter nicht hatte umstimmen können. Und vielleicht suchte er sogar nach Möglichkeiten, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Das würde sie sich allerdings genauso wenig gefallen lassen wie an diesem Morgen, als er versucht hatte, sie zu bestechen. Vielleicht würde es „Mr. Grey", wie die Haushälterin ihn nannte, gut tun, wenn es jemanden in seinem Umfeld gab, der nicht vor ihm katzbuckelte.
3. KAPITEL Am nächsten Morgen wurde Lucia vom Gesang der Vögel geweckt. Sie lag da und lauschte. Es war wunderschön, ganz anders als das Gezwitscher der Vögel in der Stadt. Irgendwann verstummte der Gesang, und sie nickte wieder ein, bis etwas anderes sie weckte. Diesmal fiel helles Sonnenlicht ins Zimmer, und Mrs. Bradley brachte das Frühstück auf einem Tablett. „Mrs. Calderwood meint, Sie sollen sich noch ein paar Tage schonen", erklärte die Haushälterin, nachdem sie sich gegenseitig einen guten Morgen gewünscht hatten. „Sie kommt gleich, um Sie zu besuchen. Sie können doch Eier essen, oder?" „Ich kann alles essen", versicherte Lucia. Nachdem die Haushälterin das Zimmer wieder verlassen hatte, stand sie schnell auf, um sich die Zähne zu putzen. Als Erstes trank sie dann den gekühlten Orangensaft. Unter einer versilberten Haube befand sich ein pochiertes Ei, das nur von frei laufenden Hühnern stammen konnte, auf einer Scheibe Toast. Außerdem gab es einen Korb mit weiteren, in eine Serviette gewickelten Scheiben, ein Schälchen mit Butter sowie ein Glas mit Marmelade, die genau wie das Brot selbst gemacht zu sein schien. Nachdem sie monatelang nur die schreckliche Gefängniskost bekommen hatte, genoss Lucia jeden Bissen. Sie schenkte sich gerade die letzte Tasse Tee ein, als es an der Tür klopfte und Rosemary erschien. „Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen?" „Wunderbar. Danke." „Gut. Ich habe gehört, dass eine Entlassung aus dem Gefängnis wie eine Entlassung aus dem Krankenhaus nach einer schweren Operation ist. Man soll es langsam angehen lassen. Ich dachte, wir könnten mit den Hunden spazieren gehen. Sie gehören meiner ältesten Tochter Julia und ihrem Mann. Die beiden besuchen gerade ein Wildschutzreservat, und ich passe solange auf die Hunde auf." Als sie später die Hunde ausführten, einen Golden Retriever und zwei temperamentvolle Jack Russells, sagte Rosemary: „Sie haben sich bestimmt schon gewundert, warum ich Sie nicht vorher im Gefängnis besucht habe, um mich Ihnen vorzustellen, stimmt's?" „Nein, daran hatte ich noch gar nicht gedacht", erwiderte Lucia. „Ich wollte nicht stören, weil die Besuchszeit ohnehin so kurz war", erklärte Rosemary. „Außerdem dachte ich, es würde Ihnen dann schwerer fallen, Freunde zu finden." „Ja", bestätigte Lucia. Dass niemand sie besucht hatte, verschwieg sie. Einige der Leute, die sie vielleicht hätten besuchen können, wohnten zu weit weg. Nachdem sie ihren letzten Job aufgegeben hatte, um ihren kranken Vater zu pflegen, hatte sie keinen Kontakt mehr zu früheren Kolleginnen gehabt. Und soweit sie es bei den anderen miterlebt hatte, waren Besuche von Familienmitgliedern oder Freunden nicht immer erfreulich, sondern regten die Insassen zu sehr auf. Doch sie wollte nicht über das nachdenken, was sie im Gefängnis gelernt hatte. Sie wollte es hinter sich lassen und in die Zukunft blicken. „Diese Malreisen, von denen Sie gestern gesprochen haben ... Wohin wollen Sie reisen?" fragte sie. „Ich dachte, wir könnten mit den Kanalinseln anfangen. Vor Jahren, als die Mädchen noch klein waren, haben wir mit Freunden, die auch kleine Kinder hatten, für einen Monat ein Haus auf Sark gemietet. Unsere Männer sind an den Wochenenden gekommen. Wir sind auch oft nach Frankreich gereist. Sprechen Sie Französisch, Lucia?" „Leider kaum." „Macht nichts. Es ist unwichtig. Ich bin auch kein Sprachgenie, genauso wenig wie mein Mann es war. Ich habe keine Ahnung, woher Grey seine Sprachbegabung hat."
„Braucht er für seine Arbeit Fremdsprachenkenntnisse?" „Eigentlich nicht, aber er reist viel - sowohl geschäftlich als auch privat." In seinem geräumigen Büro, das sich im obersten Stockwerk eines Hochhauses an der Themse befand, ging Grey auf dem dicken Teppich auf und ab und dachte an die junge Frau, die vor achtundvierzig Stunden noch im Gefängnis gesessen hatte und heute von seiner Mutter verwöhnt wurde. Eigentlich hätte er sich mit anderen Dingen beschäftigen müssen. Normalerweise war sein Leben durchorganisiert, und er hatte es der Immobilienfirma gewidmet, die sein Großvater gegründet und sein Vater vergrößert hatte und die er nun leitete. Die Firma sollte nun weiterexpandieren. Momentan war er jedoch nicht in der Lage, sich darauf zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, dass diese junge Frau Probleme machen würde, wenn er nichts dagegen unternahm. Nachdem er die Klingel gedrückt hatte, um seine Assistentin zu rufen, ging er weiter in seinem Büro auf und ab. Kurz darauf erschien seine Assistentin auf der Schwelle. „Bringen Sie mir bitte die Akte über den Fall, in den ich verwickelt war, Alice. Und ich möchte mit meiner Schwester Jenny sprechen, wenn Sie sie erreichen." Alice nickte und verschwand wieder. Kurz darauf kehrte sie mit einem schwarzen Kingbuch zurück, das sie auf seinen Schreibtisch legte. Grey blätterte gerade die Zeitungsausschnitte durch, die sich jeweils in einer Klarsichthülle mit Datum befanden, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. „Ja?" „Ich habe Mrs. Wentworth am Apparat, Mr. Calderwood." „Stellen Sie sie bitte durch. Hallo, Jenny. Wie geht es dir?" Nachdem seine Schwester geantwortet hatte, fuhr Grey fort: „Hast du dieses Wochenende Zeit? Prima. Dann ruf Mum an, und lade dich am Sonntag zum Mittagessen ein, ja? Ich möchte deine Meinung über ihre neuste gescheiterte Existenz hören." Die Nachricht, dass Rosemarys jüngste Tochter zum Mittagessen kommen würde, machte sie etwas nervös. Doch Lucia wusste, dass sie sich daran gewöhnen musste, wieder unter Menschen zu kommen. Als Mrs. Calderwood hinzufügte, dass Grey auch erscheinen würde, wurde Lucia noch nervöser. Sie hoffte nur, dass man es ihr nicht anmerkte. „Besucht er Sie oft?" fragte sie. „Sooft er kann ... Allerdings ist er sehr beschäftigt", erwiderte Rosemary. „Jennys Mann Tom ist gelassener als Grey. Er hat mit einem Partner zusammen ein Architekturbüro. Das ist nicht immer einfach, aber nichts im Vergleich zu der Verantwortung, die auf Greys Schultern lastet. Heutzutage, wo der Konkurrenzkampf so groß ist, ist es schwer, Entscheidungen zu treffen, die Konsequenzen für so viele Mitarbeiter haben. Deswegen hat mein Mann auch gesundheitliche Probleme bekommen. Aber Grey hält sich fit. Robert hat Golf gespielt, nur hat es ihm wohl nicht so gut getan. Grey schwimmt, fechtet und geht ins Fitnessstudio." „In welcher Branche ist er tätig?" erkundigte sich Lucia. „Sein Großvater war Bauunternehmer. Er hat mit seiner Firma nie viel Geld verdient, aber alles in Land investiert. Vielleicht kennen Sie den Filmstar und Komiker Bob Hope. Er war damals sehr berühmt und sein Lieblingsschauspieler. Mein Schwiegervater hatte irgendwo gelesen, dass Bob Hope den größten Teil seiner Gagen investierte, indem er Grundstücke am Rand verschiedener Städte in den USA kaufte. Deswegen machte mein Schwiegervater es auch. So konnte Robert mit der Firma expandieren. Als Grey seinen Universitätsabschluss machte, war es eine der größten mittelständischen Firmen in Großbritannien." Lucia wusste inzwischen, dass die Calderwoods sich sehnlichst einen Sohn gewünscht hatten. Nach der Geburt ihrer drei Töchter hatte Rosemary zwei Fehlgeburten gehabt. Mit vierunddreißig war sie wieder schwanger geworden und hatte die meiste Zeit im Bett verbringen müssen, war jedoch mit einem Sohn belohnt worden. Vermutlich hatte die ganze Familie Grey nach Strich und Faden verwöhnt.
Lucia überlegte, warum er nicht verheiratet war. Den Gedanken, dass er homosexuell sein könnte, hatte sie schnell wieder verworfen. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als kommerzielle Künstlerin war sie vielen Homosexuellen begegnet, die sie nicht immer sofort als solche erkannt hatte. Allerdings hatte keiner von ihnen eine solche Ausstrahlung gehabt wie Grey. Sie war sicher, dass er sich nur für Frauen interessierte und diese Frauen immer die tollsten Miezen waren und sein würden. Warum sollte ein attraktiver und reicher Mann wie er sich mit weniger zufrieden geben als einer Mischung aus Glamour und Intelligenz? Am Sonntagmorgen wollte Rosemary im nächstgelegenen Dorf in die Kirche gehen. Sie fragte sie, ob sie sie begleiten wollte, aber es schien ihr nichts auszumachen, als Lucia dankend ablehnte. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass sie hier jemand aus den Zeitungen wieder erkannte, war sie noch nicht bereit, sich wieder unter Menschen zu begeben. Das Mittagessen im Kreis der Familie würde ihr für diesen Tag reichen. Inzwischen hatte sie die Bluse, den Pullover und die Jeans, die sie am Tag ihrer Ankunft getragen hatte, gewaschen, so dass sie sie heute anziehen konnte. Ihre übrige Kleidung war genau wie ihre anderen Sachen eingelagert. Nicht, dass sie viel besessen hätte - außer ihrer Kleidung nur Bücher und ihre Malsachen. Mrs. Calderwood war noch nicht zurück, und Lucia deckte gerade im Esszimmer nach Mrs. Bradleys Anweisungen den Tisch, als sie den Wagen in der Auffahrt sah. Es war ein Jaguar, und am Steuer saß Grey. Er stieg aus, kam allerdings nicht aufs Haus zu, sondern blieb stehen, blickte auf den Garten und streckte sich dabei. Er trug ein blaues Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, und eine Khakihose. Bevor er sich umdrehte und sie womöglich bemerkte, ging Lucia schnell weiter ins Zimmer hinein. Er betrat das Haus jedoch nicht durch den Haupteingang, sondern durch die Hintertür, die direkt in die Küche führte. Dort hörte sie ihn mit der Haushälterin reden. Schließlich wurde die Verbindungstür geöffnet, und er kam ins Esszimmer. Lucia verspürte ein nervöses Prickeln, riss sich aber zusammen und wünschte ihm höflich einen guten Morgen. „Guten Morgen. Wenn Sie hier fertig sind, würde ich gern mit Ihnen reden. Braddy macht mir Kaffee. Ich bin auf der Terrasse." Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er nach draußen. Sie überlegte, was er ihr wohl sagen würde, während sie den Tisch fertig dekorierte. In den Regalen der ehemaligen Spülküche standen zahlreiche Vasen, und sie hatte einige herausgesucht und darin die Blumen arrangiert. „Bitte machen Sie kleine Sträuße, damit wir uns alle ansehen können", hatte Mrs. Calderwood sie angewiesen, bevor sie aufgebrochen war. Passend zur Farbe der Blumen hatte Lucia Leinensets ausgesucht und darauf das Silberbesteck gelegt. Die Servietten harmonierten farblich mit den Sets, und die kleinen Teller waren aus antikem Porzellan. Der Tisch, dessen Oberfläche matt schimmerte, war so schön gedeckt, dass sie ihn am liebsten gemalt hätte. Als sie die Terrasse betrat, stand Grey auf. Er trank gerade Kaffee aus einem gelben Becher. „Haben Sie schon Kaffee getrunken?" erkundigte er sich. „Ja, vorhin." Grey bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und setzte sich auf einen Stuhl, der im rechten Winkel zu ihrem stand. „Wohin wären Sie eigentlich gegangen, wenn meine Mutter sich Ihrer nicht angenommen hätte? Wenn Insassen entlassen werden, vergewissert sich die Gefängnisleitung doch bestimmt, ob sie eine Wohnmöglichkeit haben oder Geld für Essen und eine Unterkunft?"
„Ich wollte einen meiner Koffer holen und mir dann ein Zimmer in einer Pension suchen. Die Wohnung, in der ich vorher gelebt hatte, war nur gemietet." „Wo ist Ihr Koffer?" „Es sind zwei, aber ich hätte nur den mit meiner Kleidung, meinem Föhn und so weiter gebraucht. Ich habe die Koffer gepackt und eingelagert, als ich gegen Kaution frei war. Mein Anwalt rechnete damit, dass meine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden würde, aber ich hielt es für das Beste, mich auf das Schlimmste gefasst zu machen." „Was heißt eingelagert'?" „In der Nähe meiner ehemaligen Wohnung gibt es ein Möbellager." Grey zog eine Augenbraue hoch. „Und warum haben Sie die Sachen nicht zu Freunden oder Verwandten gebracht?" „Ich habe keine nahen Verwandten. Meine Eltern waren beide Einzelkinder. Und ich wollte es niemandem zumuten, zwei Koffer aufzubewahren. Ihr Haus ist sicher wesentlich geräumiger als die meisten, aber würden Sie sich mit zwei Koffern belasten?" Er dachte einen Moment darüber nach. „Das hängt davon ab, wie gut die Freundschaft ist", meinte er schließlich. „Meine beiden besten Freundinnen waren nicht da. Eine arbeitet in New York, und die andere ist mit einem Italiener verheiratet und lebt in Mailand." „Dann sind Sie also ganz allein?" „Ja, aber das ist nicht so schlimm. Heute sind doch die meisten Menschen allein. Große Familien, die zusammenhalten wie Ihre, sind die Ausnahme, Mr. Calderwood." „Ich weiß, und ich wünschte, es wäre nicht so", sagte er stirnrunzelnd. „Es ist nicht gut für die Gesellschaft, und den Kindern schadet es am meisten. Aber es sind nicht die Männer, die daran schuld sind, dass die Familie als solche kaum noch existiert, sondern die Frauen. Es ist zwar immer noch eine Männerwelt, doch der Wandel ist eine Folge der Fraueninitiativen." „Was meinen Sie damit?" Bevor er antworten konnte, ertönte die Türklingel. „Das müssen meine Schwester und ihr Mann sein." Er stand auf, um zu öffnen. Ob Rosemary den beiden alles über sie erzählt hatte? Lucia stand auf und brachte den Becher in die Küche. Sie hätte gern gewusst, was Grey erwidert hätte. Allerdings glaubte sie nicht, dass er das Thema in Gegenwart der anderen wieder aufgriff oder dass sie an diesem Tag noch einmal mit ihm allein sein würde. Lucia hatte den Becher abgespült und trocknete ihn gerade ab, als Mrs. Calderwood durch die Verbindungstür zum Esszimmer in die Küche kam. „Ich bin wieder da. Wie läuft's, Braddy?" „Ich habe alles unter Kontrolle." „Gut. Ich stelle Lucia den anderen vor und komme dann wieder, um mein Spezialdressing zu machen." Rosemary bedeutete Lucia, ihr zu folgen, und ging zu der Tür, die zur hinteren Seite der Eingangshalle führte. Da Rosemary ein Kleid trug, hatte Lucia befürchtet, dass ihre Jeans nicht angebracht waren. Erleichtert stellte sie jedoch fest, dass Rosemarys Tochter auch in Jeans erschienen war. Allerdings hatte diese sie mit einem sichtlich teuren Designerpulli kombiniert, während ihre Bluse aus einem Secondhandshop stammte. Bevor Rosemary sie miteinander bekannt machen konnte, sprang Jenny auf und streckte Lucia die Hand entgegen. „Hallo, ich bin Jenny ... und Sie müssen Mums ehemalige Strafgefangene sein, auch wenn Sie überhaupt nicht so aussehen. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Das ist mein Mann Tom." Ein gedrungener Mann mit Geheimratsecken und freundlich blickenden blauen Augen schüttelte ihr die Hand. „Hallo, Lucia. Ich bin Architekt... und mit einer Frau verheiratet, die sich ihrer Offenheit rühmen kann. Deswegen wechseln auch viele Leute die Straßenseite,
wenn sie uns sehen. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, hat sie mir gesagt, dass ich nach Knoblauch stinke." „Aber ich mochte ihn so sehr, dass ich ihm trotz der Knoblauchfahne einen Gutenachtkuss gegeben habe ... und er wollte immer mehr, und nun sind wir seit zwanzig Jahren verheiratet", bemerkte Jenny lachend. „Was möchten Sie trinken, Lucia? Weißwein?" Sie hob ihr Glas. „Ja, bitte." Grey reichte seiner Mutter gerade einen Campari Soda. Er blickte Lucia an. „Jenny trinkt gern lieblichen Wein. Möchten Sie lieber einen trockenen?" Zuerst war sie erschrocken, weil Jenny sie als ehemalige Strafgefangene bezeichnet hatte. Nun war Lucia ihr allerdings dankbar, weil Jenny es sofort angesprochen hatte, und Tom, weil er über die Offenheit seiner Frau gewitzelt hatte. Offenbar waren die beiden sehr glücklich miteinander. „Ich nehme dasselbe wie Jenny." Lucia lächelte Jenny an. „Alkohol zu trinken ist der reinste Luxus für mich. Man konnte im Gefängnis welchen unter der Hand kaufen, aber so verzweifelt war ich nun auch wieder nicht." „Haben Sie dort eine Frau kennen gelernt, mit der Sie sich gut verstanden haben?" „Im Gefängnis ist man dankbar, wenn überhaupt jemand freundlich zu einem ist", erwiderte Lucia leise. Doch ihr war klar, dass Leute, die nie im Gefängnis gesessen hatten, auch nicht verstehen würden, wie es „drinnen" war. Jenny wollte noch etwas sagen, aber ihr Bruder kam ihr zuvor. „Fang nicht an, sie auszuquetschen, Jen." Er drückte Lucia ein Glas in die Hand und fuhr fort: „Meine Schwester war mal Journalistin, genauer gesagt, Reporterin bei einem Wochenblatt. Vor ihr lag eine viel versprechende Karriere in London. Dann hat sie allerdings Tom kennen gelernt und sich anders entschieden." „Und ich habe es nie bedauert", ergänzte Jenny. „Die drei Jahre bei der Gazette haben mir Spaß gemacht, aber ich bin gern meine eigene Chefin. Jetzt, wo die Kinder groß sind, versuche ich vielleicht, mich als Freischaffende zu verdingen." „Hast du gestern den Artikel in der Zeitung gelesen?" erkundigte sich Tom und lenkte die Unterhaltung in andere Bahnen.
4. KAPITEL
Als Grey eine halbe Stunde später zu essen begann, überlegte er, warum er sich eingemischt hatte, als seine Schwester begonnen hatte, Lucia auszufragen. Schließlich hatte er sie hergebeten, damit sie ihm ihre Meinung über sie mitteilte. Seltsamerweise hatte er Gewissensbisse verspürt, als er Lucias Miene gesehen hatte. Er sah auf und ließ den Blick durch die Runde schweifen. Seine Mutter saß neben ihm am Kopfende, auf der anderen Seite von ihr Tom und daneben Lucia. Sie plauderten angeregt miteinander, während Jenny, die auf der anderen Seite von ihm Platz genommen hatte, sich mit seiner Mutter unterhielt. Er beobachtete, wie Lucia lachte. In Toms Nähe wirkte sie ganz entspannt, bei ihm dagegen war sie immer nervös und zurückhaltend. Und das sollte sie auch sein, denn sie hatte ihn eine Menge Geld und Ansehen gekostet. Allerdings konnte er damit besser leben als die Inhaber des Auktionshauses, von dem er den vermeintlich echten Southall gekauft hatte. Ihr Ruf war ruiniert, seiner hatte lediglich gelitten. Dass der Drahtzieher des Betrugs immer noch im Gefängnis saß und erst. in einigen Jahren wieder auf freiem Fuß sein würde, war unerheblich. Ohne Lucia hätte er seine Pläne nie in die Tat umsetzen können. Grey überlegte, ob die Beziehung zwischen den beiden rein geschäftlicher Natur gewesen war. Er würde Lucia später fragen. Vielleicht würde er auch Jenny bitten, es herauszufinden. Sie gewann schnell das Vertrauen anderer. Lucia machte nicht den Eindruck, als wäre sie sexuell sehr erfahren. Als er ins Bad gekommen war, hatte sie beinah prüde reagiert. Aber vielleicht tat sie nur so - sehr wahrscheinlich sogar. Wie eine Katze war sie auf die Füße gefallen und war viel zu clever, um sich diese unerwartete Gelegenheit, das Leben auf Kosten von jemand anders zu genießen, entgehen zu lassen. Lucia merkte, dass Grey sie beobachtete, und daher fiel es ihr schwer, Tom ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Er erzählte ihr gerade von einem bekannten schottischen Architekten, der sich im neunzehnten Jahrhundert einen Namen gemacht hatte. „Das Schlimme ist, dass Thomsons Gebäude bis vor kurzem noch abgerissen wurden", erzählte er. „Darunter auch eines seiner schönsten, mit schwarzen Marmorkaminen und wunderschönen Stuckdecken." „Wirklich ein Jammer!" pflichtete sie ihm bei. Sie meinte es ernst, schaffte es jedoch beim besten Willen nicht, Greys kühlen Blick zu ignorieren. Wenn Grey nicht da gewesen wäre, hätte sie sich richtig wohl gefühlt. Die gegrillten Zucchini mit Apfel-Kapern-Sauce schmeckten köstlich, und Tom und seine Frau schienen ihr zu glauben, dass sie für ihren Fehltritt bezahlt hatte und es nicht noch einmal tun würde. Nur Grey war offenbar entschlossen, ihr nicht zu trauen. Ob es daran lag, dass er als Einziger in den Fall verwickelt gewesen war? Sie hatte zwar nicht wissentlich mitgemacht, war aber mitschuldig, weil sie sich geweigert hatte, auf ihr Gewissen zu hören. Oder hatte Grey andere Gründe dafür, misstrauisch zu sein, nicht nur ihretwegen, sondern wegen der Frauen allgemein? Die Bemerkung, die er kurz vor dem Eintreffen seiner Schwester gemacht hatte, deutete darauf hin, dass er auf Feministinnen nicht gut zu sprechen war. Sie gehörte der postfeministischen Generation an, denn sie war vierundzwanzig, also zwölf Jahre jünger als Grey. Rosemary hatte ihr erzählt, dass sie siebzig war und ihn mit vierunddreißig zur Welt gebracht hatte. Er war also immer noch sechsunddreißig. Vielleicht war er als junger Mann einigen militanten Feministinnen begegnet und hatte schlechte Erfahrungen gemacht. Nach dem Essen machten sie einen Spaziergang. Rosemary ging mit den beiden Männern vor, und Lucia folgte ihr mit Jenny. Sie gingen einen Grasreitweg entlang, der durch Privatgelände führte. Der Besitzer hatte Rosemary erlaubt, es zu betreten.
„So, jetzt kann ich Sie über das Gefängnis ausquetschen", sagte Jenny und lächelte schief. „Ich muss zugeben, dass ich sehr neugierig bin ... Na, wer wäre das nicht? Macht es Ihnen etwas aus? Wenn Sie nicht darüber reden wollen, halte ich den Mund." „Nein, es macht mir nichts aus. Aber zuerst würde ich Sie gern etwas fragen", erwiderte Lucia. „Schießen Sie los." „Grey ist nicht glücklich darüber, dass Ihre Mutter mich eingestellt hat. Denken Sie auch so?" Sie betrachtete Rosemary und die beiden Männer. Rosemary maß etwa einen Meter fünfundsiebzig und war damit gut zehn Zentimeter größer als sie. Tom war knapp einen Meter achtzig groß, und Grey überragte ihn um gut zehn Zentimeter. Hätte sie, Lucia, ihn nicht gekannt, hätte sie vermutet, er wäre Berufssoldat, denn er wirkte eher wie ein Armeeoffizier als wie ein reicher Geschäftsmann. In dem Moment blieb Grey stehen und stellte seinen Fuß auf einen umgestürzten Baumstamm, um seinen Schnürsenkel zuzubinden. Dabei spannte seine Hose über seinem Po, und sie fühlte Verlangen in sich aufsteigen. Es ärgerte sie, dass sie sich so stark zu einem Mann hingezogen fühlte, der sie nicht mochte und den sie eigentlich auch nicht mögen durfte. Es war nicht so, als hätte sie vor ihrem Gefängnisaufenthalt ein abwechslungsreiches Liebesleben geführt und könnte es kaum erwarten, es fortzuführen. Selbst während ihrer Tätigkeit in der Agentur, als sie noch Kontakt zu anderen hatte, hatte sie flüchtigen Affären, wie ihre Kolleginnen und Kollegen sie für selbstverständlich hielten, nie etwas abgewinnen können. „Grey hat viel von meinem Vater", erwiderte Jenny, nachdem sie einen Moment über ihre Frage nachgedacht hatte. „Ich habe Dad geliebt, obwohl ich zugeben muss, dass er ein Macho par excellence war. Aber das sind ja die meisten Männer in seiner Generation. Nach der Heirat war er Mum treu, davon bin ich überzeugt. Aber er ist nie auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht mehr vom Leben erwartet, als seine ergebene Sklavin zu sein. Er hätte ihr Leben für sie gegeben ... Doch er wollte nicht, dass sie auf eigenen Füßen steht. Grey hat diesen Beschützerinstinkt von ihm geerbt - zumindest was seine weiblichen Verwandten betrifft", fügte sie trocken hinzu. „Ich traue Mum viel eher zu, dass sie allein zurechtkommt. Haben Sie denn irgendwelche Hintergedanken?" „Wie könnte ich? Ich hatte ja keine Ahnung von den Plänen Ihrer Mutter. Ich habe noch immer das Gefühl, dass ich jeden Moment aufwache und alles nur ein Traum war. Schließlich hat sie allen Grund, mich nicht zu mögen. Ihr Sohn gehörte zu den Leuten, die zu Schaden gekommen sind." „Nur finanziell", meinte Jenny. „Ich habe den Eindruck, dass Sie auch zum Opfer geworden sind. Der Typ, der im Knast sitzt... Waren Sie mit ihm zusammen?" Lucia erinnerte sich an den Tag, an dem Alec einen Annäherungsversuch gemacht hatte. Da sie gewusst hatte, dass er es nur versuchte, weil er keiner halbwegs gut aussehenden Frau widerstehen konnte, hatte sie sich gezwungen, ihn abblitzen zu lassen. Allerdings hatte sie es nicht gewollt. Er war attraktiv gewesen und sie einsam, und sie hatte sich nach Liebe gesehnt. „Nein", entgegnete sie. „Unsere Beziehung war rein geschäftlich." „Und von den Freunden, die Sie vorher hatten, hat keiner vor dem Tor auf Sie gewartet, als man Sie entlassen hat?" „Nein." „Vielleicht irre ich mich, aber ich tendiere dazu, Ihnen zu glauben", erklärte Jenny. „Sie sehen aus wie jemand, den ich bitten würde, auf mein Gepäck aufzupassen, wenn ich im Zug mal aufs Klo muss. Nein, das Risiko ist zu groß", fügte sie lächelnd hinzu. „Unsere Kinder, die immer mit dem Rucksack verreisen, haben erzählt, dass man sein Gepäck in vielen Ländern keine Sekunde aus den Augen lassen darf, sonst wird es einem vor der Nase gestohlen."
Sie begann, ihr von einigen Erlebnissen ihrer Kinder zu erzählen. Am Ende des Reitwegs befand sich ein Gatter, über das sie klettern mussten. Grey schwang sich elegant hinüber und half seiner Mutter, die sich nach dem Essen umgezogen hatte und nun eine Hose trug. Da sie schlank und noch sehr beweglich war, brauchte sie nicht mehr Hilfe als Jenny. Auch sie, Lucia, hatte immer noch genug Kondition, um hinüberzuklettern. Leider riss sie sich dabei einen Splitter ein. Während sie weitergingen, betrachtete Lucia den spitzen Splitter in ihrer Handfläche. Da es blutete, hob sie die Hand an den Mund, um das Blut wegzusaugen. „Was ist los?" Plötzlich ging Grey neben ihr. „Nichts ... Es ist nur ein kleiner Splitter." Offenbar hatte er sie beobachtet. „Lassen Sie mich mal sehen." Er nahm ihre Hand, um sie zu untersuchen. „Es ist nichts", widersprach sie. „Ich mache das, wenn wir zu Hause sind." „Es ist besser, ihn jetzt rauszuziehen. Bleiben Sie stehen." Unbemerkt von den anderen, zwang er sie, still zu stehen, und versuchte, den Splitter mit beiden Daumen herauszubekommen. Seine Fingernägel waren kurz und sauber. Trotzdem tat es weh. „Autsch!" entfuhr es Lucia. Die meisten Männer hätten sich entschuldigt oder aufgehört. Er sagte jedoch nur: „Reißen Sie sich zusammen" und quälte sie noch einige Sekunden, bevor er schließlich verkündete: „Er ist draußen." Nachdem er ihr den Splitter gezeigt hatte, schnippte er ihn weg. Überrascht und verwirrt zugleich beobachtete sie dann, wie er die kleine Wunde auszusaugen begann. Prompt bekam sie weiche Knie, und ihr Herz klopfte schneller. Sicher hatte er gemerkt, wie ihr Puls sich beschleunigte. Grey hatte zu Boden geblickt und sich konzentriert. Nun sah er auf und begegnete ihrem Blick. Der Ausdruck, der daraufhin in seine Augen trat, war unmissverständlich. Grey wusste, dass es sie erregte, und das wiederum erregte ihn. Vielleicht war es ein typisch männlicher Reflex. Bestürzt spürte Lucia, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, doch sie konnte sich nicht abwenden. Zum Glück rief Jenny im nächsten Moment: „Was ist los?" Sie, ihre Mutter und Tom waren stehen geblieben. Grey ließ ihre Hand sinken, hielt sie allerdings weiterhin fest. „Lucia hat sich einen Splitter eingerissen, als sie über das Gatter geklettert ist", erwiderte er. Die anderen gingen weiter. Lucia folgte ihnen und tastete' in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch. „Er ist jetzt draußen", informierte sie sie und hoffte, dass ihre Wangen nicht mehr gerötet waren. „Blutet es?" fragte Rosemary. „Nur ganz wenig." Als Lucia das Taschentuch wegnahm, war allerdings ein roter Fleck darin. „Sie brauchen ein Pflaster", verkündete Rosemary. „Ich habe immer welche dabei." Sie langte in ihre Gesäßtasche und förderte zwei einzeln verpackte Pflaster zu Tage. Grey riss eins ab und packte es aus. Lucia blieb nichts anderes übrig, als ihm die Hand hinzuhalten, damit er es darauf klebte. „Vielen Dank", sagte sie, jedoch mehr an seine Mutter als an ihn gewandt. „Wann wurden Sie das letzte Mal gegen Tetanus geimpft?" erkundigte er sich. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt jemals dagegen geimpft worden war. „Keine Ahnung, aber es ist sicher nicht nötig. Es ist nur ein Kratzer." „Ein Kratzer kann gefährlich sein", sagte Mrs. Calderwood. „Als Grey in Cambridge war, hat einer seiner Freunde sich mal den Arm an einem Rosenbusch, der neben einer Mülltonne
wuchs, zerkratzt. Übers Wochenende ist er mit seinen Freunden nach Schottland gefahren. Als er dort ankam, war der ganze Arm rot und geschwollen. Er hatte eine Blutvergiftung. Wenn man ihn nicht sofort zu einem Arzt gebracht hätte, der ihn mit Antibiotika vollgepumpt hat, hätte es unter Umständen tödlich sein können." „Vorsicht ist besser als Nachsicht", pflichtete Jenny ihr bei. „Zum Glück brauchte ich mir darüber nie Sorgen zu machen, wenn die Kinder unterwegs waren. Sie haben sich immer um alle notwendigen Impfungen gekümmert." „Ich fahre Sie zum Arzt, sobald wir zurück sind", erbot sich Grey. „Aber heute ist Sonntag", wandte Lucia ein. „Das macht nichts. Er ist ein Freund der Familie." „George hat sich rührend um meinen Mann gekümmert, als er krank war", meinte seine Mutter. „Ich habe ihn heute Morgen in der Kirche getroffen. Er braucht dafür nicht mehr als zwei Minuten, Lucia." „Sie sind überstimmt", scherzte Tom. „Geben Sie lieber nach. Wenn die Calderwoods sich über etwas einig sind, kann man sich ihnen nicht widersetzen. Ich spreche aus Erfahrung." „Tom tut nur so", sagte Jenny. „Wenn es darauf ankommt, ist er der Boss, und das weiß er auch." „Wenn es darauf ankommt - wie zum Beispiel bei einem Erdbeben, einem Waldbrand oder so?" Die Frauen lachten, nur Grey blieb ernst, wie Lucia bemerkte. Er schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Als sie zum Haus zurückkehrten, sagte Rosemary: „Braddy ist nicht da. Würdest du bitte Tee machen, Jenny? Ich rufe George an, ob Grey mit Lucia vorbeikommen kann." Eine Stunde später saß Lucia auf einem Stuhl im Sprechzimmer des Arztes und wartete auf die Injektion. Als wäre sie ein kleines Kind, das moralische Unterstützung brauchte, war Grey ihr gefolgt und plauderte mit dem Arzt. „So." Nachdem der Arzt ihr die Spritze gegeben hatte, sollte sie einen Wattepad auf die Stelle drücken, und schließlich nahm er den Pad weg und klebte ein Pflaster darauf. „Sie sind sehr blass, junge Lady", meinte er dabei. „Es sieht so aus, als würden Sie nicht genug an die frische Luft kommen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Grey. Er sitzt die ganze Woche im Büro, aber die Wochenenden verbringt er im Freien, stimmt's, Grey?" „Sooft ich kann. Aber ich dachte, blasse Haut wie Lucias wäre wieder in Mode und die Ärzte wären gegen Sonnenbräune." „Das ist wie alles andere eine Frage der Vernunft. Man sollte sich nicht von der Sonne rösten lassen, und Frauen, die zu viel sonnenbaden, werden es in dreißig Jahren bereuen, wenn sie ihre Falten zählen", erklärte der Arzt. „Aber körperliche Aktivität im Freien tut uns gut." Als er sich abwandte, um die Spritze in den Mülleimer zu werfen, flüsterte Lucia: „Was ist mit der Bezahlung?" Grey schüttelte nur den Kopf. Der Arzt begleitete sie zum Wagen und winkte ihnen zum Abschied nach. „Sie können morgen hingehen und bezahlen, wenn die Praxis geöffnet ist", beantwortete Grey dann ihre Frage. „Kennen Sie ihn schon von klein auf?" „Ja, er ist ungefähr zur selben Zeit wie meine Eltern hergekommen. Meine Schwestern wurden in Larchwood geboren. Als mein Vater das Haus gekauft hat, war es sehr baufällig. Wegen des Personalmangels damals waren viele große Häuser sehr preisgünstig. Mein Vater brauchte allerdings auch nicht viel Personal."
Ihr war aufgefallen, dass er immer „meine Mutter" und „mein Vater" sagte statt „Mum" und „Dad" wie Jenny. Da er ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter hatte, vermutete sie, dass er es bewusst tat, um sie nicht zu nahe an sich heranzulassen. Der Ausdruck in seinen Augen, als Grey ihr die Wunde ausgesaugt hatte, war jedoch alles andere als distanziert gewesen. Er hatte heftiges Verlangen verraten, als wäre Grey monatelang keiner Frau nahe gekommen und als hätte sie sich ihm gegenüber aufreizend verhalten.
5. KAPITEL
Während der kurzen Fahrt zur Praxis hatte keiner von ihnen etwas gesagt. Und die ganze Zeit war Lucia sich Greys Nähe überdeutlich bewusst gewesen. Sie hatte seine Hand beobachtet, wenn Grey schaltete, und sich gefragt, wie es wohl wäre, sie auf dem Schenkel zu spüren. Nicht einmal bei den Männern, mit denen sie bisher ausgegangen war, hatte sie eine so starke Anziehungskraft gespürt. In Anbetracht der Tatsache, dass Grey und sie nichts gemeinsam und viele Gründe hatten, sich nicht zu mögen, war es umso verwunderlicher. „Wo sind Sie geboren?" fragte sie, um höfliche Konversation zu machen. „In einem Krankenhaus in London. Es war der letzte Versuch meiner Eltern, einen Sohn zu bekommen. Allerdings hätten meine Schwestern sonst für einen männlichen Erben sorgen können." „Ist das Ihr Ernst?" „Natürlich. Wenn Jenny Tom nicht kennen gelernt hätte, dann hätte sie bei einer großen Zeitung Karriere gemacht. Meine Schwestern verfügen alle über großes Organisationstalent und können sehr gut delegieren." „Heute Morgen haben Sie gesagt, die Frauen wären schuld daran, dass die Familie als solche kaum noch existiert. Was haben Sie damit gemeint?" „Meine Nichten würden antworten: ,Fragen Sie das nicht'", bemerkte Grey trocken. „Momentan verurteilen sie meine reaktionären Ansichten, aber vielleicht ändern sie ihre Meinung, wenn sie über dreißig und allein erziehend oder mit ihrem Job verheiratet sind." „Sie finden es also nicht gut, wenn Frauen Karriere machen?" „Im Gegenteil. Die westliche Welt würde zusammenbrechen, wenn sie es nicht täten." Grey bog in die Auffahrt nach Larchwood ein. „Aber stabile Beziehungen sind die Basis jeder blühenden Kultur. Wenn es sie nicht mehr gibt, bricht das Chaos aus, und die Kinder machen, was sie wollen." „Und daran sind die Frauen schuld?" hakte Lucia nach. „Väter sind auch Eltern." Er fuhr an die Seite und parkte den Wagen neben dem seines Schwagers. „Sicher, aber die Frauen nehmen den Männern den Anreiz zu heiraten. Über Generationen hinweg heirateten die Männer, weil es die einzige Möglichkeit war, regelmäßigen Sex zu haben. Dann fingen die Frauen an, ihnen den Sex auch so zu geben. Was haben sie sich davon versprochen?" Wenn sie im Gefängnis eins gelernt hatte, dann, den Mund zu halten, um sich keine Probleme einzuhandeln. Zuerst war es ihr schwer gefallen, doch nachdem sie erlebt hatte, was mit denen geschah, die es nicht taten, hatte sie sich zurückgehalten. „Dass Sie so denken, überrascht mich", erwiderte sie. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will damit nicht sagen, dass eine Frau an den Herd gehört. Wenn Sie intelligent ist und Profit daraus schlagen will, prima. Aber man sieht doch, dass es nicht möglich ist, alles zu haben. Wenn ein Mann sich eine gute Ehe wünscht, weiß er, dass er trotzdem Affären haben kann. Wenn eine Frau sich Kinder wünscht, sollte sie akzeptieren, dass sie die ersten zehn Jahre für sie da sein muss. Wenn sie das nicht will, muss sie es auch nicht." Grey öffnete die Tür und stieg aus. Lucia blieb sitzen, weil sie wusste, dass er um den Wagen herumkommen und ihr beim Aussteigen helfen würde. Es waren nicht seine Ansichten, die sie ärgerten, sondern vielmehr die Art, wie er sie zum Besten gab. „Übersehen Sie dabei nicht die Tatsache, dass sogar heute die meisten Kinder keine Wunschkinder sind und eine Familie kaum von einem Einkommen leben kann?" fragte sie beim Aussteigen. Grey stützte den Arm auf die Tür. „Wenn sie nicht ständig mit anderen konkurrieren wollen, schon. Ich habe eine ältere Putzfrau, die ich selten sehe. Richtig kennen gelernt habe ich sie erst, als ich einmal Grippe hatte und sie mir eine Suppe gekocht hat. Dabei hat sie mir
ihre ganze Lebensgeschichte erzählt", fügte er lächelnd hinzu. „Sie hat fünf Kinder großgezogen, und ihr Mann war Milchmann und Alleinverdiener. Ihre Tochter arbeitet nur für Luxusartikel, und das hauptsächlich, um die Nachbarn zu beeindrucken. „Es ergibt keinen Sinn, Mr. C, wie Mrs. Botting sagt. Und sie hat Recht." Plötzlich war Lucia erschöpft. Mit ihm allein zu sein war ihr momentan noch zu anstrengend. „Vieles ergibt keinen Sinn. Danke dafür, dass Sie mich zum Arzt gefahren haben." Schnell ging sie ins Haus und lief die Treppe hoch. Sie wollte so lange in ihrem Zimmer bleiben, bis alle Besucher weg waren. Eine Stunde später hörte Lucia Stimmen in der Auffahrt und das Geräusch abfahrender Wagen. Als sie nach unten ging, traf sie Mrs. Calderwood bei ihrer Stickerei an. Neben ihrem Sessel stand ein flacher Korb mit Stickwolle. „Was für schöne Farben", sagte sie. „Das Muster ist die Vereinfachung eines Fotos, das Grey auf einer seiner Reisen gemacht hat", erklärte Rosemary. „Alles, was meine Mutter gemacht hat, war von alten Stickereien kopiert, die verblasst waren. Die Leute vergessen - oder wissen nicht -, dass die Handarbeiten aus den vergangenen Jahrhunderten sehr farbenfroh waren, als sie neu waren. Ich frage mich, ob die Frauen in ihrer Generation später auch noch sticken oder ihre Freizeit ganz anders gestalten." „Wer weiß?" meinte Lucia ausweichend. Noch immer war sie ganz erschöpft. Grey weckte Gefühle in ihr, die sie nicht empfinden wollte. „Grey hat mir erzählt, dass Sie Ihre Sachen eingelagert haben", sagte Rosemary. „Wir können Sie am Mittwoch abholen, wenn wir zu der Ausstellung fahren. Tom möchte ja unbedingt, dass wir uns die Ausstellung ansehen. Er hat sich sehr über Ihr Interesse an seinem großen Vorbild Alexander Thomson gefreut. Er ist wirklich ein netter Kerl. Mit meinen Schwiegersöhnen habe ich großes Glück gehabt." Sie fädelte nun einen honigfarbenen Faden ein. „Aber ich glaube, das Verhältnis zu einem Schwiegersohn ist generell unproblematischer als das zu einer Schwiegertochter. Nicht, dass ich eine Schwiegertochter in Aussicht hätte. Die Leute in Greys Alter haben alle Angst davor, sich zu binden." Lucia wollte nicht über Grey sprechen. „Um was für eine Ausstellung handelt es sich denn?" „Sie ist in der Royal Academy ... Es werden architektonische Zeichnungen von einem Künstler aus dem achtzehnten Jahrhundert gezeigt. Bestimmt ist es interessant. Danach sollen wir mit Tom und Jenny essen gehen. Wir werden also bei Grey übernachten. Er hat viel Platz." Lucia ließ sich ihre Bestürzung darüber, dass sie seine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen musste, nicht anmerken. „Es ist sehr nett von Ihnen ... und Jenny und Tom, mich zu der Ausstellung mitzunehmen", erwiderte sie. „Aber ich möchte mich Ihnen nicht aufdrängen. Wenn Sie mit dem Auto nach London fahren, können Sie mich mitnehmen. Ich hole meine Sachen dann mit der U-Bahn und komme mit dem Zug oder Bus hierher." „So brauchen Sie ja ewig, meine Liebe. Die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel ist hier sehr schlecht. Außerdem würde ich danach gern mit Ihnen über die Ausstellung reden. Bevor wir zurückfahren, gehen wir noch in einige andere Galerien und lassen uns für unsere erste Malreise inspirieren", verkündete Rosemary. Als Lucia Einwände erheben wollte, wurde Rosemary noch bestimmter, und sie musste daran denken, wie Rosemary zu ihrem Sohn gesagt hatte, von jetzt an würde sie tun, was sie für das Beste hielt. Also musste sie sich wohl ihren Wünschen fügen. Es sei denn, Grey sprach sich dagegen aus. Schließlich war es gut möglich, dass er einer ehemaligen Strafgefangenen, die ihm zudem geschadet hatte, Unterkunft gewährte.
Lucia genoss die Fahrt nach London mit Rosemary in der schwarzen Limousine weitaus mehr als die Fahrt nach Larchwood. Zumindest bis Rosemary, die gerade die Zeitung las, eine Seite umblätterte und überrascht sagte: „Grey hat mir gar nicht erzählt, dass man ihn interviewt hat. Natürlich wusste ich von dem Projekt." Sie hielt die Zeitung so, dass Lucia die Überschrift lesen konnte: „Calderwood enthüllt Pläne für Bürohochhäuser - Baukosten in Milliardenhöhe". Darunter waren zwei Fotos von zwei großen, modernen Gebäuden und dazwischen eine Aufnahme von Grey, der starr in die Kamera blickte. „Ich lese den Artikel und gebe ihn dann Ihnen", erklärte Rosemary. Eine Milliarde Pfund war eine unvorstellbare Summe für sie, und Lucia wurde noch nervöser. Larchwood war zwar luxuriös, aber sehr gemütlich. Wie mochte Greys Haus sein? Vermutlich noch luxuriöser und alles andere als gemütlich. Wahrscheinlich ein exklusives Penthouse auf der vornehmen Isle of Dogs, das ein bekannter Innenarchitekt im minimalistischen Design gestaltet hatte. Schon jetzt wusste sie, dass sie sich wie ein Eindringling fühlen und Grey dies ausnutzen würde. Wenige Minuten später nahm Rosemary die Seite heraus und reichte sie ihr. In dem Artikel stand: In London gibt es nur wenige Gebäude, die von großen Finanzkonzernen genutzt werden können. In dieser Woche hat die Immobilienfirma Calderwood zwei der größten Projekte vorgestellt, die je in der Londoner City realisiert wurden. Grey Calderwood, der Generaldirektor der Gruppe und Enkel des Gründers, hat die Baugenehmigung für zwei Bürogebäude beantragt. Die Baukosten für beide Gebäude sollen sich auf eine Milliarde Pfund belaufen. In den folgenden Absätzen wurden die Häuser genau beschrieben. Der Artikel endete wie folgt: Nach Ansicht der Analysten wird das Bauvorhaben sich massiv auf den Nettoinventarwert der Gruppe auswirken. Man rechnet damit, dass Calderwood die Gebäude sofort nach der Fertigstellung verkauft. Vermutlich werden sie beide an Firmen gehen, die eine repräsentative Zentrale wünschen. „Was halten Sie von den Gebäuden?" fragte Rosemary, als Lucia die Seite zusammenfaltete und zwischen sie legte. „Das hier gefällt mir besser", erwiderte sie und deutete auf eines der Gebäude. Ihrer Meinung nach waren beide Häuser hässlich, doch vielleicht war es ohnehin unmöglich, ein ästhetisch ansprechendes Haus zu bauen, in dem fünftausend Angestellte arbeiteten. Rosemary ging nicht darauf ein. Womöglich dachte sie dasselbe, wollte sich ihrem Sohn zuliebe aber nicht darüber äußern. Stattdessen sagte sie: „Jackson setzt mich in Knightsbridge ab, weil ich da einiges erledigen muss. Er fährt Sie dann zu dem Möbellager und anschließend zu Grey. Er ist da, weil er heute zu Hause arbeitet." „Wann kommen Sie?" erkundigte sich Lucia, die auf keinen Fall bei Grey eintreffen wollte, bevor Rosemary kam. „Ich weiß nicht genau. Ich muss einiges besorgen. Dabei fällt mir ein ... Sie werden Geld brauchen. Über Ihr Gehalt haben wir noch nicht gesprochen, aber ich gebe Ihnen einen Vorschuss." Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen Umschlag heraus, den sie ihr auf den Schoß legte. „Vielleicht haben Sie ja etwas Passendes zum Anziehen für heute Abend, vielleicht wollen Sie sich auch etwas kaufen. Gehen Sie gern shoppen? Als meine Töchter in Ihrem Alter waren, haben sie an nichts anderes gedacht." „Bevor Dad krank wurde, habe ich den größten Teil meines Gehalts für Malsachen und Kunstbücher ausgegeben", antwortete Lucia. „Ich hatte ein paar gute Sachen, die ich zur
Arbeit angezogen habe, und in meiner Freizeit habe ich T-Shirts und Hosen getragen. Sind eine Seidenbluse und ein schwarzer Rock okay?" „Perfekt", versicherte Rosemary. Im selben Moment stand Grey nackt in seinem Badezimmer und rasierte sich. Normalerweise war er Frühaufsteher und kam immer einige Stunden vor seinen Angestellten ins Büro. In dieser Nacht hatte er allerdings bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet und war spät aufgestanden, weil er mindestens sechs Stunden Schlaf brauchte, um seine Batterien aufzuladen. Grey betrachtete sich in dem Spiegel über der schwarzen Marmoreinfassung. Er war von Natur aus dunkel und immer leicht gebräunt, da er nach den meisten Geschäftsreisen einige Tage Kurzurlaub einzulegen pflegte. Sein Gesicht hatte markante Züge, seine Arme waren muskulös, genauso wie seine breite Brust. Auch sein Bauch war durchtrainiert und so flach wie bei einem Mann Mitte zwanzig. Das lag nicht daran, dass Grey asketisch lebte. Doch wenn er einmal essen ging, wählte er ganz bewusst leichte Kost und trank viel weniger als seine oft korpulenten Kollegen und Geschäftspartner. Eine Journalistin, die auf Porträts von Wirtschaftsbossen spezialisiert war, hatte einmal über ihn geschrieben: Die Bezeichnung Geldsack trifft auf niemanden weniger zu als auf Grey Calderwood. Vielmehr erinnert er an ein geschmeidiges Raubtier. Obwohl er sehr weltgewandt ist und einigen Frauen zufolge ein echter Charmeur sein kann, wenn er möchte, ist Calderwood wie der verstorbene Zeitungsmagnat Lord Beaverbrook ein Einzelgänger. Grey konnte sich nur bis zu den Hüften im Spiegel sehen. Er betrachtete sich jedoch nicht, sondern dachte ärgerlich an Lucias bevorstehenden Besuch. Er fand es gut, wenn seine Mutter während ihrer Aufenthalte in London bei ihm übernachtete. Er besuchte gern Orte mit ihr, die eine Frau in ihrem Alter normalerweise nicht aufgesucht hätte, wie zum Beispiel das bekannte japanische Restaurant, in dem alle Gäste auf Bänken an langen Tischen saßen und sich nicht nur mit ihrer Begleitung, sondern auch mit anderen Gästen unterhielten. Manchmal ging er sogar allein dorthin. Das Stammpublikum bestand vorwiegend aus jungen Leuten, und so bekam er auch etwas von den Problemen der Angestellten mit. Das bedeutete allerdings nicht, dass er keine Probleme hatte. Nachdem Grey sich fertig rasiert hatte, bückte er sich und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Anschließend trat er in die Duschkabine, schloss die Tür und griff nach einer Shampooflasche. Während er sich wie jeden Morgen die Haare wusch, versuchte er sich nicht darüber zu ärgern, dass er bei Lucia Gastgeber spielen musste. Es war eine unmögliche Situation. Seine Mutter war fest entschlossen, sich mit ihr anzufreunden, und er war gleichermaßen entschlossen, sie loszuwerden. Aber wie? Selbst Jenny, auf deren Unterstützung er gehofft hatte, fand sie sympathisch und schien das Ganze eher amüsant zu finden. Allerdings hatten all seine Schwestern schon immer einen merkwürdigen Sinn für Humor gehabt. Die Einblicke in die weibliche Seele, die er durch sie gewonnen hatte, hätten ihn eigentlich ein für alle Mal abschrecken müssen. Es war jedoch nicht der Fall. Aber er begegnete dem so genannten schwachen Geschlecht mit einem gesunden Misstrauen. Die Wahrheit war, dass die meisten Frauen zehnmal stärker waren als Männer. Wenn sie aufgrund ihrer physiologischen Konstitution nicht so eingeschränkt gewesen wären, hätten sie von Anfang an die Welt regiert. Nachdem Grey sich eingeseift hatte, drehte er das Wasser noch weiter auf und schloss die Augen. Das morgendliche Duschen -abends duschte er gewöhnlich noch einmal - genoss er immer genauso wie das ausgiebige Frühstück. An diesem Morgen war seine Freude allerdings durch die Erinnerung an den Anblick dieser jungen Frau in der Badewanne getrübt. Heute Abend würde sie in seinem Haus duschen. Als er sich vorstellte, wie sie in einem der an die Gästezimmer angrenzenden Bäder
nackt in der Duschkabine stand, reagierte sein Körper prompt darauf, und sein Ärger verstärkte sich. Fluchend drehte Grey das warme Wasser ab und das kalte auf, in der Hoffnung, sich dadurch wieder abzukühlen. Es war jedoch nicht der Fall. Seine Fantasie ging mit ihm durch, und nun stellte er sich vor, wie er eng umschlungen mit Lucia unter seiner Dusche stand und ihren warmen Mund auf der Haut spürte. Und in dem Moment hatte er eine Idee, wie er sie loswerden konnte. Er musste sich an sie heranmachen. Dann würde sie keine Minute länger unter seinem Dach bleiben. Als er am Sonntag den Splitter aus ihrer Hand entfernt hatte, war ihm klar geworden, dass sie sich nicht gern von ihm anfassen ließ. Sobald seine Mutter im Bett lag, würde er aktiv werden. Auf der Rückfahrt am Wochenende war ihm bewusst geworden, wie leichtsinnig es war, mit dem Blut einer Frau in Berührung zu kommen, die womöglich mit jedem ins Bett ging. Woher sollte er denn wissen, mit wie vielen und was für Männern sie geschlafen hatte? Einmal war er ein ähnliches Risiko eingegangen. Aber die Umstände waren anders gewesen. Auf einer einsamen Landstraße hatte er erste Hilfe bei einem Unfall geleistet, der sich nur wenige Minuten zuvor ereignet hatte. Die Insassen beider Wagen waren schwer verletzt gewesen. Er hatte über Handy den Notarzt alarmiert und nur kurz gezögert, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, anderen zu helfen, und seinem Selbsterhaltungstrieb. Später hatte er erfahren, dass die Schwerverletzten ohne sein Eingreifen nicht überlebt hätten. Nun hatte er immer Handschuhe dabei, um nicht noch einmal mit dem Blut eines Verletzten in Berührung kommen zu müssen. Am Sonntagnachmittag war er alles andere als vorsichtig gewesen. Er hatte ganz vergessen, dass Lucia gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war und er viele Gründe hatte, sie nicht zu mögen. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. „Was machen wir hier?" fragte Lucia, als Jackson ihr die Wagentür öffnete. Es war mittlerweile kurz vor eins, und er hatte den Wagen an einem kleinen Yachthafen an der Themse geparkt. „Mr. Grey wohnt hier, Miss", erwiderte der Chauffeur. „In dem Boot da drüben." Er deutete auf einen Leichter am Ende des Pontons, an dem zahlreiche Yachten vertäut waren. „Da?" wiederholte Lucia verblüfft. „Das ganze Jahr, meinen Sie?" „Ja, Miss", sagte er ungeduldig. „Wenn Sie schon mal vorgehen wollen ... Ich bringe Ihnen gleich Ihre Sachen."
6. KAPITEL
Langsam ging Lucia auf den Leichter zu, auf den Jackson gedeutet hatte. Wie gründlich sie sich doch getäuscht hatte, was Greys Domizil betraf! Wie kam der Chef einer so großen Firma dazu, auf einem Boot zu leben? Nicht, dass es ihr hier nicht gefiel. Die leichte Brise, die vom Wasser her wehte, die Themse, die sich zu beiden Seiten erstreckte, und das Gefühl der Freiheit inmitten einer der größten Städte der Welt übten einen starken Heiz auf Lucia aus. Sie konnte sich nur nicht vorstellen dass Grey mit seiner wertvollen Gemäldesammlung hier wohnte. Sie trug flache Schuhe mit Gummisohlen, die auf dem Ponton keine Geräusche machten. Als sie sich jedoch dem Leichter näherte, erschien Grey an dem überdachten Deck, das einmal ganz herumzulaufen schien. „Guten Tag. Kommen Sie an Bord", sagte er. Er lächelte zwar nicht, vermittelte ihr aber auch nicht das Gefühl, dass sie nicht willkommen war. „Guten Tag. Ist Ihre Mutter da?" erkundigte sie sich hoffnungsvoll. „Noch nicht." Grey blickte an ihr vorbei zu Jackson, der ihr mit den beiden Koffern folgte. „Sind das alle Ihre weltlichen Güter?" „Ja, alle. Mrs. Calderwood hat mich überredet, beide Koffer abzuholen. Sie meinte, sie hätte auf dem Dachboden genug Platz." Ganz bewusst benutzte sie nicht den Vornamen seiner Mutter, denn er hätte es bestimmt anmaßend gefunden, auch wenn Rosemary es ihr erlaubte. „Bringen Sie die Koffer wieder in den Wagen und dann nach Larchwood, Jackson. Bevor Sie zurückfahren, sollten Sie irgendwo Mittag essen. Gehen Sie ins , Crown and Anchor'. Die Küche ist sehr gut. Lassen Sie es auf meine Rechnung setzen." „Danke, Sir." Jackson kehrte zum Wagen zurück. „Es ist nicht schlecht, wenn man einen guten Pub in der Nähe hat", erklärte Grey. „Ich schätze, Sie möchten sich vor dem Essen die Hände waschen. Ich zeige Ihnen Ihre Kabine." Obwohl die Ausmaße des Leichters darauf schließen ließen, dass die Kabinen ziemlich groß sein mussten, war Lucia überrascht, als sie sah, wie geräumig das Wohnzimmer war. Es hatte sogar einen Kamin, und an einem Ende befand sich eine offene Küche mit einem Frühstückstresen. „Dieses Deck misst fünf mal fünfzehn Meter", sagte Grey, der vorging. „Deswegen habe ich hier jede Menge Platz." Verärgert ertappte sie sich dabei, wie sie seine breiten Schultern musterte. „Wie lange wohnen Sie schon hier?" erkundigte sie sich und krauste die Stirn. „Seit vier Jahren, also seit der Gebäudekomplex, zu dem der Yachthafen gehört, fertiggestellt wurde." Auf die Gebäude am Ufer hatte sie kaum geachtet. Offenbar handelte es sich dabei um ein anderes teures Projekt von Calderwood. „Auf dem Weg hierher haben wir in der Zeitung einen Artikel über Ihr neustes Projekt gelesen", bemerkte sie. Grey erwiderte nichts darauf. Er ging eine kurze Metalltreppe hinunter, die zu dem Deck darunter führte. Lucia folgte ihm und musste dabei an die breiteren und längeren Treppen im Gefängnis denken. Da es im viktorianischen Zeitalter erbaut worden war, hatte man es nur geringfügig modernisieren können. Sie schauderte. Ob die Erinnerung an die Zeit im Gefängnis sie immer verfolgen würde? Grey öffnete eine Tür, die zu einer Kabine mit einem Etagenbett führte. Auch das erinnerte sie ans Gefängnis. Sie hatte einmal eine Zelle mit einer Frau geteilt, die so aussah, als würde sie sie gern umbringen.
„Hier bringe ich meine Neffen und Nichten unter, wenn ihre Eltern mal eine Erholungspause brauchen." Sein spöttischer Tonfall deutete darauf hin, dass es Grey nichts ausmachte, ab und zu seine Neffen und Nichten zu beherbergen, der Gedanke an eigene Kinder ihm allerdings völlig fern lag. „Da hinten ist eine Dusche." Er deutete auf eine Tür, die den Betten gegenüberlag. „Ich glaube, Sie finden dort alles, was Sie brauchen. Kommen Sie ins Wohnzimmer, wenn Sie fertig sind, dann nehmen wir einen Drink." „Es sieht sehr gemütlich aus. Danke." „Gern geschehen." Der Blick, den Grey ihr zuwarf, bevor er die Tür schloss, passte nicht zu seiner freundlichen Antwort. Noch eine ganze Weile nachdem er gegangen war, stand Lucia da, blickte starr auf die Haken an der Tür und versuchte das neugierige Funkeln in seinen unergründlichen dunkelgrauen Augen zu analysieren. Nein, sie irrte sich bestimmt. Trotzdem hätte sie schwören können, dass er sie angesehen hatte, als hätte er Sex im Sinn. Als Lucia kurz darauf zum Oberdeck ging, fiel ihr Blick auf ein Gemälde mit einem rechteckigen Teich mit Rundbögen am gegenüberliegenden Ende, der im Sonnenlicht dalag. Nichts deutete darauf hin, wo dieser Ort war oder wer das Bild gemalt hatte. Sie vermutete, dass es irgendwo in Südeuropa war. Grey blickte auf den Fluss hinaus, als sie das Wohnzimmer betrat. „Ist Weißwein okay?" Er drehte sich um und betrachtete anerkennend die cremefarbene Bluse, die sie trug und die vorher unter ihrem Regenmantel verborgen gewesen war. Oder zog er sie in seiner Fantasie aus? Lucia wünschte, seine Mutter würde endlich kommen, und sagte sich, dass sie sich alles nur einbildete. Seine Haltung ihr gegenüber hatte sich nicht geändert. Während Grey eine Flasche mit einem französischen Etikett aus einem durchsichtigen Plastikkühler nahm und ihr ein Glas einschenkte, fragte Lucia: „Ist das Bild neben der Treppe ein Urlaubssouvenir?" „Gewissermaßen ja", erwiderte er. „Sind Sie schon mal dort gewesen?" Sie schüttelte den Kopf. „Wo ist es?" Er reichte ihr das Glas. „Es ist einer der Innenhöfe in der Alhambra in Granada - der letzten Festung der muslimischen Könige von Granada, bevor sie Ende des fünfzehnten Jahrhunderts vertrieben wurden. Zwischen Schule und Studium war ich einige Zeit in Spanien, um das Land zu erkunden und die Sprache zu lernen. Hatten Sie auch ein Jahr frei?" „Nein, ich bin direkt nach dem Abitur angefangen, an der Kunsthochschule zu studieren." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie es. Mit der Erwähnung ihres Kunststudiums hatte sie ihn sicher an Dinge erinnert, die sie vergessen wollte. Vermutlich würde er diese Ereignisse niemals vergessen, aber er schien wenigstens bereit zu sein, sie vorerst beiseite zu schieben. Grey stellte die Flasche wieder in den Kühler und nahm sein Glas in die Hand. Dann bedeutete er ihr, irgendwo Platz zu nehmen. „Wenn man die Möglichkeit hat, sollte man zwischen Schule und Studium ein Jahr Pause einlegen. Man bekommt ganz neue Anregungen und schlägt vielleicht doch einen ganz anderen Weg ein als geplant. Man kann andere Kulturen kennen lernen ..." „Hat Ihnen die spanische Kultur gefallen? Unterscheidet sie sich sehr von unserer?" „Ja auf beide Fragen. Allerdings ist es achtzehn Jahre her, dass ich da war, und seitdem hat sich wahrscheinlich vieles verändert. Seitdem bin ich nie wieder in Spanien gewesen, unter anderem deswegen, weil wir dort keine Projekte haben. Aber meine Spanischkenntnisse kann ich in vielen Ländern anwenden."
Lucia wollte in einem der Sessel Platz nehmen. Grey kam ihr jedoch zuvor, indem er sie unterhakte und vorschlug: „Setzen Sie sich aufs Sofa. Von da aus können Sie auf den Fluss blicken." Sie konnte schlecht Nein sagen, obwohl ihr Instinkt ihr sagte, dass es keine gute Idee war, weil auf dem Sofa noch genug Platz für Grey war. Zu ihrer Erleichterung setzte er sich jedoch nicht neben sie. Er ging weg, um einen Schrank zu öffnen. Schließlich kehrte er, sein Glas noch immer in der rechten Hand, zu dem langen, niedrigen Couchtisch zurück und stellte eine Schale darauf, in die er Cashewkerne schüttete. Als sie seine Hände betrachtete, hätte sie sie am liebsten gezeichnet. Die Gestalt und Struktur des männlichen Körpers hatten sie schon immer mehr fasziniert als die des weiblichen. Sie hatte oft Menschen gezeichnet und ganze Skizzenbücher mit Studien von Händen gefüllt. Nachdem Grey die Packung zerknüllt und in den Papierkorb geworfen hatte, schob er ihr die Schale hin. „Danke." Lucia nahm einige Cashewkerne. Nun setzte er sich doch zu ihr aufs Sofa, so dass sie sich keine Hoffnung mehr darauf zu machen brauchte, sich zu entspannen, die Aussicht zu genießen und sich den Wein und die Cashewkerne schmecken zu lassen. Zu allem Überfluss nahm er auch noch in der Mitte Platz und legte die Hand auf die Rückenlehne. Dass er im Gegensatz zu den meisten anderen Geschäftsmännern keinen Siegelring trug, war ihr bereits aufgefallen. Auch seine Uhr war kein teures Markenfabrikat, und selbst die Sachen, die er trug, schienen von der Stange zu sein. Offenbar hatte er es nicht nötig, sein Selbstbewusstsein mit teuren Statussymbolen zu stärken. In gewisser Weise gefiel es ihr. „Was ist das für eine Brücke da hinten?" fragte sie. „Wandsworth Bridge. Einer der Vorteile dieses Anlegeplatzes ist, dass er in der Nähe vom Hubschrauberflugplatz Battersea liegt. Mein Vater ist überall mit dem Auto oder mit der Bahn hingefahren, aber damals war das Verkehrsaufkommen noch nicht so hoch. Man kommt nur mit dem Hubschrauber schnell aus London weg. Ich fahre gern und nehme meistens den Wagen nach Larchwood, aber meistens fliege ich." „Fliegen Sie selbst, oder haben Sie einen Piloten?" „Ich fliege selbst. Es ist nicht schwer ... nicht schwerer als Autofahren. Haben Sie einen Führerschein?" „Mein Vater hat mir das Fahren beigebracht, als ich Teenager war, und ich habe den Führerschein gemacht. Allerdings habe ich kaum Gebrauch davon gemacht. Nachdem sein alter Wagen den Geist aufgegeben hatte, habe ich keinen neuen mehr gekauft, sondern bin mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. In meinem letzten Job hatten wir gleitende Arbeitszeit. Deswegen konnte ich die Rushhour meiden." „Sehr vernünftig. So wie die Dinge sich entwickeln, kann ich mir gut vorstellen, dass immer mehr Leute zu Hause arbeiten oder wieder in die Stadtzentren ziehen. Es ist eine enorme Zeitverschwendung, wenn man jeden Tag stundenlang unterwegs ist. Wenn ich ..." Grey verstummte und zeigte auf ein Boot der Wasserschutzpolizei, das flussabwärts fuhr. Als er weitersprach, wechselte er das Thema und sprach über den Schiffsverkehr auf der Themse. Lucia hatte das Gefühl, dass er die Gelegenheit genutzt hatte, weil ihm klar geworden war, dass er gar nicht mit ihr darüber reden wollte. „Aber wenn Sie so denken, warum baut Ihre Firma dann keine Wohnhäuser in der City statt großer Bürohochhäuser, die ja eigentlich nur zu der Entwicklung beitragen?" Sie sah, wie seine Kiefernmuskeln sich anspannten - womöglich vor Ärger. Sein Tonfall war allerdings ruhig, als Grey antwortete: „Es dauert immer lange, bis man eine Baugenehmigung bekommt. Vom Konzept bis zur Realisierung dauert es Jahre, nicht Monate. Vielleicht sind es die letzten Bürohochhäuser, die wir bauen."
Er beugte sich vor, nahm die Schale mit den Cashewkernen und hielt sie ihr hin. Als er sie wieder auf den Tisch stellte und sich zurücklehnte, war der Abstand zwischen ihnen kleiner geworden. Bei einem anderen Mann wäre sie sich sicher gewesen, dass er sie gleich an sich ziehen würde. Bei Grey konnte sie es sich jedoch nicht vorstellen. Es ergab keinen Sinn. Noch vor weniger als zehn Tagen hatte er sie abgrundtief gehasst und ihr eine hohe Summe geboten, damit sie wieder verschwand. Wenn sie umwerfend schön oder sexy gewesen wäre, hätte er seine Meinung vielleicht geändert. Schließlich ließen Männer sich im Allgemeinen von ihren Trieben leiten. Aber sie war weder schön noch sexy. Es hatte einige Männer gegeben, die sich für sie interessierten, doch das ging jeder halbwegs attraktiven Frau so. Außerdem waren es vorwiegend Büro-Romeos mittleren Alters gewesen oder unreife junge Männer, die bei ihr mehr zu erreichen hofften als bei den Frauen, die sie eigentlich haben wollten und an die sie nicht herankamen. Grey passte in keine dieser Kategorien. Mit seinem Aussehen und in seiner Position hätte er jede Frau haben können. Also warum hätte er sich mit ihr abgeben sollen? Es sei denn ... Schnell trank Lucia einen Schluck Wein. Vielleicht, nur vielleicht war er mies genug, zu glauben, dass er sie mit einem Annäherungsversuch schneller loswerden würde. Eigentlich hatte sie aufspringen und auf Distanz gehen wollen, aber nun hatte sie eine bessere Idee. Sie erinnerte sich an einen Tipp, den sie einmal von einer Kommilitonin bekommen hatte. „Wenn sie aufdringlich werden und ich nicht will, stecke ich mir schnell etwas zu essen in den Mund", hatte Katie, eine üppige Blondine, der die Männer scharenweise zu Füßen lagen, erklärt. „Wenn du den Mund voll hast, können sie dich nicht küssen." „Und was ist, wenn nichts Essbares in der Nähe ist?" hatte eine andere Kommilitonin gefragt. „Für den Fall musst du immer einen Schokoriegel dabeihaben", hatte Katie kichernd erwidert. Lucia beugte sich vor und nahm eine Hand voll Cashewkerne. „Die machen süchtig, nicht?" Sie steckte sich einige in den Mund. Das wirkte Wunder. Grey leerte sein Weinglas und stand auf. Dann holte er die Flasche und schenkte ihnen nach. „Anscheinend haben Sie Hunger. Wir werden nicht auf meine Mutter warten. Bestimmt kauft sie noch ein. Sie liebt es, Geschenke für ihre Enkel zu kaufen." „Wie viele Enkel hat sie denn?" „Acht. Jenny und Julia, meine älteste Schwester, haben je zwei Kinder. Lolly, die jüngste, hat vier. Sie und ihr Mann sind Ärzte. So, ich hole uns jetzt etwas zu essen." „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" „Nein, danke, es ist schon alles fertig. Bleiben Sie sitzen, und essen Sie noch mehr von den süchtig machenden Cashewkernen." Täuschte sie sich, oder hatten seine Augen gerade spöttisch gefunkelt? Hatte er etwa erraten, warum sie plötzlich so einen Heißhunger auf Cashewkerne entwickelte? Grey hatte es erraten. Er kannte die Körpersprache der Frauen, und obwohl er es gewohnt war, dass Frauen in seiner Nähe nervös wurden, war ihm Lucias Anspannung schon vorher aufgefallen. Eigentlich hatte er sich noch nicht an sie heranmachen wollen, weil seine Mutter jeden Moment auftauchen konnte. Er hatte nur ein bisschen Katz und Maus mit Lucia gespielt. Kurz zuvor hätte er ihr beinah etwas anvertraut, worüber er noch mit niemandem gesprochen hatte. Das konnte er beim besten Willen nicht verstehen. Sie war der letzte Mensch auf der Welt, dem er seine Sorgen anvertraut hätte.
Außerdem hatte er sich darüber geärgert, dass sie ihm gute Ratschläge gegeben hatte, was seine Firma bauen sollte. Anscheinend war ihr nicht klar, dass sie sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen durfte. Allerdings hatte er einen zu analytischen Verstand, um nicht zu wissen, dass er auch auf sich selbst wütend war. Denn obwohl sein Plan darauf abzielte, sie loszuwerden, verspürte er eine gewisse Vorfreude. Er wollte wissen, wie es war, sie in den Armen zu halten und sie zu küssen. Natürlich wollte er auf keinen Fall, dass sie seine Zärtlichkeiten erwiderte. Je zorniger sie wurde, desto besser. Während Grey sich in der ganz in Kirschholz und Edelstahl gehaltenen Küche zu schaffen machte und letzte Hand an das Mittagessen legte, das seine Haushaltshilfe Mrs. Botting zubereitet hatte, erinnerte er sich an einen Skandal in der Zweigstelle von Calderwood in Birmingham vor einigen Jahren. Damals hatte eine junge Mitarbeiterin ihren Abteilungsleiter der sexuellen Belästigung bezichtigt. Er, Grey, hatte sie überredet, ihn nicht anzuzeigen, und den Mann entlassen, der ohnehin keine gute Kraft gewesen war. Er konnte verstehen, wie belastend es für eine Frau war, jeden Tag solchen Belästigungen ausgesetzt zu sein. Er hatte jedoch keine Schuldgefühle hinsichtlich seines Vorhabens. Sein Instinkt sagte ihm, dass Lucia sich wehren würde. Auf keinen Fall würden sie zusammen im Bett landen. Und dass sie nach einem Anwalt verlangte, war genauso unwahrscheinlich.
7. KAPITEL
Genau wie jetzt auf dem Weg zur Royal Academy war Lucia während ihres Studiums und auch während ihrer Tätigkeit in der Werbeagentur oft durch den großen dreifachen Bogen auf der Nordseite von Piccadilly Circus gegangen. Der große Hof, in dem das Denkmal von Sir Joshua Reynolds stand, dem ersten Präsidenten der Akademie, der eine Palette in der einen und einen Pinsel in der anderen Hand hielt, weckte schöne Erinnerungen in ihr. Hier hatte sie mit ihren Kommilitonen Schlange gestanden, um die Meisterwerke von Goya, Tiepolo und anderen unsterblichen Künstlern anzusehen. Damals war ihr das Leben so verheißungsvoll erschienen. Und selbst als sie später ihren Unterhalt selbst verdienen und ihre Ziele etwas enger stecken musste, hatte sie noch davon geträumt, irgendwann einmal ihrer großen Liebe zu begegnen. Auch das konnte sie sich jetzt nicht mehr vorstellen. Teils war es ihre Schuld, und teils hatte sie miterlebt, wie die Beziehungen von Freunden und Bekannten gescheitert waren. Als sie an diesem Abend in Begleitung von Rosemary und Grey über den Hof ging, erinnerte Lucia sich an die anderen Male, als sie dort gewesen war. Diesmal war sie nicht nur aufgeregt, sondern auch ängstlich. Obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass jemand sie erkannte, konnte sie nicht vergessen, was sie getan hatte. Die anderen warteten an der Eingangstreppe auf sie, und kurz darauf betraten sie das Foyer, in dem eine breite Treppe zu den Galerien führte. Im Foyer war es so voll, dass Lucia am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Daran war allerdings nicht zu denken. Sie musste ihr Unbehagen verdrängen. Da er sehr groß war, überragte er in Menschenmengen immer die meisten. An diesem Abend hielt Grey jedoch nicht Ausschau nach Leuten, die er kannte und mit denen er sprechen musste. Gesellschaftliche Verpflichtungen, die für ihn ohnehin keine allzu große Bedeutung hatten, waren das Letzte, was er momentan im Sinn hatte. Er blickte zu Lucia und musste zugeben, dass sie toll aussah in der cremefarbenen Seidenbluse und dem langen, engen schwarzen Rock, der bei jedem Schritt ihre schlanken Beine erkennen ließ. Obwohl sie keinen Schmuck trug und nur dezent geschminkt war, stellte sie fast alle anderen weiblichen Gäste in ihren Designeroutfits und mit den kunstvollen Frisuren in den Schatten. Die schwarze Strumpfhose, die sie trug, hatte seine Mutter ihr von ihrem Einkaufsbummel mitgebracht. Als er Lucia eingehender betrachtete, bemerkte er die feinen Schweißperlen auf ihren Schläfen. Es war zwar sehr voll im Foyer, aber die Temperatur war durchaus erträglich. Offenbar stand Lucia unter Stress. Eigentlich hätte ihr Unbehagen ihn freuen müssen. Er stellte allerdings fest, dass es nicht der Fall war. „Ist Ihnen nicht gut?" fragte er sie leise. „Wollen Sie nach draußen gehen?" Lucia war erstaunt, dass ausgerechnet Grey ihr Unbehagen bemerkte und ihr seine Hilfe anbot. Dann wurde ihr jedoch klar, dass seine Sorge nicht ihr galt, sondern vielmehr den anderen. Vermutlich fürchtete er, sie würde in Ohnmacht fallen und ihnen den Abend verderben. Daher setzte Lucia ein fröhliches Lächeln auf. „Es geht mir gut", versicherte sie. Als seine Züge sich verhärteten, wollte sie „Aber danke der Nachfrage hinzufügen", aber in dem Moment wandte seine Schwester sich an ihn. Sobald Tom sie dann durch die Ausstellung führte, legte sich ihre Panik. Trotzdem konnte Lucia sich nicht voll auf die Zeichnungen konzentrieren. Sie wurde aus Greys Verhalten einfach nicht schlau. Manchmal schien er sie regelrecht zu verachten, heute Nachmittag hatte
es den Anschein gehabt, als wollte er sich an sie heranmachen, und eben hatte er als Einziger ihre Nervosität bemerkt. Der Mann war ihr ein Rätsel. Und ab und zu hatte sie das Gefühl, dass nicht einmal die Menschen, die ihm nahe standen, ihn richtig kannten. Eine Woche später fuhr Grey nach Larchwood. Seit der Ausstellungseröffnung in der Royal Academy ärgerte er sich darüber, dass er seinen Plan, Lucia durch einen Annäherungsversuch in die Flucht zu schlagen, noch nicht in die Tat umgesetzt hatte. Doch als er festgestellt hatte, dass der Besuch der Ausstellung für sie ohnehin eine Zerreißprobe war, hatte er ihr nicht noch mehr Probleme machen wollen. In der Zwischenzeit hatte er sich überlegt, wie er sie auf elegantere Art loswerden konnte. Lucia war allein im Haus, als Grey eintraf. Rosemary und Braddy waren ausgegangen, um eine frühere Hausangestellte zu besuchen, die sich gerade von einer Operation erholte. Nachdem sie ihm Kaffee angeboten hatte, den er dankend ablehnte, sagte er: „Bevor Sie mit meiner Mutter auf Reisen gehen, möchte ich mich gern vergewissern, dass Sie eine gute Fahrerin sind. Sie können es mir gleich beweisen." Er reichte ihr seine Autoschlüssel. Lucia war entsetzt. Einen fremden Wagen zu fahren - noch dazu eine Luxuskarosse und mit Grey als Beifahrer -, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Zuerst hätte sie am liebsten erwidert, dass sie es nicht könnte, weil er sie nervös machte. Dann wurde ihr allerdings klar, dass sie keine andere Wahl hatte. Wenn sie kniff, würde er es gegen sie verwenden. Er hatte nachgegeben, als seine Mutter sich ihm gegenüber behauptet hatte. Ein zweites Mal würde er es nicht tun. „Glauben Sie, das ist fair? Ihr Jaguar ist nicht gerade ein typischer Mietwagen", erklärte Lucia. „Ein guter Fahrer muss jeden Wagen fahren können", sagte er streng. „Außerdem ist auf den Straßen hier kaum Verkehr." Während sie zu seinem Jaguar gingen, erinnerte Lucia sich an ihre Fahrprüfung. Sie war damals bei weitem nicht so nervös gewesen wie jetzt. Der Prüfer, ein kleiner, glatzköpfiger Mann, war zwar nicht übermäßig freundlich gewesen, aber nicht so feindselig wie Grey. Er wollte, dass sie versagte, das spürte sie. Er war so entschlossen, sie loszuwerden, dass er sogar einen Schaden an seinem Wagen in Kauf nahm. Lucia biss die Zähne zusammen und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Grey öffnete ihr die Tür. „Sie müssen den Sitz nach vorn rücken. Ich zeige Ihnen gleich, wie es geht." Er schloss die Tür und ging um den Wagen herum. Im Inneren roch es angenehm nach Leder, doch sie war nicht in der Stimmung, es zu genießen, genauso wenig wie sie sich am Anblick der Armaturen aus Walnussholz erfreuen konnte. Grey nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Nachdem er ihr gezeigt hatte, wie sie den Sitz nach vorn schieben musste, erklärte er ihr die verschiedenen Funktionen. Schließlich lehnte er sich zurück, schnallte sich an und sagte: „So, der Wagen gehört Ihnen." Als Lucia vierzig Minuten später die Auffahrt zum Haus entlangfuhr, schien es ihr, als hätte sie einen dreitägigen Härtetest hinter sich. Sie stoppte den Wagen, zog die Handbremse an und schaltete den Motor ab. Dann wandte sie sich um und blickte Grey in die Augen. „Sind Sie zufrieden?" „Sie scheinen gut zu fahren ... unter nicht besonders schweren Bedingungen", beharrte er. Lucia zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und reichte ihn ihm. Seine Antwort machte sie wütend. Es hatte zwei Situationen gegeben, in denen sein Wagen hätte beschädigt werden können, wenn sie das schlechte Fahrverhalten anderer Fahrer nicht vorausgesehen hätte. Grey musste Nerven wie Drahtseile haben, weil er beide Male nicht ins Lenkrad gegriffen,
geschweige denn nervös gewirkt hatte. Das war bewundernswert. Dass er sich nicht dazu überwinden konnte, sie zu loben, ärgerte sie allerdings. „Sie hatten gehofft, dass ich versage, stimmt's?" erkundigte sie sich unverblümt. „Sie wollen immer noch, dass ich von hier verschwinde." Sie machte eine ausschweifende Geste. Grey ignorierte ihre Frage und stieg aus. Da sie annahm, dass er zur Haustür gehen würde, blieb sie sitzen, die Hände vor Zorn zu Fäusten geballt. Zu ihrer Überraschung kam er jedoch um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Er legte den Arm darauf und betrachtete sie mit unergründlicher Miene. „Ich hatte damit gerechnet, dass Sie versagen", erwiderte er schließlich kühl. „Aber es stand viel auf dem Spiel, und Sie haben sich wacker geschlagen. Dafür bewundere ich Sie. Sehen Sie nur zu, dass Sie genauso vorsichtig fahren, wenn Sie meine Mutter chauffieren." Lucia musste sich zusammenreißen, um ihm nicht zu sagen, dass es keinen größeren Schnösel gab als ihn. Das Funkeln in seinen Augen bewies ihr, dass er sie durchschaut und ganz bewusst provoziert hatte. Sie schwang die Beine aus dem Wagen, stand auf und antwortete zuckersüß: „Ich werde mein Bestes tun, das verspreche ich Ihnen." Immer wenn Lucia mit Rosemary auf den schmalen Wegen und gewundenen Küstenstraßen der Insel Guernsey unterwegs war, musste sie daran denken, wie Grey versucht hatte, sie aus Larchwood zu vertreiben. „Ich wünschte, Grey würde uns für ein paar Tage besuchen", sagte Rosemary wiederholt. Lucia stimmte ihr zu, hoffte jedoch, dass es nicht der Fall sein würde. Sie hatte sich in die schöne Insel verliebt und wollte nicht, dass ihr Vergnügen durch seine Anwesenheit getrübt wurde. Sie hatten Glück mit dem Wetter und malten meistens draußen. „Sie sehen schon viel besser aus", erklärte Rosemary an dem Tag, an dem sie nach London zurückflogen. „Der Aufenthalt hier hat Ihnen gut getan." Nachdem ihre erste Malreise so gut verlaufen war, plante Rosemary gleich die nächste. Sie kannte ein Haus in Spanien, das Freunde von ihr im Sommerurlaub gemietet hatten und das sehr idyllisch gelegen sein sollte. An dem Abend, an dem die Wettervorhersage für den nächsten Monat Regen verhieß, rief sie die Hausbesitzer, die in England lebten, an und mietete das Haus für eine Woche mit der Option auf Verlängerung. Am nächsten Morgen buchte sie telefonisch bei einem Reisebüro im Ort zwei Flüge erster Klasse in der nächsten Maschine nach Alicante. Grey erfuhr von ihren Plänen, als er anlässlich einer Dinnerparty nach Larchwood kam, die sie schon vor einiger Zeit geplant hatte. Sie sollte zu Ehren eines prominenten Gasts einer Nachbarin stattfinden. „Ich habe die Tischordnung geplant, bevor ich wusste, dass Sie hierher kommen", sagte sie zu Lucia. „Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, dass Sie nicht dabei sind." „Natürlich nicht", versicherte Lucia. „Ich erwarte gar nicht, dass ich an allem teilnehme. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich an dem Abend in Ihren Reiseführern lesen." An diesem Morgen war ein Paket mit Büchern aus London gekommen. Grey traf einige Stunden vor den anderen ein. Als er das Wohnzimmer betrat, fiel ihr auf, dass er ziemlich mitgenommen wirkte. Offenbar hatte er eine anstrengende Woche hinter sich. Immer wenn sie ihn sah, kam sie zu dem Ergebnis, dass er überhaupt nicht wie ein Büromensch wirkte. Vielmehr konnte sie ihn sich auf der Brücke eines Marineschiffs oder als Befehlshaber in der Armee vorstellen. Sie konnte ihn sich in vielen Jobs vorstellen, vom Kriegsberichterstatter zum Mitarbeiter eines exklusiven Auktionshauses, nur nicht als Wirtschaftsboss.
Nachdem er sie beide begrüßt und seine Mutter auf die Wange geküsst hatte, ging er zum Barschrank, um sich einen Drink zu machen. „Was ist mit euch beiden?" fragte er, als er den Schrank öffnete. „Ich trinke nichts, mein Lieber. Lucia, möchten Sie etwas?" „Nein, danke." Es fiel Lucia schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Sie sprachen das Thema „Spanienreise" an, als Grey wenige Minuten später einen Film erwähnte, der in der kommenden Woche in London anlaufen sollte. „Er würde euch bestimmt gefallen. Es ist eine Liebeskomödie." „Das glaube ich, aber wir müssen ihn uns ein andermal ansehen", erwiderte Rosemary und erklärte dann, warum es nächste Woche nicht ging. Lucia rechnete damit, dass Grey eine finstere Miene machte, und war überrascht, als er gleichgültig reagierte. Als Rosemary verkündete, sie müsste sich jetzt umziehen, verließ Lucia mit ihr zusammen das Wohnzimmer. Ungefähr eine Dreiviertelstunde später, sie las gerade in einem der Reiseführer, klopfte es an der Tür. Das konnte nur Grey sein. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, warum er sie in ihrem Zimmer aufsuchen sollte. „Kommen Sie rein." Als er die Tür öffnete, legte sie das Buch weg. Unwillkürlich musste sie an den Tag denken, an dem er ins Bad geplatzt war, und errötete. „Möchten Sie jetzt einen Drink?" erkundigte er sich. „Das ist nett von Ihnen, aber ich bleibe heute Abend lieber bei Mineralwasser." Sie deutete auf die Flasche, die auf dem Tisch neben ihrem Sessel stand. Auf der anderen Seite des Frisiertischs stand ein zweiter Sessel, doch sie bat Grey nicht, sich zu setzen. Wäre sein Schwager zu ihr ins Zimmer gekommen, wäre sie nicht nervös gewesen. Tom war allerdings auch ein Mann, der Frauen nicht nervös machte - im Gegensatz zu Grey. „Sind Sie glücklich über die Pläne meiner Mutter?" fragte Grey. „Es könnte Sprachprobleme geben ... und wenn man das erste Mal rechts fährt, ist es auch nicht einfach." „Damit habe ich kein Problem. Sie etwa?" Es dauerte eine Weile, bis er antwortete, und ihre Anspannung verstärkte sich. „Nicht wenn Sie mir versprechen, dass Sie sich sofort mit mir in Verbindung setzen, wenn irgendetwas schief geht", erwiderte er schließlich. „Natürlich verspreche ich es Ihnen." Offenbar war es ein Fortschritt, wenn Grey sich auf ihr Wort verließ. „Gut." Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. „Sie verpassen übrigens nichts. Wenn der Senator seinen englischen Cousins auch nur im Entferntesten ähnelt, wird es ein langweiliger Abend. Sie können von Glück reden, dass Sie hier oben sind. Gute Nacht, Lucia." „Gute Nacht." Lucia erschauerte, als er ihren Namen aussprach. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, entspannte sie sich wieder. Sie las weiter, konnte sich jedoch nicht konzentrieren, weil sie Grey vor sich sah, wie er, ganz der pflichtbewusste Sohn, die Treppe hinunterging, um den Platz seines verstorbenen Vaters einzunehmen und seine Mutter zu unterstützen. Was für ein Mensch mochte sich wohl hinter der Fassade des weltgewandten, manchmal auch selbstherrlichen Geschäftsmannes verbergen?
8. KAPITEL
Rosemary und Lucia saßen im Flugzeug nach Spanien, nippten an den Drinks, die man ihnen gleich nach dem Start serviert hatte, und blätterten in den Bordmagazinen. Plötzlich sagte eine Stewardess: „Hier, Sir" und deutete auf die beiden leeren Plätze auf der anderen Seite des Ganges. „Grey!" rief Rosemary, als sie sah, um wen es sich handelte. „Was machst du denn hier?" „Ich nehme ein paar Tage frei. Es macht euch doch nichts aus, wenn ich mitkomme, oder?" Er blickte auch Lucia an. „Das ist ja eine schöne Überraschung", erwiderte Rosemary. „Aber wenn du es uns gestern Abend gesagt hättest, dann hätten wir dich auf dem Weg zum Flughafen abholen können." „Ich wusste bis zum letzten Moment nicht, ob es klappt." „Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen, Sir?" fragte die Stewardess und öffnete das Gepäckfach. „Ich komme schon zurecht, danke." Lucia, die die beiden beobachtete, stellte fest, dass Grey die Stewardess kaum beachtete. Diese lächelte zwar immer noch freundlich, war aber zweifellos gekränkt. Was für Eigenschaften musste eine Frau besitzen, um ihn für sich zu gewinnen? Offenbar mehr als ein perfektes Äußeres. Eine andere Stewardess erschien. „Ein Drink für Sie, Sir?" „Ja, bitte. Ich nehme dasselbe wie die beiden Ladys." Während er seine Sachen im Gepäckfach verstaute, erholte Lucia sich von ihrem Schock. Sie stand auf. „Lassen Sie uns die Plätze tauschen." „Nein, bleiben Sie ruhig sitzen." Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie auf ihren Sitz. Obwohl es eine lässige Geste war, erschauerte Lucia heftig. Verwirrt nahm sie wieder Platz, und Grey setzte sich auf die andere Seite des Ganges und streckte die Beine aus. „Jetzt können wir uns entspannen", sagte Rosemary leise zu ihr, so dass ihr Sohn es nicht hören konnte. „Wenn es irgendwelche Probleme gibt, wird Grey sich darum kümmern." Lucia rang sich ein Lächeln ab. Sie war vorher viel entspannter gewesen. Von jetzt an würde sie sich immer beobachtet fühlen, und das trübte ihre Freude. Das Dorf zu finden war nicht schwer. Das Haus zu finden wäre wesentlich schwieriger gewesen, wenn Grey nicht ständig nach dem Weg gefragt hätte. Es lag in einer schmalen Gasse und wirkte nicht besonders einladend, da die Fensterläden geschlossen waren. Nachdem Grey die Tür aufgeschlossen hatte, betraten Rosemary und Lucia die dunkle Eingangshalle, von der mehrere Türen abgingen. Die Tür, die Rosemary öffnete, führte in eine große Küche mit zwei Fenstern, einem kleinen zur Straßenseite und einem größeren auf der gegenüberliegenden Seite. Während Rosemary die Läden des Fensters über der Spüle öffnete, ging Lucia zu dem anderen Fenster, um die Gardinen zurückzuziehen. Diese reichten fast bis zum Fliesenboden. Es wurde jedoch nicht heller im Raum, den auf der Außenseite war eine Art Jalousie. Sie versuchte gerade zu ergründen, wie sie diese hochziehen musste, als Grey hinter sie trat und ein Band hinter der rechten Gardine entdeckte. Als er daran zog, tat sich allerdings nichts. Daraufhin öffnete er eines der Schiebefenster und entfernte die Schrauben, mit denen die Jalousie befestigt war. Sobald er die Jalousie hochgezogen hatte, bot sich ihnen ein wunderschöner Anblick. Vor dem Fenster befand sich eine Terrasse mit einem umlaufenden Geländer und darunter ein Hof von der Größe eines Tennisplatzes, dessen Mauern von Kletterpflanzen berankt waren. Hinter
der gegenüberliegenden Mauer fiel das Gelände ab, und hinter den Hausdächern sah man in der Ferne Weinberge und eine Gebirgskette. „Die Aussicht ist nicht schlecht", bemerkte Grey, und plötzlich wurde Lucia bewusst, wie dicht er neben ihr stand. Dann ging er weg. „Mal sehen, was dahinter ist." Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass er den Messingriegel einer Falttür öffnete. „Was für eine ungewöhnliche Decke!" sagte Rosemary, und Lucia blickte nach oben. Die Decke war weiß getüncht und hatte massive Balken, zwischen denen sie gewölbt war. Die Wände waren terrakottafarben gestrichen. Grey öffnete die Falttür zum angrenzenden Kaum. Dieser hatte ebenfalls zwei hohe Fenster, und während Lucia eins öffnete, kümmerte Grey sich um das andere. Sofort fiel das Sonnenlicht herein, und man sah, dass es sich um ein Wohnzimmer handelte. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt, und zwischen zwei einladend wirkenden Sofas stand ein Ofen, in dem einige Holzscheite lagen. „Wie schön!" meinte Rosemary. „Lassen Sie uns die Schlafzimmer erkunden, ja?" „Ich hole inzwischen das Gepäck herein", erklärte Grey. Im Erdgeschoss gab es ein Schlafzimmer und ein Bad, oben zwei weitere Schlafzimmer mit einem gemeinsamen Bad. „Grey nimmt am besten das Zimmer unten", sagte Rosemary. „Wir schlafen hier oben. Ich bin es gewohnt, im Doppelbett zu schlafen, deswegen nehme ich dieses Zimmer." Lucia freute sich darüber, dass sie das andere Zimmer mit den beiden Einzelbetten bekam, weil es zwei Fenster zu zwei verschiedenen Seiten hatte. Sie betrachtete gerade eine gerahmte Postkartensammlung aus aller Welt, als sie Grey die Treppe heraufkommen hörte. Nachdem er seiner Mutter ihren Koffer gebracht hatte, kam er mit ihrem Koffer den Flur entlang. Er legte ihn auf das Bett an der Tür und blickte sich um. „Ich hätte nicht so gern Fremde in meinem Haus. Sie?" „Vielleicht brauchen die Leute das Geld", erwiderte sie. „Vielleicht. Aber die Einrichtung lässt nicht darauf schließen, dass sie es brauchen." Er deutete auf die antike Kommode. „Stimmt", bestätigte Lucia. „Aber vielleicht geht es ihnen inzwischen nicht mehr so gut wie zu dem Zeitpunkt, als sie das Haus gekauft und eingerichtet haben. Sein Haus mit Fremden zu teilen ist bestimmt besser, als es verkaufen zu müssen." Grey zuckte die Schultern. „Schon möglich." Als er den Raum verließ, dachte sie daran, wie schwer es für ihn sein musste, sich vorzustellen, dass es nicht allen Leuten so gut ging wie ihm. Während die beiden Frauen malten, fuhr Grey am nächsten Tag zu dem Fischerort an der Küste, in dem er früher schon einmal gewesen war. Er erkannte ihn kaum wieder. Aus dem ehemals kleinen Dorf war ein großer, immer noch wachsender Urlaubsort geworden. Die kleine Bucht neben dem Hafen sah jedoch noch genauso aus wie vor achtzehn Jahren. Nachdem er eine Stunde mit Schwimmen und Schnorcheln verbracht hatte, trank er in einem der vielen Cafes an der Promenade Kaffee. Unter den Gästen befanden sich nicht nur Touristen, sondern auch zahlreiche ältere Ausländer, die hier offenbar ihren Lebensabend verbrachten. Auf dem Rückweg zu seinem Wagen kam Grey an einem Antiquariat vorbei, in dessen Schaufenster englische Taschenbücher lagen. Beim Frühstück hatte seine Mutter über ein Buch gesprochen, und Lucia hatte gesagt, sie würde es gern lesen, wenn sie wieder in England wäre. Er ging hinein, um zu fragen, ob sie es hatten. Grey war früh ins Bett gegangen, weil er noch in dem Buch lesen wollte, das er sich gekauft hatte. Plötzlich klopfte es an der Tür. Er klappte das Buch zu und legte es mit dem Cover nach unten auf den Nachttisch. Dann nahm er ein anderes vom Stapel, bevor er „Herein" rief.
Seine Mutter betrat das Zimmer. Sie trug den blauen Baumwollkimono, den er ihr einmal von einer Geschäftsreise nach Japan mitgebracht hatte. „Ist dir nicht gut, Schatz?" fragte sie. „Normalerweise gehst du doch nicht so früh ins Bett." Grey lächelte. „Mir geht es gut. Ich bin nur früher aufgestanden als du." Er war im Morgengrauen aufgestanden und eine Stunde spazieren gegangen. Dabei war er den Weg am ausgetrockneten Flussbett gefolgt, in dem große Oleanderbüsche wuchsen. Seine Mutter setzte sich ans Fußende. „Es war nett von dir, das Buch für Lucia zu kaufen. Bist du ihr gegenüber nicht mehr so voreingenommen wie am Anfang?" „Du weißt ja, dass ich an keinem Buchladen vorbeigehen kann. Ich habe das Antiquariat zufällig entdeckt." „Du weichst meiner Frage aus." „Ich habe meine Gefühle ihr gegenüber nicht analysiert. Männer denken nun mal nicht so viel über sich nach wie Frauen", fügte er trocken hinzu. „Es sei denn, es hat mit etwas so Wichtigem wie ihrem Beruf zu tun." „Zwischenmenschliche Beziehungen sind sehr wichtig", erklärte seine Mutter. „Wenn du Lucia inzwischen nicht sympathischer fändest, hättest du das Buch bestimmt nicht gekauft. Meiner Meinung nach muss man sie einfach mögen." „Ich habe nicht so viel Zeit mit ihr verbracht wie du. Jedenfalls lehne ich sie nicht mehr so ab wie vor einem Jahr." „Früher oder später solltest du mir ihr darüber reden ... warum sie es getan hat. Das würde klare Verhältnisse zwischen euch schaffen." „Für mich zählt nur, dass sie dich unterstützt. Solange sie den Zweck erfüllt, wird sie keine Probleme mit mir bekommen. Wenn Sie sich etwas zu Schulden kommen lässt, schon. So einfach ist das." Seine Mutter seufzte. „Na, wenigstens bist du nicht so unversöhnlich wie dein Vater und Großvater. Die beiden haben nie einen Fehltritt begangen und waren der Meinung, dass man alle Missetäter hart bestrafen musste." Sie stand auf, kam zu ihm und küsste ihn auf die Stirn, wie sie es früher immer getan hatte, als er noch klein war. „Es ist schön, dass du hier bist. Du machst mir so viel Freude, Grey. Gute Nacht. Schlaf schön." „Gute Nacht, Mum." Grey beobachtete, wie sie den Raum verließ, ohne zurückzublicken. Sie war heiser gewesen, als sie gesagt hatte, er würde ihr so viel Freude machen. Vermutlich hatte sie Tränen in den Augen gehabt und sich deswegen nicht noch einmal umgedreht. Seine Mutter war schon immer sentimental gewesen, hatte sich früher allerdings zusammengerissen, weil seinem Vater jede Art von Gefühlsäußerung peinlich war. Sie hatten einmal darüber spekuliert, wie das Liebesleben ihrer Eltern wohl gewesen sein mochte, und Jenny hatte die Vermutung geäußert, dass es für ihre Mutter nie befriedigend gewesen sein konnte. Er, Grey, hatte ihr zugestimmt. Obwohl er mit Jenny über die meisten Dinge reden konnte, gab es etwas, das er auch ihr nie anvertraut hatte. Er verdrängte den Gedanken daran und schlug wieder das Buch auf, in dem er gelesen hatte, bevor seine Mutter angeklopft hatte. Es war die Autobiografie eines Mannes, der sein Leben lang Gemälde und Zeichnungen alter Meister kopiert und damit viel Geld verdient hatte. Er war dabei so clever vorgegangen, dass man ihn nie gerichtlich verfolgt hatte. Grey hoffte, dass das Buch ihm dabei helfen würde, die Frau, die in dem Zimmer über ihm schlief, zu verstehen. Sie hatte Stimmen gehört. Lucia lag mit dem Buch, das Grey für sie gekauft hatte, im Bett, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sich sein Verhalten ihr gegenüber so deuten ließ, dass er sie nicht mehr verabscheute.
Sie konnte nicht länger so tun, als wäre es ihr egal. Widerstrebend hatte sie sich eingestehen müssen, dass ihr seine Meinung über sie immer wichtiger wurde. Vielleicht sogar außerordentlich wichtig. Rosemary, die in ihrem Zimmer am anderen Ende des Flurs im Bett lag, hatte ebenfalls ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Es war die Biografie ihrer Lieblingskochbuchautorin, doch an diesem Abend konnte sie sich einfach auf nichts konzentrieren. Sie machte sich Sorgen um ihren Sohn. Sie wusste, dass er nicht glücklich war, und konnte es sich nur so erklären, dass er bisher noch nicht die richtige Frau gefunden hatte. Abgesehen von einer Familie, hatte er allem Anschein nach alles, was ein Mann sich wünschen konnte. Er hatte Karriere gemacht, konnte sich einen luxuriösen Lebensstil leisten und Urlaub an den exklusivsten Orten machen. Wahrscheinlich ahnte niemand seiner zahlreichen Freunde etwas davon. Als seine Mutter wusste sie jedoch, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie Jenny darauf angesprochen hatte, hatte diese entgegnet: „Das bildest du dir nur ein, Mum. Grey hat alles. Wahrscheinlich hat er sogar häufiger Sex als der durchschnittliche Ehemann. Die Männer in seiner Generation haben Angst davor, zu heiraten und ein paar Jahre später zur Kasse gebeten zu werden. Wenn er sein Vermögen aufteilen müsste, würde seine Ex das große Geschäft machen. Und warum sollte er sich eigene Kinder wünschen, wenn er Nichten und Neffen hat - die er jederzeit wieder loswerden kann, wenn er die Nase voll von ihnen hat?" Rosemary musste sich eingestehen, dass Jenny in vieler Hinsicht Recht hatte. Es waren ganz andere Zeiten als damals. „Aber jeder braucht Liebe, Jenny", hatte sie ihre Tochter erinnert. „Das ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis." „Frauen wollen geliebt werden. Die meisten Männer würden Liebe gern gegen Macht, Geld und eine neue Frau eintauschen", hatte Jenny erwidert. „Es gibt Ausnahmen, aber ich glaube nicht, dass Grey dazugehört. Er ist Realist, kein Romantiker." Danach war sie, Rosemary, deprimiert gewesen. Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr über alles geliebter Sohn kein Herz hatte. Zuerst hatte sie sich gefragt, ob er sie nach Spanien begleitet hatte, weil er sich für Lucia interessierte. Vorhin hatte er sie allerdings eines Besseren belehrt. Sie mochte Lucia sehr gern und war froh, dass sie ihr helfen konnte. Trotzdem wäre es ihrer Meinung nach eine Katastrophe gewesen, wenn Grey sich zu Lucia hingezogen gefühlt hätte. Sie besaß keine der Eigenschaften, die seine zukünftige Frau brauchen würde. Sie kam aus einer anderen Schicht. Und vor allem würde man ihren Fehltritt niemals vergessen. Für einen Mann, der im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, wäre es ausgesprochen peinlich. Lucia fuhr gerade mit dem Mietwagen zum nächsten Ort, um frischen Fisch fürs Abendessen zu kaufen, als ihr etwas vor den Wagen lief. Da dicht hinter ihr ein roter Sportwagen fuhr, konnte sie keine Vollbremsung machen. Daher tippte sie einige Male das Bremspedal an, damit der andere Fahrer es mitbekam, bevor sie den Wagen stoppte. Die Straße war an diesem Abschnitt ganz gerade. Lucia nahm nur nebenbei wahr, wie der Sportwagen an ihr vorbeifuhr, denn ihre Aufmerksamkeit galt dem Opfer. Sie zog die Handbremse an, sprang heraus und lief zurück. Es handelte sich um eine kleine graue Katze. Zuerst dachte Lucia, sie wäre tot. Doch dann öffnete die Katze die Augen und versuchte vergeblich aufzustehen. Ihre Hinterbeine waren schwer verletzt. Zuerst war Lucia starr vor Entsetzen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wenn sie die Katze hochhob, würde diese sie vielleicht kratzen. Weit und breit war kein Haus zu sehen. Wo mochte der nächste Tierarzt sein?
Als sie schnelle Schritte hörte, warf sie einen Blick über die Schulter. Der Fahrer des Sportwagens lief auf sie zu. Ihre Erleichterung wich jedoch erneutem Entsetzen, als sie sah, dass er einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand hielt. Er redete auf Spanisch auf sie ein. Das einzige Wort, das sie verstand, war „Senorita". Nachdem sie einen Moment angestrengt nachgedacht hatte, fiel ihr ein Satz ein, den sie auswendig gelernt hatte und der ihre schlechten Sprachkenntnisse erklärte. „Das macht nichts, ich spreche Englisch", erwiderte der Mann, der offenbar an ihrem Akzent gemerkt hatte, woher sie kam. „Gehen Sie zu Ihrem Wagen zurück, Senorita. Ich kümmere mich um das Tier." „Sie wollen sie töten. Vielleicht kann ein Tierarzt ihr helfen", protestierte sie. Der Spanier wirkte skeptisch. „Vielleicht ist es keine Hauskatze. Viele Katzenjunge werden einfach irgendwo ausgesetzt. Wenn sie verletzt sind, können sie nicht jagen. Ich habe sie vor Ihren Wagen laufen sehen. Möglicherweise war sie hinter einer Maus her." Lucia, die sich über sein perfektes und fast akzentfreies Englisch wunderte, sagte: „Ich finde, wir sollten versuchen, sie zu retten, für den Fall, dass sie jemandem gehört." Er zuckte die Schultern. „Na gut, wenn Sie darauf bestehen. Warten Sie, ich hole nur schnell Handschuhe. Ich möchte es nicht riskieren, mir die Hände zerkratzen zu lassen, auch wenn ich damit ein Lächeln in Ihre schönen Augen zaubern kann." Einen Moment lang sah er ihr tief in die Augen. Dann eilte er zur seinem Wagen zurück. Sie atmete erleichtert auf.
9. KAPITEL
Nachdem sie die Katze eine halbe Stunde später in der nächsten Tierklinik abgeliefert hatten, bestand Julian Hernandez, ihr Retter in der Not, darauf, Lucia in einer nahe gelegenen Bar zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Sie freute sich darüber, dass sie die Gelegenheit hatte, sich mit einem Einheimischen unterhalten zu können. Nachdem sie ihm erzählt hatte, warum sie in Spanien war, fragte sie: „Wohnen Sie hier in der Gegend?" „Nein, in Barcelona. Waren Sie schon mal dort?" „Ich bin zum ersten Mal in Spanien. Auf dem Weg vom Flughafen hierher habe ich nur Alicante aus der Ferne gesehen." „Alicante ist nett, aber langweilig im Vergleich zu Barcelona. Barcelona ist die schönste Stadt Spaniens." „Besser als Madrid?" erkundigte sie sich. „Viel besser!" Seine dunklen Augen funkelten. „Ich bin Katalane. Für mich ist Barcelona die schönste Stadt der Welt." „Und was hat Sie hierher verschlagen?" „Dass ich so gut Englisch spreche, liegt daran, dass ich als Kind ein englisches Kindermädchen hatte. Sie hat erst mit dreiundfünfzig geheiratet, nachdem sie dem Mann wieder begegnet war, den sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr geliebt hatte. Er hatte eine andere Frau geheiratet, und seine Frau war inzwischen gestorben. Sie sind hierher an die Costa Bianca gezogen. Vor ungefähr zehn Jahren ist Harry gestorben, und meine Nanny hat beschlossen, ins Landesinnere zu ziehen. Sie spricht fließend Spanisch und zieht das ,ursprüngliche Spanien', wie sie es nennt, den Urlaubsorten an der Küste vor. Aber mittlerweile ist sie über siebzig, und ich versuche sie dazu zu bewegen, nach Barcelona zu kommen, damit wir uns um sie kümmern können." Der teure Sportwagen, seine exklusive Armbanduhr und seine Kleidung hatten bereits darauf hingedeutet, dass Julian Hernandez wohlhabend war. Seine Worte bestätigten dies. Er war einige Jahre älter als sie, aber höchstens dreißig, und sehr nett. Als sie sich schließlich zum Abschied die Hand schüttelten, hatte Lucia das Gefühl, dass sie ihn schon lange kannte. An diesem Tag gab es zum Mittag Salat, und sie aßen im Hof unter dem Sonnenschirm. Lucia erzählte Grey und seiner Mutter von ihrer Begegnung mit Julian Hernandez. „Was für eine romantische Geschichte! Aber wie traurig, dass Harry so früh gestorben ist!" bemerkte Mrs. Calderwood. „Sehen Sie diesen jungen Mann wieder?" „Er hat gesagt, dass er mich wegen der Katze auf dem Laufenden halten will. Nanny, wie er sie nennt, hat eine Katze, und er. meinte, dass sie vielleicht herausfindet, ob irgendjemand seine Katze vermisst." „Wenn sie schwer verletzt ist, hätte man sie am besten gleich einschläfern sollen", erklärte Grey. „Tiere sind nicht wie Menschen. Sie können sich nicht geistig beschäftigen, wenn sie körperbehindert sind." „Hat der Tierarzt etwas in der Richtung gesagt?" erkundigte sich Rosemary. „Nein, er wollte tun, was er konnte." „Er hat ja auch ein persönliches Interesse daran, dass die Katze überlebt", meinte Grey. „Wie kannst du so zynisch sein!" protestierte seine Mutter. „Kein guter Tierarzt würde seine Patienten unnötig leiden lassen." Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Lucia fragte sich, ob er sie für schuldig hielt. Allerdings hätte er bestimmt auch nicht mehr ausweichen können, wenn er am Steuer gesessen hätte. Einen Moment später klingelte das Telefon. „Ich gehe ran", sagte Grey und sprang auf.
Mrs. Calderwood blickte ihm nach. „Vielleicht ist es eines der Mädchen." Er rief sie aber nicht an den Apparat. Einige Minuten später kam er zurück. „Mrs. Alice Henderson möchte wissen, ob ihr Lust habt, heute Abend um halb sieben auf einen Drink zu ihr zu kommen. Ich habe geantwortet, ihr wärt gerade beim Essen und würdet zurückrufen." Als seine Mutter die Stirn krauste, fuhr er fort: „Mrs. Henderson ist das ehemalige Kindermädchen von Lucias Spanier. Wahrscheinlich hat er ihr vorgeschlagen, euch einzuladen, damit er Lucia besser kennen lernen kann." „Ich glaube eher, dass er Mrs. Henderson mit Ihrer Mutter zusammenbringen möchte", entgegnete Lucia. „Vielleicht vermisst sie manchmal den Kontakt zu Landsleuten." „Ich würde sie gern besuchen", erklärte Rosemary. „Wo wohnt sie denn, Grey?" „Im übernächsten Dorf. Ich habe ihre Adresse und die Wegbeschreibung aufgeschrieben. Ihr werdet sicher kein Problem haben, es zu finden." „Kommst du nicht mit?" „Ich wäre wohl überflüssig. Sie möchte sich mit dir unterhalten, und der Spanier will Lucia bestimmt für sich allein haben", meinte er mit einem spöttischen Unterton. Lucia spürte, wie sie errötete. „Julian ist nicht ,mein Spanier'", entgegnete sie. „Außerdem ist er Katalane und sehr stolz darauf." „Worin besteht der Unterschied?" erkundigte sich Rosemary. „Katalonien ist die am meisten industrialisierte Region Spaniens. Die Katalanen sind Separatisten. Sie betrachten den Rest des Landes als rückständig." Grey stand auf. „Bleibt sitzen. Ich mache Kaffee." Sobald er außer Hörweite war, sagte seine Mutter: „Grey macht einen ziemlich nervösen Eindruck. Ich glaube, er leidet an Entzugserscheinungen, wenn er ein paar Tage nicht arbeitet. Genau wie sein Vater ist er Workaholic. Ich wünschte, er würde es lernen, mehr abzuschalten. Es ist so schön hier, nicht?" „Ja, das ist es", bestätigte Lucia, während sie die Hummeln in einem Lavendelbusch beobachtete. Trotz der friedlichen Atmosphäre hier im Hof war sie jedoch alles andere als entspannt. Seine wiederholten Anspielungen auf „ihren Spanier" hatten sie geärgert. Grey schien tatsächlich gereizter Stimmung zu sein, vielleicht weil er seine Arbeit vermisste, wie seine Mutter sagte. Lucia fragte sich, wie jemand sich in dieser herrlichen Umgebung nach jener künstlichen Welt sehnen konnte. Wenn Grey es tat, hatte er ganz andere Wertvorstellungen als sie. Grey brachte sie zu Mrs. Henderson. Diese lebte in einem Reihenhaus, an dessen Seite Parkplätze waren. Die Kunststoff Jalousien, die man in Spanien persianas nannte, waren an allen Fenstern zur Straße hin heruntergelassen. Julian öffnete ihnen die Tür. Er stellte sich Rosemary vor und schüttelte ihr die Hand, bevor er ihnen bedeutete, durch die schwach erleuchtete Eingangshalle zu gehen, an die sich ein Raum anschloss. Mrs. Henderson erwartete sie im Garten. Allerdings sah Lucia zunächst nur ihre Silhouette gegen das helle Sonnenlicht. Lucia begrüßte Julian und machte Grey und ihn miteinander bekannt. Die beiden gaben sich ebenfalls die Hand. Erst als sie alle im Garten waren, konnte Lucia ihre Gastgeberin genauer betrachten. Sie hatte sich eine mollige, etwas gebrechliche ältere Lady vorgestellt, doch Mrs. Henderson war hager, hatte dichtes, kurz geschnittenes graues Haar und ein gebräuntes, faltiges Gesicht. Sie trug ein Männerhemd, eine Hose und Sandaletten und wirkte sehr energiegeladen. Ein Teil des Gartens wurde von einem Vogelhaus mit vielen verschiedenen kleinen Vögeln eingenommen. Daneben befand sich eine Treppe, die zu einem Flachdach führte. „Ich gehe voran", sagte Mrs. Henderson und sprang wie eine Zehnjährige die Treppe hoch. „Ich gehe sehr oft in den Bergen wandern", fügte sie hinzu, als sie ihr alle folgten. „Deswegen kenne ich alle alten Eselpfade. Julian will unbedingt, dass ich nach Barcelona
ziehe, aber da würde ich mich wie eine Löwin im Käfig fühlen. Als ich jung war, habe ich gern in der Stadt gelebt, jetzt möchte ich es nicht mehr." Während Julian ihnen Getränke einschenkte, bemerkte Grey: „Ihre Kette gefällt mir. Sie kommt aus der Türkei, stimmt's?" Mrs. Henderson fasste sich an ihre Kette aus hellblauen Perlen, ihr einziges Zugeständnis an die Weiblichkeit bei ihrem Outfit. „Ja, ich habe sie in einem Wanderurlaub in der Südtürkei auf dem Markt gekauft. Kennen Sie das Land?" Er bejahte ihre Frage, und sie unterhielten sich über die Türkei. Die anderen hörten zu, und Lucia dachte nicht zum ersten Mal daran, wie charmant er sein konnte, wenn er wollte. Sie überlegte, wie es wohl wäre, wenn er ihr gegenüber charmant war. Nein, es war unwahrscheinlich. „Wir müssen los", verkündete Rosemary ungefähr eine Stunde später. „Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Henderson. Die Aussicht ist sehr schön." „Ich lade Lucia zum Essen in ein Restaurant hier im Ort ein", sagte Julian. „Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie mitkämen. Nanny und ihr Sohn liegen anscheinend auf derselben Wellenlänge", fügte er mit einem Blick auf die beiden hinzu, die jetzt über den Westen Spaniens plauderten. „Ich glaube, Lucia möchte lieber mit Ihnen allein sein, da Sie ja nicht lange hier sind", erwiderte sie. „Ich habe beschlossen, noch zu bleiben." Er wandte sich zu Lucia um. Die Botschaft war unmissverständlich: Julian interessierte sich für sie. Lucia fühlte sich geschmeichelt. Gleichzeitig war es ihr unangenehm, weil es zu Komplikationen führen konnte. Er war ein attraktiver Mann. Doch sie fühlte sich nicht zu ihm hingezogen. Es gab nur einen Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Aber bei ihm brauchte sie sich keine Hoffnungen zu machen. Erst wenn es sie auf eine einsame Insel verschlagen würde und sie keine Hoffnung auf Rettung hätten, würde Grey sie so ansehen, wie Julian es tat. „Dann nehmen wir die Einladung gern an", sagte Rosemary. Als Grey erfuhr, dass seine Mutter sich einverstanden erklärt hatte, mit Alice - Mrs. Henderson hatte ihn gebeten, sie so zu nennen - und diesem Casanova aus Barcelona essen zu gehen, war er alles andere als erfreut. Für ihn war es offensichtlich, dass der Typ ein Frauenheld war, für den Lucia eine nette Abwechslung zu den glamourösen, selbstbewussten Senoritas und den mit ihren Ehemännern unzufriedenen Senoras darstellte, mit denen er sonst Affären hatte. Die Tatsache, dass es für ihn schwierig sein würde, den geeigneten Zeitpunkt zu finden, um sie zu verführen, war ein zusätzlicher Reiz. Zu Fuß brauchten sie nur wenige Minuten zum Restaurant. In der Straße fuhren keine Autos, so dass sie nebeneinander gehen konnten, die drei Frauen in der Mitte. Lucia ging neben Julian, der ihr Anekdoten erzählte und sie damit zum Lachen brachte. Wenn sie lachte, war sie ein ganz anderer Mensch, wie Grey feststellte. Nun konnte er erahnen, wie sie als Achtzehnjährige gewesen sein musste, bevor ihr Vater krank geworden und sie auf die schiefe Bahn geraten war. Doch wenn sie sich von Julian verführen ließ, würde sie einen weiteren Fehler begehen. Vielleicht gehörte sie zu den Frauen, die kein gesundes Urteilsvermögen besaßen und in ihrem Leben immer die falschen Entscheidungen trafen.
10. KAPITEL
Für ihr Rendezvous am nächsten Abend hatte Julian einen Tisch in einem Restaurant mit Blick auf den halbmondförmigen Strand Arenal in Jàvea reserviert, der unter einer Markise stand. An einem milden Frühlingsabend wie diesem war es der beliebteste Teil des Restaurants, und dieser Tisch war einer der besten. Julian schien hier häufig zu essen und ein gern gesehener Gast zu sein, denn alle Mitarbeiter begrüßten ihn überschwänglich. „Was ist das für ein Gebäude da hinten unter den Palmen?" fragte Lucia, während sie die Speisekarten studierten. „Es ist ein parador, ein staatliches Hotel", erwiderte Julian. „Es ist sehr modern, aber bei vielen handelt es sich um ehemalige Burgen oder andere historische Gebäude. Sie gelten als die besten Unterkünfte im Land. Die Preise sind wettbewerbsorientiert, und die Küche ist traditionell." Der cava, den Julian bestellt hatte, erwies sich als spanischer Champagner. Dazu servierte man einige Vorspeisen wie gefüllte Oliven, Wachteleier und huevos de lumpo, Lumpfischrogen auf Toast. Nachdem sie sich für ein Gericht entschieden hatten und Julian den Wein ausgesucht hatte, beugte er sich vor und sagte: „Mir ist nicht ganz klar, was für eine Beziehung Sie zu Grey haben. Erklären Sie es mir bitte." „Er ist der Sohn meiner Arbeitgeberin." „Aber er sieht es nicht gern, wenn ich mit Ihnen essen gehe. Als ich Sie gestern Abend gefragt habe und Sie die Einladung angenommen haben, hat er ein finsteres Gesicht gemacht. Ich glaube, es wäre ihm lieber, wenn Sie mit ihm essen gehen würden." „Nein, nein... Sie irren sich. Er interessiert sich nicht für mich. Seiner Meinung nach bin ich nicht einmal eine geeignete Reisebegleitung für seine Mutter." „Ich weiß, dass es für Künstler sehr schwer ist, von ihrem Beruf zu leben, aber ich verstehe nicht ganz, warum Sie für sie arbeiten. Haben Sie keinen besseren Job gefunden?" „Schon möglich, aber sie hat mir den Job angeboten, nachdem ich eine Zeit lang nicht gearbeitet hatte. Mein Vater war unheilbar krank, und ich habe meinen Beruf aufgegeben, um ihn zu pflegen", erklärte Lucia. Da sie ihn noch nicht so gut kannte, hielt sie es auch nicht für nötig, ihm von ihrem Gefängnisaufenthalt zu erzählen. „Das tut mir Leid." Sie spielte mit ihrem Weinglas, und er legte die Hand auf ihre. Nachdem er ihre Hand kurz gedrückt hatte, ließ er sie wieder los. „Ist der Job befristet? Sind Sie auf der Suche nach einem besseren?" „Noch nicht. Momentan genieße ich meinen Aufenthalt hier. Was ich langfristig tun werde, weiß ich noch nicht." Doch noch während sie das sagte, wurde ihr klar, dass es nicht stimmte. Sie hatte nicht mehr dieselben Ziele wie damals. Bald wurde sie fünfundzwanzig, und sie musste ihre Zukunft anders gestalten. Da sie Einzelkind war, hatte sie sich immer mehrere Kinder gewünscht. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre als Ehefrau und Mutter verbringen würde, wenn sie die Wahl hätte. Und nicht nur, weil sie sich Kinder wünschte, sondern weil sie diese auch als Inspiration brauchte. Eine Zeit lang hatte sie davon geträumt, sich einen Namen als Kinderbuchautorin zu machen. Dafür musste sie Kontakt zu Kindern haben, und was wäre besser als die eigenen? Bevor man welche bekam, musste man allerdings einen Mann finden, der bereit war, Vater zu werden. Es musste ein ganz besonderer Mensch sein. Den hatte sie gefunden, aber er war der letzte Mann auf der Welt, der je in Erwägung ziehen würde, eine Familie zu gründen. Welch Ironie des Schicksals! „Sie haben ein sehr ausdrucksvolles Gesicht", erklärte Julian und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Man sieht Ihnen an, was in Ihnen vorgeht. In weniger als
einer Minute hat es die verschiedensten Gefühle widergespiegelt - Freude, Aufregung und Trauer. Woran haben Sie gedacht?" „Oh ... an viele Dinge", erwiderte Lucia betont lässig. „Erzählen Sie mir von Ihrem Job, Julian." „Meine Familie hat eine Bootsbaufirma, und ich leite die PR-Abteilung. Die Firma wurde schon vor einigen Generationen gegründet, und damals hat man kleine Fischerboote auf traditionelle Weise gebaut. Jetzt bauen wir Yachten und Motorboote für Yuppies. Die ganze Küste entlang ..." Er machte eine ausholende Geste. „... gibt es neue Yachthäfen, in denen die teuersten Boote vor Anker liegen, und viele stammen von uns." „Macht Ihre Arbeit Ihnen Spaß?" „Es gibt nichts, was ich lieber täte. Ich wäre nicht gern Firmenchef geworden wie mein ältester Bruder oder Leiter des Rechnungswesens wie einer meiner Cousins. Aber die Nische, die ich mir geschaffen habe, ist ideal für mich. Vorher haben wir Geld an Agenturen gezahlt, und die haben ihre Arbeit lange nicht so gut gemacht wie ich." Sein jungenhaftes Lächeln ließ sein Eigenlob nicht ganz so prahlerisch erscheinen. Lucia schaffte es, ihn fast während des ganzen Essens in ein Gespräch über seine Arbeit zu verwickeln. Natürlich interessierte es sie, aber sie wollte weitere persönliche Fragen seinerseits vermeiden. Sie wusste nicht, warum Grey wütend gewesen war, als Julian sie zum Essen eingeladen hatte. Vermutlich sah er es nicht gern, wenn sie sich amüsierte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde sie noch im Gefängnis sitzen und nicht so schnell entlassen werden. „Jetzt sehen Sie wieder traurig aus", bemerkte Julian unvermittelt. „Habe ich etwas gesagt, was Sie an etwas Unangenehmes erinnert hat?" „Nein", entgegnete sie lässig. „Das bilden Sie sich nur ein. Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Arbeit." Das Haus Nr. 12 in der Calle Santa Josefina lag im Dunkeln da, als Julian seinen Wagen vor der Tür stoppte und heraussprang, um die Beifahrertür zu öffnen. „Danke, Julian. Es war ein schöner Abend", sagte Lucia leise, obwohl die Schlafzimmer alle auf der anderen Seite lagen. „Das müssen wir unbedingt wiederholen." Er umfasste ihre Schultern und küsste sie auf beide Wangen. „Gute Nacht, meine Süße. Schlafen Sie gut." Den Schlüssel hielt sie bereits in der Hand. Julian nahm ihn ihr ab, öffnete die Tür für sie und zog ihn dann wieder aus dem Schloss, um ihn ihr zurückzugeben. Als sie die Tür von innen abschloss, hörte sie ihn wegfahren. Da die Vorhänge in der Eingangshalle nicht zugezogen waren und das Licht einer Straßenlaterne hereinfiel, brauchte Lucia die Lampe nicht einzuschalten. Sie öffnete die Küchentür, weil sie sich noch eine Tasse Kräutertee machen wollte, und stellte dabei fest, dass eine der Tischlampen im angrenzenden Wohnzimmer noch brannte. Lucia schaltete das Licht in der Küche ein und ging um die Ecke. Überrascht stellte sie fest, dass Grey auf einem der Sofas saß. Er hatte ein Buch in der Hand, und auf dem Beistelltisch neben ihm stand ein Glas. „Oh ... Ich dachte, Sie schlafen schon", sagte sie nervös. Grey legte das Buch weg, stand auf und nahm das leere Glas in die Hand. „Ich gehe selten vor Mitternacht ins Bett. Wie war Ihr Abend?" „Sehr schön, danke. Sind Sie und Ihre Mutter auch essen gegangen?" „Nein, wir haben nur einen Aperitif in der Dorfbar genommen." „Ich mache mir eine Tasse Tee. Möchten Sie auch eine?" fragte sie. „Nein, danke." Er stellte sein Glas auf die Arbeitsplatte und schenkte sich dann Wasser aus einem Krug nach. „Werden Sie Hernandez wieder sehen?"
Sein Tonfall veranlasste Lucia, ihm zu erwidern: „Wahrscheinlich. Haben Sie etwas dagegen?" „Nicht wenn Ihnen klar ist, dass spanische Männer Nordeuropäerinnen im Allgemeinen für leichte Beute halten. Wundern Sie sich also nicht, wenn er das nächste Mal einen Annäherungsversuch macht." „Es würde mich sehr überraschen", erklärte sie entrüstet. „Ich glaube nicht, dass Julian sich von solchen Vorurteilen leiten lässt. Er würde sicher keinen Annäherungsversuch machen, wenn ich ihn nicht dazu ermutigen würde." Grey setzte das Glas an die Lippen und beugte den Kopf nach hinten, um einen Schluck Wasser zu trinken. Unwillkürlich betrachtete sie seinen Hals und wandte dann schnell den Blick ab. „Für ihn ist es vielleicht ermutigend genug, wenn Sie mit ihm ausgehen", sagte er kühl. „Wenn Sie sich nicht für ihn interessieren, warum gehen Sie dann mit ihm aus?" „Weil ich mich für ihn interessiere, allerdings nicht so, wie Sie es meinen. Er ist der erste Spanier, den ich kennen gelernt habe. Und er spricht perfekt Englisch, so dass wir keine Sprachprobleme haben. Er hat mir von seinem Job erzählt ... von Barcelona und anderen Städten und Gegenden in Spanien. Führen Sie denn nie ernste Gespräche mit Frauen? Gehen Sie mit Frauen nur aus dem Beweggrund aus, den Sie Julian unterstellen?" Zuerst hatte sie ganz ruhig gesprochen, war dann jedoch immer gereizter geworden und hatte schließlich richtig feindselig geklungen. Was danach passierte, kam völlig unerwartet. Grey war mit zwei Schritten bei ihr, umfasste ihre Schultern und presste die Lippen auf ihre.
11. KAPITEL
Dass Grey sie mit dem Kuss bestrafen wollte, war offensichtlich. Lucia war schockiert. Er hätte sie genauso gut schlagen können. Dann stöhnte er auf, ließ die Hände über ihre Arme nach unten gleiten und zog sie an sich, ohne die Lippen von ihren zu lösen. Sein Kuss wurde nun viel erotischer. Sobald Grey sie berührte, war sie verloren. Sie wollte ihm widerstehen, ihn wegstoßen und ihm zu verstehen geben, wie wütend sie war. Sie konnte es jedoch nicht, weil sie nicht so empfand. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, solche Gefühle verspüren zu können. Sie konnte nur an eins denken: Dass dies der Mann war, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Dieser Mann, dieser Moment, dieser leidenschaftliche Kuss. Als Grey sich schließlich von ihr löste, hatte die Welt sich verändert und würde nie wieder dieselbe sein. Zitternd, atemlos und völlig benommen, blieb Lucia stehen, während er einen Schritt zurückwich. „Das wollte ich nicht", brachte er hervor. Lucia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sehnte sich danach, wieder in seinen Armen zu liegen und das erotische Spiel seiner Zunge zu erwidern. „Sie wollten Tee machen", erinnerte er sie. Er nahm den Wasserkocher und füllte ihn mit Wasser. Dass er sich so verhielt, als wäre nichts geschehen, verblüffte sie. „Grey..." begann sie heiser, nur um überhaupt etwas zu sagen. Sie konnten doch nicht so weitermachen wie bisher! Grey schaltete den Wasserkocher ein und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Ja?" „Warum haben Sie das getan?" Langsam drehte er sich zu ihr um und stützte die Hände auf die Arbeitsplatte hinter sich. „Ich habe die Beherrschung verloren. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Sie sind schließlich nicht dumm. Sie wissen, wie die Dinge zwischen uns stehen. Sie haben mich herausgefordert. Ich habe darauf reagiert. Es wird nicht wieder vorkommen." Er stieß sich von der Arbeitsplatte ab. „Gute Nacht." Dann verließ er die Küche und schloss leise die Tür hinter sich. Lucia lag im Bett und hörte, wie die Uhr erst eins, dann zwei, drei und schließlich vier schlug. Sie fragte sich, ob Grey wohl schlief. Vielleicht hatte er auch eine Weile wach gelegen, wütend auf sich selbst und noch wütender auf sie, weil er ihretwegen die Fassung verloren hatte. Allerdings bezweifelte sie, dass er sich hin- und herwälzte wie sie. Es musste schon etwas Schlimmeres wie zum Beispiel ein Börsencrash passieren, damit er die ganze Nacht kein Auge zutat. Immer wieder musste sie an seine Worte denken: „Sie wissen, wie die Dinge zwischen uns stehen." Was hatte er damit gemeint? Wie standen denn die Dinge seiner Meinung nach zwischen ihnen? Irgendwann nickte Lucia doch ein, und als sie aufwachte, war der Himmel strahlend blau, und die Berge lagen im hellen Sonnenlicht da. Bestürzt stellte sie fest, dass sie ganz vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Grey und Rosemary mussten längst gefrühstückt haben. Lucia duschte schnell, und als sie eine Viertelstunde später nach unten ging, saß Rosemary noch am Frühstückstisch und las in einer Zeitschrift. „Guten Morgen. Entschuldigen Sie die Verspätung", sagte Lucia. „Guten Morgen. Das macht nichts. Hatten Sie einen schönen Abend?"
„Ja, es war sehr schön, danke." Lucia überlegte, ob Grey um die Ecke auf dem Sofa saß, sah aber nicht nach. Sie nahm eine Apfelsine aus dem Korb auf der Arbeitsplatte und ging zur Spüle, um sie zu pellen. „Jetzt sind wir allein", erklärte Rosemary. „Grey ist auf dem Weg zum Flughafen." Lucia wirbelte herum. „Er ist weg?" „Er hat eine E-Mail aus London bekommen. Er muss sich um eine wichtige Angelegenheit kümmern. Und da er nicht wollte, dass wir ihn zum Flughafen bringen, hat er sich ein Taxi gerufen." „Ach so ... Schade", erwiderte Lucia. Ob Grey seiner Mutter die Wahrheit gesagt hatte? Oder gab es tatsächlich Probleme, und er hatte es als Vorwand genommen, um die Flucht zu ergreifen? Er war allerdings nicht der Typ, der sich auf diese Weise einer peinlichen Situation entzog. „Kommt er noch mal wieder?" „Wahrscheinlich nicht, hat er gesagt. Ich glaube, er weiß, dass wir allein zurechtkommen. Obwohl es schön war, ihn hier zu haben. Sie finden mich bestimmt albern, aber ich fühle mich immer wohler, wenn ein Mann in der Nähe ist, der sich um alle Probleme kümmert. Verstehen Sie das aber nicht so, dass ich Ihnen nicht vertraue, meine Liebe. Es geht den meisten Frauen in meiner Generation so, weil sie nie gelernt haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen." „Sie hätten Ihr Leben nie so verpfuscht wie ich meins", sagte Lucia. Bevor sie nach unten gekommen war, hatte sie sich vor der Begegnung mit Grey gefürchtet. Seine unerwartete Abreise brachte sie jedoch noch mehr durcheinander. Rosemary sprang auf, kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich dachte, Sie wären im Begriff, darüber hinwegzukommen. In letzter Zeit sehen Sie viel besser aus, Lucia. Aber heute haben Sie anscheinend keine gute Nacht hinter sich. Hatten Sie einen Albtraum?" „Ich habe nicht so gut geschlafen", gestand Lucia. „Deswegen bin ich auch so spät aufgewacht. Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen um mich. Mit Ihrer Hilfe komme ich darüber hinweg. Es fällt mir nur schwer, mich mit der Tatsache abzufinden, dass ich die Vergangenheit nicht auslöschen kann." Spontan fügte sie hinzu: „Sie wissen bestimmt, wie sehr ich das alles bedauere. Grey hingegen scheint da anders zu denken." „Wie kommen Sie denn darauf? Ich weiß, er wollte zuerst nicht, dass ich Sie engagiere, aber er hat seine Meinung inzwischen geändert. Hat er denn irgendetwas gesagt?" „Nicht direkt... Allerdings merkt man es ihm an. Er vertraut mir nicht. Er wird mir nie vertrauen." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde Lucia klar, dass es womöglich ein Fehler war, es Rosemary zu sagen. „Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, sollten Sie mit ihm darüber sprechen", meinte Rosemary. „Grey ist normalerweise sehr direkt und erwartet das auch von den anderen. Ich glaube, dass Sie in seiner Achtung sehr gestiegen sind. Sie dürfen nicht so empfindlich sein, Lucia. Falls Grey manchmal distanziert oder unfreundlich gewirkt hat, dann bestimmt deswegen, weil er an ein geschäftliches Problem gedacht hat. So, nun frühstücken Sie, und lassen Sie uns überlegen, was wir heute machen. Wollen wir wieder zum Markt gehen und Skizzen machen?" Über die autopista dauerte die Fahrt zum Flughafen etwas mehr als eine Stunde. Grey plauderte mit dem Taxifahrer, teils um seine Spanischkenntnisse anzuwenden und teils um nicht eingehend darüber nachzudenken, warum er lieber in Spanien geblieben wäre. Da er wusste, dass die Charterflüge von Alicante meistens Verspätung hatten, hatte er übers Internet einen Linienflug erster Klasse gebucht. Trotzdem musste er noch eine Stunde Wartezeit überbrücken. Er saß über seinem Notebook, um eine Rede zu überarbeiten, konnte sich allerdings nicht konzentrieren.
Was am Vorabend passiert war, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Die Erinnerung daran, wie Lucia in seinen Armen gelegen hatte und wie schwer es ihm gefallen war, sich von ihr zu lösen, ließ ihn einfach nicht los. Grey überlegte, was sie wohl gedacht hatte, als sie nach unten gegangen war und erfahren hatte, dass er abgereist war. Zuerst war sie wahrscheinlich erleichtert gewesen. Sich am Frühstückstisch zu begegnen wäre für sie beide unangenehm gewesen. Dass Lucia sich körperlich zu ihm hingezogen fühlte, hatte ihre leidenschaftliche Reaktion bewiesen. Doch wie sollte sie ihn je mögen? Schließlich hatte seine Aussage sie hinter Schloss und Riegel gebracht. Ihre Reaktion war lediglich ein Beweis dafür, dass Lucia eine ganz normale Frau war, die sich nach sexueller Erfüllung sehnte. Die Ironie war nur, dass sie ihn für einen Schürzenjäger hielt. Schon seit geraumer Zeit fand er flüchtige Affären zunehmend unbefriedigender. Er wollte, was seine drei Schwestern hatten -eine stabile, langfristige Beziehung. Zuerst musste er allerdings einen Weg aus der Sackgasse finden, die sein Leben momentan war. Und es gab keinen. Am nächsten Vormittag rief Julian an, um zu fragen, ob sie Lust hätten, ihn und Mrs. Henderson auf einen Ausflug zu einem Dorf zu begleiten, das weiter landeinwärts lag. „Er meint, es wäre sehr pittoresk", verkündete Rosemary, die den Anruf entgegengenommen und zugesagt hatte. Es wurde ein schöner Tag. Vor dem geplanten Picknick skizzierten Rosemary und Lucia einen Brunnen auf dem Dorfplatz, während Alice herumschlenderte und sich mit den Einheimischen unterhielt. Julian machte unterdessen Fotos mit seiner Digitalkamera. Sie picknickten an einem Fluss, der ausnahmsweise nicht ausgetrocknet war. „Ich mache für eine halbe Stunde Siesta", erklärte Alice anschließend. „Ich auch", sagte Rosemary. „Der Champagner macht müde." Sie lächelte Julian zu, der den cava und das Essen spendiert hatte. „Lucia und ich machen einen Spaziergang am Fluss", sagte er. „Sie wollen doch kein Nickerchen machen, oder, Lucia?" Lucia schüttelte den Kopf. Nachdem sie die Brotkrumen von ihrem Rock geschüttelt hatte, stand sie auf. Auf der anderen Seite des Flusses stand ein Schäfer mit einer gemischten Herde aus Schafen und Ziegen, die im Schatten eines Mandelbaumhains grasten. „Woran er wohl den ganzen Tag denkt", bemerkte Julian. „Ich würde mich zu Tode langweilen. Sie nicht?" „Es gibt schlimmere Formen der Langeweile." „Zum Beispiel?" „Oh ... Zum Beispiel den ganzen Tag im Büro zu sitzen und zu tippen", erwiderte Lucia. Von der schlimmsten Form der Langeweile - in einer Gefängniszelle zu sitzen - konnte sie ihm schlecht erzählen. Er wechselte das Thema. „Ihr Aufpasser ist also nach London geflogen. Dann können Sie heute Abend ja wieder mit mir essen gehen." „Danke, aber ich kann Rosemary nicht allein lassen." „Sie wird nicht allein sein. In Calpe läuft ein englischer Film, den sie sich mit Nanny ansehen kann. Wir setzen sie da ab und holen sie später wieder ab. Es gibt ein gutes Fischrestaurant am Hafen. Da können sie vorher essen. Es ist besser für ihre Verdauung." Lucia musste lachen, weil er alles schon geplant hatte. Sie wünschte, sie wäre in Greys Gegenwart auch so locker wie in Julians. Plötzlich nahm Julian ihre Hände und drehte sie zu sich herum. „Wenn Sie so lachen, laufe ich Gefahr, mich in Sie zu verlieben. Mein Instinkt sagt mir, dass Sie mich mögen, aber nur als Freund. Habe ich Recht?"
„Julian, wir haben uns doch gerade erst kennen gelernt. Wie könnten wir da mehr als Freunde sein?" „Viele Leute gehen miteinander ins Bett, gleich nachdem sie sich kennen gelernt haben." Er streichelte mit den Daumen ihre Handflächen. Die sinnliche Berührung erinnerte Lucia an die Gefühle, die Grey am vorletzten Abend in ihr geweckt hatte. Sie entzog Julian ihre Hände. „Bitte nicht ... Belassen wir es dabei." „Okay, wenn Sie darauf bestehen. Schade, dass ich Sie nicht kennen gelernt habe, bevor Sie ihm begegnet sind. Sie sind in ihn verliebt, stimmt's?" Zuerst wollte sie es leugnen, doch dann verspürte sie das überwältigende Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. „Ja, aber ich weiß, dass es keine Zukunft hat." „Wie kommen Sie darauf?" „Grey könnte meine Gefühle niemals erwidern." „Eines der Dinge, die Nanny mir eingebläut hat, ist, dass nichts unmöglich ist, wenn man es wirklich will. Also, warum könnte Grey Ihre Gefühle niemals erwidern?" „Das ist eine lange und komplizierte Geschichte, und wenn ich sie Ihnen erzähle, ziehen Sie sich vielleicht auch von mir zurück." Doch selbst während sie das sagte, wusste sie, dass sie es ihm erzählen wollte. Sie musste mit jemandem darüber reden, und es war unwahrscheinlich, dass sie Julian nach dieser Reise wieder sehen würde. „Lassen Sie es darauf ankommen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Zumindest kann ich die Situation aus der Perspektive eines Mannes beurteilen." Lucia atmete tief durch. „Okay, ich riskiere es. Vor drei Monaten habe ich wegen Betrugs im Gefängnis gesessen." Als Julian die Augenbrauen hochzog, fuhr sie fort: „Grey gehörte zu den Leuten, die ich betrogen habe." So kurz wie möglich erzählte sie ihm, warum sie für Mrs. Calderwood arbeitete. „Hombre!" sagte er verblüfft. „Jetzt verstehen Sie, warum es ein unüberwindbares Hindernis ist", meinte sie und seufzte. Einen Moment lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Julian blickte zu Boden. Schließlich brach er das Schweigen. „Wenn Grey gerecht ist, ist ihm mittlerweile bestimmt klar geworden, dass die meisten Menschen unter großem Druck zu Dingen fähig sind, die sie sonst nie tun würden. Sie haben Ihre Gewissenbisse verdrängt, weil jemand, den Sie liebten, eine teure Behandlung brauchte, die Sie nur auf diese Weise bezahlen konnten. Was Sie getan haben, passt überhaupt nicht zu Ihnen. Wenn Grey Ihnen wirklich nicht verzeihen kann, sind Sie ohne ihn besser dran. Haben Sie denn mit ihm darüber geredet?" „Es hat keinen Sinn", antwortete Lucia. „Mein Verteidiger hat ja alles erklärt. Grey war nicht dabei, als er auf mildernde Umstände plädiert hat, aber bestimmt hat er in der Zeitung darüber gelesen." „Damals kannte er sie nicht", wandte Julian ein. „Jetzt tut er es. An Ihrer Stelle würde ich mit ihm reden ... ihn um Verzeihung bitten. Vielleicht wartet er ja sogar darauf. Was haben Sie zu verlieren?" Sie biss sich auf die Lippe. Es klang so einfach, doch er schien wesentlich toleranter zu sein als Grey. Überhaupt waren die beiden sehr verschieden. Grey war härter und autoritärer als Julian, der so lässig war. „Nur meinen Stolz, schätze ich - wenn er mir sagt, dass er mich immer verachten wird." „Das glaube ich nicht. Wenn er Sie verachten würde, hätte er nicht so wütend ausgesehen, als ich Sie zum Essen eingeladen habe." „Vielleicht wollte er nicht, dass Sie die Wahrheit über mich erfahren", gab sie zu bedenken. „Vielleicht hat er überlegt, ob er Ihnen alles erzählen soll."
„Ich glaube nicht, dass er sich Sorgen um mich gemacht hat. Auf mich hat er vielmehr wie ein eifersüchtiges Männchen gewirkt, das einen Rivalen wittert", meinte Julian lachend. „Sie sind sehr attraktiv. Glauben Sie, er merkt das nicht?" „Man kann sich zu jemandem hingezogen fühlen, ohne ihn zu mögen", wandte Lisa ein und dachte an Greys Kuss. „Stimmt", räumte er ein. „Aber Sie lassen etwas Wichtiges außer Acht. Grey würde nie auf die Idee kommen, dass Sie so für ihn empfinden. Bestimmt denkt er, er wäre Ihnen egal." „Ich habe ihm einige Male gezeigt, dass ich ihn mag." Lucia wandte sich ab, damit er nicht sah, wie sie errötete. Sie hatte ja nicht einmal so getan, als würde sie sich widersetzen. Grey hatte sie berührt, und sie war dahingeschmolzen. „Vielleicht hat er es nicht so aufgefasst. Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, versuchen Sie, nett und ganz offen zu ihm zu sein. So wie Sie es mir gegenüber sind. Was hat er nur an sich, dass mein Charme Sie völlig kalt lässt?" „Ich weiß nicht, was er an sich hat", erwiderte sie nachdenklich. „Ich glaube, ich war sehr beeindruckt, als ich ihn im Gerichtssaal gesehen habe ... obwohl er mich mit seiner Aussage schwer belastet hat." „Armes Mädchen. Ich mag gar nicht daran denken, dass Sie mit richtigen Kriminellen eingesperrt waren." „Ich war eine ,richtige' Kriminelle - und im Gegensatz zu den anderen war ich kein Opfer meiner Familienverhältnisse. Es hat mir die Augen dafür geöffnet, in welchen Verhältnissen manche Menschenleben." „Bestimmt wollen Sie nicht darüber reden, geschweige denn darüber nachdenken", erklärte Julian forsch. „Lassen Sie uns lieber zurückgehen, sonst denken die beiden noch, wir hätten uns verlaufen." Als Julian Lucia und Rosemary an diesem Abend vor ihrem Haus absetzte, sagte er, dass er am nächsten Morgen nach Barcelona zurückfahren würde. „Ein charmanter junger Mann, aber ein notorischer Charmeur, wie Alice mir erzählt hat", sagte Rosemary, als sie hineingingen. „Seine Familie möchte, dass er heiratet und eine Familie gründet, aber er hat lieber Affären. Na, in Barcelona gibt es bestimmt viele hübsche Frauen." „Ja", erwiderte Lucia geistesabwesend, denn sie dachte an Julians Rat und überlegte, ob sie wohl den Mut hätte, ihn zu befolgen. „Sind Sie enttäuscht, dass er nicht länger bleibt?" erkundigte sich Rosemary. „Nein, eigentlich nicht. Ich mochte ihn, aber mehr auch nicht", antwortete Lucia lässig und fragte sich, wie Rosemary wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, dass sie ihr Herz an ihren Sohn verloren hatte. Einige Tage vergingen, ohne dass etwas passierte. Wenn sie im Dorf malten, kamen die Leute zu ihnen und machten Bemerkungen, die sie leider nicht verstanden. Rosemary fand es wenig ermutigend. Lucia hatte schon vor langer Zeit gelernt, solche Kommentare zu ignorieren. Sie fand es schade, dass Rosemary ihr Talent so lange nicht genutzt hatte. Für jemanden in ihrer Generation war es schwer nachzuvollziehen, dass Rosemary sich damals so entschieden hatte. Und genauso unverständlich war es, dass ein Mann, der seine Frau liebte, ihr Talent nicht förderte. Ob Grey genauso wäre wie sein Vater und darauf bestehen würde, dass seine Frau sich ganz ihm und ihren Kindern widmen würde? Könnte ich so einen Mann heiraten, selbst wenn ich ihn lieben würde? fragte Lucia sich. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich nie grundlegend änderten. Viele Frauen glaubten jedoch, ihre Männer ändern zu können. Diesen Fehler würde sie nie machen.
Grey rief seine Mutter jeden Abend an, allerdings nicht immer zur selben Zeit. Eines Abends meldete er sich früh. Sie waren gerade vom Malen zurückgekommen, und Rosemary stand unter der Dusche. Lucia nahm den Hörer ab. Da nur Grey und Alice anriefen, meldete sie sich mit „Hallo?". „Hier ist Grey. Wie geht es Ihnen?" Grey klang ganz sachlich. „Uns geht es gut. Ihre Mutter duscht gerade. Soll sie zurückrufen, oder wollen Sie sich später noch mal melden?" „Ich muss nachher noch weg und komme erst spät wieder. Wir können morgen miteinander reden. Was haben Sie heute gemacht?" „Wir waren in einer Galerie und sind anschließend in ein Dorf gefahren, das Alice uns empfohlen hatte. Dort gibt es ein altes Waschhaus, das noch genutzt wird." Da er nicht in ihrer Nähe war, konnte sie sich ihm gegenüber lockerer geben. Gleichzeitig war sie sich überdeutlich des verführerischen Klangs seiner Stimme bewusst. „Das scheint ein gutes Motiv für Genremalerei gewesen zu sein." In der Genremalerei wurden Szenen aus dem täglichen Leben dargestellt. Diese Gattung war zwar aus der Mode gekommen, aber sie hatte sie immer gemocht. Und er mochte sie offenbar auch. „Das dachten wir auch. Wir haben viele Skizzen gemacht, die wir verwenden können, wenn wir wieder zu Hause sind." Ohne zu überlegen, hatte sie „zu Hause" gesagt. Ob er sich darüber ärgerte? „Was haben Sie morgen vor?" „Wir wollen uns die Burg ansehen und in einem Fischrestaurant Mittag essen." Grey schwieg einen Moment, bevor er fragte: „Ist Julian noch da?" „Nein, er ist nach Barcelona zurückgekehrt." „Bestellen Sie Mum, dass ich sie morgen anrufe. Gute Nacht... Lucia." Lucia wünschte ihm ebenfalls eine Gute Nacht, doch er hatte schon aufgelegt. Wenigstens hatte er seine Mutter Mum genannt. Sie legte den Hörer auf. Ob er sich nach Julian erkundigte hatte, weil er eifersüchtig war? Nein, das glaubte sie nicht so ganz. Sie wünschte, sie hätte das Gespräch aufgenommen. Dann hätte sie sich seine Abschiedsworte immer wieder anhören können. Wie es wohl wäre, wenn er „Lucia, mein Schatz" sagen würde? Das würde sie wohl nie erfahren. Grey stand in seinem Schlafzimmer in London und band sich eine schwarze Seidenfliege um. Er war zu einem Festessen eingeladen, bei dem er eine Rede halten würde. Da er diese einstudiert hatte und bei solchen Anlässen auch schon lange kein Lampenfieber mehr hatte, konnte er an die junge Frau in Spanien denken, die ihn in letzter Zeit viel zu stark beschäftigte. Nachdem er sie geküsst hatte, musste er ständig an ihren Duft denken und daran, wie sie sich angefühlt hatte. Grey legte die Manschettenknöpfe aus Platin an, die er von seinem Vater geerbt hatte, und betrachtete sich mit finsterer Miene in dem antiken Spiegel über der dazugehörigen Kommode. Du bist ein Narr, überlegte er wütend. Dein Leben ist schon kompliziert genug. Das andere Problem kannst du nicht lösen. Bei diesem hier kannst du es wenigstens versuchen. Geh mit ihr ins Bett, damit du sie vergessen kannst. Grey zog sein Smokingjackett über. Er war sich nicht sicher, ob er Lucia dazu bringen konnte, mit ihm zu schlafen. Sie hatte sich zwar nicht gegen seinen Kuss gesträubt, sondern diesen leidenschaftlich erwidert. Doch Sex war etwas anderes. Darauf würde sie sich vielleicht nicht so ohne weiteres einlassen. Es wäre besser für uns beide gewesen, wenn unsere Wege sich niemals gekreuzt hätten, dachte er gereizt. Das Problem ließ sich nicht lösen. Er musste ständig an Lucia denken und
konnte sich nicht mehr aufs Wesentliche konzentrieren. Sie war das Wesentliche in seinem Leben, tagsüber, nachts, die ganze Zeit. Wütend verließ er das Schlafzimmer und betrat wenige Minuten später das Deck. Am Kai wartete ein Taxi auf ihn, das ihn zu dem Hotel bringen sollte. Drei Stunden später wählte Lucia vom Krankenhaus aus seine Handynummer. Da Grey den Anruf nicht entgegennahm, musste sie eine Nachricht hinterlassen: „Grey, ich bin's, Lucia. Ihrer Mutter geht es nicht gut. Ich glaube, sie hatte einen leichten Schlaganfall. Genaueres können die Ärzte erst sagen, wenn sie einige Untersuchungen durchgeführt haben. Sie liegt im Krankenhaus in Denia und ist hier gut versorgt. Man hat mir gesagt, ich solle jetzt nach Hause fahren und morgen wiederkommen. Die Nummer des Krankenhauses ist..." Sie las die Nummer von dem Zettel ab, den sie in der Hand hielt, und wiederholte sie vorsichtshalber. „Ich habe auch eine Nachricht auf Jennys Anrufbeantworter hinterlassen. Rosemary wollte auf keinen Fall, dass Sie sich Sorgen machen, aber ich wollte Ihnen Bescheid sagen. Sie können mich jederzeit anrufen."
12. KAPITEL
Als Grey mit dem Taxi nach Hause fuhr, schaltete er sein Handy ein und hörte die Mailbox ab. Es waren vier Nachrichten darauf, die letzte von Lucia. Sie klang genauso beherrscht wie seine Assistentin, eine vernünftige Frau mittleren Alters, die auch unter Stress einen kühlen Kopf bewahrte. Er stellte fest, dass er sich nicht nur große Sorgen um seine Mutter machte, sondern auch um Lucia. Ob sie mit einer Situation fertig wurde, die sie an die Krankheit und den Tod ihres Vaters erinnerte? Sie war noch nicht so weit, dass sie eine weitere Krise durchstehen konnte. Sie brauchte mehr Zeit, um sich von allem, was sie durchgemacht hatte, zu erholen. Grey beugte sich vor und sagte zum Fahrer: „Ein Notfall hat sich ereignet. Ich muss sofort nach Heathrow, Gatwick oder Stansted. Ich brauche zehn Minuten, um mich umzuziehen und meine Sachen zu packen. Können Sie mich zu einem der Flughäfen fahren - je nachdem, von wo ich einen Flug bekomme?" „Geht in Ordnung, Kumpel." Dankbar für die Errungenschaften der modernen Technologie, wählte Grey die Nummer des ersten Flughafens, um sich nach Flügen zu erkundigen. Lucia war wach, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Sie sprang aus dem Bett und lief barfuß die Treppe hinunter. Es konnte Grey sein, aber auch jemand vom Krankenhaus. Sie wünschte, sie wäre doch im Krankenhaus geblieben, und hoffte, dass Letzteres nicht der Fall war. „Ich bin's, Grey. Habe ich Sie geweckt?" Es hörte sich an, als wäre er nebenan in der Küche. „Nein, ich war noch wach." „Ich bin unterwegs. Ich warte in Gatwick auf einen Charterflug, der wegen der üblichen technischen Probleme Verspätung hat. Zum Glück waren noch einige Plätze frei. Wir müssten gegen zwei Uhr Ortszeit in Alicante landen. Ich nehme mir dort ein Hotelzimmer und schlafe ein paar Stunden. Dann nehme ich ein Taxi ins Dorf, und wir fahren zusammen nach Denia. Ich bin gegen halb neun bei Ihnen." „ Sie Ärmster ... und die armen anderen Passagiere", sagte Lucia mitfühlend, als sie sich vorstellte, wie er zusammen mit einer Gruppe übermüdeter Passagiere auf den Abflug wartete. Sonst reiste er vermutlich immer erster Klasse. „Ja, die anderen sehen nicht besonders glücklich aus", erwiderte er trocken. „Übrigens habe ich im Krankenhaus angerufen und Bescheid gesagt, dass ich morgen komme. Allerdings habe ich sie angewiesen, es Mum nicht zu erzählen, damit sie sich nicht aufregt. Wie so viele Menschen in ihrem Alter will sie anderen auf keinen Fall Umstände machen und leidet dann lieber still vor sich hin." „Ihre Mutter protestiert vielleicht, wenn sie Sie sieht, aber ich bin, ehrlich gesagt, sehr froh, dass Sie kommen", erwiderte sie. „Es ist nicht so, dass ich es nicht allein schaffe. Einige Mitarbeiter im Krankenhaus sprechen fließend Englisch. Aber es ist gut, wenn jemand da ist, der ihr nahe steht." Um ihn zu beruhigen, fügte sie hinzu: „Im Warteraum waren auch andere Ausländer Sie haben mir gesagt, dass die medizinische Versorgung in Spanien sehr gut ist, auch außerhalb der Großstädte. Ihre Mutter bekommt also bestimmt die bestmögliche Betreuung." „Dafür werde ich sorgen", erklärte er. „Versuchen Sie, etwas Schlaf zu bekommen, Lucia. Bis bald." Wie es seine Art zu sein schien, unterbrach er das Gespräch, bevor Lucia antworten konnte. Zum Frühstück schälte und zerkleinerte Lucia eine Orange, schüttete Cornflakes darauf und tat zum Schluss einige Löffel Frischkäse dazu.
Mit der Schüssel und einem Becher Tee ging sie nach draußen und setzte sich auf die Stufen, die zum Hof hinunterführten, in die Sonne. Obwohl sie kaum geschlafen hatte und sich immer noch Sorgen um Rosemary machte, fühlte sie sich genauso wie als Kind vor ihren Geburtstagen: Sie war aufgeregt. Und sie wusste auch, warum - weil Grey kam. In ungefähr einer Stunde würde er da sein. Zum ersten Mal, seit er sie geküsst hatte, würden sie sich wieder begegnen. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, war sie ins Bett gegangen und hatte überlegt, warum er sich ein Hotelzimmer in Alicante nehmen wollte, statt hier zu schlafen. Die einzige Erklärung, die sie dafür hatte, war, dass er nicht allein mit ihr unter einem Dach schlafen wollte. Bei einem Mann wie ihm erschien es ziemlich altmodisch, doch vielleicht war es ein Zugeständnis an seine Mutter. Rosemary war zwar sehr tolerant, hätte es allerdings bestimmt nicht gutgeheißen, wenn ein allein stehender Mann und eine allein stehende Frau allein in einem Haus übernachtet hätten. Sie hatte einige Male zugegeben, dass sie in dieser Hinsicht altmodische Ansichten hatte. Wenn sie ein halbes Jahr mit ihrem Verlobten vor der Hochzeit zusammengelebt hätte, hätte sie vielleicht gemerkt, dass er sehr dominant war, und die Verlobung gelöst. Aber wäre sie mit einem weniger dominanten Mann unbedingt glücklicher geworden? Sie hatte ihren Mann geliebt. Er hatte ihr ein schönes Leben ermöglicht. Sie hatten vier wohlgeratene Kinder. Möglicherweise war der Verzicht auf eine Karriere als Künstlerin kein so hoher Preis für ein Leben, das besser war als das der meisten Menschen. Lucia stand am Küchenfenster, als das Taxi draußen vorfuhr und Grey hinten ausstieg. Als er sie sah, hob er die Hand. Dann bückte er sich und sprach mit dem Fahrer. Während er bezahlte, ging sie zur Tür, um ihm zu öffnen. Die Frau, die in dem Haus gegenüber wohnte und ihnen schon zweimal frisch gepflückte Zitronen von dem Baum in ihrem Hof vorbeigebracht hatte, fegte gerade den Fußweg. „Hola ... buenos dlas", rief sie. Lucia lächelte und erwiderte den Gruß. Sie war nervös, denn gleich würde Grey ihr die Hand schütteln. Als sie sich ihm zuwandte, hatte er allerdings eine kleine Reisetasche in der einen und die Tasche mit seinem Notebook in der anderen Hand. „Hallo ... Sind Sie sehr müde? War der Flug schlimm?" erkundigte sie sich und ließ ihn vorgehen. „Die Stewardess hat sich meiner erbarmt. Sie hat mir einen Platz etwas abseits gegeben", erwiderte Grey. Wahrscheinlich hat sie gehofft, Sie würden sie nach ihrer Telefonnummer fragen, dachte Lucia. „Haben Sie schon gefrühstückt?" „Ja, aber ich würde gern noch eine Tasse Kaffee trinken, bevor wir aufbrechen. Ich bringe nur meine Sachen in mein Zimmer." Als er wiederkam, hatte sie den Kaffee fertig. „Wollen wir ihn im Garten trinken?" schlug sie vor und hob das Tablett hoch. „Gute Idee." Er nahm ihr das Tablett ab und betrachtete sie dabei forschend. „Wie lange haben Sie geschlafen?" Wollte er damit andeuten, dass sie scheußlich aussah? „Mehr als Sie, schätze ich." Sie ging vor, um ihm die Tür zu öffnen. „Heute soll es in London regnen." Er stellte das Tablett auf den Gartentisch und blickte zum strahlend blauen Himmel, an dem lediglich einige Wolkenfetzen zu sehen waren. Dann setzte er sich auf eine der Holzbänke. „So, nun erzählen Sie mir, was passiert ist." Als man ihnen im Krankenhaus erlaubte, zu Rosemary ins Zimmer zu gehen, blieb Lucia zurück.
„Bestimmt möchte Ihre Mutter gern mit Ihnen allein sein", sagte sie. „Ich gehe später zu ihr." „Unsinn!" widersprach Grey. „Sie will uns bestimmt beide sehen." Er hakte sie unter und zog sie zum Lift. Rosemary lag nicht im Bett, sondern saß in einem Stuhl am Fenster. Sie trug ihren Kimono. „Grey!" rief sie, und ihre Miene hellte sich auf. Grey ging zu ihr, um sie zu umarmen. „Ich habe beschlossen, noch ein paar Tage freizunehmen", sagte er, als er sich wieder aufrichtete. Rosemary warf Lucia einen argwöhnischen Blick zu. „Sie haben ihn doch nicht etwa kommen lassen, oder?" „Nein, hat sie nicht", entgegnete Grey. „Aber sie hat mir eine Nachricht hinterlassen und erzählt, was passiert ist. Wenn sie es nicht getan hätte, wäre ich sehr wütend auf sie gewesen. Ich hatte sowieso vor, noch einmal herzukommen." Unter dem Vorwand, sie müsste zur Toilette, ließ Lucia die beiden allein und kehrte erst nach einer Viertelstunde wieder zurück. Ein Arzt, den sie nicht kannte und mit dem Grey sich auf Spanisch unterhielt, war auch da. Nachdem Grey sie mit dem Arzt bekannt gemacht hatte, unterhielt er sich weiter mit ihm. Rosemary winkte sie zu sich. „Hatten Sie heute Nacht Angst, so ganz allein im Haus?" „Nein, es ist ja mitten im Ort." Zu ihrer Überraschung erklärte Rosemary daraufhin: „Heute ist Grey ja bei Ihnen. Zu meiner Zeit hätte man die Nase gerümpft, wenn ein Mann und eine Frau unter einem Dach geschlafen hätten. Aber wenn Sie sich dabei nicht wohl fühlen, müssen Sie es nur sagen, dann kann er sich ein Hotelzimmer suchen." „Wenn er nicht lieber in Ihrer Nähe bleiben möchte, freue ich mich über seine Anwesenheit", erwiderte Lucia. „Na, ich hoffe, dass sie mich morgen entlassen", meinte Rosemary. „Heute wollen sie mich noch gründlich untersuchen. Allmählich komme ich mir wie eine eingebildete Kranke vor. Mittlerweile geht es mir nämlich prima." Rosemary bestand darauf, dass sie mit Grey nach draußen und die Sonne genießen sollte. Man brachte sie in einem Rollstuhl weg, um die erste Untersuchung zu machen. „Wie fanden Sie sie?" fragte Grey, sobald sie außer Hörweite war. Lucia hielt es für das Beste, ehrlich zu sein. „Sie behauptet zwar, dass es ihr prima geht, aber ich finde, sie sieht nicht so aus. Was meinen Sie?" „Ich bin ganz Ihrer Meinung. Hoffentlich war das nur ein Alarmsignal, und die Ärzte können Schlimmeres verhindern. Kommen Sie, lassen Sie uns ihren Rat befolgen und ein Cafe suchen." Den Rest des Tages verbrachten sie damit, zwischen dem Krankenhaus und verschiedenen Cafes in der Umgebung hin- und herzupendeln. Am Spätnachmittag verkündete Rosemary, sie wäre müde und wollte ein Nickerchen machen. „Wir sehen uns morgen, ihr Lieben", sagte sie und streckte erst die Arme nach Grey aus und anschließend, nachdem sie ihn geküsst hatte, nach Lucia. „Soll ich fahren?" fragte Lucia, als sie den Parkplatz erreichten. „Sie sehen ziemlich groggy aus. Wenn Sie den Sitz zurückstellen, können Sie während der Fahrt schlafen." „Ja, keine schlechte Idee." Grey reichte ihr die Wagenschlüssel. Lucia war erst ein Stück gefahren, als sie feststellte, dass er eingenickt war. Da er den Kopf zum Fenster gewandt hatte, sah sie von seinem Gesicht nicht viel mehr als seinen Wangenknochen und sein Kinn sowie seine Wimpern. Sie fuhr besonders vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, und überlegte, was sie zum Abendessen auftischen konnte.
Grey schlief immer noch tief und fest, als sie schließlich vor dem Haus mit der Nummer 12 hielt. Daher musste sie ihn leicht schütteln, um ihn zu wecken. „Aufwachen. Wir sind wieder da", sagte sie leise, weil ihr klar war, dass er erst langsam zu sich kommen würde. Einige Sekunden lang wirkte er verwirrt, als wüsste er nicht, wo er war. Dann schien er sich zu erinnern, und seine Augen begannen zu funkeln. Lucia atmete scharf ein und rechnete fast damit, dass er sie an sich zog. In dem Moment kamen jedoch einige Kinder vorbei. Sie sprachen sehr laut, und als sie vorbeigegangen waren, war Grey hellwach und löste seinen Sicherheitsgurt. Der spannungsgeladene Moment war vorüber. Nachdem sie die Eingangshalle betreten hatten, warf Grey einen Blick auf seine Armbanduhr. „Was halten Sie davon, wenn wir beide eine Stunde schlafen und dann essen gehen?" Da sie inzwischen auch sehr müde war, erschien Lucia die Vorstellung, sich für eine Weile hinzulegen, verlockend. „Einverstanden. Hat Ihre Uhr eine Weckfunktion?" Er nickte. „Ich stelle sie auf halb acht. Dann dusche ich und bin um acht fertig. Passt es Ihnen?" „Sehr gut sogar. Bis später." Sie ging nach oben, zog Rock und Bluse aus und legte sich ins Bett. Um eine Minute vor acht ging Lucia nach unten. Grey war in der Küche und nahm gerade eine Flasche rosado aus dem Kühlschrank. „Ein Aperitif, bevor wir losfahren", erklärte er. „Haben Sie gut geschlafen?" „Sehr gut. Und Sie?" „Auch. Ihr Kleid gefällt mir." Das Kompliment erschreckte sie, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. „Danke." Offenbar hatte er beschlossen, netter zu ihr zu sein, zumindest bis seine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er reichte ihr ein Glas Rose. „Lassen Sie uns den Wein draußen trinken. Haben Sie eine Idee, wo wir essen könnten?" „Es gibt ein Restaurant am Ende der Straße auf der anderen Seite der Kirche. Wir könnten zu Fuß hingehen. Dann brauchen wir auch nicht auf Alkohol zu verzichten." „Nehmen Sie am besten etwas Warmes mit. Bestimmt ist es nachher kühl." Während des Essens, nach ihrem dritten Glas Wein, sagte Lucia: „Grey, ich habe mich nie bei Ihnen für das entschuldigt, was ich getan habe. Es tut mir sehr Leid." Grey legte sein Besteck weg, lehnte sich zurück und betrachtete sie mit unergründlicher Miene. „Sie müssen sich nicht erniedrigen, Lucia. Sie haben bereits für das bezahlt, was Sie getan haben." „Ich dachte, Sie hätten das Gefühl, ich wäre glimpflich davongekommen." „Zuerst vielleicht. Damals kannte ich Sie noch nicht. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass die Strafe zu hart war." „Tatsächlich?" meinte sie überrascht. Noch immer sah er sie an. „Während der Verhandlung war ich zu wütend, um den Fall sachlich zu betrachten. Man hatte mich lächerlich gemacht ... und Sie wissen ja, wie empfindlich das männliche Ego ist", fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. „Einige", bestätigte Lucia. „Aber ich glaube nicht, dass Ihr Ego ständig Streicheleinheiten braucht. Sie waren zu Recht wütend. Ich habe gegen das Gesetz verstoßen. Jetzt schäme ich mich dafür, aber damals ... Na ja, ich will mein Verhalten nicht rechtfertigen. In meinem
tiefsten Inneren wusste ich immer, dass irgendetwas nicht stimmte, nur wollte ich es nicht wahrhaben." „Erzählen Sie mir davon", forderte Grey sie auf. „So wie ich Sie inzwischen kenne, haben Sie vorher bestimmt nie etwas Unrechtmäßiges getan." „Ich glaube nicht ... nein. Meine Eltern haben mich zur Ehrlichkeit erzogen. Wenn ich eine Brieftasche gefunden hätte, dann hätte ich sie zur Polizei gebracht. Ich hätte nicht gelogen, höchstens um jemanden nicht zu verletzen. Aber als meine Aufrichtigkeit auf die Probe gestellt wurde, habe ich doch versagt." „Ihr Verteidiger sagte, Sie hätten Geld für Ihren Vater gebraucht. Damals dachte ich, es wäre eine frei erfundene rührselige Geschichte." „Es stimmte", erwiderte Lucia leise. „Sein Arzt hat mir gesagt, dass die Medikamente, die Dad brauchte, sehr" teuer und nur in anderen Teilen des Landes erhältlich wären. Er könnte sie nur als Privatpatient bekommen. Ich dachte, es wäre einen Versuch wert. So habe ich den Verdacht, dass die Bilder, die ich kopiert habe, als Originale verkauft wurden, einfach verdrängt." „An Ihrer Stelle hätte ich dasselbe getan", gestand Grey. „Wenn ich kein Geld hätte und meine Mutter oder eine meine Schwestern eine teure Behandlung brauchte, würde ich notfalls auch eine Bank ausrauben. Der Zweck heiligt die Mittel. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass Sie in so eine Situation geraten sind. Jeder sollte die bestmögliche Behandlung bekommen, egal, was es kostet." „Ich hätte eine Hypothek auf das Haus aufnehmen können", meinte sie. „Aber es wäre schwierig gewesen, es zu tun, ohne dass Dad etwas davon mitbekam, und er hätte sich nicht einverstanden erklärt. Er konnte sehr stur sein. Schließlich ist er doch gestorben. Es war also alles umsonst." Der Ober kam zurück. „Terminado?" erkundigte er sich. Lucia hatte ihren Fisch und die Zucchini gegessen, die Kartoffeln aber übrig gelassen. „Si, gracias." Grey legte sein Besteck auf den Teller und deutete damit an, dass er auch mit dem Essen fertig war. Bevor er die Teller abräumte, zählte der Ober die Desserts auf, und Grey übersetzte für sie. „Birnen in Weinsauce für mich, bitte", sagte Lucia. Nachdem der Ober gegangen war, schenkte Grey ihnen nach. Dann stützte er den linken Ellbogen auf den Tisch und das Gesicht in die Hand, wie er es oft tat. Den Blick hatte er gesenkt, und sie fragte sich, woran er wohl gerade dachte. Grey dachte an Lucias Bemerkung, dass alles umsonst gewesen sei, und an das Sprichwort „So hat alles seine guten Seiten". Wäre ihr Vater nicht erkrankt und hätte sie nicht gegen das Gesetz verstoßen, würde sie jetzt nicht hier mit ihm am Tisch sitzen. Ihr Haar und ihre leicht gebräunte Haut schimmerten im Kerzenlicht. Mit ihrer Entschuldigung, die offensichtlich ernst gemeint war, hatte sie ihn endgültig für sich eingenommen. Er konnte nicht mehr leugnen, dass er im Begriff war, sich hoffnungslos in sie zu verlieben. Doch selbst wenn sie ihn inzwischen sympathischer fand als zu Anfang, hatte er keinen Beweis dafür, dass es mehr war als freundschaftliche Zuneigung. Dass sie seinen Kuss so leidenschaftlich erwidert hatte, bewies lediglich, dass sie eine ganz normale Frau war, in deren Leben es lange keinen Mann gegeben hatte. Und nun waren sie durch die Umstände in eine Situation geraten, in der es ihm schwer fallen würde, sein Verlangen zu zügeln. Sein Verstand sagte ihm, dass er es tun musste. Seine Libido sagte genau das Gegenteil. Und er wusste nicht, wer von beiden die Oberhand gewinnen würde.
13. KAPITEL Für Lucia hatte Grey nie attraktiver ausgesehen als jetzt im Kerzenlicht. Nicht alle Spanier hatten dunkelbraune Augen, wie sie inzwischen festgestellt hatte. Dass viele dunkle Augen hatten, zeugte davon, wie stark sich das Volk mit den Mauren gemischt hatte, die viele Jahrhunderte in ihrem Land geherrscht hatten. Mit seinem dunklen Haar und der gebräunten Haut hätte Grey glatt als Spanier durchgehen können. Er trug ein lässiges, aber perfekt sitzendes Baumwollhemd, und sie bewunderte gerade seine breiten Schultern, als er aufsah und ihrem Blick begegnete. „Haben Sie sich schon Gedanken um Ihre Zukunft gemacht? Was könnten Sie machen, wenn Sie bereit sind, in Ihrem Beruf weiterzuarbeiten?" Wollte er trotz des Waffenstillstands, dass sie aus Larchwood verschwand? „Noch nicht", antwortete Lucia. „Solange Ihre Mutter mich gebrauchen kann, würde ich gern bei ihr bleiben. Ich möchte nicht so gern wieder kommerzielle Kunst zu machen, aber anders kann man seinen Lebensunterhalt wohl nicht verdienen." Der Ober servierte ihre Birnen und seinen flan. Eigentlich hatte sie eine Art Pastete erwartet, doch es handelte sich um das, was man in England Creme Karamell nannte. „Ich hatte gehofft, dass es selbst gemacht ist", sagte Grey. „Manchmal bekommt man nämlich nur diese Fertigprodukte." Ihre Birnen hatten noch einen Stil und waren geschnitten und fächerförmig arrangiert. „Was halten Sie davon, eine Galerie zu leiten?" erkundigte er sich. „Ich glaube nicht, dass ich die nötigen Qualifikationen habe ... Und würden Sie mich mit der Vorgeschichte einstellen?" fügte Lucia hinzu. „Manche Leute könnten Ihre Vorgeschichte als Plus betrachten", bemerkte er spöttisch. „Sie interessieren sich für Bilder. Sie haben Fachkenntnisse. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse wie Buchhaltung und so könnten Sie sich schnell aneignen." „Kennen Sie jemanden, der einen Geschäftsführer sucht?" „Momentan nicht, aber vielleicht ergibt sich etwas." „Ich weiß, dass ich nicht wählerisch sein darf, aber ich würde nicht so gern in London oder einer anderen Großstadt leben. Larchwood hat mich auf den Geschmack gebracht." „Die Galerie, die mir vorschwebt, wäre in einem Dorf oder in einer Kleinstadt. Wenn Sie Interesse hätten, würde ich ein gutes Wort für Sie einlegen." „Danke, aber momentan arbeite ich für Ihre Mutter. Wenn sie mich nicht mehr brauchte, müsste ich mich nach etwas anderem umsehen. Ich hoffe, man sagt ihr morgen, dass es nur ein leichter Anfall war und sie ihr Leben weiterleben kann wie bisher." „Das hoffe ich auch", pflichtete Grey ihr bei. „Es kann allerdings gut sein, dass sie ihre Reisen auf die Britischen Inseln oder die nähere Umgebung beschränken muss." „Hat der Arzt sich genauer darüber geäußert, was die Ursache sein könnte?" fragte Lucia. „Er meinte, es könnte eine akute Ischämie gewesen sein. Die wird durch winzige Blutgerinnsel im Gehirn verursacht. Ähnliche Symptome kann man haben, wenn die Arterien verstopfen, die von der Wirbelsäule in den Nacken laufen, zum Beispiel indem man nach oben blickt. Hat sie das gemacht?" Sie schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste." Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Da Rosemary schlank ist und nicht raucht, hätte ich nicht gedacht, dass sie einen zu hohen Blutdruck hat." „Stress kann Bluthochdruck verursachen. Ich glaube, sie war sehr gestresst, als Dad noch lebte. Er war ein schwieriger Mensch, vor allem als er älter wurde. Das sind Perfektionisten meistens." „Würden Sie sich auch als Perfektionisten bezeichnen?" Grey dachte einen Moment darüber nach, bevor er antwortete. „Ja", meinte er schließlich. „Aber der Unterschied zwischen Dad und mir ist, dass ich nicht alles kontrollieren muss. Ich
erwarte, dass meine Angestellten während der Arbeitszeit hundert Prozent geben. Aber ich möchte nicht über ihr Privatleben bestimmen - auch wenn Sie in Larchwood vielleicht einen anderen Eindruck von mir hatten", fügte er trocken hinzu. „Eigentlich habe ich Sie insgeheim bewundert, weil Sie Ihre Mutter beschützen, selbst wenn ich keine ruhige Kugel hätte schieben können, wie Sie es genannt haben, sofern Sie sich durchgesetzt hätten." Als sie sich erinnerte, wann er diese Bemerkung gemacht hatte - als sie in der Wanne gelegen hatte -, errötete sie. Offenbar erriet er den Grund für ihr Unbehagen. „Haben Sie mir verziehen, dass ich einfach ins Bad geplatzt bin?" erkundigte er sich, und das Funkeln in seinen Augen ließ ihr Herz schneller schlagen. Schnell senkte sie den Blick. „Ich war wütend auf Sie. Für mich war es ein Beweis dafür, dass Sie mich abgrundtief verachten." „Zu dem Zeitpunkt war es auch so. Ich habe mich in Ihnen getäuscht. Es tut mir Leid." Auch ohne ihn anzusehen, wusste Lucia, dass er es ernst meinte. Als sie schließlich aufblickte und sie den Ausdruck in seinen Augen bemerkte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass Grey sie so freundlich, ja beinah zärtlich ansehen könnte. „Danke ... danke dafür, dass Sie das gesagt haben", erwiderte sie leise und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie tief seine Worte sie bewegten. „Nun, da wir uns beide entschuldigt haben, sollte unser Verhältnis zueinander besser werden. Lassen Sie uns darauf trinken." Er hob sein Glas. „Und darauf, dass Ihre Mutter wieder gesund wird", sagte sie. „Auch darauf." Er stieß mit ihr an, und als sie einen Schluck tranken, blickten sie sich über den Rand ihrer Gläser hinweg an. Der Ober kehrte zurück. „Cafe?" Dankbar für die Unterbrechung, erwiderte Grey: „Möchten Sie Kaffee, Lucia?" „Ja, bitte. Ich nehme cafe con leche." Für sich selbst bestellte er cortado, eine Art Espresso. Er blickte sich in dem Restaurant um, das an diesem Abend nicht einmal halb besetzt war, und versuchte das Bild zu verdrängen, das vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war - Lucia nackt in der Badewanne. Grey erinnerte sich so deutlich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Er sah ihre weichen Brüste, ihren Nabel, das seidige Dreieck und die Konturen ihrer glatten Schenkel. Damals hatte ihr Körper ihn erregt. Nun, da er wusste, was sie für ein Mensch war, erregte er ihn noch viel mehr. Er, Grey, musste unbedingt mit ihr über das sprechen, was am letzten Abend seines vorigen Besuchs passiert war. Aber wie sollte er ihr erklären, dass sie es nicht noch einmal tun durften, es sei denn, zu Bedingungen, die sie nicht akzeptieren würde? Früher hatte er seine Beziehungen zu Frauen sehr locker gesehen. Das hier war allerdings etwas anderes. Lucia war keine Frau, die sich einfach so mit einem Mann einließ und ihn vergaß, wenn es vorbei war. Selbst wenn sie nicht völlig unerfahren war, so war sie auf jeden Fall sehr verletzlich. Auf keinen Fall wollte er sie in eine Beziehung hineinziehen, die keine Zukunft hatte. Er fand die Vorstellung schrecklich, ihr noch mehr Schmerz zuzufügen. Und trotzdem begehrte er sie. Er begehrte sie wahnsinnig. Der Ober servierte ihren Kaffee und dazu ein Schälchen mit Pfefferminzblättchen. Lucia spürte instinktiv, dass Grey noch immer etwas beschäftigte. Er ließ den Blick durchs Restaurant schweifen, doch sie glaubte nicht, dass er sich für die anderen Gäste interessierte. Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen und ihn auf seine Bemerkung bei ihrer letzten Begegnung anzusprechen.
„Grey, an dem Abend, als Sie mich geküsst haben, sagten Sie, ich wüsste, wie die Dinge zwischen uns stehen. Ich wusste nicht genau, was Sie damit meinen." Lucia hatte den Eindruck, dass er über ihre Offenheit erschrak. Es überraschte sie selbst, dass sie es so ruhig hatte ansprechen können. „Darüber wollte ich sowieso mit Ihnen sprechen", erwiderte Grey. „Ich meinte damit, wir sind uns beide darüber klar, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen. Ich glaube, es war unvermeidbar. Wir sind beide allein stehend. Und wir sind uns oft begegnet. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn wir miteinander ins Bett gehen möchten." Er machte eine Pause und betrachtete sie forschend. „Stimmen Sie mir zu?" Sollte sie bestätigen, dass das Verlangen auf Gegenseitigkeit beruhte oder dass es an sich nicht verwunderlich war? Worauf wollte er hinaus? Wollte er ihr vorschlagen, an diesem Abend miteinander zu schlafen, weil seine Mutter nicht da war? „Ich stimme Ihnen insofern zu, als Sie ein sehr attraktiver Mann sind und jede Frau, die etwas Zeit mit Ihnen verbringt, sich dessen immer mehr bewusst werden dürfte", antwortete Lucia vorsichtig. „Ich weiß, dass viele Leute nichts dabei finden, mit jemandem, zu dem sie sich hingezogen fühlen, ins Bett zu gehen. Ich finde das nicht so gut. Meiner Meinung nach sollte man das nur tun, wenn man es ernst meint." Grey trank einen Schluck Kaffee. Im Gegensatz zu ihren Händen, die sie im Schoß gefaltet hatte, zitterte seine Hand nicht, wie Lucia bemerkte. „Genau das habe ich gemeint", sagte er. „Aber eine ernste Beziehung kommt für mich momentan nicht infrage. Es gibt gewisse Gründe dafür, dass ich mich nicht binden kann. Deswegen halte ich es für das Beste, wenn wir alle Gefühle verdrängen, die über rein freundschaftliche hinausgehen." „Sie haben diese Grenze überschritten, nicht ich", erinnerte sie ihn betont kühl. „Aber Sie haben mich provoziert", widersprach er. „Seien Sie nicht böse ... oder beleidigt. Ich wünschte, es wäre nicht so. Wenn wir uns ... miteinander einlassen würden, hätte es schmerzliche Komplikationen zur Folge." Lucia besann sich auf ihren Stolz. „Ist es nicht ziemlich anmaßend von Ihnen, davon auszugehen, dass ich mich mit Ihnen ... einlassen will?" Dann hob sie das Kinn und funkelte ihn an. „Ich habe Ihren Kuss zwar erwidert, aber das bedeutet nicht, dass ich noch weiter gegangen wäre." Plötzlich empfand sie die Situation als unerträglich. Sie wusste, dass sie nicht so tun konnte, als wäre nichts passiert, während Grey die Rechnung verlangte und bezahlte. Sie musste von hier verschwinden. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?" Lucia schob ihren Stuhl zurück, nahm ihre Handtasche und stand auf. Sie tat so, als würde sie zur Damentoilette gehen. Stattdessen verließ sie jedoch das Restaurant. Sie war wütend und fühlte sich gedemütigt. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass Grey sich nicht auf eine Beziehung mit ihr einlassen wollte: Seiner Meinung nach war sie nicht gut genug für ihn. Wie konnte sie nur so naiv gewesen sein, zu glauben, er könnte sie sympathisch finden oder gar ihre Gefühle erwidern? Wofür hielt er sie, wenn er meinte, ihr zu verstehen geben zu müssen, dass sie niemals gut genug für ihn wäre? Lucia fragte sich, wann er wohl merken würde, dass sie das Restaurant verlassen hatte. Inzwischen hatte sie den Fuß des Hügels fast erreicht. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie nicht nur ihr Umhängetuch über ihrem Stuhl hatte hängen lassen, sondern auch keinen Schlüssel hatte. Sie unterdrückte einen Fluch und bedauerte, nicht den Ersatzschlüssel, der in der Eingangshalle hing, mitgenommen zu haben. Auf keinen Fall wollte sie auf der Straße warten, bis Grey kam, doch ihr blieb offenbar nichts anderes übrig. Wäre dies ein Dorf in England gewesen, hätte sie in einen Pub gehen und noch ein Glas Wein trinken können. Sie wusste allerdings, dass abends nur Männer in der Bar waren. Selbst
tagsüber besuchten die Frauen die Bar nicht. Sie schienen unter sich zu bleiben und saßen tagsüber vor ihren Häusern und tratschten mit ihren Nachbarinnen. Oft handarbeiteten sie dabei. Sie konnte einen Spaziergang in den Weinbergen machen. Der Mond schien zwar, aber im Westen zogen Wolken auf, und bald würde es ganz dunkel sein. Während Lucia überlegte, was sie tun sollte, steckte Grey sein Portemonnaie in die Hosentasche und verließ das Restaurant. Dabei verfluchte er sich selbst, weil er alles vermasselt hatte. Als Lucia aufgesprungen und weggegangen war, hatte er angenommen, sie würde sich in die Damentoilette flüchten, bis sie die Fassung wiedergewonnen hatte oder um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Da er mit drei Schwestern aufgewachsen war, wusste er, dass Männer nur weinten, wenn sie großen Kummer hatten, Frauen hingegen viel öfter, denn für sie war es eine Art Ventil. Trotzdem beunruhigte ihn die Vorstellung, dass Lucia womöglich weinte. Und obwohl die Tür zur Damentoilette um die Ecke und daher für ihn außer Sichtweite war, sagte ihm sein Instinkt bereits nach wenigen Minuten, dass Lucia vielleicht das Restaurant verlassen hatte. Der Mann an der Bar neben dem Eingang hatte seine Vermutung bestätigt, dass die Senorita gegangen war. Als Grey nun den Hügel hinunterging, fragte er sich, was er ihr sagen konnte, um zwischen ihnen wieder alles in Ordnung zu bringen - zumindest soweit es seine momentanten Lebensumstände zuließen. Ihm fiel keine akzeptable Erklärung ein. Die Wahrheit konnte er Lucia nicht sagen, da sie es wahrscheinlich nicht verstehen würde. Frauen sahen das Leben aus einem anderen Blickwinkel. Ein typisches Beispiel dafür war seine Mutter. Sie hatte aus Liebe zu seinem Vater alles aufgegeben. Es war eine rein gefühlsmäßige Entscheidung gewesen, die sie im Überschwang der Gefühle für einen kompromisslosen Partner getroffen hatte. Es war ein Fehler gewesen. Aber Frauen waren nun einmal so. Wenn sie sich verliebten, hörten sie nicht mehr auf ihren Verstand. Seine Mutter hätte warten und ihre Gefühle auf die Probe stellen sollen. Stattdessen hatte sie sich auf eine Ehe eingelassen, die einer der Gründe dafür sein konnte, dass sie nun im Krankenhaus lag. Man hatte sie in dem Glauben erzogen, dass es nur eine große Liebe im Leben gab und sein Vater der Richtige für sie war. Er, Grey, hatte ganz andere Erfahrungen gemacht. Mit neunzehn hatte er sich Hals über Kopf verknallt, und das schien ihn noch Jahre später gegen tiefere Gefühle immun gemacht zu haben. Eine Zeit lang hatte er die zärtlichen Gefühle, die Lucia in ihm weckte, zu ignorieren versucht. Nun hatte sie klargestellt, dass sie ihn zwar attraktiv fand, aber nie vergessen wollte, dass er sie hinter Gitter gebracht und sie seinetwegen eine Zeit durchlebt hatte, die sie vermutlich bis an den Rest ihres Lebens verfolgen würde ... Sie hatte ihn gefragt, ob er nicht anmaßend wäre, und er konnte es nicht leugnen. Wegen eines einzigen Kusses hatte er sich zum Narren gemacht. Er hätte den Mund halten sollen. Was hatte er sich von seinen unzureichenden Erklärungen erhofft? Fast am Fuß des Hügels angelangt, wo der Weg zwischen zwei Häusern eine Biegung machte und dann auf eine Straße führte, warf Lucia einen Blick über die Schulter. Da sie eigentlich nicht damit gerechnet hatte, dass Grey ihr folgen würde, war sie nun umso mehr überrascht, als sie ihn sah. Er ging so schnell, dass er sie vermutlich einholen würde, bevor sie das Haus erreichte. Also beschleunigte auch sie ihre Schritte. Was er wohl sagen würde? Bestimmt war er wütend auf sie, weil sie einfach das Restaurant verlassen hatte. Es war hell gewesen, als sie den schmalen Weg hinter der Kirche entlanggegangen waren. Nun war es im Schatten des Gebäudes dunkel. Doch selbst wenn Grey nicht hinter ihr
gewesen wäre, hätte Lucia sich nicht gefürchtet, denn sie fühlte sich sicher im Dorf. Ich würde gern hier leben, dachte sie. Mit Grey, ging es ihr dann durch den Kopf. Sie wusste allerdings, dass es ein Hirngespinst war. Sie konnte sich an das einfache Leben gewöhnen. Grey würde es niemals können. Er lebte in einer Welt, von der sie immer ausgeschlossen sein würde. Für eine Vorbestrafte würde in seinen elitären Kreisen kein Platz sein. Grey holte sie ein, kurz nachdem Lucia das Haus erreicht hatte. Er legte ihr das Umhängetuch um die Schultern. „Wenn ich nicht gemerkt hätte, dass Sie gegangen sind, hätten Sie hier eine ganze Weile frierend auf mich warten müssen", bemerkte er trocken. Er klang überraschend ruhig. Trotzdem war er bestimmt wütend. Wahrscheinlich war noch nie eine Frau vor ihm weggelaufen. Grey schloss die Tür auf und schaltete das Licht in der Eingangshalle ein. Dann ließ er sie vorgehen. „Gute Nacht", sagte Lucia kurz angebunden und ging zur Treppe. Sie rechnete damit, dass er ihr die Hand auf die Schulter legte und sie zurückhielt. Er tat es nicht. Nachdem er ihr ebenfalls eine gute Nacht gewünscht hatte, schloss er die Tür zweimal ab. Noch bevor sie oben angelangt war, hatte er die Küche betreten, vielleicht um sich noch einen Kaffee zu kochen. Lucia war immer noch wach, als die Kirchturmuhr eins schlug und kurz darauf noch einmal. Inzwischen bereute sie ihr Verhalten. Statt Grey zu unterstellen, dass er anmaßend war, hätte sie ihn fragen sollen, was für Komplikationen er meinte. Kurz zuvor hatte er sie gebeten, nicht böse oder beleidigt zu sein, doch sie hatte es ignoriert. Da sie ihn liebte, hätte sie eigentlich mehr Feingefühl zeigen müssen. Lucia hörte, wie unten in der Eingangshalle das Licht eingeschaltet wurde. Sie lauschte angestrengt und hörte dann, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ob Grey in das Bad neben seinem Zimmer gegangen war? Mrs. Calderwood ging nachts manchmal zur Toilette, aber er bestimmt nicht. Da sie dann weder das Geräusch der Spülung noch das des Lichtschalters hörte, nahm Lucia an, dass Grey auch nicht schlafen konnte und in die Küche gegangen war. Sie stand auf und ging zum Fenster. Und tatsächlich fiel vom Küchenfenster Licht in den Hof. Spontan fasste sie einen Entschluss. Sie zog ihren Morgenmantel über und kämmte sich. Anschließend ging sie barfuß die Treppe hinunter. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, öffnete sie die Küchentür.
14. KAPITEL
Grey lehnte an dem Tresen, der die Küche vom Essbereich trennte. Da in der kleinen Reisetasche kein Platz für einen Bademantel gewesen wäre, hatte er sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Im Licht der Strahler, die zwischen den Deckenbalken angebracht waren, schimmerten seine gebräunten Schultern und seine muskulöse Brust wie polierter Stein. Für einen Mann Mitte dreißig hatte er eine tolle Figur, doch sein Oberkörper erinnerte Lucia nicht an einen Bodybuilder, sondern vielmehr an die Skulpturen aus der Antike. Grey straffte sich. „Was machen Sie hier unten?" „Ich konnte nicht schlafen. Ich wollte mir etwas zu trinken holen." Sie blickte zum Wasserkocher. Wenn er eingeschaltet war, brannte das rote Lämpchen am unteren Teil. Es leuchtete nicht. „Wasser?" Er öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Mineralwasser heraus. Nun sah sie das Glas auf der Arbeitsplatte. Es war mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt - offenbar Whisky. „Nein, kein Wasser ... Ich nehme einen Gin Tonic." Lucia ging zu dem Tablett, auf dem einige Flaschen mit Spirituosen standen. In dem Regal darüber waren Gläser. Sie nahm ein Glas und schenkte sich Gin ein. Gin Tonic war immer der Lieblingsdrink ihres Vaters gewesen. Sie mochte Wein lieber. Lucia hörte, wie Grey hinter ihr eine Dose öffnete. Als sie sich umdrehte, reichte er sie ihr. „Danke." „Sie bekommen kalte Füße. Gehen Sie lieber wieder ins Bett", riet er ihr und gab ihr damit zu verstehen, dass er allein sein wollte. „Die Fliesen sind nicht so kalt. Außerdem habe ich mehr an als Sie." Sie hatte festgestellt, dass er auch barfuß war. Er presste missbilligend die Lippen zusammen, sagte zu ihrer Verwunderung jedoch nichts. Lucia trank einen Schluck. „Sollten wir nicht miteinander reden?" „Sie waren diejenige, die unser letztes Gespräch beendet hat", erwiderte er kurz angebunden. „Ich weiß, aber ... Ihrer Mutter zuliebe bin ich bereit, so zu tun, als würden wir gut miteinander auskommen." Grey trank ebenfalls einen Schluck. Sie spürte, dass er kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Allerdings konnte er nicht angespannter sein als sie. „Wir können meiner Mutter zuliebe so tun, als ob", sagte er wegwerfend. „Aber wir haben beide die Karten auf den Tisch gelegt, und es gibt keine Berührungspunkte. Am besten gehen wir uns aus dem Weg." „Es gibt eine Alternative", wandte sie ein. „Falls Sie damit meinen, dass Sie abreisen - nein", entgegnete er ausdruckslos. „Dann würde meine Mutter sich aufregen und sich Sorgen machen. Außerdem würden Sie noch nicht allein klarkommen." „Sie unterschätzen mich, Grey ... Ich könnte sehr gut allein zurechtkommen. Aber ich glaube nicht, dass es nötig ist. Im Leben muss man sich anpassen. Im Restaurant haben Sie davon gesprochen, dass wir gern miteinander ins Bett gehen würden. Ich habe zurückhaltend darauf reagiert. Jetzt hatte ich Zeit, darüber nachzudenken. Wenn keiner von uns eine ernste Beziehung will, wir aber miteinander schlafen wollen - warum sollten wir es dann nicht tun? Andere tun es doch aus. Es ist wirklich nichts dabei." Lucia ging zu ihm, stellte ihr Glas auf den Tresen und legte ihm die Hände auf die Brust. „Tun wir's", fügte sie leise hinzu.
Grey packte ihre Handgelenke. Da sie wusste, dass er ihr nicht wehtun wollte, schaffte sie es, nicht zusammenzuzucken. „Was hat dich dazu bewogen, deine Meinung zu ändern?" erkundigte er sich. „Im Restaurant hast du mir zu verstehen gegeben, dass eine Affäre für dich nicht infrage kommt." „Du hast mich überrascht. Vorher wusste ich ja nicht genau, was du für mich empfindest. Ich wusste nur, was ich für dich empfinde." Sie atmete scharf ein. „Ich will dich. Noch nie habe ich einen Mann so begehrt wie dich. Ich möchte die Nacht in deinen Armen verbringen." Bevor sie die Augen schloss und die Lippen öffnete, sah sie das Verlangen in seinen Augen. Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen, und er. küsste sie so leidenschaftlich, dass sie alles um sich her vergaß. Es war noch schöner, als sie es sich ausgemalt hatte. Sie schmiegte sich an ihn und ließ sich von ihren Emotionen davontragen, ohne daran zu denken, wo es enden würde. Als Grey Lucia an sich presste und ihre Lippen unter seinen spürte, ignorierte er die warnende innere Stimme, die an seinen letzten Funken Verstand appellierte. Sobald Lucia die Küche betreten hatte, war er erregt gewesen. In dem dünnen Morgenmantel sah sie so begehrenswert aus. Er konnte nicht fassen, dass sie die Initiative ergriffen hatte. Sie hatte immer so reserviert gewirkt. Ihr Geständnis, dass sie ihn begehrte, hatte ihm den Rest gegeben. Grey küsste Lucia, bis ihr Herz genauso wild pochte wie seins. Dann hob er sie hoch, trug sie zur Tür und drückte die Klinke mit dem Ellbogen hinunter. „Ich mache das Licht aus", sagte sie heiser und streckte die Hand nach dem Schalter aus. Bevor das Licht ausging, bemerkte er ein Funkeln in ihren Augen, das er vorher noch nie gesehen hatte. Da die Vorhänge in der Eingangshalle nicht zugezogen waren, fand er den Weg zu seinem Zimmer im Schein der Straßenlaterne. Lucia öffnete die Tür, und er stieß sie mit der Schulter zu. In seinem Zimmer zog er die Gardinen nie zu, weil niemand hereinblicken konnte. Der Mond nahm inzwischen wieder ab, war allerdings immer noch hell genug, um das Doppelbett in sanftes Licht zu tauchen. Auf dem Orientteppich, der zwischen dem Bett und der Kommode lag, ließ Grey Lucia hinunter. Anschließend löste er ihren Gürtel und streifte ihr den Morgenmantel ab. Ihr dünnes Nachthemd war bei diesem Licht durchsichtig, so dass er ihre weiblichen Rundungen erkennen und sich vorstellen konnte, wie sie sich anfühlen würden. Da er ihr das Nachthemd nicht über die Schultern streifen konnte, zog er es ihr über den Kopf. Schließlich war sie nackt. Wieder hob er sie hoch und presste sie an sich. Das Blut pulsierte schneller durch seine Adern, als er ihre kühle Haut spürte und zum ersten Mal ihre nackten Brüste sah. Er ging um das Bett herum und legte sie auf die Matratze. Widerstrebend ließ er sie einen Moment los, um das Handtuch abzunehmen. Als Grey das Handtuch abnahm und es fallen ließ und Lucia seinen Körper in all seiner prachtvollen Männlichkeit sah, fragte sie sich sekundenlang, ob sie verrückt war, weil sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, obwohl sie wusste, dass er sich nicht binden wollte. Dann wurde ihr klar, dass es keine Rolle spielte. Sie liebte ihn, wie sie nie wieder einen anderen Mann lieben würde. Wenn diese eine Nacht alles war, was sie von ihm bekommen würde, wäre es besser als gar nichts - und sie würde sie bis an ihr Lebensende in Erinnerung behalten. Liebe bedeutete Geben, und ihr Körper war alles, was sie Grey geben konnte. Lucia hob die Arme, um ihn an sich zu ziehen. Kurz darauf lag er neben ihr und presste die Lippen auf ihre. Als Lucia aufwachte, schien die Sonne, und sie war allein.
Der kleine Wecker auf der Kommode zeigte fast acht. Sie hatte eine Stunde länger als sonst geschlafen. Kein Wunder, denn sie hatte kaum ein Auge zugetan! Unwillkürlich musste sie an einen alten Song denken: One Night of Love. Sie hatte es im Radio gehört, als sie ihren Vater pflegte. Es war ein Duett gewesen, gesungen von einem Mann und einer Frau, und sowohl der Titel als auch die romantische Melodie waren ihr im Gedächtnis geblieben. Lucia summte es, während sie überlegte, wo Grey sein mochte. Vielleicht im Bad nebenan. Vielleicht war er aber auch in der Küche und kochte Kaffee. Ob er sich genauso gut fühlte wie sie? Wie oft hatten sie sich geliebt? Sie hatte nicht mitgezählt. Sie wusste nur, dass Grey sie so geküsst und gestreichelt hatte, als würde er sie tatsächlich lieben. Bei ihr war es Liebe gewesen. Allerdings bezweifelte sie, dass er es merken würde. Er würde denken, dass sie sehr erfahren war und ihre Hemmungen nicht aus Liebe abgelegt hatte. Nun, bei Tageslicht, errötete sie ein wenig, als sie sich an das erinnerte, was sie in der Dunkelheit getan hatte. Dann fiel ihr ein, dass Grey und sie ins Krankenhaus fahren mussten. Sie sprang aus dem Bett, nahm ihr Nachthemd und ihren Morgenrock vom Stuhl - offenbar hatte er beides darüber gehängt - und eilte aus dem Zimmer, um oben zu duschen. Hätte Grey in diesem Moment die Küchentür geöffnet, hätte es ihr nichts ausgemacht. Ihre Begegungen waren so leidenschaftlich gewesen, dass sie nun nicht mehr verlegen sein würde, wenn er sie nackt sah. Lucia brauchte zwanzig Minuten, um sich die Zähne zu putzen, zu duschen, sich anzuziehen und sich zu frisieren und zu schminken. Sie war im Flur und wollte gerade nach unten gehen, als sie Stimmen auf der Straße hörte. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich auf Spanisch. Der Mann war Grey. Lucia öffnete das nächste Fenster und beugte sich hinaus. Unten stand ihre spanische Nachbarin im Morgenrock - im ländlichen Spanien durchaus nichts Ungewöhnliches - und gestikulierte. Grey lächelte sie an und hatte das Einkaufsnetz in der Hand, das immer am Haken hinter der Küchentür hing. So entspannt und glücklich hatte Lucia ihn noch nie erlebt. „Buenos dias", rief sie. Beide blickten auf. Lucia beobachtete, wie sein Lächeln verschwand. Dann entschuldigte Grey sich bei ihrer Nachbarin und kam zur Tür. Er schloss die Tür gerade hinter sich, als Lucia die Treppe hinunterging. „Guten Morgen", grüßte sie wieder. „Du warst offenbar beim Bäcker. Ich wusste gar nicht, dass du weißt, wo er ist." „Ich wusste es auch nicht. Ich habe gefragt." Er betrat die Küche und legte das Einkaufsnetz auf die Arbeitsplatte. Als sie sich zu ihm gesellte, zog er sie an sich und küsste sie. „Ich dachte, du würdest noch schlafen", sagte er. „Ich wollte dir das Frühstück ans Bett bringen." „Lass uns im Garten frühstücken", schlug sie vor, obwohl sie am liebsten das Frühstück hätte ausfallen lassen und wieder ins Bett gegangen wäre. Bevor er sich von ihr löste und sich abwandte, um Kaffee zu machen, stellte sie fest, dass er genauso dachte. Lucia stellte das Geschirr auf ein Tablett und legte das Besteck dazu. Dabei fragte sie sich, ob Grey über das sprechen würde, was zwischen ihnen vorgefallen war, oder es seiner Meinung nach gar nichts zu besprechen gab. Als sie kurz darauf am Gartentisch saßen, auf dem nun eine karierte Decke lag, sagte Grey: „Egal, ob Mum heute aus dem Krankenhaus entlassen wird oder nicht, fliegen darf sie sicher nicht. Ich werde zu Hause anrufen und Jackson bitten, mit dem Wagen herzukommen. Über Frankreich braucht er bestimmt nicht lange."
„Spricht er Französisch?" „Nein, aber er wird schon klarkommen. Er ist sehr einfallsreich. Für ihn wird es ein Abenteuer sein." Lucia schälte eine Mandarine, die sie zu dem frisch gebackenen barra essen wollte. Grey hatte es in eine Serviette eingewickelt, damit es warm blieb. Als er die Serviette auseinander faltete und ihr den Korb reichte, stieg ihr der köstliche Duft in die Nase, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. „Vielleicht bitte ich Braddy, ihn zu begleiten", meinte er. „Vor ihrer Ehe hat sie eine Zeit lang als Krankenschwester gearbeitet. Sie könnte sich auf der Rückfahrt um Mum kümmern. Dann könntest du mit mir fliegen ... über Paris. Wir könnten ein paar Nächte dort verbringen und ungefähr zur selben Zeit wie sie in England eintreffen. Na, wie klingt das?" „Wundervoll... Aber was wird deine Mutter davon halten?" „Sie braucht ja noch nichts zu erfahren. Es ist besser, wenn sie von etwaigen ... Komplikationen nichts weiß, bis sie sich erholt hat. Deswegen sollten wir uns in ihrer Gegenwart auch nicht duzen. Sie wird annehmen, dass wir direkt nach London fliegen." „Hm, das ist nicht besonders ehrlich", wandte Lucia ein. „Und was ist, wenn etwas schief geht und sie uns brauchen ... vor allem dich?" „Wenn es in irgendeiner Weise riskant ist, werde ich Mum mit dem Krankenwagen zurückbringen lassen. Wir sind versichert. Ansonsten kann Jackson über Handy mit mir in Kontakt bleiben. Er muss ja nicht wissen, wo ich bin." Er trank einen Schluck Kaffee und betrachtete sie forschend über den Rand seiner Tasse hinweg. Der Ausdruck in seinen Augen war derselbe wie in dem Moment, als Grey sie am Fenster gesehen hatte. Sachlich fuhr er fort: „Der springende Punkt ist, dass wir eine Weile allein sein müssen. Vom Vergnügen einmal abgesehen, gibt es einige Dinge, die ich dir sagen muss." „Kannst du es mir nicht jetzt sagen?" „Die Zeit ist zu knapp." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, müssen wir losfahren." Lucia war nicht ganz klar, warum Grey jene Dinge nicht während der Fahrt mit ihr besprechen konnte. Doch sie wollte ihn nicht unter Druck setzen. Je besser sie ihn kennen lernte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass er bereits sehr unter Druck stand. Und sie wollte nicht noch dazu beitragen. Wenn man einen Menschen liebte, gab man ihm alles, was er brauchte. Falls sie also geduldig sein musste, würde sie ihr Bestes tun, um ihre Neugier zu bezwingen. Auf dem Weg zur Küste redete Grey nicht viel. Auf einem geraden und wenig befahrenen Straßenabschnitt nahm er allerdings unvermittelt ihre Hand und küsste die Fingerknöchel. „Hat mein Bart heute Nacht gekratzt?" fragte er. „Ich hätte mich vorher rasieren sollen. Aber an so etwas denkt man in der Hitze des Gefechts natürlich nicht." „Ich habe es gar nicht gemerkt", erwiderte Lucia lächelnd. „Das stimmte nicht ganz. Sie hatte nebenbei wahrgenommen, wie rau sein Kinn und seine Wangen waren, es jedoch als aufregend empfunden, genauso wie das Gefühl seiner Muskeln unter ihren Fingern. Als sie nun seine Hände betrachtete, sehnte sie sich danach, sie zu spüren. Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen. Trotzdem hoffte sie, die Ärzte würden Mrs. Calderwood noch eine Nacht im Krankenhaus behalten. Dann könnten Grey und sie noch eine Nacht miteinander verbringen, was undenkbar wäre, wenn Rosemary in dem Zimmer über ihnen schlafen würde. Lucia hatte das unbehagliche Gefühl, dass Rosemary trotz ihrer offenkundigen Sympathie für sie nicht besonders begeistert sein würde, wenn sie erfuhr, was letzte Nacht zwischen Grey und ihr passiert war.
Grey stoppte den Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Nachdem er die Handbremse angezogen hatte, wandte er sich zu Lucia um. „Das hier ist vielleicht erst mal unser letzter Moment allein. Kosten wir ihn aus." Er löste den Gurt, umfasste ihr Gesicht und küsste sie. Sie schnallte sich ebenfalls ab und legte ihm die Arme um den Nacken, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand sie sehen konnte. Leidenschaftlich erwiderte sie Greys Kuss. Schließlich löste Grey sich von ihr. „Wir müssen aufhören, bevor ..." begann er heiser. Dann verstummte er und lächelte zerknirscht. „Am besten gehst du vor. Ich muss mich erst mal abkühlen." Lucia freute sich über sein Geständnis und wünschte, sie hätte dieselbe Wirkung auf sein Herz. „Okay." Sie berührte seine Wange. Obwohl er sich inzwischen rasiert hatte, war es immer noch aufregend, seine raue Haut zu spüren. Widerstrebend stieg sie aus und ging zum Eingang.
15. KAPITEL Als Lucia ins Zimmer kam, war Rosemary auf und angezogen. „Wo ist Grey?" fragte Rosemary, nachdem sie sich begrüßt hatten. „Er kommt gleich", erwiderte Lucia. „Haben Sie gut geschlafen?" „Nicht schlecht, aber heute schlafe ich ja wieder in meinem eigenen Bett... Ich meine, in dem in Nr. 12. Zum Glück werde ich heute entlassen." „Das ist ja toll!" Lucia unterdrückte ihre Enttäuschung, dass sie noch warten musste, bis sie eine weitere Nacht in Greys Armen verbringen konnte. „Die Ärzte und Schwestern hier sind sehr nett, aber es ist komisch, in einem Krankenhaus zu liegen, wenn man die Sprache nicht spricht", sagte Rosemary. „Man fühlt sich wie ein Kind. Warum braucht Grey so lange? Spricht er noch mit den Ärzten?" „Ich glaube, ja", schwindelte Lucia, da sie ihr schlecht die Wahrheit sagen konnte. „Von jetzt an wird er mich in Watte packen", meinte Rosemary. „Es würde mich nicht überraschen, wenn er uns weitere Reisen verbieten würde, aber das werde ich mir nicht gefallen lassen. Im Hochsommer ist es zu heiß und voll, es sei denn, man ist an die Ferien gebunden. Ich dachte nämlich, wir könnten im September die griechischen Inseln besuchen." Ihre letzten Worte bekam Grey noch mit, da er in diesem Moment das Zimmer betrat. „Das hängt von deinem Gesundheitszustand ab, Mum." Er durchquerte den Raum, um sie zu küssen. „Ich bin sicher, dass es mir bald wieder gut geht. Auf keinen Fall möchte ich verhätschelt werden." Als Rosemary auf dem Nachhauseweg erfuhr, dass Grey bereits Braddy und Jackson angewiesen hatte, so schnell wie möglich nach Spanien zu kommen, wurde sie ärgerlich. „Das ist lächerlich, Grey. Absolute Geldverschwendung." „Das glaube ich nicht - und dein Arzt auch nicht. Als ich diesmal hergekommen bin, musste ich einen Charterflug nehmen. Für jemanden, dem es gesundheitlich nicht gut geht, ist es viel zu stressig. Du wirst in aller Ruhe mit dem Auto zurückfahren. Lucia und ich fliegen." Zu Lucias Überraschung erhob Rosemary daraufhin keine Einwände, obwohl sie sich weiter beschwerte, dass er viel zu viel Aufhebens um sie machte. An dem Abend gingen sie alle früh ins Bett. Trotz ihrer Müdigkeit lag Lucia jedoch noch eine Weile wach und dachte an Grey und die Leidenschaft die sie gemeinsam erlebt hatten. Bestimmt würde er nicht an ihre Tür klopfen, und sie wollte es auch gar nicht, da seine Mutter nebenan schlief. Aber sie zählte die Tage, bis sie wieder mit ihm allein sein würde. Was würde er ihr sagen, wenn sie in Paris waren? Würde er ihr vorschlagen, seine Geliebte zu werden, bis er ihrer überdrüssig wäre? Das war allerdings unpraktisch, solange sie für seine Mutter arbeitete. Vielleicht würde er ihr einen Job in seiner Firma anbieten. Würde er wirklich so weit gehen? Glaubte er, sie würde sich zu allem herablassen, nur weil sie damals so naiv gewesen war, anzunehmen, sie würde nichts Ungesetzliches tun? Nachdem Lucia eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem beunruhigenden Schluss, dass sie keine Skrupel hatte, was Grey betraf. Wenn er sie haben wollte, konnte er sie haben - zu jeder Bedingung. Wem schadete es denn, wenn sie seine Geliebte wurde? Nur ihr selbst. Sie hatte keine Eltern, die sich ihrer schämen konnten. Keine engen Freunde, die ihr Verhalten kritisieren würden. Als sie an einen anderen Aspekt dachte, stöhnte sie auf. Sie musste Rücksicht auf die Gefühle seiner Mutter nehmen. Rosemary würde es nicht gutheißen, wenn ihr Sohn und ihr Schützling eine Affäre miteinander hatten. Wie die meisten Menschen ihrer Generation akzeptierte sie es, wenn Paare ohne Trauschein zusammenlebten, befürwortete es jedoch nicht, vor allem wenn eine langfristige Beziehung von vornherein ausgeschlossen war. Die Vorstellung, dass Grey eine Geliebte hätte, wäre ihr ein Gräuel.
Ich könnte sie nicht so verletzen. Sie ist so nett zu mir, dachte Lucia traurig. Einige Nächte in Paris, von denen sie nie erfahren wird, kann ich mir nicht versagen. Aber mehr ist nicht drin. Nach zwei schlaflosen Nächten war Lucia am nächsten Morgen ziemlich blass. Am Abend hatte Grey darauf bestanden, dass seine Mutter im Bett frühstücken sollte. Als Lucia nach unten in die Küche kam, stellte sie fest, dass das Einkaufsnetz nicht am Haken hing. Sie begann, alles auf ein Tablett zu stellen, und verspannte sich ein wenig, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Würde Grey die Gelegenheit nutzen, um sie zu küssen? Oder hatte er vor, auf Abstand zu bleiben, bis sie in Paris waren? Sie sollte es kurz darauf erfahren. Er kam in die Küche, warf das Einkaufsnetz mit dem Brot auf den. Tresen und nahm sie in die Arme. „Ich habe dich heute Nacht vermisst. Du mich auch?" „Ja", gestand Lucia. „Gut." Daraufhin neigte er den Kopf und küsste sie so leidenschaftlich wie im Wagen. „Ich will dich. Es fällt mir schwer, geduldig zu sein", flüsterte er ihr ins Ohr. Sie löste sich von ihm. „Es kann gut sein, dass deine Mutter deine Anweisungen nicht befolgt. Du möchtest sicher nicht, dass sie in die Küche kommt und uns ertappt." „Im Moment nicht, nein", bestätigte er. „Aber es fällt mir wahnsinnig schwer, mich von dir fern zu halten." Lucia ging mit dem Tablett nach oben. Rosemary saß im Bett und blickte aus dem Fenster auf die Berge. „Man vergisst so leicht, dass man nicht ewig lebt - bis man plötzlich daran erinnert wird", bemerkte sie. „Ich weiß. Ich habe meine Freiheit als selbstverständlich betrachtet, bis ich sie verloren habe." Lucia stellte Rosemary das Tablett auf den Schoß, richtete sich auf und sah auch aus dem Fenster. „Ich frage mich, ob wir uns nicht nach einer Weile gefangen fühlen würden, wenn wir hier leben würden. Momentan erscheint es uns wie das Paradies, aber ..." Sie verstummte. Das Tal erschien ihr unter anderem deswegen so paradiesisch, weil Grey da war. Ohne ihn wäre es immer noch schön, doch ihr Herz wäre woanders ... bei ihm. Und umgekehrt würde sie es an seiner Seite auch an unwirtlichen Orten aushalten. „Ich reise gern, aber ich möchte nicht im Ausland leben", erklärte Rosemary. „Ich würde meine Töchter und meine Enkel vermissen. Ich möchte in der Nähe meiner Familie sein." Am liebsten hätte Lucia sie gefragt, was wäre, wenn ihre Familie ans andere Ende der Welt ziehen würde. Ob sie dann das Gefühl hätte, dass diese sie im Stich lassen würde. Ihr Vater hatte in jungen Jahren das Jobangebot einer australischen Zeitung abgelehnt, weil er der einzige Sohn war und seiner Mutter keinen Kummer bereiten wollte. Es klopfte an der Tür, und Grey kam herein. „Braddy hat gerade angerufen. Sie sind gestern durch den Eurotunnel gefahren und haben in einem netten Hotel in Frankreich übernachtet. Heute Abend müssten sie fast bis zur Grenze kommen. Und wenn sie die Pyrenäen überquert haben, brauchen sie nicht mehr lange. Morgen Abend müssten sie hier sein." „Wo sollen sie übernachten?" erkundigte sich seine Mutter. „Sie müssen sich unbedingt ausruhen, bevor wir zurückfahren. Ehrlich gesagt, freue ich mich auf zu Hause, so schön es hier ist." „Der Bäcker hat mir erzählt, dass es eine kleine Pension in der Nähe des Nachbardorfs gibt, in der hauptsächlich Wanderer absteigen", erwiderte Grey. „Ich fahre hin und sehe sie mir mal an. Möchten Sie mitkommen, Lucia? Mum kommt solange allein zurecht." „Ja, fahr nur, mein Lieber", sagte Rosemary. „Du weißt, wo Braddy sich wohl fühlt und wo nicht. Ich möchte nicht, dass sie die weite Reise hierher macht und dann kein schönes
Zimmer hat. Jackson ist es egal, solange es sauber ist. Männer legen nicht so viel Wert auf solche Dinge, aber Braddy ist ein bisschen pingelig." Lucia freute sich darauf, mit Grey allein zu sein, selbst wenn es nur für kurze Zeit war. Während der Fahrt redete er allerdings nur über unpersönliche Dinge, und deshalb hatte sie nicht den Mut, das anzusprechen, was sie am meisten beschäftigte. Das hostal war etwas spartanisch, aber die Bäder waren blitzsauber, und sie hatten beide das Gefühl, dass Braddy es dort für kurze Zeit aushalten würde. Auf dem Rückweg erzählte Grey ihr, dass seine Mutter Jackson vor dreißig Jahren auch unter ihre Fittiche genommen hätte. Sie hatten sich im Gerichtssaal kennen gelernt. Seine Mutter hatte der Verhandlung als Schiedsfrau beigewohnt, und Jackson, damals in den Zwanzigern, hatte wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses auf der Anklagebank gesessen. „Sie hat ihm eine Art Hausmeister]ob angeboten", berichtete Grey. „Wenn mein Vater es damals gewusst hätte, wäre er genauso wütend gewesen wie ich über deine Anwesenheit." Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Sie hatte eine bessere Menschenkenntnis als wir. Jackson hat ihr Vertrauen mehr als gerechtfertigt - und du auch." „Das konnte ich noch gar nicht unter Beweis stellen", erwiderte Lucia lässig. „Du hast es mir bewiesen." Sein Tonfall und sein Lächeln waren überaus herzlich. Später, beim Abendessen, sagte Rosemary jedoch etwas, das Lucias Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit Grey schwinden ließ. Zuvor hatte sie bemerkt, dass sie sich glücklich schätzen könnte, zwei so treue Mitarbeiter wie Braddy und Jackson zu haben. „Glauben Sie, dass die beiden eines Tages heiraten?" fragte Lucia daraufhin. „Sie scheinen sich jedenfalls sehr gut zu verstehen." „O nein, bestimmt nicht", entgegnete Rosemary. „In vieler Hinsicht wäre es ganz praktisch. Sie könnten sich das Cottage teilen, und es gäbe immer noch ein freies Zimmer für mich, wenn die Bude Weihnachten voll ist. Jackson hätte sicher nichts dagegen. Ich habe schon oft vermutet, dass er eine Schwäche für Braddy hat. Braddy mag ihn auch ... aber ihre Gefühle sind rein platonisch. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Jacksons Familie war zerrüttet, Braddy dagegen hatte sehr nette Eltern." „Spielt es denn jetzt noch eine Rolle? Schließlich sind sie beide mittleren Alters", wandte Grey ein. „Es spielt in jedem Alter eine Rolle", erklärte Rosemary. „Eine gute Ehe zu führen ist nicht einfach, auch nicht für ältere und erfahrenere Leute. Und wenn die Partner aus unterschiedlichen Schichten kommen, ist es noch problematischer." Lucia wurde traurig. Wenn Rosemary der Meinung war, dass Braddy und Jackson nicht zusammenpassten, würde sie eine Verbindung zwischen Grey und ihr als noch unwahrscheinlicher betrachten. Vielleicht war es das auch. Vielleicht wirkte Grey deswegen so verstimmt - weil er nicht daran erinnert werden wollte, dass seine Mutter es für verwerflich halten würde, wenn er mit ihr, Lucia, schlief. Grey ärgerte sich über die Taktlosigkeit seiner Mutter. Ihm war klar, wie Lucia ihre Worte interpretieren würde. Obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, war sie verletzt, das spürte er. Er liebte seine Mutter zwar über alles, aber ihre Ansichten stellten seine Geduld oft auf eine harte Probe. Er hoffte, dass er nicht auch in der Vergangenheit leben würde, wenn er einmal in ihrem Alter war. Nach dem Essen wäre er am liebsten mit Lucia spazieren gegangen und hätte ihr alles erklärt. Er hielt es allerdings für klüger, damit zu warten, bis sie in Paris waren. Dann würde er es Lucia schonend beibringen können. Dass sie ihn liebte, bezweifelte er nicht. Ob ihre Gefühle für ihn jedoch stark genug waren, war eine Frage, die nur sie beantworten konnte.
16. KAPITEL
Rosemary, Braddy und Jackson brachen nach dem Frühstück auf. Sie nahmen die Straße nach Norden, Grey und Lucia die nach Süden. Bevor sie losfuhren, gab Grey die Schlüssel dem Nachbarn, der im Haus nach dem Rechten sah, solange die Besitzer weg waren. „Endlich sind wir allein!" sagte er, als er zurückkam und einstieg. Sein Lächeln machte sie gleich optimistischer. Seit er seine Mutter zum Abschied umarmt hatte, plagten sie Gewissensbisse, weil diese nichts von ihrem Aufenthalt in Paris wusste. Gegen Mittag trafen sie in Paris ein und nahmen ein Taxi vom Flughafen zum Hotel. Erleichtert stellte Lucia fest, dass es keine Luxusherberge war, sondern ein relativ kleines Hotel in einer Seitenstraße. Wahrscheinlich ideal für Männer, die mit ihrer Geliebten absteigen, dachte sie traurig. Ihr Zimmer befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Von dort blickte man auf einen kleinen, aber hübschen Garten, in dem einige Gäste unter Sonnenschirmen an Tischen saßen und einen Drink nahmen. Bestimmt konnte man sich dort nach einer anstrengenden Sightseeingtour gut erholen. Obwohl es erst wenige Nächte her war, dass Grey und sie sich geliebt hatten, fühlte Lucia sich seltsam befangen, nun, da sie wieder mit ihm allein war. Sie blickte aus dem Fenster auf die umliegenden Gebäude, ohne diese richtig wahrzunehmen, und überlegte, was sie sagen sollte. Grey brach schließlich das Schweigen. „Ich bestelle beim Zimmerservice eine Flasche Wein." Er klang ganz lässig, aber er war vermutlich schon oft in einer solchen Situation gewesen. „Möchtest du duschen, bevor wir essen gehen?" „Ja ... ja, gern", erwiderte sie eifrig. „Dann geh." Grey setzte sich aufs Bett und nahm den Hörer ab. Wie sie bereits im Taxi und am Empfang bemerkt hatte, war sein Französisch genauso gut wie sein Spanisch. Er telefonierte immer noch, als sie mit ihrer Kulturtasche und ihrem Morgenmantel in Händen ins Bad ging. Es hatte eine Duschkabine, ein Waschbecken, eine Bidet und eine Toilette. Braddy hatte von ihren Übernachtungen in Frankreich erzählt und sich über die kleinen Handtücher in den Hotels beschwert. Diese hier waren jedoch groß und sehr flauschig. Lucia zog sich aus und hängte ihre Sachen an die Türhaken. Da sie sich am Vorabend die Haare gewaschen hatte, setzte sie nun eine Duschhaube auf. Unter dem warmen Wasserstrahl entspannte sie sich. Ich hatte keinen Grund, so angespannt zu sein, überlegte sie. Was immer Grey ihr sagen würde, änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn liebte. Sie wollte diese Tage auskosten und nicht an die Zukunft denken. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und sie sah seine Gestalt durch die Wände der Kabine. Dann stellte sie fest, dass er nackt war. Im nächsten Moment öffnete er die Tür und kam in die Kabine. „Darf ich zu dir kommen?" erkundigte er sich lächelnd. „Warum fragst du? Du bist ja schon da", erwiderte sie etwas schroff. Der Grund dafür war die Duschhaube. Lucia wusste, dass sie furchtbar damit aussah. Welche Frau wirkte mit einer Duschhaube schon erotisch? „Warum bist du denn sauer?" Grey legte die Arme um sie und zog sie an sich. „Weil ich dich noch nicht geküsst habe? Ich wollte es, glaub mir. Aber meine Schwestern haben sich früher immer über aufdringliche Typen beschwert. Mein Problem ist ..." Er berührte ihre Lippen flüchtig mit seinen. „... dass ich sofort mit dir schlafen will, sobald ich dich küsse." Wieder küsste er sie, diesmal leidenschaftlicher, und streichelte sie dabei. Lucia schloss die Augen und vergaß die unvorteilhafte Duschhaube.
Einige Stunden später verließen sie das Hotel, um eine der romantischsten Städte der Welt zu erkunden. „Zum Mittagessen ist es ein bisschen zu spät. Deswegen schlage ich vor, dass wir irgendwo eine Kleinigkeit essen, damit wir heute Abend nicht völlig ausgehungert sind", sagte Grey und nahm ihre Hand. „Was hältst du davon?" „Das klingt sehr gut", erwiderte Lucia lächelnd. Es war zwar etwas kühler als in Spanien, aber immer noch angenehm warm, und die Caf6s waren gut besetzt. Schließlich fanden sie eins, das nicht zu voll war. Ein Ober brachte ihnen die Speisekarte, und Grey bestellte vorab Kaffee. Nachdem sie sich entschieden und der Ober den Kaffee serviert hatte, meinte Grey: „Ich halte es nicht länger aus. Dies ist der Moment der Wahrheit ... wenn ich meine Karten auf den Tisch lege und du mir mein Schicksal vorhersagst." Lucia wusste nicht genau, worauf er hinauswollte, beschloss jedoch, erst einmal keine Fragen zu stellen. „Seit ich erwachsen bin, ist mein Leben zum größten Teil eine Lüge", fuhr er fort, und seine grauen Augen blickten plötzlich ernst. „Aus verschiedenen Gründen habe ich eine Rolle gespielt. Es fing während meines Studiums an. Bis dahin hatte ich mir keine ernsthaften Gedanken über mein Leben gemacht. Meine Eltern waren immer davon ausgegangen, dass ich in der Firma meines Vaters arbeiten würde, und ich habe dann auch dort angefangen, weil mir nichts Besseres einfiel." Der Ober kam wieder und servierte Wachteleier mit knusprigem Brot und zwei Schälchen Butter. „Bon appetit, m'sieur ... 'dame." Während sie ihre Eier pellten, sprach Grey weiter. „Dann wurde mir allmählich klar, dass man sein Leben auch anders gestalten kann als meine Familie und die meisten ihrer Freunde. Nicht jeder war besessen von seiner Arbeit und vom Golf spielen wie mein Vater und seine Freunde." Als er sich Butter auf ein Stück Brot strich, hätte Lucia seine Hände wieder am liebsten gezeichnet. „Um es kurz zu machen, ich wollte mit der Familientradition brechen", fuhr er fort. „Aber ich wusste nicht genau, was ich wollte. Da ich nicht in der Lage war, meinem Vater eine Alternative zu den Plänen aufzuzeigen, die er für mich gemacht hatte, musste ich mich dem Druck beugen. Vielleicht hätte ich einfach weggehen und auf eigenen Füßen stehen sollen. Aber damit hätte ich meiner Familie großen Kummer bereitet. Klingt das plausibel?" „Natürlich", erwiderte sie und erzählte ihm dann von dem Opfer, das ihr Vater damals gebracht hatte. „Ich glaube, viele Menschen haben ihren Eltern zuliebe einen anderen Weg eingeschlagen." „Möglich", bestätigte er. „Ich wusste immer, dass ich reisen wollte, allerdings hatte ich dafür keinen bestimmten Grund. Jetzt habe ich einen - und einen genauso schwerwiegenden Grund dafür, es nicht zu tun." Er machte eine Pause und trank einen Schluck Kaffee. „Erst mit Ende zwanzig entdeckte ich sozusagen den Sinn des Lebens. Ich begann, mich für Malerei zu interessieren. Mir Kunstkenntnisse anzueignen und die berühmtesten Galerien der Welt anzusehen, wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, gab meinem Leben wieder einen Sinn. Und dadurch habe ich dann einen zweiten Sinn des Lebens entdeckt - dich, meine Süße." Lucia erschrak so, dass sie sich an ihrem Brot verschluckte und schnell einen Schluck Kaffee trinken musste. „Mich?" fragte sie heiser, sobald sie wieder zu Atem gekommen war. „Dich", erwiderte er ernst. „Und ich glaube nicht, dass du hier wärst, wenn du mich nicht sehr mögen würdest. Das Problem ist nur: Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich
möchte alles hinter mir lassen und ein neues Leben beginnen. Aber es ist nicht das Leben, das die meisten Frauen mit einem teilen möchten." Noch immer war sie völlig verblüfft über sein Geständnis. „Was möchtest du denn tun?" erkundigte sie sich, um sieh etwas sammeln zu können. „Zuerst einmal möchte ich meinen Job hinschmeißen, denn ich möchte die Firma nicht mehr leiten. Meine Mutter wird entsetzt sein, und meine Schwestern werden auch nicht gerade begeistert sein. Julia rechnet damit, dass ihr ältester Sohn einmal meinen Job bekommt. Selbst wenn Mum über neunzig wird, was ich natürlich sehr hoffe, wird sie gut versorgt sein. Aber die anderen sind nicht so gut abgesichert und werden nicht gerade glücklich darüber sein, wenn ihre Einkünfte aus der Firma zurückgehen -und das ist gut möglich." „Sie können doch nicht von dir erwarten, dass du weiterhin eine Arbeit machst, die dich langweilt, nur damit sie ein besseres Leben haben", bemerkte Lucia. „Was hast du für Pläne?" „Ich möchte eine Galerie eröffnen - nicht in London, sondern irgendwo auf dem Land. Aber ich möchte sie nicht selbst leiten. Ich will reisen, mehr über die Kunst in anderen Kulturen lernen und Bilder kaufen, die ich dann wieder verkaufe. Die wenigen Freunde, mit denen ich darüber gesprochen habe, denken, ich hätte den Verstand verloren. Bist du auch der Meinung?" „Ich finde die Idee toll und aufregend, und ich würde dich gern dabei unterstützen ... wenn du damit einverstanden bist. Hattest du das damit gemeint, als du neulich Abend von der Galerie gesprochen hast?" „Ja, allerdings hatten wir da noch ein anderes Verhältnis zueinander als jetzt. Ich möchte, dass du mich dabei unterstützt, aber nicht als meine Geschäftsführerin. Ich möchte, dass du mich auf meinen Reisen begleitest ... als meine Frau", fügte er leise hinzu. „Ich habe mich in dich verliebt, Lucia. Ich möchte, dass du ein Teil meines neuen Lebens bist. Allerdings ist mir klar, dass es ein großes Opfer wäre." „Inwiefern?" fragte sie verwirrt. „Frauen sind von Natur aus sehr häuslich. Sie brauchen Geborgenheit." „Das ist eine Verallgemeinerung", entgegnete sie. „Frauen sind nicht alle gleich." Sie verzog den Mund. „Wie viele Frauen waren im Gefängnis? Nicht viele." Dann beugte sie sich zu ihm hinüber. „Ich brauche nur eines, Grey. Dass du mich genauso liebst wie ich dich." Grey nahm ihre Hände. „Jetzt denkst du vielleicht so, Schatz, aber ein ganzes Leben ist eine lange Zeit. Es wird nicht immer Paris an einem warmen Sommertag sein ... Wir werden uns nicht immer so leidenschaftlich lieben wie heute. Du musst es dir gut überlegen, bevor du dich an mich bindest." „Ich habe mich schon lange an dich gebunden. Mir ist nur nicht ganz klar, wie du dich in mich verlieben konntest. Ich passe doch überhaupt nicht zu dir. Und streite es ja nicht ab." „Du passt nicht zu dem Mann, den ich zu sein vorgegeben habe. Zu dem wahren Grey Calderwood schon. Du kennst ihn noch gar nicht." „Ich habe schon Einblicke in seinen Charakter gewonnen." Lucia berührte seine Wange mit den Fingerspitzen. „Ist die Ehe nicht immer eine Entdeckungsreise? Keiner von uns wird in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren noch derselbe sein. Aber wenn wir uns zusammen weiterentwickeln, werden wir später sicher noch dasselbe empfinden wie jetzt." „Das hoffe ich", sagte er. „Aber sie ist einer der Gründe, warum ich mir Sorgen mache, dass deine Gefühle dich blind machen könnten ... so wie es damals bei ihr der Fall war." „Ob es wirklich so war? Vielleicht wusste sie in ihrem tiefsten Inneren auch, dass sie doch nicht das Zeug zu einer großen Künstlerin hatte? Ich weiß, dass es bei mir zum Beispiel so ist. Und möglicherweise wusste Rosemary es auch. Vielleicht hat die Heirat mit deinem Vater es ihr leichter gemacht, damit zurechtzukommen. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass man nie zur ersten Garde gehören wird." „Das ist eines der Dinge, die ich so an dir liebe", meinte Grey.
„Du bist sehr sensibel. Du würdest sie nie verletzen, indem du ihr zu verstehen gibst, dass sie kein großes Talent hat. Die einzige Person, die du nicht mit Samthandschuhen angefasst hast, bin ich, und ich schätze, ich bin zuerst ganz schön gemein zu dir gewesen." „Stimmt", bestätigte Lucia lachend. „Aber ich muss zugeben, dass es dein gutes Recht war. Ich werde mir Mühe geben, es wieder gutzumachen. Wann willst du es deiner Familie sagen?" „Sobald George Mum untersucht und mir mitgeteilt hat, ob sie es jetzt schon verkraften könnte, wenn sie erfährt, dass ich meinen Job aufgebe. Das mit uns werden wir ihr sofort erzählen. Ich ertrage meine Arbeit nur dann noch, wenn ich die Abende und Nächte mit dir verbringen kann." Kurz darauf verließen sie das Cafe und gingen in Richtung Seine. Dabei sprachen sie über ihre Beziehung und erklärten einander, warum sie sich so verhalten hatten. An einem der breiten, von Bäumen gesäumten Quais bemerkte Grey: „Das letzte Mal war ich allein hier. An dem Baum dort lehnte eine junge Frau, und ein junger Mann küsste sie. Ich habe mich gefragt, wie lange ich noch allein sein würde. Das Singledasein ist etwas Unnatürliches. Männer und Frauen sind dazu bestimmt, als Paare zusammenzuleben, findest du nicht?" „Ich bin ganz deiner Meinung", erwiderte Lucia, als er sie zum Baum führte, die Arme um sie legte und sie küsste. In diesem Moment war es ihr völlig egal, ob jemand sie beobachtete, und sie umarmte ihn ebenfalls. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du einsam warst. So hast du gar nicht auf mich gewirkt." Sie schmiegte sich an ihn. „In gewisser Weise bin ich auch selbstgenügsam." Er stützte das Kinn auf ihren Kopf. „Menschen, die nicht so sind, können anderen ganz schön zur Last fallen. Wenn mein Vater mal nicht ins Büro gehen oder Golf spielen konnte, was nicht so oft vorkam, hat er alle in den Wahnsinn getrieben. Er hat nicht gelesen, keine Musik gehört und ist nie spazieren gegangen. Als ich alt genug war, um mich und meine Familie kritisch zu sehen, wurde mir klar, dass jede Frau mit dem Aussehen und dem Sozialverhalten meiner Mutter ihn zufrieden gestellt hätte. Manchmal habe ich mir gewünscht, ich wäre so wie er." Nun umfasste er ihr Kinn. „Aber ich brauchte eine ganz besondere Frau. Und ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass ich sie finden würde. Als ich dir wieder begegnet bin, war es keine Liebe auf den ersten Blick. Ist dir klar, dass unsere Wege sich nie wieder gekreuzt hätten, wenn du dich mir nicht widersetzt und meinen Scheck angenommen hättest? Ich ertrage die Vorstellung einfach nicht, dass du ganz allein dastehst und niemanden hast, der dich liebt und beschützt." Später aßen sie im „Le Thoumieux" zu Abend, das im siebten Arrondissement in der Nähe des Eiffelturms lag. Es handelte sich um ein klassisches, um die Jahrhundertwende erbautes Bistro mit großen Spiegeln an den Wänden und vergoldeten Kronleuchtern. Die Spezialität des Hauses war Ente, und zwar entweder confit de canard, also eingelegt, oder cassoulet, ein Eintopf aus Entenfleisch, weißen Bohnen und Würstchen. „Wenn wir den Eintopf nehmen, sollten wir die Vorspeise lieber ausfallen lassen", sagte Grey. „Das ist nämlich das traditionelle Gericht der Landbevölkerung." „Ich bin richtig hungrig", erwiderte Lucia. „Vielleicht liegt es daran, dass wir uns geliebt haben." Nach dem Spaziergang waren sie ins Hotel zurückgekehrt und hatten noch einmal eine leidenschaftliche Stunde im Bett verbracht. „Keine Angst, beim Sex verbraucht man eine Menge Kalorien", beruhigte Grey sie, und seine Augen funkelten amüsiert. „Jedenfalls kannst du es dir leisten, ein paar Pfund zuzulegen. Kurvenreiche Frauen sind viel attraktiver als die Klappergestelle in den Modezeitschriften."
Lucia scherzte gern so mit ihm, doch es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich an diesen lockeren Umgangston gewöhnt hatte. Und obwohl sie mittlerweile überglücklich war, musste sie immer daran denken, wie seine Familie wohl reagieren würde. Sie hoffte nur, dass es keinen Streit gab, der bittere Gefühle und heftige Vorwürfe nach sich ziehen würde.
17. KAPITEL
Für ihre Hochzeit suchte Lucia ein schlichtes eng anliegendes, knöchellanges Kleid aus weißem Seidencrepe mit langen Armein und einem weiten Ausschnitt aus. Dazu trug sie die einreihige Zuchtperlenkette, die Braddy ihr geschenkt hatte. „Ich möchte, dass Sie sie bekommen, meine Liebe", hatte die Haushälterin zu ihr gesagt. „Ich habe keine Töchter oder Nichten, denen ich sie hinterlassen kann, und mein Hals ist inzwischen zu faltig. Ihnen steht sie bestimmt viel besser." Mrs. Calderwood hatte darauf bestanden, dass die Trauzeremonie in der Pfarrkirche im Ort und der Empfang in Larchwood stattfand. Obwohl sie bereits drei Hochzeiten für ihre Töchter arrangiert hatte, hatte sie verkündet, sie wäre enttäuscht, wenn Grey nur im engsten Familienkreis heiraten und den Empfang in einem Hotel in London geben würde, bevor sie zu ihrer Hochzeitsreise aufbrachen. Ob ihre zukünftige Schwiegermutter gute Miene zum bösen Spiel machte, vermochte Lucia nicht zu sagen. Und genauso wenig wusste sie, was Greys Schwestern dachten. Der schlimmste Schock war für sie Greys Rücktritt als Vorstandsvorsitzender gewesen. Alle vier hatten unter vier Augen mit ihr gesprochen und sie gebeten, mit ihm zu reden, damit er es sich noch einmal überlegte. Lucia bezweifelte, dass sie ihr geglaubt hatten, als sie erwidert hatte: „Für mich ist das Wichtigste, dass Grey glücklich ist... und ich glaube, er ist alt genug und erfahren genug, um zu wissen, was das Beste für ihn ist." Daraufhin hatte Jenny, die offener war als ihre Mutter und ihre Schwester, geantwortet: „Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Wenn er aufhört, geht die Firma den Bach runter ... Das ist in solchen Fällen immer so. Ich bewundere dich dafür, dass du bei seinem verrückten Plan mitmachst, aber ich denke, ihr werdet es beide bereuen." Als. Lucia nun den breitkrempigen Hut mit dem weißen Schleier aufsetzte, der ihr Outfit komplett machte, dachte sie an dieses Gespräch. Sie rückte den Hut zurecht und überlegte dabei, ob Jenny Recht hatte und sein Plan sich tatsächlich als verrückt erweisen würde. Für sie spielte es keine Rolle. Grey und sie wollten es beide, und für sie war eine Ehe eine Verbindung, in der beide Partner ihr Bestes taten, um den anderen glücklich zu machen. Jedenfalls vertraute sie darauf, dass Grey sich etwas einfallen lassen würde, wenn seine Idee sich als doch nicht so gut erwies. An seiner Seite würde sie sich immer geborgen fühlen, egal, was auf sie wartete. Sie hatten das große Ereignis geplant, ohne sich an alle Konventionen zu halten. Grey hatte die Nacht auf seinem Boot verbracht und sie, Lucia, in dem Hotel, in dem er am vergangenen Abend eine Junggesellenparty für seine Freunde gegeben hatte, die nicht zum Empfang eingeladen waren. Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte, und sie nahm den Hörer ab. „Hallo?" „Mr. Calderwood ist in der Lobby, Mrs. Graham", informierte sie jemand. „Bitte sagen Sie ihm, dass ich gleich komme." Als sie kurz darauf nach unten fuhr, war sie allein im Aufzug. Sie hoffte, dass Grey kein langes Kleid und einen Schleier erwartete. Unter den ganzen Modellen, die sie probiert hatte, war dieses ihr geradezu perfekt erschienen. Als die Aufzugtüren auseinander glitten, hatte er ihr den Rücken zugewandt. Er trug einen hellgrauen Anzug, den sie noch nicht kannte, und der erstklassige Schnitt betonte seine breiten Schultern. Sobald sie den Aufzug verließ, drehte Grey sich um, sah sie und kam auf sie zu. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass dieser Mann, der jede Frau haben konnte, ausgerechnet sie wollte. „Keine Angst, ich werde deinen Hut nicht verrücken oder deinen Lippenstift verschmieren." Grey nahm ihre Hände und hob sie an die Lippen.
Er trug eine blassgelbe Seidenkrawatte und eine gelbe Nelke im Knopfloch. „Ich habe dich gestern Abend vermisst", fuhr er fort. „Lass uns in den nächsten fünfzig Jahren so wenig Abende wie möglich getrennt verbringen." „Das klingt gut... Aber den Hut hätte ich vielleicht nicht kaufen sollen, wenn du mich nicht richtig küssen kannst." „Dann passe ich auf." Grey neigte den Kopf, um sie erst auf die Wange und anschließend auf den Mund zu küssen. „Du siehst hinreißend aus", bemerkte er, als er sich aufrichtete. Wenn er sie so anblickte, fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Lucia fragte sich, wie sie je hatte glauben können, dass seine Augen kalt funkelten und seine Miene hart wirkte. „Draußen wartet ein Taxi. Gehen wir?" Er bot ihr den Arm. Sie hakte sich bei ihm unter und spürte seine Muskeln. Noch immer wusste sie nicht, wo Grey und sie die Nacht verbringen würden, doch sie brauchte es auch gar nicht. Sicher hatte er eine gute Wahl getroffen. Sie würde weiterhin eine eigenständige Persönlichkeit bleiben und ihre Bilder mit „Lucia Graham" signieren. Ihr Herz würde jedoch immer Grey gehören. Er half ihr ins Taxi und setzte sich neben sie. Als sie losfuhren, nahm er ihre Hand. Lucia stellte fest, dass sie wider Erwarten nicht nervös war und sich auch keine Sorgen mehr darüber machte, was seine Familie von alldem hielt. Plötzlich war sie sehr zuversichtlich. Sie entspannte sich und konnte sich nun auf den schönsten Tag ihres Lebens freuen. -ENDE -