Was kommt nach der Familie? Erneut die Familie, wie manche meinen – oder überwiegen doch die Auflösungstendenzen, folgt...
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Was kommt nach der Familie? Erneut die Familie, wie manche meinen – oder überwiegen doch die Auflösungstendenzen, folgt man dem Indikator der steigenden Scheidungsraten? Fest steht, daß auch im Alltag stabiler Beziehungen heute weit mehr Fragen aufbrechen können als früher, etwa: Wollen wir zusammenleben oder soll jeder seine Wohnung behalten? Wollen wir Kinder, jetzt schon oder später oder vielleicht lieber gar nicht? Im Lebenslauf steht immer weniger unverrückbar fest. Immer häufiger muß man neue Anfänge machen, neue Entscheidungen fällen. Zwar leben die Menschen weiter in Bindungen, aber diese Bindungen sind nun anderer Art, was Umfang, Verpflichtungscharakter, Dauer angeht. Elisabeth Beck-Gernsheim zeigt, daß die traditionelle Familie nicht unbedingt verschwindet, sich auflöst. Aber offensichtlich wird sie das Monopol, das sie lange Zeit besaß, endgültig verlieren. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Beziehungsmuster kommen auf und breiten sich aus, die nicht auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art. Es entstehen Zwischen- und Nebenformen, Vorformen und Nachformen – die Konturen der »postfamilialen Familie«. Elisabeth Beck-Gernsheim, geb. 1946, lehrt als Professorin für Soziologie an der Universität Erlangen. Von ihr erschien in der Beck’schen Reihe »Die Kinderfrage« (BsR 362).
ELISABETH BECK-GERNSHEIM
Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen
VERLAG C. H. BECK
Mit zwei Abbildungen (S. 50 u. 51; mit freundlicher Genehmigung des Norstedts Förlag, Stockholm), zwei Graphiken und vier Tabellen
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie?: Einblicke in neue Lebensformen – Orig.-Ausg. -München : Beck, 1998 (Beck’sche Reihe ; 1243) ISBN 3 406 42043 5 Originalausgabe ISBN 3 406 42043 5 Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München Umschlagabbildung: Crate & Barrel, Chicago 1993 © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff ) Printed in Germany
unverkäuflich v. 16.9.2005
Inhalt
Kapitel 1 Die Neue Unübersichtlichkeit der Familie . . . . . . . . . . 9 Die Begriffe stimmen nicht mehr . . . . . . . . . . . . . . . 10 Das Verwirrspiel der Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Nur Schall und Rauch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Konturen der postfamilialen Familie. . . . . . . . . . . 20 Von der Unübersichtlichkeit der Familie in früheren Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Vom Aufstieg und Abstieg eines Familienleitbilds. . . . . . 29 Kapitel 2 Wenn Scheidung normal wird . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Stabilität der Familie – Pro und Kontra . . . . . . . . . . 36 Der Streit um die Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Begriffsdehnung und Umdefinitionen . . . . . . . . . . . . 40 2. Die Dynamik der Familienentwicklung . Normalisierung von Scheidung . . . . . . Selbstschutzstrategien. . . . . . . . . . . . Der Generationen-Effekt . . . . . . . . . .
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. 43 . 44 . 49 . 42
3. Komplizierte Verhältnisse: die Scheidungsfamilie. Umbruch und Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . Fortsetzungsehen und Wahlverwandtschaften . . . . Management der Gefühle und Bindungen . . . . . .
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. 58 . 58 . 61 . 64
4. Ausblick: Von der Normalbiographie zur Bastelbiographie . . . . . 69
Kapitel 3 Das Leben als Planungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Vom Aufstieg des Planungsdenkens Aktive Herstellungsleistung . . . . . Zwang zur Zukunft . . . . . . . . . . Expertenwissen breitet sich aus . . .
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2. Vorsorgedenken im Feld der privaten Beziehungen Die Partnerschaft proben. . . . . . . . . . . . . . . . Elternschaft planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Pränataldiagnostik in die »Schwangerschaft auf Probe«. . . . . . . . . . . . . . Mit Medizintechnologie vom Anfang bis zum Ende des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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74 75 77 79
. . . 83 . . . 83 . . . 89 . . . 92 . . . 98
3. Über die ungeplanten Nebenfolgen des Planungsprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Kapitel 4 Generationsvertrag und Geschlechterverhältnis . . . . 109 1. Traditionelle Erwartungen: Frauen als »heimliche Ressource« im Generationenverhältnis. Kinderbetreuung ist Frauenarbeit . . . . . . . . . . . Altenpflege ist Frauenarbeit . . . . . . . . . . . . . . Frauen im Dauerlauf, Leben im Dauerdruck . . . . 2. Die Zeiten ändern sich: Frauen als »knappe Ressource« im Generationenverhältnis . . . . Kinderhaben als Existenzrisiko . . . . . . . . Wer leistet Beistand im Alter? . . . . . . . . . Steigender Versorgungsbedarf, unsichere Zuständigkeit . . . . . . . . . . . .
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111 112 115 117
. . . . . . 121 . . . . . . 121 . . . . . . 126 . . . . . . 132
3. Auf der Suche nach neuen Modellen . . . . . . . . . . . 135
Kapitel 5 Wir wollen ein Wunschkind. . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Elternschaft in der Moderne: Optimale Förderung als Gebot . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Die Angebote der Pränatal- und Gendiagnostik Neue Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Länder, andere Werte . . . . . . . . . . .
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150 151 154 156
3. Die Verheißungen der Reproduktionsmedizin Wunschbilder und Wahlen. . . . . . . . . . . . Produkthaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nebenfolgen der Optimierung. . . . . . . .
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.161 162 166 168
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4. Welche Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kapitel 6 Auf dem Weg in die multikulturelle Familie . . . . . . . 173 1. Ein gesellschaft liches Ordnungsproblem . . . . . . . . 173 2. Beispiel USA: Wer ist ein Schwarzer? . . . . . . . . . . 178 Versuche, Ordnung zu schaffen . . . . . . . . . . . . . . .179 Verwirrung, Widersprüche, Paradoxien . . . . . . . . . 182 Warum heute neue Kontroversen entstehen . . . . . . . 184 3. Aus der Geschichte des Nationalsozialismus: Wer ist Jude?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Abstufungen der Aussonderung . . . . . . . . . . . . . . 189 Im Labyrinth der »richtigen« und der »falschen«Großeltern 192 Wie die Spurensuche heute aussieht. . . . . . . . . . . . 197 4. Schwierige Begriffe: die Last der Geschichte . . . . . . 198 5. Die Bundesrepublik heute: Wer ist Deutscher? . . . . . 206 Die Tücken der internationalen Heiratsund Familienstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 6. Vom Leben zwischen den Kulturen . . . . . . . . . . . 223 Vorsichtige Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Kapitel 1 Die neue Unübersichtlichkeit der Familie In den westlichen Industriegesellschaften der 50er und 60er Jahre wurde das Hohelied der Familie gesungen. In der Bundesrepublik wurde sie im Grundgesetz verankert und unter den besonderen Schutz des Staates gestellt; im Alltag war sie das anerkannte und allgemein angestrebte Lebensmodell; der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Theorie galt sie als notwendig für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft. Dann aber kamen – in den späten 60er, beginnenden 70er Jahren – Studentenund Frauenbewegung, brachten den Aufstand gegen die traditionellen Strukturen. Die Familie wurde entlarvt als Ideologie und Gefängnis, als Ort alltäglicher Gewalt und Unterdrückung. Was, im nächsten Gegenzug dann, diejenigen auf den Plan rief, die zur »Verteidigung der bürgerlichen Familie«1 antraten, sie als »Hafen in einer herzlosen Welt«2 wiederentdeckten. Der »Krieg um die Familie«3 war entbrannt. Jetzt war mit einem Mal auch nicht mehr klar, wer oder was Familie ausmacht: Welche Beziehungsformen sind als Familie zu bezeichnen, welche nicht? Welche sind normal, welche abweichend, welche sind der staatlichen Förderung würdig, welche sollen finanzielle Unterstützung erhalten? Heute, am Ende der 90er Jahre, ist die Situation weiter verworren. Die wilden Anti-Familien-Parolen der frühen 70er Jahre sind verstummt, stattdessen formiert sich – vor allem in den USA, zum Teil auch hierzulande – ein neuer 9
Kreuzzug, der »Familienwerte« beschwört.4 Wer daraus schließt, daß sich nun alles wieder rückwärts bewegt, unterliegt aber auch einer Täuschung, denn die fundamentalistische Familienrhetorik ist eher Reaktion, Versuch einer Gegenbewegung, als tatsächliche Rückkehr zu alten Formen und Normen. Wie Befragungen zeigen, lebt zwar bei einigen Gruppen das traditionelle Leitbild von Familie weiter fort; aber andere wenden sich entschieden dagegen; und für die Mehrheit kennzeichnend ist eine widersprüchliche Mischung aus traditionellen Sehnsüchten und neuen Erwartungen, unterschiedlich verteilt auf die Generationen und Geschlechter. Aus den Versatzstücken der Hoffnungen und Enttäuschungen, die aus diesem schwierigen Mischungsverhältnis erwachsen, ist in der Praxis eine Vielfalt von Lebens-, Liebes- und Beziehungsformen entstanden – von einigen erhofft, von anderen eher erlitten, von manchen auch erbittert bekämpft. Und das Resultat all dieser Veränderungen ist: In Politik, Wissenschaft, Alltag ist oft nicht mehr klar, wer oder was zur Familie gehört. Die Grenzen werden unscharf, die Definitionen schwanken. Die Verunsicherung wächst.
Die Begriffe stimmen nicht mehr Allein schon über Familie zu reden, ist unter diesen Bedingungen schwierig. Denn viele der gewohnten Begriffe stimmen nicht mehr, klingen überholt, vielleicht gar ein wenig verdächtig, viele können das Lebensge10
fühl und die Lebenswirklichkeit der jüngeren Generation nicht mehr abbilden. Man nehme etwa einen der Hauptbegriffe bei diesem Thema, den der »Ehe«: Gleich heißt es, man wird sich doch nicht am Trauschein festhalten. In Beruf, Freizeit, Alltag, selbst auf offiziellen Formularen und Einladungskarten, zunehmend ist von »Paaren«, »Partnerschaften«, »Beziehungen« die Rede. Der Trend geht zum »Lebensgefährten« oder gar, ironisch gewandt, zum »Lebensabschnittgefährten«. In der amtlichen Statistik allerdings gibt es noch den Begriff der »Alleinstehenden«. Wer aber meint, daß Alleinstehende auch allein leben, der irrt sich. Einige der als »alleinstehend« Gezählten leben mit anderen Personen in einer Wohngemeinschaft zusammen. Andere haben eine feste Partnerbeziehung, nur keinen gemeinsamen Haushalt. Für diese in Großstädten häufige Lebensform gilt: »Das Führen eines Einpersonenhaushaltes und der Familienstand des Ledigseins bedeuten also nicht Verzicht auf Partnerschaft, sondern zunächst nur, daß zwei Personen nicht die Lebensform der Ehe gewählt und obendrein entschieden haben, nicht zusammenzuziehen, sondern die Lebensform ›living apart together‹ bevorzugen«.5 An diesem Beispiel wird anschaulich deutlich, wie eine Variationsbreite, eine Feindifferenzierung von Lebensformen entstanden ist, für die in den gewohnten Kategorien unseres Bewußtseins – bzw. hier der offiziellen Haushaltsstatistik – kein Raum vorgesehen ist. Der Versuch aber, das Neue in die alten Kästchen zu pressen, gerät notwendigerweise verfälschend. Noch komplizierter wird es, sofern auch Kinder dazu11
kommen. In der bürgerlichen Gesellschaft war die lebenslange, standesamtlich legitimierte Einheit von Vater-Mutter-Kind das Leitbild. Im abweichenden Fall sprach man von »lediger Mutter«, auch »uneheliche Mutter« genannt, wobei immer mitschwang, der Mann habe sie sitzengelassen. Es war eine anrüchige Existenzform, irgendwo zwischen ausgenutzt und verworfen, die Schande des »gefallenen Mädchens«. Heute dagegen haben wir eine neue Kategorie, nun »Alleinerziehende« heißend, und die ist respektabel geworden und kommt auch in den Kreisen des besseren Bürgertums vor. Wobei der Begriff nun unterschiedliche Lebensformen umfaßt: zum einen die Frau, die zunächst verheiratet war, dann aber eine Scheidung durchmachte und in der Folge das Kind oder die Kinder alleine aufzieht; weiter die Frau, die nie verheiratet war und von Anfang an das Kind alleine aufzieht (vielleicht, weil sie es so wollte und plante, vielleicht auch, weil die Beziehung zum Vater vor Geburt des Kindes zerbrach); und schließlich die Frau, die nach den Kategorien der offiziellen Statistik als »Alleinerziehende« gilt, aber de facto dieses nicht ist, weil sie mit dem Vater des Kindes Tisch und Bett, Alltag und Kindererziehung teilt, nur eben: auf Trauschein und standesamtliche Legitimierung verzichtet. Und die Aufzählung ist damit noch keineswegs vollständig, es fehlen – zum Beispiel – die verwitweten Mütter, die alleinerziehenden Väter und die homosexuellen Partnerschaften mit Kind (die als Paar in Deutschland nicht anerkannt werden). Darüber hinaus ist, dank der Fortschritte der modernen Medizintechnologie, die uns diverse Varianten der 12
künstlichen Befruchtung gebracht hat, auch der Begriff »Elternschaft« (Vaterschaft, Mutterschaft) unklar geworden. Früher hieß es bekanntlich, »pater semper incertus«, wer der Vater ist, kann man nie mit Sicherheit sagen. Heute dagegen ist hier eine sichere Aussage möglich, man muß nur einen genetischen Test machen lassen. Dafür haben wir jetzt den Samenspender, der nichts ist als Erzeuger (und auch dies nur auf technologischem Umweg), der die Mutter oft gar nicht kennt, geschweige denn leiblich berührt hat. Gleichzeitig gilt nun ein Stück weit »mater incerta«, auch die Mutter ist unsicher geworden. Man nehme zum Beispiel die Leihmuttter, die sich mit Spendersamen befruchten läßt und gegen Entgelt die Schwangerschaft austrägt, damit ein fremdes Paar das heißersehnte Wunschkind bekommt. (Manchmal allerdings treffen alle vor dem Richter sich wieder und streiten darum, wer die »richtige« Mutter ist, wem das Kind nun gehört. Armer Richter.) Oder man nehme die ältere Frau, die die Wechseljahre schon hinter sich hat, dann die Eizellen einer jüngeren sich einpflanzen läßt und auf diese Weise zur Schwangerschaft kommt (wenn auch das Kind, das sie austrägt, biologisch gesehen nicht ihr eigenes ist). So viel zu den bekannteren Fällen – allerlei weitere Varianten lassen sich finden, wenn man die Berichte der Reproduktionsmedizin liest. Wichtig ist hier nur eines: Dank der neuen Optionen der Medizintechnologie werden Formen von Elternschaft möglich, die es bisher in der Menschheitsgeschichte nicht gab, ja die völlig unvorstellbar erschienen. Über den technischen Zugriff werden heute biologische und soziale Elternschaft 13
voneinander getrennt und in neuen Kombinationen zusammengebunden.
Das Verwirrspiel der Namen Hinzukommt, nicht nur die Medizintechnologie hat sich in rapidem Tempo entwickelt, auch das Familienrecht wurde geändert, und zwar gezielt mit der Absicht, neue Optionen und Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Zum Beispiel das Namensrecht: Früher gab es die Institution des Familiennamens und damit ein nach außen sichtbares Signal, wer zur Familie gehört. Heute gibt es in einer »Londoner Schule einen sechsjährigen Jungen, der keinen Nachnamen hat. Früher allerdings hatte er einen, genauer sogar zwei. Denn seine Eltern, die seit langem zusammenlebten, aber nicht verheiratet waren, hatten beschlossen, ihren drei Kindern offiziell Doppelnamen zu geben. Weil diese für den Alltag ein wenig umständlich waren, einigten die Eltern sich darauf, daß im täglichen Umgang die beiden Mädchen den Namen der Mutter führen sollten und der Sohn den Namen des Vaters. Als dann aber das Paar sich trennte, und zwar unter wenig harmonischen Umständen, ging die Mutter zur Schule, um den Namen des Sohnes abändern zu lassen. Der Vater erfuhr davon erst, als der Sohn mit dem Zeugnis ankam. Daraufhin ging der Vater zur Schule, eine neuerliche Umwandlung des Namens verlangend. Die Schule willigte ein, aber erklärte gleichzeitig, sie müsse auch dann wieder zustimmen, wenn die Mutter 14
im nächsten Schritt die nächste Namensänderung verlange. Inzwischen ist der Fall den örtlichen Behörden vorgelegt worden. Bis sie eine Entscheidung gefällt haben, sind die Hefte des Jungen und sein Schrankfach nur mit seinem Vornamen gekennzeichnet.6 Diese Geschichte ist, zugegeben, ein exotischer Fall, nicht die Regel. Nach der deutschen Rechtsprechung wäre sie auch nicht möglich gewesen. Aber seitdem in Deutschland ein neues Namensrecht gilt, haben auch hier schon interessante Namensverwandlungen stattgefunden. Man nehme zum Beispiel den Fall von Stephanie Scholz, einer jung verheirateten Frau: Als das neue Namensrecht eingeführt wurde, nahm die Mutter von Stephanie Scholz – entschlossen, die Tradition ihres politisch nicht ganz unbedeutenden Elternhauses weiterzuführen – ihren Geburtsnamen Curtius wieder an. Worauf ihre minderjährigen Kinder, bis dahin Scholz heißend, auch in Curtius umgetauft wurden. Was deren volljährige Geschwister nicht dürfen, aber wollen, zumal sie nun so heißen, Scholz nämlich, wie sonst niemand mehr in der Familie. Und weil Stephanie, volljährig, eigentlich auf Curtius zu klagen bereit ist, nun aber unter Scholz geehelicht hat, sie und ihr Mann sich langfristig WichCurtius zu nennen bestrebt sind, haben sie erst mal ihre Namen behalten – und warten auf die nächste Änderung des Namensrechts.7 Zugegeben, auch diese Geschichte ist nicht gerade Normalfall. Aber vorbei sind die Zeiten, als § 1355 des Bürgerlichen Gesetzbuchs lapidar festlegte: »Die Frau erhält den Familiennamen des Mannes«, und damit zu15
gleich auch der Namen der Kinder festgelegt war. Seit 1977 sind schrittweise neue Formen und Kombinationen möglich geworden, ergänzt durch zeitlich befristete Ubergangsregelungen. Nun kann man sich für einen gemeinsamen Familiennamen entscheiden (sei’s den Geburtsnamen des Mannes oder den der Frau); oder ein Partner kann einen Doppelnamen annehmen; oder beide können ihre Geburtsnamen wieder annehmen; oder gegebenenfalls den Namen des geschiedenen Ex-Partners ablegen; oder nach Jahren des gemeinsamen Lebens unter verschiedenen Namen sich doch noch zu einem gemeinsamen Namen entschließen. Und diese Regelungen bestehen nicht nur im Prinzip, sondern werden auch zunehmend benutzt. Wie der Verband des Standesbeamten mitteilt, einigen sich bereits 20 Prozent der Heiratswilligen nicht mehr traditionsgemäß auf den Familiennamen des Mannes, sondern ziehen andere Varianten vor.8 Was aber auf dem Papier noch einfach sich liest, erzeugt in der Praxis häufig Verwirrung, weil auf vielen Ebenen des Alltags die alten Erwartungen und Gewohnheiten zäh weiterbeharren: »Die Nachbarin im ersten Stock begreift es einfach nicht. Immer noch, nach mehr als zwei Jahren, sagt sie zu Bernhard Hammes ›Herr Galal‹. Seiner Gattin nämlich, Frau Galal, begegnet sie häufig im Hausflur. Deren Namen hat sie sich nun gemerkt. Aber durch diese neumodischen Regelungen blickt sie nicht durch. Seit 1991 sind Shadea Galal und Bernhard Hammes verheiratet. Doch sie behielten ihren Nachnamen. Shadea Galal ging es nicht nur um den erhabenen Klang ihres ägyptischen 16
Namens, sie sieht in ihm auch ein Teil ihrer Identität.« Wo aber wie hier eine Entscheidung für getrennte Namen gefällt wird, folgt ein Alltag voll der kleinen Plagen: falsch adressierte Briefe; Tischkarten, die einer nicht existenten Frau Hammas, Hammas-Galal oder Galal-Hammas einen Platz zuweisen. Auch das Ausfüllen von Formularen wird nicht einfacher, weil oft, zum Beispiel bei der Einkommenssteuererklärung, kein Platz ist für einen eigenen Namen der Frau. Sie kann ihn dann nur mit Kreuzchen auf der Rückseite hinzufügen, aber auch das hat seine Tücken: »Jadine Kirchner, seit knapp zwei Jahren mit Sven Hohmann verheiratet, fand ihre schon vermißt geglaubten Steuerunterlagen beim Buchstaben H – unter dem Namen ihres Mannes. Dort wurden sie automatisch eingeordnet. Gemeinsame Bankgeschäfte konnten Shadea Galal und Bernd Hammas erst nach Vorlage der Heiratsurkunde erledigen. ›Geschwister können sich dagegen leicht als Eheleute ausgeben‹ sagt Shadea Galal. ›Da fragt niemand nach – nur weil sie den gleichen Namen haben‹. Sven Hohmann trägt stets eine beglaubigte Heiratsurkunde im Portemonnaie: um im Fall eines Unfalls seiner Liebsten nicht an der Krankenhauspforte abgewiesen zu werden.« Und bei der Geburt eines Kindes gewinnt die Namensfrage erst richtig an Würze. »Im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft wird, wer nicht den Namen des Kindes trägt, ohne Nachweis kaum für Vater oder Mutter gehalten. Oder der Sprößling gilt als unehelicher Nachwuchs«.9
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Nur Schall und Rauch ? Für manche sind die neu geschaffenen Optionen – die Namenskombinationen und Kombinationsnamen – nur eine überflüssige Mode, umständlich, unpraktisch, dazu noch verwirrend, »weil man ja gar nicht mehr sieht, wer wie zusammengehört«. Aber eine solche Sichtweise bleibt der Oberfläche verhaftet. Sie nimmt nicht die Tiefenschichten des Wandels wahr, der in den äußeren Signalen sich Ausdruck verschafft. Wenn Anna Kahn, einen Walter Gruhl heiratend, dennoch weiter Kahn heißen will, so ist dies Symptom eines umfassenderen Wandels im Leben von Frauen, nämlich ihres Anspruchs auf ein Stück »eigenes Leben«,10 zu dem dann symbolisch auch der eigene Name gehört. Oder allgemeiner, mehr geschlechtsneutral formuliert: Wenn zwei, die sich qua Heirat verbinden, sich gleichzeitig für unterschiedliche Namen entscheiden, so ist dies Symptom für den Anspruch auf Selbständigkeit, der heute auch im Binnenraum der Beziehungen gilt und wechselseitig ausgeübt wird – nicht immer, aber immer mehr –, Symptom für ein Festhalten und Betonen der eigenen Biographie, Herkunft, Identität, für den Anspruch auf ein Stück eigenes Leben auch im Leben zu zweit. Darüber hinaus dürfte, wenn auch unausgesprochen und uneingestanden, hier die Erfahrung mitspielen, daß das Eheversprechen heute keinen Garantieschein auf Dauer enthält und, auch wenn man es noch so sehr will, die Partnerschaft nicht unbedingt lebenslang hält. Unter diesen Umständen ist es vielleicht klüger, in jedem Fall vorsichtiger, wenn man 18
nicht einen neuen Namen annimmt, der im Falle des Falles allerlei Peinlichkeiten bereitet, sei’s weil man ihn wieder loswerden muß, sei’s weil man die Erinnerung an den Ex-Partner damit weiter herumträgt. Und ähnlich wie die Namen der Familienmitglieder nicht bloß Schall und Rauch sind, sondern in sich schon die Geschichte des sozialen Wandels, etwa der Geschlechterverhältnisse tragen, so sind auch die Beziehungen, die die Familienforscher und Familienpolitiker für ihren Gegenstand verwenden, alles andere als gleichgültig. Auch diese Bezeichnungen verweisen auf den stattfindenden Wandel, und vor allem: auf die Kontroversen darum. Ob man von »Familie« im Singular spricht oder von »Familien« im Plural,11 ob man den Familienbegriff aufgibt und unter der Hand durch Begriffe wie »familiale Lebensformen« oder kurz »Lebensformen« ersetzt,12 das ist nicht Willkür oder akademische Haarspalterei. Vielmehr wird hier ein Richtungsstreit sichtbar, eine Frage, um die erbittert und anhaltend gekämpft wird: Soll man am traditionellen Bild der Familie festhalten – an jener Einheit von Vater-Mutter-Kind, standesamtlich legitimiert und lebenslang zusammengebunden –, soll man darin die richtige, die normale, die angemessene Form sehen? Sollen daran gemessen die anderen Formen als unvollständig und abweichend, defizitär und dysfunktional gelten? Oder soll man umgekehrt den Vorranganspruch der traditionellen Form abwehren? Soll man zur Kenntnis nehmen, was alles an Lebens- und Beziehungsformen jenseits der tradierten Normalfamilie entsteht? Und wo diese selbstbewußt Anerkennung verlangen, gleiche Rech19
te einklagen – z. B. im Erbrecht, im Steuerrecht, vor Behörden und Ämtern –, soll man diesem Anspruch dann nachkommen? Oder konkret, um wieder den Bogen zur modernen Medizintechnik zu schlagen: Sollen die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung nur denen offenstehen, die ehelich verheiratet sind, weil dieser Rahmen noch immer die beste Gewähr bietet für das Wohlergehen des Kindes? Oder soll Zugang erhalten, wer immer ein Kind will – auch die unverheirateten Paare, auch die homosexuellen Paare, auch die, die partnerlos sind –, weil das Kind Zuwendung und Zuneigung braucht, nicht behördliche Stempel? Oder will man zwar grundsätzlich den verschiedensten Lebensformen ein eigenes Existenzrecht zuerkennen, aber da, wo es um das planmäßig medizintechnische Vorhaben der Elternschaft geht, doch zumindest eine feste Partnerschaft zur Voraussetzung machen, um den Bedürfnissen des Kindes (wie definiert? woran gemessen?) Rechnung zu tragen?
Die Konturen der postfamilialen Familie Damit sind wir schon mitten im Thema, das die folgenden Kapitel aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit wechselnden Schwerpunkten aufgreifen. Um den Grundgedanken vorweg zu umreißen: Es geht darum, was passiert, wenn die festen Vorgaben von einst – verankert in Religion, Tradition, Biologie usw. – zwar nicht gänzlich verschwinden, aber doch viel von ihrer einstigen Stärke einbüßen; wenn in der Folge neue 20
Wahlmöglichkeiten, Optionen, Entscheidungsspielräume entstehen; wenn diese allerdings nicht im freien, im gesellschaftsfreien Raum existieren, sondern auf ihrer Kehrseite neue soziale Regelungen, Zwänge, Kontrollen enthalten. Es geht darum, wie – soziologisch formuliert – der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte und Jahre immer stärker in den Bereich von Familie, Ehe, Elternschaft eingreift, dabei die Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie zwischen den Generationen nachhaltig verändert. Kurz, es geht darum, wie unter den Bedingungen von Individualisierung ein historisch neues Spannungsverhältnis entsteht, das Beziehungen wohl nicht einfacher macht, dafür vielleicht reizvoller, im durchaus doppelten Sinne des Wortes. Und was ist dann mit der provozierenden Frage: Was kommt nach der Familie? Manche meinen, wer von Individualisierung spricht, spreche damit ineins vom Ende der Familie und sehe am Horizont schon die SingleGesellschaft.13 Aber das ist ein Mißverständnis, und kein geringes. Das Bild, das die folgenden Kapitel zu zeichnen versuchen, ist nicht so einfach und eindimensional. Im Zentrum steht vielmehr ein Spannungsverhältnis, das schon vom Ansatz her vielschichtiger ist, seine eigenen Widersprüche und Paradoxien enthält, und dies eben nicht zufällig, sondern weil im Zuge von Individualisierungsprozessen beides erzeugt wird: der Anspruch auf ein Stück eigenes Leben und die Sehnsucht nach Bindung, Nähe, Gemeinschaft. Unter diesen Bedingungen heißt die Antwort auf die Frage, was kommt nach der Familie, ganz einfach: Die Familie! Anders, mehr, besser, die Verhand21
lungsfamilie, die Wechselfamilie, die Vielfamilie, die aus Scheidung, Wieder verheiratung, Scheidung, aus Kinder deiner, meiner, unserer Familienvergangenheiten und -gegenwarten hervorgegangen ist; die Ausfaltung der Kleinfamilie, ihre Verzeitlichung, das Bündnis der Vereinzelten, das sie darstellt, ihre Verzärtelung und Überhöhung, die ja nicht zuletzt auch auf ihrem Monopolcharakter als lebbare Gegenwelt beruht, den sie in der enttraditionalisierten, abstrakten, von Katastrophen gezeichneten Risiko- und Wohlstandsgesellschaft gewinnt.14 So gesehen ist nicht zu erwarten (um den Mißverständnissen nochmals entgegenzutreten), daß die Menschen, egoistisch und hedonistisch geworden, nur noch nach eigenen Bedürfnissen leben und flächendeckend ungeordnete, ja wilde Verhältnisse sich ausbreiten. Wohl aber ist zu erwarten, daß für immer mehr Menschen stabile Phasen im Lebenslauf abwechseln mit anderen – vor der Ehe, neben der Ehe, nach der Ehe, mit oder ohne Trauschein verstanden –, wo man oder frau mit Beziehungsformen spielt, jongliert, experimentiert, und dies teils freiwillig, teils eher gezwungenermaßen. Und zu erwarten ist auch, dies bitte nicht zu vergessen, daß im Alltag auch der stabilen Beziehungen heute weit mehr Fragen aufbrechen können, die – weil es früher solche Optionen nicht gab, oder nur in seltenen Ausnahmefällen, oder weil die verbindlichen Vorgaben von früher heute brüchig geworden – nun bewußte Entscheidungen verlangen; die dabei manche Entscheidungskonflikte erzeugen, in der Folge nicht selten eine eigene Dynamik und Dramatik gewinnen, was die Beteiligten oft unvorbereitet 22
und ahnungslos trifft. Um aus dem Spektrum der Fragen nur ein paar anzudeuten, und zwar nicht die exotischen, sondern die aus dem ganz normalen Alltag bekannten, die auch in den folgenden Kapiteln immer wieder angerührt werden: Wollen wir zusammenziehen oder soll, vielleicht zunächst einmal, vielleicht auch länger, jeder seine Wohnung behalten? Wollen wir Kinder, jetzt schon oder später oder vielleicht lieber gar nicht, oder wollen wir die Entscheidung noch offen halten? Wenn sich herausstellt, daß wir auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen, wollen wir es mit den Methoden der künstlichen Befruchtung versuchen, und was aus der Palette der medizinischen Angebote wollen wir mitmachen? Wenn einer von uns eine gutbezahlte und sichere Stelle in einer anderen Stadt findet, zieht die Familie dann mit, oder probieren wir es mit Wochenend-Ehe und Pendeln? Wenn die Schulferien kommen, wer betreut dann die Kinder, was tun wir im Fall einer Krankheit, und was ist, wenn auch noch die Oma verreist? Wenn die Schwiegereltern im Alltag mehr Hilfe brauchen, wenn der Opa zum Pflegefall wird, wer sorgt dann für sie? Wenn mein Mann mich verlassen hat oder ich ihn, wir beide in neuen festen Bindungen leben, soll ich weiter die (Ex)Schwiegereltern zum Geburtstag der Kinder einladen, den Kontakt zu seiner Familiensippe erhalten? Wenn mein Partner Ausländer ist, wollen wir für immer hier bleiben oder eines Tages in sein/ihr Heimatland ziehen? Sollen die Kinder zweisprachig aufwachsen, beide Staatsangehörigkeiten bekommen, und welche Identität wollen wir ihnen vermitteln? 23
Ein Katalog von Fragen, spiegelbildlich die Hoffnungen und Enttäuschungen, Chancen und Schrecken des Lebens unter Individualisierungsbedingungen anzeigend. Ein Katalog von Fragen, die im Alltag eine subversive Kraft, ja nicht selten eine stille, beharrliche, zähe Bosheit entfalten. Und eines vor allem wird sichtbar daran: Im Lebenslauf steht immer weniger ein für alle Mal fest. Immer häufiger muß man neue Anfänge machen, neue Entscheidungen fällen. Wo die Individualisierungsdynamik sich durchsetzt, wird mehr Aufwand als früher nötig, um im Familienalltag die verschiedenen Einzelbiographien noch zusammenzuhalten. Wieviel Dramaturgie und Diplomatie kostet das! Während man in der Vergangenheit auf eingespielte Regeln und Rituale zurückgreifen konnte, beginnt heute eine Inszenierung des Alltags, eine Akrobatik des Abstimmens und Ausbalancierens. Im Ergebnis wird der Familienverband fragil, ist vom Auseinanderbrechen bedroht, wo die Abstimmungsleistungen nicht gelingen. Zwar leben die Menschen weiter in Bindungen, aber diese Bindungen sind nun anderer Art, was Umfang, Verpflichtungscharakter, Dauer angeht. Das heißt nicht, die traditionelle Familie verschwinde, löse sich auf. Aber offensichtlich verliert sie das Monopol, das sie lange besaß. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Lebensformen kommen auf und breiten sich aus, die nicht oder jedenfalls nicht zumeist auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art: z. B. ohne Trauschein oder ohne Kinder; Alleinerziehende, Fortsetzungsfamilien oder Partner desselben Geschlechts; Wo24
chendend-Beziehungen und Lebensabschnittgefährten; Leben mit mehreren Haushalten oder zwischen verschiedenen Städten. Es entstehen mehr Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen; Das sind die Konturen der »postfamilialen Familie«.
Von der Unübersichtlichkeit der Familie in früheren Zeiten Was soll daran wesentlich Neues, was soll daran so aufregend sein, mag angesichts dieser Diagnose vielleicht einer fragen.15 Auch in früheren Jahrhunderten gab es doch vielerlei Lebensformen, nicht nur die Einheitsfamilie. In den Geschichtsbüchern liest man von Königen, Fürsten, Herzögen, die »Ehen zur linken Hand« führten, offiziell Maitressen aushielten und ihre illegitimen Sprößlinge mit Adelstiteln und Besitztümern bedachten. Studiert man sozialhistorische Berichte, kann man Statistiken entdecken, wonach manche Regionen bereits im 19. Jahrhundert einen hohen Anteil unehelicher Geburten aufwiesen, ja zum Teil einen höheren als heute. Und schaut man in alte Kirchenregister und Familienstammbücher, findet man darin zahlreiche Zweitehen und Drittehen verzeichnet und allerlei Stiefgeschwister: »Nehmen wir beispielsweise den Fall des Frankfurter Kaufmanns Peter Anton Brentano. 1735 geboren, war er in erster Ehe mit einer Cousine verheiratet, die ihm sechs Kinder gebar und 1770 verstarb. Drei Jahre später heiratete er zum zweiten Mal: die 17jährige, d. h. 21 Jahre jüngere 25
Maximiliane von La Roche. In den gemeinsamen zwanzig Ehejahren brachte sie zwölf Kinder zur Welt und starb 1793, im Alter von 37 Jahren. Danach freite Brentano ein drittes Mal und zeugte mit seiner neuen, wiederum sehr viel jüngeren Frau vor seinem Tod 1797 nochmals zwei Kinder. Ein ähnliches, aber unbekannteres Beispiel: 1756 heiratet der 27jährige Kaufmann Johann Peter Müllensiefen die Gutsbesitzerstochter Anna Elisabeth Heuser, die 1763 nach der Geburt von drei Kindern stirbt; ein Jahr später geht er die Ehe mit Anna Maria Birkenbach ein, die 1770 nach der Geburt von zwei Kindern das Zeitliche segnet; zwei Jahre später heiratet er ein drittes Mal und hat mit seiner neuen Gattin noch einmal zwei Kinder. Sein Sohn aus zweiter Ehe, der 1766 geborene Peter Eberhard, bringt es dagegen nur auf zwei Ehen: die erste, 1794 geschlossen, hält nur drei Jahre, dann stirbt Frau Minna im ersten Kindbett; fünf Monate nach ihrem Tod heiratet der Witwer erneut. Die elf Jahre jüngere zweite Gattin stirbt kurz nach der Geburt des neunten Kindes im Alter von 37 Jahren. Der jetzt 48jährige Müllensiefen geht keine neue Ehe mehr ein«.16 Wieviel Wechsel, wieviel Unübersichtlichkeit also auch damals! Fasziniert von den abrupt endenden, alsbald wieder neu einsetzenden Eheverläufen nimmt man nur beiläufig wahr, was den Unterschied ausmacht und wo die historische Analogie ihre Grenze erreicht: In früheren Jahrhunderten war die hohe Zahl der Fortsetzungsehen und Fortsetzungsfamilien bedingt durch die hohe Sterblichkeit damals. Heute dagegen ist sie eine Folge der hohen Scheidungsquoten. Im einen Fall also ein äußerer 26
Schicksalsschlag, in anderen ein willentlicher Akt, auf eigener Entscheidung (zumindest eines der Partner) beruhend. Dies ist kein beiläufiger Unterschied, im Gegenteil. Auf der Ebene der persönlichen Erfahrung beim Tod des Partners zwar das Gefühl von Verlust, Trauer, Schmerz – aber eben nicht jene spezifische Bitterkeit der Emotionen, der wechselseitigen Anklagen, Kränkungen, Verletzungen, auch der inneren Schuld- und Versagensgefühle, die oft mit Scheidung einhergehen; und auch kein nachehelicher Streit, kein Kampf mit dem ExPartner um Kinder, Unterhalt, Aufteilung der gemeinsamen Güter; also nicht jene typischen Bestandteile des Scheidungs-Pakets, die, sozialstrukturell betrachtet, eine Eigendynamik enthalten und die Individualisierungsspirale weiter vorantreiben.17 Und erst recht gilt, die Fortsetzungsfamilien enthielten früher keinen Verstoß gegen das vorherrschende Gebot, vielmehr wurde die Traumformel »Bis daß der Tod Euch scheidet« durchaus wörtlich genommen. Dagegen sind die Fortsetzungsfamilien heute ein Indiz dafür, daß eben dies Leitbild brüchig geworden ist. Wenn, wie in Deutschland, heute jede dritte Ehe vor dem Scheidungsrichter endet, und in anderen westlichen Ländern noch deutlich mehr – dann kann im Ernst niemand mehr sagen, die Ehe als lebenslange Gemeinschaft sei Institution, ein allgemein anerkanntes und allgemein respektiertes Gebot. Statt dessen ist jene alte Trauformel allmählich und leise durch eine neue Leitformel ersetzt worden, etwa der Art »Solange es gut geht«, mit anderen Worten, wir bleiben zusammen, solange wir wollen. Was, wenn auch uneingestanden, den 27
Lebensweg offenhält für neue Optionen, für neue Reize und Bindungen. Und dann die hohen Herren und Herrscher! Ohne hier die Geschichte ihrer Maitressen, Nebenfrauen, Gespielinnen im Detail schreiben zu wollen – man kann wohl als historisch belegt annehmen, daß viele auch in dieser Hinsicht einen auf wendigen Lebensstil pflegten. Sie konnten sich, jedenfalls in den Epochen ihrer größten Machtfülle, vieles herausnehmen, was für die Untertanen nicht zulässig war – in Liebesaff ären wie in anderen Bereichen. Niemand durfte es wagen, ihnen entgegenzutreten, und wer es doch tat, lebte gefährlich. Nehmen wir den legendären Heinrich VIII von England mit seinen sechs Frauen: Um dahin zu kommen, ließ er eine der lästig gewordenen Gattinnen qua Hinrichtung aus dem Weg räumen und darüber hinaus eine neue Staatskirche einrichten, nicht zuletzt zu dem Zwecke geschaffen, die Scheidung zu ermöglichen. Wie unschwer zu sehen, solche Auswege stehen nicht jedermann offen. Als dann die Zeiten demokratischer wurden, mußten zunehmend auch die Herrscher den Geboten sich beugen. Nehmen wir dafür Eduard VIII., einen späten Nachfolger jenes Heinrich: Weil er, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, sein Herz an eine geschiedene Mrs. Simpson verlor, und weil er auch nicht davon ablassen wollte, sie in offiziellem Ehebund zu seiner legitimen Gattin zu machen, mußte er auf Thron und Krone verzichten. Der Ärmste, hätte er doch nur ein wenig später gelebt. Inzwischen, zu Ende des 20. Jahrhunderts, füllen die Bett- und Liebesgeschichten, die Ehe- und Scheidungsdramen der 28
britischen Royals die Klatschspalten der einschlägigen Blätter. Was aber nun nicht mehr heißt, daß die Herrscher nach eigenen Gesetzen leben, sondern im Gegenteil: daß die alten Leitbilder brüchig geworden, und zwar ganz demokratisch durch alle Schichten der Gesellschaft, von oben bis unten. In einem Land wie Großbritannien, wo heute etwa 40 Prozent der Ehen durch Scheidung enden, stellen die bewegten Familiengeschichten diverser Mitglieder der Königlichen Familie keine Ausnahme dar, sondern liegen ganz im allgemeinen Trend (nur geraten sie mehr ins Scheinwerferlicht). Und wozu muß man heiraten? fragt sich nun Charles, selber geschieden, und trifft seine ebenfalls geschiedene Camilla, gibt ihr sein Herz, nicht aber die Hand. Onkel Eduard, der konnte und wollte sich noch nicht auf solche Unterscheidungen einlassen.
Vom Aufstieg und Abstieg eines Familienleitbilds Die genannten historischen Beispiele geben nur einzelne Ausschnitte wieder, nicht ein umfassendes Bild »der« Familie quer durch verschiedene Epochen, Regionen und Bevölkerungsschichten. Aber sie vermitteln zumindest eine Ahnung davon, daß jene Familienform, die wir abkürzend als »traditionelle« bezeichnen, durchaus nicht seit Beginn der Menschheitsgeschichte besteht, deshalb auch nicht die einzig »natürliche« und richtige ist. Vielmehr, das lassen differenziertere historische Untersuchungen durchgängig erkennen, hat diese Famili29
enform sich erst relativ spät herausgebildet, zum Teil unter dem Einfluß des Christentums und seiner Lehren, und wesentlich dann mit dem Übergang von der vorindustriellen Gesellschaft zur Industriegesellschaft, mit dem Wandel der Familie von der Arbeits- zur Wirtschaftsgemeinschaft, mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert. Das waren die Bedingungen, unter denen das Leitbild der »traditionellen« Familie – die lebenslange Gemeinschaft von Vater-MutterKind, offiziell legitimiert, durch Emotionalität und Intimität zusammengebunden – zur Höchstform gelangte und auch in der Realität sich immer mehr auszubreiten begann, wenn sie sich auch zuerst noch gegen mancherlei Widerstände durchsetzen mußte. Betrachten wir dazu, als letztes historisches Beispiel, jene Regionen, für die die demographischen Statistiken im 19. Jahrhundert einen hohen Anteil unehelicher Geburten verzeichnen. Soll man daraus schließen, daß die Sitten dort freizügiger waren, ja gar »wilde« Verhältnisse vorherrschten? Wer solches erwartet, wird enttäuscht. Aus historischen Studien, den darin beschriebenen sozialstrukturellen Hintergründen geht nämlich hervor, daß es sich oft um durchaus geordnete Verhältnisse handelte, dauerhaft und auch sozial anerkannt. Das Hindernis, das der offiziellen Eheschließung entgegenstand, lag in äußeren Umständen (bäuerliche Erbfolgeregelungen und Heiratsverbote für Besitzlose). So heißt es in einer sozialhistorischen Studie über uneheliche Geburten in Österreich: »Diese häusliche Gesindehaltung ist die Hauptursache der Unehelichkeit, denn auf dem Lande ist es 30
Brauch, daß der Sohn oder die Tochter als Knecht oder Magd in der Wirtschaft des Vaters oder in einer anderen Wirtschaft tätig ist, daß aber der Sohn erst heiratet, wenn er vom Vater das Gut übernommen hat. Daher muß der Sohn oft jahrelang mit der auserkorenen Braut auf das Ehebündnis warten«.18 »Die auserkorene Braut«: Diese Formel zeigt im Grunde schon an, was angestrebt war. Man wollte ja heiraten, nur man konnte nicht, jedenfalls nicht vor der Hofübergabe. Wie wirksam die Ehe als Norm im 19. Jahrhundert war, das zeigt sich gerade auch daran, daß der um das Familienrecht geführte Kampf im 19. Jahrhundert ein Kampf um die Ehe, für die Ehe war, genauer für Regelungen, die Menschen aller Besitzklassen und Stände eine »legitime« Verbindung zugänglich machten.19 Genau das ist anders geworden: Heute, im ausgehenden 20. Jahrhundert, sind die äußeren Ehehindernisse längst beseitigt – aber dennoch leben immer mehr Paare unverheiratet zusammen, und nicht wenige bleiben in dieser Lebensform auch, wenn sie Kinder bekommen. Also nicht wegen des Zwangs äußerer Umstände, sondern freiwillig aus eigenem Entschluß: Sie sehen keinen Sinn, keine Notwendigkeit mehr, ihre Verbindung durch amtlichen Stempel legitimieren zu lassen. Fassen wir zusammen, um die Lehre aus den historischen Beispielen zu ziehen: Richtig ist, auch früher hat es eine Palette von Lebensformen gegeben, nicht nur die Einheitsfamilie. Aber während dies früher meist an äußeren Umständen lag, liegt es heute meist an der eigenen Entscheidung. Diejenigen, die heute ihr Leben nicht nach 31
dem Modell der sogenannten Normalfamilie führen, tun dies oft deshalb, weil die alten Wertungen, was »normal« bzw. »abweichend« ist, für sie nicht mehr Sinn machen; oder vielleicht auch, weil sie es zwar einmal versuchten, aber diese Lebensform sich für sie nicht als haltbar erwies. Pointiert formuliert: Wo es früher zwar manche Ausnahmen gab, jedoch und nachdrücklich auch feststehende Regeln, ist heute in vielerlei Hinsicht schlicht nicht mehr klar, was Ausnahme ist und was Regel. Und erst recht ist nicht mehr klar, wo man für die neuen Fragen und Entscheidungen überhaupt Orientierungen und Wegweiser findet – angesichts einer global werdenden Welt, angesichts der Optionen von Wissenschaft und Technik, angesichts der Risiken des Arbeitsmarktes, angesichts all solcher Entwicklungen, die in den Bereich des Privaten hereinschwappen. Kurz, für nicht wenige aus der mittleren und älteren Generation, mehr noch für die Jüngeren gilt: Die Landschaft des Familienlebens hat sich geöffnet, das Terrain ist unsicher geworden. Immer mehr Menschen basteln sich ihre eigenen Lebensformen zusammen, aus Versatzstücken dieser und jener Hoffnungen, manchmal erfolgreich und manchmal auch nicht. Das ist der Stoff, aus dem die neue Unübersichtlichkeit entsteht.
Kapitel 2 Wenn Scheidung normal wird1 »Das Scheidungsgeschehen ist lebhaft« (der Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid). »In Zeiten, da die Ehe ein widerrufbarer Entschluß ist, hat selbst eine Scheidung etwas Eintöniges. Sie erfreut sich einer Popularität, die einen anwidern kann« (der Schriftsteller Wolf Wondratschek ).
Andrew J. Cherlin, einer der bekanntesten Familienforscher der USA, veröffentlichte 1981 ein Buch mit dem Titel »Marriage, Divorce, Remarriage«. Im Vorwort zur 1992 erschienenen Neuauflage schreibt Cherlin, um den in der Zwischenzeit erfolgten Wandel der Beziehungsund Lebensformen abzubilden, müsse der Titel nun eigentlich lauten »Cohabitation, Marriage, Divorce, More Cohabitation, and Probably Remarriage«4. Da ein solcher Titel offensichtlich zu lang und unhandlich sei, bleibe es beim alten. Aber um die zunehmende Vielfalt der Beziehungsformen anschaulich vor Augen zu führen, beginnt Cherlin mit einer hypothetischen Lebensgeschichte: »Als Bill zehn Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und ließen sich scheiden. Er lebte bei seiner Mutter und sah seinen Vater jeden Samstag. Vier Jahre später heiratete seine Mutter wieder, und Bill bekam zusätzlich einen Stiefvater. Mit achtzehn verließ Bill sein Zuhause, 33
um auf das College zu gehen, und nach dem Examen zogen er und seine Freundin zusammen. Anderthalb Jahre später heirateten sie und bekamen bald danach ein Kind. Nach einigen Jahren ging die Ehe jedoch auseinander. Bill und seine Frau ließen sich schließlich scheiden, und Bills Frau erhielt das Sorgerecht. Drei Jahre später heiratete Bill eine Frau, die ein Kind aus einer vorangegangenen Ehe hatte, und sie bekamen dann noch ein gemeinsames Kind. Bills zweite Ehe dauerte fünfunddreißig Jahre, bis zu seinem Tod.« Wie Cherlin hinzufügt, ist eine solche Lebensgeschichte auch heute nicht gerade durchschnittlich oder repräsentativ für die Mehrheit, das Neue ist aber: sie ist auch nicht mehr außergewöhnlich. »Die meisten jungen Leute heute werden nicht alle der in diesem Beispiel genannten Ereignisse durchlaufen, aber wenn die Zahlen von Heirat, Scheidung, Wiederheirat und nichtehelichem Zusammenleben in der nahen Zukunft nicht zurückgehen, werden es viele sein. Und noch viel mehr der jungen Leute werden Familiengeschichten aufweisen, die kaum weniger kompliziert sind. In den fünfziger Jahren wäre jemand mit einer solchen Familiengeschichte die Ausnahme gewesen. In den neunziger Jahren dagegen ist er nicht mehr außergewöhnlich.«5 Wenn man die sozialwissenschaft liche Diskussion in den USA überblickt, so kann man sagen, daß sich wohl die allermeisten von Cherlins Kollegen dieser Einschätzung anschließen dürften. Anders ist dagegen die Situation in der bundesdeutschen Familienforschung. Hier ist die Diskussion viel mehr gespalten, von Polarisierungen 34
und Lagerbildungen gekennzeichnet, dazu auch emotional aufgeladen. Der Streit geht um Fakten wie Werte, um Details, aber auch um den grundsätzlichen Rahmen und Kern. Manche Wissenschaftler sehen massive Umbrüche, vielleicht gar das Ende der traditionellen Familie; andere wenden sich gegen das, was sie das dauernde Krisengerede nennen, und halten dagegen; die Familie lebt, die Zukunft gehört der Familie; die dritten bewegen sich irgendwo dazwischen, sprechen vorzugsweise von Pluralisierungs-Tendenzen. Wobei, was die Debatte besonders reizvoll macht, sich alle Parteien auf empirische Daten, insbesondere auf demographische Statistiken berufen. Im folgenden will ich mich zunächst mit Deutungen befassen, die Kontinuität und Stabilität der Familie behaupten. In der Auseinandersetzung mit ihnen will ich zeigen, wo sie systematisch die Elemente des Wandels unterschätzen und vor diesem Hintergrund dann eine Perspektive entwickeln, die bewußt die Dynamik der Familienentwicklung heute ins Blickfeld rückt. Mein Ziel ist es nicht, in der aktuellen Diskussion zur Dramatisierung beizutragen oder Entwarnung zu geben. Statt dessen will ich zeigen, wie die Familie weiterhin lebt, aber zunehmend brüchig gerät, pointiert zusammengefaßt: Die »Normalisierung der Brüchigkeit« wird die Zukunft der Familie ausmachen.
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1. Stabilität der Familie – Pro und Kontra
Der Streit um die Zahlen Diejenigen, die die Stabilität der Familie betonen, sehen in Diagnosen von Umbruch und Wandel nicht viel mehr als modische Zeitdiagnosen. Da würden, so ein häufiger Vorwurf, doch nur Erfahrungen des persönlichen Umfeldes verallgemeinert, da fehle die solide Kenntnis der empirischen Daten, kurz: der Wandel würde enorm überschätzt, die tatsächliche Entwicklung verliefe weit weniger spektakulär. So z. B. Norbert F. Schneider: »Dies gilt etwa für die ›ständig steigenden Scheidungen‹, eine Entwicklung, die immer wieder behauptet wird, obwohl die Scheidungshäufigkeit in Westdeutschland zwischen 1984 und 1992 eher rückläufig war. Ein anderes Beispiel ist die immer wieder vorgetragene Behauptung einer ständig ›wachsenden Zahl von Scheidungskindern‹: tatsächlich – ihre Zahl ist gestiegen, ich meine aber, daß ein Anstieg von 86 000 im Jahr 1970 auf 90 000 im Jahr 1992 nicht gerade dramatisch ist.«6 So weit Schneider. Ich werde, da die Auseinandersetzung nicht zuletzt um Zahlen geführt wird, im ersten Schritt auf derselben Ebene bleiben und die von Schneider genannten Zahlen ein wenig ergänzen, damit die aktuelle wie die historische Entwicklung sichtbarer wird. Zunächst zu den von Scheidung betroffenen Kindern: Im Jahr 1960 waren es noch 45000 gewesen, im Jahr 1992 dann 920007 und 1996 schließlich stieg ihre Zahl auf 36
125 000.8 Man kann wohl ohne höhere mathematische Begabung erkennen, daß hier ein erheblicher Anstieg stattgefunden hat, und zwar innerhalb weniger Jahrzehnte. Und was die Scheidungen selbst angeht, für die Schneider nur den Zeitraum bis 1992 betrachtet: Hier ist zu ergänzen, daß deren Zahl in den folgenden Jahren deutlich weiter anstieg und inzwischen einen neuen historischen Höchststand erreicht hat.9 Zur besseren Einschätzung ist es hilfreich, auch die Entwicklung der Scheidungszahlen über längere Zeiträume zu betrachten:
Jahr 1900 1920 1930 1950 1960 1970 1980 1990 1995 1996
Ehescheidungen in Deutschland Je 10000 Ein- Je 10 000 beInsgesamt wohner stehende Ehen 7928 1,4 8,1 36 542 5,9 32,1 40 722 6,3 29,5 84 740 16,9 67,5 48 878 8,8 35,0 76 520 12,6 50,9 96 222 15,6 61,3 122 869 19,4 81,0 147 945 21,9 92,3 152 798 22,5 95,2
Die Zahlen ab 1950 beziehen sich auf Westdeutschland. Quellen: Statistisches Bundesamt 1990, S. 127; Statistisches Bundesamt 1995, S. 108; Hammes 1996, S. 770; Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes No 211/97, 24.7. 1997.
Der Blick auf diese Statistiken zeigt, daß die These des Wandels eine solide empirische Fundierung aufweisen kann. Pointiert zusammengefaßt: An den empirischen Daten läßt sich tatsächlich eine Kontinuität und Stabilität erkennen – freilich nicht eine Stabilität der Familie, sondern eher eine Stabilität des Wandels. Was nämlich 37
im historischen Ablauf sich immer deutlicher herauskristallisiert, ist die Abkehr vom traditionellen Ehemodell, das auf lebenslange Dauer angelegt war (»Bis daß der Tod Euch scheidet«), und die allmähliche Hinwendung zu einem neuen Ehemodell, das die Möglichkeit der Scheidung mitenthält (nicht als angestrebtes Ziel, nur als stille Option, als Ausweg gegebenenfalls). Was Frank F. Furstenberg für die USA schreibt, läßt sich der Tendenz nach inzwischen auch in Deutschland beobachten: ein innerer Bedeutungswandel der Ehe habe stattgefunden, und zwar »von einer Bindung, die selbstverständlich ein Leben lang gilt, zu einer Bindung, die nur unter bestimmten Bedingungen aufrechterhalten wird.«10 So viel zu den Scheidungszahlen. Dabei können diese den Wandel der Lebens- und Beziehungsformen nur teilweise wiedergeben, weil sie nur die Auflösung jener Verbindungen anzeigen, die standesamtlich registriert und legitimiert wurden. Da aber die Zahl der nichtehelichen Verbindungen (der »Ehen ohne Trauschein«, der Lebensgefährten und Lebensabschnitt-Gefährten) in den letzten Jahren enorm gestiegen ist,11 muß man, um ein realistisches Bild zu gewinnen, den Blick auch auf die in diesem Bereich stattfindenden Trennungen richten: Neben den offiziellen Scheidungen sind auch die »Scheidungen ohne Trauschein« Teil der Beziehungswirklichkeit heute. Dazu einige Befunde aus neueren empirischen Untersuchungen. Im Familien-Survey des Deutschen Jugendinstitutes wurden Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen gefragt, wieviele Partnerschaften (von mindestens einjähriger Dauer, egal ob standesamtlich legitimiert 38
oder nicht) sie im Lauf ihres Lebens gehabt hatten. Das Ergebnis lautet, nicht unbedingt überraschend, daß die Befragten der jüngeren Jahrgänge deutlich mehr Partnerschaften durchlebt hatten: »Relativ kontinuierlich sinkt mit jeder jüngeren Geburtskohorte der Anteil derjenigen, die nur eine Beziehung hatten«, und es steigt der Anteil derjenigen, die mehrere Beziehungen hatten. Wo aber mehr Beziehungserfahrung, da auch mehr Trennungserfahrung, so die Aussage der Studie: »Da dem Beginn jeder weiteren Beziehung das Ende einer vorherigen vorausgeht oder damit zumindest über kurz oder lang einhergeht, bedeuten diese Ergebnisse, daß junge Menschen heute auch sehr viel mehr Trennungserfahrung gemacht haben als früher«12. In ähnlicher Richtung weisen Daten aus einer empirischen Studie von Vaskovics/Rupp, die »Partnerschaftskarrieren« untersucht oder genauer »Entwicklungspfade nichtehelicher Lebensgemeinschaften«.13 Obwohl in die Erhebung nur solche Paare einbezogen wurden, deren Lebensform auf Stabilität angelegt war14, ergab sich folgender Befund: »Im Verlauf der vier Beobachtungsjahre hat sich ca. jedes vierte Paar getrennt«.15 Nun sagen solche Zahlen sicher nicht darüber aus, wie die betroffenen Personen die Trennung erleben, als Befreiung oder Unglück. Aber ein quantitativer Aspekt zumindest läßt sich zweifelsfrei ablesen, nämlich: Auch die Zahl der »Scheidungen ohne Trauschein« ist beträchtlich. Innerhalb wie außerhalb der Ehe gilt, es wächst die Zahl der Beziehungen wie der Trennungen.
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Begriffsdehnung und Umdefinitionen Zu denen, die sehr dezidiert die »Stabilitäts-Position« in der Familiendiskussion vertreten, gehört der Soziologe Laszlo Vaskovics. Um, jenseits der Kontroversen um Zahlen, einen Eindruck vom Inhalt solcher Aussagen zu geben, soll im folgenden seine Argumentation exemplarisch dargestellt werden. Vaskovics sieht in Diagnosen, die Umbrüche im Bereich der Familie betonen, nur längst bekanntes Krisengerede: »Krise und Auflösung der Familie wurden im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte immer wieder festgestellt und prognostiziert«. Und gezielt setzt er dagegen: Die »Familie als Kern der Gattenfamilie hat ihre Dominanz bis in unsere Gegenwart erhalten … Im postulierten ›ganz normalen Chaos der Liebe‹ zeichnen sich weiterhin ganz klare und dominante Muster der Partnerschaften ab, die … in den meisten Fällen zu einer ganz normalen Familie führen«.16 Für die Einschätzung dieser Diagnose ist es wichtig, wie Vaskovics die »ganz normale Familie« definiert. Um es kurz zu machen: Er definiert praktisch alles hinein. Ob »mit oder ohne Trauschein, temporär oder lebenslänglich, einmalig oder sukzessiv« – alles wird unterschiedslos unter den Begriff der Kernfamilie oder ihrer Vorformen gefaßt. In diesem Bezugsrahmen werden auch die Alleinlebenden global als »partnerschaftsorientiert« definiert, und zwar deshalb, weil sie nach Vaskovics eine eheliche oder nichteheliche Partnerschaft nicht prinzipiell ausschließen, teilweise auch anstreben. Zu den nichtehe40
lichen Partnerschaften heißt es, die meisten seien »zumindest auf eine mittelfristige Perspektive angelegt«. Und sollten diese Paare sich trennen, so kann man doch annehmen, »daß sie früher oder später mit einem anderen Partner eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingehen werden«. Für die Alleinerziehenden gilt, daß sie ihre Lebensform meist nicht gewählt haben, sondern nur hineingeraten sind durch äußere Umstände (Scheidung, Verwitwung) und sich auch nur vorübergehend darin befinden: »Diese Lebensform wird häufig durch Heirat oder Wiederheirat in eine andere familiale Figuration überführt«. Und was schließlich den Geburtenrückgang angeht, der in 60er Jahren einsetzte und seitdem anhält, in Deutschland wie in anderen hochindustrialisierten Ländern, das Entscheidende ist: »Elternschaft als Lebensziel ist ungebrochen bedeutsam bei jungen Frauen und Männern«. Wenn viele mit der Umsetzung dieses Wunsches erst einmal warten, Elternschaft aufschieben, so ist dies ohne Bedeutung: Warum sollte »die späte Elternschaft anders bewertet werden als die frühere, die kürzere Dauer anders als die längere Familienphase? Es lregt in der Natur der Sache: Eine Familie wird im Laufe der Lebensgeschichte irgendwann gegründet und irgendwann aufgelöst«. Wenn immer mehr Männer und Frauen lebenslang kinderlos bleiben, so ist der Grund eben der, daß Kinderlosigkeit oft auf biologische Probleme zurückführbar, also ungewollt ist: »Hinter der Kinderlosigkeit verbirgt sich oft ein nicht realisierbares Bild von ›Normalfamilie‹«.17 Bei dieser Begriff wahl hat Vaskovics zweifellos recht: Die ganz normale Familie lebt und gedeiht. Dies freilich 41
vor allem dank einer Serie von Umdefinitionen, in deren Verlauf das meiste systematisch beiseite geräumt wird, was bis vor kurzem den selbstverständlichen Kernbegriff von Ehe und Familie ausmachte (Trauschein, Verbindlichkeit, Dauer usw.). Wenn man all dies beiseite schiebt, wo ein massiver Wandel sich durchgesetzt hat – dann bleibt freilich kein Wandel mehr übrig. Es ist wie beim Wettlauf zwischen Hasen und Igel: Die ganz normale Familie ist immer schon da. Eine Widerlegung ist praktisch unmöglich, weil alles, was anders ausschaut, anders ausschauen könnte, einfach mit dazu gezählt wird. Der Effekt ist, daß die zentralen Fragen systematisch ausgespart bleiben. Zum Beispiel: Es ist aus vorliegenden Untersuchungen durchaus bekannt, daß weiterhin die meisten Männer und Frauen Elternschaft als ein Lebensziel nennen. Interessant ist von daher die Frage: warum wird in der jüngeren Generation dieses Ziel häufiger als früher nicht verwirklicht? Wo sind die Barrieren, die Widerstände? Oder haben andere Lebensziele heute mehr Anziehungskraft? – Ebenso ist kaum überraschend, daß die meisten Alleinstehenden nicht prinzipiell jede Partnerschaft ablehnen. Weitaus spannender ist: Warum leben sie in der Praxis allein? Welches sind hier die Widerstände bzw. konkurrierenden Ziele? – Gegen die Aussage, daß jede Familie irgendwann gegründet und irgendwann aufgelöst wird, ist wenig zu sagen. Sie ist ebenso richtig wie trivial. Aber durchaus nicht trivial ist: Wann wird die Familie gegründet, und vor allem auch wie wird sie beendet, durch Tod oder Scheidung; wie viele gründen noch eine Familie, wie viele lassen es bleiben, wie viele 42
gründen mehrere Familien nacheinander? Bei den Beschreibungen, die Vaskovics liefert, stellt sich am Ende die Frage, ob eigentlich das, was sich heute an neuen Lebensformen entwickelt, nur Produkt äußerer Umstände ist: Alles nur Notlage? Nichts davon eigene Wahl, nirgendwo eigene Lebensentwürfe? Und die, die sich ins Kästchen der ganz normalen Familie nicht direkt einordnen lassen, sind die alle nur darum bemüht, möglichst schnell dorthin zu finden? Ein Nest, wie es die Eltern und Großeltern hatten, ist das der Traum aller, auch der Jungen, und wer heute ein klein wenig anders träumt, findet spätestens morgen dahin zurück? Wenn man solche Fragen nicht stellt, statt dessen praktisch alle privaten Lebensformen unter dem Dach der »ganz normalen Familie« versammelt (mit oder ohne Partner, mit oder ohne Trauschein, mit oder ohne Dauer, mit oder ohne Kinder, alle unterschiedslos), dann verschwimmen die Merkmale, die Konturen lösen sich auf. Ein Wandel? Ist qua Optik nicht vorgesehen. Gerät deshalb auch nirgends ins Blickfeld.
2. Die Dynamik der Familienentwicklung Nun mag man sagen, der Streit um Zahlen, Vergleichsebenen, Begriffe sei irgendwo müßig, schließlich seien die demographischen Fakten per se doch nicht strittig: handele es sich letztlich nicht um die bekannte Frage, ob das Glas nun halbleer sei oder halbvoll? 43
So gesehen ist die Kontroverse in der Tat wenig ergiebig. Doch kann man sie auch anders lesen, und dann hat sie einen tieferen Kern. Es wird nämlich, sei es implizit oder explizit, stets auch über die Entwicklungsrichtung, die zugrunde liegende Dynamik mitverhandelt. Es geht nicht nur um die bereits bekannten Daten, sondern um die, die keiner noch kennt, um die Zukunft der Familie bzw. die Zukunft der Lebensformen. Die Frage ist nicht nur, was ist der aktuelle Zustand des Glases, sondern mindestens ebenso, welcher Zustand ist aufgrund der erkennbaren Einflüsse demnächst zu erwarten, kurz: wird das Glas gerade gefüllt oder geleert? Welche Bewegung ist in der gegebenen Situation angelegt? Genau dieser Frage will ich im folgenden nachgehen, und zwar exemplarisch für einen Bereich, für die Ebene der Paarbeziehung. Meine Frage lautet ganz schlicht: Ist eine Stärkung und Stabilisierung der Paarbeziehung zu erwarten oder wird umgekehrt eher eine Zunahme von Diskontinuität, Wechsel und Brüchigkeit wahrscheinlich? Welche Bewegungsrichtung ist in den gegebenen Situation zu erkennen?
Normalisierung von Scheidung Betrachtet man die historische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, so läßt sich unschwer erkennen, daß – in Deutschland wie in anderen westlichen Ländern – ein massiver Wandel der institutionellen Grundlagen der Ehebeziehung stattgefunden hat. Gab es noch im 19. 44
Jahrhundert starke normative Regelungen, insbesondere kirchliche Einflüsse und rechtliche Vorgaben, die auf den (zumindest äußeren) Zusammenhalt der Ehe abzielten, wie ein Gerüst, vielleicht auch wie ein Zwangskorsett wirkten, so kann man beobachten, wie im Laufe des 20. Jahrhunderts solche Vorgaben allmählich abgebaut wurden, anders formuliert: wie Tabus und Barrieren, die eine Scheidung früher zumindest erschwerten, oft auch ganz unmöglich machten, zur Gegenwart hin schrittweise zurückgedrängt wurden.18 Schaut man genauer hin, so spricht viel für die Annahme, daß dieser historische Prozeß nicht zuletzt durch eine Reihe von Wechselwirkungen und Schaukel-Effekten vorangetrieben wurde. Vereinfachend könnte man vielleicht folgenden Ablauf skizzieren: Aufgrund bestimmter historischer und gesellschaft licher Bedingungen, die mit der Moderne verknüpft sind (stichwortartig zusammengefaßt: infolge von Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung usw.) entsteht im 19. Jahrhundert auf Seiten der Individuen allmählich ein Scheidungsbedarf, d. h. eine zunächst noch sehr kleine, dann langsam anwachsende Zahl von Männern und Frauen sind nicht mehr bereit, eine gegebene Ehe unter allen Umständen hinzunehmen, sondern wollen die Scheidung. In der Folge entsteht ein Druck auf die gesellschaftlichen Institutionen (Staat, Politik, Recht), die sehr restriktiven Regelungen des Ehe- und Familienrechts zu ändern und die extrem hohen Scheidungsbarrieren abzubauen. Zwar kann diese Richtung sich keineswegs gradlinig durchsetzen, vielmehr kommt es zunächst noch zu starken Gegenbewegungen. Aber als 45
schließlich des Ehe- und Familienrecht tatsächlich verändert wird, wird damit eine neue Phase eingeleitet: Ein Wandel der Normen und Moralvorstellungen wird kodifiziert, die Tabuisierung der Scheidung verliert an moralisch handlungsleitender Kraft, implizit und allmählich beginnt eine Art Normalisierung der Scheidung. Dies führt auf der nächsten Stufe zu weiter wachsendem Scheidungsbedarf, womit wiederum der Druck auf das Rechtssystem wächst, intitutionelle Zwänge und Vorgaben zurückzunehmen und die rechtlichen Regelungen mehr für das Scheidungsbegehren zu öffnen. Auf Wechselwirkungen der hier angedeuteten Art verweist z. B. Gertrud Nunner-Winkler19. Mit Blick auf die Scheidungszahlen der Gegenwart argumentiert sie, daß die Scheidungsentwicklung, einmal in Gang gekommen, einen Drang zur Expansion zeigt, sich quasi von innen verstärkt und beschleunigt: Die Erweiterung der Freiheitsspielräume ist demnach ein sich selbst vorantreibender Prozeß. Das heißt konkret, die neuen Optionen von Trennung und Scheidung wirken untergründig auch da, wo sie rein statistisch erst in geringem Umfang genutzt werden. Allein schon ihr Sichtbarwerden (für das heute die Massenmedien aufs kräftigste sorgen) läßt die traditionellen Lebens- und Eheformen nicht unberührt. Wer jetzt die Ehe aufrechterhält, der tut dies stets in dem Wissen, daß es Auswege gibt: Man könnte auch anders. Die Aufrechterhaltung der Ehe wird nunmehr – da Alternativen bestehen – als Ausdruck bewußter Wahlentscheidung wahrgenommen und gerät damit unter Rechtfertigungszwang. 46
Diese Erhöhung des Rechtfertigungsbedarfs treibt die Veränderungsspirale weiter voran. Für die Aufrechterhaltung eingelebter Traditionen reicht die Abwesenheit extremer Mißstände hin; die Rechtfertigung von Wahlverhalten dagegen bedarf positiver Begründungen. Anders formuliert: Eine vorgegebene Ehesituation wird hingenommen, solange sie nicht unerträglich ist. Eine frei gewählte hingegen muß sich im Horizont alternativer Möglichkeiten als »bestmögliche« ausweisen. Damit treibt also schon der bloße Rechtfertigungszwang die Maßstäbe, an den Glück bemessen wird, weiter nach oben. In der Konsequenz wiederum erhöht sich die Trennungsbereitschaft, weil jetzt mehr Ehen als unzulänglich erscheinen: »Neue Normen entstehen, die Scheidung akzeptabel, unter bestimmten Bedingungen sogar unerläßlich machen«.20 Auf Wechselwirkungen und Verstärkereffekte haben auch Diekmann/Engelhardt hingewiesen, die Daten aus dem Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts aufbereitet haben, um die Bestimmungsgründe des Scheidungsrisikos statistisch zu analysieren. Auf dieser empirischen Grundlage behaupten sie explizit eine »Eigendynamik der Scheidungsentwicklung«. Ihr Grundgedanke lautet, »daß der sozialdemographische Wandel … einen selbsttragenden Prozeß der Scheidungsdynamik ausgelöst hat«, eine Art Scheidungsspirale«.21 Demnach entstehen – wenn einmal ein gewisser Schwellenwert überschritten ist – eine Reihe von Schneeballeffekten, durch die sich Scheidungsrisiken immer weiter verstärken. Eine Schlüsselrolle spielt z. B. die Stigmatisierung, die mit Scheidung einhergeht. In Gesellschaften, 47
wo Scheidungen eine seltene Ausnahme darstellen, müssen die Geschiedenen mit erheblichen Diskriminierungen rechnen, mit Verlust von Stellung und Ruf, sie sind sozial deklassiert. Je mehr nun die Zahl der Scheidungen steigt, desto mehr geht die Stigmatisierung zurück (nicht plötzlich, sondern in allmählichen Schritten, im Verlauf von Jahrzehnten). Scheidung, einst ein dramatischer Fehltritt, wird möglicher Bestandteil der bürgerlichen Existenzform. Dieser Wandel im Sozialklima erleichtert nun auch denen die Scheidung, die diesen Schritt unter anderen Umständen nie gewagt hätten, und so entsteht ein Schneeballeffekt: Je geringer die im Fall einer Scheidung zu erwartenden Nachteile, desto mehr wird sich der Anstieg der Scheidungen weiter verstärken. Ähnliches gilt für die Chance, nach der Scheidung einen neuen Partner zu finden, auch hier wiederum gilt: Steigende Scheidungszahlen erleichtern die Partnersuche nach einer Scheidung. Denn je mehr Männer und Frauen geschieden werden, desto mehr sind auch wieder von ehelichen Bindungen frei, können neue Beziehungen eingehen. Wenn aber Scheidung nicht mehr, mehr bis minder zwangsläufig, ins Leben als Einzelperson mündet, sondern die Chance zu einer neuen Bindung enthält, verringern sich die mit Scheidung verbundenen Kosten – was wiederum die Zahl jener ansteigen läßt, die bereit sind, sich aus einer unbefriedigenden Ehe zu lösen.22
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Selbstschutzstrategien Wo die Zahl der Scheidungen zunimmt, wo Scheidung keine fernes Geschehen mehr ist, sondern direkt im persönlichen Umfeld erfahrbar (beim Schulfreund, bei der Schwester, vielleicht gar bei den eigenen Eltern); wo in den Medien offen über Scheidung diskutiert wird, ja die Ehedramen von Prominenten (von Prinz Charles bis Liz Taylor) zum verläßlichen Kassenschlager der BoulevardBlätter werden; wo all dies geschieht, wird bis in Kleinstadt und Dorf hinein sichtbar, daß Ehen nicht mehr selbstverständlich lebenslang halten, vielmehr stets das Risiko einer Scheidung besteht. Ein solcher Bewußtseinsprozeß bleibt aber wahrscheinlich nicht folgenlos, sondern zeitigt Lerneffekte eigener Art: Die Menschen beginnen (allmählich, gewissermaßen unter der Hand), sich in ihrem Verhalten auf das Scheidungsrisiko einzustellen. Sie wollen Vorsorge treffen. Sie versuchen – da Scheidung ja kein Ereignis ist, das jemand gezielt anstrebt und wünscht –, sich dagegen zu schützen. In diesem Sinn argumentiert z. B. Jürgen Schumacher. Nach seiner These sind im Bereich der Partnerbeziehung zunehmend Strategien zu beobachten, die darauf abzielen, »angesichts der Probleme, vor denen Partnerschaften heute mehr denn je stehen, die mit ›Bindung‹ verbundenen Risiken zu minimieren«.23 Das heißt für ihn nicht, daß die Menschen immer weniger bereit wären, eine Partnerschaft einzugehen. Gemeint ist vielmehr, daß die Partner möglichst vermeiden, solche Barrieren aufzurichten, welche die »Kosten einer Korrektur«, sprich einer Trennung 49
»überproportional vergrößern«.24 Deshalb werden eher Beziehungs- und Lebensformen gewählt, die im Falle des Falles eine Trennung erlauben, noch pointierter gesagt: die die Möglichkeit der Trennung miteinkalkulieren. Da vor allem zwei Ereignisse erhebliche Trennungsbarrieren aufbauen -zum einen der formale Akt der Eheschließung, zum anderen die Geburt von Kindern25 –, ist es so gesehen naheliegend, wenn heute mehr und mehr Paare nicht zum Standesamt gehen und den Kinderwunsch in spätere Lebensphasen verschieben oder ganz auf Kinder verzichten. Die demographischen Statistiken, die Rückgang der Heiratsneigung und der Geburtenzahlen belegen, kann man in diesem Sinn als risikomindernde Strategien interpretieren. Vermeiden und Vorsorge treffen, das heißt dann angesichts der Brüchigkeit von Beziehungen heute, den Barrieren ausweichen, welche den »Spielraum für zukünftige Korrekturentscheidungen drastisch einengen«26 könnten. In Beziehung leben, aber den Ausweg offen halten, das wird (eher untergründig als laut verkündet) zum Motto, zur neuen Devise. Auf Selbstschutzstrategien dieser Art lenken auch Diekmann/Engelhardt den Blick. Sie freilich gehen noch einen Schritt weiter, fragen nach den wahrscheinlichen Folgen solchen Verhaltens – und konstatieren wiederum eine Schneeballeffekt, sehen hier also eine zusätzliche Bedingung, die die Scheidungszahlen weiter ansteigen läßt. »Haben Ehepartner Zweifel an der Dauerhaftigkeit ihrer Verbindung, dann wird sich die Skepsis in einer Verringerung ›ehespezifischer Investitionen‹ niederschlagen. Dadurch aber steigt das faktische Schei50
dungsrisiko«.27 In freier Übersetzung heißt das: Je größer die Zweifel, desto höher am Ende die Instabilität. Je weniger man an Gemeinsamkeit aufbaut – z. B. über Kinder, Eigentumswohnung oder eigenes Haus28 –, desto weniger hält einen zusammen. Man hat weniger zu verlieren, also kann man leichter sich trennen. Wechselwirkungen ähnlicher Art sehen Diekmann/ Engel-hardt auch zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Scheidungsrisiko. »Die ›Antizipation‹ von Scheidungsrisiken fördert empirisch nachweisbar auch die Neigung verheirateter Frauen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen; ein Umstand, der wiederum das Scheidungsrisiko mutmaßlich anwachsen läßt«.29 Oder anders gesagt, die Entwicklung der Scheidungszahlen übersetzt sich in einen Lerneffekt für die Lebensplanung der jüngeren Frauen. Je brüchiger die Familienrolle erlebt wird, desto geringer wird die Bereitschaft, sich ganz auf die Ehe zu verlassen. Desto stärker wird die Orientierung auf andere, eigene Lebensperspektiven, nicht zuletzt eine Berufstätigkeit. Was wiederum im Fall aufbrechender Konkflikte bedeutet: Die Frau ist nicht mehr bedingungslos an die Ehe gebunden, sie kann sich auch dagegen entscheiden. In ihrer statistischen Analyse stellen Diekmann/Engelhardt weiterhin fest, daß das Zusammenleben vor der Ehe erheblich zur Scheidungswahrscheinlichkeit beiträgt: »Auffallend ist, daß Eheleute, die vor der Heirat in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt haben (›Probeehe‹), ein um ca. 40–60% erhöhtes Scheidungsrisiko aufweisen«.30 Den Autoren selbst erscheint dieser Befund unvermutet, schließlich sollte sich im vorehelichen Zu51
sammenleben doch zeigen, ob man zusammenpaßt oder nicht. Aber wenn man bei beiden Verhaltensweisen nach den dahinter stehenden Ursachen fragt, kann man durchaus erklären, warum mit der Probeehe das Scheidungsrisiko wächst31. In beiden Fällen, sowohl bei der Probeehe wie bei der Scheidung, läßt sich nämlich ein ähnliches Einstellungsmuster erkennen: Zugrunde hegt, hier wie dort, eine individualistische Ethik. Das heißt, pointiert zusammengefaßt: Wer vor der Heirat die Ehe nicht als Sakrament sieht, als heiligen oder jedenfalls ganz besonderen und einzigartigen Bund, ist eher zum Zusammenleben ohne Trauschein bereit; und wenn er später doch heiratet, wird er auch dann nicht plötzlich die Ehe als Sakrament sehen, weshalb er im Falle des Falles eher zur Scheidung bereit ist. Wer der Auffassung ist, die Ehe solle auf Gefühlen und persönlicher Harmonie gründen, der/ die hält es für sinnvoll, die Gefühle im Alltagstest zu erproben, bevor man sich standesamtlich verbindet; und der/die wird dann auch eher zur Auffassung kommen, die Ehe seit leer und deshalb sinnlos geworden, wenn unter veränderten Umständen (Gewöhnungs-Routine, Geldmangel, nervende Kinder) die Gefühle sich wandeln und die Leidenschaft flieht. Risikomindernde Strategien haben scheidungsfördernde Wirkung – dies ist, knapp zusammengefaßt, das Fazit aus den bisherigen Überlegungen. Welch paradoxer Effekt. Verfangen Männer und Frauen sich also in ihren eigenen Strategien und Fallen? Führt genau das Verhalten, das das Risiko eingrenzen soll, am Ende zur Multiplizierung desselben? 52
Ja und nein. Richtig ist, daß die genannten Verhaltensstrategien die Wahrscheinlichkeit einer Trennung bzw. Scheidung ansteigen lassen. Aber richtig ist auch, daß sie die Folgekosten von Trennung und Scheidung niedriger halten. Wer nicht formal geheiratet hat, muß im Falle des Falles nicht die Prozedur der Scheidung durchlaufen mit all den rechtlichen Vorgaben und Auflagen (z. B. Trennungsjahr) oder den finanziellen Belastungen (Gerichtskosten, Anwaltskosten usw.). Wer keine Kinder in die Welt gesetzt hat, muß nicht im Falle des Falles das Sorgerecht aushandeln, die Trennung vom Kind ertragen oder als Alleinerziehende(r) sich durchsschlagen. Wer schon während der Ehe erwerbstätig ist, muß sich im Scheidungsfall nicht auf Arbeitsplatzsuche begeben oder vom Ex-Partner Unterhaltszahlungen einklagen. Wie diese Beispiele zeigen, haben die risikomindernden Strategien, die durch die Erfahrung hoher Scheidungshäufigkeit ausgelöst werden, offensichtlich einen Doppeleffekt. Auf der einen Seite tragen sie zur Scheidungshäufigkeit bei, gefährden also die Paarbeziehung und deren Dauer. Aber wenn man die beiden beteiligten Individuen einzeln betrachtet, dann sieht man zugleich: Die Individuen selber sind besser gewappnet, wenn der Scheidungsfall eintritt. Sie sind besser gerüstet für das Leben allein. In diesem Sinn sind die risikomindernden Strategien sowohl risikoerzeugend wie risikomindernd. Es sind genauer betrachtet Selbstschutzstrategien, im Kern eine individualistische Logik enthaltend: Nicht die Stabilität des Paares wird gefördert, wohl aber die der Einzelperson, unabhängig von den Zufällen und Unfällen einer Partnerbeziehung. 53
Der Generationen-Effekt Wie empirische Studien durchgängig zeigen, läßt sich beim Scheidungsrisiko eine »soziale Vererbung« feststellen. Männer und Frauen, die in der Herkunftsfamilie eine Scheidung erlebt haben, lassen demnach im späteren eigenen Leben sich deutlich häufiger scheiden als Männer und Frauen, deren Eltern in ihrer Ehe blieben. Man kann diese Art der Vererbung über verschiedene Ansätze erklären, wobei diese sich wechselseitig nicht ausschließen.32 Im folgenden soll vor allem an die Sozialisations-Hypothese angeknüpft werden, die bei Erfahrungen in Kindheit und Jugend ansetzt und ein Modell-Lernen betont, was Haltungen gegenüber Ehe, Familie, Partnerschaft angeht. Einschlägig sind hier Erfahrungen aus der Familientherapie, wonach bei Kindern aus Scheidungsfamilien »das Vertrauen in Bindungen und die konstruktive Lösbarkeit zwischenmenschlicher Konflikte nachhaltig gestört ist«, was zu destruktiven Folgen des Umgangs mit Bindungen führt. z. B. ist oft eine untergründige Trennungsangst da: »Diese Angst wird durch verstärktes Anklammern an den Partner begegnet, der sich daraufhin nicht selten zum Rückzug veranlaßt sieht, was die Befürchtungen dann (paradoxerweise) bestätigt«. So entsteht ein Negativ-Zirkel, eine »Symptomtradtition« in Scheidungsfamilien.33 Im Anschluß an Perspektiven der psychologischen Bindungsforschung könnte man diesen Zusammenhang vielleicht auch so interpretieren:34 Weil Kinder, die aus geschiedenen Ehen stammen, weniger Bindungs54
sicherheit entwickelt haben als Kinder aus vollständigen Familien, neigen sie eher zu einem labilen, zwischen Extremen schwankenden, damit Enttäuschungen provozierenden Umgang mit Bindungen. Interessant sind hier auch die Ergebnisse einer großangelegten empirischen Studie, die die Lebensentwürfe junger Mädchen und Frauen untersucht. Dabei wurden gezielt auch die Töchter alleinerziehender Mütter betrachtet. Diese unterscheiden sich, so wurde sichtbar, in ihrem Lebensentwurf deutlich von Mädchen aus vollständigen Familien: Sie legen mehr Wert auf Selbständigkeit, sind dagegen reservierter, was Heirat und Mutterschaft angeht. »Für sich selbst können sie sich andere Lebensentwürfe als Heirat und Ehe offenbar gut vorstellen, und ihr ausgeprägtes Streben nach beruflicher Eigenständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit paßt sehr gut dazu … Sie wollen sich auf ihre eigenen Anstrengungen und Leistungen verlassen … Den Lebensweg der Mutter vor Augen, wollen sie auch zu einem höheren Anteil bewußt nicht heiraten … Der Kinderwunsch [liegt] deutlich unter dem der anderen Mädchen«.35 Hier hat offensichtlich ein Lerneffekt stattgefunden, der auf Betonung des eigenen Lebens abzielt, Bindungen demgegenüber sekundär werden läßt. Offensichtlich haben Selbstschutzstrategien Priorität, was (siehe oben) das Risiko einer Scheidung erhöht. Angesichts der wachsenden Zahl von Scheidungen, auch der wachsenden Zahl betroffener Kinder, ist in neueren Untersuchungen immer wieder über die möglichen Langzeitfolgen früher Scheidungserfahrungen dis55
kutiert worden. Immer wieder wird danach gefragt, was die psychischen und emotionalen Spuren sind, die solche Erfahrungen hinterlassen. Bisher zeichnet noch keine einheitliche Antwort sich ab, vielmehr kommen unterschiedliche Autoren zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. So sind nach manchen Untersuchungen Kinder empfindlich und verletzlich, tragen oft lebenslange Störungen davon, wenn frühe Bindungen gekappt werden.36 Nach anderen Interpretationen erscheinen Kinder dagegen eher flexibel, robust, durchaus anpassungsfähig; demnach ist zwar die Nach-Scheidungs-Phase eine Zeit dramatischer Krisen, doch in der Regel erholen die Kinder sich wieder, richten sich in den neuen Bedingungen ein.37 Ich möchte hier eine dritte Deutung vorschlagen, die, den bisherigen Überlegungen folgend, die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos ins Zentrum stellt. Demnach beinhaltet die Erfahrung von Trennungsereignissen eine Sozialisation eigener Art, auf den Kern zusammengefaßt: eine individualistische Botschaft. Wenn es Kindern gelingt, sich mit wechselnden Familienformen zu arrangieren, so heißt dies, sie lernen, Bindungen aufzugeben, mit Verlust fertig zu werden. Sie erfahren früh, was Verlassenwerden und Abschied bedeuten. Sie wissen aufgeklärt, daß die Liebe nicht ewiglich währt, daß Beziehungen enden, daß Trennung ein Normalereignis im Leben darstellt. Sie üben sich darin, mit dem Wechsel zu leben, ihn »nicht tragisch zu nehmen«, ihre Familiengeschichte zum Beispiel so zu erzählen: »Mein erster, richtiger Vater hat meine Mutter verlassen. Meinen Stiefvater hat dann meine Mutter weggeschickt. Und jetzt wackelt es wieder zwischen meiner 56
Mutter und dem Mann, der zur Zeit bei uns lebt. Man gewöhnt sich an so etwas«.38 In der Generationenabfolge werden Kinder zu Experten des Wandels. Sozialisationseffekte dieser Art kann man in unterschiedliche Richtungen deuten. Nach der positiven Interpretation lernen Kinder aus Scheidungsfamilien, insbesondere Töchter, daß ein erfülltes und befriedigendes Leben auch allein möglich ist, ohne Partner, daß sie nicht bedingungslos abhängig sind vom Gelingen der Zweierbeziehung. Sie lernen, sich vorzubereiten auf ein selbständiges Leben, statt ihre Identität nur in der Familie zu sehen. Nach der negativen Interpretation fehlt es Kindern aus geschiedenen Ehen an Bindungssicherheit, an Sozialund Konfliktfähigkeit. Statt für sich selbst neue Muster zu finden, wiederholen sie im Grunde die Fehler der Eltern. Wobei diese Interpretationen sich nicht ausschließen müssen: Vielleicht erwerben Töchter alleinerziehender Mütter mehr Selbständigkeit, aber weniger Konfliktfähigkeit. Doch gleichgültig, ob man nun die eine oder die andere Interpretation wählt oder auch Kombinationen von beiden, im Ergebnis weisen alle in eine ähnliche Richtung. Das Fazit heißt stets: Durch Scheidung wird ein individualistischer Lerneffekt angelegt, was in der Generationenabfolge dann zu weiteren Scheidungen führt. Wenn man abschließend noch einen kurzen Blick wirft auf die anderen Erklärungsansätze, die sich mit dem Scheidungsrisiko und seiner sozialen Vererbung befassen, so kann man feststellen, daß sie zu einem im Kern ähnlichen Ergebnis gelangen. So unterschiedlich ihre Blickwinkel und Begründungen auch sind, sie stimmen 57
doch auffallend überein, was die Richtung der zukünftigen Entwicklung angeht. Durchgängig nämlich »legen die Untersuchungsergebnisse eine Dynamik nahe, welche die etablierten Familienstrukturen weiter schwächen wird«.39
3. Komplizierte Verhältnisse: Die Scheidungsfamilie Umbruch und Neuanfang Wo das Ereignis Scheidung eintritt, entwickeln sich die Lebenslagen – von Männern und Frauen, Eltern und Kindern – in unterschiedliche Richtungen. Zunächst einmal im direkt geographischen Sinn: Einer zieht aus (fast immer der Mann), in eine andere Wohnung, vielleicht auch in eine andere Stadt (um einen neuen Anfang zu machen). Zurück bleiben Frauen und Kinder, aber in der Folge ziehen nicht selten auch sie um (in eine billigere Wohnung, in die Nähe der Großeltern usw.), das heißt dann Wechsel der Umgebung, der Schule, der Nachbarn. Erst recht entstehen neue ökonomische Lagen, in der Regel ein Einkommensgefälle, im Ausmaß differierend je nach den rechtlichen Regelungen der jeweiligen Länder: In den USA sinkt der Lebensstandard von Frauen und Kindern drastisch ab, dagegen kann sich der der Männer nicht selten verbessern (weil sie oft keinen Unterhalt zahlen).40 In Deutschland herrscht eher eine Umvertei58
lung des Mangels, auch die Männer haben meist finanzielle Einbußen zu tragen, aber auch hier sind Frauen und Kinder meist deutlich schlechter gestellt.41 Darüber hinaus wird nach der Scheidung auch eine neue Alltagsorganisation nötig. Sie muß ausgehandelt, nicht selten erkämpft werden zwischen denen, die vorher ein Paar waren: Wer bekommt die Wohnung, welche Teile des Hausrats, welche Erinnerungsstücke? Wieviel Unterhalt muß gezahlt werden für wen? Und vor allem, wer bekommt die Kinder, wie soll das Sorgerecht aussehen? Mann versus Frau: Ansprüche und Forderungen werden geltend gemacht, Rechte und Pflichten umverteilt. Neue Vereinbarungen werden gesucht, oft auch erstritten. Statt gemeinsamem Alltag und gemeinsamer Wohnung nun Separatzeiten, Besuchsregelungen genannt, für den Vater. Wann darf er kommen, wie lange? Wieviel Kind steht ihm zu an Wochenenden, Feiertagen und Ferien? Und im Extremfall holt man/frau sich das Kind mit Gewalt: Auch die Zahl der Kindesentführungen steigt. Familientherapeuten, Scheidungsanwälte und Richter erleben tagtäglich, wie in der Nach-Scheidungs-Phase zwischen Ex-Partnern Verletzung und Bitterkeit, Wut und Haß eskalieren. Aber auch wenn das Trennungsgeschehen vernünftig und friedlich verläuft, wird durch den Akt der Scheidung unweigerlich ein neues Verhältnis zwischen Mann, Frau und Kindern konstituiert. Viel deutlicher als zuvor stehen sich jetzt Einzelpersonen gegenüber, wollen je eigene Interessen und Lebenswege, Wünsche und Rechte behaupten. Die Ex-Partner haben nicht nur differierende Zukunftsvorstellungen, sondern auch diffe59
rierende Bilder von der früheren gemeinsamen Zeit, vielfach auch differierende Schuldzuweisungen und Wahrnehmungsmuster (er hat schon immer mit anderen Frauen geflirtet, sie hat immer das Geld rausgeworfen). Dazwischen stehen die Kinder. Sie haben in dieser Situation ihre eigenen Wünsche: Wie Untersuchungen zeigen, hoffen die meisten, daß die Eltern sich wieder versöhnen. Aber vergeblich – die Eltern gehen ihren eigenen Weg, auch gegen die Wünsche der Kinder. Diese müssen nun lernen, mit gespaltenen Loyalitäten zu leben. Wo Kämpfe ausgefochten werden um ihren Verbleib, werden vor Gericht auch die Kinder befragt, ob sie bei der Mutter oder beim Vater leben wollen; wie behutsam auch immer man vorgeht, hier wird dem Kind eine Aussage gegen den einen oder anderen abverlangt (und in den weniger behutsamen Fällen erlebt das Kmd direkte Beeinflussungsversuche und Manöver der Eltern). Wo Besuchsregelungen durchgesetzt werden, aber die Ex-Partner von ihren Verletzungen nicht loslassen können, werden die Kinder in den Nach-Scheidungskampf einbezogen, werden ausgehorcht über den Lebensstil und den Neuen/die Neue des Partners, mit Verwöhnung bestochen, als Informationsträger zwischen den feindlichen Fronten benutzt. Hinzu kommen weitere Trennungsereignisse: In einigen Familien werden die Kinder aufgeteilt zwischen den Eltern, also auch die Geschwister auseinanderdividiert. Weitaus häufiger bricht nach der Scheidung die Beziehung zum Vater schnell ab, er verschwindet aus dem Gesichtskreis der Kinder. Auch die Beziehung zu den väterlichen Großeltern wird dünner, gestaltet sich schwierig, wird von der 60
Mutter zum Teil auch bewußt unterbunden, um alle Bezüge zum Vater zu tilgen.42 Alles zusammengenommen heißt, nach der Scheidung ist eines nur sicher: Alles ist unsicher geworden, alles ist in Bewegung geraten. Nichts ist mehr so, wie es war.
Fortsetzungsehen und Wahlverwandtschaften Nun heiraten viele der Geschiedenen wieder oder leben ohne Trauschein zusammen, wobei der neue Partner oft selbst schon verheiratet war, vielleicht auch eigene Kinder mitbringt. In der Folge wachsen immer mehr Kinder mit einem nicht-biologischen Elternteil auf. Solche Stieffamilien sind, wie eine einschlägige Studie es formuliert, ein »interessantes Beispiel für die Verknüpfung und Mischung von Organisationen. Sie binden zwei Familienkulturen zu einem gemeinsamen Haushalt zusammen«.43 Das heißt, es müssen differierende Werte, Regeln, Routinen, differierende Erwartungen und Alltagsabläufe ausgehandelt und abgestimmt werden – von Tischmanieren und Taschengeld bis zu Fernsehauswahl und Schlafenszeiten. Darüber hinaus wandern manche der Kinder besuchsweise zwischen ihren verschiedenen Familienwelten, zwischen dem sorgeberechtigten »Alltags-Elternteil« mitsamt neuem Partner und dem nicht-sorgeberechtigten »Wochenend-Elternteil« mit ebenfalls neuer Familie. Unter diesen Bedingungen entstehen Querverbindungen und komplexe Beziehungsnetze, kurz: komplizierte Verhältnisse, die sich nur noch in verzweigten Diagram61
men abbilden lassen. »Heirats- und Scheidungsketten«, »Fortsetzungsehen«, »Mehreltern-Familien«, »Patchwork-Familien« – all dies sind neue Begriffe, um die neuen Familienformen faßbar zu machen. Wobei freilich ein entscheidendes Merkmal ist, daß hier gar nicht mehr klar ist, wer zur Familie gehört. Eine einheitliche Definition gibt es nicht mehr, sie ist im Rhythmus der Trennungen und Neuverbindungen irgendwo untergegangen. Statt dessen hat jetzt jeder der Beteiligten seine eigene Definition, wer zu seiner/ihrer Familie gehört: Jeder lebt seine eigene Version der Patchwork-Familie. Man nehme zur Veranschaulichung folgendes Beispiel:44 Ein Ehepaar hat zwei Kinder, dann kommt es zur Scheidung, danach leben die Kinder mit der Mutter zusammen. Wenn man diese vier Personen nun fragt, wer zu ihrer Familie gehört, was sagen sie dann? Die geschiedene Mutter wird sicher die Kinder nennen, aber kaum den Ehemann, der jetzt anderswo lebt. Anders die Kinder: Wenn sie ihren Vater noch regelmäßig sehen, werden sie wahrscheinlich Vater wie Mutter zur Familie zählen. Und wenn man den Ex-Mann fragt, wird er vielleicht die Kinder nennen, die er weiterhin sieht, nicht aber die Ex-Frau. So haben nach der Scheidung alle Beteiligten – Mutter, Vater und Kinder – eine je andere Vorstellung davon, wer zur Familie gehört. Ja mehr noch, man kann nun gar nicht mehr definieren, was »die Familie« ist oder »die direkte Familie«, man kann jedenfalls nicht mehr allgemein definieren, sondern nur noch in bezug auf einzelne Personen. Pointiert zusammengefaßt: Was einst »das« Familienbild war, zerfällt nun in verschiede62
ne Familienbilder, in Einzelausschnitte und variierende Perspektiven. Eine Frau, die aus einer Fortsetzungsfamilie kommt und heute ihrerseits in einer Fortsetzungsfamilie lebt, hat dies umgesetzt in die Grafik auf den beiden folgenden Seiten.45 In dieser Konstellation sind es nicht mehr die traditionellen Zurechungsregeln (Abstammung und Heirat), die Verwandtschaft konstituieren. Entscheidend ist vielmehr, ob die sozialen Beziehungen, die daraus entstanden, auch in der Nach-Scheidungs-Situation fortgesetzt werden. Wo diese sozialen Beziehungen abgebrochen werden oder allmählich versickern, da ist es am Ende auch mit der Verwandtschaft vorbei. Was in anderen Familienkonstellationen der Moderne ansatzweise sich zeigt, tritt hier ganz deutlich hervor: Das Aufrechterhalten der Beziehung ist kein selbstverständlicher Akt mehr, sondern eine freiwillige Handlung. In der Nach-Scheidungs-Situation sortieren die Familienverhältnisse sich neu, den Gesetzen der Auswahl, der persönlichen Zuneigung folgend: Sie nehmen den Charakter von »Wahlverwandtschaften« an. Da diese nicht mehr schicksalhaft vorgegeben sind, bedürfen sie mehr die Eigenleistung, der aktiven Pflege. Wie eine Studie über Patch-work-Familien feststellt: »Aus dem großen Universum potentieller Verwandtschaft bauen sich die Menschen ihre Verwandtschaft aktiv zusammen, indem sie Beziehungen herstellen – indem sie daran arbeiten, verwandt zu werden. Und sie haben ein weites Feld der Möglichkeiten, um zu wählen, welche Verbindungen sie aktiv aufnehmen wollen«46. 63
Manche der angeheirateten Verwandten aus der Erstehe gehören weiterhin »zur Familie«, manche der qua Zweit-Ehe angeheirateten Verwandten kommen hinzu, andere bleiben draußen oder fallen heraus. Was am Ende herauskommt, steht nicht mehr vorgängig fest. Denn wo gewählt wird, immer mehr persönliche Präferenzen zum Maßstab werden, zieht jede Person ihre eigenen Grenzen. Selbst Kinder, die im selben Haushalt auswachsen, haben jetzt nicht mehr notwendigerweise dieselbe Definition dessen, wer zur Verwandtschaft gehört.47 Das alles zusammengenommen bedeutet, die Fortsetzungsehe »vergrößert die Beweglichkeit unseres Verwandtschaftssystems, das jetzt schon die individuelle Entscheidungsfreiheit stärker betont als gegenseitige Verpflichtungen«.48 Das Ergebnis stellt alle Beteiligten vor neue Fragen, setzt neue Entscheidungsprozesse in Gang.
Management der Gefühle und Bindungen Auch wenn die sogenannte Normalfamilie kein Ort allseitiger und fortwährender Zuneigung ist, so ist doch im Regelfall klar, daß man zusammengehört, füreinander verantwortlich ist, und wie die Gefühle wenn schon nicht sind, so doch sein sollten. Anders in der Fortsetzungsfamilie. Hier sind die Verhältnisse weit komplizierter, und zwar deshalb vor allem, weil die Scheidung zwar die Bindung der Erwachsenen löst, nicht aber die zwischen Eltern und Kindern. Wenn dann neue Partner, neue Kinder hinzukommen 64
– Mutters Freund und Vaters Frau; meine, deine, unsere Kinder – entsteht ein Netzwerk konkurrierender Verantwortungen, Gefühle, Loyalitäten. Wo die Ressourcen knapp sind – und das sind sie fast immer –, muß jetzt entschieden werden zwischen früheren Familienbanden und neuen. Geschenke, Ferienbesuche, Zuwendung, Zeit: Wessen Ansprüche sollen vorrangig gelten, welche werden weniger wichtig genommen? Weil für diesen Fall die verbindlichen Vorgaben fehlen, muß man selbst aushandeln, selbst suchen und experimentieren. Neue Solidaritäts- und Loyalitätsregeln werden jetzt nötig. In einer einschlägigen Studie heißt es dazu: »Es wird außerordentlich interessant sein, Veränderungen der relativen Stärke blutsverwandtschaftlicher und durch (Wieder-) Verheiratung hergestellter Bindungen in den Familien zu beobachten, deren Mitgliederkreis sich durch aufeinanderfolgende Heiraten vergrößert hat. Wie etwa werden Großeltern ihr Erbe aufteilen zwischen biologischen Enkeln, die sie kaum kennen, Stiefenkeln, die sie früh im Leben bekamen, oder Stiefenkeln, die sie über ihre zweite Ehe erhielten und die geholfen haben, sie im Alter zu pflegen? Sind biologische Väter eher dazu verpflichtet, ihre biologischen Kinder, die von einem Stiefvater großgezogen wurden, auf ein College zu schicken, als ihre Stiefk inder, die sie selbst erzogen haben?«49 Was auf dem Papier so nüchtern sich liest, dürfte in der Realität manche Turbulenzen erzeugen, zumal es nicht nur um die zu verteilenden Güter geht, sondern auch um das, was sie, zu recht oder zu unrecht, für die Betroffenen immer mitsymbiolisieren, nämlich Zunei65
gung oder Entzug derselben (warum hat der Papa, auch wenn er jetzt anderswo wohnt, mir nicht zum Geburtstag geschrieben?).50 Weil die Scheidungssituation die Kinder die Möglichkeit des plötzlichen Umschlagens von Gefühlen gelehrt hat, sind sie elementar unsicherer geworden, haben Zweifel und Emotionen eigener Art (Verletzung, Enttäuschung, Eifersucht, Wut). Von all dem wollen die Erwachsenen oft lieber nichts wissen, es erinnert sie ja an ihr eigenes schlechtes Gewissen, ihre eigenen Verletzungen. Entsprechend müssen die Kinder nun ihrerseits aufpassen, wie sie Gefühle verteilen, dosieren, je nach Umgebung äußern oder verbergen. Sie müssen lernen, daß sie vieles von dem, was sie bewegt – ja vielleicht gerade das, was sie am meisten bewegt – nicht mitteilen können. Weil sie sich zwischen unterschiedlichen Parteien, manchmal auch zwischen feindlichen Lagern bewegen, müssen sie lernen, vorsichtig zu sein, geschickt zu agieren, zwischen widersprüchlichen Signalen die eigene Richtung zu finden: Du darfst dem Papa nicht trauen, sagt die Mama. Das darf ich der Mama nicht erzählen, sonst weint sie. Ich will zu Paul, Mamas Neuem, auch Papa sagen – aber was, wenn mein richtiger Vater das hört? Die Regeln dafür kann man nirgendwo nachlesen. Und während bei anderen Fragen die Kinder bei den Eltern Rat finden können – sicher nicht immer, aber manchmal zumindest –, sind bei den hier anstehenden Fragen die Eltern gänzlich ungeeignete Ratgeber, denn sie sind viel zu sehr selber Partei und in ihre eigenen Gefühlslagen verwickelt. Vielleicht kann man mit den Geschwistern – so vorhanden – Erfahrungen austauschen oder mit Gleich68
altrigen, die sich in ähnlichen Familienkonstellationen befinden. Aber gleichgültig, ob die Heranwachsenden das Management der Gefühle und Bindungen im komplizierten Netzwerk der Fortsetzungsfamilie virtuos lernen oder ob sie eher ungeschickt und unsicher sind, in jedem Fall gilt: In der Konkurrenz unterschiedlicher Loyalitäten sind sie mehr auf sich gestellt, müssen mit vielem selbst fertig werden. Mag sein, daß sie sich allein gelassen fühlen dabei, mag sein, daß sie selbständiger werden, vielleicht auch beides zusammen. So oder so, die Selbstverständlichkeit des alten Familienmodells ist nicht mehr ihre Erfahrung: In der Generationenabfolge wird wiederum eine individualistische Botschaft vermittelt.
4. Ausblick: Von der Normalbiographie zur Bastelbiographie Folgt man den hier vorgestellten Deutungen, ist in der aktuellen Familienentwicklung eine Dynamik eigener Art angelegt. Die Brüchigkeit des traditionellen Familienmodells, die heute sich andeutet, wird sich demnach verstärken, zukünftig weitere Brüche erzeugen, mehr auch die bislang stabilen Gruppen erreichen. Lebensverläufe der Art, wie sie Cherlin in der eingangs zitierten Geschichte beschreibt, stellen demnach keinen amerikanischen Sonderweg dar. Sie werden in Deutschland vielleicht nicht so häufig wie in den USA werden, aber: sie werden auch hierzulande häufiger werden. Fortset69
zungsehen, Mehreltern-Familien, Patchwork-Familien, solche Muster werden auch hier weiter sich ausbreiten – mitsamt den komplizierten Genealogien und bunten Netzwerken, die zu ihnen gehören. Die schließt nicht aus, im Gegenteil: macht eher wahrscheinlich, daß sich Gegenbewegungen bilden, Sehnsüchte und Hoffnungen aufkommen, die in der Familie den sichernden Ort suchen, den Hafen im Labyrinth der Moderne, auch die Wiederverzauberung in einer entzauberten Welt. Aber Wunsch ist nicht gleich Erfüllung desselben, das gilt hier wie anderswo auch. Ob solche Versuche der Gegenmodernisierung Erfolg haben, ob eine Wiederbelebung des traditionellen Familien-modells gelingt, nicht im Einzelfall hier oder da, sondern für breite Bevölkerungsgruppen – dies muß eher zweifelhaft scheinen. Denn auch solche Bestrebungen finden nicht im gesellschaftsfreien Raum statt, jenseits von Politik, Medien, Recht usw., sondern sind eingespannt in das Geflecht der gesellschaftlichen Bedingungen, die die Risse im traditionellen Modell der Familie erzeugt haben. Auch die Fluchten aus der Moderne sind Teil der Moderne – und haben damit Widersprüche eigener Art. Die Diagnose, die hier für den Bereich von Partnerschaft, Ehe, Familie angestellt wurde – mehr Instabilität, mehr Wechsel, mehr Übergänge und Zwischenformen im Lebenslauf –, diese Diagnose ist übrigens, im Kern auffallend ähnlich, auch für andere Bereiche der modernen Gesellschaft aufgestellt worden. Um z. B. Befunde aus der neueren Berufsforschung aufzugreifen: Während noch in der Nachkriegszeit eine Stabilität der Erwerbsverhältnisse 70
vorherrschend war, ist das »Normalarbeitsverhältnis« im Sinn einer arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten, kontinuierlichen, auf Dauer angelegten Vollzeitbeschäftigung seit Ende der 70er Jahre zunehmend brüchig geworden. Über Deregulierungs- und Flexibilisierungstendenzen am Arbeitsmarkt sind statt dessen neue, vielfältigere, freilich auch instabilere Formen der Erwerbsverläufe entstanden. Diese lassen sich nicht mehr in den alten Kategorien – hier Arbeit, dort Arbeitslosigkeit – fassen, bilden vielmehr eine »neue Topographie der Arbeit«: »Zwischen dem herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis und der statistisch erfaßten, offiziellen Arbeitslosigkeit hat sich zunehmend eine Vielfalt von ›prekären‹ ›untypischen‹, ›nicht standardisierten.‹ usw. Arbeitsverhältnissen etabliert«.51 Ähnlich hat die neuere Armutsforschung gezeigt, daß in unserer Gesellschaft Armut häufig nicht lebenslang dauert, sondern nur begrenzte Zeiträume umfaßt, dafür aber nun breitere Bevölkerungsgruppen bedroht, also eine Art Demokratisierung von Armut stattfindet. Das Fazit heißt, daß »Armutslagen ›beweglicher‹ sein dürfen als bislang angenommen: Armut ist häufig nur eine Episode im Lebenslauf … Zugleich reicht Armut als vorübergehende Lebenslage und latentes Risiko in mittlere soziale Schichten hinein und ist nicht mehr auf traditionelle Randgruppen oder ein abgespaltenes unteres Drittel beschränkt«. So gesehen wird Armut ver-zeitlicht, weniger Dauerschicksal, mehr lebensphasenspezi-fisch: »Armutlagen erweisen sich also als komplexe Gebilde, bestehend aus Armutsphasen, Unterbrechungen, Wiedereinstiegen und zum Teil endgültigen Ausstiegen«.52 71
Die Parallele liegt auf der Hand. Was hier über Armutslagen gesagt wurde, könnte man, mit praktisch denselben Worten, auch über Familienlagen aussagen. Und in der Tat, ein Fazit aus der neueren Familienforschung lautet: Familie wird zur »transitorischen Lebensphase«,53 ja zur »Teilzeitgemeinschaft«.54 Die traditionelle Familie wird demnach zwar nicht verschwinden, aber sie wird seltener werden, weil daneben andere Lebens- und Beziehungsformen entstehen. Erst recht wird sie viele Menschen nicht mehr lebenslang binden, sondern nur noch über bestimmte Zeiträume und Phasen. Am Ende fügen sich die verschiedenen Facetten zu einem gemeinsamen Bild. Die Diagnose lautet durchgängig, daß die Lebenslagen beweglicher, durchlässiger, freilich auch brüchiger werden. An die Stelle selbstverständlich vorgegebener, oft erzwungener Bindungen tritt das Prinzip »Bis auf weiteres«, wie Bauman es nennt, eine Art Absage an lebenslange Entwürfe, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten.55 Wenn Scheidung normal wird und das, was einst normal hieß, auf immer mehr Ebenen brüchig gerät, dann gilt: »Das Leben ist eine Baustelle«56. Statt der festgefügten Formen nun mehr Wahlmöglichkeiten und eigene Entscheidungen, mehr Anfänge und Abschiede. Mehr Höhenflüge und Abstürze, mehr Suchbewegungen vor allem. Von der Normalbiographie zur »Basteibiographie«57 – das ist das Kennzeichen der Moderne. Vielleicht liegt genau hier auch ihr identitätsstiftender Kern, jenseits aller Episoden, Etappen und Brüche.
Kapitel 3
Das Leben als Planungsprojekt Wenn also, wie bisher gesagt, die früher geltenden Schranken, vorgegeben qua Natur, Religion, Tradition, auf dem Weg in die Moderne immer mehr an Stärke und Verbindlichkeit einbüßen, statt dessen neue Optionen und Wahlmöglichkeiten aufkommen; wenn die privaten Lebensformen, und nicht zuletzt die privaten Beziehungsmuster, damit offener und beweglicher werden, freilich auch brüchiger, wenn sie nun prinzipiell aufkündbar sind, untergründig immer mit dem Risiko von Verlust und Scheitern behaftet – was bedeutet dies dann für die Verhaltensformen der Menschen im Alltag? Wie gehen Männer und Frauen mit den »riskanten Freiheiten« um, die sich im Zuge von Individualisierungsprozessen auftun, wie reagieren sie auf die »hergestellte Unsicherheit«1, die das Zeitalter der fortgeschrittenen Moderne kennzeichnet? Die erste Antwort lautet: Individualisierung erzeugt Sicherheitsstreben. Dies wiederum kann verschiedene Formen annehmen. Zum einen werden die steigenden Sicherheitsbedürfnisse umgesetzt in Forderungen an Staat bzw. öffentliche Institutionen, in die Erwartung, der Staat solle über ein Netzwerk von Leistungen und Vorschriften, Regeln und Reglementierungen dem einzelnen Schutz garantieren.2 Weil der Staat aber nie alle Risiken, Gefährdungen, Fragen und Zweifel abhalten kann, also immer 73
Unsicherheit bleibt, flüchten manche sich in fundamentalistische Ideologien, andere schließen sich esoterischen Bewegungen an, suchen Halt bei Magie, Mythos, Metaphysik. Doch jenseits solcher Verhaltensmuster, die die Unsicherheit im Grunde auslagern und abgeben sollen, hat die Moderne auch ein eigenes Leitbild geschaffen, eine eigene Verhaltensanweisung, um den Unsicherheiten des Lebens unter Individualisierungsbedingungen aktiv zu begegnen. Die Vorgabe heißt: Planen! Die Zukunft in den Griff kriegen! Den Zufall abwenden, selbst steuern und lenken! Kurz, das Leben wird, zumindest der Anforderung nach, zum Planungsprojekt. Was dieses Planen beinhaltet, wie es sich äußert, und vor allem: wie es in die privaten Beziehungsformen hineinwirkt, in das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kinder – darum geht es im folgenden Kapitel.
1. Vom Aufstieg des Planungsdenkens Weil das »Leben als Planungsprojekt« seine sozialstrukturellen Wurzeln im Individualisierungsschub der Moderne hat, ist es wichtig, zunächst noch einmal genauer zu bestimmen, was Individualisierung denn meint. Auf den hier relevanten Punkt zusammengefaßt:3 Individualisierung bringt zwar eine Erweiterung des Lebensradius, einen Gewinn an Handlungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten. Aber dennoch meint Individualisierung ganz sicherlich nicht eine »unbegrenzt im quasi freien 74
Raum jonglierende … Handlungslogik«,4 das schrankenlose Ausleben der persönlichen Wünsche, und auch nicht bloße »Subjektivität«, ein Absehen davon, daß »hinter der Oberfläche der Lebenswelten eine hocheffiziente, engmaschige Institutionengesellschaft ist«.5 Im Gegenteil, es ist ein alles andere als gesellschaftsfreier Raum, in dem sich die modernen Subjekte mit ihren Handlungsoptionen bewegen. Die Regelungsdichte der modernen Gesellschaft ist berühmt bis berüchtigt (vom TÜV bis zur Steuererklärung bis zu Müllsortierungsbestimmungen), im Summeneffekt ein höchst differenziertes Kunstwerk mit labyrinthischen Anlagen, das uns buchstäblich von der Wiege zur Bahre begleitet (keine Existenz ohne Geburtsund Sterbeurkunde). Und zu den offiziellen Regeln kommen noch die subtileren Normierungen hinzu, die via Medien, Werbung, Konsum aufgebaut werden.
Aktive Herstellungsleistung Wenn also früher wie hellte das Leben des Einzelnen in vielfältige gesellschaft liche Vorgaben gestellt ist – was macht dann das Besondere der Gegenwart aus, das Leben unter Individualisierungsbedingungen? Der Unterschied liegt zunächst einmal darin, daß die Vorgaben heute anderer Art sind: nicht mehr Standeszugehörigkeit, Religion, Tradition, sondern Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Bildungssystem, Rechtsprechung usw. Und das entscheidende Kennzeichen dieser modernen Vorgaben ist, daß das Individuum sie, weit mehr als früher, gewis75
sermaßen selbst herstellen muß, im eigenen Handeln in die Biographie hereinholen muß. Dies hat wesentlich damit zu tun, daß die traditionellen Vorgaben der vorindustriellen Gesellschaft oft rigorose Handlungsbeschränkungen, ja Handlungsverbote beinhalteten (wie etwa die Heiratsverbote, die für breite Bevölkerungsgruppen eine Eheschließung unmöglich machten; oder die Kleiderordnung, die detailliert vorschrieb, was die unteren Stände nicht tragen durften). Dagegen sind die institutionellen Vorgaben der modernen Gesellschaft eher Leistungsangebote bzw. Handlungsanreize – man denke etwa an den Wohlfahrtsstaat, von Arbeitslosengeld bis zu BAFöG und Bausparprämien. Vereinfacht gesagt: In die traditionelle Gesellschaft und ihre Vorgaben wurde man hineingeboren (wie etwa in Stand oder Religion). Für die neuen dagegen muß man etwas tun, sich aktiv bemühen – etwa auf dem Arbeitsmarkt sich behaupten, oder Leistungen wie Wohngeld beantragen und begründen. Hier muß man erobern, in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcen sich durchzusetzen verstehen. Oder mit Parsons gesagt: Es handelt sich nicht mehr vorrangig um zugewiesene, sondern um erworbene Positionen. Wer sich aber auf diese Art des Erwerbs nicht versteht, dessen Position ist entsprechend gefährdet. Wer den institutionellen Vorgaben der modernen Gesellschaft nicht nachkommt, nicht flexibel damit umzugehen versteht, hat im persönlichen Leben die Folgen zu tragen. Er riskiert Arbeitsplatz, Einkommen, soziale Stellung. Wie Ulrich Beck schreibt: »In der individualisierten Gesellschaft muß der einzelne … bei Strafe seiner permanenten Be76
nachteiligung lernen, sich selber als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen«.6 Wo der Lebenslauf nicht mehr Schicksal ist, sondern eher ein Möglichkeitsraum, da werden neue Fähigkeiten, Verhaltens- und Denkmuster verlangt. In erweiterten Optionsspielräumen wächst der individuell abzuarbeitende Handlungsbedarf, es werden Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Mit dem Fortschreiten der Moderne wird so immer mehr eine aktive und selbstgesteuerte Lebensführung gefordert, die institutionelle Vorgaben geschickt aufgreift, einsetzt und nutzt, gegebenenfalls auch abwehrt und ausmanövriert. Martin Kohli hat dies pointiert auf eine Formel gebracht: »Das Leben ist nicht mehr … eine ›Wunderbare Gabe Gottes‹, sondern individueller Besitz, der auf Dauer zu verteidigen ist. Mehr noch: es wird zur gestaltenden Aufgabe, zum individuellen Projekt.«7
Zwang zur Zukunft Individualisierung in diesem Sinne meint wesentlich auch die Herauslösung aus den früheren Formen gemeinschaft licher Lebensführung und Existenzsicherung. Dies war im Alltag die Familie als Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, in Notfällen die Unterstützung durch Dorf oder Sippe.8 Wo solche Versorgungsbezüge brüchig werden, wird die Existenzsicherung primär zur Aufgabe des einzelnen: Er ist darauf angewiesen, durch 77
die individuelle Leistung und Durchsetzung auf dem Arbeitsmarkt sich die Mittel zum Lebensunterhalt zu erwerben. Und während diese Entwicklung in der Frühphase zuallererst für den Mann galt, nach dem Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft ja der Familien»ernährer«, sind es heute in zunehmendem Maße auch Frauen, denen, in wenn auch widersprüchlicher Form, eine eigenständige Existenzsicherung erlaubt bzw. auferlegt wird. Nur im Fall dramatischer Einbrüche kann der einzelne/die einzelne die Hilfsangebote des Sozialstaates beanspruchen (und da diese wiederum an Auflagen, Restriktionen, Interpretationen geknüpft sind, wird er sie keineswegs immer erhalten). Unter diesen Bedingungen liegt es deshalb im Interesse des einzelnen, Absicherungsstrategien zu entwickeln, um, mit Kohli gesagt, seinen Besitz zu verteidigen und die Mittel der Lebensführung langfristig zu erhalten. Dafür wiederum ist es wichtig, sich gegen potentielle Risiken und Bedrohungen zu wappnen. Deshalb ist ein zentraler Bestandteil aller Absicherungsstrategien ein vorausschauendes Denken, eine Art eingebautes Vorwarnsystem, das Risiken möglichst frühzeitig erkennt, um sie umgehen bzw. unschädlich machen zu können. Nicht zufällig ist »Prävention« zu einem allgegenwärtigen Mode- und Schlagwort geworden: Prävention, als Kombination aus Vorsicht und Vorsorge verstanden, ist das Gebot der individualisierten Gesellschaft. Und das eben heißt vorausdenken, die Zukunft kalkulieren und kontrollieren. Mit dem Planungsmoment wird derart ein »Zwang zur Zukunft« in die individuelle Lebensführung eingelassen. 78
Bei Berger/Berger/Kellner heißt es dazu: »In der modernen Gesellschaft ist diese Lebensplanung zu einem Wert an sich geworden … Ein bemerkenswert großer Anteil der Gespräche zwischen den Familienmitgliedern … bezieht sich auf die Lebensperspektive. Der Lebensplan wird fortwährend revidiert.« Dieselben Autoren sprechen zugleich auch die Kehrseite an, nämlich: »Das Fehlen eines solchen Lebensplanes gibt allgemein Anlaß zur Mißbilligung.«9 Wer nicht plant, scheint dem modernen Bewußtsein zunehmend verdächtig. Die entsprechenden Etikettierungen lauten: naiv, irrational, ja verantwortungslos. Im Zweifelsfall soll er/sie die Konsequenzen dann selber tragen: nicht mehr Schicksal, sondern »selber schuld« lautet die Diagnose jetzt.
Expertenwissen breitet sich aus In der entzauberten Welt der Moderne soll man planen, vorausschauen, zielbewußt handeln, jedoch: wie ist das möglich? Die Antwort ist einfach, zumindest auf den ersten Blick, sie lautet: Im Zuge von Säkularisierungsprozessen sind auch die Orientierungsinstanzen weltlich geworden, sie heißen jetzt Spezialisten, Wissenschaft ler, Berater. Die Experten erleben ihren Aufstieg und breiten sich aus. Sie reichen in buchstäblich alle Nischen und Regungen des Lebens, von Mode und Kleidung bis zu Konsum, Reisen, Freizeit, von Ernährung und Erziehung bis zu Sport und Gymnastik, ja bis hin zu den inneren 79
und intimsten Bereichen, bis zu Liebe, Sexualität und Beziehungsproblemen. Kurz, die Berater sind überall und allgegenwärtig, und dies nicht zufällig. Denn wer planen muß, muß zunächst Informationen einholen, diese abwägen, filtern, vergleichen, gegebenenfalls neue einholen. In diesem Sinne, schreibt Anthony Giddens, ist unsere Welt heute »eine Welt der gescheiten Leute«. Damit ist nicht gemeint, fährt er fort, daß die Menschen heute intelligenter sind als früher. Statt dessen heißt es, daß unter den Bedingungen von Enttraditionalisierung und Individualisierung Expertenwissen immer mehr zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags wird: »Die von Spezialisten erzeugten Informationen … lassen sich nicht mehr … auf spezifische Gruppen beschränken, sondern sie werden auch von Nichtexperten im Zuge ihrer Alltagshandlungen interpretiert und ihrem Tun zugrunde gelegt.«10 Die Berater verheißen den Weg zur gesunden Ernährung und zum preisgünstigen Einkauf, zu Berufserfolg und Karriere, zur richtigen Erziehung und zur schlanken Figur, zum Glück in der Partnerschaft und zum Umgang mit seelischen Krisen. Sie entwerfen Theorien, Strategien, Lösungsvorschläge, sie zählen Vor- und Nachteile auf, sie versorgen mit Rezepten und Regeln, sie zeigen Wege und Auswege. Kurz, sie bieten praktische Hilfe beim Optimieren und Kalkulieren des Lebens. Tun sie das wirklich? Das ist die Frage, und eine pauschale Antwort wäre sicher unangemessen. Aber soviel zumindest steht fest: Das Wissen, das die Experten anbieten, unterscheidet sich wesentlich von den traditionalen Orientierungsvorgaben. Um den entscheidenden Punkt 80
gleich zu nennen: Das Expertenwissen ist, auch wenn es noch so viel Sicherheit zu bieten verheißt, noch so viel Prüfsiegel und Zertifikate aufweist, seine eigenen Natur nach immer unsicher, und diese aus zwei Gründen.11 Zum einen: Expertenwissen ist nicht statisch, sondern expandiert, schreitet weiter, und das heißt eben auch es überholt sich, veraltet. Um nur ein besonders anschauliches Beispiel zu nennen: Erst ein paar Jahrzehnte ist es her, seit viele Ärzte ihren Patienten das Rauchen empfahlen zur körperlichen und seelischen Entspannung.12 Heute dagegen sprechen sie finstere Warnungen aus, und zu jeder Zigarettenreklame gesellt sich der düstere Hinweis, »Rauchen gefährdet die Gesundheit«. Mit dem Stillen war es ähnlich, erst wurden die Mütter angehalten zu striktem Verhalten, zum Stillen nach Zeitplan, heute dagegen gilt solches als schädlich für das Gedeihen das Kindes, und Stillen nach Bedarf ist nun die Devise. Die Beispiele ließen sich praktisch endlos fortsetzen. Und nicht nur auf der Zeitachse finden wir einen Umschwung der Rezepte und Regeln, nein, auch zum selben Zeitpunkt sind wir konfrontiert mit dem Neben- und Gegeneinander konkurrierender Experten, die zwar alle ein Wissen verheißen, im Effekt aber, wenn man die jeweiligen Informationen vergleicht, nicht selten mehr Widersprüche als Wissen anbieten. Da bleibt dann Irritation, Konfusion, Zweifel, oder wie Giddens schreibt: »Es gibt hier keinen Überexperten, der uns den Weg weist.«13 Und weil dieses so ist, und zwar notwendig so ist, kann das Expertenwissen nie jenen Grad von Sicherheit, von Legitimationsanspruch erreichen, den die alten Orientierungsinstanzen noch hatten. 81
Das Expertenwissen ist also, der Möglichkeit nach, immer schon brüchig, was im Normalfall lange verdeckt bleiben mag, aber in der einen oder anderen Situation, vor allem im Gefolge von Krisen, dann ganz plötzlich offenbar wird, wenn die Experten öffentlich ihre Kontroversen austragen. Zum Beispiel nach Tschernobyl, im Zeitalter von Aids, im Gefolge von Rinderwahn: Wie schädlich sind welche Schadstoffe; wie verlaufen die Ansteckungswege; wer ist am meisten gefährdet; wie kann man sich schützen? Die Experten mögen streiten, der Laie jedoch muß sich verhalten (in bezug auf Sexualität, Ernährung, Erziehung usw.), er muß seine Leben gestalten, in der einen oder anderen Form. Er ist aufgerufen, ein »mündiger Bürger« zu sein, informiert, verantwortungsbewußt, rational abwägend, nur: welchen Informationen kann er denn trauen? Es mehren sich die Situationen, wo er (pardon, natürlich auch sie, die mündige Bürgerin, nicht zuletzt auch die sorgende Mutter) sich einem Dschungel von Expertenratschlägen ausgesetzt sieht und darin nun einen eigenen Weg bahnen muß, wie auch immer – vielleicht allein, vielleicht im Austausch mit anderen Betroffenen oder mit Selbsthilfegruppen, vielleicht mutig und selbstbewußt, vielleicht verunsichert und ratlos. Aber so oder so, im Ergebnis wird die Landschaft des Sozialen nachhaltig verändert. Weil die Expertenmeinungen, anders etwa als das kirchliche Dogma, nicht die eine und einzige Wahrheit verkünden, sondern konkurrierende Definitionen und Aussagen liefern, wird der Rahmen der festen, eindeutig geltenden Vorgaben gesprengt. Indem von den mündigen Bürgern die einen so, die anderen 82
sich anders verhalten – und dies mit je guten Gründen –, erweitern sich die Handlungsspielräume. Immer mehr Wege und Pfade zeichnen sich ab, kreuzen sich, laufen nebeneinander, entfernen sich wieder – ein Gewirr an Linien entsteht: Mit der Unsicherheit wächst auch eine neue Unübersichtlichkeit.
2. Vorsorgedenken im Feld der privaten Beziehungen Betrachten wir nun, wie die aktuellen Formen der Lebens- und Zukunftsplanung konkret hineinwirken in den privaten Bereich und welche neuen Verhaltensmuster sie aufkommen lassen. Die Grundfrage heißt, wie der »Zwang zur Zukunft«, der idealtypisch in den Lebenslauf der Moderne eingebaut ist, sich in alltägliches Verhalten übersetzt, welche Strategien, vielleicht auch Dilemmata in ihm angelegt sind.
Die Partnerschaft proben Fangen wir an mit Liebe, Sexualität und Partnerbeziehung, also dem scheinbar intimsten, ganz von Gefühlen bestimmten Bereich, der fernab ist von Strategien des Kalkulierens und Kontrollierens. So jedenfalls die Version der Schlagertexte und Serienromane, doch die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Heute 83
sind zwar die Gebote der Kirche, die Enthaltsamkeit vor der Ehe befahlen, längst brüchig geworden, dafür aber erfahren die Kinder ganz offiziell im schulischen Aufk lärungsunterricht, wie Sexualität und Schwangerschaft zusammenhängen, wie bei Geschlechtsverkehr die Gefahr von Aids und Ansteckung droht, woraus jeweils folgt: daß man sich »vorsehen« soll und nicht zuletzt auch, wie man das kann. Auch wenn nicht alle sich stets daran halten, so haben doch – über Schule, Fernsehen, Zeitschriften, Medienkampagnen – alle schon davon gehört und wissen, daß es »Risiken« gibt. Dies Wissen hat den Umgang mit Sexualität nachhaltig verändert, hat neue Formen des Planens aufkommen lassen (von der regelmäßigen Pilleneinnahme bis zum Kondom in der Tasche, »für alle Fälle«). Was dann die Partnerbeziehung angeht, so ist inzwischen unübersehbar geworden, daß die Ehe ihre Verheißung, ein Bund fürs Leben zu sein, heute in vielen Fällen nicht einlöst. Und je augenfälliger das Risiko von Scheitern und Scheidung, desto mehr kann man beobachten, wie im Gegenzug Strategien des vorgängigen Absicherns aufkommen. Da gibt es etwa Angebote wie die »premarital therapy«,14 die »premarital check-list«15 oder auch die »Kommunikationstherapie vor der Ehe«,16 allesamt darauf gerichtet, potentielle Krisen- und Konfliktherde ausfindig zu machen, bevor der Ernstfall der Ehe beginnt. Ebenfalls gibt es eine wachsende Zahl von Frauen, die vor der Eheschließung zunächst einmal ein Detektivbüro damit beauftragen, das Vorleben des Partners auf dunkle Punkte (wie Schulden, Drogen, Kriminalität) auszufor84
schen.17 Sie wollen sich so vergewissern, ob der Zukünftige wirklich zum Zukünftigen taugt. Erst recht schließen immer mehr Paare vor der Ehe einen Ehevertrag ab, wobei die Regelungen im einzelnen ganz unterschiedliche Punkte betreffen (von der Verfügung über Geld und Vermögen bis zu Lebensstil und Kinderzahl), aber das Motiv doch ein durchgängig ähnliches ist: Man will dem Glück nicht einfach seinen Lauf lassen, sondern es festmachen und absichern auf juristischem Weg.18 Solche Formen der »Scheidungsvorsorge«19 entstehen nicht zufällig, und sie sind auch nicht bloß Produkt persönlicher Neigungen oder Neurosen. Wo alles unsicher wird, wo die alten Traditionen und Normen immer weniger Gültigkeit beanspruchen können, da will man wenigstens in eigener Regie, sprich im privaten Zweierverfahren Verbindlichkeit, Sicherheit, Verläßlichkeit schaffen, kurz: die Zukunft berechenbar machen. All dies mögen noch Einzelbeispiele sein, nur für eine Minderheit typisch. Aber wie die demographischen Statistiken zeigen, hat sich in den letzten Jahren ein anderes Muster etabliert, das längst nicht mehr nur eine kleine Gruppe betrifft, vielmehr zum Normalfall tendiert: Immer mehr Paare leben zunächst einmal ohne Trauschein zusammen, bevor sie dann heiraten (oder am Ende auch nicht). Sicher wäre es falsch, den Aufstieg dieser Lebensform monokausal zu erklären, sicher spielen hier verschiedene Motive herein. Aber wohl nicht zufällig wird die Ehe ohne Trauschein auch »Ehe auf Probe« genannt: Offensichtlich wollen manche der Paare zunächst einmal versuchen, wie sie zusammen passen bzw. miteinander 85
auskommen können, bevor sie den Gang zum Standesamt wagen.20 Ein Verhalten, das durchaus seine innere Logik besitzt. Wo die alten Sicherungsformen, nämlich Auswahl und Kontrolle möglicher Partner über den Familienverband, nicht mehr funktionieren; wo gleichzeitig die alten Leitbilder und Rollenmodelle nicht mehr tragen, die Palette möglicher Familien- und Lebensformen immer breiter wird; gerade da liegt es nahe, vor den Ernstfall den Praxistest einzulegen, sprich: die Ehe zu proben, bevor man sie schließt. So ist vielleicht auch von daher zu erklären, wenn die demographischen Statistiken der letzten Jahre einen Anstieg des Heiratsalters anzeigen. Vereinfacht zusammengefaßt: Wenn man vorher erst planen, proben, absichern muß, dann ergibt sich ein Aufschubeffekt, dann fällt die Entscheidung tendenziell später. Heiratsalter lediger Männer und Frauen in Jahren Jahr
Westdeutschland
Ostdeutschland
Männer Frauen Männer Frauen
1980 1985 1990 1993 1995 1996
26,1 27,2 28,4 29,3 29,9 30,1
23,4 24,6 25,9 26,9 27,5 27,7
– 24,8 25,8 27,6 28,5 29,0
– 22,7 23,7 25,5 26,4 26,7
Deutschland Männer
Frauen
– 26,6 27,9 29,2 29,7 30,0
– 24,1 25,5 26,8 27,3 27,6
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Statistisches Bundesamt 1990, S. 102 und Sommer 1997, S. 222. Auskunft des Statistischen Bundesamtes.
Während in der bürgerlichen Gesellschaft der Weg in die Ehe einem verbindlichen Ablauf folgte, mit selbstverständlicher Reihenfolge der Stadien (Kennenlernen, 86
Einverständnis der Eltern, Verlobung, Heirat, Beginn des gemeinsamen Haushalts), ist der Weg in die Partnerschaft heute ganz anders: Weil die gesellschaft lichen Vorgaben sich praktisch aufgelöst haben, muß jeder sich seine eigenen Absicherungen schaffen. Aus dem Möglichkeitsraum von Vorformen und Probeformen kann jede(r) sich die Mischung auswählen, die er oder sie für sinnvoll ansieht. Damit stehen Fragen an, werden Entscheidungen fällig, und das Ergebnis ist abhängig von Vorlieben, Bildung, persönlicher Lebensgeschichte, nicht zuletzt früherer Beziehungserfahrung: Da steht nirgends geschrieben, daß die beiden Beteiligten zu übereinstimmenden Antworten kommen. Wollen wir zusammenziehen, jetzt oder später oder vielleicht lieber gar nicht? Wenn sie zum vorehelichen Kommunikationstraining will und er solches für blödsinnig hält, was machen sie dann? Wenn einer einen Ehevertrag aufsetzen will, der andere dies als Mißtrauen wertet, oder wenn beide einen Vertrag als sinnvoll erachten, nur über den Inhalt der Klauseln unterschiedlicher Auffassung sind, was soll dann gelten? Und wenn es nur um Sachfragen, um objektive Entscheidungen ginge – es kommen ja noch die subjektiven Interpretationen hinzu, die Bedeutungen, mit denen die beiden Personen dieses oder jenes Verhalten belegen, der symbolische Gehalt, den sie ihm beimessen: Wie verbindlich ist welches Verhalten? Wenn wir zusammenziehen, dann einfach deshalb, weil es praktischer und finanziell günstiger ist, oder heißt es schon, daß wir es ernst meinen und eine gemeinsame Zukunft anstreben? Eine selbstverständli87
che Antwort gibt es nicht mehr. Statt dessen individuelle Deutungen und Interpretationen, die sich – im NichtUbereinstimmungs-fall – zu Mißverständnissen aufladen, im noch schlimmeren Fall in Vorwürfen entladen. Also tastende Annäherungen, die zweifellos den Möglichkeitsraum erweitern, aber ebenso zweifellos auch – das Feld der Konfliktzonen. Giddens hat recht, wenn er schreibt, unser alltägliches Leben sei »experimentell« geworden, ein »Großversuch«, wobei er betont, dies gelte besonders auffällig für den Bereich der persönlichen Beziehungen.21 Dem darf man hinzufügen, daß es ist wie bei anderen Experimenten auch: Manche gelingen und andere nicht. Darüber hinaus haben die gängigen Absicherungsformen, vom Ehevertrag bis zur Ehe auf Probe, eine eigene innere Logik und damit auch eine Eigendynamik. Sie sind im Kern Selbstschutzstrategien.22 Weil sie im Konfliktfall die Autonomie und die Rechte des Einzelnen vorrangig setzen und, wenn auch unausgesprochen, die Stabilität der Beziehung geringer einschätzen, deshalb erhöhen sie das Risiko, daß die Bindung zerbricht. Wer einen Ehevertrag abschließen will, um im Falle des Falles abgesichert zu sein, der oder die hat die eigene Position dann tatsächlich besser gefestigt – und kann, sollten Turbulenzen aufkommen, sich leichter zur Scheidung entschließen. Weil die Kosten niedriger sind, kann er/sie eher aus der Ehe heraus.
88
Elternschaft planen Betrachtet man die demographischen Statistiken weiter, so findet man auch eine wachsende Zahl »später Eltern«, einen Anstieg des Lebensalters insbesondere der Frau, bevor sie zum ersten Mal Mutter wird. Zweifellos ist auch dieser Trend nicht aus einer einzigen Ursache zu erklären, aber man kann mit guten Gründen vermuten, daß der Aufschubeffekt auch hier auf Absicherungswünsche verweist. Jedenfalls ergibt sich aus empirischen Untersuchungen deutlich folgendes Bild: Was einst die natürlichste Sache der Welt war, wird immer mehr zu einem Unternehmen, das langfristiger Überlegungen und Abwägungen bedarf. Durchschnittliches Alter verheirateter Frauen bei der Geburt des ersten Kindes in West- und Ostdeutschland, 1970–1996 Jahr
Westdeutschland
Ostdeutschland
Deutschland
, , , , ,
,* ,* , , ,
– – , , ,
Quelle: Statistisches Bundesamt * Durchschnittliches Alter aller Frauen bei der Geburt des ersten Kindes
»Familienplanung« oder auch »verantwortete Elternschaft«23 heißt die Devise, und die Verantwortung bemißt sich an vielen Faktoren, von Stabilität der Partnerbeziehung über Einkommen und Wohnung bis zum richti89
gen Zeitpunkt in der Berufsbiographie. So wird aus dem, was Entscheidungssituation genannt wird, in Wirklichkeit oft ein langer Entscheidungsprozeß; und dies insbesondere im Milieu der »neuen Frauen« (manchmal auch Männer), die – mit vielen Ideen aus Psychologie, Pädagogik, Selbsterfahrung im Kopf – nun alles sehr bewußt machen wollen. Die Devise für potentielle Mütter heißt heute, in einem Frauenhandbuch programmatisch vorformuliert: erst »alles sorgfältig durchdenken« und dann einen »wirklich sicheren Entschluß fassen«.24 Und diese Devise wird auch befolgt – nicht immer, aber doch immer mehr. Eine empirische Untersuchung stellt fest: »Viele der befragten Frauen klagen über einen Verlust an Spontaneität. Sie haben den Eindruck, daß Kinder früher selbstverständlicher zur Welt gebracht wurden, während sie heute eine bewußte Entscheidung treffen müssen.«25 Wie allgegenwärtig dieses Planungsgebot ist, zeigt sich gerade im Fall jener, die dagegen verstoßen: Mißbilligung trifft sie. Im öffentlichen Bewußtsein können sie wenig Zustimmung oder Unterstützung erwarten. »Die neue Moral heißt bewußte, rationale, technisch-sichere Verhütung. Ihr Leitbild ist der aufgeklärte moderne Mensch, der verantwortungsbewußt mit dem Akt der Zeugung umgeht … Fast wird derjenige verdächtig, der im Zeitalter der unbegrenzten Verhütungsmöglichkeiten keinen Gebrauch davon macht. Verhütung wird vom notwendigen Übel zur aufgeklärten Staatsbürgerpflicht.«26 Neue Schuldzuweisungen kommen auf, die insbesondere Frauen treffen. Wo individuelle Wünsche und institutio90
nelle Bedingungen kaum je zusammenpassen, wird aus der Planungschance leicht die »Planungsfalle«27. Da wird die Verhütungstechnologie dazu benutzt, jene Frauen zu stigmatisieren, die sich »falsch« entscheiden oder sich weigern, »rational« und »vernünftig« eine »optimale« Lösung bewußt herzustellen. Ins Blickfeld gerät nur die einzelne Frau und ihr jeweiliges Verhalten, nicht dagegen die widersprüchlichen Vorgaben von Beruf versus Familie. »Nicht Berufsstrukturen, die Frauen eine Entweder-oderEntscheidung abverlangen, gelten als ›irrational‹, sondern die Frauen, die sich und ihre Familienplanung derartigen Strukturen nicht voll anpassen. Dort, wo die sichere Entscheidung für oder gegen Kinder dank Pille und Spirale prinzipiell denkbar ist, werden die Konsequenzen ›falscher‹ Entscheidungen individualisiert und an die Frauen selbst zurückgegeben.«28 Hinzu kommen noch andere Varianten der Planungsfalle. Frauen, die solange mit dem Kinderwunsch warten, bis ihre berufliche Situation gesichert ist, müssen am Ende vielleicht feststellen, daß andere wichtige Bedingungen nicht stimmen. Dann mag vielleicht der beruflich richtige Zeitpunkt erreicht sein, aber eine feste Partnerbeziehung besteht nicht oder nicht mehr. Und gleichzeitig tickt die biologische Uhr, denn mit steigendem Lebensalter der Frau nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis und Schwangerschaft ab. Es ergibt sich also ein paradoxer Effekt. Wer lange plant, aufschiebt, verhütet, der bzw. die geht das Risiko ein, daß die Planung sich am Ende nicht einlösen läßt: daß dann, wenn die Entscheidung fürs Kind endlich fällt, sie sich als nicht mehr realisierbar erweist. 91
Mit Pränataldiagnostik in die »Schwangerschaft auf Probe« Falls die Entscheidung fürs Kind schließlich fällt, und falls tatsächlich dann eine Schwangerschaft eintritt, ist die Zeit des Planens und Absicherns nicht vorbei. Im Gegenteil, jetzt beginnt sie erst recht. Seit der rapiden Entwicklung der Medizintechnologie in den letzten Jahrzehnten, und insbesondere seit dem Aufschwung der Gentechnologie und Gendiagnostik, ist Schwangerschaft zunehmend zu einem riskanten Unterfangen geworden: vom Rat der Experten umgeben, der Intervention durch Tests, Apparate, medizinische Eingriffe geöff net, vielen Formen der »fürsorglichen Belagerung«29 unterstellt. Dies gilt insbesondere für diejenigen Gruppen, die, wie es nun heißt, ein erhöhtes genetisches Risiko tragen und deshalb auch »Risikogruppen« genannt werden (sei’s aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände, wie etwa höheres Alter, sei’s aufgrund ihrer Familiengeschichte, in der sich genetisch bedingte Erkrankungen nachweisen lassen). In diesem Kontext besonders werden »Prävention« bzw. »prophylaktische Maßnahmen« empfohlen, und das bedeutet im Klartext zumeist: nach Schwangerschaftsbeginn (oder besser noch vorher, schon vor der Zeugung) die genetische Beratung aufsuchen, spezielle Tests durchführen lassen, bei ungünstigem Befund die Schwangerschaft abbrechen und, so man will, eine neue versuchen. Anders gesagt, die »Schwangerschaft auf Probe«30 beginnt. 92
Schon gibt es Tendenzen, ein solches Verhalten zu rühmen, als Ausdruck neuer Verantwortung eben. So schreibt z. B. Hubert Markl, ein prominenter Vertreter der Naturwissenschaften, daß »der Verzicht auf eigene Kinder aus solchen Gründen [des genetischen Risikos] mindestens ebensosehr, vielleicht sogar mehr gerühmt zu werden verdient als der Entschluß, dem unter Umständen grausamen Schicksal in unerbittlich fatalistischer Frömmigkeit seinen Lauf zu lassen.«31 Noch deutlicher Martin Sass, ein prominenter Vertreter der neuen Bioethik. Er hält risikoreiche Fortpflanzungsentscheidungen für »unverantwortlich der Gesellschaft gegenüber, die einen so schwerst Benachteiligten in die Solidargemeinschaft aufnimmt«.32 Schon breiten solche Auffassungen auch im Alltagsbewußtsein sich aus, schon gelten Frauen, die die Angebote der Pränatal- und Gendiagnostik nicht zielstrebig nutzen, manch einem für egoistisch, ignorant oder dumm: »Die stecken wohl lieber den Kopf in den Sand, als die Wahrheit zu erfahren.«33 Schwangerschaft heute ist also nicht einfach ein natürlicher Vorgang, sondern einer, der bewußter Verantwortung und spezieller Unterrichtung bedarf, gegebenenfalls auch der genetischen Beratung. Dann, so die Verheißung, werden »informiertere Fortpflanzungsentscheidungen«34 möglich. Die Frage ist nur, ob diese Verheißung auch tatsächlich eingelöst wird. Oder genauer, in welchen Situationen sie eingelöst wird, in welchen eher nicht, und wo in der Folge eventuell neue Dilemmata aufkommen. Beginnen wir mit der unproblematischen Konstellation. Sie ist dann gegeben, wenn einem Paar mit Kinder93
wunsch mitgeteilt werden kann, daß vor dem Hintergrund der jeweiligen Familiengeschichten kein Anlaß besteht, mit einem erhöhten genetischen Risiko für den Fall einer Schwangerschaft zu rechnen. Ähnlich ist die Situation, wenn einer schwangeren Frau mitgeteilt werden kann, aufgrund des Befunds der Pränataldiagnostik könne eine befürchtete Anomalie (z. B. Down-Syndrom) ausgeschlossen werden. Solche Fälle sind deshalb unproblematisch, weil eine genetische Aussage gemacht werden kann, die mit den Wünschen und Hoffnungen der Klienten übereinstimmt. So können bestehende Ängste ausgeräumt werden, und die Freude aufs Kind kann sich freier entfalten. Anders dagegen ist die Situation da, wo die Gendiagnostik nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage erlaubt (etwa der Art: es besteht ein Erkrankungsrisiko von 25 Prozent für jedes Kind). Bekanntlich können statistische Wahrscheinlichkeitsangaben nie etwas aussagen über den konkreten Fall, die jetzt und hier bestehende oder geplante Schwangerschaft. Aber ebenso gilt, »ein bißchen schwanger gibt es nicht«. Von daher paßt die Qualität des gendiagnostischen Befunds nicht zusammen mit der Logik der Entscheidungssituation, die nur zwei Alternativen zuläßt: ja oder nein, Schwangerschaft oder keine. Hier fühlen sich die Klientinnen und Klienten oft allein gelassen mit ihren Ängsten, mit ihren Gefühlen. Und dies ist kein Zufall, auch kein individuelles Versagen der Berater, vielmehr systematisch bedingt. Denn das Wissen, das die Gendiagnostik bereitstellt, ist ein technisch beschränktes Wissen, 94
keines, das die existentiellen Fragen und Konflikte auffangen kann, die bei den Klienten angerührt werden. Wohl noch schwerere psychische Belastungen sind zu erwarten, wenn einer schwangeren Frau ein Befund mitgeteilt werden muß, der ihre Hoffnungen direkt zerstört, d. h. wenn tatsächlich eine genetische Anomalie festgestellt wird. Hier erst recht wird die Patientin vor existentielle Fragen gestellt, in ganz wörtlichem Sinn. Es geht um Leben oder Tod des Kindes, das in ihr heranwächst, nein, genauer: um ihre Entscheidung über Leben oder Tod, d. h. um eine aktive Handlung, gegebenenfalls um die bewußte Zustimmung, den Tod des Kindes herbeizuführen. Hier erst recht öffnet sich ein existentielles Dilemma, auf der einen Seite die Angst vor Leid und Behinderung, vor den Auswirkungen auf das eigene Leben; auf der anderen Seite die Schuldgefühle, die Angst vor dem Töten, die Trauer um ein Kind, das (wie gerade im Fall älterer Patientinnen häufig) vielleicht schon seit langem sehnlichst erhofft wurde. Das Ziel der Humangenetik ist es, den Klienten/Klientinnen zu mehr Autonomie zu verhelfen, aber in den geschilderten, den tragischen Fällen sieht die Situation aus der Perspektive der Patienten anders aus: Viele fühlen sich einer Situation ausgeliefert, die – welche Entscheidung auch immer sie fällen – eine angst- und schuldbeladene ist.35 Viele finden sich plötzlich in einer »Double bind«-Situation mit allen Verstrickungen. Keine der Entscheidungen, die ihnen offen stehen, ist eine, die sie wollen. In einem wissenschaft lichen Buch über Praxis und Prinzipien genetischer Beratung heißt 95
es dazu: »Individuen oder Paare, die sich vor dem Hintergrund eines genetischen Risikos in bezug auf Kinderhaben entscheiden, erleben sich häufig in einer Zwickmühle, einer ›No-win‹-Situation. Sie können sich dazu entschließen, mit Kinderlosigkeit und der damit verbundenen Trauer zu leben; sie können es darauf ankommen lassen und das Risiko eingehen, ein Kind (vielleicht gar ein zweites Kind) mit einer heimtückischen Krankheit zu bekommen, mit all den Sorgen und all dem Leid, die daraus folgen; oder sie können sich dazu entschließen, im Fall einer Schwangerschaft einen genetischen Test durchführen zu lassen und, bei ungünstigem Befund, die Schwangerschaft eventuell abbrechen zu lassen.«36 Niemand kann bestreiten, daß dies Entscheidungen sind. Aber ebenso offensichtlich ist auch, daß es tragische Entscheidungen sind. Die Pränataldiagnostik kann zwar Befunde mitteilen, aber die Fragen, die daran unvermutet aufbrechen können, rühren an ganz andere Dimensionen: Was ist Leben, woran bemißt sich sein Wert, wessen Bedürfnisse und Rechte gehen im Zweifelsfall vor, welche müssen zurücktreten? Wie ein populärwissenschaft licher Leitfaden zur Pränataldiagnostik es nennt: Es ist eine »moralische Odyssee«,37 die hier beginnt. Bleibt nur noch die Frage, was daraus für das betroffene Paar folgt. Denn schließlich sind es ja zwei, Frau und Mann, um deren Kind bzw. Kinderwunsch es hier geht. Wie man aus der Sozialpsychologie weiß, können Notsituationen durchaus verbinden, können enger zusammenbringen in den gemeinsamen Fragen, vielleicht auch im gemeinsamen Leid. Im ungünstigen Fall aber wird man 96
auseinanderdividiert, und das Trennende siegt. Weil es Kennzeichen der Odyssee ist, daß niemand die richtige Richtung angeben kann, können verschiedene Personen zu verschiedenen Auffassungen darüber gelangen, welche Richtung sie – suchend und irrend – einschlagen wollen. Zwar ist dies Thema der möglichen Partnerkonflikte bisher kaum systematisch untersucht worden, aber schon aus den vorliegenden Materialien deutet sich an, daß Frau und Mann durchaus nicht immer derselben Auffassung sind, was die Prä-nataldiagnostik angeht.38 Und was, wenn nun der eine für Testen plädiert, die andere dagegen, oder umgekehrt auch? Man kann sich die Beispiele vorstellen: Wenn etwa der Mann, stark kirchlich gebunden, den Test ablehnt, weil er grundsätzlich gegen Abtreibung ist – während die Frau, die Worte ihres Gynäkologen im Ohr, all die Hinweise auf Risikoraten, den Test lieber macht, weil »in meinem fortgeschrittenen Alter, und überhaupt, Vorsicht ist besser …« Was dann? Dann treffen unterschiedliche Autoritäten aufeinander, religiöse Lehren versus moderne Experten, und müssen auf der Paarebene verhandelt werden. Wobei die Frage besondere Brisanz auch deshalb gewinnt, weil bei aller Einsicht in die Argumente des andern, und bei aller entsprechend waltenden Rücksicht, am Ende immer nur Entweder-Oder-Antworten bleiben: Den Mittelweg – ein halber Test, ein bißchen Schwangerschaftsabbruch gegebenenfalls – gibt es hier nicht. Zwar wird es wohl den meisten Paaren gelingen, im Konfliktfall einen Kompromiß, wie auch immer, zu finden, aber bei einigen blei97
ben vielleicht Irritationen und Mißverständnisse zurück. In jedem Fall sieht man, wie die Optionen der Technik, mehr Autonomie und mehr Entscheidungsfreiheit versprechend, eine Paardynamik eigener Art auslösen können. Die Spirale der Entscheidungszwänge schiebt sich gewissermaßen in die Familie hinein.
Mit Medizintechnologie vom Anfang bis zum Ende des Lebens Wer meint, dies seien nur Ausnahmefälle, begrenzt auf die spezielle Situation werdender Eltern, der täuscht sich. Denn mit der schnell voranschreitenden Entzifferung der genetischen Landkarte des Menschen werden immer mehr seiner biologischen Anlagen erkennbar, werden damit zum potentiellen Gegenstand von ärztlichen Eingriffen, Vorschriften, Verhaltensmaßregeln. Auf der Basis des individuellen genetischen Profils lassen sich Aussagen darüber machen, wem wo besondere Risiken drohen, entsprechend Empfehlungen und Warnungen abgeben, von Ernährung, Beruf, Partnerwahl bis zu Urlaubsziel, Sportart und Hobby. (In bestimmten Bevölkerungsgruppen gehen schon heute die Befunde genetischer Tests in die Entscheidungskriterien bei der Partnerwahl ein.39) Weil überall genetische Dispositionen im Spiel sind – von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis zu Krebs, Allergien, Diabetes –, wird jeder in der einen oder anderen Form zum Risiko träger. Pointiert formuliert: »Es gibt keine Nichtbetroffenen mehr.«40 Dies 98
gilt im Grunde für alle Bereiche der modernen Medizintechnologie. Auch wer heute noch so gesund ist, kann morgen ganz plötzlich vor Entscheidungen in bezug auf Intensivmedizin oder Organtransplantation stehen – vielleicht für die eigene Person, vielleicht für die sterbenden Eltern, den im Straßenverkehr schwer verletzten Partner, das beim Spielen verunglückte Kind. Bezugspunkte, die früher als Konstanten menschlichen Lebens erschienen, werden mit der modernen Medizihtechnologie variabel gesetzt. Das Ergebnis hat Giddens in einem Satz zusammengefaßt: »The body is becoming a phenomenon of choices and actions«41, der Körper wird immer mehr zum Gegenstandsbereich von Wahlmöglichkeiten und Eingriffen. In der Folge werden immer mehr bewußte Entscheidungen nötig, auf den verschiedensten Ebenen die Frage umkreisend: Wie wollen wir unser Leben gestalten? Bis hin zu der Grundfrage, an die Intensivmedizin und Reproduktionsmedizin dauernd rühren: Was ist überhaupt menschliches Leben, wo ist sein Anfang, wie ist sein Ende zu definieren? Was früher qua »Natur« festgelegt war, oder gegebenenfalls über religiöse Gebote bestimmt wurde, wird heute (weil angesichts der Medizintechnologie auch die juristischen Schranken vielfach mehrdeutig werden) zunehmend zur Aufgabe des mündigen Bürgers. Wiederum gilt, er oder sie soll antizipieren und rechtzeitig planen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Zu den verbreiteten Empfehlungen zur Medizintechnologie gehört, jeder solle für den Fall des Falles vorausschauend festlegen, ob er bzw. sie einer Organtransplantation 99
zustimmt und ebenso mittels einer Patientenverfügung erklären, ob für ihn selbst alle Möglichkeiten der Intensivmedizin ausgeschöpft werden sollen. Weil bei der Organspende unterschiedliche Kriterien des Todes zur Anwendung kommen, was bei den potentiellen Spendern Mißtrauen auslöst, ist in einer naturwissenschaft lichen Fachzeitschrift vor kurzem der Vorschlag gemacht worden, »jeder Mensch solle zu Lebzeiten selbst festlegen, wann er als tot betrachtet werden möchte«: wenn sein Herz nicht mehr schlägt, wenn sein Hirn abgestorben ist oder wenn sein Bewußtsein unwiderruflich verloren ist.42 Als der Fall einer hirntoten schwangeren Frau und des in ihr heranwachsenden Foeten Schlagzeilen machte, in der Folge heftige Kontroversen auslöste, wurde von juristischer Seite eine Einwilligungserklärung vorgeschlagen, mit der die »aufgeklärte Schwangere für den Fall ihres Hirntodes« erklärt, ob sie – nein, nicht am Leben erhalten, sondern in ihren Restfunktionen künstlich reanimiert werden möchte, bis der Foetus auch ohne sie Lebensfähigkeit hat.43 Kann man solche Fragen überhaupt vorweg schon entscheiden? Und wenn man nicht kann (oder nicht will), was ist dann? Im Extremfall, im medizinischen Ernstfall sind dann die Angehörigen vor das gestellt, was man vielleicht »unmögliche Entscheidungen« nennen könnte. Gemeint sind Entscheidungen, die im Grunde niemand fällen, niemand verantworten kann – denn wo gäbe es sichere, unanzweifelbare Regeln, um über Leben oder Tod zu richten? –, und die dennoch gefällt werden müssen, so oder so. Die unausweichliche Frage heißt hier: Was 100
soll an Operationen und Bestrahlungen, an invasiven Eingriffen und technischen Apparaturen, an Maßnahmen der künstlichen Ernährung und künstlichen Beatmung eingesetzt werden, wieviel davon und wie lange? Und jede dieser Entscheidungen läuft auf die eine, die furchteinflößende Alternative hinaus: leben lassen oder sterben lassen? Für eine exemplarische Schilderung lese man nach bei dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth. In seinem Buch »Mein Leben als Sohn« beschreibt er die letzten Jahre im Leben seines Vaters bis hin zu den letzten Stunden, wo es um Leben und Tod geht, und zwar jetzt nicht mehr im Sinne von Schicksal, sondern als bewußt zu fällende Entscheidung: »Als ich … in der Notaufnahme des Krankenhauses ankam, in die er von seinem Schlafzimmer zu Hause mit dem Krankenwagen gebracht worden war, fand ich mich einem diensthabenden Arzt gegenüber, der sich anschickte, außerordentliche Maßnahmen einzuleiten und ihn an eine Beatmungsmaschine anzuschließen. Ohne dieselbe gebe es keine Hoffnung mehr, wenn auch die Maschine, das erübrige sich zu sagen – so fügte der Arzt hinzu –, das Fortschreiten des Tumors nicht rückgängig machen würde, der jetzt offenbar das Atemzentrum anzugreifen begonnen hatte. Der Arzt informierte mich auch darüber, daß die Maschine, wenn mein Vater erst einmal angeschlossen sei, vom Gesetz her nicht mehr abgeschaltet werden dürfe, bis er wieder aus eigenen Kräften die Atmung aufrechterhalten würde. Es mußte sofort eine Entscheidung getroffen werden, und zwar … von mir … Und ich, der ich meinem Vater die Vorkehrungen der 101
Patientenverfügung erklärt und ihn dazu gebracht hatte, sie zu unterzeichnen, ich wußte nicht, was ich tun sollte. Wie konnte ich diese Maschine ablehnen, wenn sie doch bedeutete, daß er dann diesen quälenden Kampf um den Atem nicht länger durchzumachen brauchte? Wie konnte ich die Entscheidung auf mich nehmen, daß es mit dem Leben meines Vaters ein Ende haben sollte, ein Leben, das uns doch nur ein einziges Mal gegeben ist? Weit entfernt davon, mich auf die Patientenverfügung zu berufen, war ich sogar nahe daran, sie zu ignorieren und zu sagen: ›Tut doch was! Egal was‹.«44 Solche Entscheidungen enthalten, ob explizit oder implizit, immer Elemente von dem, was Giddens »life politics«, auf deutsch etwa »Politik der Lebensstile« nennt, und wofür er immer wieder das Beispiel der Humangenetik und der Reproduktionsmedizin heranzieht. Das Resultat ist durchgängig: »Das ›Ende der Natur‹ eröffnet viele Bereiche dem Denken und Lenken … Die Themen, die zur Politik der Lebensstile gehören, verlangen eine moralische Neubestimmung des Lebens.«45 Auch in den Niederungen des Alltags, in den Handlungskontexten, vor die der ganz normale Bürger gestellt ist, können hier dramatische Konstellationen entstehen, und die Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse, die dann erforderlich werden, sind alles andere als einfach. Da gibt es in vielen Fällen nicht die eine und einzige, moralisch saubere Antwort, vielmehr erzeugt jede Entscheidung Folgeprobleme eigener Art, mit oft unwägbaren Risiken und eventuell unzumutbaren Belastungen. Da muß Leid gegen Leid aufgerechnet werden, da steht Leben gegen Le102
ben, da müssen abstrakte Statistiken und Wahrscheinlichkeitsangaben in existentielle Urteile umgesetzt werden (den Vater weiter behandeln lassen, den Vater sterben lassen, was ist zumutbar und für wen?). Da gerät der/die einzelne in Dilemmata, die kaum auflösbar sind, wie Giddens schreibt: »Die Möglichkeit, Lebensstile selbst zu wählen, ist ein zentraler Fortschritt der postmodernen Gesellschaftsordnung – aber er erzeugt auch ein Spannungsverhältnis, und zwar nicht nur wegen der immer noch bestehenden Emanzipationshindernisse, sondern auch deshalb, weil er in eine Vielzahl moralischer Dilemmata hineinführt. Niemand sollte unterschätzen, wie schwierig der Umgang mit diesen sein wird.«46 Man darf hinzufügen: Diese moralischen Dilemmata gewinnen dann besondere Schärfe, wenn sie – wie im Fall der Medizintechnologie durchaus üblich – mehrere Personen angehen, in deren jeweiligen Interessen und Rechte, Lebenspläne und Wertvorstellungen eingreifen. Abwägen, verständigen, ausgleichen muß man dann – aber ob man es kann? Nicht alle Familien sind harmonisch, geduldig, liebevoll miteinander, nicht alle Familienmitglieder sind nur von edlen Motiven bewegt. Was für die Pränataldiagnostik schon galt, gilt auch hier, nur in gesteigerter, nämlich um zusätzliche Personen erweiterter Form. Es lassen sich hinreichend Situationen vorstellen, wo Mann versus Frau, Mutter versus Sohn oder Geschwister untereinander zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, was die Nutzung oder Nicht-Nutzung medizintechnischer Optionen angeht. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: für oder gegen die künstliche Beatmung des 103
Vaters; für oder gegen die intensivmedizinische Behandlung des mit schwersten Schäden geborenen Kindes; für oder gegen den Chorea-Huntington-Test, der, wenn eines der möglicherweise betroffenen Familienmitglieder ihn macht, damit zugleich auch das genetische Schicksal der andern aufdeckt. Man muß nur noch sich vorstellen, daß die verschiedenen Familienmitglieder vielleicht auch verschiedene Informationen bzw. Ratschlägen folgen (vom Fernsehen bis zu Selbsthilfegruppen, vom Arzt bis zum Therapeut bis zum Pfarrer): also was tun? Pointiert zusammengefaßt: Um die »Politik der Lebensstile« können auch Glaubenskriege ausbrechen, und zwar bis ins Innerste der Familie hinein. In diesem Sinne ist die neue Unübersichtlichkeit, die den Bereich des Privaten in der Gegenwart kennzeichnet, nicht nur eine der neuen Beziehungsformen, des Beziehungswirrwarrs zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Es ist vielmehr auch eine neue Unübersichtlichkeit in bezug auf moralische Fragen – in bezug auf die Entscheidungen, Entscheidungskonflikte, manchmal auch unmöglichen Entscheidungen, in die wir gestellt sind.
3. Über die ungeplanten Nebenfolgen des Planungsprojekts Nach dem bisher Gesagten wird der Lebenslauf in der Moderne zunehmend zum Planungsprojekt. Das bedeutet zunächst, daß die Gegenwart das »Zeitalter der 104
gescheiten Leute« im Giddensschen Sinn ist, daß also Expertenwissen, meist über Medien und populärwissenschaft liche Ratgeber vermittelt, in immer mehr Bereiche unseres Alltags eindringt. Das Suchen, Filtern, Verarbeiten von Informationen wird zum Alltagsgebot. Wer da nicht mithalten kann (weil die kognitiven Voraussetzungen fehlen, oder im Falle von Ausländern die Sprachkenntnisse, oder aufgrund anderer Anforderungen nicht genug Zeit ist), der oder die ist arm dran, im manchmal durchaus wörtlichen Sinn. Wer im Dschungel der Versicherungstarife, Steuertarife, Bahntarife und so weiter nicht geschickt zu kalkulieren, kombinieren, lavieren versteht, wer nicht Tabellen studiert, Angaben vergleicht, zwischen verschiedenen Anbietern flexibel wechselt, der zahlt drauf. Wobei man vermuten kann, daß diejenigen, die qua Bildung, Herkunft, sonstigen Ressourcen sich darauf besser verstehen, ihren Vorsprung noch ausbauen können, während diejenigen, die von vornherein wenig einbringen können, im weiteren Verlauf eher weiter verlieren. Aber es geht um mehr als nur das Surfen zwischen Steuertarifen und Bausparmodellen oder den schnellen Zugriff beim besten Preis-Leistungs-Verhältnis. Unter Bedingungen fortschreitender Individualisierung wird der Einzelne auch immer mehr vor die Frage gestellt, wie er seine familialen Beziehungen gestalten und vorausschauend absichern kann, damit er im Experimentierfeld derselben nicht plötzlich Schaden erleidet. Dies gilt nicht zuletzt auch für den Bereich von Gesundheit und Krankheit, von der Geburt, nein, von der Zeugung bis 105
hin zum Tod: Mit der rapiden Weiterentwicklung der Medizintechnologie wird das, was einst »Natur« war, in immer mehr Optionen aufgefächert. Und die Entscheidungsspirale schiebt sich, wie oben beschrieben, bis ins Innerste der Familie hinein. Je mehr Optionen die höhere Medizintechnologie bietet – und leicht könnte man Beispiele finden auch aus anderen Feldern –, desto mehr wird die Wahrscheinlichkeit wachsen, daß innerhalb einer Familie verschiedene Personen unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie die richtige Entscheidung aussieht. Und dies eben nicht nur in bezug auf die Wahl zwischen Müsli-Sorten oder Automarken, sondern gerade auch in bezug auf moralisch sensible, ja im durchaus wörtlichen Sinn lebenswichtige Fragen. All dies zusammengenommen – die Summe der großen und kleinen Entscheidungen, die als Dauerprogramm den Alltag begleiten; die in eine Informationsflut hineinführen, im Dschungel derselben nicht selten neue Ratlosigkeit erzeugen; und die doch nach »Optimierung« verlangen, weil man die ökonomische und soziale Absicherung heute selbst herstellen muß – all dies zusammengenommen macht das untergründig Nervige, das Unruhige und Aufreibende aus, das zur Grunderfahrung der Moderne gehört. Das Planungsdenken, das die Gegenwart kennzeichnet, ist demnach nicht bloß Ausdruck persönlicher Neigungen, Zwänge, Neurosen. Es ist kein individueller Wahn, kein plötzlich auftauchender Virus, der aus unerfindlichen Gründen immer mehr Zeitgenossen befällt. Es ist vielmehr Teil des Gesamtprojekts der Moderne, weist zu106
rück auf die neue Gestaltbarkeit des Lebenslaufs mitsamt den darin angelegten neuen Chancen, Kontrollen und Zwängen. Hier wie in anderen Bereichen auch – sei’s Partnerschaft und Elternschaft, sei’s Ausbildung, Berufswahl, Konsum usw. –, überall wird das alltägliche Handeln vor neue Anforderungen gestellt, der Zeithorizont wird erweitert, verlängert: Die Gegenwart wird immer mehr unter einen »Zwang zur Zukunft« gestellt. Die darin angelegten Optionen enthalten freilich auch ihre Kehrseiten. Mit dem Planen entsteht die Planungsfalle, mit der Prävention kommt auch die Präventionsfalle. Wenn man diese Gedanken weiterverfolgt, wird sichtbar, daß sich der einzelne heute nicht mehr nur gegen Zufälle und Unfälle wappnen muß. Vielmehr muß er sich idealtypisch auch wappnen gegen die »Nebenfolgen«, die im Wappnen selbst angelegt sind, also dagegen, daß er sich in den Akten des Kontrollierens, Kalkulierens, Absicherns am Ende selber verfängt. Er muß sich vorsehen, aber gleichzeitig auch vorsehen gegen das Vorsehen: Lebensführung in der individualisierten Gesellschaft ist derart ein riskantes Unterfangen, ein hochkomplizierter Balance-Akt. Um es noch einmal mit Giddens zu sagen: »Je mehr wir die Zukunft zu kolonialisieren versuchen, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie mit Überraschungen für uns aufwartet.«47
Kapitel 4 Generationenvertrag und Geschlechterverhältnis1 Als Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die neue Frauenbewegung entstand, rückte das Verhältnis der Geschlechter ins Blickfeld. Was bis dahin in mehr bis minder klar definierten Bahnen ablief, im Bezugsrahmen der »Geschlechtsrollen« und ihrer Erwartungen, geriet nun in Bewegung. Was zwischen Männern und Frauen an Bindungen und Beziehungen bestand, nicht zuletzt auch an Mißverständnissen und Abhängigkeiten – all dies war nun nicht mehr bloß Stoff für private Gespräche, vielleicht auch Konflikte, sondern wurde zum Thema, das Medien, Politik, Öffentlichkeit bewegte. Ob die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern einfach naturgegeben war oder gesellschaftlich produziert und politisch anstößig, ob Gleichheit möglich und wünschenswert war und wenn ja, wie sie durchgesetzt werden sollte – all dies waren Fragen, die für explosive Auseinandersetzungen sorgten. In den 80er Jahren war die Diskussion um dies Thema keineswegs beendet, und schon gar nicht waren die damit verknüpften Fragen geklärt oder gelöst, doch gleichzeitig begann schon ein weiteres Thema, sich vom Horizont des Privaten abzulösen. Nun war es auch das Verhältnis der Generationen, das ins Blickfeld geriet. Als zwei Entwicklungen, nämlich Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung, sich im öffentlichen Bewußtsein ver109
banden, als damit die Konturen der »alternden Gesellschaft« sich abzuzeichnen begannen, wurden auch hier alte Selbstverständlichkeiten erschüttert, neue Fragen und Befürchtungen artikuliert. Über die Sicherheit der Renten wurde gestritten, um die Modalitäten der Pflegeversicherung lange und erbittert gerungen, insbesondere im Gesundheitsbereich wurde über die finanziellen Belastungen debattiert, die mit den Verschiebungen im Altersaufbau auf die Gesellschaft zukommen würden. Die Beziehung zwischen Alten und Jungen, ihr quantitatives wie qualitatives Verhältnis, wurde zum Gegenstand politischer Kommissionen, wissenschaft licher Untersuchungen, demographischer Prognosen. Nicht zuletzt auch waren es Fragen der Gerechtigkeit, nämlich der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen, die nun in den Mittelpunkt rückten: Kann der Sozialstaat noch für die Bedürfnisse und Lebenslagen der verschiedenen Generationen bezahlen, und wenn, wie zu erwarten, die Ressourcen knapp werden – wessen Bedürfnisse und Ansprüche sollen dann Priorität haben, wer muß Abstriche machen, wessen Versorgung wird damit unsicherer werden? Bis heute haben beide Themen, das Verhältnis der Geschlechter wie das der Generationen, ihre Brisanz nicht verloren, und in der Öffentlichkeit ist weiter von beiden die Rede. Aber zumindest bis vor kurzem galt, daß die Diskussion getrennt geführt wurde, hier »Männer und Frauen«, dort »Alte und Junge«. Doch dies ist ein Versäumnis, ein Fehler, weil wichtige Ursachen wie Folgen sich so kaum begreifen lassen. Im folgenden will ich des110
halb eine Perspektive entwickeln, die gezielt die Wechselwirkungen zwischen beiden Themen aufdeckt. Meine Frage heißt schlicht: Was haben die beiden – das Generationenverhältnis und das Geschlechterverhältnis – miteinander zu tun? Ist es ein historischer Zufall, daß beide sich vom Horizont des Selbstverständlichen abgelöst haben, beide heute in der Öffentlichkeit für Aufregung sorgen? Oder was gibt es da an Verbindungslinien, Zusammenhängen, Abhängigkeiten?
1. Traditionelle Erwartungen: Frauen als »heimliche Ressource« im Generationenverhältnis Eine der Voraussetzungen des Generationenverhältnisses ist, daß im menschlichen Lebenslauf Phasen der Autonomie und der Abhängigkeit abwechseln. Da ist zunächst das Kleinkind, auf Unterstützung durch andere Personen angewiesen; dann der gesunde Erwachsene, der sein Leben selbst organisieren kann; und schließlich der alte Mensch, der wieder auf Hilfe angewiesen ist, vielleicht nur gelegentlich bei kleineren alltagspraktischen Aufgaben, vielleicht auch umfassend im Sinne täglicher Pflege. So ist, sowohl am Anfang wie am Ende des Lebens, der Mensch auf Unterstützung durch andere Personen angewiesen. Zu ergänzen ist freilich, daß der Ausdruck »andere Personen« eine vage und weite Umschreibung dar111
stellt, weil das, was damit gemeint ist, in der Praxis keineswegs geschlechtsneutral ist. In unserer Gesellschaft sind es vor allem die Frauen, die zuständig sind für die Unterstützungsaufgaben im Generationenverhältnis – sowohl für die Versorgung der Kinder wie für die Versorgung der älteren Menschen.
Kinderbetreuung ist Frauenarbeit In den hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens ist Gleichberechtigung zu einem allgemein anerkannten Leitwert für das Geschlechterverhältnis geworden. Aber durchgängig gilt, in der gesellschaftlichen Realität ist dieser Leitwert noch längst nicht eingelöst worden. Und wie viele Untersuchungen zeigen, ist es – auch in anderen Ländern, aber vor allem und besonders ausgeprägt auch in Deutschland – die Versorgung der Kinder, über die sich viele Barrieren und Hindernisse aufbauen. Exemplarisch sei hier der Befund einen repräsentativen Untersuchung von Metz-Göckel/Müller genannt. »Gefragt, wie eine Familie mit Kindern … Berufsarbeit, Haushalt und Kindererziehung am besten unter sich aufteilen könne, befürwortet die große Mehrheit der deutschen Männer das Modell: Die Frau bleibt zu Hause, der Mann ist berufstätig … dies stellt in der Wahrnehmung der Männer keine eigentliche Benachteiligung der Frauen dar, sondern eine Sachgesetzlichkeit.« Die Autorinnen kommentieren dies folgendermaßen: »Die Frauenfrage ist zur Kinderfrage, zum pri112
vaten Kinderbetreuungsproblem geworden. An keiner Stelle unserer Untersuchung sind wir auf eine so stabile Männer-Bastion gestoßen. Männer bestehen unerschütterlich auf der Unersetzbarkeit der Mutter und damit … auf ihrer eigenen Entlastung von der Kinderbetreuungsarbeit.«2 Die Berufung aufs Kind – ein letzter Versuch von Seiten der Männer, um die eigenen Privilegien zu retten? So mag es scheinen – und ist doch nur Teil der Geschichte. Denn wie andere Untersuchungen zeigen, ist die Erwartung, die Kindererziehung und Kinderversorgung sei primär Aufgabe der Mutter, durchaus auch in den Köpfen der Frauen präsent.3 (Allerdings, auch das wird deutlich, würden die meisten Frauen eine offenere Arbeitsteilung begrüßen, und vor allem wären sie dankbar, wenn die Männer sich tatsächlich mehr an der Arbeit beteiligen würden, nicht nur an den Freizeit- und Spaßseiten im Kinderprogramm – also auch Windeln wechseln und Dreck wegputzen, nicht bloß Drachenbasteln und Schwimmbadbesuche). Grundsätzlich sind die Frauen hier wohl in einem Dilemma befangen. In der großangelegten Untersuchung des Deutschen Jugendinstitutes zum Thema »Kind? Beruf? Oder beides?« heißt es zum Beispiel: »Frauen haben heute zwar eine deutliche Berufsorientierung, sie können sie aber nur in zweiter Linie wirklich leben. Was Frauen beruflich stoppt, sind die Kinder.«4 Die Autorinnen und Autoren schreiben dazu: »Die Ergebnisse der Studie zeigen, daß Berufstätigkeit zwar zur Leitform für Frauen geworden ist, daß aber jede Berufstätigkeit … in den Augen der Frauen selbst 113
wie der Umwelt die Qualität einer Mutter verschlechtert … Dies ist eine ideologische Falle, eine hinterhältige Doppelbotschaft, die die Frauen in jeder Lebensphase zunehmend verunsichert«5. So viel zu den Einstellungen bei Männern und Frauen, wobei auch das tatsächliche Verhalten im Alltag in ähnliche Richtung weist. Zwar gibt es inzwischen Studien über teilzeitarbeitende Väter und Hausmänner,6 nicht zuletzt auch allerlei Medienberichte, in denen der neue Mann das Leben mit dem Kleinkind als aufregende Erfahrung darstellt.7 Und unbestreitbar richtig ist auch: Die Männer der jüngeren Generation engagieren sich bei der Kindererziehung weit mehr als ihre Väter und Großväter. Aber mindestens ebenso richtig ist: Auch in dieser Generation sind die Männer weit weniger als die Frauen bei der Kinderversorgung präsent. Zum Beispiel der Erziehungsurlaub: Hier sind die Männer eine winzige Minderheit, ihr Anteil liegt unter zwei Prozent.8 Zum Beispiel die Alleinerziehenden: Hier beträgt der Anteil der Männer, also der alleinerziehenden Väter, inzwischen zwar 16,5 Prozent;9 doch schaut man genauer hin, so wird auch sichtbar, daß die alleinerziehenden Väter, verglichen mit den alleinerziehenden Frauen, im Durchschnitt weniger Kinder betreuen und vor allem auch ältere, also schon selbständigere Kinder, die weniger pflegeintensiv sind.10 Erst recht wird im Alltag der ganz normalen Familie der Hauptteil der Arbeit für Kinder von Frauen verrichtet. Eine aktuelle Studie des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden stellt dazu fest: »Erwerbstätige Ehefrauen wenden für die Betreuung ihres Nachwuchses unter sechs Jah114
ren … mehr als doppelt so viel Zeit auf wie erwerbstätige Männer, nichterwerbstätige Ehefrauen … sogar mehr als das Dreifache.«11 So ist die Erziehungsarbeit noch immer vorrangig Aufgabe der Frauen, vor allem der Mütter. Und, so muß man an dieser Stelle hinzufügen, nicht selten auch der Großmütter. Die Kinderbetreuung erfolgt nämlich häufig in der Solidarverknüpfung von drei Generationen – Kind, Mutter und Großmutter. Wie die Ergebnisse einer EGStudie zeigen, ist es in den meisten Ländern der Europäischen Gemeinschaft zumeist die Großmutter, die die Kinder betreut, wenn Frauen mit Kleinkindern berufstätig sind.12 Erst recht sind es die Großmütter, die gelegentlich einspringen, bei Versorgungslücken Hilfe anbieten (z. B. in den Schulferien oder in Notsituationen wie Krankheit der Mutter).13
Altenpflege ist Frauenarbeit Beginnen wir mit einem kurzen Blick auf die vorindustrielle Gesellschaft. Unbestreitbar ist, damals lebten die Generationen viel enger zusammen als heute. Aber unbestreitbar ist auch, im Blick zurück wird diese Vergangenheit oft nostalgisch verklärt. Da wird daraus das Bild einer Idylle wie von Spitzweg gemalt, die Großmutter am Spinnrad, der Großvater im Lehnstuhl, um sie herum eine froh jauchzende Kinderschar, und alles vom Duft von Bratäpfeln umweht. Doch diese Legende von der heilen Vergangenheit ist trügerisch, hier wie an an115
deren Punkten auch. In der Realität war die vorindustrielle Familie vor allem eine Not- und Zwangsgemeinschaft, durch viel Arbeit und drohende Schicksalsschläge (Unwetter, Plünderung, Hunger) zusammengehalten. Um des Überlebens willen standen die materiellen Interessen des Hofes und Dorfes im Vordergrund, nicht die Freiheit des Einzelnen. Das waren Bedingungen, die wenig Raum ließen für Rücksichtnahme, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen. Und der Zusammenhalt, von späteren Generationen zur Nächstenliebe hochgelobt, entsprang vor allem dem Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit.14 Seit damals haben sich die Arbeits- und Lebensformen grundlegend verändert. Mit der Industrialisierung begann der Aufstieg der bürgerlichen Familie, nach dem Leitbild eine Gefühlsgemeinschaft. Auch diese Familienform ist, wie wir hinlänglich wissen, kein Ort der reinen Liebe und Harmonie, sondern erzeugt ihre eigenen Reibungen, Irritationen, Konflikte. Aber gleichzeitig ist sie, trotz aller Mängel, auch ein Ort der wechselseitigen Unterstützung, und dies wird erfahrbar nicht zuletzt im Generationenverhältnis. Sicher gibt es verlassene Alte, ins Heim abgeschoben, um die niemand sich kümmert. Unbestreitbar erleben manche der alten Menschen in unserer Gesellschaft Einsamkeit und Isolation, auch Mängel in der alltäglichen Zuwendung und Versorgung. Aber dennoch ist für viele die Familie ein wichtiger, ja der wichtigste Halt. Wie empirische Untersuchungen durchgängig zeigen, wird die emotionale und alltagspraktische Unterstützung alter Menschen, gegebe116
nenfalls auch deren Betreuung und Pflege, immer noch vorwiegend in der Familie geleistet. Wobei auch hier wieder hinter dem allgemein gefaßten Begriff »Familie« eine klar geschlechtsspezifische Verteilung steht, denn präzis muß es heißen: Es sind vor allem die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, die die Versorgungsarbeit für die ältere Generation leisten.15 Und auch da, wo berufliche Helfer einspringen, sind diese vorwiegend weiblichen Geschlechts, denn in den Pflegeberufen arbeiten vor allem Frauen.
Frauen im Dauerlauf, Leben im Dauerdruck Wenn es immer noch die Frauen sind, die den Hauptteil der Arbeit für Kinder wie der Versorgung der älteren Generation tragen; und wenn gleichzeitig, so die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und Jahre, immer mehr Frauen selbst berufstätig sind – wie ist das möglich? Die Antwort heißt, grob zusammengefaßt: Mehrfach-Belastung, und die hat ihren Preis, und zwar vor allem für Frauen. Wo, neben der Berufsarbeit und neben den allgemeinen Hausarbeitspflichten, noch kleine Kinder zu versorgen sind oder ältere Angehörige Unterstützung brauchen oder gar alles zusammen, da stehen, wie Untersuchungen durchgängig zeigen, Frauen im Alltag unter Dauerdruck. Darunter leidet nicht nur ihr Lebensgefühl, nicht nur Nerven und Kraft, sondern massiv auch die Gesundheit: Chronische Erschöpfung ist unter diesen Umständen nicht die Ausnahme, sondern 117
eher die Regel, und im Englischen gibt es auch schon einen Namen dafür: »hurry sickness«, die Hektickrankheit wird der Zustand genannt. Aus der Fülle der Materialien hier nur zwei Beispiele: Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat ein Buch über die Situation berufstätiger Eltern, insbesondere berufstätiger Mütter geschrieben, das den bezeichnenden Titel trägt: »Der 48-Stunden-Tag«. Sie vergleicht darin die Belastung von Männern und Frauen und zeigt anhand von empirischen Daten: Auch wenn die Männer »mithelfen«, manche mehr, manche weniger – es sind doch die Frauen, die mit den Männern verglichen ein markantes »Freizeitgefälle«16 aufweisen. Es sind deshalb auch vorwiegend Frauen, die in den Interviews davon berichten, wie sie sich zerrissen fühlen und übermüdet, krank und emotional ausgelaugt, und die geradezu obsessiv ein Thema umkreisen, nämlich den Schlaf (wieviel Stunden sie brauchen, wieviel ihre Freundinnen brauchen, warum sie nie genug haben). Hochschild kommentiert lapidar: »Diese Frauen sprechen über das Schlafen wie Hungernde über das Essen.«17 Und nicht von ungefähr beginnt ihr Buch mit einem Kapitel, das die Überschrift: »Mehr Hektik im Familienleben« trägt. Darin heißt es: Wenn Familien, wo beide berufstätig sind, unter zunehmender Hektik leiden, »dann sind die berufstätigen Mütter die Hauptleidtragenden. So gesehen entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn in der Familie ausgerechnet den Frauen die Rolle des ›hektischen Antreibers‹ zufällt. Wie ich bei meinen Besuchen in den Familien feststellte, waren es häufig die Mütter, die ihre Kinder antrieben: ›Be118
eil dich! Wir müssen gehen!‹, ›Iß deinen Brei auf!‹ ›Das kannst du später machen!‹ ›Wir müssen los!‹ … Oft beeilen sich dann die kleineren Kinder …, während die größeren … sich Zeit lassen und murren: ›Mutter hetzt uns immer‹. Nicht genug damit, daß die Frauen als Blitzableiter für die Aggressionen herhalten müssen, die aus der zunehmenden Hektik in Beruf und Familie erwachsen. Obendrein werden sie auch zu Sündenböcken in einem Prozeß, unter dem sie selbst am meisten leiden.«18 In ähnliche Richtung weisen die Überlegungen der renommierten amerikanischen Journalistin Ellen Goodman, nur geht sie noch weiter. Sie stellt nicht nur fest, sondern stellt bewußt auch in Frage, provoziert. Mehrere ihrer Artikel handeln von den Babyboomers, den in den geburtenstarken Jahrgängen der 50er Jahre geborenen Frauen, die heute Beruf, heranwachsende Kinder, versorgungsbedürftige Eltern haben und dazwischen zu überleben versuchen – aber wie? Goodman beginnt mit einer eigenen Erfahrung. Als ihre Mutter aus Altersgründen in eine kleinere Wohnung umziehen will, fährt sie zu ihr, um beim Sortieren und Aussortieren der Gegenstände zu helfen. Weil sie wie immer gehetzt ist, tut sie dies möglichst schnell, effizient, instrumentell. Erst allmählich beginnt sie, der Mutter zuzuhören, die bei jedem Gegenstand seine Geschichte erzählt, welche Erinnerungen daran hängen, welche Gefühle sich damit verbinden. Erst da merkt sie, wie ihr geübter, vielpraktizierter, ach so effizienter Zugriff hier im Grunde versagt: »Als ich dies schließlich merke, wechsle ich in eine andere Gangart. Und ich merke dabei, wie schnell man durch wichtige Augenblicke im 119
Leben hindurchrast, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Die Mutter einer meiner Freundinnen sagt mit freundlicher Ironie, unsere ganze Generation sollte T-Shirts mit der Aufschrift tragen: ›Ich muß weiter‹. Wir sind immer in Eile. Wir besuchen im Vorbeifahren. Man nennt uns die ›Sandwich-Generation‹, weil viele von uns eingeklemmt sind zwischen Eltern und Kindern, Beruf und Zuhause. Aber vielleicht sind wir auch nach dem einen Angebot auf der Speisekarte benannt, das man beim Weiterlaufen in sich hineinschlingen kann. Es sind nicht nur die Anforderungen des Alltags, die wir im Dauerlauf hinter uns bringen. Nicht nur das Saubermachen, das Einkaufen, die Hin- und Herfahrerei. Wir regeln auch unsere Gefühle im Eiltempo. Wir rasen auf Abkürzungen durch die Erfahrungen des Lebens … Das erinnert mich an ein Lied von Carly Simons über unsere Zeit: Make love in the microwave. Think of all the time you save, also Liebt euch in der Mikrowelle, Auf die Schnelle, auf die Schnelle!«19 Wir eilen durchs Leben, »als würden wir durch die Kanäle beim Fernsehen hüpfen. Arbeit, klick, Kinder, klick, Eltern, klick, Einkaufen, klick … Was passiert, wenn das Leben zur Liste wird? Wenn selbst die schönen Dinge zu etwas werden, das man abhaken muß?«20 Hochschild und Goodman schreiben über Frauen in verschiedenen Lebens- und Familienphasen, aber sie zeichnen ähnliche Bilder. Was, jedenfalls in den Intensiv-Phasen der Familie, den Frauen als Lebensgefühl bleibt, sind vorzugsweise die kurzen Kommandos, nämlich Tempo, Tempo! Los und weiter! Ich komme ja schon, ich muß jetzt gehen! 120
2. Die Zeiten ändern sich: Frauen als »knappe Ressource« im Generationenverhältnis Bislang, so wurde sichtbar, sind es vor allem die Frauen, die Kinder wie Alte versorgen und damit alltagspraktisch das leisten, was dem Generationenverhältnis den Zusammenhalt gibt. Aber was bislang galt, gilt dies auch morgen? Ist zu erwarten, daß Frauen auch zukünftig diese Arbeit erbringen, oder werden sie andere Lebensmuster annehmen?
Kinderhaben als Existenzrisiko War früher die Versorgung der Kinder eine vergleichsweise einfache Aufgabe, im Alltag der meisten Bevölkerungsgruppen ohne großen pädagogischen Aufwand betrieben, so wird, je näher wir zur Gegenwart kommen, die Erziehungsarbeit vor immer höhere Ansprüche und Anforderungen gestellt: Unter den Bedingungen der modernen, sozial mobilen Gesellschaft wird – so den Tenor unzähliger Ratgeberbücher, Zeitschriften, Kursangebote für Eltern – die »optimale Förderung« des Nachwuchses zum Gebot. Aber gleichzeitig weist die moderne hochindustrielle Gesellschaft in weiten Bereichen eine »strukturelle Kinderfeindlichkeit«21 auf, d. h. ihre Vorgaben passen nicht mit den Bedürfnissen, dem Bewegungsdrang, dem Zeitrhythmus von Heranwachsenden zusammen (man denke z. B. an Wohnungsbau, Straßenverkehr, Schadstoffe in Luft und Nahrung). Einerseits 121
optimale Förderung, andererseits strukturelle Kinderfeindlichkeit – in diesem Widerspruch müssen die, die für Kinder verantwortlich sind, sich dauernd bewegen, müssen kompensieren und ausbalancieren, nach allen Seiten verhandeln, zwischen vielen Fronten vermitteln, und immer wieder: das Schlimmste verhüten. Unter diesen Umständen (die, im ganz wörtlichen Sinn, dauernde Umstände machen) wächst die Arbeit für Kinder an, dehnt sich aus, wird zum komplexen Agieren zwischen Widerständen verschiedenster Art.22 Bleibt nur zu fragen: Wer soll sie leisten? Bislang waren, wie oben beschrieben, vor allem die Frauen zuständig. Aber in den letzten Jahrzehnten haben Veränderungen in Bildung, Beruf, Familienzyklus, Rechtssystem usw. stattgefunden, die einen tiefgreifenden Wandel der weiblichen Normalbiographie in Gang gesetzt haben. In der Folge werden immer mehr Frauen aus der Familienbindung zumindest teilweise herausgelöst, können weniger Versorgung über den Mann erwarten, werden – in freilich oft widersprüchlicher Form – auf Selbständigkeit und Selbstversorgung verwiesen. Mit anderen Worten: Sie erfahren den Anspruch und Zwang zum »eigenen Leben«. Der aber läßt weniger Raum (Zeit, Nerven, Kraft) zum »Dasein für andere«, nicht zuletzt auch für die sich immer mehr ausweitenden Ansprüche der Arbeit für Kinder. Das heißt nicht, wie ein verbreitetes Mißverständnis meint, daß der Kinderwunsch den Frauen unwichtig würde, weil nur noch die eigene Emanzipation ihr Lebensziel ist. Im Gegenteil, unter den Bedingungen der individualisierten (arbeitsteiligen, stärker anonym orga122
nisierten, geographisch und sozial mobilen) Gesellschaft kann der Kinderwunsch sogar bestärkt werden und neue Bedeutung gewinnen, als Suche nach Sinn, Bestätigung, Verankerung usw.23 Richtig ist allerdings, daß Frauen immer mehr in eine Zwickmühle geraten, wenn weiterhin die institutionellen Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie unzulänglich sind, wenn gleichzeitig die Hilfe der Männer bei der Kinderbetreuung sehr beschränkt bleibt. Und daraus ergibt sich, dies die historisch neue Konstellation, daß viele Frauen zwar durchaus einen Kinderwunsch haben, aber, im Falle der Realisierung des Wunsches, mit erheblichen Folgekosten zu rechnen haben, was das eigene Leben angeht. Der Preis ist beträchtlich: eingeschränkte Berufstätigkeit, Überlastung im Alltag, wenig Freizeit, finanzielle Unsicherheit im Alter, Armutsrisiko im Fall einer Scheidung. An empirischen Befunden, in Deutschland erhoben, läßt sich diese Zwickmühle anschaulich zeigen: Wenn junge Frauen nach ihren Vorstellungen und Lebensplänen befragt werden, so sagen noch immer die allermeisten, Kinderhaben gehöre für sie zum Leben dazu.24 Aber wie die demographischen Statistiken zeigen, wird dieser Wunsch immer mehr auf spätere Lebensphasen verschoben. Oft wird er auch reduziert – Frauen, die zwei oder mehr Kinder wollten, bekommen am Ende nur eines. Und bei nicht wenigen wird der Wunsch erst aufgeschoben, dann ganz aufgehoben: In den jüngeren Jahrgängen wächst deutlich die Zahl der Frauen, die lebenslang kinderlos bleiben.25
123
Kinderzahl je 100 deutsche Frauen, nach Geburtsjahrgängen der Frauen gegliedert Geburtsjahrgänge
Alter Bundesländer
Neue Bundesländer
– – – – –
Quelle: BiB-Mitteilungen, Nr. 1/1994, 25. März 1994, S. 42.
Besonders anschaulich ist hier die Situation in den neuen Bundesländern, wo in den ersten Jahren nach der Wende die Geburtszahlen ganz drastisch zurückgingen.26 Hier mußten Frauen erfahren, wie, nachdem viele der vorher vorhandenen sozialpolitischen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie wegfielen, Mutterschaft nun die Chancen auf dem Arbeitsmarkt deutlich verringert, wie insbesondere Alleinerziehende in eine Randposition geraten und immer mehr abgedrängt wurden. Für sie wird zum ersten Mal deutlich, daß Kinderhaben ein berufliches, ein soziales, ein finanzielles Existenzrisiko ist. Für sie wird nun mit einem Mal brüchig, was bis dahin selbstverständlich erschien, nämlich die Vereinbarkeit von Kinderhaben und anderen Lebenszielen, insbesondere die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit in einem Lebensentwurf. Wie aktuelle Untersuchungen zeigen, besteht zwar bei den meisten der jüngeren Frauen in Ostdeutschland der Kinderwunsch weiter – aber, das ist das Neue, sie lernen, daß sie damit vorsichtig umgehen müssen, gewissermaßen in allmählichen Annäherungen. Pointiert zu124
sammengefaßt kann man sagen, hier wird in Art eines sozialhistonschen Experiments drastisch vor Augen geführt, wie der selbstverständliche Kinderwunsch plötzlich zur »Kinderfrage« gerät, zu einem Thema, das bewußter Berücksichtigung, individueller Planungen und Abwägungen bedarf. Aber gibt es, wie vorhin beschrieben, nicht die Großmutter als »stille Reserve« bei der Kinderbetreuung? Es gab sie, ja, das ist richtig. Aber ob es sie in Zukunft noch geben wird, ist durchaus fraglich. Eine aktuelle empirische Studie findet bereits heute Beispiele für die »zumindest partielle Arbeitsverweigerung der Großmütter«27, d. h. diese wollen ihre Enkel zwar gerne beaufsichtigen, aber nur für eine genau begrenzte Zeit, nicht als allzeit bereite und flexible Reserve. Und dies ist kein Zufall: Der Wandel der weiblichen Normalbiographie bringt nicht nur neue Frauen und neue Mütter hervor, sondern auch »neue Großmütter«. Auch viele der heute 50-Jährigen, 55-Jährigen (und erst recht viele der Frauen, die in den nächsten Jahrzehnten dies Alter erreichen) haben schon den »Virus«, die Hoffnung des eigenen Lebens erfahren, zumindest eine Ahnung davon. Sie haben schon eigene Ziele, die über den Radius der Familie hinausreichen, sei’s, daß sie in der einen oder anderen Form selbst erwerbstätig sind, sei’s, daß sie ehrenamtliche Aufgaben übernehmen oder – jetzt endlich! – eigenen Interessen nachgehen können. Und dies alles aufgeben, um als Babysitter und Oma vom Dienst für die nächste Generation einzuspringen? Auch an diesem Punkt wird die weibliche Hinnahmebereitschaft geringer, oder wie die gerade zitierte 125
Studie es nennt: »Allzeit einsatzbereite Großmütter werden … künftig vermutlich eine immer knapper werdende Ressource.«28 Und eine pädagogische Studie stellt in diesem Zusammenhang fest, die Situation der berufstätigen Mütter von heute sei noch vergleichsweise einfach, weil die Frauen im Großmutter-Alter meist Hausfrauen seien. Aber da werde mit Sicherheit ein Wandel eintreten, zunehmende Berufstätigkeit auch der älteren Frauen, und die Schlußfolgerung heißt demzufolge: Für die nächste Frauengeneration wird die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung nicht einfacher werden, im Gegenteil, die Probleme werden noch zunehmen, werden sich »radikal verschärfen«.29
Wer leistet Beistand im Alter? In den letzten Jahrzehnten ist die Lebenserwartung deutlich gestiegen. Da dieser Anstieg vor allem die höheren Altersgruppen betrifft, heißt dies, heute schon und in Zukunft noch mehr: Es wächst vor allem die Zahl derjenigen Menschen, die ein hohes und sehr hohes Alter erreichen. Es wird mehr 80-Jährige, mehr 90-Jährige geben. In Medien und Werbung dominiert das Bild der »Jungen Alten« – rüstig und fit, mobil und aktiv, heute bei der Senioren-Gymnastik und morgen vielleicht auf Mallorca. Dies Bild ist nicht ganz falsch, aber erst recht nicht ganz richtig, es verschweigt und verdrängt nämlich die andere Seite des Alters, die Situation der »Alten Alten«. 126
Entwicklung der Zahl der 80-Jährigen und älteren in Deutschland (West und Ost) Jahr
Zahl der Personen
(Modellrechnung) (Modellrechnung) (Modellrechnung) Quelle: Eigene Berechnung nach BiB, Forschungsbericht »Die Alten der Zukunft«, 1993, Anhang, Tabelle 12b und Tabelle 16 Entwicklung der Zahl der 90-Jährigen und älteren in Deutschland Deutschland West Jahr
Zahl der Personen
Deutschland West und Ost (Modellrechnung) Quelle: BiB-Mitteilungen (Informationen aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung), Nr. 1/1995, S. 7
Da in den höheren Altersgruppen die chronisch-degenerativen Erkrankungen spürbar zunehmen, ist die gewonnene Lebenszeit für viele mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden. Gerade die im hohen Alter hinzugewonnenen Lebensjahre sind zu einem beträchtlichen Teil Jahre, in denen eine eigenständige Lebensführung nicht mehr möglich ist und das, was an körperlichen, geistigen und sozialen Ressourcen verbleibt, vor 127
allem in das schiere Überleben des Körpers eingesetzt werden muß. Die Folgen sind absehbar: Mit dem Anstieg der Lebenserwartung wird die Zahl der Menschen rapide zunehmen, deren Kräfte zur eigenen Versorgung nicht mehr ausreichen und die deshalb auf vielfältige Unterstützungsleistungen angewiesen sind, gegebenenfalls auch auf umfassende Pflege. Bleibt nur die Frage: Wer soll diese Unterstützungsund Pflegearbeit erbringen? Ob die Töchter und Schwiegertöchter zukünftiger Generationen dies können und wollen, muß – so das Urteil einschlägiger Studien – als zweifelhaft gelten.30 Am wahrscheinlichsten erscheint eine Konstellation, wonach Frauen sich für das Wohlergehen der Eltern bzw. Schwiegereltern weiterhin verantwortlich fühlen, emotionalen Beistand leisten, bei alltagspraktischen Aufgaben auch gelegentlich helfen. Dagegen 128
werden sie, da vor den Anspruch und Zwang zum »eigenen Leben« gestellt, tagtägliche Unterstützung und zeitraubende Betreuung weniger übernehmen können, vielleicht auch weniger übernehmen wollen als früher. Hinzukommt das Brüchigwerden des traditionellen Modells der Normalfamilie. Bislang wird, wie oben gesagt, die Unterstützung und Pflege alter Menschen immer noch vorwiegend in der Familie geleistet. Auch spielen Angehörige beim Umgang mit Krankheit, nicht zuletzt auch beim Umgang mit chronischer Krankheit eine wichtige Rolle.31 Dies gilt insbesondere für die Bewältigung von Krankheiten im Alter: »Entscheidend für die weitere Lebensgestaltung beim Auftreten gesundheitlicher Beeinträchtigungen ist nicht das Lebensalter, sondern letztlich das Vorhandensein oder Fehlen von Familienmitgliedern im Haushalt … oder in der näheren Wohnumgebung.«32 Wenn nun, neben dem traditionellen Modell der Familie, zunehmend andere Lebensformen entstehen und an Verbreitung gewinnen, wenn die Zahl der Alleinstehenden, der Kinderlosen, der Geschiedenen, der Lebensabschnitt-Gefährten wächst, dann stellt sich offensichtlich die Frage, wie für diese Personen die Versorgung im Alter aussehen wird. Die alternativen Lebensformen mögen in vielerlei Hinsicht Vorteile bieten, aus dem Zwangskorsett der alten Familie befreien, neue Freiräume und Wahlmöglichkeiten schaffen – nicht zuletzt deshalb werden sie (zumindest von einigen) bewußt auch gewählt. Aber bislang völlig ungeklärt ist, wie sich solche Konstellationen im Alter gestalten, in drei, vier Jahrzehnten von heute. Man kann Spekulationen anstellen: 129
Manche Beziehungen werden dann längst der Vergangenheit angehören, aus dem »Lebensabschnittgefährten« z. B. wird qua Definition kaum der Gefährte des Alters. Andere Beziehungsformen mögen sich im höheren Alter als wenig praktisch, wenig funktionsfähig erweisen. Für Paare z. B., die in getrennten Wohnungen, vielleicht gar an unterschiedlichen Orten leben, werden Probleme auftauchen, sobald das Außer-Haus-Gehen mühsamer wird oder der Mobilitätsradius schrumpft. Für Paare ohne Kinder wird der große Einschnitt kommen, wenn ein Partner stirbt und der Überlebende (in der Regel die Frau) alleine da steht. Und dann die Familien, die sich infolge von Scheidung auseinandergelebt haben: In den Fällen, wo der Kontakt zum Vater bzw. zu den väterlichen Großeltern völlig abbrach, ist kaum Unterstützung im Alter zu erwarten. Denn die Personen, um die es geht, die dann schwach, gebrechlich, vielleicht geistig verwirrt sind, sind mit den Kindern bzw. Enkeln zwar blutsverwandt, aber ansonsten ihnen weitgehend fremd. Es fehlt die emotionale Verbindung, die Solidarität stiften könnte. Vielleicht, so sagen manche, werden dann die Freundschaftsnetze Halt und Sicherung geben, den nötigen Beistand im Alter, vielleicht sind sie gar die Familie der Zukunft. Dies mag sein, zumindest unter günstigen Umständen. Doch wird die Antwort vielleicht vorsichtiger ausfallen, wenn man das Regelwerk, auf dem Freundschaften aufbauen, einmal vergleicht mit dem der traditionellen Familie. Während Familien auf gemeinsamer Herkunft beruhen, gründen Freundschaften auf Zuneigung und persönlicher Wahl. Was die traditionelle 130
Familie an Zusammenhalt bietet, folgt keineswegs alles aus Liebe, sondern häufig aus Pflicht, unter dem Druck von Gewissen, moralischem Zwang, sozialer Erwartung. Freundschaften dagegen müssen bestehen ohne Pflicht und äußeren Druck, sie sind frei und freiwillig, und deshalb sind sie (zumindest potentiell) eine im Zeitablauf weniger beständige Bindung: Das was ihre Stärke ausmacht, ist zugleich auch ihre Schwäche. In jedem Fall muß man, da sie die offenere Art der Bindung darstellen, mehr für sie tun. Man muß sie erhalten und pflegen, oder sie schwinden leise dahin, brechen irgendwann ab. Hinzukommt auch eine Art biologisch-physische Grenze für das Potential der Freundschaftsleistungen im Alter. Man muß dazu wieder mit der herkömmlichen Familie vergleichen, die aus mehreren Generationen besteht, damit aus Personen unterschiedlichen Alters. Freunde dagegen, gewonnen in Schule, Beruf oder Freizeit, sind meist in einem ähnlichen Alter. Daß aber heißt, wenn der eine Freund hilfs- und pflegebedürftig wird, ist der andere auch meist schon mit eigenen Gebrechen befaßt, jedenfalls kaum rüstig genug, um für jemand, der anderswo wohnt (vielleicht in einem anderen Viertel, vielleicht in einer anderen Stadt), mehr als gelegentliche Unterstützung zu übernehmen. Kontinuierliche Hilfe, vielleicht gar beständige Pflege – dazu werden die Kräfte kaum reichen.33 Wenn man derart unter dem Gesichtspunkt des Beistands im Alter Freundschaftsnetze und traditionelle Familie vergleicht, ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Sicher ist es zu einseitig, wenn man nur die Zerfallserschei131
nungen der tradierten Institutionen und Familienformen sieht, nicht dagegen die Ansätze zu neuen Freundschaftsnetzwerken, die sich heute in manchen Gruppen herausbilden. Aber man muß gleichzeitig auch wissen, was die Grenzen solcher Freundschaftsnetzwerke sind, was sie an Aktivität und Eigenleistung voraussetzen, und wer unter diesen Bedingungen vermutlich nicht mithalten kann. Jenseits von Dramatisierung oder Entwarnung wird man dann feststellen, wie eine Studie über Hilfebeziehungen im Alter dies tut, daß »das einzelne Individuum zunehmend selbst seine soziale Integration und sein Auffangnetz für Notsituationen konstruieren muß«. Ein solches Auffangnetz hat freilich Löcher, weil dabei »die weniger Aktiven und sozial weniger Kompetenten zu einem guten Teil … auf der Strecke bleiben«.34
Steigender Versorgungsbedarf, unsichere Zuständigkeit Nach den bisherigen Überlegungen ergibt sich eine Diagnose etwa folgender Art: Was die Versorgung der Alten angeht, wächst auf der einen Seite der Versorgungsbedarf drastisch an, aber auf der anderen Seite gibt es immer weniger Personen, die für diese Versorgung selbstverständlich (d. h. qua Gewissen, Pflicht, sozialer Erwartung) zuständig sind. Die Schere zwischen »Bedarf« und »Personal« öffnet sich, ja klafft immer weiter auseinander.35 Vergleicht man dies Fazit mit dem zur Versorgung der Kinder, so ist der Befund auffallend ähnlich. In beiden Bereichen, so das Ergebnis, ist mit massiven »Versor132
gungslücken« zu rechnen. Man lese dazu den neuesten Familienbericht der Bundesregierung: »In Zukunft werden die Aufgaben der Unterstützung und Pflege alter Menschen, die auf Familien zukommen, noch größer und schwieriger werden, als sie es jetzt schon sind. Dieselben gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Betreuungssituation von Kindern prägen, schlagen sich auch in der Altenbetreuung nieder: Der Kreis naher Angehöriger, von denen im Prinzip die Unterstützung bis hin zur Pflege einer oder eines alten Angehörigen überhaupt erwartet werden kann, wird sich weiter reduzieren. Dazu kommt, daß die räumliche Mobilität und Distanz von Familienangehörigen wachsen wird … D. h., daß es … immer weniger Menschen geben wird, die zu alten Menschen, die für ihre Lebensführung alltägliche u. U. essentielle Hilfe brauchen, in einer familial verbindlichen und Pflegeverantwortung umfassenden Beziehung stehen«.36 Nun wird, gerade auch mit Blick auf das Brüchigwerden der traditionellen Familie, gern auf die Möglichkeit professioneller Dienste verwiesen. Aber wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, stößt auch dieses Lösungsmodell bald an Grenzen. Nicht zuletzt hat dies mit den Folgen einer Entwicklung zu tun, die schon oben genannt wurde: Die Frauen, die in den Pflegeberufen arbeiten (und es handelt sich vor allem um Frauen), haben ihrerseits schon den Wandel der weiblichen Normalbiographie erfahren. Sie wollen, so der Befund einer einschlägigen empirischen Studie, statt des alten Ideals der aufopfernden Selbstlosigkeit zunehmend Privatleben, Freizeit, ei133
gene Familie, deshalb einen Beruf wie andere auch, mit festen Dienstzeiten, Feierabend und Urlaub.37 Ihr Selbstverständnis ist nicht mehr das des geduldigen Dienens, vielmehr erwarten sie von der Berufsarbeit einen eigenständigen und qualifizierten Wirkungsbereich, verknüpft mit Weiterbildungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen und angemessenem Einkommen.38 Mit dem Wandel der weiblichen Normalbiographie setzt derart ein Strukturwandel in den Pflegeberufen ein, heute schon und morgen noch mehr. Was Ilona Ostner in anderem Zusammenhang schreibt, gilt auch hier: Das weibliche Arbeitsvermögen wird »empirisch zu einer knappen Ressource«.39 So auch das Fazit der genannten empirischen Studie: »Die Lösung der Probleme, die mit der Versorgung pflege- und hilfsbedürftiger Menschen verbunden sind, wurde bislang vor allem der Arbeitsmoral der Frauen [überlassen], die ihre Familienangehörigen pflegen und die Pflege als Beruf betreiben. Solange das traditionelle Integrationsmodell der Pflichtorientierung und der Selbstverleugnung für Frauen handlungsleitend geblieben ist …, konnte eine solche Form der gesellschaft lichen Organisation von Pflege funktionieren … Nun haben sich aber die gesellschaft lichen Verhältnisse verändert und verändern sich weiter …, Pflichtorientierung und Selbstverleugnung werden von den jüngeren Frauengenerationen nicht mehr ohne weiteres zur Verfügung gestellt … Damit werden die Grenzen einer Lösung des Pflegeproblems sichtbar, die das selbstverständliche weibliche Dasein-für-andere in der beruflichen wie in der privaten Sphäre zur Voraussetzung hat.«40 134
Demographischer Wandel, Veränderungen der weiblichen Normalbiographie, Brüchigwerden der traditionellen Familie -das alles sind Stichworte, um zu begreifen, wie die Situation und Versorgung älterer Menschen zukünftig aussehen mag. In der Summe verweisen die genannten Entwicklungen alle auf eine Frage, schlicht zusammengefaßt: »Wer pflegt uns im Alter?«41
3. Auf der Suche nach neuen Modellen Nach den bisherigen Überlegungen wird das weibliche Arbeitsvermögen zur knappen Ressource im Generationenverhältnis, und die Folge sind Versorgungslücken für Kinder und Alte. Was also tun? In der gesellschaftspolitischen Diskussion werden verschiedene Vorschläge genannt: Da sind zunächst die, die bei der Suche nach Lösungsmodellen speziell die Frauen im Blick haben. Wenn Frauen von einem »übersteigerten« Individualismus abrücken und sich wieder auf die Familie besinnen, dann – so der Gedanke – wären die Probleme gelöst. In diesem Sinne argumentieren z. B. die amerikanischen Soziologen Brigitte Berger und Peter Berger in ihrem Buch »In Verteidigung der bürgerlichen Familie«42, und ähnliche Vorschläge werden bekanntlich auch hierzulande geäußert, ob in offener oder indirekterer Form. Aber die Erfolgsaussichten solcher Rezepte sind vermutlich bescheiden, und zwar deshalb, weil sie Vergangenheit 135
wie Gegenwart völlig verkennen. Was die Vergangenheit angeht, pflegen sie den Traum von der heilen Welt unserer Vorfahren, der aber durch neuere Untersuchungen längst widerlegt ist. Sie blenden aus, daß das Familienleben in früherer Zeit eine entschieden finstere Seite hatte, die im Umgang mit den Schwächeren – mit Frauen sowohl wie mit Alten und Kindern – unbarmherzig zum Ausdruck kam.43 Was die Gegenwart angeht, verkennen solche Rezepte den Wandel, der seitdem sich durchgesetzt hat, seine Grundlagen und seine Entwicklungsdynamik: Die Veränderungen der weiblichen Normalbiographie sind nicht zufällig gekommen, sondern sind Endprodukt einer langen historischen Entwicklung, die mit dem Umbruch zur modernen Gesellschaft begann. Sie sind nicht isoliert und begrenzt, sondern reichen in viele Bereiche hinein, vom Bildungssystem bis zur Berufs welt (die ohne Frauen nicht mehr funktionsfähig ist), von der Rechtsprechung bis zum Verhältnis der Geschlechter (wieviel Männer der jüngeren Generation sind noch bereit, lebenslang alleiniger Familienernährer zu sein?) In der Summe dieser vielfältigen Veränderungen ist eine neue Wirk lichkeit entstanden, die man nicht per Federstrich aus der Welt schaffen kann. Der Weg zurück zur Sonderrolle der Frau ist versperrt. Inzwischen ist längst eine Situation erreicht, wo immer mehr Frauen nicht nur berufstätig sein wollen, sondern auch berufstätig sein müssen aus ökonomischen Gründen (um Geld zu verdienen für den eigenen Lebensunterhalt und den der Kinder, für die Sicherung im Alter und im Fall einer Scheidung). Wer in dieser Situation 136
»Familienwerte« betont und dabei einseitig die Frauen im Blick hat, der zementiert ihre ökonomische Benachteiligung: Dieses Modell läuft im Grunde hinaus auf eine »zusätzliche Besteuerung der Frauen – eine verborgene und ohne Repräsentation erhobene Steuer«.44 Darüber hinaus sind die Leitwerte von Freiheit und Gleichheit, die sich mit dieser historischer Entwicklung verbinden, keine Erfindung der Frauenbewegung, sondern haben ihre Wurzeln in der Aufk lärung und im Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft. Im 18. und 19. Jahrhundert freilich wurden diese Werte nur auf Männer bezogen. Doch inzwischen hat sich die Gesellschaft weiterbewegt, die Argumentationsfiguren von einst sind brüchig geworden, und so ist diese Form der »halbierten Moderne« an ihre eigenen Grenzen gekommen. Der Anspruch auf Freiheit und Gleichheit hat im 20. Jahrhundert auch die Frauen erreicht, und er ist nicht mehr beliebig rückgängig zu machen: Es ist kaum zu erwarten, daß Frauen auf die einmal erworbenen Rechte wieder verzichten.45 Ein anderer Typus von Vorschlägen läuft darauf hinaus, diejenigen Aufgaben, die traditionell von Frauen in der Familie erbracht wurden (und zum guten Teil immer noch erbracht werden), zunehmend auszulagern und in institutioneller, ver-beruflichter Form zu bearbeiten. Das heißt dann z. B. mehr Kinderkrippen, mehr Kindergärten, mehr Ganztagsschulen; mehr Seniorenhilfsdienste, mehr »Essen auf Rädern«, mehr Pflegeheime; mehr Stellen für Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Altenbetreuer. Ein Ausbau solcher familienunterstützender Dienste 137
bedeutet zweifellos eine wichtige Entlastung für Familien und nicht zuletzt auch für Frauen. Aber ein Ausbau solcher Dienstleistungen in verberuflichter Form stößt an manche Grenzen. Da ist zunächst die finanzielle Grenze: Wer soll dies bezahlen? Seit Jahren schon dauert der Streit, die Kosten der Pflegeversicherung und der Kindergartenplätze betreffend, und es wird weiter erbittert gerungen. Hinzukommt, wie oben gesagt, eine andere Grenze: Das Ideal aufopfernden Dienens, eine heimliche Ressource in den Pflegeberufen, ist mit dem Wandel der weiblichen Normalbiographie brüchig geworden. Darüber hinaus ist die Pflegearbeit, trotz hoher physischer wie psychischer Anforderungen, vergleichsweise schlecht entlohnt. Infolge all dieser Bedingungen herrscht heute schon erheblicher Mangel an qualifizierten Pflegekräften, und er wird sich in Zukunft wohl noch weiter verschärfen.46 Was also bleibt? Als die neue Frauenbewegung begann, wurde die revolutionäre Forderung laut, die familiale Arbeit müsse unter den Geschlechtern neu aufgeteilt werden. Inzwischen, drei Jahrzehnte danach, übernehmen Männer tatsächlich mehr Arbeit als vorher. Aber, wie eingangs beschrieben: Der Wandel blieb spärlich. Noch immer sind vor allem die Frauen belastet. Vielleicht naht Unterstützung jetzt von ganz anderer Seite. Wer die aktuelle Diskussion um demographischen Wandel oder Zukunft der Familie verfolgt (und der einschlägigen Kommissionen, Gremien, Tagungen gibt es viele), der kann feststellen, daß durch all die Aussagen, Berichte, Befunde heute ein Thema sich durchzieht, näm138
lich eben die Versorgungslücken für Kinder und Alte. Diese werden zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse und vor allem öffentlicher Besorgnis. Aus diesem Blickwinkel, aus der Sorge um das Gemeinwohl und die Zukunft unserer Gesellschaft, werden nun – von Autoren bzw. Gruppen, die sicher nicht im Verdacht stehen, dem radikalen Flügel der Frauenbewegung zuzugehören – Forderungen erhoben, die im Kern auf mehr Beteiligung der Männer an der Kinder- und Altenbetreuung abzielen. Hier ist die Diktion dann eher gemäßigt, der Stil ein wenig wissenschaft lich gewunden, aber dennoch: Die Botschaft ist unüberhörbar. So schreibt z. B. der Familiensoziologe Franz Xaver Kaufmann – und zwar nicht in einem feministischen Blättchen, sondern ganz seriös in der Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes – schreibt also, bislang sei die Gesamtheit der Hilfen zwischen den Generationen »nahezu ausschließlich eine Domäne der Frauen«, doch diese tradierten Formen solidarischer Leistung seien heute rückläufig, und für die Zukunft sieht er nur eine praktikable Alternative: »Nur wenn es gelingt, auch die Männer … in höherem Maß an der familialen Wohlfahrtsproduktion zu beteiligen, darf erhofft werden, daß die gegenwärtige Verunsicherung der Frauen und die damit zusammenhängende Infragestellung der Familienkultur einer neuen kulturellen Stabilisierung der Familie Platz macht.«47 Ganz ähnlich liest es sich auch im neuesten Familienbericht der Bundesregierung. Da lautet die Diagnose zunächst, wiederum etwas ins Abstrakte gehoben: »Da die familialen Leistungen sehr unterschiedlich auf beide Ge139
schlechter, die Lebenszyklusphasen und Lebensformen verteilt sind, entstehen Asymmetrien zwischen jenen, die diese Leistungen erbringen, und denen, die sie vor allem nutzen.« Vor diesem Hintergrund wird dann eine Forderung für die politische Zukunftsgestaltung erhoben: »Die Politik für familiale Altenpflege wird nicht umhin können, auch eine Politik für einen Wandel der bisherigen Geschlechterverhältnisse im Bereich dieser Pflege zu werden, wenn ungerechtfertigte Asymmetrien in den Lebenslagen der Geschlechter verringert und das familiale Altenpflegepotential erhöht werden soll.«48 Der Richtung nach ähnlich, jedoch in der Tonlage umstandsloser und klarer, ist die Aussage im Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel«. Hier wird deutlich formuliert, was zur Gestaltung der Zukunft erforderlich ist: »Eine Gesellschaft, die Solidarität zwischen den Generationen fördern will, kann nicht mehr länger umhin, sich mehr um Solidarität zwischen den Geschlechtern zu kümmern. Zukünft ig wird es verstärkt darum gehen müssen, Männern mehr Möglichkeiten zur Wahrnehmung familialer Aufgaben zu geben, auch in den ›älteren Familien1«. Explizit sind es die Männer, denen hier Veränderung abverlangt wird: »Bedenklich … scheint, daß die Dynamik im Wandel der Geschlechterrollen recht einseitig von den Frauen ausgeht und die Männer sich deutlich schwerer tun, ihr erwerbsorientiertes Verhalten zu verändern bzw. dies auch weniger wollen. Vereinbarkeit von familialen und beruflichen Aufgaben in der Zukunft wird … die Bereitschaft der Männer zu größerem Engagement in familialen Aufga140
ben stärken müssen.«49 Als prominenter Vertreter solcher Forderungen ist vor kurzem auch Bundespräsident Roman Herzog aufgetreten, der in einer öffentlichen Ansprache sehr direkt die Verantwortung der Männer herausgestellt hat: »Innerhalb der Familie muß geklärt werden, wie die Verantwortung für die Betreuung und Erziehung der Kinder mit den beruflichen Möglichkeiten und Plänen … in Einklang gebracht werden können. Dies stellt vor allem Rückfragen an die Männer, die bislang nur allzugern akzeptieren, daß die entstehenden Konflikte nur von den Frauen gelöst werden.«50 Mehr Familienarbeit für Männer – was noch vor ein paar Jahrzehnten eine revolutionäre Forderung war, ist heute, am Ende der 90er Jahre zum offiziellen Refrain und öffentlich legitimierten Leitbild geworden. Wie die Praxis aussehen wird, ist eine andere Frage. Sicher ist bislang nur eines: Die Zukunft der Generationen-Verhältnisses wird wesentlich davon abhängen, ob solche Überlegungen auf den Bereich der symbolischen Politik beschränkt bleiben, bloß den Stoff für Lippenbekentnisse und Sonntagsreden abgeben – oder ob damit tatsächlich auch ernst gemacht wird. Dann ist im nächsten Schritt zu überlegen, was an konkreten politischen Maßnahmen und Vorschlägen folgen muß (etwa, um nur ein bekanntes Beispiel zu nennen, Einführung eines Pflegeurlaubs und flexiblere Formen der Berufsbiographie, die sich mit den Phasen des Familienzyklus abstimmen lassen). Falls aber die praktisch-politische Umsetzung ausbleibt, falls trotz all der Diagnosen sich nichts bewegt in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und bei der Versor141
gung von Kindern und Alten, dann ist völlig offen, auf welchen Fundamenten das Verhältnis der Generationen in Zukunft aufbauen soll. Direkt formuliert: Ohne Geschlechtervertrag kein Generationenvertrag. Die Zukunft des Generationenvertrages wird davon abhängen, ob es gelingt, das Geschlechterverhältnis neu zu gestalten.
Kapitel 5 Wir wollen ein Wunschkind1 »In Großbritannien werden 3000 tiefgefrorene Embryonen vernichtet« – »Italienischer Reproduktionsmediziner verhilft 60-jährigen Frauen zum Kind« – »Amerikanerin wird mit ihrem eigenen Enkelkind schwanger«. Die neuen Verfahren der Reproduktionsmedizin, um die anfangs vehement diskutiert wurde, sind inzwischen weitgehend akzeptiert. Sie sind ja, wie Forscher, Ärzte und betroffene Paare durchgängig versichern, nicht anderes als eine medizinisch unterstützte Hilfestellung, um dem zur Erfüllung zu verhelfen, was doch die normalste und natürlichste Sache der Welt ist: dem Wunsch nach einem eigenen Kind. Nur hin und wieder, wenn einige besonders spektakuläre Fälle bekannt werden, wird die Öffentlichkeit daran erinnert, daß diese Verfahren ganz neue Spielräume und Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, in neue Entscheidungskonflikte und Dilemmata hineinführen. Dann, nach ein paar Tagen oder Wochen erneuter Diskussionen, legt sich die Aufregung wieder. Bis dann die nächste Schlagzeile kommt… Der Wunsch nach einem Kind, einem eigenen Kind, einem gesunden Kind – was könnte natürlicher sein? So jedenfalls meinen wir häufig. Und doch können wir, als Zeitgenossen und Zeugen der rapiden Entwicklungen im Feld der Medizintechnologie, geradezu handgreiflich erleben, wie die Einstellungen, Hoffnungen, Wünsche, die um Elternschaft kreisen, einen tiefgreifenden Wan143
del durchmachen. Manche Hinweise darauf liefert auch die neuere Literatur zu Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin. Darin finden sich immer wieder Aussagen einschlägig tätiger Mediziner, die von einer Anspruchshaltung ihrer Patientinnen und Patienten berichten, ja geradezu eine Inflation der Wünsche registrieren. »Die Pränataldiagnostik«, so formuliert z. B. der Humangenetiker Jan Murken, »kann man nicht mehr aus der Welt schaffen, aber dieses Kontinuum von den wirklich bedrohlichen Krankheiten, wo jeder nachvollziehen wird, daß die Unzumutbarkeit, die Schwangerschaft fortzusetzen, gegeben ist, bis hin zu den wirklichen Banalitäten, bis hin zur Geschlechtsselektion, macht es schwer, eine Grenze zu ziehen … Ich habe nie gedacht, daß sich das plötzlich so selbständig macht und solch eine Ausweitung hat«.2 Und ähnlich schreibt Hermann Hepp, Direktor des Frauenklinik am Klinikum Großhadern in München: »Mit diesen medizinischen Fortschritten [der Pränataldiagnostik] werden weitere Begehrlichkeiten geweckt und vertieft. Der zunehmende Anspruch auf ein gesundes Kind mag am Ende so weit gehen, daß eine Art »Pflicht zum unbehinderten Kind« sich entwickeln könnte.3 Nach der gängigen Deutung sind solche Ansprüche ein Produkt des Egoismus und der Maßlosigkeit der Eltern, ein Ausdruck ihrer persönlichen Neigungen, Zwänge, Neurosen. Demgegenüber möchte ich hier eine andere Deutung vorstellen. Ich möchte zeigen, wie diese Wünsche die Fortsetzung eines epochalen Trends darstellen, nämlich des Gestaltwandels, den Elternschaft in der Moderne durchmacht. Vorweg als These zusammenge144
faßt: Die neue Elternpflicht heißt »Optimale Startchancen fürs Kind« – und was wir heute als Anspruchshaltung der Eltern erleben, ist nicht zuletzt ein Versuch, dies Gebot zu erfüllen. Um diese These auszuführen, werde ich in zwei Schritten vorgehen. Ich beginne zunächst mit einem kurzen historischen Rückblick auf die Sozialgeschichte der Elternschaft. Dann diskutiere ich aktuelle Entwicklungen, die wir heute in Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik beobachten können. In dieser Argumentationsfolge will ich zeigen, wie im Lauf der Moderne Elternschaft immer mehr zum Gegenstand privater Planungen und Entscheidungen, öffentlicher Sorge und Fürsorge wird; wie das, was scheinbar eine Naturkategorie ist, immer mehr für gezielte Eingriffe sich öffnet, damit neue Dynamik gewinnt, in neue Lebensformen hineinführt; und wie in der Summe all dieser Veränderungen, Wahlmöglichkeiten, Eingriffe sich ein neues Verhältnis des Menschen zu seinen Nachkommen herausbildet.
1. Elternschaft in der Moderne: Optimale Förderung als Gebot Aus vielen sozialhistorischen Untersuchungen ist bekannt, daß es Kindererziehung im eigentlichen Sinn – bezogen auf die Altersstufe und persönliche Entwicklung des Kindes – lange Zeit gar nicht gab. Statt dessen sollten die Eltern sorgen für moralische Anleitung 145
und die Einübung in Gottesfurcht, Gehorsam und Arbeit. Ansonsten bezog sich die Versorgung auf die elementaren Bedürfnisse des Kleinkindes, Nahrung und Kleidung. Darüber hinaus gab es eine gewisse Beaufsichtigung, um vor Gefahren wir Sturz und Ertrinken zu schützen, und viel körperliche Zurechtweisung, nicht selten in Form von Prügeln. Erst mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft beginnt die »Entdeckung der Kindheit« (Aries) – und damit in eins auch eine neue Ära in der Geschichte der Eltern. Das Credo der neuen Einstellung zum Kind heißt, daß die Eltern durch angemessene Pflege und Erziehung zum gesunden Gedeihen des Kindes beitragen können, ja den Grundstock legen für das gesamte spätere Schicksal. Ein wichtiger Motor in dieser Entwicklung ist der Bildungsanspruch, der von der Philosophie der Aufk lärung ausgeht: »Der Mensch kann nur werden durch die Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (Kant). Je mehr diese Maxime den Charakter eines kulturellen Leitbildes gewinnt, desto mehr wachsen die pädagogischen Aufgaben an. Das Wissen, die Sprache und Bildung des Kindes, seine Moral und sein Seelenheil – all das werden jetzt Pflichten, die die Arbeit der Eltern vermehren. »Der ganze Anspruch der Aufk lärungsphilosophie, mit ihrem Respekt vor dem Menschen als einem Subjekt unveräußerlicher Rechte, und ihrem Willen, in jedem Menschen ein Individuum, ein selbständig denkendes und entscheidungsfähiges Wesen zu sehen, wird nun auch dem Kind schon zuteil, zumindest prospektiv: als eine Aufgabe der Eltern, das Kind in solche Rechte einzusetzen«.4 146
Ein Blick auf die Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt, daß es zugleich auch ein tiefgreifender Wandel in der Sozialstruktur der Gesellschaft ist, der dies neue Interesse an der Erziehung fördert. Denn dies ist die Epoche, in der ein schubweiser Übergang stattfindet von der traditionalen, ständisch bestimmten Gesellschaft zur industrialisierten Gesellschaft, die von den Gesetzen des Marktes reguliert wird. Damit wird die soziale Position mehr offen und machbar, und in der Folge gewinnt Ausbildung immer größere Bedeutung, denn wo Positionen nicht mehr einfach vererbt werden, da wird zunehmend nach Fähigkeiten und Kenntnissen gefragt. Zuallererst im aufstiegsorientierten Bürgertum (erst später auch in breiteren Bevölkerungsgruppen) konzentrieren sich nun Erziehungsbemühungen auf das Kind, die Bildung und Ausbildung in den Vordergrund rücken: um damit die soziale Stellung zu behaupten, gegen Abstieg zu sichern und möglichst noch zu verbessern. Als weiteres Stadium in der Ausweitung elterlicher Pflichten kommt das Thema Gesundheit hinzu, das im 19. Jahrhundert seinen Aufschwung nimmt. Zum Auslöser werden hier die Fortschritte der Medizin, der es zunehmend gelingt zu entschlüsseln, aus welchen Ursachen die Krankheiten des Kleinkindes entstehen und was die Hintergründe der hohen Säuglingssterblichkeit sind. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken damit Regeln für die angemessene Hygiene und Ernährung des Kleinkindes. Auch hier sind es zunächst die Frauen des gehobenen Bürgertums, die sie bereitwillig übernehmen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt dann eine 147
massive Aufk lärungskampagne, die sich vorrangig an die städtischen Arbeiterfrauen wendet. Ein »Prozeß der hygienischen Zivilisierung der Arbeiterfamilie«5 wird eingeleitet, von allgemeiner Gesundheitsaufk lärung über Ernährungsregeln bis zur Propagierung des Stillens. Dieser Förderungsanspruch, der mit der Moderne beginnt, wird in der Folgezeit immer weiter vorangetrieben.6 Durch verschiedene Entwicklungen gewinnt er insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zusätzliches Gewicht. Da sind zunächst weitere Fortschritte in Medizin, Psychologie, Pädagogik, die das Kind in wachsendem Maß gestaltbar werden lassen. So werden z. B. körperliche Behinderungen, die um die Jahrhundertwende noch schicksalhaft hingenommen werden mußten, zunehmend behandelbar und korrigierbar. In der Psychologie setzt eine neue Forschungsrichtung sich durch, die noch weit stärker als früher die Bedeutung der ersten Lebensjahre betont, ja das Unterlassen von Förderung mit verlorenen Entwicklungschancen gleichsetzt. Zur selben Zeit wird ein deutlicher Anstieg der Einkommen verzeichnet, wodurch Förderungsmöglichkeiten, die früher einer kleinen Schicht vorbehalten waren, nun für breite Gruppen erreichbar werden. Auch gehen die Geburtenzahlen zurück, immer mehr Kinder wachsen als Einzelkind auf oder zu zweien, und entsprechend konzentrieren sich die Zukunftshoffnungen, Ambitionen, Investitionen der Eltern: der Nachwuchs als »knappe Ressource«, dessen Gelingen gesichert sein soll. Darüber hinaus wird auf politischer Ebene eine Bildungswerbung in Gang gesetzt, die sich an die bis dahin benachteiligten 148
Gruppen wendet. Schließlich setzt auch die öffentliche Gesundheitswerbung sich fort, wird transportiert über Kinderärzte, Beratungsstellen, Volkshochschulkurse: Die »fürsorgliche Belagerung«7 der Eltern wird auf vielen Ebenen betrieben. Als Resultat dieser und ähnlicher Bedingungen verstärkt sich der kulturell vorgegebene Druck: Das Kind darf immer weniger hingenommen werden, so wie es ist, mit seinen körperlichen und geistigen Eigenheiten, vielleicht auch Mängeln. Es wird vielmehr zum Zielpunkt vielfältiger Bemühungen. Möglichst alle Mängel sollen korrigiert werden (nur kein Schielen, Stottern, Bettnässen mehr), möglichst alle Anlagen sollen gestärkt werden (Konjunktur für Klavierstunden, Sprachferien, Tennis im Sommer und Skikurs im Winter). Auf dem Bücherund Zeitschriftenmarkt erscheinen unzählige Ratgeber zum Thema Erziehung. So unterschiedlich sie im einzelnen sind, sie enthalten im Kern doch eine ähnliche Botschaft: Das Gedeihen des Kindes wird als private Aufgabe und persönliche Verantwortung der Eltern/der Mutter definiert. Und überall lautet der Auftrag ähnlich: Die Eltern sollen alles tun, um dem Kind »optimale Startchancen« zu geben. Zusammenfassend kann man sagen, in der hochindustriellen Gesellschaft ist zwar die physische Versorgung des Kindes in mancher Hinsicht einfacher geworden, dank Technisierung des Haushalts und vorgefertigten Produkten wie Wegwerf-Windel und Baby-Kost. Aber dafür wurden mit der Entdeckung der Kindheit zunehmend neue Themen und Aufgaben entdeckt, die sich in 149
wachsende Anforderungen an die Eltern umsetzen. So lautet das Fazit einer breitangelegten familiensoziologischen Untersuchung, daß die »Norm verantworteter Elternschaft« sich immer weiter durchsetzt, ja die »ethische und soziale Verantwortung der Eltern … heute ein historisch ungeahntes Ausmaß« erreicht.8
2. Die Angebote der Pränatalund Gendiagnostik Soweit die Entwicklung bisher, die Geschichte von Elternschaft als Aufstieg eines immer umfassenderen pädagogischen Auftrags. Seit einigen Jahren kommt nun eine ganz neue Dynamik hinzu, und zwar durch die Eingriffsmöglichkeiten, die sich mit Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik eröffnen. Zu nennen sind hier vor allem die Perfektionierung der künstlichen Befruchtung, mittels Tiefkühltechnik und Samenbank; dann die In-vitro-Befruchtung mit Embryo-Transfer; schließlich die Entzifferung des genetischen Code und darauf aufbauend die neuen Techniken der pränatalen Diagnose. Mit diesen Entwicklungen in Medizin, Biologie und Genetik wird immer mehr eine gezielte »Konstruktion« von Elternschaft möglich. Diese kann für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden. Da ist zum einen der wohl bekannteste Zweck: den ungewollt kinderlosen Paaren zum Wunschkind zu helfen. Daneben gibt es auch einen anderen Zweck, der im öffentlichen Bewußtsein bislang noch wenig präsent ist. Die neuen Angebote der Medi150
zintechnologie können nämlich auch eingesetzt werden, um den Auftrag der Moderne zu erfüllen, die Optimierung der Startchancen fürs Kind – und zwar jetzt nicht mehr nur nach der Geburt, sondern schon in den Stadien davor, durch Eingriffe ins biologische Repertoire.
Neue Verantwortung Um die Richtung des Trends aufzuzeigen, soll im folgenden zunächst der Bereich der Pränatal- und Gendiagnostik betrachtet werden. Hier kann man beobachten, wie die Möglichkeiten der Diagnose schnell voranschreiten, und wie im selben Maß sich auch eine Veränderung des Begriffs der elterlichen Verantwortung anbahnt. Dazu zunächst ein paar Beispiele. Aus dem Interview mit einer schwangeren Frau: »Ich fühlte mich in einer schaurigen Zwickmühle, rundherum hörte ich: Hast du jetzt die Untersuchung gemacht? Du mußt unbedingt, wenn es diese Möglichkeit schon gibt … Und falls du dann ein behindertes Kind hast? Du hast doch schon zwei Kinder, du mußt auch an sie und deinen Mann denken!«9 Ein Gynäkologe zu einer 35-jährigen Patientin: »Eine Frau – in Ihrem Alter – unbedingt. Ab 35 muß man das machen«.10 Ein populärwissenschaftliches Buch, das über Chancen und Risiken der vorgeburtlichen Diagnostik informiert: »Sie sollten dieses Buch unbedingt lesen, wenn Sie … die Verantwortung für Ihre Schwangerschaft tragen und wohlfundierte Entscheidungen treffen wollen … [Mit diesen Informationen] wird die Ver151
antwortung in die Hände gelegt…, in die sie gehört: in Ihre!«11 Darin kommt der schleichende Bedeutungswandel zum Ausdruck, den der Begriff der Verantwortung durchmacht. Je mehr sichere Methoden der Empfängnisverhütung verfügbar wurden, desto mehr breitete sich zunächst die Idee der verantwortlichen Planung von Elternschaft aus. Gemeint war damals ein quantitativer Aspekt: Es ging darum, nur so viele Kinder zu bekommen, wie man angemessen ernähren und aufziehen konnte.12 Inzwischen, mit der Herausbildung neuer Möglichkeiten in Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik, hat sich auch der Begriff der Verantwortung weiterentwickelt, bekommt einen neuen Klang. Zunehmend wird er in Richtung einer qualitativen Auswahl gefaßt, ansetzend bereits vor der Geburt, vielleicht sogar vor der Zeugung. Dabei werden freilich oft Formulierungen verwandt, die, der Verwaltungssprache entlehnt, das Ziel nicht direkt ausformulieren: Da ist z. B. die Rede von »Prävention«,13 von »prophylaktischen Maßnahmen«.14 Solche Begriffe sind in unserer Gesellschaft positiv besetzt. Sie klingen modern, vernünftig, hygienisch, wie ein Bestandteil der allseits geförderten Gesundheitsfürsorge, vergleichbar dem Zähneputzen am Morgen und Abend. Sie verweisen auf Ziele, die breite Zustimmung finden, dienen sie doch dem Interesse des einzelnen (Erhaltung von Gesundheit, Vermeidung von Schmerz) wie der Gesellschaft (Kostenersparnis). Jedoch: Hier geht es um mehr als nur Mundhygiene. Was im Klartext gemeint ist, ist die Vermeidung der Ge152
burt belasteter Kinder, durch Aufgabe der Kinderwunsches oder (dies die Option, die wohl eher sich durchsetzen wird) durch »Schwangerschaft auf Probe«15 und Schwangerschaftsabbruch bei ungünstigem Befund. In einem ärztlichen Informationsblatt heißt es z. B.: »Die pränatale genetische Diagnostik verhilft im wesentlichen zur Geburt von gesunden Kindern« – ein Ziel, das der allgemeinen Zustimmung sicher sein kann, wobei die Formulierung freilich an einem entscheidenden Punkt unpräzise ist. Erst im Nebensatz nämlich deutet sich an, wie die Verheißung gesunder Kinder eingelöst wird, nämlich »indem Kinder mit schweren körperlichen oder geistigen Störungen frühzeitig erkannt werden, womit auch ein Abruch der Schwangerschaft möglich wird«.16 Solche Entscheidungen kollidieren mit dem herkömmlichen Begriff der Elternliebe, erinnern an dunkle Zeiten der Eugenik, kurz: sie rühren Tabuzonen an und werden deshalb oft mit Strategien des Schweigens, Umschreibens, Vermeidens umgangen. So ist es nicht zufällig, wenn oft Formulierungen verwandt werden, die das Ziel nur indirekt anklingen lassen. Doch was im Klartext gemeint ist, ist die Vermeidung behinderter Kinder. Schon gibt es Tendenzen, ein solches Verhalten zu rühmen, als Ausdruck neuer Verantwortung eben, die die Kinder vor einem »grausamen Schicksal« bewahrt.17 Schon gewinnen Gedanken an Raum, wie sie etwa der Philosoph Martin Sass formuliert: Er hält risikoreiche Fortpflanzungsentscheidungen für »unverantwortlich der Gesellschaft gegenüber, die einen so schwerst Benachteiligten in die Solidargemeinschaft aufnimmt«.18 Schon 153
deuten im Alltagsbewußtsein neue Stimmungslagen sich an, schon gelten Frauen, die die Angebote der Pränatalund Gendiagnostik nicht zielstrebig nutzen, manch einem für egoistisch, ignorant oder dumm: »Die stecken wohl lieber den Kopf in den Sand, als die Wahrheit zu erfahren«.19 Was sich hier zeigt, ist der schleichende Bedeutungswandel, den der Begriff der Verantwortung durchmacht. Mit dem wachsenden Angebot der Testmöglichkeiten wird der Begriff der Verantwortung neu gefüllt, dehnt sich aus, wird unmerklich dem technisch Machbaren angepaßt. Wer nicht mitmacht, erscheint in dieser Logik als verantwortungslos, sprich: suspekt, wenn nicht gar schuldig.
Neue Schuld Hinter dieser Ausweitung des Verantwortungsbegriffs steht eine unschwer zu entziffernde Logik. Verantwortung ist, ähnlich wie Gesundheit, ein vorrangiger Wert, ein Leitstern am Horizont der Moderne, auf der Philosophie der Aufk lärung gründend. Verantwortung heißt mehr Autonomie, das Schicksal selbst in die Hand nehmen, wie es Kant einst als Aufgabe der Aufk lärung formulierte: »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«. Aber schon in dieser Formulierung scheint eine Doppelbedeutung auf, auf die Kehrseite verweisend. Wer Verantwortung nicht übernimmt, der/die gilt als verantwortungslos, ihr Unterlassen wird jetzt gewertet als Schuld: Der Ausdruck »Zur Verantwortung zie154
hen« hat nicht umsonst einen drohenden Klang. Genau dies ist es, was wir heute im Bereich der Pränataldiagnostik beobachten können. Auf der einen Seite wird, in der medizinischen Profession wie in politischen Kommissionen und Gremien, immer wieder die freie Entscheidung zum Grundrecht erklärt, der Tenor aller offiziellen Äußerungen lautet durchgängig: Es darf keinen Zwang geben, jede(r) muß handeln, wie es ihm/ihr richtig erscheint. Aber auf der anderen Seite entfaltet sich die Sogwirkung der Technik, und in kleinen, anfangs kaum merklichen Schritten wird der Begriff der Verantwortung neu gefüllt und erweitert, bis ein immer stärkerer Druck zur Ausschöpfung aller diagnostischen Möglichkeiten entsteht.20 Hinzukommt, daß die Verantwortung, um die es hier geht, viele Adressaten und Bezugspunkte hat. Da ist zum einen, siehe oben, die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Dann die Verantwortung gegenüber der Familie, wie in den anfangs zitierten Äußerungen anklingend, gegenüber dem Mann und den bereits geborenen Kindern (vielleicht auch gegenüber den Großeltern, die auf ein gesundes, niedliches, vorzeigbares Enkelkind hoffen). Nicht zu vergessen auch eine Verantwortung gegenüber dem noch ungeborenen Kind, kann man ihm denn das Schicksal der Behinderung aufbürden, eine Existenz zwischen Mitleid, Ablehnung, Abhängigkeit? Schon heißt es, im Fall eines genetischen Defekts sei die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ein Akt der »Fürsorge fürs ungeborene Kind«,21 ja der Schwangerschaftsabbruch geschehe zum »Wohlergehen«22 des Kindes. Und Frauen, die die Pränataldia155
gnostik in Anspruch nehmen, nennen als ein zentrales Motiv Mitleid mit dem Kind, so es behindert sein sollte. Eine solche »leidvolle Existenz« soll ihm erspart werden: »Es ist ja sonst eine Quälerei für das Kind«.23 Beinhaltet die Fürsorge fürs Kind demnach heute, daß man es besser gar nicht erst zur Welt kommen läßt, wenn eine genetische Anomalie festgestellt wird – besser kein Leben als eines, das mit der Hypothek der »falschen« Gene beginnt? Pointiert zusammengefaßt: Schwangerschaftsabbruch aus Liebe zum Kind? So viele Ebenen der Verantwortung, so viele Fragen. So viele Ansatzpunkte für Vorwürfe und Selbstvorwürfe, für sozialen und moralischen Druck. Dies treibt, wie die Erfahrung ähnlicher Situationen lehrt, die Bereitschaft voran, die angebotenen Tests mitzumachen, »damit man sich später nichts vorwerfen muß«.24 Für die Pränataldiagnostik gibt es dazu einschlägige empirische Zahlen. Von den Frauen, die qua Alter als Risikogruppe gelten, haben bereits vor einigen Jahren gut die Hälfte eine Pränataldiagnostik durchführen lassen. Und nach neueren Schätzungen hat die Nutzung seit damals erheblich zugenommen.25
Andere Länder, andere Werte Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf andere Kulturkreise und Länder. Bekanntlich kann die Pränataldiagnostik auch eingesetzt werden, um das Geschlecht des Kindes frühzeitig zu erkennen 156
und Kinder mit dem ungewünschten Geschlecht gegebenenfalls zu »vermeiden«. Genau dies ist in Ländern wie Indien, China, Korea der Fall, wo, wenn das Testergebnis ein Mädchen ankündigt, in vielen Fällen ein Schwangerschaftsabbruch erfolgt. Nach unseren Empfindungen ist ein solches Verhalten barbarisch, eine Verletzung elementarer Tabugrenzen. Aber wenn man den Standpunkt verändert und den Blickwinkel wechselt, wenn man die Wertmaßstäbe und Lebensbedingungen der entsprechenden Länder zur Grundlage nimmt, dann könnte man argumentieren – und tatsächlich wird auch so argumentiert –, daß es sich hier nicht um ein Fehlen elementaren Verantwortungsbewußtseins handelt, sondern umgekehrt um den Ausdruck bewußter elterlicher Verantwortung. Schließlich ist unumstritten, daß Mädchen und Frauen in jenen Ländern geringere Wertschätzung erfahren, ja vielfältigen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Dieses bedenkend, kommt man schnell zu der Folgerung und Frage: Wenn es gestattet, ja vielleicht sogar moralisch geboten sein soll, einem Kind das grausame Schicksal der Behinderung zu ersparen – warum soll dann nicht legitim sein, das vielleicht nicht weniger grausame Schicksal des falschen Geschlechts vermeiden zu helfen? Nun mag manch einer sagen, dies sei eine Geschichte aus fernen anderen Ländern, ein exotischer Sonderfall also. Aber im Zeitalter der Globalisierung und der weltweiten Wanderungsbewegungen sind die Menschen anderer Kulturkreise und Länder eben nicht mehr nur dort, sondern in zunehmender Zahl auch bei uns, und in der 157
Folge kommt es zur Begegnung – in nicht wenigen Fällen auch zum Aufeinanderprall -unterschiedlicher Werthaltungen und Wünsche, was nicht zuletzt die Ärzte, die in Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin tätig sind, immer wieder erfahren. Man nehme z. B. folgenden Fall: Bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Humangenetik 1989 in München berichtete ein Humangenetiker von einem türkischen Ehepaar, das eine Pränataldiagnostik wollte, um das Geschlecht des Embryos zu erfahren und gegebenenfalls, sprich wenn der Embryo weiblich sei, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Der Humangenetiker wies darauf hin, daß er selbst Eugenik und Geschlechtsselektion eindeutig ablehne. Doch hier, so fuhr er fort, sei der Fall besonders gelagert, denn das Ehepaar habe bereits sechs Töchter, sei überdies in fortgeschrittenem Alter, und wolle in einigen Jahren in die Türkei zurückkehren; da sie dann aber nur noch die Rente zum Lebensunterhalt hätten, könnten sie nicht mehr die Aussteuer für eine weitere Tochter finanzieren, und ohne Aussteuer hätte das Mädchen keinerlei Aussicht auf Heirat und Ehe, sei also ausgeschlossen von dem Leitbild und Lebensweg, den die dortige Gesellschaft für Frauen erwarte; kurz, so die Schlußfolgerung, hier handle es sich um die Lebensgewohnheiten und Werte anderer Länder, über die wir nicht nach unseren Maßstäben urteilen könnten. Nun ist eine Geschlechtswahl dieser Art in Deutschland inzwischen qua Embryonenschutzgesetz untersagt, aber auch in uns nahen westlichen Ländern finden sich vielfach Vorstellungen, die das Recht der individuellen 158
Entscheidung betonen und deshalb äußere Beschränkungen ablehnen. Der Amerikaner James Watson z. B., der für seine Forschungen zur Struktur des Erbmoleküls den Nobelpreis erhielt, hat folgende Auffassung geäußert: »Ich bin der Ansicht, daß mit Hilfe der pränatalen Diagnose nur ›ungesunde‹ Nachkommen verhindert werden dürfen. Aber das ist natürlich eine willkürliche Grenze. Was ist ungesund? Dyslexie [d. h. Leseschwäche]? Der König von Schweden hat Dyslexie, und ich bin überzeugt, daß er glücklich wäre, wenn er diese Krankheit in zukünftigen Generationen verhindern könnte … Oder wenn eine Frau sieben Söhne geboren hat und mit einer pränatalen Diagnose sicherstellt, daß das achte Kind eine Tochter wird, dann ist das ein verständlicher Schritt. Dies sind individuelle Entscheidungen. Jeder sollte sie frei machen dürfen«.26 Nun umgeht Watson elegant den entscheidenden Punkt, weil man mit Hilfe der Pränataldiagnostik nicht eigentlich sicherstellen kann, daß das Kind das gewünschte Geschlecht hat; vielmehr kann man nur feststellen, welches Geschlecht es denn hat, und im ungünstigen Fall eine Abtreibung durchführen lassen. Darüber hinaus ist auch das Beispiel, das Watson anführt, gelinde gesagt untypisch, weil in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle ein Sohn, nicht eine Tochter gewünscht wird. Aber wenn wir davon einmal absehen, ist die Botschaft wohl klar, nämlich: Unter bestimmten Umständen ist eine Geschlechtswahl verständlich. Und wenn es denn verständlich ist, Kinder des falschen Geschlechts gegebenenfalls zu vermeiden – wie ist 159
es dann mit Kindern der falschen Hautfarbe? Auch hier wieder kann man argumentieren, daß unter den gegebenen Umständen eine entsprechende Auswahl menschlich verständlich, ja vielleicht sogar ethisch geboten sein mag. Angesichts der bekannten Schrecken der deutschen Geschichte würde dies zwar hierzulande keiner öffentlich sagen. Aber in den meisten anderen Ländern gelten solche Tabugrenzen nicht, da kann man viel »unbelasteter« reden und schreiben. So heißt es z. B. in einem britischen Aufsatz, der sich mit der Ethik der Genomanalyse befaßt: »In einer Gesellschaft, in der Diskriminierung besteht, gelten bestimmte Eigenschaften als besonders erwünscht, und Individuen, die diese Eigenschaften nicht haben, werden wahrscheinlich mehr oder weniger ausgeprägte Benachteiligung erfahren. Von daher kann man argumentieren, daß nicht alle Formen der Eugenik zwangsläufig unangemessen sein müssen. Vielmehr mag die Auswahl von Embryonen oder Foeten ethisch gerechtfertigt sein, wenn sie dazu dienen soll, dem zukünftigen Wohlergehen des Kindes zu dienen. Zum Beispiel ist es ethisch eindeutig gerechtfertigt, eine Auswahl nach … Hautfarbe vorzunehmen, wenn in einer bestimmten Gesellschaft die Chancengleichheit aufgrund von Diskriminierung beeinträchtigt ist«.27 An solchen Beispielen können wir sehen, wie die Formel »Im besten Interesse des Kindes« Raum für viele Erwägungen und Auslegungen bietet. Und wir können weiterhin sehen, wie vieles, was uns hierzulande moralisch fraglich bis verwerflich erscheint, in anderen Ländern ganz anders gesehen und praktiziert wird – wie es 160
dort als normal, menschlich verständlich, ja moralisch geboten gelten mag.
3. Die Verheißungen der Reproduktionsmedizin Im Bereich der Reproduktionsmedizin hat sich in den letzten Jahren ein breites Spektrum an mehr bis minder komplizierten Verfahren entwickelt, um denen Hilfe anzubieten, die ungewollt kinderlos sind. Hierher gehören – dies der bekannteste Fall – diejenigen Paare, die aufgrund biologischer Hindernisse ihren Kinderwunsch nicht umsetzen können. Darüber hinaus kommen – was im öffentlichen Bewußtsein weniger präsent ist – mit der Pluralisierung der Lebensformen zunehmend auch neue Gruppen hinzu, die aus anderen Gründen auf die medizinisch assistierte Erfüllung ihres Kinderwunsches drängen: Frauen und Männer, die sich zunächst sterilisieren ließen, aber diese Entscheidung später (z. B. im Rahmen einer neuen Partnerschaft) wieder bereuen; Frauen, die die Menopause schon hinter sich haben und über Eispende auf späte Mutterschaft hoffen; schwule und lesbische Paare, die Elternschaft anstreben; und schließlich Alleinstehende, die zwar partnerlos sind, aber dennoch nicht ohne Kind bleiben wollen. So unterschiedlich diese Motive auch sind, sie führen offensichtlich in eine ähnliche Richtung: zu dem, was »technisch assistierte Fortpflanzung« heißt und was ge161
wissermaßen unter der Hand den Weg in neue Formen der Elternschaft bahnt. Denn im Zuge der technischen Umsetzung und der Möglichkeiten, die sich dabei eröffnen, kann der Wunsch, ein Kind zu bekommen, mit dem Wunsch sich verbinden, auf die Art und Beschaffenheit dieses Kindes Einfluß zu nehmen. Was im Bereich der Pränataldiagnostik gilt, ist erst recht in der Reproduktionsmedizin zu beobachten: Manche der prospektiven Eltern verstehen die medizintechnischen Angebote als Serviceleistung und entwickeln, wie Mediziner beklagen, ausgeprägte Symptome einer »Konsumentenhaltung«.28 Nicht mehr nur ein Kind, nein: ein besonderes Kind soll es dann sein, eine neue Form der »WunschkindMentalität«29 erlebt ihren Aufstieg. All dies ist kein Zufall, auch nicht bloß Ausdruck egoistischer Motive der Eltern. Vielmehr ist es im Verfahren schon vorprogrammiert, macht doch die Reproduktionsmedizin Auswahlen möglich, ja oft sogar nötig.
Wunschbilder und Wahlen Ein exemplarisches Beispiel hierfür sind diejenigen Fälle, wo der Kinderwunsch über Samenspender, Eispenderin oder Leihmutter erfüllt werden soll. In den USA ist es bereits gängige Praxis, daß die Interessenten einen Katalog bekommen, in dem die Samenspender/Eispenderinnen/ Leihmütter fein säuberlich aufgelistet sind nach den als relevant geltenden Eigenschaften. Daraus können, nein: müssen die Klienten nur wählen. Wenn aber Wahl – wa162
rum dann nicht die »bessere« Wahl? Wer wird, wenn er zwischen verschiedenen Artikeln aussuchen muß, bewußt den nehmen, der ihm weniger gefällt? Und ähnlich auch hier: Da ja in jedem Fall eine Wahl stattfinden muß, liegt es doch nahe, nach dem eigenen Wunschbild zu wählen, um das genetische Roulette in Richtung bestimmter Eigenschaften zu lenken. Dementsprechend setzen manche »Auftraggeber« dann auf Intelligenz, manche auf Gesundheit, andere auf blaue Augen oder sportliche Leistung. Dabei sind diese Wünsche freilich nicht zufallsverteilt, vielmehr ist ein Trend zur Optimierung auch hier unverkennbar. Wie ein Bericht über die größte Samenbank der USA zeigt, soll nach den Erfahrungen der dortigen Kundenbetreuer »bei Verheirateten … der Spender dem Ehemann so ähnlich wie möglich sehen, ›aber bitte ohne die dicke Nase‹« oder sonstige Mängel, »kurz: das Beste des Angetrauten, vermischt mit einigen Spenderkorrekturen«. Alleinstehende Frauen dagegen schicken oft Photos von Filmstars, um das angestrebte Spenderideal – und damit das Wunschbild vom künftigen Wunschkind – anzuzeigen.30 Ähnliche Tendenzen werden aus dem Bereich der Invitro-Fertilisation berichtet, also von der Befruchtung im Reagenzglas, die noch vor einigen Jahren zu großen Schlagzeilen und erregten Diskussionen in der Öffentlichkeit führte, aber inzwischen fast schon zu den Normalverfahren der Unfruchtbarkeitsbehandlung gehört. Nach den Schilderungen von Medizinern, die auf diesem Gebiet arbeiten, wird im Verhalten der Patientinnen und Patienten nicht selten eine fordernde Anspruchshaltung 163
erkennbar. So sagt z. B. ein Klinikarzt, die Patienten wollen das gewünschte Kind wie ein Produkt, das man sich kauft, »nach Haarfarbe und Augenfarbe sortiert«.31 Noch bissiger formuliert es Jacques Testart, einer der wissenschaft lichen Väter des ersten französischen Retortenbabys: »Hochverehrte Eltern, die IVF schätzt sich glücklich, Ihnen bald Eizellen à la carte anbieten zu können; das Labor übernimmt die Garantie für gewünschtes Geschlecht und Normgerechtigkeit. Wenn der Fortschritt noch ein bißchen weiter geht, können Sie aus einem Sortiment auswählen wie in einer Zoohandlung: Haarfarbe, Beinhöhe, Ohrenform und Gesundheitsurkunde«.32 Auf der Basis seiner Erfahrungen sieht er kommen, daß die In-vitro-Fertilisation auch zur Geschlechtswahl und zu genetischen Korrekturen genutzt wird: »Man glaube nur nicht, man könne den Eltern den Personalausweis des Eies verweigern, wenn er sich erst einmal herstellen läßt … Ich bin der Meinung, daß die Geburt eines Kindes unerwünschten Geschlechts ebenfalls Schmerz verursachen wird, und zwar keinen geringeren als ihn heute Paare empfinden, deren Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Psychiater werden zu Recht darauf hinweisen, welche Gefahren für das seelische Gleichgewicht des Paares und die Entwicklung des Kindes heraufbeschworen werden, wenn den Nachfragern die erbetene technische Hilfe verwehrt bleibt«.33 Was da noch als Zukunftsvision formuliert wird, ist inzwischen Realität. Ein britischer Reproduktionsmediziner z. B. bietet offen In-vitro-Befruchtung zur Geschlechtsselektion an (und zwar, weil dies in Großbri164
tannien verboten, statt dessen in Italien und Saudiarabien). Sein Angebot findet heftige Nachfrage, und auf Einwände reagiert er gelassen: »Medizin praktizieren heißt immer auch …, in die Natur einzugreifen. Herztransplantation oder Geschlechtswahl, wo liegt da der Unterschied?«34 Und auch zur Auswahl nach Hautfarbe wird die In-vitro-Befruchtung mittlerweile genutzt. So hat sich z. B. in einer italienischen Klinik eine schwarze Frau die Eizellen einer Weißen einpflanzen lassen, und zwar explizit deshalb, damit das künftige Kind einmal mehr Erfolgschancen im Leben habe. Eine angesehene britische Zeitschrift kommentierte darauf, Einwände abwehrend: »Wenn man darin ein Übel sehen will, so liegt das Übel nicht bei der Mutter, die das Beste für ihr Kind will, vielmehr liegt das Übel bei der Gesellschaft, die Kinder nach Hautfarbe beurteilt und die Chancen dementsprechend verteilt«.35 Wenn die angestrebte Schwangerschaft tatsächlich erreicht wird, setzt auch die Tendenz zu Optimierung des Nachwuchses weiter sich fort. Jetzt geht es darum, den Zufällen bzw. Unfällen der Natur vorzubeugen. So wird z. B. aus deutschen Zentren zur In-vitro-Befruchtung berichtet, daß die Frauen, bei denen mithilfe der aufwendigen Technologien eine Schwangerschaft erfolgreich in Gang gesetzt wird, danach oft auch auf die Pränataldiagnostik zurückgreifen.36 Und dies, obwohl die entsprechenden Untersuchungsmethoden das Risiko einer Fehlgeburt enthalten. Wie sehnlich und drängend auch immer der Kinderwunsch ist – noch drängender, noch stärker ist hier offensichtlich der Wunsch, das Kind sol165
le keine Anomalien aufzeigen. Nicht nur ein Kind, nein: ein möglichst »defektfreies« Kind soll es sein.
Produkthaftung Noch unverhüllter zeigt sich diese Tendenz, wo das »Kind auf Bestellung« zum Gegenstand wird, also bei den Zentren, die die Dienste – oder wie soll man es nennen? – von Samenspendern, Eispenderinnen, Leihmüttern anbieten: Daß dies Kind einen möglichst einwandfreien Gesundheitszustand aufweise, ist die selbstverständliche Erwartung der Eltern in spe. Und dementsprechend werden die Auswahlprozesse gestaltet, jedenfalls bei den besseren Zentren: Geprüft wird die medizinische Vorgeschichte der ins Angebot aufgenommenen Männer und Frauen, ebenso werden sie auf Infektionen getestet, kurzum, man bemüht sich um Sicherheitsstandards.37 Auch enthalten die in den USA üblichen Leihmütterverträge oft eine Klausel, wonach die Leihmutter verpflichtet ist, eine Pränataldiagnostik durchführen zu lassen, so es tatsächlich zur Schwangerschaft kommt (was manchmal auch die Verpflichtung einschließt, im Fall einer genetischen Anomalie eine Abtreibung durchführen zu lassen).38 Was aber, wenn das Kind, das geboren wird, nicht den Wünschen der Eltern entspricht, wenn es eine Behinderung oder chronische Krankheit aufweist? Dann kann es (jedenfalls nach amerikanischem Recht) zu juristischen Auseinandersetzungen kommen. So hat z. B. ein kalifor166
nisches Paar eine Samenbank auf Schadensersatz verklagt, weil ihre Tochter an einer unheilbaren Erbkrankheit leidet. Sie wurde mit Reagenzglas-Spermien eines Mannes gezeugt, obwohl er der Samenbank-Firma zuvor angegeben hatte, daß eine seiner Tanten an einer Nierenkrankheit litt. Und wie sich später herausstellte, litten in Wahrheit mehrere seiner Verwandten an polyzystischen Nieren oder waren schon daran gestorben. Der Prozeß soll nun klären, wieweit die Firmen für ihre Produkte haften.39 Nun gibt es, wie eingangs gesagt, eine verbreitete Deutung, wonach in solchen Wünschen die persönlichen Neigungen und Neurosen der Eltern sich zeigen, von übersteigerten Kontrollansprüchen bis zu Perfektionswahn und Maßlosigkeit. Eine solche Deutung greift aber meines Erachtens zu kurz. Denn sie sieht nicht, wie die geschilderten Verhaltensweisen sich durchaus paßgerecht einfügen in einen historischen Trend, der den Eltern immer weitergehende Aufgaben und Pflichten zuweist. In der Art, wie die Angebote der Medizintechnologie genutzt werden, spiegelt sich auch – so meine These – die Fortsetzung und Verlängerung dieses Trends: Er wird aufgenommen und in neue, dem menschlichen Zugriff bislang verschlossene Bereiche erweitert. Aus der »Optimierung der Startchancen fürs Kind« wird hier eine Tendenz zur »genetischen Optimierung des Kindes«, und dies hat durchaus eine innere Logik. In einer Gesellschaft, wo Gesundheit, Leistung und Fitness vorrangig zählen; wo diese nicht mehr qua Natur vorgegebenes Schicksal sind, sondern als Aufgabe und Verantwortung in das 167
Handeln der Menschen gestellt werden; da eben wird auch eine Aufgabe der Eltern daraus, die vor der Geburt, ja schon vor der Zeugung beginnt.
Die Nebenfolgen der Optimierung Eine andere Frage ist freilich, ob all die Optimierungsund Auswahlverfahren, die mit der Medizintechnologie bereitgestellt werden, zum einen dem Wohl des Kindes tatsächlich dienen, zum anderen auch den Interessen und Rechten anderer zuträglich sind. Wenn wir versuchen, die biologische Konstitution unserer Kinder möglichst defektfrei zu organisieren und zu entwerfen, wie verändert dies möglicherweise unseren Umgang mit ihnen? Wie verhalten wir uns dann da, wo sie sich anders entwickeln, als es unserem Wunschbild entspricht, wenn sie trotz der optimalen Planung nicht die optimale Leistung erbringen? Und wie sollen die werdenden Eltern, überrollt von der Komplexheit der medizintechnischen Informationen, von der Autorität des ärztlichen Wissens, von der Anonymität der modernen Medizintechnologie, wie sollen sie »autonom«, »frei« und »verantwortlich« handeln, wie mit dem verwirrenden Angebot der neuen Handlungsmöglichkeiten umgehen und mit all den Dilemmata, Entscheidungszwängen, Entscheidungskonflikten, die diese enthalten? Und schließlich, wie wird sich die Gesellschaft verändern, wenn der Umgang mit Gesundheit, Krankheit, Behinderung immer mehr technisch durchorganisiert wird? Was wird 168
aus dem Gebot der Solidarität, wenn die »Vermeidung« von Schwächen, Abweichungen, Anomalien zur obersten Handlungsmaxime gerät? Ist die möglichst defektfreie Gesellschaft am Ende gar eine solidaritätsferne Gesellschaft? All dies sind Fragen, die seit der rapiden Entwicklung der Biotechnologie vehement diskutiert werden. Seitdem werden die darin enthaltenen Handlungsmöglichkeiten zum Thema. Seitdem geraten – in Wissenschaft und Politik, Medien und Öffentlichkeit – immer mehr auch die sogenannten »Nebenfolgen« der Technik ins Blickfeld. Gesucht wird nach Regelungen, um der zügellosen Ausweitung gegenzusteuern, um die Anwendung und gesellschaft liche Nutzung der neuen Verfahren in sozial verträgliche Bahnen zu lenken, um nicht zuletzt auch die unterschiedlichen Interessenlagen und möglichen Interessenkonflikte verschiedener Gruppen zu erkennen, und, so nötig, die Rechte der schwächeren Gruppen zu schützen. Vom Ergebnis dieses öffentlichen Dialogs um Nebenfolgen und Risiken wird nicht zuletzt abhängen, wie weit die »genetische Optimierung« des Nachwuchses sich durchsetzen wird.
4. Welche Zukunft? Viele der geschilderten technischen Eingriffe werden tagtäglich in Deutschland praktiziert, einige sind in der Bundesrepublik nicht erlaubt, werden jedoch in anderen 169
Ländern massenhaft durchgeführt. Viele der Beispiele sind uns vertraut, andere mögen fern, ja exotisch erscheinen. So oder so, in der Summe wird an allen ein durchgängiger Sachverhalt sichtbar: Die neuen Technologien leiten immer mehr Möglichkeit einer gezielten »Konstruktion« von Elternschaft ein. Die »programmierte Vererbung« (Bräutigam/Mettler 1985) wird in Ansätzen greifbar, der »Mensch nach Maß« (Daele 1985) zur Vision einer möglichen Zukunft. »Die moderne Biologie macht Eigenschaften der menschlichen Natur, die bislang Grenzen und Bezugspunkte technischen Handelns waren, nunmehr selbst zu Objektbereichen dieses Handelns … Die menschliche Natur wird unter dem Einfluß von Wissenschaft und Technik kontingent, d. h. sie kann auch anders sein, als sie gegenwärtig ist. Damit wird sie entscheidungsfähig und entscheidungsbedürftig. Selbst der Verzicht auf jeden Eingriff erscheint dann noch als bewußter Akt der Herstellung menschlicher Natur.«40 Unter diesen Bedingungen ist Elternschaft weniger denn je ein natürliches Verhältnis. Vielmehr ist Elternschaft in der Moderne von Theorien umgeben, von Experten umzingelt, um die neuen Wahlmöglichkeiten der Technik erweitert. In der Folge wird Elternschaft immer mehr zum Planungsprojekt, zum Gegenstand vieler Bemühungen und Optimierungsversuche, und das ungeborene Kind wird zuallererst zum Gegenstand von Ermittlungsverfahren: »Bevor die pränatalen Testverfahren … entwickelt wurden, ging man (sofern keine Krankheitssymptome vorlagen) selbstverständlich von der Gesundheit des Foetus aus. Mit dem Aufkommen 170
pränataler Testverfahren beginnt diese Grundannahme zu kippen, jetzt muß die Gesundheit oder Normalität des Foetus erst bewiesen werden.«41 Ob alles benutzt wird, was heute technisch möglich ist oder morgen technisch möglich sein wird, ob der Trend zur genetischen Perfektionierung des Nachwuchses eines Tages sich ungebremst durchsetzen wird oder ob in absehbarer Zukunft hier noch Schranken bestehen – dies kann heute niemand mit Sicherheit sagen. Neben der technischen Entwicklung spielen hier auch gesetzliche Regelungen, politische Anreize oder Sanktionen, ökonomische Bedingungen und kulturelle Leitbilder herein. Aber viele Anzeichen sprechen dafür, daß in der Summe der technischen Eingriffschancen eine menschliche Steuerung eröffnet wird, »die das Konzept von Elternschaft verändert: Entsprechend der technologischen Möglichkeiten dehnt sich elterliche Verantwortung für das entstehende Leben aus.«42 Wenn diese Prognose zutreffen sollte – dann sind die Eltern der Zukunft vor ganz neue Fragen, Handlungslasten, Entscheidungszwänge gestellt.
Kapitel 6 Auf dem Weg in die multikulturelle Familie1 1. Ein gesellschaftliches Ordnungsproblem In den Theatern New Yorks sieht man kaum Schwarze, es gibt wenig Rollen für Schwarze, wenig schwarze Dramatiker. Eine Ausnahme ist der Dramatiker August Wilson, selbst hellhäutiger Sohn einer Schwarzen und eines deutsch-amerikanischen Bäckers. Mit einer fulminanten Rede nahm er jüngst Amerikas kulturelle Machtverhältnisse aufs Korn, und provokativ hieß seine Schlußfolgerung: In einer von Weißen dominierten Gesellschaft brauche das schwarze Amerika sein eigenes Theater. In der großen öffentlichen Kontroverse, die daraufhin entbrannte, meldete sich eine Frau zu Wort: »Ich bin halb Balinesin, halb Irin. Meine Großmutter stammt aus den Philippinen und mein Großvater aus Polen. Ich bin in Texas aufgewachsen und lebe jetzt in New York. Was für ein Theater schlagen Sie für mich vor?«2 Diese Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch. Zum einen hat im Lauf der letzten Jahrzehnte und insbesondere der letzten Jahre die Zahl der binationalen/bikulturellen Verbindungen erheblich zugenommen, in den USA wie in Deutschland wie in anderen Ländern. D. h. es gibt immer mehr Paare, wo die Part173
ner sich in bezug auf ihre Herkunft deutlich unterscheiden, sei’s in bezug auf Nationalität, Kulturkreis, Religion oder Hautfarbe. Durch solche Paare, und erst recht natürlich durch ihre Kinder, wächst die Zahl der Menschen, die sich den in unserem Bewußtsein und erst recht den in amtlichen Vorgaben tradierten Kategorien (»Schwarze«, »Italiener«, »Juden«) nicht einpassen lassen, weil sie nichts davon sind oder eher vieles zugleich: wo soll man den schwarzen Juden mit italienischer Großmutter einordnen, wie ihn benennen? Nun gab es solche Menschen, die zwischen die Kategorien fallen, auch früher, wenn auch in geringerer Zahl. Aber das Neue, das die Gegenwart kennzeichnet, ist, jenseits der quantitativen Entwicklung, auch ein qualitatives Moment: Während es früher für Kinder, die aus solchen Familien stammen, oft nur eine Möglichkeit gab – nämlich ausschließlich der einen Seite ihrer Herkunft zuzugehören, damit die andere Seite aufzugeben, zu vergessen, manchmal auch bewußt zu verschweigen –, hat an genau diesem Punkt in den letzten Jahren ein deutlicher Bewußtseinswandel eingesetzt. Aus den USA, dem Land, das sich im eigenen Selbstverständnis so gern als »Schmelztiegel« verstand (inwieweit es ein solcher tatsächlich war, ist eine andere Frage), aus den USA also wird als neue Entwicklung berichtet, daß immer mehr Menschen sich nicht mehr nur auf die eine oder andere Seite ihrer Herkunft festlegen wollen3 (und ähnliche Bestrebungen finden sich auch in anderen Ländern, nicht zuletzt auch in Deutschland4). Statt ängstlicher Anpassungsversuche hier ein selbstbewußt positiver Entwurf: 174
Diese Menschen beanspruchen eine Identität, die beides zugleich ist, nicht eines auf Kosten und unter Ausschluß des anderen. Sie begreifen ihre Identität als bikulturelle oder gar multikulturelle, sie sehen sich als »schwarze Juden«, »japanische Amerikaner« oder auch »Afro-Deutsche«. Das Motto heißt hier: »… ich muß mich nicht entscheiden, ich bin beides …«5, oder noch pointierter gefaßt: »Ich bin weder schwarz noch weiß, ich bin kunterbunt.«6 Entwicklungen wie die bisher genannten – Anstieg der binationalen bzw. bikulturellen Verbindungen; Ansätze zu einer binationalen bzw. bikulturellen Identität – gehören nicht nur in den Bereich der privaten Entscheidungen. Sie enthalten vielmehr viel gesellschaft liche Brisanz. Denn es gehört zu den Merkmalen der modernen Nationalstaaten, daß dem Einzelnen ständig Zuordnungen nach Nationalität bzw. ethnischer Herkunft abverlangt werden. Die Frage nach der Nationalität begleitet uns lebenslang, und erwartet werden einfache Antworten, die institutionell bearbeitbar sind und von deren Inhalt dann abhängt, was uns an Rechten, Pflichten, Ansprüchen zusteht (ob Militärdienst, Arbeitserlaubnis oder Aufenthaltsrecht). Die juristische Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Fremden ist derart keine neutrale Kategorie, sondern dient der Teilhabe wie der Ausgrenzung in bezug auf soziale Ressourcen. Es geht darum, wer in bezug auf solche Leistungen legitim »drinnen« und wer »draußen« stehen soll. Oder wie Habermas schreibt: Der Mitgliedsstatus nach innen bildet die »Grundlage für die Zuschreibung der materiellen Rechtsstellungen, die ins175
gesamt den Status eines Bürgers im Sinne der Staatsbürgerschaft ausmachen«.7 So gesehen ist offensichtlich, daß diejenigen, die die Grenzen nationaler bzw. kultureller Zuordnung sprengen, allein schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaft liches Ordnungsproblem darstellen. Sie sind der Störfaktor im gesellschaft lichen Getriebe, weil sie in den gewohnten, den einfachen und eindeutigen Kategorien sich nicht abbilden lassen. Sie sind, oft im ganz wörtlichen Sinn, nicht »paßgerecht«. Ihre Existenz ist (dem staatlichen Herrschaftsanspruch wie dem Blick des Normalbürgers) mehrdeutig und schillernd, um nicht zu sagen: dubios und verdächtig. Die Frage, die unabweisbar sich stellt, heißt: Wo ist der gesellschaft liche, politische, rechtliche Ort derer, die nicht in die tradierten Kategorien eindeutiger Zuordnung passen? Wie soll die Gesellschaft mit ihnen verfahren? Wie wollen sie sich selbst sehen, wo wollen die anderen sie sehen, wie ist ihre Identität zu begreifen? Sollen sie selbst ihre Zuordnung festlegen können, oder ist es die Gesellschaft, die hier das Entscheidungsrecht hat? Welche Ordnungsregeln sind möglich, welche sind praktisch, welche sind politisch erwünscht? Welche Konflikte können entstehen, wenn man diese oder jene Auslegung wählt, und wie sind diese dann wieder zu regeln? So die Grundfrage (wie aktuell sie ist, für wieviel politischen Zündstoff sie sorgt, wird unter anderem sichtbar an den Diskussionen um die doppelte Staatsbürgerschaft). Verschiedene Gesellschaften haben auf verschiedene Weise versucht, hier Antworten zu finden. Um aus 176
dem Spektrum der Möglichkeiten nur zwei anzudeuten: Zum einen kann die Gesellschaft versuchen, die, die nach Herkunft bzw. Familienform nicht in die tradierten Kategorien der Eindeutigkeit passen, qua Dekret bzw. qua staatlichem Beschluß in eine eindeutige Kategorie einzuordnen. Oder die Gesellschaft kann versuchen, für diese Personengruppen nun neue Kategorien zu finden, die bewußt den Zwischenstatus signalisieren, eventuell mit akribischen Unterscheidungen weiter sortieren und ausdifferenzieren. Für beide Versuche gibt es historische Beispiele, und zwei davon möchte ich im folgenden anschaulich darstellen. Beide Versuche lassen sich, theoretisch gewendet, begreifen als soziale Konstrukte, und zwar als soziale Konstrukte, die aus naheliegenden Gründen – im Versuch, die widerspenstige Wirklichkeit in ein Ordnungsschema zu pressen – ihre eigenen Paradoxien, Widersprüche und Widersinnigkeiten erzeugen, mit manchmal komischen, manchmal für die Betroffenen auch schrecklichen Folgen. Auch dies möchte ich im folgenden zeigen. Damit schicke ich Sie – den Leser, die Leserin – auf eine überraschende, vielleicht zunächst auch irritierende Reise. Bevor wir zur aktuellen Entwicklung gelangen, schauen wir ausführlich zwei Konstellationen der Vergangenheit an, die jeweils schrittweise dann bis zur Gegenwart führen. Warum aber dies? Ganz einfach: Um aus der Fülle an Materialien, Geschichten, Schicksalen allmählich ein Bild dessen entstehen zu lassen, was das Thema der multikulturellen Familie an Schichten enthält, wie sich darin biographische, gesellschaft liche und po177
litische Dimensionen verbinden, nicht zuletzt auch die Verblendungen, Irrungen, Wirrungen der jeweiligen Zeit bündeln – und wie die Spuren von gestern immer wieder bis in die Gegenwart reichen.
2. Beispiel USA: Wer ist ein Schwarzer?8 In den USA wären Ehen zwischen Schwarzen und Weißen lange Zeit nicht nur geächtet, sondern in den meisten Bundesstaaten auch gesetzlich verboten. Dennoch ist es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder zu Verbindungen zwischen Schwarzen und Weißen gekommen, aus denen auch Kinder hervorgegangen sind. Wie der Historiker Spickard schreibt, gab es während der Epoche der Sklaverei einige wenige offizielle Verbindungen zwischen Schwarzen und Weißen, darüber hinaus vor allem Formen des Konkubinats und des erzwungenen Geschlechtsverkehrs (z. B. zwischen weißem Plantagenbesitzer und schwarzer Sklavin). Das Muster der sexuellen Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen war damit weitgehend bedingt durch die Machthierarchie zwischen diesen Gruppen.9 Aufgrund dieser Geschichte gibt es – vor allem unter Schwarzen, aber auch unter Weißen – eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die Vorfahren der jeweils »anderen« Hautfarbe haben. Solange noch eine offene Rassendiskriminierung bestand, war damit auf vielen Ebenen des Alltags stets die Frage präsent (und sie ist auch heute noch längst nicht ver178
schwunden, hat allerdings subtilere Form angenommen): Wie soll die Gesellschaft mit dieser Gruppe verfahren? Wo ist sie rechtlich und sozial einzuordnen, wie wird die Umwelt auf sie reagieren? Welche Schulen dürfen sie besuchen, in welche Hotels und Restaurants können sie gehen, in welchen Clubs werden sie aufgenommen, und nicht zuletzt auch: wen dürfen sie heiraten?
Versuche, Ordnung zu schaffen In den offiziellen Volkszählungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde versucht, dem grundsätzlichen Ordnungsproblem mit entsprechenden Unterscheidungen beizukommen. Doch die angewandten Verfahren blieben willkürlich und grob, konnten die Kompliziertheit der Verhältnisse, wenn überhaupt, nur oberflächlich erfassen, und so müssen die Ergebnisse als zweifelhaft gelten. Spickard hat beschrieben, wie zufällig und unsystematisch die demographischen Zurechnungsprozesse verliefen:10 Die Volkszählungsbehörde erhob sowohl die Zahl der Schwarzen wie die der Mulatten. 1850 und 1860 erhielten die Volkszählungsbeauftragten keine Anweisungen, wie sie entscheiden sollten, ob jemand als Mulatte galt. Vermutlich ordneten sie Hautfarbe und Gesichtszüge nach Augenschein ein und kombinierten dies mit dem, was sie zufällig an weiteren Informationen bekamen. 1870, 1910 und 1920 bekamen die amtlichen Volkszähler die Anweisung, alle Personen mit ausschließlich schwarzer 179
Herkunft als »Neger« zu bezeichnen und als »Mulatten« die, die zum Teil auch weiße Vorfahren hatten. 1890 wurden diese vagen Instruktionen kurzfristig durch präzisere Kriterien ersetzt. In diesem Jahr wurden als »Schwarze« die eingestuft, die drei Achtel bis fünf Achtel schwarze Vorfahren hatten; und für die, die noch weniger afrikanische Vorfahren hatten, wurden die Begriffe »ViertelsMischlinge« und »Achtels-Mischlinge« eingeführt. Das Problem war natürlich, daß die Volkszählungsbeauftragten selten genug Informationen zur Familiengeschichte hatten, um so genaue Abstufungen durchführen zu können. Und so mußte der offizielle Volkszählungs-Bericht 1890 auch feststellen: »Diese Zahlen haben nur geringen Wert«. Noch schwieriger mußte die Zuordnung sich im Alltag gestalten, wo die Beziehungen oft nur aus flüchtigen, anonymen Kontakten bestehen. Unter diesen Bedingungen bleibt erst recht keine Zeit, um Familiengeschichten zu studieren und komplizierte Feinunterscheidungen zu praktizieren. Hier muß man eher kurzen Prozeß machen und nach möglichst einfachen Regeln verfahren. An vielen sozialen Orten (und insbesondere an denen, die als exklusiv sich verstehen) galt in den Zeiten der offenen Rassendiskriminierung deshalb das Motto »Whites only«, was ebenso simpel wie restriktiv ausgelegt wurde: Die Regel, die die Weißen durchzusetzen versuchten, war die, daß alle, die auch nur einen Tropfen »schwarzen Blutes« hatten, damit Schwarze waren. Zugelassen wurden entsprechend nur die, die »ganz weiß« waren (oder zumindest dem Augenschein nach als sol180
che erschienen). Wer dagegen, und sei’s nur in den entfernteren Teilen der Herkunftsgeschichte, auch schwarze Vorfahren hatte (soweit dies im Äußeren sich zeigte oder ansonsten bekannt war), der oder die hatte draußen zu bleiben. »Whites only« hieß »Off Limits« für sie. Wie aber war dort zu verfahren, wo es nicht um kurze Begegnungen, sondern um lange, ja lebenslange Bindungen ging – bei der Heirat? Weil nach dem damaligen Denken hier öffentliche Interessen berührt wurden, behielt bei dieser Frage sich der Staat die Entscheidungsmacht vor. Wie schon gesagt, waren Ehen zwischen Schwarzen und Weißen vielfach verboten (die letzten Gesetze dieser Art wurde erst 1967 aufgehoben11), was in den Zwischenund Zweifelsfällen wieder die Frage aufwarf, wer denn nun Schwarzer sei bzw. als solcher zu gelten habe. Auf diese Frage bezogen, wurden in einigen Staaten genaue Auslegungsregeln und quantitative Maßstäbe ersonnen. Auch sie folgten im Grunde der symbolischen Regel, wonach schon ein einziger »schwarzer Blutstropfen« ausreiche, um eine Person als schwarz zu bezeichnen. Wobei freilich interessant ist, wie weit man versuchte, diese Spur des schwarzen Blutstropfens zurückzuverfolgen, und wie unterschiedliche Staaten hier zu unterschiedlichen Bestimmungen gelangten. Im offensichtlich »liberaleren« Oregon ging man nur bis zu den Großeltern zurück, und schwarz war also, wer mindestens einen schwarzen Großelternteil hatte. In Lousiana und North Carolina ging man dagegen noch zwei Generationen weiter zurück, und schwarz war da schon, wer auch nur einen schwarzen Ururgroßvater (bzw. eine einzige schwar181
ze Ururgroßmutter) hatte.12 Wo die Fährtensuche derart weit zurück in die Vergangenheit reichte, verwundert es kaum, daß die Regeln in der Praxis oft kaum handhabbar waren, weshalb das Ergebnis oft willkürlich und zufällig ausfiel.
Verwirrung, Widersprüche, Paradoxien Nach dem bisher Gesagten dürfte kaum überraschen, daß der Versuch, das durch gemischte Familien erzeugte Ordnungsproblem über scheinbar eindeutige Auslegungsregeln zu lösen, in der Praxis oft mehr Verwirrung als Ordnung stiftet. Und dies nicht nur deshalb, weil ein Verfahren, das die Gesamtheit der Vorfahren im Vorhandensein eines einzigen »schwarzen Blutstropfens« bemißt, per se schon absurd ist; weil darüber hinaus für die entsprechende Spurensuche, was die Vergangenheit angeht, oft die verläßlichen Angaben fehlen, was dann der Phantasie wie den Gerüchten breiten Raum läßt. Erst recht spielen hier – was man leicht übersieht – die Gesetze der Biologie und Genetik herein, und zwar genauer jenes Prinzip der Zufallsverteilung, wie es Mendel in seiner Vererbungslehre beschreibt (wir erinnern uns: die roten, weißen und rosa Blüten). Es besagt, auf den hier relevanten Kern zusammengefaßt, daß es in gemischten Familien mit sowohl schwarzen wie weißen Vorfahren oft einem Lotteriespiel gleichkommt, welche Schattierung die Hautfarbe eines Kindes aufweist. Und es heißt ebenso, daß in solchen Familien auch leibliche 182
Geschwister – also Kinder, die alle von denselben Eltern abstammen – im äußeren Erscheinungsbild weit voneinander entfernt sein können, ja im Extremfall kaum als Geschwister erscheinen. Wenn nun die Hautfarbe als zentrales Kriterium der Zuweisung von Lebenschancen fungiert, diese zum Teil aber von den Zufällen der Natur abhängig ist; wenn deshalb in manchen Fällen jemand äußerlich anders erscheint, als er qua offizieller Zurechnung ist – dann liegt es nahe, daß manche Betroffene versuchen, die Lücken und Widersprüche im vorherrschenden Ordnungssystem aktiv zu nutzen; daß sie also versuchen, die offizielle Zurechnung zu unterlaufen und der Diskriminierung zu entkommen. Tatsächlich ist genau dies auch geschehen: Immer wieder gab es Fälle (wie oft genau, kann man aus naheliegenden Gründen nicht wissen), wo Menschen gemischter Herkunft, die eine helle Hautfarbe aufwiesen, ihre Umgebung verließen, um in einer neuen Umwelt als »Weiße« zu leben. Für dieses Verhalten wurde der Begriff »Passing« geprägt, frei übersetzt also: als Weißer durchgehen, sich als Weißer ausgeben. Aufgrund der darin angelegten Dramatik hat das Thema des »Passing« (auch wenn es in der Realität wohl eher selten vorkam) viele Phantasien wie Ängste beflügelt, auch Stoff für viele Romane, Filme und Fernsehserien geliefert. Der Literaturwissenschaft ler Henry Louis Gates, selbst aus einer gemischten, vorrangig »schwarzen« Familie stammend, hat in seiner Autobiographie davon erzählt, wie er als Kind entsprechende Fernsehszenen erlebt hat, welche Emotionen und Tränenausbrüche sie im Kreis der 183
schwarzen Zuschauer ausgelöst haben.13 Der Historiker Spickard hat typische Konstellationen und Verlaufsformen des »Passing« beschrieben – und nicht zuletzt auch, welchen Preis die Betreffenden dafür bezahlten.14
Warum heute neue Kontroversen entstehen Mit der Aufhebung der offenen Rassendiskriminierung und dem wachsenden Selbstbewußtsein von Schwarzen sind diese Formen des Hinüberwechselns zur weißen Hautfarbe und ihren Privilegien deutlich seltener geworden. Inzwischen soll es schon zu Formen des anderen Seitenwechsels gegeben haben, von weiß zu schwarz – oder so jedenfalls wird behauptet. So ist z. B. in einer kalifornischen Stadt zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen geworden, ob stimmt, was ein Politiker über seinen Konkurrenten behauptet: Dieser habe unter falschem Etikett den Wahlkampf geführt und sich, obwohl Weißer, als schwarz ausgegeben, um sich dadurch politische Vorteile zu verschaffen.15 Was ist hier Wahrheit, was ist Legende, was falsche Anschuldigung, was politischer Opportunismus? Vielleicht haben auch beide Seiten recht, ja nachdem, wonach man – nein, eben nicht die Hautfarbe, sondern die Zugehörigkeit zur sozialen Kategorie der Schwarzen oder der Weißen bemißt. Vielleicht klingt die Geschichte ein wenig verdächtig. Aber vielleicht wird hier auch die Regel von dem einen, alles entscheidenden »schwarzen Blutstropfen« ganz wörtlich genommen – und wie oft gab es 184
nicht Verdächte und Anschuldigungen, die genau umgekehrt liefen, um einen »Weißen«, unter Verweis auf einen (sei’s tatsächlichen, sei’s erfundenen) Vorfahren unter den Schwarzen, politisch unmöglich zu machen und sozial zu diskreditieren. Eines zumindest wird an diesem Fall wohl unmittelbar sichtbar: Der Versuch, das gesellschaft liche Ordnungsproblem der Zugehörigkeiten zu lösen, kann in ein Labyrinth der Irrungen und Wirrungen, Versteckspiele und Verdächtigungen hineinführen. Dies alles, weil die sozialen Zuordnungen alles andere als wertneutral sind, vielmehr über Lebenschancen und Privilegien entscheiden, im Fall der sozial geächteten Kategorie Demütigung, Ausgrenzung, Verfolgung bringen. Und weiter wird sichtbar, wie das, was die »falsche« oder die »richtige« Kategorie darstellt, auch deshalb soziales Konstrukt ist, weil es vom gesellschaft lichen Klima und politischen Konjunkturen abhängig ist. Wo im Zeitalter der Sklaverei die schwarze Hautfarbe brutale Ausbeutung und Unterwerfung bedeutet, kann sie im Zeitalter neuer rechtlicher Regelungen und wachsenden Selbstbewußtseins der Minderheitsgruppen gelegentlich auch Vorteile bringen, z. B. Zugang zu bestimmten Ressourcen eröffnen (etwa im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungsvergabe). Wo dieses geschieht – wie es ja, zumindest ansatzweise, bei den »Affirmative Action«-Programmen der USA der Fall war, die die vorherrschende Diskriminierung aufbrechen sollten –, da werden auch die Karten im ethnischen Zuordnungsspiel neu gemischt. Eine Studie über ethnische Beziehungen in den USA heu185
te stellt fest: Es kommt zu »politischen Konstruktionen von Ethnizität«, die nicht bzw. nur partiell auf Herkunft sich gründen, vielmehr primär aus der »Konkurrenz um gleiche Lebenschancen« entstehen.16 Anders gesagt: Ob man die schwarze (die indianische, die jüdische) Großmutter verschweigt oder umgekehrt bewußt entdeckt und betont, das ist nicht nur eine Frage privater Vorlieben oder Neurosen, sondern vor allem auch der politischen Umstände, der Minderheitenförderung oder Minderheitendiskriminierung, kurz der positiven oder negativen Sanktionen, die sich mit Vorfahren dieser oder jener Herkunft verbinden.
3. Aus der Geschichte des Nationalsozialismus: Wer ist Jude? Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, fingen sie an, sogleich in die Tat umzusetzen, was sie in ihren Schriften angekündigt hatten. Das Programm der Entrechtung, Aussonderung, Verfolgung der Juden begann.17 Vom Verbot, Haustiere zu halten, öffentliche Bibliotheken zu benutzen, auf Parkbänken zu Sitzen, ins Kino oder Theater zu gehen; über Berufsverbot, Ausschluß aus öffentlichen Ämtern, Beschlagnahme des Vermögens; bis zu Abholung, Deportation und Vernichtung – das war die Skala der Maßnahmen, um Juden aus dem »deutschen Volkskörper« auszugrenzen und, so das Ziel, Deutschland »judenfrei« zu machen. 186
Aber auch hier wieder stellte sich das Zuordnungsproblem. Die USA konnten bei ihrem Programm der Rassendiskriminierung, das auf die Unterscheidung zwischen Weißen und Schwarzen abhob, sich immerhin noch auf das sichtbare Kriterium der Hautfarbe beziehen (auch wenn, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, dies Kriterium in der Praxis alles andere als eindeutig war, vielmehr zu widersprüchlichen Auslegungen führte). Bei der Frage jedoch, wer Jude sei, gab es nicht einmal das. Hier war die Situation von vornherein äußerst kompliziert: Nachdem den Juden jahrhundertelang viele Einschränkungen ihrer Freiheit auferlegt waren, waren ihnen im Lauf des 19. Jahrhunderts, durch die verschiedenen Akte der Juden-Emanzipation, die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte zugestanden worden. Danach blieben zwar Diskriminierung und Vorurteile vielfach weiter bestehen, aber dennoch wurde es möglich, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr Juden in Deutschland ein Leben führten, das sich von dem ihrer nicht-jüdischen Nachbarn kaum unterschied.18 Viele jüdische Familien entfernten sich von der jüdischen Tradition und ihren Bräuchen. Eine wachsende Zahl entfernte sich auch von der jüdischen Religion. Einige von ihnen lebten als Dreitagejuden, wie man sie ironisch nannte, weil sie nur noch an den drei hohen Feiertagen des jüdischen Jahres die Synagoge besuchten; einige verließen die jüdische Glaubensgemeinschaft und traten zum Christentum über; einige praktizierten die Symbiose konkret, indem sie die jüdischen Feiertage einhielten und daneben auch Ostern und Weihnachten feierten. Einige verban187
den sich noch enger mit ihrer nichtjüdischen Umwelt, indem sie mit nichtjüdischen Partnern bzw. Partnerinnen die Ehe eingingen und mit ihnen »gemischte« Familien gründeten. Und gleichgültig, ob sie die jüdische Religion noch tatsächlich praktizierten oder nur noch äußerlich der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten oder sich schon offen von ihr entfernt hatten, für die meisten von ihnen galt selbstverständlich, daß sie sich ganz als Deutsche verstanden und mit Deutschland identifizierten. Dagegen sahen sie wenig Gemeinsamkeit mit den aus Osteuropa kommenden Juden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in größerer Zahl einzuwandern begannen, ja begegneten ihnen eher mit mißtrauischer Distanz. Sie, die deutschen Juden, waren zuallererst Deutsche und dann auch noch Juden (was symptomatisch zum Ausdruck kam im Namen ihrer offiziellen Vereinigung, genannt »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«). Das war die Situation, die die Nationalsozialisten antrafen. Das Problem, das sich aus ihrer Sicht stellte, hieß: Wie konnte man die Assimilation wieder rückgängig machen und die, die so ähnlich geworden, wieder unterscheiden, unähnlich machen? Die Strategie, die sie einschlugen, war doppelter Art. Zum einen wurden aufwendige Propaganda-Maßnahmen inszeniert, die – indem sie ein (Zerr)Bild von »dem« Juden aufbauten, ihn als Parasiten und Schmarotzer im deutschen Volkskörper zu zeichnen versuchten – derart als »Fremden« und »Anderen« darstellten. Gleichzeitig wurde, wie oben beschrieben, sofort mit der Etablierung eines Sonderrechts für Juden begon188
nen, was nichts anderes hieß, als daß diese ihrer Rechte beraubt und ausgegrenzt wurden.
Abstufungen der Aussonderung Aber noch blieb das Problem: Wie war zu verfahren mit den »gemischten« Familien, mit der beträchtlicher Zahl der Verbindungen zwischen Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, die zusammengewachsen waren durch Zuneigung und Gemeinschaft des Alltags, durch Ehe und Kinder? Aus nationalsozialistischer Sicht mußte diese Gruppe einen besonderen Gefahrenherd darstellen, eine Quelle der »Volksvergiftung«. So verwundert es nicht, daß die neuen Machthaber sehr schnell Maßnahmen ergriffen, die explizit gegen diese Bevölkerungsgruppe gerichtet waren, ja in ihrer Existenz auszulöschen versuchten. Zum einen wurde auf die nichtjüdischen Partner in solchen Verbindungen Druck ausgeübt, damit sie die Scheidung beantragten und die Ehe auflösen ließen (was einige taten, aber viele andere nicht). Erst recht wurde alles daran gesetzt, um weitere Verbindungen dieser Art zu verhindern. Mit dem »Gesetz zum Schütze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, am 19. 9. 1935 erlassen, wurde verfügt:
§ 1: Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig. 189
§ 2: Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten. Aber es blieben die Ehen, die schon vorher geschlossen und weiter bestanden, und es blieben erst recht die Kinder aus solchen Ehen. Für das erklärte nationalsozialistische Ziel, zwischen Deutschen und Juden zu trennen, stellten sie ein massives Hindernis dar. Die neuen Machthaber gingen sogleich auch an dieses Problem. Sie ersannen ein aufwendiges Ordnungssystem, um zu sortieren, wer wieviel jüdische Abstammung hatte, wer Jude war bzw. als Jude zu gelten hatte. Es waren die Abstufungen der Aussonderung – methodisch, systematisch, bürokratisch. Als Jude wurde definiert, »wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt, wobei als volljüdisch gilt, wer der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört«. In der Folge gab es (um die wichtigsten der neu geschaffenen Kriterien zu nennen) »Geltungsjuden« und »Glaubensjuden«, »einfache Mischehen« und »privilegierte Mischehen«, »Mischlinge ersten Grades« und »Mischlinge zweiten Grades«. Hinzukamen eine Reihe von Ergänzungsbestimmungen, die die Zuordnung zur einen oder anderen Kategorie von detaillierten weiteren Kriterien (bis hin zum Gesundheitszustand des Ehepartners oder dem Wohnort der Kinder) abhängig machten.19 Da ein so kompliziertes Netz von Kriterien in denjenigen Situationen des Alltags, die schnelle Einordnung erfordern, aber kaum handhabbar war; da darüber hinaus auch die Merkma190
le der äußeren Erscheinung kaum hinreichend Klarheit verschafften, weil die Juden oft nicht so »jüdisch«, die Nichtjuden oft nicht so »arisch« und »nordisch« aussahen, wie die nationalsozialistische Ideologie es gern ausmalte; deshalb mußten, um Alltagssituationen zu regeln, Kennzeichnungen geschaffen werden, die sofort sichtbar machten, ob es sich bei der betreffenden Person um eine aus der Gruppe der »anderen«, also der Juden handelte. Deshalb wurde die Vorschrift eingeführt, daß all diejenigen Männer und Frauen, die nicht einen erkennbar »jüdischen« Namen trugen, in allen offiziellen Dokumenten ihrem eigenen Vornamen einen typisiert jüdischen Vornamen hinzufügen mußten (aus Walter Mayer wurde Walter »Israel« Mayer, aus Anna Binder wurde Anna »Sara« Binder). Darüber hinaus wurde in ihre Pässe und Lebensmittelkarten ein großes »J« eingestempelt. Und damit auch bei der flüchtigsten Begegnung ja kein Mißverständnis aufkomme, wurden Juden (genauer die meisten von denen, die nach dem elaborierten Regelsystem als Juden galten) dazu gezwungen, an genau vorgeschriebener, gut sichtbarer Stelle eine Etikettierung zu tragen, den sogenannten »Judenstern« eben. Erlaß vom 1. 9. 1941: »Ab 15. 9. 1941 ist es Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen … Dies gilt nicht für den in Mischehen lebenden jüdischen Ehegatten, sofern Abkömmlinge aus der Ehe vorhanden sind, die nicht als Juden gelten, oder der einzige Sohn im Krieg gefallen ist, ferner nicht für die jüdische Ehefrau bei kinderloser Mischehe während der Dauer der Ehe«. 191
Im Labyrinth der »richtigen« und der »falschen« Großeltern20 Das beschriebene Regelsystem war seinem Anspruch nach systematisch präzis. Tatsächlich aber war es kompliziert und in sich widersprüchlich, weil es biologische und soziale Kriterien vermengte, nämlich einerseits auf Abstammung und postulierte »Rasse« bezugnahm, aber die Rasse dann wieder über die Religionszugehörigkeit festmachte, in den weiteren Differenzierungen auch auf Geschlechtszugehörigkeit, Familienstand und Lebensumstände der Familienmitglieder bezug nahm, während man im Alltag oft auch »nach Augenschein« vorging und Personen nach ihrem Aussehen einzuordnen versuchte. Ein solches Ordnungssystem war geradezu prädestiniert, manche Verwirrungen und Verwechslungen zu stiften (wobei diese, je nach dem, welche Zuordnung sie enthielten, existenzgefährdend, aber auch lebensrettend sein konnten). Da wurde Raum geschaffen für Vermutungen, Gerede, Gerüchte, wo – teilweise aufgrund akrobatischer Zuschreibungen – der Verdacht ausgestreut wurde, daß jemand jüdischer Abstammung sei.21 Umgekehrt gab es Behördenirrtümer und Fehler in der Erfassungsbürokratie, wurden bei Personen aus »gemischten« Familien die jüdischen Vorfahren übersehen, waren die Unterlagen der »Juden- und Mischlingskartei« nicht immer vollständig.22 Und immer wieder wird von Alltagssituationen berichtet, wo die Zuordnung nach Augenschein trog und die Person, die als Inbegriff nordischer Rasse erschien, tatsächlich »andere« Vorfahren hatte. 192
»Eines Tages wurde so eine Vorprüfung in der Englischstunde gehalten. Ich war in diesem Fach sehr gut und ›kam oft dran‹. Bei der anschließenden Lehrerbesprechung fragte der Beamte [die Lehrerin], wer denn ›dieses Mädchen sei, dieser Prototyp der arischen Rasse4? Das sei, sagte sie mit großem Vergnügen, die einzige Halbjüdin in ihrer Klasse«.23 »Ich verliebte mich in das Mädchen, das später meine erste Frau werden sollte. Es hatte die schneeweiße, leicht sommersprossige Haut der echt Rothaarigen, ein winziges Stupsnäschen und einen sehr schönen großen Mund mit makellosen Zähnen. Die Achtzehnjährige stammte aus Graz und sprach einen Dialekt, der meinem ureigenen sehr nahe war. Sie trug österreichische Trachtenkleider, sogenannte ›Dirndl‹, die ihr wundersam gut anstanden«. Und dann stellte sich heraus, »sie sei Voll- und Glaubensjüdin, ja, daß ihre steirische Herkunft eine nicht fleckenlose und ihre Vater ein eingewanderter Ostjude war« – kurz, sie war eine »dialektsprechende Jüdin, die als Modell für die Fremdenverkehrswerbung der ›Ostmark‹ beste Figur gemacht hätte«.24 Weil das Ordnungssystem der Nationalsozialisten einerseits kompliziert war, andererseits für die Betroffenen lebensbedrohend, war es geradezu darauf angelegt, Ausweichversuche zu provozieren. Tatsächlich werden auch in Erfahrungsberichten manche Versuche geschildert, die rassischen Zuordnungskriterien zu umgehen, zu unterlaufen, zu überlisten, »unpassende« Familienverhältnisse zu retuschieren und »gefährliche« Vorfahren mit neuer Identität auszustatten. Auch gab es einige Versuche von 193
Juden, »unterzutauchen«, auf die arische Seite zu wechseln, arische Identität anzunehmen. Dies ist vergleichbar mit den Verhaltensformen, die in den USA unter dem Begriff des »Passing« bekannt wurden, wo Männer und Frauen versuchten, von der »schwarzen« auf die »weiße« Seite zu wechseln. Nach den spärlichen Berichten ist zu vermuten, daß es in Deutschland nur wenige Juden gab, die ein »Passing« wagten, während die große Mehrheit sich der Zuordnung (und damit: dem meist tödlichen Schicksal) nicht entzog. Dies muß paradox erscheinen: Wenn Juden, wie oben berichtet, in ihren Lebensformen kaum unterscheidbar waren von ihren nichtjüdischen Nachbarn, wäre ein »Passing« doch leicht gewesen. Warum wagten dann nur wenige diese Rettung? Als erste Annäherung an eine Antwort fällt ein, daß das deutsche Meldewesen genauer war als das der USA. Trotz gelegentlicher Pannen und Irrtümer – insgesamt gab es zu viele Unterlagen und zu wenige Lücken, um leicht die Identität wechseln zu können. Dies Argument leuchtet ein, und dennoch: es dürfte nur einen Teil der Antwort ausmachen, und zwar ihren gewissermaßen äußeren Teil. Wenn man jene Geschichte bedenkt, die als Zeit der Assimilation, der deutschjüdischen Symbiose bekannt wurde, so kann man mit guten Gründen vermuten, daß es noch andere Barrieren gab, mehr im Innern verankert. Die deutschen Juden fühlten sich ja, wie oben beschrieben, in ihrem Selbstverständnis ganz als Deutsche. Deshalb konnten viele es lange nicht glauben, nicht begreifen, daß sie mit einem Mal aus diesem – diesem ihren! – Land ausgegrenzt werden sollten. Sie selbst sa194
hen sich selbst verständlich als »zugehörig«. Daß die neuen Machthaber (und mit ihnen ein guter Teil des deutschen Volkes) sie anders sahen, sie als »andere« sahen, das war ihnen einfach nicht vorstellbar. In der Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung lag der tragische Irrtum. Wenn diese Deutung stimmt, dann ist die Antwort auf die oben angedeutete Para-doxie in der Paradoxie selbst zu finden: Wenn die meisten der deutschen Juden kein »Passing« versuchten, so nicht etwa deshalb, weil sie für solche Versuche zu unähnlich waren – sondern im Gegenteil deshalb, weil sie an ihr Deutschsein und ihre deutsche Identität ganz selbstverständlich glaubten, eine andere Identität ihnen gar nicht vorstellbar schien. Um nochmals einen Vergleich mit den Schwarzen anzustellen, die über »Passing« hinüberwechselten zur Seite der Weißen: Zu den Zeiten, als das »Passing« geschah, waren die USA ein Land der offenen und öffentlich deklarierten Rassendiskriminierung. Unter diesen Bedingungen war allen Schwarzen allgegenwärtig, was sie zu erwarten hatten. Sie wußten, daß sie ausgegrenzt waren, geringere Rechte hatten, ihr Leben durch viele Verbote eingeschränkt war. Sie waren durch viele Erfahrungen gegangen und entsprechend gewarnt. Sie hatten seit Generationen ein Gespür für Alarmsignale im Alltag entwickelt. Dagegen ganz anders die Situation der Juden in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts: Auch wenn sie im Alltag immer noch viele Vorurteile erfuhren, ihre prägende Grunderfahrung war dennoch der im 19. Jahrhundert vollzogene Zuwachs an Rechten. Diesen 195
Fortschritt hatten sie, ihre Eltern und Großeltern direkt erlebt. Das war, was ihnen Sicherheit gab – eine falsche, wie sich herausstellen sollte. Durch die Erfahrung des Nationalsozialismus wurde diese Sicherheit unwiederbringlich erschüttert. Für viele, die überlebten, war danach die Identität tiefgreifend verändert. Besonders eindringlich kommt das bei einigen von denen zum Ausdruck, die vor Hitler vom Judentum kaum etwas wußten, weil ihre Familien sich seit langem davon entfernt hatten. Sie sagen, sie seien durch die Nazis zu Juden geworden. Sie sind Juden nicht durch Rasse und Biologie, auch nicht durch Religion, sondern durch Schicksalsgemeinschaft. Das Schicksal der Verfolgung, so ihr Selbstverständnis, hat sie zu Juden gemacht. »Jüdische Feste und der jüdische Gottesdienst kamen in meiner Kindheit nicht vor, sondern nur Weihnachten, Ostern, Nikolaus: diese Kinderfeste, mit allem Zubehör, das Kinder glücklich macht. Dabei wußten wir von klein auf, daß wir Juden waren. Trotz des Religionsunterrichts blieb es ein unklarer, eben nicht gelebter Begriff, von dem mein Vater, von mir als Kind gefragt, sagte, er bedeute ihm nichts. Er fühle sich nur als Deutscher. ›Wieso‹, sagte ich, … ›Was bedeutet es dann?‹ Er hat es mir nicht erklären können, er wehrte meine Fragen … als für ihn unwichtig ab … Und war es denn leicht zu beantworten? Seither gibt es die harte Minimaldefinition: ›Jude ist, wen Hitler dazu erklärt hat‹«.25 »Jüdische Religionsausübung existierte in meinem Elternhaus nicht einmal in Relikten … Das, wozu drei Generationen Assimilation uns gemacht hatten, bestimm196
te uns stärker als der ferne, nur noch gewußte, verblassende Ursprung … Nach der wahnwitzigen Hinschlachtung von sechs Millionen Juden durch Hitler war ich nur noch eines: Jude … Was jene zwölf Jahre, die wie tausend Jahre lasteten, aus mir gemacht hatten, das ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ich wollte es nicht mehr rückgängig machen«.26
Wie die Spurensuche heute aussieht Es gibt noch eine Ironie der Geschichte. Möglicherweise existieren heute neue Formen des »Passing«, wo Personen nichtjüdischer Herkunft eine jüdische Identität annehmen. Auch da finden sich Parallelen zur Situation der Schwarzen: So wie dort schon der Vorwurf erhoben wurde, ein Weißer würde sich um gewisser politischer Vorteile willen als Schwarzer ausgeben, so gehen im deutschen Innenministerium heute ähnliche Zweifel um gegenüber den jüdischen Gemeinden in Deutschland, die seit 1989 einen Zustrom russischer Einwanderer erleben. Und der Verdacht wird nun geäußert, daß manche von ihnen nicht wirklich Juden sind, sondern sich nur als Juden ausgaben, um Ausreise und Aufenthaltsgenehmigung im Westen zu erlangen.27 Genaue Dokumente sind, weil die jüdischen Gemeinden und die jüdische Religionsausübung in der Sowjetunion unterdrückt waren, oft nicht zu erlangen. Wer also kann wissen, was wahr ist? Wer kann wissen, wer wer ist? Wieder wird deutlich, wie im Wechsel der politischen Konstella197
tionen und Konjunkturen auch die ethnische Spurensuche ihre Richtung verändert und wie in der Folge manch bizarre Regelungen entstehen: »Es ist makaber. Früher haben die Deutschen den Nachweis verlangt, daß einer kein Jude ist. Heute verlangen sie den Nachweis, daß einer Jude ist.«28
4. Schwierige Begriffe: die Last der Geschichte Wir haben mit multikulturellen Familien heute begonnen und dann zwei einschlägige historische Beispiele betrachtet, nämlich gesellschaft liche Versuche der Einordnung, wer Schwarzer sei, wer Jude, wer in Zwischenkategorien gehöre. Dieser Gang durch die Geschichte war wichtig um zu erkennen, warum es heute schwierig ist, überhaupt über dies Thema zu reden. »Unbefangene« Begriffe gibt es hier nicht, statt dessen tragen alle in sich die Last der Geschichte, und das heißt eben auch: eine Geschichte der Ausgrenzung, Aussonderung, Diskriminierung. Deshalb kommt jedes Reden darüber einem Eiertanz gleich. Auf der einen Seite bekannte, zum Teil noch immer gebräuchliche Begriffe, die aber durch die Geschichte problematisch geworden; auf der anderen Seite neu geschaffene Kunstwörter, die mehr bis minder mühsam versuchen, die wertenden Assoziationen abzustreifen und neutrale Bezeichnungen zu finden. Dazwischen ein hochsensibler Balance-Akt. Beginnen wir, ein naheliegendes Beispiel, mit dem Begriff der »Mischehe«. Dieser Begriff war in Deutschland 198
durchaus schon vor Hitler geläufig, und zwar meinte er damals gemischtkonfessionelle Ehen aller Art (also katholisch-evangelische ebenso wie jüdisch-katholische). Im Gefolge der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde dann jedoch 1935 verfügt, daß er nur noch auf Ehen zwischen »Ariern« und »Nichtariern« anzuwenden sei,29 weshalb er im heutigen Bewußtsein untrennbar mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik und ihren Rassengesetzen verknüpft ist. In den USA sind verschiedene Begriffe im Umlauf, die ihrerseits Unklarheiten und historische Lasten enthalten. Inzwischen wird dort die Bezeichnung »multiracial couple« recht häufig verwandt, aber eine direkte Übertragung ins Deutsche ist unangemessen, da der Begriff der »Rasse« im Deutschen einen anderen Assoziationsradius hat, mehr Anklänge an Biologie und Blutsgemeinschaft aufweist. Um dies zu vermeiden, spricht man in Deutschland heute eher von der »multikulturellen Familie« – ein moderner Begriff wiederum, der, wenn rückwärts gewandt, zur Erfassung historischer Situationen benutzt, eine Schieflage bekommt. Was also tun? Ich habe bisher versucht, das Problem zu umsteuern, indem ich Umschreibungen oder Hilfsbegriffe benutzte, indem ich leise und unter der Hand die Bezeichnung »gemischte Familien« einschob und gleichzeitig – man beachte die Anführungszeichen! – mich um diskrete Distanzierung bemühte. Dies ist, zugegeben, eher ein Ausweg als eine perfekte Lösung. Aber ob es eine solche gibt, geben kann, muß meines Erachtens zweifelhaft sein, weil sich, in der einen oder anderen Form, jeder Versuch wieder in den Schlingen zwischen Vergangenheit 199
und Gegenwart fängt. Deshalb ist es kein Zufall, wenn auch andere Untersuchungen, die sich mit »gemischten Familien« befassen, ausführlicher auf das Sprachproblem eingehen – und angesichts seiner Tücken auch nur unfertige, unvollkommene Lösungen wissen.30 Das Dilemma liegt auf der Hand: Wie kann man über gesellschaftliche Zuordnungsbegriffe schreiben, ohne diese Begriffe selbst zu verwenden? Mit anderen Worten, wie kann man schwimmen, ohne naß zu werden dabei? Es ist gewissermaßen die Ironie der Geschichte, daß auch der Sozialwissenschaftler nicht aus ihr aussteigen kann, weshalb sein Unterfangen mit der Quadratur des Kreises Ähnlichkeit hat. Man ahnt, was da an Fallstricken, Mißverständnissen, Vorwürfen lauert. Als Hoffnung bleibt, daß man, indem man die Fallen aufzeigt, auch wieder aus ihnen herausfinden kann (also die multikulturelle Ausgabe der alten Münchhausen-Geschichte, aber was erweist sich am Ende als stärker, der eigene Schopf oder die geballte Last der historisch gewachsenen Diskriminierungsbegriffe?). Hinzukommt, und dies macht das Unterfangen nicht unbedingt leichter, daß auch die Bezeichnungen für die einzelnen Gruppen ihre je eigene Geschichte und Problematik enthalten. Zum Beispiel die »Schwarzen«: Als Robert K. Merton, einer der bekanntesten amerikanischen Soziologen, 1941 einen Aufsatz über »Intermarriage and the Social Structure« veröffentlichte,31 schrieb er noch ganz selbstverständlich von »Negern«. Für unser heutiges Verständnis dagegen ist dieser Begriff eng mit Diskriminierung verknüpft, so das er praktisch nicht 200
mehr anwendbar ist (außer man will ihn, bewußt herabsetzend, als Schimpfwort benutzen). Aber was gibt es statt dessen? Die Bezeichnung »Afroamerikaner« ist heute verbreitet, aber auch sie kann Anstoß erregen (wenn als Ausgrenzung verstanden, als Versuch, die betreffenden Personen zumindest verbal nach Afrika zurückzuschicken). Wohl am gebräuchlichsten ist die Bezeichnung »Schwarzer« – doch gerade sie ist wenig genau, wie schon oben gezeigt, hat in nicht wenigen Fällen nur noch entfernt mit der Hautfarbe zu tun. Im Grunde benötigt man stets Anführungszeichen, weil ein »Schwarzer« nicht unbedingt schwarz ist – genauer betrachtet fast nie –, ebenso wie ein »Weißer« kaum wirklich weiß ist, es sei denn, er kam als Albino zur Welt. Kurzum, alle Begriffe sind emotional aufgeladen, erweisen sich als gesellschaftliche und politische Konstruktionen, sind einer bestimmten Epoche und ihrem Denken verhaftet. Deshalb gibt es auch hier keine einfachen Lösungen, dafür sind die Kontroversen allgegenwärtig. Und dann erst die Juden (oder vielleicht auch: die »Juden«?). Was damit gemeint sei, hätten viele der assimilierten Juden der Vor-Hitler-Epoche auch nur vage umschreibend angeben können.32 Nach Hitler dagegen bekam, wie oben gezeigt, der Begriff für viele einen neuen Gehalt, weil die Verfolgung ein Band, eine symbolische Schicksalsgemeinschaft hergestellt hatte. Allerdings ist aufgrund derselben Geschichte dieser Begriff nun manchen Nichtjuden schwierig geworden: Ihnen wird unbehaglich, beklommen dabei, er erinnert an böse vergangene Zeiten, klingt wie ein Schimpfwort – darf man 201
»das« denn noch sagen? Und einige reagieren überrascht, ja fast vorwurfsvoll, wenn sie erfahren, daß auch Juden sich selbst Juden nennen. Ist das nicht Rassismus? heißt dann die Frage. So viel, um die Verwirrung komplett zu machen. Mattenklotts Buch »Über Juden in Deutschland« beginnt folgendermaßen: »Fängt in Deutschland einer an, über die Juden zu sprechen, so verstummt meist das Gespräch, erst recht, wenn ein Jude dabei ist. Neben vielen anderen Gründen ist dafür ein einziger für sich schon genug: den Deutschen hat es über die Juden buchstäblich die Sprache verschlagen. Ist ›Jude‹ nicht ein Schimpfwort? In vielen aktuellen Zusammenhängen läßt sich ausweichen, indem man von Israeli spricht, aber offenkundig sind nicht alle Juden Israeli und nicht einmal alle Israeli Juden. – Vollends fatal wird es bei Abstrakta wie ›Juden-heit‹ oder ›Judentum‹ etc. – Kann man von Judenheit und Deutschland sprechen wie Novalis von Christenheit und Europa? Soll man an ein ›Judentum‹ glauben, nachdem man sich – unter welchen Schmerzen – vom Deutschtum als kollektivem Schicksal losgesagt hat? In die Enge getrieben, wird man Zuflucht beim ›jüdischen Menschen‹ suchen oder ›jüdischen Mitbürger‹. Sogleich ergeben sich aber neue Probleme. Wer ist jüdisch? Bekenner mosaischen Glaubens; Nachkommen ethnisch jüdischer Mütter; Angehörige einer jüdischen Gemeinde? Mit welchem Recht bezeichnen wir noch jemanden als Juden, der es ethnisch nur zu einem Bruchteil oder in einer christlichen Konfession getauft ist?«33 Erst recht ist der Begriff »Arier« verdächtig geworden, 202
weil direkt an »nordische Rasse« und »Herrenmenschen« erinnernd, ja Zentrum und Kernstück der Ideologie jener Epoche. Und, wenn dem so ist, was folgt dann daraus: Sind Juden weiterhin Juden, ohne Anführungszeichen, weil auf eine soziale Gemeinschaft (der Religion oder des Schicksals) verweisend – während es »Arier« nicht gibt, nur die ideologische Konstruktion eines biologisch-blutsmäßigen Bandes, deshalb hier bitte die Anführungszeichen, um eine Distanzierung gegenüber den Rassenlehren zu schaffen? So viel, um wenigstens andeutungsweise das Terrain abzustecken. Und die Kontroversen sind damit noch längst nicht beendet, im Gegenteil, sie gewinnen gerade heute noch Zündstoff. Wie bislang hinreichend beschrieben, tragen die alten ethnischen Zuordnungen in sich die Last der Geschichte, der Diskriminierung. Aber wenn nun, wie oben auch angedeutet, in der Gegenwart die Minderheitsgruppen selbst damit beginnen, sich auf ihre Geschichte und Identität zu besinnen, daran festhalten wollen, ja sie mit Symbolen eigens noch aufbauen und ausbauen – was ist dann das? Reaktion auf Unterdrückung und Verlust der Geschichte – oder »Biopolitik«, wie Agnes Heller das nennt,34 die Errichtung neuer Zäune und Demarkationslinien? Kommt mit der »Selbstethnisierung« eine Dynamik in Gang, die zum »ethnischen Separatismus«35 hinführt? Oder ist – wie bei anderen sozialen Bewegungen, so auch hier – gerade am Anfang mit überschießenden Energien, ungebremster Aktivität, mit Experimenten und auch manchen Exzessen zu rechnen, aber all dies ein Zwischenstadium nur, weil die Minderheitsgruppen 203
sich auf dem Weg der Selbstbesinnung zunächst selber suchen? Seit dem Beginn der Schwarzen-Bewegung sind drei Jahrzehnte vergangen, und längst haben auch andere ethnische Gruppen begonnen, ihre Wurzeln zu suchen und bewußt zu betonen; und selbst diejenigen, die gemischte Herkunft auf weisen, fangen nun an, diese doppelte oder mehrfache Identität hervorzuheben statt zu verdrängen. An genau solchen Bestrebungen entzünden sich heute die Kontroversen. Sind die Zuordnungen, die in diesem Kontext dann verwandt werden, Ausdruck neuer Bewußtseinsprozesse; oder umgekehrt ein Versuch, neue Abgrenzung, ja eine neue Apartheid zu schaffen; oder sind sie vielleicht, auch das ist ja möglich, beides zusammen, wechselnd je nach Umständen, Publikum, Protagonisten? Konkret: Sind die neuen Formulare, die eine differenziertere ethnische Selbsteinordnung erlauben – oder sollte man sagen: erfordern? –, sind die einzuschätzen als »vielversprechender Anfang«36 oder als neue »Ghettoisierung« ?37 Unter der Überschrift »Amerika wird ethnisch kartogra-phiert« schreibt John David Merley: »Die Spalte in den Formularen, in der die ethnische Zugehörigkeit einzutragen ist, soll erweitert werden, mit dem sinnigen Hintergedanken, in Zukunft weniger schwarz-weiß verfahren zu müssen. Mit einer erweiterten Palette der ethnischen Auswahlmöglichkeiten bringt die Verwaltung jedoch die Bürger in Verlegenheit. Wie schwarz, oder genauer gesagt, afrikanisch-amerikanisch, bin ich denn eigentlich? Wie jüdisch-hispanisch? Wie asiatisch? Menschen, die 204
sich mit derlei Gedanken bisher nie befaßt haben, müssen nun genauer hinsehen. Wie war das wohl mit dem Großvater? Mit der Großmutter? Im Zweifelsfall (und im Land des Schmelztiegels dürfte es sich mehrheitlich um Zweifelsfälle handeln), wofür sollte ich mich entscheiden, und mit welchen langfristigen Konsequenzen muß ich für meine Kinder und Kindeskinder rechnen? Mit ihrer sicherlich gutgemeinten Erweiterung der Liste der möglichen ethnischen Zugehörigkeiten haben die amerikanischen Behörden eine Pandorabüchse geöffnet. Was in dieser Frage in Amerika geschieht, ist in Europa auch von großem Interesse. Alle europäischen Länder sind Einwanderungsländer geworden, sei es nur im Sinne einer modernen Völkerwanderung, die schon lange stattfindet innerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Bringt man den amerikanischen Rasterversuch auf einen Punkt, so scheint die Suche nach einer Identitätsfindung zwangsläufig in die Frage zu münden: ›Was trennt uns voneinander?‹, nicht: ›Was haben wir miteinander gemeinsam?‹ … Erste Erfahrungen mit der Gliederung des amerikanischen Volkes in immer kleinere ethnische Gruppierungen lassen befürchten, es könnte die Gefahr einer ungewollten Ghettoisierung aufkommen.«38
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5. Die Bundesrepublik heute: Wer ist Deutscher? So viel zu den neuen Fragen, die heute aufkommen. Jenseits aller unterschiedlichen Bewertungen, Hoffnungen, Befürchtungen ist aber zumindest ein Faktum gewiß: Die ethnischen Zuordnungen werden, allein aufgrund der Gesellschafts- und Bevölkerungsentwicklung, zunehmend komplizierter. Denn im Zeitalter von Mobilität, Massenverkehr und Wirtschaftsvernetzung wächst die Zahl derer, die über den Radius der Herkunftsgruppe hinaus mit Menschen anderer Gruppen arbeiten und leben; die aus den unterschiedlichsten Gründen (ob Armut, Hunger, Verfolgung; oder Ausbildung und Beruf, Reisen und Neugier) ihre Heimat verlassen, für kürzere oder längere Zeit, vielleicht auch für immer; die Ländergrenzen überschreiten, hier geboren werden, da aufwachsen, dort heiraten und Kinder bekommen. Für die USA heißt es schon heute, daß diese Entwicklung im 21. Jahrhundert »vielleicht zu einer neuen Normalität« werden könnte: »Die Zahl der bikulturellen Partnerschaften steigt und so ist es keine Seltenheit mehr, etwa weiß und asiatisch oder arabisch und jüdisch zu sein.«39 In Deutschland sind derart gemischte Beziehungen sicher seltener, aber auch hier zeichnet unverkennbar ein Trend zu »bunteren« Verhältnissen sich ab. Zum Beispiel Eheschließungen: Im Jahr 1960 waren die, die in der Bundesrepublik heirateten, fast immer Deutsche. Nur bei jeder 25. Ehe waren, wie es in der Sprache der amtlichen Statistik heißt, »Ausländerinnen oder Aus206
länder beteiligt«, d. h. mindestens einer der Partner hatte einen ausländischen Paß. Im Jahr 1995 dagegen war bereits jede siebte Eheschließung eine »von oder mit Ausländern«, d. h. Mann oder Frau oder beide waren ausländischer Staatsangehörigkeit.40 Zum Beispiel Geburten: Im Jahr 1960 stammten die Kinder, die in der Bundesrepublik geboren wurden, fast immer aus einer im Sinne der Staatsangehörigkeit »rein deutschen« Verbindung; nur 1,3 Prozent der Geborenen hatten einen ausländischen Vater und/oder eine ausländische Mutter. Im Jahr 1995 dagegen hatten bereits 19,2 Prozent der Geborenen einen ausländischen Vater und/ oder eine ausländische Mutter, d. h. fast jedes fünfte Kind stammte nun aus einer deutsch-ausländischen oder ausländischen Verbindung.41 Was diese – diese schnell wachsende! – Gruppe der Migranten und ihrer Familien angeht, stellt sich erst recht das gesellschaft liche Ordnungsproblem: Wo gehören sie hin, zu uns, zu den andern, zu welchen andern? Da hat man es zu tun mit bunten, beweglichen, mehrfach verwikkelten Lebensläufen, die sich den etablierten Kategorien nicht einfügen wollen. Da begegnen uns Menschen mit exotisch klingenden Namen, fremd anmutenden Äußeren, mit anderer Haarfarbe und Hautfarbe, die alle Assoziationen von Ferne und Orient in uns anklingen lassen; und dann antworten sie plötzlich auf Bayerisch oder auf Schwäbisch, dann stellt sich heraus, sie sind aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg oder in Duisburg; kurz, sie kehren unsere Erwartungen um, sie stellen unsere Normalitätsbilder in Frage. 207
Wie es in einem Roman des indisch-britischen Autors Kureishi heißt: »Jeder schaut mich an und denkt: ›ein Junge aus Indien, ach wie exotisch und faszinierend, was für Geschichte von Tanten und Elefanten werden wir von ihm zu hören bekommen‹«.42 Bis sich dann herausstellt, daß der indische Junge aus Orpington ist, einem Londoner Vorort, und nicht mal besuchsweise je in Indien war, kurz: Die Welt spielt verrückt. Nicht ist, wie es scheint. Wer ist was, wer ist wer? Ähnliche Geschichten lassen sich auch aus Deutschland erzählen. »›So, so, Herr Kayankaya, Sie sind also Privatdetektiv. Interessanter Name, Kayankaya‹. ›Weniger interessant als türkisch‹. ›Ach‹. Das Lächeln wird noch süßer, und die [AugenJSchlitze sind kaum mehr dicker als Rasierklingen. ›Türke. Ein türkischer Privatdetektiv? Was es nicht alles gibt. Und wieso sprechen Sie so gut Deutsch, wenn ich mir die Frage erlauben darf?‹ ›Weil ich keine andere Sprache gelernt habe. Meine Eltern sind früh gestorben, und ich bin in einer deutschen Familie aufgewachsen‹. ›Aber Türke sind Sie – ich meine …‹ ›Ich habe einen deutschen Paß, falls Sie das beruhigt‹«.43 So etwas erzeugt Irritationen und Verblüff ung im Alltag. Und es schafft auf amtlicher Ebene komplizierte Behördenprozeduren, Ermessensfragen, angesichts der schwierigen Materie naheliegenderweise auch Pannen und Irrtümer. Schon oben wurde gezeigt, daß die Frage, wer Schwarzer sei oder wer Jude, in ein Dickicht von Regelungen, Kriterien, Auslegungsbestimmungen hineinführte. Jetzt stellt sich heraus, daß auch die Frage »Wer ist Deutscher« nicht so einfach ist, wie sie scheint. Statt 208
dessen zeigt sich das »Ende der Eindeutigkeit« (Zygmunt Bauman), die »neue Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas) breitet sich aus. Hier nur ein Beispiel, beliebig herausgegriffen, wieder aus eine »gemischten« Familie: »Ein Vierteljahrhundert lebte Georgios Chatzimarkakis unbehelligt in der Bundesrepublik und begann als deutschgriechischer Doppelstaatsbürger eine aussichtsreiche politische Karriere. Nun entschieden Bonner Bürokraten: Der Jungpolitiker und angehende Doktor der Politikwissenschaft war all die Jahre gar kein deutscher Staatsbürger. Den 29jährigen forderten sie auf, seinen deutschen Paß zurückzugeben … Die Slalomfahrt des Deutschgriechen zwischen den absurden Bestimmungen begann, als Chatzimarkakis sich zur Heirat entschloß: Im Standesamt Bonn verlangte eine Beamtin angesichts des fremd klingenden Namens einen Staatbürgerschaftsnachweis. Der Sohn einer Deutschen und eines Kreters machte sich auf die Suche nach einem Dokument, das seine Einbürgerung belegen sollte. Bis dahin war der gebürtige Duisburger selbstverständlich davon ausgegangen, daß er Deutscher sei. Bis 1974 galt allerdings die Regel, daß Kinder mit einem ausländischen Elternteil nicht eingebürgert wurden. ›Sie können gar kein Deutscher sein!‹ hörte Chatzimarkakis im Zuge seiner Nachforschungen deshalb von einem Beamten im Innenministerium. Der Ministerialbeamte lag richtig, wie sich nun herausstellte. Zunächst ging die Ausländerbehörde noch davon aus, Chatzimarkakis sei auf dem Gnadenweg zum Deutschen geworden, weil die griechischen Behörden die 209
in Deutschland geschlossene Ehe seines Vaters nicht anerkannt hätten und der Sohn deshalb staatenlos geblieben wäre. Als dann aber aus Duisburg die Akten nach Bonn geschickt wurden, entdeckten die Bürokraten auf der Rückseite eines Formulars noch ein Hindernis: Der Vater des Politikers hatte seinen Sohn nachträglich in Griechenland legalisiert. Damit wurde das Kind 1970 zum Griechen, Grund genug für gründliche deutsche Beamte, ihm die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen: Die Einbürgerung wurde rückgängig gemacht, die Entscheidung aber versehentlich nicht an andere Behörden weitergegeben.«44 Nun könnte manch einer vielleicht auf die Idee kommen, die Antwort sei einfach, die Staatsbürgerschaft zeige sich doch am Paß, ergo: wer einen deutschen Paß hat, sei auch ein Deutscher. Doch diese Vermutung ist – nun, eben zu einfach. Denn der Paß allein reicht keineswegs aus, um von Amts wegen als Deutscher zu gelten, vielmehr werden weitere Dokumente benötigt. Das Problem freilich ist, daß (a) keineswegs klar ist, welche und wie viele Papiere erforderlich sind und (b) im Zeitalter von Migration, Flucht, Vertreibung, von Krieg, Unruhen, politischen Umbrüchen manche Dokumente verbrannt sind oder verloren gegangen, andere gestohlen wurden oder vernichtet, weshalb leider nicht jeder über eine umfassende Sammlung verfügt. Das wiederum ist von Amts wegen nicht vorgesehen. Nach den Bestimmungen der Bürokratie wird im Grunde erwartet, die Welt wäre überall so, wie sie in der Bundesrepublik der Gegenwart ist – geregelt, geordnet, mit Stempeln beglaubigt. Wer einen 210
anderen Lebenslauf hat, weniger geordnet, nicht ganz lückenlos nachweisbar, kann – trotz deutschem Paß – manche Hürden erleben, vielleicht auch in Sackgassen landen. Dazu eine Fallgeschichte, wieder aus einer »gemischten« Familie. »Kreisverwaltungsreferat. Hauptabteilung II: Einwohnerwesen. Abteilung 1: Staatsangehörigkeit. Sachgebiet 1: Staatsangehörigkeitsangelegenheiten. Auf dem Tisch die Akte des Münchner Bürgers W. Was hat der Mann getan? Er hat, fahrlässigerweise, vor Jahren eine Tochter gezeugt, welche nun den Beruf der Ärztin auszuüben gedenkt; um aber die Stelle an einem deutschen Krankenhaus antreten zu können, braucht diese Tochter den Nachweis, so deutsch zu sein wie das Krankenhaus. Es spielt in diesem Zusammenhang gottlob keine Rolle, daß der Bürger W. fahrlässig abermals, zur Frau und späteren Mutter seiner Tochter einst eine Italienerin erwählt hat, da die Mutter kraft ihres Frauseins in Sachen Staatsangehörigkeit nicht relevant ist. Aber der Vater! Er ist 71 Jahre alt. Ist im deutschen Dresden geboren. Ist Soldat gewesen im Dienste des größten Feldherrn aller Deutschen; hat deshalb gesessen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. War Lehrer in der Deutschen Demokratischen Republik und bald eingekerkert im Deutschen Demokratischen Gefängnis. Büchste anschließend aus in den westdeutschen Teil Berlins. Arbeitete 25 Jahre lang für den Bayerischen Rundfunk in München. Ist er deutsch? Ja nun, nichts Genaues weiß man nicht. Was man nur weiß: Es könnte schon irgendwie sein, das W. ein Deutscher ist. Es spricht immerhin nicht di211
rekt gegen ihn, daß er zehn Jahre lang an einer amerikanischen Universität arbeitete; auch die Tatsache, daß er beim Rundfunk die Redaktion für fremdsprachige Sendungen leitete, muß man nicht unbedingt zu seinen Ungunsten auslegen. Schwerer wiegt die Abwesenheit schlüssiger Beweise des Deutschtums, als da wären: Ja nun, was denn? Reisepaß? Reicht nicht. Ausweis? Lächerlich. Geburtsurkunde? Kann jeder kommen. Familienstammbuch? Geh mir weg damit. Was sagt Karl Thiem, Sprecher des Kreisverwaltungsreferats? ›Wir haben nicht vor, ihm die Staatsbürgerschaft abzuerkennen‹. Anders aber verhalte es sich mit der Zuerkennung der töchterlichen Staatsbürgerschaft, welche sich eben vom Vater herleite; kurz: Eine zweifelsfrei deutsche Tochter braucht einen ganz bestimmt deutschen Vater – und da hapert’s bei W. insofern, als er seine Jahrzehnte währende Existenz nun doch nicht hundertprozentig nachweisen kann. Wer nämlich, sagt Thiem, vor dem Zweiten Weltkrieg geboren sei, aber einen nach 1945 gefertigten Ausweis besitze, beweise mit diesem Ausweis leider nichts; auch eine Geburtsurkunde reiche bei weitem nicht hin. Wie aber ein Deutscher sein Deutschsein schlüssig darlegen könne, sagt Thiem, ›das zu klären, füllt bei uns eine ganze Abteilung‹. Jedenfalls gebe es grundsätzlich genügend Anhaltspunkte und Papiere, nur müßten es halt genügend sein, auf daß die Indizienkette zu einer Art Beweis sich verdichte.«45 Wem welche Staatsbürgerschaft zusteht, regelt bekanntlich das jeweilige Staatsbürgerrecht, und dieses setzt in Deutschland – anders als in anderen Ländern – primär 212
auf Abstammung (»ius sanguinis«, wörtlich das »Recht des Blutes«) und nicht auf Wohn- und Geburtsort und tatsächliche Lebensum-stände. Im Zeitalter »transnationaler sozialer Räume«46 kann eine solche Regelung freilich die Lebenswirklichkeit vieler Menschen nicht mehr erfassen, sie ist geradezu dazu prädestiniert, Paradoxien zu schaffen: Die neue Miß Germany sei Türkin, konnten wir z. B. vor kurzem erfahren.47 Der Anachronismus der geltenden Regelungen wird besonders deutlich am Beispiel der Kinder ausländischer Arbeitnehmer, eine Studie über ausländische Jugendliche kommt zu folgendem Fazit: »Die Kinder der in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer … haben sich … in Deutschland eingerichtet, … orientieren sich an deutschen Normen und Lebenszielen, beherrschen die deutsche Sprache, und viele können nur noch im statistischen Sinn als Ausländer gelten.«48 Schon wurde, um die Komplexheit der neuen Verhältnisse wenigstens annähernd faßbar zu machen, in Wissenschaft und Politik eine Palette neuer Begriffe und Differenzierungen geschaffen. So ist die Rede nun von »einheimischen Ausländern« und »fremden Deutschen«49, von »Inländern mit fremdem Paß« und »Fremden mit deutscher Volkszugehörigkeit«50, von »Bildungsinländern« und »Bildungsausländern«51, von »echten Ausländern« und »Ausländern nur im statistischen Sinn«52, von »pendelnden Aussiedlern«53, »etablierten Ausländern« und »Quasi-Fremden«54, nicht zuletzt auch von »Anderen Deutschen«55. Schon kursieren zahlreiche Witze, die das Gemengelage ethnischer Differenzierungen 213
zum Gegenstand machen – zum Beispiel nach der Vereinigung so: »Was ist der Unterschied zwischen einem Türken und einem Sachsen? Antwort: Der Türke spricht deutsch und arbeitet.«56 Aber trotz des restriktiven deutschen Staatsbürgerrechts können manche Personen bzw. Gruppen schließlich doch die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Damit ändert sich ihr Status: Sie werden von »Ausländern« zu »Inländern«. Gleichzeitig wird im Zuge der politischen Umbrüche, nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks, auch die politische Landschaft neu geregelt, manche Staaten verschwinden, andere entstehen. In der Folge verändert sich auch hier die Staatsbürgerschaft vieler Menschen, aus ehemaligen »Tschechoslowaken« werden z. B. entweder »Tschechen« oder »Slowaken«. Da aber jeder Ordnungsversuch implizit stabile Verhältnisse voraussetzt, muß die sich ausbreitende Instabilität der Verhältnisse, die real herrschende Unordnung in der Welt auch ein neues Potential an Mißverständnissen, Fehleinschätzungen, Irrtümern schaffen, und dies bis hinein in die Kategorien der bundesdeutschen Statistik. Man nehme z. B. die Angaben der deutschen Eheschließungsstatistik, genauer die für das Thema der »gemischten Familien« einschlägigen Spalten, wo es um Heiraten zwischen Deutschen und Ausländern geht. Wer diese liest, ohne die Unordnung und Instabilität im Zeitalter der Globalisierung mitzudenken, wird an manchen Stellen zu falschen Schlußfolgerungen kommen. Viele Kategorien sind mehrdeutiger, als sie auf den ersten Blick scheinen, sie bedürfen der Interpretation, las214
sen sich entziffern nur im Wissen um Politik, Geschichte und die vielfältigen Wechselfälle derselben. Dazu im folgenden ein kleiner Exkurs.
Die Tücken der internationalen Heirats- und Familienstatistik In den letzten Jahrzehnten konnte man immer wieder beobachten, wie im Gefolge von Kriegen, politischen Umbrüchen und internationalen Wirtschaftsgefällen einige typische Muster binationaler Eheschließungen entstanden. Zum Beispiel stieg nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Verbindungen zwischen US-amerikanischen Männern und deutschen Frauen. Umgekehrt heirateten seit den 80er Jahren deutsche Männer zunehmend Frauen aus wirtschaft lich benachteiligten Ländern, insbesondere von den Philippinen und Thailand. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat, wie aktuelle Untersuchungen zeigen, eine neuerliche Verschiebung auf dem Heiratsmarkt stattgefunden, und zwar heiraten deutsche Männer nun statt der Asiatinnen vermehrt auch Frauen aus Osteuropa.57 Wie hoch der Anstieg genau ist, ist im Zusammenhang mit Theorien zur Etablierung internationaler »Heiratsmärkte« eine durchaus interessante Frage – aber anhand der veröffentlichten Daten nur schwer bzw. annähernd zu beantworten. Wer nämlich die Daten des Statistischen Bundesamtes betrachtet, erlebt eine Überraschung: Haben im Jahr 1987 noch 1207 deutsche Männer Frauen aus 215
Jugoslawien geheiratet, so stieg deren Zahl im Jahr 1991 auf 1778 – aber im Jahr 1993 gab es nur noch 1145 Männer, die eine Frau aus dem »ehemaligen Jugoslawien« (so heißt die Kategorie jetzt) geheiratet haben. Warum aber diese Wellenbewegung, warum nach dem erwarteten Anstieg ein unvermuteter Rückgang? Eine Nachfrage beim Statistischen Bundesamt brachte eine zumindest teilweise Klärung: Unter der Kategorie »ehemalige Jugoslawien« werden nur solche Personen erfaßt, die einen jugoslawischen Paß vorlegen. Diejenigen dagegen, die ihren Paß haben umschreiben lassen (in »serbisch« bzw. »kroatisch«), werden in der deutschen Eheschließungsstatistik der Grobkategorie »übriges Europa« zugezählt – und verschwinden darin. Ähnlich wurde auch die Kategorie »Sowjetunion« den veränderten politischen Bedingungen angepaßt und nun in neue Einzelkategorien (»nassisch«, »sowjetisch«, »weißrussisch«, »ukrainisch«) ausdifferenziert. Man ahnt schon, daß das Vergleiche nicht einfacher macht. Und vielleicht sind ja auch die deutschen Männer in solchen Verbindungen weniger »deutsch«, ihre ausländischen Partnerinnen weniger »ausländisch«, als es dem naiven Blick scheint? Als wir in einem Seminar zum Thema »Binationale Ehen« über das neue Heiratsmuster der deutschen Männer mit osteuropäischen Frauen diskutierten, meldete sich ein Student, selbst Rumäniendeutscher, zu Wort. Er wandte ein, ein Teil dieser Verbindungen sei Artefakt der Statistik: Unter den Aussiedlern gäbe es nämlich junge Männer, die nach Deutschland ausreisten, hier eine deutsche Staatsbürgerschaft erwerben würden, und dann eine Braut aus der ehemaligen 216
Heimat nachholen und in Deutschland heiraten würden – eine Heirat, die in den offiziellen Statistiken dann als binationale (z. B. deutsch-rumänische) erscheint, was aber den tatsächlichen Verhältnissen offensichtlich wenig entspricht. Statt dessen werden die, die durch Geschichte und Herkunft eng verbunden, durch die Logik der statistischen Erfassung nun getrennt, zu wechselseitig »Fremden« gemacht. Hinzu kommt, um das Labyrinth noch ein wenig komplizierter zu machen, daß im Zeitalter der Globalisierung manche Menschen nicht nur einen Paß haben, sondern gleich zwei. Diese doppelte Staatsbürgerschaft schafft, ordnungspolitisch gesehen, neue Probleme. Wo etwa soll man solche Personen in den demographischen Statistiken verorten, als Inländer oder Ausländer? Für den Umgang mit dieser Frage hat man, wie zu erwarten, eigene Regelungen geschaffen. Nach dem bisher Gesagten dürfte vielleicht nicht überraschen, wenn diese wiederum eigene Pardoxien enthalten. Man nehme als Beispiel die Kinder aus deutsch-spanischen Ehen: »Diese Kinder erwerben in der Regel beide Staatsangehörigkeiten und erscheinen in der deutschen Statistik als Deutsche, in der spanischen als Spanier.«58 Diese Zählpraxis muß man kennen, um die Zahlen, die sie hergibt, richtig zu interpretieren. Denn von den fünf großen Nationalitätengruppen, die in Deutschland leben, sind die Spanier »die einzige Gruppe, deren Zahl nach der deutschen Statistik von Jahr zu Jahr kleiner wird«.59 Dies deshalb, weil es zahlreiche deutsch-spanische Ehen gibt und die Kinder daraus in der deutschen Statistik nur noch als 217
Deutsche auftauchen – folgte man der spanischen Statistik, käme man wohl zu anderen Resultaten. Nur noch als kleine Pointe sei abschließend erwähnt, was (wiederum in einem Seminar über »Binationale Ehen«) eine Studentin erzählte. Sie, aus einer deutschgriechischen Ehe stammend, hatte zwei Pässe und Staatsbürgerschaften, ihre Schwester genauso. Als die beiden einmal zusammen nach England reisten, nahm sie selbst den griechischen Paß, weil sie den deutschen gerade verlegt hatte. Die Schwester dagegen reiste mit dem deutschen Paß. Bei der Wiedereinreise nach Deutschland wurde die Schwester, da »Deutsche«, anstandslos durchgewunken – während sie, die »Griechin«, einer genauen Befragung ausgesetzt wurde.
6. Vom Leben zwischen den Kulturen Was diese schnell anwachsende Gruppen der Menschen in »gemischten« Familien angeht, so stellt sich freilich nicht nur das gesellschaft liche Zuordnungsproblem. Aus der Binnenperspektive betrachtet, steht für sie darüber hinaus immer wieder auch die Frage der inneren Ordnung im Raum, sprich: nach welchen Regeln sie ihren Alltag gestalten. Warum diese Präge solche Bedeutung gewinnt, wird direkt sichtbar, wenn man mit früheren Epochen vergleicht: Wenn in der vorindustriellen Gesellschaft ein Mann und eine Frau die Ehe eingingen, so gab es zwischen ih218
nen fast immer ein relativ breites Repertoire an Gemeinsamkeiten, an selbst verständlich geteilten Erfahrungen, Werthaltungen, Lebensweisen usw. Denn zum einen waren damals die Lebenswelten weit geschlossener als heute, und darüber hinaus war der Radius der Heiratsmöglichkeiten eng durch die Kriterien der Herkunft begrenzt (von Stand und Besitz bis zu ethnischer Zugehörigkeit und Religion). Demgegenüber ist die alltägliche Lebenswelt heute viel stärker durchmischt, Menschen aus unterschiedlichen Milieus, Schichten, Regionen begegnen einander – und manche von ihnen heiraten auch. Denn die früher vorhandenen Barrieren (von rechtlichen Restriktionen bis zum Widerstand des Familienverbandes) sind zwar nicht völlig verschwunden, aber sie sind doch weit weniger mächtig als früher: Das Prinzip der freien Partnerwahl setzte sich durch. Deshalb sind diejenigen, die sich heute (mit oder ohne Trauschein) verbinden, qua Herkunft oft weiter voneinander entfernt. Oder wie es Berger/Kellner in einem klassisch gewordenen Aufsatz beschreiben: Kennzeichen der modernen Partnerwahl ist, daß zwei Fremde einander begegnen. »Die Ehe ist in unserer Gesellschaft ein dramatischer Vorgang, bei dem zwei Fremde aufeinandertreffen und sich neu definieren … [Dabei beinhaltet] der Begriff ›Fremde‹ natürlich nicht, daß die Ehekandidaten aus stark unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammen – tatsächlich zeigen die Daten auf, daß das Gegenteil der Fall ist. Die Fremdheit beruht vielmehr auf der Tatsache, daß sie, anders als die Heiratskandidaten früherer Gesellschaftsformationen, aus unterschiedlichen ›face-to-face‹219
Bereichen kommen … .«60 – Die Ehebeziehung gewinnt damit neue Bedeutung, erfährt freilich auch neue Belastungen. Denn das, was die große Chance der persönlich gewählten Gemeinsamkeit ist, die Schaff ung einer gemeinsamen Welt jenseits der Vorgaben von Familie, Verwandtschaft und Sippe, fordert den beiden Beteiligten auch enorme Eigenleistungen ab. Im modernen Heiratssystem dürfen die Partner nicht nur, nein: sie müssen auch ihre Gemeinsamkeit selber entwerfen. »Früher waren Ehe und Familie fest in einem Netz von Beziehungen verankert, die sie mit der größeren Gemeinschaft verbanden. Es gab nur wenige Schranken zwischen der Welt der Einzelfamilie und der der größeren Gemeinschaft Ein und dasselbe soziale Leben pulsierte durchs Haus, Straßen und Gemeinde … In unserer Gegenwartsgesellschaft hingegen konstituiert jede Familie ihre eigene segregierte Teilwelt … Diese Tatsache erfordert einen viel größeren Einsatz der Ehepartner. Ungleich früheren Zeiten, in denen die Gründung einer neuen Ehe nur einen Zuwachs an Differenzierung und Komplexität zu einer bereits bestehenden sozialen Welt bedeutete, finden sich die Ehepartner heute vor der oftmals schwierigen Aufgabe, sich ihre eigene private Welt, in der sie leben werden, selbst zu schaffen.«61 Dies gilt um so mehr für binationale bzw. bikulturelle Paare, wo die Beteiligten aus unterschiedlichen Ländern oder Kulturkreisen kommen. Solche Verbindungen hat es zwar auch in früheren Epochen gegeben, doch ist zur Gegenwart hin ihre Zahl deutlich gestiegen. Durch Arbeitsmigration, politische Umbrüche und politische Ver220
folgung, durch Freizeittourismus und Auslandsaufenthalte für Ausbildung und Beruf: Bereits jede achte Ehe, die heute in Deutschland geschlossen wird, ist eine gemischt-nationale.62 Was Berger/Kellner als Kennzeichen der Ehe in der Moderne beschreiben, gilt hier in gesteigertem Maß: In gemischt nationalen Ehen sind die Fremden »fremder und die Unterschiede der Sozialisationserfahrungen größer«.63 Nun müssen in jeder Ehe unterschiedliche Lebensweisen, Werte, Denkweisen, Kommunikationsformen, Rituale und Alltagsroutinen zu einer Ehe- und Familienwelt zusammengefügt werden. Im Fall der binationalen/bikulturellen Ehe heißt dies, die beiden Beteiligten müssen die »Konstruktion einer neuen interkulturellen Wirklichkeit«64 leisten, eine »interkulturelle Lebenswelt«65 bzw. »binationale Familienkultur«66 schaffen. Sie bewegen sich in einem Raum der kaum vorstrukturiert ist, da zwei unterschiedliche Welten zusammentreffen. In dieser Situation, für die es weder eine Vorbereitung noch spezifische Regeln gibt, müssen die Partner ihre eigenen Arrangements entwickeln.67 Vieles, was sonst mehr bis minder selbstverständlich sich einspielt, ohne alle Fragen einfach geschieht, muß hier entschieden, abgewogen, ausgewählt werden: Wo wollen wir leben, in deinem Land oder in meinem, vielleicht auch in einem dritten, wo keiner den Heimvorteil hat? Wollen wir für immer hier bleiben oder später in dein Heimatland ziehen? Wer hat wo welche Chancen, wer muß wo welche Belastungen tragen, wer lebt wo ungeschützt, was Rechtsstatus, Arbeitsmarkt, Alterssicherung 221
angeht? In welcher Sprache findet die Verständigung statt, in deiner oder in meiner, vielleicht auch in einer dritten, vielleicht je nach Gelegenheit wechselnd? Welche Feste und Feiertage wollen wir feiern, wie halten wir’s mit Familienbesuchen und dem weitverzweigten Familienverband, wie mit der Arbeitsteilung in der Familie? Mit welchen Erziehungsnormen sollen die Kinder aufwachsen, wollen wir sie in deiner Religion erziehen oder in meiner, mit deiner Sprache oder mit meiner? Welche Vornamen wollen wir wählen, an welche Herkunft wollen wir damit erinnern? Für all diese Entscheidungen gibt es, wie gesagt, keine Vorbilder. Jedes Paar geht seinen eigenen Weg, sucht seine eigenen Formen. Ob sie sich dazu entschließen, ganz der einen Kulturtradition zu folgen oder ganz der anderen; ob sie Mischformen suchen, Elemente aus beiden Traditionen zusammenmixen; ob sie mehrfach probieren, vielleicht auch flexibel wechseln:68 Dies alles hängt ab von der persönlichen Lebensgeschichte, dem gegenwärtigen Aufenthaltsort und den zukünftigen Plänen, auch von den kulturellen Präferenzen und Diskriminierungen der jeweiligen Umwelt. So lebt jedes binationale Paar seine eigene Geschichte, seine ganz eigene Version der binationalen Familienkultur. Schließlich bringt die binationale/bikulturelle Ehe für die beiden Beteiligten auch eine Konfrontation mit ihrer je eigenen Herkunft, bis hin zu einem paradoxen Effekt: Wer in der Beziehung zum ausländischen Partner auch den Reiz des »Anderen« suchte, entdeckt mit einem Mal die Anteile der Herkunftskultur im eigenen Ich. »Man 222
erlebt, wie tief das eigene Wertsystem verankert ist, ja, man erlebt es in mancher Hinsicht zum ersten Mal«.69 Insbesondere der Blick auf die Zukunft der Kinder läßt Erinnerungen aufsteigen, bringt eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Sozialisation und Geschichte, mit den eigenen Wertvorstellungen und Wünschen – mit der eigenen Identität. Im Verlauf der binationalen Ehe stellt sich die Frage »Wer bin ich, was will ich?« neu, führt in Entscheidungen der Art: Was will ich bewahren, was kann ich aufgeben, was ist mir wichtig? Binationale Paare sind derart mehr als andere immer wieder vor Entscheidungen gestellt, ja zu Entscheidungen gezwungen. Dies kann – ja nach Umständen – zur Überlastung und ständigen Überforderung werden, im schlimmsten Fall auch zum Scheitern der Partnerschaft führen. Auf der anderen Seite liegt darin auch die Chance, im Alltag mehr Offenheit zu erhalten und immer wieder neue Anfänge zu wagen. »Wenn es gut geht, bleibt über die Jahre etwas erhalten von der anfänglichen Kühnheit, vom Optimistisch-Experimentellen, dann sind bikulturelle Ehen besonders lebendig und interessant.«70
Vorsichtige Hoffnung Die bisher beschriebene Entwicklung, die Zunahme von »bunteren«, gemischten Familienverhältnissen wird je nach Blickwinkel und politischem Standort des Betrachters völlig unterschiedlich gewertet. Immer noch gilt, wer nicht den Regeln der »normalen« Partnerwahl 223
folgt, sondern sich mit einem »Anderen«, einem »Fremden« verbindet, wird von der Umwelt oft mit Argwohn und Mißtrauen betrachtet. Daneben gibt es heute freilich auch ein anderes Bild, wonach solche Menschen Hoffnungsträger der Toleranz und der Verständigung sind, wagemutig und weltoffen, kurz: die Wegbereiter der multikulturellen Gesellschaft. Es ist offensichtlich, daß die erste Vorstellung sich aus den Vorurteilen der Fremdenfeindlichkeit speist. Die zweite mag sympathischer sein, aber sie ist deswegen nicht unbedingt richtig. Sie ignoriert, daß solche Beziehungen nicht einzig und allein aus reiner Liebe entstehen, sondern – genau wie andere Beziehungen auch – aus gemischten Motiven. Sie ignoriert, daß die Menschen in solchen Beziehungen nicht aus ewiger und engelsgleicher Toleranz nur bestehen, sondern ihre eigenen Ängste, Verletzungen, Bornierungen aufweisen. Bewußt provozierend gesagt: Es wäre ein eigenes Thema, einmal nach dem Rassismus in bikulturellen Beziehungen zu fragen. Und dennoch, trotz solcher Vorbehalte, will ich zum Schluß eine Perspektive der vorsichtigen Zuversicht wagen. Das Leben in einer bikulturellen Familie ist, weil es in die normalen Vorgaben sich nicht einfügen läßt, ein Leben mit biographischer Unsicherheit. Biographische Unsicherheit wiederum kann unbequem sein, irritierend und lästig. Sie kann ängstlich machen und zur Anpassung führen – aber sie kann auch neue Erfahrungen und Blicke freisetzen. Aus der Zerrissenheit der Lagen kann »Inspiration« werden, wie Kafka schon schrieb, mit Blick auf die damalige Generation jüdischer Schriftsteller und 224
wohl auch aus eigener Erfahrung.71 Ein aktuelles Beispiel dafür sind die Schriftsteller aus den verschiedensten Ekken und Teilen des britischen Empire. Sie sind es, die in den letzten Jahren die englische Literatur geradezu erobert haben, die die vorherrschende Langeweile und müde Skepsis durchbrechen, die die englische Sprache »mit leuchtenden Farben, sonderbaren Rhythmen und fremden Blicken verwandeln«.72 »Mit der Verleihung des Booker-Preises feiert und ehrt London alljährlich die literarische Tradition … 1981 ging der Preis an Mitternachtskinder, Salman Rushdies turbulentes, gestaltenreiches Epos über das moderne Indien. Seither wurde er zwei Australiern, einer Neuseeländerin mit Maori-Vorfahren, einem Südafrikaner, einer Schriftstellerin polnischer Herkunft, einem Nigerianer, einem Auslandsjapaner, einem Iren und einem Schotten verliehen … Im Jahre 1992 teilten sich den mit 20 000 Pfund dotierten Preis Barry Undsworth, ein Engländer, der mit einer Finnin verheiratet ist und in Italien lebt …, und Michael Ondatjee, der aus Sri Lanka stammt, indische, holländische und englische Vorfahren hat, in Großbritannien zur Schule gegangen ist, seit langem in Kanada lebt und Geschwister auf vier Kontinenten hat … Fünf Tage zuvor war der Nobelpreis für Literatur an Derek Walcott verliehen worden, einen auf St. Lucia geborenen Lyriker afrikanischer, holländischer und englischer Abstammung, der heute zwischen Boston und Trinidad pendelt ›ein geteiltes Kind‹, wie er sich selbst nennt.«73 Entstanden ist hier eine neue Gruppe der »translated 225
men«, wie Salman Rushdie, selbst einer von ihnen, sie nennt, der »übersetzten« oder »übergesetzten« Leute.74 Ihnen allen gemeinsam ist die »Bindestrich-Existenz«75 und die Hoffnung, daß der Spagat zwischen den Welten gelänge und sie sich aus allen erdenklichen Traditionen holen können, was sie brauchen und wollen. »Alle haben sie sich an Kreuzwegen postiert, wo sie die neuen Entwicklungen und Verwandlungen unseres immer kleiner, immer undefinierbarer, immer mobiler werdenden Weltdorfes beobachten und bedenken können. Inder, die ein London beschreiben, das Bombay ähnlicher ist als Bombay selbst; japanische Romanautoren, die keine japanischen Romane lesen können; Chinesinnen, die über ein China schreiben, das sie nur aus Erzählungen ihrer Mütter kennen – sie alle sind Amphibien, die nicht so sehr eine alte und eine neue Heimat haben, sondern eher zwei Halbwegsheimaten gleichzeitig. Alle lassen sich in gewisser Hinsicht dadurch definieren, daß sie undefinierbar sind«.76 Soziologisch gewendet könnte man sagen: Diese neuen Ureinwohner des Weltdorfes werden nicht zerrieben unter dem Druck gesellschaftlicher Sortierungsversuche, sondern gewinnen aus der ständigen Reibung ihre eigene Kraft. Sie zeigen – jedenfalls unter glücklichen Umständen – auf die gelingende Seite von Individualisierungsprozessen, auf die Chancen, die die »riskanten Freiheiten«77 enthalten. Biographische Unsicherheit, so verstanden, hat stets ein Doppelgesicht. Sie kann Last sein, aber sie kann auch befreien – zum Spiel mit den starren Kategorien, zur Schärfe des Blicks, vielleicht auch zur entwaff226
nendsten aller Waffen, dem Lachen. Sie kann die Menschen anstacheln, »Ruhestörer«78 zu werden (ein Begriff, den Reich-Ranicki verwandte, um die Rolle der Juden in der deutschen Literatur zu beschreiben). Walter White, Amerikaner gemischter Herkunft, hat die ihn prägende Erfahrung einmal so formuliert: »Ich bin weiß und ich bin schwarz, und ich weiß, daß es keinen Unterschied gibt. Jeder wirft einen Schatten, und alle Schatten sind dunkel«.79 Vielleicht, wenn Erfahrungen dieser Art sich durchsetzen, vielleicht trifft dann ein, was Michael Walzer gesagt hat: »Wenn sich die Identitäten vervielfältigen, teilen sich die Leidenschaften … und die Erde beginnt, wie ein weniger gefährlicher Ort auszusehen.«80 Für die Hoffnung, die sich hier andeutet, gibt es historische wie aktuelle Beispiele. Zum Beispiel zeigen Untersuchungen über »gemischte Familien«, wie manche derer, die darin leben, durch Erfahrungen ihrer Partner und Kinder ihre Umgebung neu wahrzunehmen beginnen und sich gegen bislang Gewohntes auflehnen.81 Sie lernen zu sehen – nicht nur, was an offener Diskriminierung besteht, sondern auch das feine Netz der leisen Vorurteile, kaum ausgesprochenen Bewertungen, kaum bewußten Bornierungen, das selbstverständlich den Alltag durchzieht. Erinnert sei auch an den »Frauenprotest in der Rosenstraße«, eine spektakuläre und erfolgreiche Widerstandsaktion im Nationalsozialismus.82 Das war der öffentliche Aufstand von vielen hundert Menschen, vorwiegend »arischer« Frauen, die in sogenannter »Mischehe« lebten. Als im Februar 1943 in Berlin die Deporta227
tion ihrer Männer und Kinder angeordnet wurde, versammelten sie sich auf offener Straße, harrten tagelang aus, verlangten in Sprechchören die Freilassung ihrer Angehörigen. Und zu ihrer Unterstützung kamen noch andere »arische« Verwandte und Freunde hinzu, darunter etliche aus alteingesessenen, angesehenen Familien, auch Adlige, auch ein Soldat in Wehrmachtsuniform, je selbst eine Frau, die das Goldene Parteiabzeichen der Nazis trug: die Frau des Bürgermeisters von Potsdam, deren Schwester mit einem Juden verheiratet war. Betrachtet man diese Beispiele, so beginnt man zu ahnen, warum die Menschen, die sich zwischen den Kulturen und Nationen bewegen, tatsächlich ein Ordnungsproblem darstellen, in gewissem Sinne zumindest. Denn sie könnten ein Beispiel der »Aufsässigkeit« geben und damit auch noch andere anstecken. Das macht sie »unzuverlässig« und deshalb verdächtig. Sie sind Gefahrenherde und potentielle Widerstandsnester. Sie können es wagen, über die vorgegebenen Grenzen zu blicken, ihre Willkür, Beliebigkeit, Zufälligkeit zu durchschauen, der Macht der Gewöhnung zu widerstehen. Das macht sie unbequem. Das ist Subversion. Sie, die Unzugehörigen, könnten hier oder da das »eherne Gehäuse der Hörigkeit« sprengen? Das wäre wahrhaftig ungehörig, ja unverzeihlich – wie gesagt, wenn es gelänge.
Anhang
Anmerkungen
Kapitel 1 Die neue Unübersichtlichkeit der Familie 1 Berger/Berger 1984. 2 Lasch 1977. 3 Berger/Berger 1983 (amerikanische Originalausgabe von Berger/Berger 1984). 4 Stacey 1995. 5 Bertram 1994, S. 23. 6 Gay Younge: On first name terms only. In: The Guardian, 19. Juni1996, S. 9. 7 Anja Dilk: Das neue Namensrecht in der Praxis: Großes Durcheinander. In: Die Zeit, 12. Mai 1995, S. 77. 8 Süddeutsche Zeitung, 28. April 1995, S. 18. 9 Dilk 1995 (siehe Anmerkung 7). 10 Siehe hierzu Beck-Gernsheim 1984; £ec& 1995. 11 »The year 1980 was to be the ›Year of the Family‹, to be celebrated by a White House Conference on the subject. It was during the endless Seminars and colloquia preparing this Conference that the question of definition surfaced dramatically. During this preparatory period, a radical semantic shift took place in the definition of the family … The change was from speaking about the family to speaking about families. At first glance, this may seem an innocent shift, from the singular to the plural … Upon 229
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closer scrutiny, the shift reveals itself as anything but innocent: It gave governmental recognition to precisely the kind of moral relativism that has infuriated and mobilized large numbers of Americans« (Berger/Berger 1983, S. 59). »Noch in den 50er und 60er Jahren existierte der soziologische Begriff Lebensformen praktisch nicht. Man sprach von ›Familie‹ und ›Familiensoziologie‹. Schließlich waren ja auch mehr als neun Zehntel der einschlägigen Alters Jahrgänge in Deutschland verheiratet und hiervon hatten mehr als neun Zehntel Kinder. Die zunehmende Differenzierung in dem Gefüge alltäglichen Zusammenlebens erforderte jedoch ein ›weiteres begrifflichen Dach‹. Da der Inhalt des Begriffs ›Familie‹ … kaum zu erweitern war, jedenfalls nicht Alleinlebende und nichteheliche Lebensgemeinschaften einschließen konnte, wurde eine abstraktere Begrifflichkeit notwendig, eben der Begriff ›Lebensformen‹ (Hradil 1996, S. 61 f. ). Z. B. Hradil 1995, S. 82ff. Beck/Beck-Gernsheim 1990, S. 14. Siehe zum folgenden Frevert 1996. Ebd. , S. 5. Siehe hierzu Kapitel 2: Wenn Scheidung normal wird. Hecke, zit. nach Haslinger 1982, S. 9. Blasius 1992, S. 82.
Kapitel 2 Wenn Scheidung normal wird 1 Einige Abschnitte dieses Kapitels übernehmen Argumente, die zuerst in Beck-Gernsheim (1996 a) entwickelt wurden. 2 Schmid 1959, S. 10. 230
3 Wolf Wondratschek: Die Ehe, in: Süddeutsche Zeitung, 13. November1996, S. 13. 4 Cherlin 1992, S. VII. 5 Ebd. , S. 4. 6 Schneider 1995, S. 2. 7 Statistisches Bundesamt 1995, S. 109. 8 Hammes 1996, S. 774; Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Nr. 211/1997, 24. 7. 1997. 9 Ebd. 10 Furstenherg 1987, S. 30. 11 Seit 1972, als erstmals eine (noch unvollständige) Schätzung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften vorgenommen wurde, hat sich ihre Zahl im früheren Bundesgebiet fast verzehnfacht: von 137 000 im Jahr 1972 auf 1 300 000 im Jahr 1995. Hinzukommen 400 000 nichteheliche Lebensgemeinschaften in den neuen Bundesländern (Statistisches Bundesamt 1995, S. 24; BiB-Mitteilungen [Informationen aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt], Heft 1/1997, S. 9). 12 Tölke 1991, S. 121 und S. 123. 13 Vaskovics/Rupp 1995. 14 Es wurden nur Paare untersucht, die zusammen wohnten, Lebensgemeinschaften mit getrennten Wohnungen also ausgeschlossen (Vaskovics/Rupp 1995, S. 26). Dies ist eine Vorentscheidung, die keineswegsselbstverständlich ist, sondern einen Auswahl-Effekt in Richtung Stabilität produziert. In der Untersuchung des Deutschen Jugendinstitutes dagegen wurde diese Bedingung nicht vorgegeben (Tölke 1991, S. 120). 15 Vaskovics/Rupp 1995, S. 165. 16 Vaskovics 1991, S. 186 und S. 197. 17 Ebd. , S. 188–194 und Vaskovics 1994, S. 12. 18 Blasius 1992; Coester-Waltjen 1994. 231
19 Nunner-Winkler 1989. 20 Furstenberg 1987, S. 31. 21 Diekmann/Engelhardt 1995 a, S. 215. 22 Ebd. , S. 216. 23 Schumacher 1981, S. 503. 24 Ebd. , S. 509. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Diekmann/Engelhardt 1995a, S. 216. 28 Diekmann/Engelhardt betrachten als ehespezifische Investitionen u. a. Kinder und Wohneigentum. 29 Diekmann/Engelhardt 1995a, S. 216. 30 Diekmann/Engelhardt 1995b, S. 4. 31 Siehe hierzu die Argumentation, die Cherlin (1992, S. 16) und Hall (1996) entwickeln, um ähnliche empirische Befunde in den USA und inKanada zu erklären. 32 Zusammenfassend z. B. Diekmann/Engelhardt 1995a und Fthenakis 1995. 33 Reich 1991, S. 83. 34 Siehe z. B. Stierlin 1995. 35 Seidenspinner/Burger 1982, Bericht S. 60f. 36 So z. B. Wallerstein/Blakeslee 1989; Napp-Peters 1995. 37 So. z. B. Furstenberg/Cherlin 1991. 38 Aus dem Gespräch zwischen Kindern, die die Trennung ihrer Elternerlebten, zit. bei Stierlin/Duss-von Werdt 1995, S. 125. 39 Fthenakis 1995, S. 143. 40 Cherlin 1992, S. 73 f. 41 Lücke 1990. 42 Siehe hierzu z. B. Jopt 1997 und Cherlin/Furstenberg 1986, Kapitel 6: Grandparents and Divorce, S. 136 ff.
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43 Furstenberg/Cherlin 1991, S. 83. 44 Cherlin 1992, S. 81. 45 Reberg 1997, S. 118 f. 46 Furstenberg/Cherlin 1991, S. 93. 47 Ebd. 48 Furstenberg 1987, S. 37. 49 Ebd. 50 Siehe zum folgenden Reberg 1997 und Napp-Peters 1995. 51 Osterland \99\,S. 353. 52 Leibfried u. a. 1995, S. 9 und S. 81. 53 Nave-Herz 1992, S. 190. 54 Imhof 1988,S. 57. 55 Zygmunt Bauman: Wir sind wie Landstreicher – die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit. In: Süddeutsche Zeitung, 16. /17. November 1993, S. 17. 56 So der Titel eines Films von Wolfgang Becker (1997). 57 Zur Bastelbiographie siehe z. B. Beck/Beck-Gernsheim 1993 und Beck/Beck-Gernsheim 1994.
Kapitel 3 Das Leben als Planungsprojekt 1 Siehe hierzu Beck 1996 und Giddens 1996. 2 Zapf 1994; Hesse 1994. 3 Ausführlicher Beck/Beck-Gernsheim 1993 und Beck/BeckGernsheim1994. 4 Diesen Begriff von Individualisierung unterstellen Ilona Ostner und Peter Boy (1991, S. 18), die sich dann kritisch mit der Individualisierungsthese auseinandersetzen. 5 Diesen Begriff von Individualisierung unterstellt Karl Ul233
rich Mayer (1991, S. 89), der sich dann kritisch gegen die Individualisierungsthese wendet. 6 Beck 1986, S. 217. 7 Kohli 1986, S. 185. 8 Borscheid 1988. 9 Berger/Berger/Kellner 1975, S. 66. 10 Giddens 1997, S. 26. 11 Ebd. ,S. 138. 12 Ders. 1996, S. 163. 13 Ders. 1997, S. 139. 14 Leigh 1985. 15 Brothers 1985, S. 63–73. 16 Ehevorbereitung. Ein partnerschaftliches Lernprogramm. Erarbeitet von K. Hahlweg und Mitarbeitern nach einer Vorlage des »Premarital Relationship Enhancement Program ›PREP‹« (Markman u. a. 1984). Hektographiertes Kursleitermanual, Februar 1990. Dieses Kommunikationstraining, das den »Kontrollierten Dialog« einüben soll, ist ein wissenschaftlicher Modellversuch, finanziert vom bayerischen Sozialministerium und der katholischen Kirche. 17 International Herald Tribune, 11. 12. 1989; Süddeutsche Zeitung, 10. 9. 1990 und 30. /31. 5. 1992. 18 Der Spiegel Nr. 14/1990, S. 162–168. 19 Peter de Thier. Goldene Zukunft durch Ehevertrag – für Anwälte. In: Süddeutsche Zeitung, 27. 8. 1991. 20 Nichteheliche Lebensgemeinschaften … 1985, S. 59; Vaskovics u. a. 1991 21 Giddens 1997, S. 122. 22 Siehe Kapitel 2, »Wenn Scheidung normal wird«. 23 Kaufmann 1988, S. 122. 24 The Boston Women’s Health Book Collective 1987, S. 640. 25 Nichteheliche Lebensgemeinschaften … 1985, S. 78. 234
26 Häußler 1983,S. 65 27 Rerrich 1988, S. 60. 28 Ebd. , S. 61. 29 Frevert 1985. 30 Rothman 1988. 31 Markt 19S9. 32 Siehe Bundesministerium für Forschung und Technologie 1984, S. 123. 33 Interview-Aussage in Schindele 1990, S. 66. 34 Pander u. a. 1992, S. B 2787. 35 Ringler 1994; 5c/?mzV/r u. a. 1994. 36 Clarke 1994, S. 3. 37 Blatt 1991, S. 9. 38 Z. B. Clarke 1994, S. 3; Richards 1996, S. 264; Wolff/Jung 1994, S. 8. 39 Zum Beispiel bei einer Gruppe, bei der man dies aufgrund ihrer streng traditionellen Lebenshaltung kaum vermutet, nämlich bei orthodoxen Juden. Der Hintergrund ist folgender: Da unter aschkenasischen Juden das sogennante Tay-Sachs-Syndrom, eine Erbkrankheit mit schwerwiegenden Folgen, verbreitet ist, wird dort inzwischen nachdrücklich empfohlen, vor der Eheschließung Gen-Tests durchführen zu lassen. Wenn sich dabei herausstellt, daß beide Partner Träger des Tay-Sachs-Gens sind, wächst das Risiko beträchtlich, daß bei ihren späteren Kindern die Krankheit ausbrechen wird. Deshalb wird von einer Heirat in solchen Fällen dringend abgeraten (Merz 1987; Richards 1996, S. 263). 40 Müller-Neumann/Langenhucher 1991, S. 11. 41 Giddens 1991, S. 8. 42 Der Spiegel Nr. 10/1997, S. 237, aus der Fachzeitschrift Lancet zitierend 43 Heuermann 1994, S. 139. 235
44 Roth 1992, S. 204 f. 45 Giddens 1991, S. 224. 46 Ebd. , S. 231. 47 Giddens 1996, S. 116.
Kapitel 4 Generationenvertrag und Geschlechterverhältnis 1 Dieses Kapitel stellt die Weiterführung und Aktualisierung von Überlegungen dar, die zuerst in dem Aufsatz »Generation und Geschlecht« (Beck-Gernsheim 1996 b) entwickelt wurden . 2 Metz-Göckel/Müller 1985, Bericht S. 26 f. und S. 81. 3 In der DDR allerdings war das normative Leitbild von Mutterschaft deutlich anders geprägt. Während im Westen die Vorstellung vorherrschte, zumindest in den ersten Lebensjahren brauche das Kind so weit wie möglich die Betreuung der Mutter, war es in der DDR nicht nur sozialpolitisch erwünscht, sondern auch in der Bevölkerung breit akzeptiert, daß die Mutter relativ bald nach der Geburt wieder erwerbstätig war. Die öffentlichen Formen der Kinderbetreuung galten nicht als suspekt, dem Gedeihen des Kindes abträglich, sondern gehörten umgekehrt zum normalen Lebensentwurf für Frauen, Kinder, Familien. Was dies Leitbild angeht, hat sich in den neuen Bundesländern bis heute wenig geändert. Vom Bild der berufstätigen Rabenmutter haben sich die jungen Frauen bislang kaum verunsichern lassen. Stattdessen wünscht die Generation, die selbst die Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorte besuchte, meist dasselbe Modell für die eigenen Kinder (Schröter 1996; Hildebrandt/Wittmann 1996). Ob dieser Wunsch sich erfüllt, ist allerdings fraglich: Nach der Wende sind 236
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viele der entsprechenden Betreuungseinrichtungen für Kinder geschlossen worden. Erler u. a. 1988a, Bericht S. 31. Erler u. a. 1988b, S. 12. Z. B. Strümpel u. a. 1988. In der Süddeutschen Zeitung gab es z. B. eine wöchentliche Kolumne »Neues vom Hausmann«, die inzwischen als Buch erschienen ist (Makowsky 1996). Auch in der »Zeit« haben neue Väter ihre Erfahrungen schon dem breiten Publikum zugänglich gemacht, siehe Thomas Hallet: Erster Tag mit Leonie, in: Die Zeit, Nr. 31, 28. 7. 1995, S. 55 und Reinhard Schlieker: Daa-da-daa-da-daa! in: Die Zeit, Nr. 34, 18. 8.‚ 1995, S. 54. Bezogen auf das Jahr 1995; eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt 1997. Bezogen auf das Jahr 1995, nach Statistisches Bundesamt, Fachseriel/Reihe 3: Haushalte und Familien 1995. Siehe hierzu Dorbritz 1993–94; Schwarz 1993–94. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Statistisches Bundesamt 1995. Rerrich 1993, S. 331; siehe auch Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend 1997,S. 133 f. und Vierter Familienbericht 1986. 84 ff. Vierter Familienbericht 1986, S. 85 ff. ; Rerrich 1993, S. 328 ff. Borscheid 1988. Vierter Familienbericht 1986, S. 154 ff. ; Fünfter Familienbericht 1994,S. 191ff. Hochschild/Machung 1990, S. 26. Ebd. , S. 33. Ebd. Ellen Goodman: A Perpetual Rush Hour for Baby Boomers. In: International Herald Tribune, 14. September 1995, S. 11. 237
20 Ellen Goodman: How Time and the Lilacs Go by So Very Quickly. In:International Herald Tribune, 25. Juni 1996, S. 9. 21 Kaufmann 1995, S. 169 ff. 22 Beck-Gernsheim 1989, S. 111 ff. 23 Beck-Gernsheim 1997a. 24 Schwarz 1994; Pohl 1995. 25 Engstler 1997, S. 91. 26 Siehe zum folgenden Beck-Gernsheim 1997 b. 27 Rerrich 1993, S. 331. 28 Ebd. 29 Liebau 1996, S. 21. 30 Zwischenbericht der Enquete-Kommission Demographisch er Wandel 1994, S. 158; Rosenkranz 1996. 31 Badura 1981. 32 Kytir/Münz 1991. 33 Hradil 1995, S. 154. 34 Diewald 1993, S. 751 f. 35 Für Berechnungen des hier entstehenden Pflegebedarfs siehe Hradil 1995, S. 153; Rosenkranz 1996, S. 214 ff. 36 Fünfter Familienbericht 1994, S. 193. 37 Dunkel 1993. 38 Rabe-Kleberg 1993. 39 Ostner 1992, S. 120. 40 Dunkel 1993. 41 Kytir/Münz 1991. 42 Berger/Berger 1984. 43 Z. B. Borscheid 1988. 44 Giddens 1997, S. 256, in Anlehnung an Howard Glennester. 45 Giddens 1997, S. 34. 238
46 Zwischenbericht der Enquete-Kommission Demographischer Wandel1994, S. 587 f. ; Rabe-Kleberg 1993. 47 Kaufmann 1995, S. 193. 48 Fünfter Familienbericht 1994, S. 104 und S. 194. 49 Zwischenbericht der Enquete-Kommission Demographischer Wandel 1994, S. 145 f. 50 Aus einer Ansprache des Bundespräsidenten am 9. Dezember 1996 im Wissenschaftszentrum in Bonn, zit. nach BiB-Mitteilungen, Heft 1/1997, S. 30.
Kapitel 5 Wir wollen ein Wunschkind 1 Dieses Kapitel führt Überlegungen weiter, die zuerst in dem Aufsatz »Vom Kinderwunsch zum Wunschkind« (Beck-Gernsheim 1997 c) entwickelt wurden. 2 Murken in Nippert/Horst 1994, S. 11 f. 3 Hepp 1994, S. 267. 4 Flitner 1982, S. 21; Hervorhebung original. 5 Frevert 1985, S. 421. 6 Beck-Gernsheim 1989, S. 109 ff. 7 Frevert 19S5,S. 421. 8 Kaufmann u. a. 1984, S. 10. 9 Interview-Aussage in Schindele 1990, S. 64. 10 Interview-Aussage in ebd. 12 Häußler 1983, S. 58–73. 13 Schmid 1988, S. 77. 14 »In Familien mit genetischem Risiko ist präkonzeptionell eine humangenetische Beratung anzustreben. Gegebenenfalls sind … prophylaktische Maßnahmen anzustreben«. Bach u. a. 1990, S. 41 239
15 Schmid 1988, S. 77. 16 Diese Formulierungen sind einem Informationsblatt entnommen, das der Freiburger Frauenarzt M. Schulte- Vallentin an seine Patientinnen ausgibt. 17 So Hubert Markl, der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in einem Vortrag zum Thema »Genetik und Ethik«: »… ich will hier sehr klar aussprechen, weil es heute manchmal auch anders hingestellt wird, daß der Verzicht auf eigene Kinder aus solchen [genetischen] Gründen mindestens ebensosehr, vielleicht sogar mehr gerühmt zu werden verdient als der Entschluß, dem unter Umständen grausamen Schicksal einfach in unerbittlich fatalistischer Frömmigkeitseinen Lauf zu lassen« (Markl 1989). 18 Sass, zit. nach Bundesministerium für Forschung und Technologie 1984,S. 123. 19 Interview-Aussage in Schindele 1990, S. 66. 20 So der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Hennen u. a. 1996, S. 90 f. 21 In einer Veröffentlichung von SATFA (charity for support after termination for abnormality, zu deutsch: Vereinigung zur Unterstützung derer, die einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund genetischer Anomalien durchführen ließen) heißt es: »The decision to terminate a wanted baby because of foetal abnormality is one made out of care for the unborn child«. Zit. nach McNally 1995, S. 142. 22 Der britische Oberrichter Stephenson interpretierte die im Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch enthaltene Klausel, wonach im Fall einer genetischen Behinderung des Foetus ein Schwangerschaftsabbruch zulässig sei, folgendermaßen: »That paragraph may have been passed in the interests of the mother, the family and the general public, but I would prefer to believe that its main purpose, if not its sole purpose, was to benefit the unborn child«. Zit. nach McNally 1995, S. 142. 240
23 Siehe hierzu die Ergebnisse einer vom Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag in Auftrag gegebenen und an der Universität Münster durchgeführten Studie, dargestellt in Hennen u. a. 1996, S. 116ff. 24 Siehe Kentenich u. a. 1987, S. 364–370; Parsons/Bradley 1994, S. 106; Fuchs u. a. 1994, S. 30f. und S. 148. 25 Hennen u. a. 1996, S. 78; Bradish u. a. 1993, S. 68f. Um als Anhaltspunkteinige Zahlen zu nennen: Im Jahr 1991 wurden in Westdeutschland 42 745 pränatale Untersuchungen (Amniozentese oder Chorionbipsie) durchgeführt, im Jahr 1995 waren es bereits 61 794 (so Irmgard Nippert bei der Tagung »Ratlosigkeit trotz Informationsfülle? Schwangerschaftsberatung vor den Herausforderungen der modernen Medizin, Wissenschaftszentrum Bonn, Juni 1997). 26 Interview mit James Watson in Focus Nr. 17/1993, S. 94– 97. 27 Wood-Harper/Harris 1996, S. 282. 28 Hepp 1994, S. 267. 29 Daelel9S6,SA57i. 30 Biel 1995, S. 32. 31 Fuchs u. z. 1994, S. 32. 32 Testart 1988, S. 24. 33 Ebd. , S. 25 und S. 115. 34 Abendzeitung, 11. März 1997, S. 1 und S. 6. 35 The Economist, 8. Januar 1994, S. 15 f. 36 Fuchs u. a. 1994, S. 156. 37 Siehe z. B. »Safe Semen« in: Newsweek, 13. Februar 1989, S. 7; »Not the Right Father«, in: Newsweek, 13. März 1990, S. 50 f. 38 Siehe z. B. Field 1988, S. 65–67. 39 »Samenbanken – Gefährliche Spende«, in: Der Spiegel, Nr. 34/1997,S. 159. 241
40 Daele 19S5, S. 11 ff. 41 Theresa Marteau, zit. nach Boston 1994, S. 119. 42 Hoffmann-Riem 1988, S. 40.
Kapitel 6 Auf dem Weg in die multikulturelle Familie 1 Dieses Kapitel basiert auf dem Aufsatz »Schwarze Juden und griechische Deutsche. Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung«(Beck-Gernsheim 1998). Für die Zwecke dieses Buchs wurde er in manchen Teilen gekürzt und um einige Passagen erweitert. 2 Siehe hierzu Vera Graaf: Die Außenhaut des Theaters. Ein New Yorker Streit über die Rassentrennung im Drama, in: Süddeutsche Zeitung,14. Februar 1997, S. U. 3 Spickard 1989, passim; Rosenblatt/Karis/Powell 1995, z. B. S. 142 undS. 203 ff. ; Tizard/Phoenix 1993, S. 3 f. und S. 46 ff. 4 Oguntoye/Opitz!Schultz 1992. 5 Teo 1994. 6 Schuhler: Ich bin weder schwarz noch weiß, ich bin kunterbunt. Portrait über Amadeo Richardson, BR-Fernsehproduktion 1992. 7 Habermas 1992, S. 151 f. 8 Siehe zum folgenden insbesondere Davis 1991 sowie Spickard 1989. 9 Spickard 1989, S. 235 f. 10 Ebd. , S. 433. 11 Ebd. , S. 374. 12 Ebd. , S. 375. 13 Gates 1995, S. 23 f. 242
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Spickard 1989, S. 333–336; siehe auch Rogge 1965. International Herold Tribüne, 26. April 1984. Neckell 997. Siehe hierzu z. B. Walk 1981; Rosenstrauch 1988. Siehe hierzu z. B. die Beiträge mehrerer Autoren in Schultz 1986. 19 Wenn in einer »priviegierten Mischehe« der »arische« Partner starb, war es für den jüdischen Partner mit den letzten Resten des Schutzesvorbei. Wenn die Kinder, die einer »privilegierten Mischehe« entstammten, Deutschland verließen und im Ausland in die Emigrationgingen, war die Ehe der Eltern keine »privilegierte Mischehe« mehr, sondern nur noch eine »einfache«. 20 Diese Überschrift ist eine Anspielung auf Ilse Aichingers berühmten Roman »Die größere Hoffnung« (Aichinger 1976). Dessen Hauptperson, das Mädchen Ellen, stammt aus der Ehe zwischen einer Jüdin undeinem Arier, ist deshalb ein »unnützes Kind. Seine Mutter ist ausgewandert und sein Vater ist eingerückt. Und wenn es den Vater trifft, darf es von der Mutter nicht reden … da stimmt ja auch etwas mit den Großeltern nicht: Zwei sind richtig und zwei sind falsch« (S. 34 f. ). 21 So wurde z. B. der Dichter Gottfried Benn beschuldigt, Jude zu sein, weil ein Kollege von ihm den Namen »Benn« als jüdische Verwand-schaftsbezeichnung ansah. Siehe hierzu Brückner 1980, S. 120. 22 Siehe hierzu z. B. Braach 1994, S. 141; Brückner 1980, S. 122; Hecht 1984, S. 148. 23 Hecht 1984, S. 53. 24 Jean Amery in Schultz 1986, S. 68 f. und S. 72. 25 Hilde Domin in Schultz 1986, S. 88 f. 26 Michael Landmann in Schultz 1986, S. 116 und S. 120–122; Hervorhebung original. 27 Der Spiegel, Nr. 22/1996, S. 22–25 und Nr. 25/1996, S. 19; 243
Julius Schoeps: Ostjuden unerwünscht? In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung,27. Juni 1996, S. l. 28 So Irene Kohlhaas, deutsche Botschafterin in der früheren Sowjetrepublik Moldawien, zit. nach Der Spiegel, Nr. 22/1996, S. 25. 29 Kleiber/Gömusay 1990, S. 68. 30 Z. B. Spickard 1989, S. 20 und S. 22; Rosenblatt u. a. 1995, S. 7. 31 Merton 1976. 32 Siehe z. B. Hilde Domin in Schultz 1986, S. 88. 33 Mattenklott 1992, S. 9. 34 Heller 1994. 35 Neckel 1997. 36 Süddeutsche Zeitung, Magazin-Beilage, 24. November 1995, S. 4. 37 John David Morley: Inländer und Ausländer. Amerika wird ethnischkartographiert. In: Süddeutsche Zeitung, 28. April 1995, S. 11. 38 Ebd. ; Hervorhebung original. 39 Richard Chaim Schneider: Minorität und Minoritäten. Schwarze Juden in den USA. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Juli 1995. 40 Für 1960 siehe Statistisches Bundesamt 1995 b, S. 26; für 1995 eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1, 1995, Tabelle 8. 12: Eheschließungen nach der Staatsangehörigkeit der Ehepartner (die angegebenen Zahlen beziehen sich jeweils auf Westdeutschland). 41 Für 1960 siehe Statistisches Bundesamt 1995 b, S. 29; für 1995 eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1, 1995, Tabelle 9. 19: Geburten nach der Staatsangehörigkeit der Eltern (die Zahlen beziehen sich jeweils auf Westdeutschland). 42 Kureishi 1990, S. 141. 244
43 Arjouni 1991, S. 7. 44 Hans Monath: Sie sind ja gar kein Deutscher! In: taz, 27. Juli 1995, S. 1. 45 Michael Knopf: Die späte Identitätskrise des deutschen Bürgers W. , in: Süddeutsche Zeitung, 26/27. August 1995, S. 53. 46 Pries 1996. 47 International Herald Tribune, 20. /21. Februar 1996, S. 5. 48 Hermann 1995, S. 29«. 49 Bade 1992, S. 393 und S. 401. 50 Nuscheler 1995, S. 113 ff. und S. 122 ff. 51 Schmäh-]acobsen/Hansen 1997, S. 186. 52 Hradil 1995, S. 292. 53 Mammey/SchienerA996,S. 1612ff. 54 Hallson 1996, S. 276f. 55 Mecheril/Teo 1994. 56 Zit. nach Geyer 1995, S. 227. 57 Z. B. Heine-Wiedemann/Ackermann 1992: Lenz/Ramil/ Weiss/Thiemann1993. 58 Thränhardt 1995, S. 5. 59 Ebd. 60 Berger/Kellner 1965, S. 222 f. 61 Ebd. , S. 225. 62 Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1,1995, Tabelle 8. 12: Eheschließungen nach der Staatsangehörigkeit der Ehepartner. 63 Hardach-Pinke 1988, S. 116. 64 Ebd. , S. 217. 65 So der Titel von Hardacb-Pinke 1988. 66 Scheibler 1992, S. 87 ff. 67 Ebd. , S. 45. 245
68 Ebd. , S. 44 ff. 69 Elschenbroich 1988, S. 368. 70 Ebd. , S. 366. 71 Die jüngere Generation jüdischer Schriftsteller vor Augen, schrieb Kafka 1921 in einem Brief an Max Brod: »Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration«. Zit. nach Marcel Reich-Ranicki 1993, S. 29. 72 Iyer 1996, S. 9. 73 Ebd. 74 Zit. nach ebd. , S. 10. 75 Ebd. , S. 12. 76 Ebd. 77 Beck/Beck-Gernsheim 1994. 78 Reich-Ranicki 1993. 79 Wbite 1969, S. 366. 80 Walzer 1992, S. 136. 81 Z. B. Rosenblatt u. a. 1995, S. 215ff. ; Alibhai-Brown/Montague 1992, passim. 82 Stolzfus 1989, 1996; Jochheim 1993; Der Spiegel, Nr. 8/1993, S. 58–68.
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Was kommt nach der Familie? Erneut die Familie – wie manche meinen – oder überwiegen doch die Auflösungstendenzen? Elisabeth BeckGernsheim zeigt, daß die traditionelle Familie nicht unbedingt verschwindet, sich auflöst Aber offensichtlich wird sie das Monopol, das sie lange Zeit besaß, verlieren. Neue Beziehungsmuster breiten sich aus, die nicht auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art; es entsteht eine Vielfalt von Beziehungen, die sich nach Art, Umfang, Verpflichtungscharakter und Dauer unterscheiden.