Paweł Huelle Weiser Dawidek Roman
Kindheit in Gdańsk, dem früheren Danzig, die Geschichte eines Sommers, unerhörte Erei...
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Paweł Huelle Weiser Dawidek Roman
Kindheit in Gdańsk, dem früheren Danzig, die Geschichte eines Sommers, unerhörte Ereignisse und gefährliche Spiele, die geheimnisvolle Gestalt eines Jungen, der in der Luft schweben und wilde Tiere besänftigen kann. Ein Roman voller Spannung und Poesie.
Paweł Huelle Weiser Dawidek Roman Originaltitel ›Weiser Dawidek‹ Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall © 1990 by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlagentwurf Max Bartholl ISBN 3-630-86720-0
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Das Buch Gdańsk, das frühere Danzig, ist der Schauplatz dieses Romans, der in Polen als literarisches Ereignis gefeiert wird. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Geschichte eines weit zurückliegenden Sommers, Jugendliche, beinahe noch Kinder, die in den Ferien nicht baden dürfen, weil die Bucht mit toten Fischen verseucht ist, und statt dessen zwischen verschütteten Schützengräben und gesprengten Brücken Krieg spielen, treffen mit einem Schulkameraden zusammen, der mit besonderen Fähigkeiten und überdies mit magischen Kräften begabt zu sein scheint. Dawid Weiser, zärtlich und spöttisch Dawidek genannt, führt ihnen schauerlich schöne Explosionen vor, er veranstaltet mit ihnen gefährliche Schießübungen, verleitet sie zu aufregenden Spielen. Dawidek ist der einzige, der schon eine Freundin hat, Elka mit dem roten Kleid, die ihn wie eine Löwin verteidigt. Wer ist dieser Dawid Weiser, der in der Luft schweben und über wilde Tiere gebieten kann, wenn er nur will? Später, nach seinem rätselhaften Verschwinden, verhört eine Untersuchungskommission die Jungen – ohne Erfolg. Und der Erzähler selber wird viele Jahre später, als Erwachsener, das Geheimnis um Dawid Weiser zu ergründen versuchen: die Ereignisse jenes Sommers lassen ihn nicht los. Der Roman läßt ein Stück Zeitgeschichte, die Jahrzehnte zwischen Krieg und Solidarność, lebendig werden. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich, den Leser in ihren Bann ziehend, eine mit außergewöhnlicher Sprachkraft erzählte Geschichte, die, wie polnische Kritiker konstatierten, in der Tradition der ›Danziger Trilogie‹ von Günter Grass steht. Ein Roman, der eine Kindheit und die Atmosphäre der Nachkriegszeit beschwört, voller Spannung und Poesie.
Der Autor
Paweł Huelle, 1957 in Gdańsk geboren, studierte Literaturwissenschaft. Von 1980 bis 1981 arbeitete er als Journalist in der Pressestelle der Solidarność, später als Lehrer für Polnisch und Geschichte an Schulen in Gdańsk. Der in Polen 1987 erschienene Roman »Weiser Dawidek« wurde sofort ein großer Erfolg und trug ihm mehrere Auszeichnungen ein, darunter den Preis der Zeitschrift ›Literatura‹ für das interessanteste Romandebüt sowie den renommierten Preis der Kościelski-Stiftung in Genf.
Paweł Huelle Weiser Dawidek Roman Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Luchterhand Literaturverlag
Die polnische Originalausgabe erschien unter dem Titel Weiser Dawidek im Verlag Wydawnictwo Morskie, Gdańsk
Copyright © 1990 by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main. Copyright für die polnische Ausgabe © 1987 by Paweł Huelle, Gdańsk. Lektorat Wieland Eschenhagen. Umschlagentwurf Max Bartholl. Umschlagfoto Heinz Lehmbäcker. Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck. Printed in Germany ISBN 3-630-86720-0
W
ie war es eigentlich geschehen, wie war es dazu gekommen, daß wir zu dritt im Zimmer des Direktors standen, die Ohren voll unheilvoller Worte: ›Protokoll‹, ›Verhör‹, ›Eid‹? Wie hatte es geschehen können, daß aus normalen Schülern und Kindern zum ersten Mal und einfach so Angeklagte wurden, kraft welchen Wunders erlegte man uns dieses Erwachsensein auf? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht hatte es vorher schon irgendwelche Vorbereitungen gegeben, davon wußten wir jedoch nichts. Das einzige, was ich damals spürte, war der Schmerz im linken Bein, denn man hatte uns befohlen, die ganze Zeit zu stehen; und dazu die ständig sich wiederholenden Fragen, das hinterhältige Lächeln, die Drohungen, vermischt mit den süßlichen Bitten, »alles noch einmal zu erklären, der Reihe nach und ohne etwas zu erfinden«. Der Mann in der Uniform wischte sich den Schweiß von der Stirn, schaute uns mit dem dumpfen Blick eines gequälten Tieres an und drohte alle Augenblicke mit dem Finger, unverständliche Flüche vor sich hinmurmelnd. Der Direktor, der seine Krawatte gelockert hatte, trommelte mit den Fingern auf die schwarze Fläche des Schreibtischs, und M., der Biologielehrer, kam ständig herein und fragte nach dem Verlauf der Untersuchung. Wir sahen, wie die Strahlen der Septembersonne durch die zugezogenen Gardinen drangen und den verstaubten, dunkelroten Teppich aufleuchten ließen, und es tat uns leid um den Sommer, der nun zu Ende war. Und sie fragten immer noch, unermüdlich, hundert Mal und immer wieder von vorn, ohne die einfachsten Dinge der Welt zu begreifen, ganz so, als wären sie die Kinder. »Das ist Irreführung, darauf stehen gesetzlich festgelegte Strafen!« schrie der Mann in der Uniform, und der Direktor pflichtete ihm bei und griff alle naselang an seine Krawatte: »Was hab ich 6
mir mit euch bloß eingebrockt, Jungs!« Und er lockerte den großen dreieckigen Knoten noch weiter, den man von weitem für eine jakobinische Kokarde halten konnte. Nur M. bewahrte mäßige Ruhe, als wäre er sich seiner Sache sicher, und er flüsterte dem Mann in der Uniform Informationen ins Ohr, worauf die beiden uns drei mit dieser noch größeren Neugier anschauten, die gewöhnlich einer neuen Serie von Fragen vorausging. »Jeder von euch sagt etwas völlig anderes«, schrie der Direktor. »Und nie zweimal dasselbe. Also wie ist das, könnt ihr euch nicht auf eine gemeinsame Version einigen?« Und der Uniformierte fiel ihm ins Wort: »Die Sache ist zu ernst für eure Späße, der Spaß ist seit gestern vorbei, und heute heißt es, mit der nackten Wahrheit auf den Tisch!« Zwar wußten wir nicht, wie die nackte Wahrheit aussah, aber es log auch keiner von uns, wir sagten nur das, was sie hören wollten, und wenn M. nach den Blindgängern fragte, so stimmten wir zu, daß es um die Blindgänger ging, erwähnte dagegen der Mann in der Uniform das Lager mit der verrosteten Munition, so stritt keiner von uns ab, daß es solch ein Lager bestimmt irgendwo gegeben hatte, vielleicht jetzt noch gab, nur wo – das wußten wir nicht, worauf der Fragende ganz rot im Gesicht wurde und sich eine neue Zigarette anzündete. Es lag darin eine unbewußte Methode der Verteidigung, an der ihre Absichten wie Seifenblasen platzten – hätten sie zum Beispiel gefragt, ob wir Zeugen der von Weiser veranstalteten Explosionen gewesen seien, so hätte jeder von uns eifrig zugestimmt, ja, keiner jedoch wäre imstande gewesen zu sagen, zu welcher Tageszeit, und obendrein hätte gleich einer hinzugefügt, Weiser habe das alles eigentlich ausschließlich allein gemacht und nur ab und zu Elka eingeladen. Wir spürten genau, daß es auf die Fragen, die sie 7
uns stellten, keine richtigen Antworten gab, und selbst, wenn sich nach einiger Zeit herausgestellt hätte, daß es sie doch gab, wäre das, was sich an jenem Nachmittag im August abgespielt hatte, ihnen doch völlig unerklärlich und unverständlich geblieben. So wie für uns die Gleichungen mit zwei Unbekannten. Szymek und Piotr standen an der Seite, ich mit meinem schmerzenden und von der langen Bewegungslosigkeit geschwollenen Bein zwischen ihnen. Sie konnten sich mit Blicken nach links oder rechts retten, ich dagegen war allein mit dem Blick des Direktors und dem dunkel gerahmten weißen Adler über seinem Kopf. Manchmal schien es mir so, als bewegte der Adler einen seiner Flügel und wollte auf den Hof hinausfliegen, und ich wartete darauf, daß wir alle das Knirschen zerbrochenen Glases hören würden und der Vogel davonflöge, aber nichts dergleichen geschah. Statt des erwarteten Flugs fielen die Fragen, Drohungen und Bitten immer dichter, und wir standen immer noch da, völlig unschuldig und voller Entsetzen, wie das alles ausgehen würde, denn es mußte doch einmal ein Ende haben, wie alles, wie der Sommer, dessen letzter Widerhall durch das angelehnte Fenster des Zimmers an unsere Ohren drang. »Ein Mensch kann nicht völlig spurlos verschwinden«, schrie der Mann in der Uniform, »das ist unmöglich, und du, Korolewski, behauptest« – er wandte sich an Szymek – »Weiser und eure Freundin (der Uniformierte konnte sich Elkas Namen nicht merken) wären an jenem Tag zusammen aus dem Haus gegangen, in Richtung Bukowa Górka, und du hättest sie dann nicht mehr gesehen. Dabei hat man euch am Nachmittag noch zu dritt auf dem Bahndamm gesehen.« »Wer hat uns denn gesehen?« fragte Szymek zaghaft und trat von einem Fuß auf den andern. 8
»Stell du mir hier keine Fragen, du hast zu antworten!« Die Augen des Uniformierten blitzten bedrohlich. »Das wird für euch alle ein böses Ende nehmen!« Szymek schluckte, und seine abstehenden Ohren wurden schlagartig rot: »Das war aber zwei Tage vorher, daß man uns gesehen hat.« Der Direktor blätterte nervös in den Bögen, auf denen unsere Aussagen aufgezeichnet waren. »Das stimmt nicht! Das ist schon wieder eine unverschämte Lüge, deine Kameraden haben nämlich ausdrücklich gesagt, daß ihr zu dritt den alten Bahndamm entlang in Richtung Brętowo gegangen seid, oder« – er wandte sich jetzt an uns – »sind das etwa nicht eure Worte?« Piotr nickte zustimmend. »Ja, Herr Direktor, aber wir haben überhaupt nicht gesagt, daß das an diesem letzten Tag war, es war wirklich zwei Tage vorher.« Der Direktor lockerte seine Krawatte, so daß sie eigentlich nicht mehr an eine normale Krawatte erinnerte, sondern an einen Schal, der, schmal und bunt, um den Hemdkragen geschlungen war. Der Uniformierte warf schnell einen Blick auf die Aussagen, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, aber er unterdrückte dieses Mal einen Schrei, um sogleich die nächste Frage zu stellen, aus einer völlig anderen Richtung, hinterhältig und wie aus der Pistole geschossen. Sei es, daß er wissen wollte, woher Weiser das Material für seine Explosionen hatte, oder daß er etwas ganz Unwesentliches fragte, zum Beispiel, was für ein Kleid Elka anhatte, als wir uns zum letzten Mal sahen, oder ob Weiser vor seinem Verschwinden nicht gedroht hatte, »er würde etwas Großes vollbringen, er würde uns noch etwas zeigen«. Alles kreiste unvermeidlich um die beiden, aber wir wußten genau, daß die Männer nie an die Wahrheit herankommen würden, denn die Spur, die sie aufgenommen hatten, war von Anfang an falsch. 9
Ich weiß nicht mehr, wann M. eine neue Methode des Verhörs vorschlug, doch bevor das geschah, dachte ich, Weiser und Elka müßten uns jetzt – auf eine nur ihnen bekannte Art und Weise – hören, wie wir, im Zimmer des Direktors stehend, unter dem Diktat des bedrohlichen Mannes in der Uniform unsere Aussagen machten. Und sicher würde Weiser anerkennend schnalzen, wenn er hörte, wie die drei sich mit uns herumquälten, und Elka würde laut lachen und ihre weißen Eichhörnchenzähne zeigen. Piotr und Szymek dachten bestimmt das gleiche, denn beide machten keinen Mucks, als M. anordnete, wir sollten ins Sekretariat gehen und dort warten, bis wir einzeln hereingerufen würden. Das war die neue Idee von ihm: uns getrennt zu vernehmen. Davon versprachen sie sich größeren Erfolg. Im Sekretariat erlaubte man uns endlich, uns zu setzen, und das war das Wichtigste, außerdem war ein Augenblick Erholung von M.s Blicken und vom Schreien des Uniformierten etwas Wunderbares und Unverhofftes, und wir werteten es als sichtbares Zeichen des Schicksals dafür, daß das Schlimmste nun vorbei sei. Die drei im Arbeitszimmer gaben uns etwas Zeit, damit wir über die Hoffnungslosigkeit unserer Situation nachdenken und zu den entsprechenden Schlüssen kommen konnten, aber wir mußten nicht einmal Rat halten, um unsere weiteren Aussagen festzulegen. Es war klar, daß jeder nach seinem Gefühl reden würde, und gerade das gab uns die größten Chancen, aus unserer Verlegenheit herauszukommen. Als erster ging Szymek, demütig und still verschwand er in der Öffnung des Zimmers, ich war also mit Piotr allein, aber nicht lange. Bald schickte man den Hausmeister, damit er auf uns aufpaßte. Von da an saßen wir in vollkommenem Schweigen, das vom Ticken der Wanduhr erfüllt war und nur unterbrochen wurde von dem Gong, der die vollen Stunden schlug. 10
Wie war es eigentlich gekommen, daß wir Weiser kennenlernten? Wir hatten ihn vorher schon manchmal gesehen, er ging in die gleiche Schule wie wir, lief über den gleichen Hof und kaufte wie wir in Cyrsons Laden klebrige Flaschen mit Limonade, die die Erwachsenen »Kracherl« nannten. Niemals jedoch machte er bei unseren Spielen mit, er stand immer abseits und hatte ganz entschieden keine Lust, einer von uns zu sein. Wenn wir Fußball spielten, auf dem Rasen bei der preußischen Kaserne, gab er sich damit zufrieden, schweigend zu kiebitzen, und wenn wir ihn am Strand in Jelitkowo trafen, sagte er, er könne nicht schwimmen, und verschwand schnell in der Menge der Strandbesucher, als würde er sich dessen schämen. Diese Begegnungen waren kurz und flach, wie es seiner äußeren Erscheinung entsprach. Er war eher von kleinem Wuchs, sehr schmal und ging leicht gebeugt, und er hatte eine kränklich weiße Haut – den einzig bemerkenswerten Kontrast dazu bildeten seine unnatürlich großen, weit geöffneten, sehr dunklen Augen. Deshalb wohl sah er so aus, als hätte er immer Angst vor irgend etwas, als erwartete er jemanden oder etwas, was ihm schlechte Nachrichten brachte. Er wohnte mit seinem Großvater in der Nummer 11, und an der Tür zu ihrer Wohnung befand sich ein gelbes Schild mit der Aufschrift »A. Weiser. Schneider«. Und das war eigentlich alles, was wir über ihn hätten sagen können, bevor, angekündigt von Maikäfern und einem warmen Südwind, der Sommer des letzten Jahres kam. Wie war es also gekommen, daß wir Weiser kennenlernten? Wenn etwas einen Anfang hat, dann muß das in diesem Fall das Fronleichnamsfest gewesen sein, das ausgesprochen spät fiel. Im Staub und in der Hitze des Junivormittags gingen wir in der Prozession, von Pfarrer Dudak durch eine Gruppe von Ministranten und Drittkläßlern ge11
trennt, die gerade die Erstkommunion empfangen hatten, wir sangen wie alle ›Wahrer Leib, o sei ge-grü-ßet, Dich Ma-ri-a uns ge-bar‹ und beobachteten aufmerksam und andächtig die Bewegungen des Weihrauchfasses. Denn das Wichtigste war das Weihrauchfaß – nicht die Hostie, nicht die heiligen Bildnisse der Mutter Gottes und des Gottes, der Mensch geworden war, nicht die Holzfiguren, die von den Mitgliedern des Rosenkranzkreises in besondern Sänften getragen wurden, nicht die Fahnen und Bänder, gehalten von weiß behandschuhten Händen, sondern eben das Weihrauchfaß, das nach rechts und links schwang, nach unten und oben, und dabei graue Rauchwolken verströmte, das Weihrauchfaß aus goldenem Blech an einer groben Kette derselben Farbe und der Geruch des Weihrauchs, der die Nasenlöcher reizte, aber auch seltsam süßlich und mild war. In der unbewegten Luft hielten sich diese Wolken lange, ohne ihre Form zu verändern, und wir beschleunigten immer wieder unsere Schritte und traten den vor uns Gehenden auf die Fersen, um die Wölkchen zu erwischen, bevor sie im Nichts verschwammen. Und eben da sahen wir Weiser zum ersten Mal in einer für ihn charakteristischen Rolle, einer Rolle, die er selbst gewählt hatte und in der er sich später uns allen aufdrängte, wovon wir natürlich nichts wissen konnten. Dicht vor dem Altar, der Jahr für Jahr bei unserem Haus errichtet wurde, schwenkte Pfarrer Dudak kräftig das Weihrauchfaß, dem eine herrliche Wolke entströmte – wir erwarteten sie zitternd vor Spannung. Und als der graue Rauch gesunken war, sahen wir auf der kleinen Anhöhe zur Rechten des Altars Weiser stehen, der mit unverhohlenem Stolz all dies betrachtete. Es war der Stolz eines Generals, der die Parade abnimmt. Ja, Weiser stand auf der Anhöhe und schaute zu, als wären all die Gesänge, Fahnen, Bilder, Vereine, Bänder eigens für ihn vorbereitet worden, als gä12
be es keinen anderen Grund dafür, daß die Menschen mit klagendem Gesang auf den Lippen durch die Straßen unseres Viertels zogen. Heute weiß ich, ohne jeden Zweifel, daß Weiser immer so gewesen sein muß, und damals, als der Weihrauch sank, kam er nur aus seinem Versteck hervor, um uns zum ersten Mal sein wahres Gesicht zu zeigen. Es dauerte übrigens nicht lange. Als der letzte Schwaden des Weihrauchduftes verweht und das von Pfarrer Dudak mit schriller Stimme angestimmte Lied verklungen war und die Menge sich weiter in Richtung der Kirche bewegte, verschwand Weiser von dem Hügel und begleitete uns nicht mehr. Welcher General eilt auch nach beendeter Truppenschau seinen Abteilungen nach? Die Tage, die bis zum Ende des Schuljahrs noch blieben, konnte man an den Fingern abzählen, der Juni tobte sich in Hitze aus, und jeden Morgen weckten uns durch die geöffneten Fenster die Stimmen der Vögel, die die uneingeschränkte Herrschaft des Sommers verkündeten. Weiser war wieder der schüchterne Weiser, der nur von weitem unseren lärmenden Spielen zusah. Aber etwas hatte sich geändert: wir spürten jetzt in seinem Blick eine Distanz, schneidend und brennend – wie der Blick eines verborgenen Auges, das jedes Vergehen prüft. Vielleicht konnten wir, ohne daß es uns bewußt wurde, diesen Blick nicht ertragen, wer weiß? Jedenfalls sahen wir ihn an dem Tag, als die Religionszeugnisse ausgegeben wurden, wieder genau so wie an Fronleichnam, besser gesagt, in einer ähnlichen Situation. Das Pfarrhaus der Auferstehungsgemeinde lag, wie übrigens unser ganzes Viertel, am Rande des Waldes, und nachdem Pfarrer Dudak seine Gebete und Wünsche beendet und für die Eifrigsten Bildchen ausgeteilt hatte, und als wir die Zeugnisse, hübsch auf Kreidepapier gedruckt, in den Händen hielten, begann ein wahnsinniger 13
Wettlauf in den Wald um die ersten Augenblicke der wirklichen Ferien, denn die Schule hatten wir schon tags zuvor beendet, und jetzt lagen vor uns nur noch zwei Monate wunderbare Freiheit. Wir rannten in einer ganzen Schar los, brüllend und mit den Ellenbogen stoßend. Nichts – so schien es – konnte diese Woge aufhalten, nichts außer dem kalten Blick Weisers; er stand da, an den Stamm einer Lärche gelehnt, als hätte er hier eigens auf uns gewartet. Vielleicht seit ein paar Minuten, vielleicht schon immer. Wir wußten es nicht, weder damals noch später im Zimmer des Direktors und im angrenzenden Sekretariat, während wir auf die weiteren Verhöre warteten, und auch jetzt nicht, da ich diese Worte schreibe, da Szymek in einer ganz anderen Stadt wohnt, Piotr 1970 auf der Straße umgekommen und Elka nach Deutschland ausgewandert ist und keine Briefe von dort schreibt. Denn es hätte auch sein können, daß Weiser von Anfang an auf uns wartete, und gerade das ist wohl das Wichtigste an der Geschichte, die ich ohne Beschönigungen erzähle. Er stand also da und schaute. Ja, sonst nichts, so schien es – sonst nichts. Und doch hielt er die heranwogende Welle der verschwitzten Körper und schreienden Kehlen auf, hielt sie auf und stieß sie ab, für einen Moment, für den kurzen Augenblick, in dem das Element zurückweicht, um dann mit verdoppelter Kraft zuzuschlagen. »Weiser Dawidek bleibt bei uns in Reli weg«, tönte es irgendwo in den hinteren Reihen, und von vorn wurde diese Parole in etwas veränderter Form aufgenommen – »Dawid, Dawidek, Weiser ist ein Itzig!« Und erst jetzt, da dies ausgesprochen war, spürten wir ihm gegenüber eine ganz gewöhnliche Abneigung, die zum Haß anwuchs, dafür, daß er nie mit uns zusammen war, nie zu uns gehörte sowie für den Blick der leicht hervorstehenden Augen, mit dem er uns ganz offensichtlich zu verstehen gab, daß wir 14
uns von ihm unterschieden, nicht er sich von uns. Szymek trat an die Spitze und stand ihm Auge in Auge gegenüber. »Du, Weiser, warum gehst du eigentlich nicht mit uns in die Religion?« – die Frage hing zwischen uns in der Luft und verlangte eine sofortige Antwort. Er schwieg, grinste nur – wie wir damals meinten – dämlich und frech, und so begann von hinten das Gemurmel, man solle ihn brezeln. Das Brezeln bestand darin, daß man den Rücken des am Boden liegenden Übeltäters mit Fäusten und Knien bearbeitete, und schon sahen wir seinen weißen entblößten Rücken, schon flog sein Hemd durch die Luft, von Hand zu Hand gereicht, als plötzlich Elka in den Kreis der Häscher sprang, mit blitzenden Augen, und, nach rechts und links Fußtritte verteilend, schrie: »Laßt ihn in Ruhe, laßt ihn in Ruhe!« Und als das keine Wirkung zeigte, drückte sie die Fingernägel in das Gesicht eines der Exekutoren und zeichnete es mit langen Fäden heftig rot werdender Furchen. Wir ließen Weiser los, jemand gab ihm sein zerknülltes Hemd, und er zog es an, ohne ein Wort zu sagen, als wäre nichts geschehen. Erst einen Moment später begriffen wir, daß nicht er, sondern wir gedemütigt aus dieser Sache hervorgingen, er war er selbst geblieben, unverändert der gleiche Weiser, und konnte auf uns schauen wie an Fronleichnam, ruhig, kühl, leidenschaftslos und distanziert. So etwas war schwer auszuhalten, und so warf Szymek, kaum hatte Weiser sich entfernt und ging am bewachsenen Zaun der Kirche entlang, den ersten Stein und rief laut: »Dawid, Dawidek, Weiser ist ein Itzig«, und die anderen machten es ihm nach, riefen das gleiche, warfen die nächsten Steine. Er aber drehte sich weder um noch beschleunigte er seine Schritte, trug so seinen Stolz davon und ließ uns in ohnmächtiger Scham zurück. Elka lief ihm nach, daher hörten wir auf, Steine zu schmeißen. Das war unsere erste nähere Bekanntschaft mit Weiser, sein Rük15
ken weiß wie der Tod, das zerknüllte karierte Hemd, und – wie ich schon sagte – sein unerträglicher Blick, den wir an Fronleichnam zum ersten Mal auf uns gespürt hatten, nachdem die Wolke aus Pfarrer Dudaks goldenem Weihrauchfaß verweht war. War das Zufall? Hatte sich Weiser aus freien Stücken vor dem Pfarrhaus eingefunden, ähnlich wie an Fronleichnam auf dem Hügel beim Altar? Und wenn nicht, was für eine Kraft hatte ihm dann befohlen, es zu tun, warum hatte er beschlossen, sich uns gerade so zu zeigen? Diese Fragen ließen mich lange nicht schlafen, noch lange nach Beendigung des Verhörs und noch viele Jahre danach, als ich längst ein ganz anderer geworden war. Und falls es eine Antwort gibt, dann nur die, daß ich gerade, weil sie fehlt, die Linien dieses Papiers fülle, über alles im Ungewissen. Die Briefe, die ich Jahr für Jahr nach Mannheim schreibe, in der Hoffnung, einige andere Dinge im Zusammenhang mit jenen Ereignissen und der Person Weisers klären zu können, bleiben unbeantwortet. Anfangs dachte ich, daß Elka, seit sie Deutsche geworden ist, keinerlei Nachrichten, keinerlei Erinnerungen von hier hören wolle, die sie aus ihrem neuen deutschen Gleichgewicht bringen könnten. Jetzt denke ich das nicht mehr, zumindest bin ich mir da nicht so sicher. Zwischen ihr und Weiser war etwas, was wir nie begreifen konnten, etwas, was sie auf ganz seltsame Art verband und was sich unter keinen Umständen mit der Bezeichnung kindliche Faszination vom anderen Geschlecht oder ähnlichen Termini beschreiben läßt, die ein moderner Psychologe parat hätte. Ihr verstocktes Schweigen ist mehr als Abneigung gegen das Reich der Kindheit. An jenem Tag aber, als Weisers Hemd von Hand zu Hand durch die Luft flog, fuhren wir mit der klapprigen Straßenbahn der Linie 4 nach Jelitkowo an den Strand. 16
Trotz des frühen Nachmittags herrschte auf beiden Plattformen des Wagens ein ziemliches Gedränge, die Sonne brannte noch stark, und im Innern des Fahrzeugs hing der charakteristische Geruch des von der Hitze ermatteten Lacks. Es kam uns nicht in den Sinn, an Weiser und die vormittägliche Szene am Waldrand zu denken. Sobald die Straßenbahn mit entsetzlichem Kreischen die Haltestelle bei dem hölzernen Kreuz erreichte, liefen wir, mit den Handtüchern wedelnd, in Richtung Strand, und achteten weder auf die zwischen den Häusern der Fischer hängenden Netze noch auf die pyramidenförmig aufgetürmten Körbe, die nach Tran und Teer stanken. Erst hier begannen die wirklichen Ferien und mit ihnen das Tauchen nach einer Handvoll Sand, das Wettschwimmen zu der roten Boje und die Jagd bis zur Mole in Sopot, wo die Mutigsten sich mit waghalsigen Sprüngen hervortaten. Denn in Wahrheit konnte Jelitkowo nicht ohne uns existieren, wie die Stadt nicht ohne den Strand und die Bucht existieren konnte. Das waren kommunizierende Röhren, und obwohl es heute völlig anders ist, scheint die Erinnerung daran unauslöschlich. An der Spitze der ungestümen Bande also lief Piotr, der seine Strandnummer vorführen wollte, die darin bestand, daß er Hemd und Hose noch im Lauf auszog, ohne anzuhalten, und unter Spritzern weißen Schaums ins Wasser hüpfte. Seine nackten Füße knirschten schon im Sand und wirbelten Fontänen hinter ihm auf, als er plötzlich am Rand des Wassers haltmachte und schrie, als wäre er in etwas Spitzes getreten. »Stichlinge! Kommt mal her! Wie viele!« Was wir sahen, überstieg unsere Fähigkeiten, die frevlerischen Möglichkeiten der Natur zu verstehen. Tausende von Stichlingen, mit den Bäuchen nach oben schwimmend, bewegten sich im trägen Rhythmus der Wellen und bildeten einen mehrere Meter breiten Gürtel toter Fisch17
leiber. Man brauchte nur die Hand ins Wasser zu tauchen, und schon schillerten die Schuppen, die an der Haut haften blieben, wie ein Panzer, aber das war alles andere als angenehm. Statt eines Bades hatten wir eine Fischsuppe, in die man vor Ekel hineinspucken konnte. Doch das war – wie sich zeigen sollte – erst der Anfang. In den nächsten Tagen wurde die Suppe dicker und verwandelte sich in eine stinkende, schmierige, klebrige Masse. In der Glut des Junis verwesten die toten Fische, aufquellend wie aufgeblähte Fischblasen, und der Gestank der Zersetzung war sogar in der Gegend der Straßenbahnhaltestelle zu spüren. Der Strand wurde leer und öde, die toten Stichlinge schienen sich zu vermehren, und unsere Verzweiflung kannte keine Grenzen. Jelitkowo legte keinen Wert auf unsere Anwesenheit. Über dem Schlamm an der Küste, dessen Farbe von einer Stunde auf die andere von einem hellen Grün zu einem dunklen Braun wechselte, erschienen Schwärme von Fliegen von einer bis dahin nicht gekannten Größe, die sich von Aas nährten und dort ihre Eier legten. Das Meer war, trotz der herrschenden Hitze, unzugänglich. Alles umsonst – das windstille Wetter, die Hitze, der blaue Himmel, der durch seine vollkommene Reinheit trog. Schließlich beschlossen die Behörden, alle Strände von Stogi bis nach Gdynia zu schließen, was nun auch formal den Stand der Dinge bestätigte.
Etwas Schlimmeres hätte uns nicht passieren können, aber als ich im Sekretariat unserer Schule daran dachte, während ich darauf wartete, daß ich mit dem Verhör an die Reihe kam, und als ich mir überlegte, was ich M. dieses Mal erzählen würde, da nahm ich schon an, daß es kein Zufall war. Und selbst wenn es einer war, dann wiederum kein gewöhnlicher. Wäre nicht die Fischsuppe gewesen, 18
so wäre uns nie in den Sinn gekommen, Weiser nachzuspüren, so wären wir ihm nie über Bukowa Górka und den alten Schießplatz nachgeschlichen, und er hätte uns nie Zutritt zu seinem Leben gewährt. Aber ich greife den Ereignissen vor, indessen muß diese Geschichte, wie jede wahre Erzählung, ihre festgefügte Ordnung haben. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich einen Spalt, und ich sah, wie M.s Arm Szymek hinausschob. Bevor der Name Piotrs erklang, und bevor der Hausmeister sich von seinem Stuhl erhob, um ihn zur Tür zu führen, erblickte ich Szymeks großes rotes Ohr, geschwollen und unnatürlich in die Länge gezogen. Ich verspürte einen Krampf im Magen und in der Herzgegend, aber ich konnte nichts fragen, denn jetzt erschien M. in der Tür und gab, während er Piotr hereinließ, dem Hausmeister die Anweisung, darauf zu achten, daß wir kein Wort miteinander wechselten. Szymek setzte sich auf den Klappstuhl, ließ den Kopf sinken und blickte nicht von den Knien auf. Einen Moment lang überlegte ich, ob man mich auch am Ohr ziehen würde, aber ich kam schnell davon ab, denn das Arsenal von M.s Methoden war unerschöpflich. Ja, über M.s Anteil an der ganzen Geschichte ist bis heute nicht gebührend nachgedacht worden, aber wenn ich das bis jetzt nicht getan habe – wie hätte ich mir damals, dort, während ich auf das nächste Verhör wartete, darüber klar werden können, wer M. wirklich war oder wer er wirklich nicht wahr? Damals fürchtete ich ihn zu sehr, die späteren Ereignisse jedoch brachten mich davon ab, Betrachtungen über ihn anzustellen. Als sich die gepolsterte, mit gestepptem Kunstleder bezogene Tür des Zimmers lautlos hinter Piotr schloß, erinnerte ich mich jedoch an ein sehr wichtiges Ereignis. Jedes Jahr marschierte unsere Schule, wie alle anderen Schulen, gleichmäßig in weißen Hemden und dunklen Hosen bei der Kundgebung zum Er19
sten Mai. M. ging immer an der Spitze, trug ein Transparent, und, den Herren auf der Tribüne zulächelnd, animierte er uns mit seiner schrillen Stimme zum Singen: »Vorwärts, du Ju-gend der Welt, brü-der-lich klingt un-ser Liiiied«! Und wir marschierten gleichmäßig, schön gleichmäßig, lächelten wie alle ringsum und sangen wie alle ringsum und wußten, daß diejenigen, die nicht zum Feiertag der Freude, der Jugend und des allgemeinen Enthusiasmus gekommen waren, daß diese Schüler am nächsten Tag oder spätestens zwei Tage danach zu Hause Besuch von M. bekommen würden und daß M. die Eltern fragen würde, was denn passiert sei, ob es sich um eine ernsthafte Krankheit handle und ob er irgendwie helfen könne, damit der Schüler nächstes Jahr um diese Zeit munter wäre wie ein Fisch im Wasser. Das Jahr zuvor war von unserer Schule nur ein einziger Schüler nicht zum Umzug am Ersten Mai erschienen. Und das war eben Weiser. Aber das Merkwürdigste war, daß M. bei ihm zu Hause nie einen Besuch abstattete, um den Großvater zu fragen, warum sein Enkel nicht mit uns allen marschiert sei. Damals hatten wir dem keine Bedeutung beigemessen, doch jetzt, da ich bald mit dem Verhör an die Reihe kommen sollte, dachte ich, es sei sehr wichtig. Nur, in welcher Weise konnte man M. mit Weiser in Verbindung bringen? Ich behaupte bis heute, auf überhaupt keine. Was also war der Grund, daß M. bei ihnen zu Hause keinen Besuch abstattete? Hatte er etwas gegen Schneider? Oder hatte er es einfach vergessen? Nein, vergessen hatte er es bestimmt nicht; als Biologielehrer und Systematiker war er schließlich ein Pedant ganz besonderer Art und notierte alles in seinem kleinen Notizbuch, von dem er sich nie trennte. Und wenn M. etwas von Weiser wußte, was wir alle nicht wußten und was ich nie erfahren werde? Wenn es so etwas gab, warum konnte dann der 20
sonderbare Biologielehrer nicht verstehen, wo unser Kamerad verschwunden war? Oh ja, M. war ein echter Sonderling, wie man ihn heute nur noch in Büchern trifft – und nicht in x-beliebigen. Ähnlich wie wir verließ er im Sommer nicht die Stadt, um in die Ferien zu fahren, und wir sahen ihn oft auf der Wiese beim Wald von Brętowo oder am Bach im Tal der Freude, wenn er mit einem Netz und einem Insektenatlas Schmetterlingen nachjagte. Und wenn er nicht auf fliegende Geschöpfe Jagd machte, ging er gebeugt, den Blick auf die Erde geheftet und hielt ständig an, riß irgendein Kraut aus und flüsterte »Menyanthes trifoliata!« oder »Viola tricolor!« und packte das Kraut in eine Papptasche, die er statt des geflickten Netzes bei sich hatte. M. bereitete ein Werk vor über die Flora und Fauna der Wälder, die sich an der südlichen Grenze der Stadt entlang bis nach Gdynia zogen, und in denen einst Friedrich der Große höchst persönlich gejagt hatte. Sicher aus diesem Grunde schnappte und sammelte er alles, was in seiner Sichtweite wuchs und sich bewegte. Aber er war zum Glück kurzsichtig, und dieser Umstand rettete einer Menge von Gräsern, Blättern, Käfern, Fliegen und anderem Kleinzeug das Leben. Ja, in jenem heißen Sommer, als Weiser uns Zutritt zu seinen Geheimnissen oder, besser gesagt, zu seinem Leben gewährte, nur teilweise übrigens und soweit er es wollte, in jenem Sommer begegnete M. uns mehrmals in der Nähe des Schießplatzes, in Bukowa Górka, beim Friedhof von Brętowo und im Tal der Freude. Seine vorstehenden Fischaugen, losgerissen vom Himmel oder von der Erde, beobachteten uns verstohlen, und man wußte nie so recht, ob er einen nicht als unentbehrliches Exemplar der hiesigen Fauna für sein Jahrhundertwerk mitnehmen wollte. Außerhalb der Schule und des Marsches am Ersten Mai waren wir für ihn zweifellos eine Art besonders lästiger 21
Insekten, was an seinem kalten, leeren Blick zu spüren war. Ich hatte Angst vor diesem Blick, eben vor ihm hatte ich Angst – nicht vor dem Tanzenlassen, dem Rüsselziehen, dem Griffelklopfen oder anderen, noch schmerzhafteren und ausgesuchteren körperlichen Strafen, die er in seinen Unterrichtsstunden anwandte. In einem bestimmten Moment dachte ich auch, während ich Szymeks gerötetes Ohr betrachtete, M. könne mit seinem Blick wen immer er wollte in ein Insekt verwandeln, und ich stellte mir schon vor, wie mir ein stahlgrüner Chitinpanzer wuchs und meine schrumpfenden Hände sich in eine riesige Zahl von behaarten Füßen verwandelten. Das war furchtbar, hundertmal schlimmer als die Angst vor dem Schmerz, Szymeks gerötetes Ohr oder die Untersuchung, diese unbekannte Größe.
In den ersten Julitagen schien die Konzentration der Fischsuppe in der Bucht ihren Höhepunkt zu erreichen. Am Meer hatten wir nichts zu suchen, wir mußten unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten. Und das ist das erste Kapitel eines Buches über Weiser, das nie jemand von uns geschrieben hat und nie jemand schreiben wird, denn das, was ich jetzt tue, ist keineswegs das Schreiben eines Buches, sondern das Ausfüllen eines weißen Flecks, das Zustopfen eines Lochs mit Zeilen – zum Zeichen der endgültigen Kapitulation. Ja, das erste Kapitel dieses nicht geschriebenen Buches beginnt mit der Fischsuppe in der Bucht und mit unseren Spielen auf dem Friedhof von Brętowo, wohin wir – statt an den Strand – seither gingen und wo wir im Dickicht der Haselsträucher und Erlen, in der Stille der verlassenen Gräber und zersprungenen Platten mit deutschen Inschriften unsere Kriege entschieden. Szymek führte eine Abteilung der SS an, 22
seine abstehenden Ohren bedeckte ein in einem Graben gefundener verrosteter Wehrmachts-Stahlhelm, Piotr befehligte eine Partisanenabteilung, die, ständig verfolgt, dezimiert, eingekreist und in die Knie gezwungen, immer wieder neu erstand, um die nächsten Fallen vorzubereiten. Wenn Szymek und die seinen uns gefangen nahmen, hoben wir genau wie im Film die Hände hoch, marschierten genau wie im Film, die Arme im Nacken verschränkt, und fielen genau wie in den Filmen über den richtigen Krieg, die in unserem Kino »Tramwajarz« liefen, von den Maschinenpistolen niedergemäht in den richtigen Graben am Rande des Friedhofs, dort, wo der Kiefernwald begann. Und wenn ich mich mit dem Gefühl einer gewissen Befremdung daran erinnere, mit welcher Begeisterung und welcher Sachkenntnis wir in jenen Graben fielen, mit welcher Erregung wir auf den Moment warteten, da Szymeks Hand das Zeichen zur Eröffnung der Exekution gab, dann weiß ich, daß wir all dies eben dem Kino »Tramwajarz« verdankten, das unweit der Schule lag, neben dem Straßenbahndepot, wo die Vorführungen für die Jugend stattfanden, die uns mit der Geschichte unseres Vaterlandes vertraut machen sollten. Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag, nach welchem Gefecht, nach welcher Schlacht und Gefangennahme wir mit erhobenen Händen den Läufen der SS-Maschinenpistolen gegenüberstanden und darauf warteten, daß unter Szymeks verrostetem Helm hervor das Kommando »Feuer!« ertönte, als wir plötzlich Weiser auf einer Kiefer erblickten – Weiser, der vielleicht all die Tage unser Spiel beobachtet hatte. Eigentlich hörten wir zuerst seinen Schrei – den Schrei, der an Szymek gerichtet war und das Kommando aufhielt, und dann sahen wir ihn auf der Kiefer. Er saß da und hielt eine alte, ramponierte Schmeisser, mit der er weit weg auf den Turm eines Backsteinkirch23
leins zielte, und schaute uns an, genau so wie an Fronleichnam, als er plötzlich hinter einer grauen Weihrauchwolke auftauchte. Unten an dem Baum, an den Stamm gelehnt, stand Elka. Sie sagte nichts, aber man sah, daß sie zu ihm gehörte, nicht zu uns. Diesmal hörten wir also nicht das anhaltende tack-tack-tack-tack, bei dem man zuerst auf die Knie fallen mußte, und dann – wie es sich ergab – rücklings, auf die Seite oder auf den Bauch, mit dem Gesicht ins Gras, denn Weiser sprang von der Kiefer herunter und ging auf den wie vom Blitz getroffenen Szymek zu. Heute, wie auch damals, als ich im Sekretariat der Schule auf dem Klappstuhl neben Szymek, dann Piotr, dann wieder neben Szymek saß und darauf wartete, daß ich mit dem Verhör an die Reihe kam, heute, genau wie damals, gäbe ich viel dafür, wenn ich mich an Weisers Worte auf dem Friedhof erinnern könnte, denn im Grunde waren es seine ersten direkt an uns gerichteten Worte. Szymek, brieflich danach befragt, gab mir keinerlei Antwort; er geht, mit seinen Angelegenheiten in einer fernen Stadt beschäftigt, den mit der Erinnerung an Weiser verbundenen Dingen offensichtlich aus dem Weg. Elka, die sich am besten daran erinnern müßte, ist Deutsche geworden und beantwortet aus Mannheim keine Fragen, und Piotr ging 1970 auf die Straße um zu sehen, was los war, und wurde von einer ganz echten Kugel getroffen. Ja, ich bin überzeugt, daß mit jenen Worten das nicht geschriebene Buch über Weiser beginnen müßte… Er sprang also von der Kiefer, ging auf Szymek zu, die vom Rost zerfressene, ramponierte Schmeisser in der Hand, und sagte: »Laß das, ich mach das besser.« Oder: »Überlaß das mir.« Oder kürzer noch: »Ich mach das.« Nur daß Weiser nichts dergleichen sagte, nichts dergleichen sagen konnte, denn die Schmeisser wanderte in Szy24
meks Hände, und er selbst ging mit Elka den Pfad hinunter zu dem kaputten Friedhofstor, als wäre er nur gekommen, um uns die Maschinenpistole dazulassen und sich dann ernsthafteren Dingen zuzuwenden. Die Exekution fand nicht statt. Wir bildeten einen Kreis um Szymek, und jeder wollte, wenn auch nur einen Augenblick lang, das nutzlose Stück altes Eisen in der Hand halten, das Eindruck machte. Ja, in diesem Moment war Weiser für uns noch nicht das Wichtigste, wir stritten uns vielmehr darum, welche Partei die MP haben sollte. Ich war in Piotrs Abteilung und wollte natürlich, daß wir sie bekamen, denn die anderen hatten den Helm. Schließlich legten wir eine neue, spannendere Art des Kriegsspiels fest. Von da an tauschte Piotr nach jeder Schlacht mit Szymek die Maschinenpistole gegen den Helm aus oder umgekehrt, und so waren wir einmal Deutsche, wenn unser Anführer den Helm aufsetzte, und das nächste Mal jagten wir, in Partisanen verwandelt, mit der MP in der Hand zwischen den überwucherten Gräbern umher. Ich glaube, Weiser hatte von Anfang an einen Plan, uns mit seinen Einfällen zu umgarnen, ganz von Anfang an muß er einen geeigneten Augenblick abgewartet haben, um uns wie an Fronleichnam oder auf dem Friedhof von Brętowo völlig zu verblüffen. Denn in der ersten Zeit, als wir weder von dem Keller in der alten Ziegelei noch von den im Tal hinter dem Schießplatz vorbereiteten Explosionen, noch von seiner Sammlung von Briefmarken aus dem Generalgouvernement wußten, in jener Zeit, als wir nichtsahnend zwischen den Gräbern des Friedhofs von Brętowo umherjagten, tauchte er auf und verschwand, wie jemand verschwindet, von dem man zufällig geträumt hat und den man später nicht vergessen kann, obwohl einem seine Gesichtszüge, seine Worte und seine Art sich zu verhalten völlig aus dem Gedächtnis geschwunden sind. 25
Er ließ die Erinnerung an sich ganz unmerklich in uns einsickern, und in den folgenden Tagen, wenn wir im Staub des sandigen Weges über Bukowa Górka nach Hause gingen, meist gegen Abend, in den roten Strahlen der untergehenden Sonne, begannen wir, über ihn zu reden. Anfangs eigentlich mehr zufällig und ohne direkten Zusammenhang mit der Weihrauchwolke und der verrosteten Maschinenpistole, einfach so, laut und scherzhaft Fragen stellend: Was macht er eigentlich, wenn er nicht mit uns spielt? Oder: Warum läuft diese blöde Elka ihm jetzt nach wie ein Hund, und auf uns schaut sie von oben herab wie auf eine Bande von Grünschnäbeln? Und warum hat er uns eigentlich die verrostete Maschinenpistole gegeben? Denn schließlich hätte sich keiner von uns Jungs für keinen Schatz der Welt freiwillig von solch einem Fund getrennt. Aber das war noch nicht das, was uns später beherrschte, als der Gedanke an ihn uns nicht mehr einschlafen ließ und wir ganze Stunden damit verbrachten, ihm und Elka nachzuspüren. Vorläufig stank die Fischsuppe in der Bucht immer mehr, und jeden zweiten Tag fuhr einer von uns nach Jelitkowo, um zu sehen, wie die Sache stand.
Ich schaute Szymek an. Sein abstehendes Ohr war nicht mehr so furchtbar rot, und es schien sogar wieder ein wenig seine ursprünglichen Maße angenommen zu haben. Zwischen uns saß jetzt der Hausmeister, und durch das angelehnte Fenster des Sekretariats drangen die trägen Geräusche des Septembernachmittags, die Schritte von Passanten mischten sich mit Kindergeschrei, und die Sonne ließ die roten Dachziegel des Gebäudes aufleuchten, das auf der anderen Seite der Straße lag. Alle Häuser in unserem Teil Wrzeszczs hatten diese roten Dachziegel, an einem Nachmittag wie diesem also, im Spätsommer, wenn 26
die Sonne besondere Eigenschaften hat, mußte das von Bukowa Górka aus am interessantesten aussehen, dachte ich, von dort aus konnte man außer den roten, steilen Dächern den Flugplatz sehen, der hinter den Eisenbahngleisen lag, und die Bucht mit dem weißen Streifen des Strandes. Jedesmal, wenn wir dort auf der Anhöhe standen, erschien unsere Stadt uns völlig anders als die, in der wir Tag für Tag lebten. Damals wußte ich nicht weshalb, heute aber, da es weder Bukowa Górka noch Weiser, noch jenes Jelitkowo gibt, heute glaube ich, daß man von dort oben einfach die schmutzigen, verdreckten Höfe nicht sah, die nicht geleerten Mülleimer und die ganze Häßlichkeit der Vorstadt, deren Symbol der graue, verstaubte Laden Cyrsons war, in dem wir die Limonade in Flaschen kauften, die die Erwachsenen Kracherl nannten. Statt des Panoramas, das sich von Bukowa Górka aus bot, sah ich also das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes, über das die Sonnenstrahlen in immer kürzerem Zickzack glitten, und das angelehnte Fenster im Dachzimmer, in dem der Wind sanft den Vorhang blähte. Die Uhr im Sekretariat schlug fünf, und einen Augenblick darauf hörte ich die mir wohlbekannten Klänge des Klaviers, mit denen die Musiklehrerin die nachmittägliche Chorprobe begleitete. Zuerst kam das Vorspiel, doch gleich darauf ließen sich aus dem ersten Stock immer lauter die Takte des historischen Massenlieds oder des historischen Lieds für die Massen oder des historischen Volkslieds – ich weiß nicht mehr, wie das damals hieß – vernehmen: »Oh Ehre Euch, Ihr Herr’n Magnaten, für Eure Knechtschaft, Eure Fesseln, oh Ehre Euch, Ihr Fürsten und Prälaten, die Ihr Euch für das Vaterland mit Bruderblut befleckt!« Das war der Refrain, der mehrmals wiederholt wurde, ähnlich wie der Anfang des Liedes, der genauso erhaben und pathetisch klang: »Als das Volk mit Waffen in den Kampf zog, 27
berieten sich die Herren über ihren Zins.« Niemals konnte ich verstehen, weder während der Feierlichkeiten in der Schule noch während des Gesangsunterrichts, wo wir dieses Lied Dutzende von Malen singen mußten, bis zum Überdruß, was die Fesseln und die Knechtschaft mit den Prälaten zu tun hatten, oder um welchen Zins es ging, als das Volk in den Kampf zog, das heißt, was der Zins mit dem Kampf zu tun hatte. Und warum man hier überhaupt die Herren verantwortlich machen mußte, da es doch schon lange keine Herren mehr gab, und wenn doch, dann bestimmt nicht in unserer Stadt und in unserem Land. Nun, heute brauche ich darüber zum Glück nicht mehr nachzudenken, doch die Melodie blieb mir fast vollkommen im Gedächtnis haften, und wenn sie durch irgendeinen seltsamen Zufall zu mir zurückkehrt, dann nie im Zusammenhang mit den Prälaten, den Feierlichkeiten in der Schule oder der Dame vom Gesangsunterricht, sondern immer zusammen mit dem Licht des Septembernachmittags, als ich im Sekretariat unserer Schule saß und darauf wartete, daß ich mit dem Verhör an die Reihe kam, zusammen mit dem Anblick des leise von einem Windhauch bewegten Vorhangs, zusammen mit Weiser und der fünften Stunde, die die Wanduhr eben mit sanftem Gong geschlagen hatte – ein Klang, der an die Glocke erinnerte, die Pfarrer Dudak bei der Wandlung ertönen ließ. Szymeks Ohr sah wieder ganz normal aus, als M. die Tür des Direktorzimmers öffnete und Piotr herausließ. Ich war an der Reihe. Der Schulgeruch, der Geruch von gebohnerten Böden, schwer und ölig wie die Ewigkeit, den ich heute noch in Erinnerung habe, vermischte sich im Zimmer des Direktors mit Tabakrauch und dem Duft des Kaffees, den die drei Männer, die uns verhörten, tranken. Nur M. rauchte nicht und zupfte dafür am Ärmel seines Hemds. 28
»Du behauptest also, Heller«, sagte der Mann in der Uniform zu mir, denn so hieß ich damals, »du behauptest, daß ihr Weiser und Elka am achtundzwanzigsten August zum letzten Mal gesehen habt, im Tal hinter dem alten Schießplatz, ja?« »Eigentlich ja«, antwortete ich und gewann an Sicherheit. »Was heißt eigentlich?!« »Weil wir sie nachher nicht mehr aus der Nähe gesehen haben.« »Heißt das, daß ihr sie am nächsten Tag noch auf irgendeine andere Weise gesehen habt? Was heißt das – nicht aus der Nähe?!!« »Nein, am nächsten Tag haben wir sie überhaupt nicht mehr gesehen.« M. bewegte sich in seinem Sessel: »Na, dann erzähl uns genau der Reihe nach, was an jenem Nachmittag passiert ist. Aber verdreh bloß nichts, denn vor uns kannst du ohnehin nichts verbergen!« Ich redete, bemüht, M. nicht in die Augen zu sehen. Ich sprach langsam und ruhig, mit dem sicheren Gefühl, daß sie ohnehin nicht auf die richtige Spur kämen, daß sie sich im Kreise drehen würden, bis sie endlich Ruhe gäben. »Weiser ordnete wie immer an, wir sollten beim Lärchenwäldchen warten, und als er sah, daß wir da waren, ging er durch das Tal, und dann winkte er zum Zeichen, daß wir uns hinlegen sollten. Gleich darauf bebte die Erde von der Explosion, und auf unsere Köpfe rieselten Sand, Kies und Holzstückchen.« »Und dann?« »Dann hoben wir die Köpfe, wie nach jeder Explosion, und warteten, daß er das nächste Zeichen gab, das heißt, das Signal, daß wir jetzt wieder dahin gehen konnten, wo 29
die Sprengladung gelegen hatte, aber an diesem Tag gab es solch ein Signal nicht. Plötzlich sahen wir, wie die beiden dort gingen, ganz wie Erwachsene, untergehakt, das heißt Weiser und Elka. Die beiden gehen also da, aber sie kommen nicht auf uns zu, sondern gehen auf die andere Seite des Tals, dorthin, wo die alte Eiche steht, und sie drehen sich kein einziges Mal um, sondern klettern immer höher den steilen, mit Buchen bewachsenen Hang hinauf, erreichen den höchsten Punkt und verschwinden. Und wir stehen jetzt, weil wir inzwischen zu der Stelle der Explosion gegangen sind, vor dem riesigen Trichter und sehen, daß das nicht irgend etwas war – der Trichter ist gewaltig, wie von einer Bombe. Wir stehen also da und bewundern sein Werk, untersuchen die Tiefe der Grube, die Weite des Radius, und wie immer riechen wir an der frisch aufgeworfenen Erde, die voll ist von verrückt gewordenen Ameisen und zerfetzten Regenwürmern, und plötzlich zeigt jemand auf den Hügel und ruft: ›Schaut mal, da!‹ Und wir sehen Weiser und Elka. Wir sehen, wie sie auf dem Gipfel des Hügels stehen und hinter den Bäumen verschwinden, aber wir rennen ihnen nicht nach. Und so«, sage ich, »haben wir sie zum letzten Mal von weitem gesehen, in dem Tal hinter dem Schießplatz, und am nächsten Tag begann dann die Suche, und man fand in den Kellerräumen der stillgelegten Ziegelei Weisers Magazin, von dem wir nicht einmal wußten, daß es existiert, denn Weiser war eifersüchtig auf seine Geheimnisse. Wir wußten nichts von den Dosen mit TNT, von den entschärften Blindgängern, von den Explosivgeschossen, denn wir hatten ihn nie gefragt, woher er das Material für seine Minen hatte, und im übrigen, selbst wenn wir ihn gefragt hätten, hätte einer wie er auch nur ein einziges Wort gesagt? Bestimmt nicht, nur Elka konnte von dem Magazin wissen, und wenn es noch ein anderes gab, wovon wir natürlich 30
auch keine Ahnung hatten, wenn es noch ein zweites Magazin gab, dann wäre die einzige Person, der Weiser sein Geheimnis anvertraut hätte, eben Elka gewesen, und vielleicht hat er sie deshalb mitgenommen.« Sie hörten sich, was ich sagte, mit scheinbarer Gleichgültigkeit an. Der Direktor lockerte seine Krawatte, die jetzt eher an einen feuchten Umschlag gegen Halsentzündung erinnerte. Der Mann in der Uniform schlürfte den Rest des Kaffees aus dem Glas mit dem Blechhalter, und M. trommelte mit den Fingern auf die glänzende Schreibtischplatte. Er schaute mich nicht an, sondern blickte über mich hinweg, zur Wand. »Das wissen wir alles schon«, schrie er plötzlich, »und auch ohne eure Hilfe, aber warum lügt einer von euch oder ihr alle miteinander und jeder für sich?« »Ja«, unterbrach ihn der Direktor, »einer deiner Kameraden hat angegeben, daß ihr am Tag darauf noch an der Strzyża gespielt hättet, hinter der gesprengten Brücke, die beiden haben also die ganze Nacht außer Haus verbracht, und ihr habt alle davon gewußt, und ihr habt auch gewußt, wo sie zu finden waren!!!« »Das ist kein Spaß, Junge«, schaltete sich der Uniformierte ein, »wenn ein Blindgänger sie zerrissen hat, werdet ihr euch wegen Mitwirkung bei einer Straftat zu verantworten haben, und in der Besserungsanstalt wird man euch schon Vernunft beibringen!!!« »An der Strzyża haben wir einen Tag davor, nicht einen Tag danach gespielt«, sagte ich und spürte, wie leicht mir die erste Lüge, die ich zum Nutzen der beiden in die Welt setzte, über die Lippen ging. »Mein Freund muß da etwas verwechselt haben.« Und jetzt schrien sie alle durcheinander, drohten, stellten Fragen, erklärten, wir kämen nicht heraus, ehe die Sache 31
nicht vollständig aufgeklärt sei, und sie hätten unsere Eltern schon von dem Verhör verständigt, wir bekämen weder etwas zu essen noch zu trinken und würden hierbleiben, bis wir die ganze Wahrheit offenbart hätten. Sie versicherten mir durchaus überzeugend, daß sie bereit seien, bis zum Morgen hier mit uns zu sitzen, oder noch länger, und falls jemand das zweite Magazin fände (von dem sie übrigens noch weitaus Schlimmeres erwarteten) und ein Unglück passiere, dann würden wir auch dafür zur Verantwortung gezogen werden, es sei also besser, sofort zu gestehen. Ich wußte genau, sie würden nichts verstehen, deshalb wiederholte ich das gleiche wie zuvor. M. erhob sich vom Sessel, kam im Marschschritt, als wäre dies eine Kundgebung zum Ersten Mai, auf mich zu, ergriff meine Stupsnase mit zwei Fingern und fragte, ob ich Weiser in dem Tal wirk-lich zum letzten Mal gesehen hätte. Ich bejahte und spürte, wie meine Nase zwischen seinen fetten Fingern langsam platt wurde. Aber es war nicht das gewöhnliche Rüsselziehen, das M. im Biologieunterricht anwandte. Wenn ich mich heute an diesen Moment erinnere, würde ich es als Rüsselziehen mit einer speziellen Schraube bezeichnen, denn zuerst mußte ich mich langsam erheben, und dann stand ich immer höher auf den Zehenspitzen, völlig auf den Zehenspitzen und wunderte mich, daß ich noch nicht in der Luft hing. Unterdessen verlegte M.s Hand den Schwerpunkt meines Körpers bald nach links und bald nach rechts, so daß ich den Bruchteil einer Sekunde lang mit dem ganzen Fuß auf dem Boden stehen mußte, um seiner Hand nachzukommen, und dann tat die Nase jedesmal furchtbar weh und wurde noch mehr zur Stupsnase als all die Jahre seit meiner Geburt, und M. wiederholte seine Frage langsam, jede Silbe betonend: »Wirk-lich zum letz-ten Mal?« Schließlich ließ er mich langsam los, und ich taumelte an die Wand und mußte mit 32
dem Ärmel das Blut abwischen, denn meine Nase war schon immer empfindlich und wenig widerstandsfähig gegen Quetschungen. Im Direktorzimmer wurde eine Pause angeordnet, wir saßen also wieder zu dritt beieinander, auf den Klappstühlen im Sekretariat, und mir schien, als hörte ich den im Chor skandierten, an Weiser adressierten Vers, wie damals, als die Religionszeugnisse ausgegeben wurden und später Weisers kariertes Hemd durch die Luft flog und Elka ihn verteidigte, und jemand, nicht unbedingt von vorn, rief: »Weiser Dawidek bleibt bei uns in Reli weg!« und jemand anders das sogleich aufgriff und rief: »Dawid, Dawidek, Weiser ist ein Itzig!« Und ich dachte auch, daß wir, wäre Elka nicht gewesen, Weiser nie näher kennengelernt hätten, denn dann hätten wir ihn damals, bei der Auferstehungskirche, gebrezelt, und damit wäre die Sache erledigt gewesen, ganz einfach und banal. Weiser hätte unsere Gesellschaft gemieden, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, unsere Spiele auf dem Friedhof von Brętowo zu beobachten und uns die alte, verrostete Maschinenpistole zu schenken, die von Hugo Schmeisser konstruiert und im Jahre 1943 von der Firma Haenel hergestellt worden war, und der Sommer dieses Jahres hätte sich nicht von anderen Ferien, weder von früheren noch von späteren unterschieden. Ja, als Elka damals von ihren Krallen Gebrauch machte, um Weiser zu verteidigen, muß sie etwas geahnt haben, davon bin ich bis heute überzeugt, zumal sie sich sonst nie in unsere Kämpfe und Streitereien einmischte, bei denen wir grausamer noch als die Erwachsenen waren. Damals aber stürzte sie sich auf uns, als wäre Weiser ihr jüngerer Bruder, und die Wirkung dieses Manövers war verblüffend – wir ließen die beiden widerspruchslos gehen, und das durchaus nicht aus Angst vor ihren Krallen. 33
Liebte sie ihn?! So dachte ich, während ich mit geschwollener Nase im Sekretariat saß und man im Direktorzimmer die nächste Runde des Verhörs vorbereitete. Damals nahm ich es an, als ich mir ihre frühzeitig gerundete Brust vorstellte, ihr langes blondes Haar und das rote Kleid, das sie an heißen Tagen trug. Heute dagegen weiß ich, daß ich nicht recht hatte, obwohl es mir so noch schwerer fällt, das Verhältnis der beiden von dem Moment an, als sie, von unseren Steinen getrieben, am Zaun der Kirche entlanggingen, genauer zu bestimmen. Früher hatte Elka deutlich Verachtung gegenüber denjenigen gezeigt, die nicht bis zur roten Boje schwammen, nicht vom oberen Steg der Mole einen Kopfsprung machten, oder es nicht verstanden, den Ball gezielt abzugeben, wenn wir auf dem Rasen bei der preußischen Kaserne spielten, – bis plötzlich der dünne, etwas gebeugte Weiser ein sehr wichtiger Mensch für sie wurde und sie sich mit ihren Krallen auf uns stürzte. Ausgeschlossen, daß sie sich im Bruchteil einer Sekunde geändert hatte. Sie muß gespürt haben, was wir ein paar Wochen später spüren sollten, als wir Weiser im Keller der alten Ziegelei erblickten und eine Gänsehaut bekamen, als liefe uns elektrischer Strom durch den ganzen Körper. Aber ich muß die Fakten ordnen. Ja, ich schreibe weder ein Buch über Weiser noch über uns, noch über unsere Stadt in jener Zeit, noch über die Schule, und noch viel weniger über M. und die Epoche, in der er der wichtigste Mensch nach dem Direktor war – das geht mich nichts an. Und wenn ich beschlossen habe, alles niederzuschreiben, mir den Geruch jenes Sommers ins Gedächtnis zu rufen, als die Fischsuppe die Strände der Bucht füllte, dann nur um Weisers willen. Eben das zwang mich zu meiner Reise nach Deutschland, und eben das veranlaßt mich nun, alles von Anfang an aufzuschreiben, ohne auch nur das kleinste 34
Detail auszulassen. Denn in solchen Fällen erweist sich eine Kleinigkeit manchmal als Schlüssel, der Tore öffnen kann, und jeder, der auch nur ein einziges Mal mit etwas so Unerklärlichem in Berührung gekommen ist, weiß das genau. Also: Die ersten Julitage vergingen, die Stadt schien, ihrer Bucht beraubt, in der Hitze und Schwüle kaum mehr zu atmen, und die Fischsuppe wurde dicker und dicker und brachte die städtischen Behörden immer mehr in Verlegenheit. Anfangs hoffte man, diese sonderbare Epidemie werde von allein wieder vergehen, und tat nichts. Dann unternahm man irgendwelche Schritte, jedenfalls tummelten sich am Strand von morgens an Männer mit Holzrechen wie zur Heuernte und häuften damit Berge von Fischleichen auf, die dann mit Lastwagen zur örtlichen Müllhalde gefahren, mit Benzin übergossen und verbrannt wurden. Dieses Unternehmen hatte jedoch eine andere als die gewünschte Wirkung – die Zahl der toten, in der Sonnenhitze aufquellenden Stichlinge nahm noch zu, und die Zeitungen berichteten über ein Massensterben von Katzen und Hunden in den an die Bucht grenzenden Stadtvierteln. Man erinnerte auch daran, daß seit zwei Monaten, das heißt, seit Anfang Mai, kein Tropfen Regen mehr gefallen war, was die älteren Leute bereitwillig als Strafe Gottes deuteten. Und wir fegten zu dieser Zeit über den Friedhof von Brętowo, im Besitz des Helms und des Maschinengewehrs, das Weiser uns geschenkt hatte, und fielen abwechselnd als Deutsche und als Partisanen durch die Kugeln, genau wie in den Kriegsfilmen, die im Kino »Tramwajarz« gezeigt wurden. Nur manchmal kam es uns in den Sinn, uns zu fragen, warum Elka nicht mit uns spielte, und auch, was sie eigentlich an dem dünnen und schwächlichen Weiser fand, mit dem sie ganze Tage in verschiedenen Teilen der Stadt herumstrich. Jemand hatte 35
sie in der Altstadt am Neptunbrunnen gesehen, ein anderer wollte seine Hand dafür ins Feuer legen, daß Weiser und Elka meistens auf der Wiese am Flugplatz saßen, ein andermal wiederum hatte Piotr beobachtet, wie sie, über Brętowo hinaus, zu der gesprengten Brücke gingen, wo die Strzyża unter dem Bahndamm hindurchfließt, über den seit dem Krieg kein Zug mehr fuhr. Aber wir schenkten diesen Nachrichten keine besondere Beachtung. Jeden Morgen setzte sich einer von uns in die Straßenbahn und fuhr nach Jelitkowo, um zu sehen, wie es mit der Fischsuppe stand, ob sie nicht allmählich dünner wurde, und stieß dann auf dem Friedhof hinter Bukowa Górka zu uns, um zu berichten, daß der Gestank am Strand noch größer war, und Schwärme von Schmeißfliegen, groß wie Heuschrecken, über der Suppe in der Bucht hingen. Im Schatten der Friedhofsbäume war es angenehmer als im Hof oder auf der Straße. Eines Tages entdeckten wir bei der Krypta mit der gotischen Inschrift einen Mann in Schlafanzug und Krankenhausbademantel. Er saß auf einer Platte und murmelte vor sich hin, ganz so, als sagte er Horen auf. Er zeigte keinerlei Beunruhigung, als wir einen Kreis um ihn bildeten, und wies mit einer Handbewegung dorthin, woher er gekommen war – er war aus dem Irrenhaus geflohen, das sich auf der anderen Seite der aus der Stadt hinausführenden Landstraße als rotgrauer Klotz auf dem Hügel türmte. Piotr riet als einziger, wir sollten zum Krankenhaus gehen und sagen, wo der sicherlich gesuchte Flüchtling sich aufhielt, aber noch keiner von uns hatte einen richtigen Verrückten gesehen, und so wollten wir uns davon überzeugen, ob es stimmte, was Pfarrer Dudak in seinen feurigen Predigten von den Wahnsinnigen, die sich von Gott lossagten, erzählte. Denn Pfarrer Dudak sagte in unserer Auferstehungskirche, die, ähnlich wie die beim Friedhof in 36
Brętowo, unweit des Waldes lag, Pfarrer Dudak sagte genau wie die alten Leute, die Suppe in der Bucht und die Dürre seien Zeichen Gottes. »Bessert euch, solange noch Zeit ist!« hatte er am vergangenen Sonntag von der Kanzel gerufen. »Sagt euch nicht von Gott los, ihr Kleingläubigen, betet nicht zu falschen Propheten oder Götzenbildern, denn Er wird sich von euch abwenden. Seid nicht wie jene Wahnsinnigen, die nur auf ihre eigene Kraft bauen und die Welt neu errichten wollen. Und ich frage euch, was ist das für eine Welt, in der der Glaube verschwindet? Was ist das für eine Welt, in der man nicht Ihm, dem Schöpfer und Erlöser, die höchste Ehre erweist? Ich warne euch, schenkt den Wahnsinnigen keinen Glauben, kehrt um und tut Buße, solange noch Zeit ist. Ihr seht selbst, daß Gott euch ein Zeichen seines Zorns gegeben hat.« Mit solchen Worten erschreckte und beschwor Pfarrer Dudak seine Pfarrkinder abwechselnd in feurigem Stil, und wir verstanden damals, daß es Wahnsinnige gab, deretwegen wir in jenem Sommer nicht in Jelitkowo baden konnten, und wir wollten herausfinden, wie solch ein Wahnsinniger aussah. Da sich nun die Gelegenheit bot, da der Zufall uns einen Mann im Krankenhausbademantel auf den Friedhof geschickt hatte, überschrieen wir Piotr und liefen nicht nach Srebrzysko, um den Flüchtling zu denunzieren, sondern standen um ihn herum und betrachteten neugierig sein faltiges Gesicht und die ausgetretenen Hausschuhe, in denen er vom Krankenhaus zu dem verlassenen Friedhof geflohen war. Aber wenn das ein Wahnsinniger war, dann bestimmt nicht von der Sorte, gegen die Pfarrer Dudak von der Kanzel wetterte. Er sagte nichts, und Szymek, der Mutigste von uns, setzte ihm den verrosteten Helm auf den Kopf. Da ließ der Mann durch eine Handbewegung erkennen, daß er gern unsere ramponierte Maschinenpistole anschauen wolle, 37
und als er dann die Schmeisser in den Händen hielt, stellte er sich auf die Krypta, richtete den Lauf in die Höhe und begann mit schöner, weithin vernehmbarer Stimme zu sprechen: »Brüder! In meinen Ohren ist das Wort des Herrn, höret daher die Worte, die ich Euch zum Zeugnis gebe! Siehe, der Herr macht die Erde leer und wüst und wirft um, was auf ihr ist, und zerstreut ihre Bewohner. Die Erde wird leer und beraubt sein, denn der Herr hat solches geredet. Das Land verdorrt und verwelkt, alle Völker auf Erden verschmachten. Die Erde ist entweiht von ihren Bewohnern; denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote und brechen den ewigen Bund!« Wir verstanden nicht so recht, worum es in diesen Worten ging, doch sie waren so mitreißend und erhaben, daß wir dem Mann im Schlafanzug mit angehaltenem Atem zuhörten und völlig vergaßen, daß er ein Verrückter war, der aus dem Irrenhaus von Srebrzysko geflohen war. Und er hob die Hände in die Höhe, schüttelte dabei unsere Maschinenpistole, stellte sich auf die Zehenspitzen, als wollte er noch höher stehen, und die Schöße seines schmutzigen Bademantels erinnerten an große gelbe Flügel, mit denen er über Bukowa Górka hinaus oder noch weiter hätte fliegen können, wenn er nur gewollt hätte. »So wird gebeugt der Mensch«, sprachen die gelben Flügel weiter, »und gedemütigt der Mann, und die Augen der Hoffärtigen werden erniedrigt. Darum frißt der Fluch die Erde und büßen müssen’s, die darauf wohnen. Darum nehmen die Bewohner der Erde ab, so daß wenig Leute übrigbleiben. Bis auf Euch aus der Höhe der Geist ausgegossen wird, und die Wüste sich in fruchtbares Feld verwandelt und das fruchtbare Feld für Wald gehalten wird!« Wenn ich mich heute an diese reine, tiefklingende Stimme erinnere, zweifle ich nicht daran, daß der einzige, der 38
damals die Worte des gelbgeflügelten Mannes verstanden hätte, Weiser gewesen wäre. Nur daß er damals nicht bei uns war, sicher saß er zu dieser Zeit mit Elka im Keller der stillgelegten Ziegelei, oder sie trieben sich irgendwo auf den trockenen Wiesen in der Umgebung des Flugplatzes herum. Wo immer er auch sein mochte, wir jedenfalls hörten gebannt zu. Unterdessen hatten sich die Flügel zusammengefaltet, der Mann sprang von der Gruft herab und führte uns, immer weitersprechend, über einen moosbewachsenen Pfad auf den morschen Glockenturm zu, der, wenngleich auf dem nicht mehr benutzten Friedhof gelegen, noch immer an Sonn- und Feiertagen dem Pfarrer der Kirche von Brętowo diente. »Heulet«, die Stimme des Mannes gewann jetzt doppelte Kraft, »denn des Herrn Tag ist nahe, er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen. Die angekündigte Vertilgung, sage ich, wird der Herr, der Herr der Heerscharen inmitten dieser ganzen Erde vollbringen. Was werdet Ihr tun am Tag der Heimsuchung und der Verwüstung, die von weit her kommt? Wenn man das Land ansehen wird, so ist’s finster vor Angst, und das Licht scheint nicht mehr über Euch!« Wir standen schon am Glockenturm, da legte er die MP auf den Querbalken, löste das Glockenseil und begann daran zu ziehen. Bei den ersten Klängen des Erzes vernahmen wir Worte, die noch viel schöner waren als die, die man in den Predigten Pfarrer Dudaks hören konnte: »Deshalb hat die Hölle ihren Schlund aufgetan und den Rachen über die Maßen aufgerissen.« Und jetzt sang der Mann im Bademantel unter den bezaubernden Klängen der Glocken von Brętowo – denn anders als in unserer Kirche gab es hier drei Glocken, nicht nur eine – sang, als wäre es der Refrain eines Liedes, unter den herrlichen Glockenklängen: »Wehe denen, die ungerechte Gesetze 39
beschließen, wehe denen, die ungerechte Gesetze beschließen.« Und wir standen um ihn herum, und einige von uns wiegten sich sogar im Rhythmus dieses Liedes, denn sicher war es ein Lied, wenn auch kein kirchliches, jedenfalls hatten wir es nie in der Kirche gehört, und auch kein Lied für die Massen, denn im Musikunterricht sangen wir nur Lieder für die Massen, und dieses war dort nie vorgekommen. Vielleicht hätten wir alle gleich in seine Worte und in seine ergreifende Melodie eingestimmt und es wäre so, wenn auch in einem eingeschränkten Sinne, ein Lied für die Massen daraus geworden, aber dies verhinderte der hinkende Küster, der auf uns zugehumpelt kam. Er näherte sich mit gefährlicher Geschwindigkeit und drohte mit geballter Faust in unsere Richtung. »Ihr Gottlosen«, schrie er, »könnt ihr nicht die heiligen Orte achten? Fort mit euch! Wenn ihr nicht gleich –« Und er beschleunigte seine Schritte, und sein weißes Meßhemd zeichnete sich immer deutlicher ab vor dem Hintergrund der Haselsträucher. Zusammen mit dem Gelbflügler ergriffen wir die Flucht in Richtung Bukowa Górka, doch der Küster war entschlossen, uns weiter zu verfolgen, bis zur Grenze des Friedhofs, die von den Betonfundamenten der schon lange nicht mehr existierenden Pfosten markiert wurde. »Lümmel«, schrie er noch lauter, »Barbaren«, drohte er mit der Faust. »Ihr habt hier nichts zu suchen.« Und er humpelte immer schneller. »Was fällt euch ein, die Ruhe der Verstorbenen zu stören!« Und als wir schon jenseits der Friedhofsgrenze waren, schoß plötzlich, zwischen den Kiefern, M. hervor, wie aus dem Boden gewachsen, in der einen Hand seine Tasche, in der anderen eine Pflanze. Von seiner Beschäftigung abgelenkt, schaute er uns mit seinen Fischaugen an. »Was gibt’s, Jungs? Seht ihr dieses Pflänzchen? Es ist schön, nicht wahr? Sag mir«, wandte er sich an mich, 40
»welcher Familie wird es angehören? Das weißt du nicht, was?« Er freute sich wie im Unterricht. »Es gehört der Familie der Compositae an, bei uns Korbblütler genannt, die erste Unterfamilie sind die Liguliflorae, bei uns Zungenblütler. Ja, das ist ein echter Bergwohlverleih – Arnica montana –, wächst auf Bergwiesen, und ich habe das Pflänzchen hier gefunden, unerhört, im Norden, in der Umgebung von Moränen! Blüht gewöhnlich im Juni oder Juli – und das stimmt!« M.s weitere Betrachtungen über diese außergewöhnliche Entdeckung wurden von dem Küster unterbrochen, der den Biologielehrer kannte und nicht zögerte, ihm scharfe Vorwürfe zu machen: »Sie müssen nicht mit den jungen Leuten die Ruhe der heiligen Orte stören, Sie Darwinist«, schnaubte er, »das ziemt sich nicht. Ich werde einen Brief an die Schuldirektion schicken und fragen, ob man um der Wissenschaft willen auf Friedhöfen herumlärmen muß.« »Ich bin hier, äh, mein Herr«, verhaspelte sich M., »ich bin privat hier, und die Jungs sind nicht mit mir hier.« »Nicht mit Ihnen«, ärgerte sich der Küster. »Was heißt das, nicht mit Ihnen, ich habe selbst gesehen, wie ihr zusammen das Glockenseil gezogen habt! Was sollen solche dummen Faxen? Kommt der Pfarrer vielleicht in die Schule und läutet während des Unterrichts? Nein! Also halten Sie sich von der Kirche fern!« Das war zuviel. M. lief rot an und stieß in einem Atemzug eine Flut von Drohungen und Warnungen aus, in denen sich Wörter wie »Provokation«, »Klerus«, »Jesuitismus«, »Obskurantismus« und »Rückständigkeit« häuften. Sodann warf er die Arnica montana in seine Tasche und ging davon, nachdem er gedroht hatte, falls er uns noch ein einziges Mal auch nur in der Nähe des Friedhofs zu 41
Gesicht bekomme, würden wir im nächsten Schuljahr nichts zu lachen haben. Der Küster entfernte sich ebenfalls, und erst jetzt bemerkten wir, daß der Gelbflügler fehlte, der die Verwirrung genutzt und sich aus dem Staub gemacht hatte. Schlimmer noch, er hatte den Wehrmachtshelm und die verrostete Schmeisser mitgenommen. An diesem Tag waren also weder Elka noch Weiser bei uns, und ich hätte eigentlich nichts darüber zu schreiben brauchen, hätte nicht an den Verrückten im Schlafanzug und gelben Bademantel erinnern, mit keinem Wort der drei Glocken des Friedhofs von Brętowo gedenken und auch nicht den Bergwohlverleih ins Gedächtnis rufen müssen mit seinem haarigen Stengel und seiner gelben, gespreizten Blüte. Aber in dieser Geschichte – mehr als in anderen, so scheint mir – gewinnen bestimmte Einzelheiten und Ereignisse erst aus einer entfernten Perspektive ihre Daseinsberechtigung, verbinden sich miteinander, und man kann sie nicht – wenn man an all das zurückdenkt – getrennt betrachten. Natürlich, wäre nicht der Gelbflügler gewesen, wären nicht die Glocken von Brętowo, M.s Drohungen gegen uns, wäre nicht die Arnica montana gewesen, dann hätte sich unsere Aufmerksamkeit nicht so sehr auf Weiser konzentriert, daß er es zu bemerken geruht hätte. Denn ich vermute, Weiser hat die ganze Zeit über wie ein erfahrener Jäger auf den Moment gewartet, in dem das Wild die Orientierung verliert – wenn der Wind von hinten weht und nicht in die Nüstern. Er prüfte einfach, mit den ihm bekannten Mitteln, unsere Bereitschaft. Am nächsten Tag gingen wir also nicht über Bukowa Górka nach Brętowo. Vom frühen Morgen an stand vor Cyrsons Laden eine lange Schlange von Limonadedurstigen. Die klebrigen Flaschen wanderten von Hand zu Hand, die Frau des Besitzers wog Äpfel und Gurken ab, und der Fliegenfänger, der von der Lampe des Ladens he42
rabhing, erinnerte an das haarige Bein einer Spinne. Im Hof hängte Frau Korotkowa Wäsche auf, wir wußten, daß ihr Mann, der auf der Werft arbeitete, an diesem Nachmittag stockbesoffen nach Hause kommen würde, denn es war Zahltag. Ähnlich übrigens wie unsere Väter, die in der Mehrzahl auf der Werft arbeiteten und in der Mehrzahl am Zahltag betrunken heimkamen – zu ihren Frauen und unseren Müttern, die wie Frau Korotkowa die Hände rangen, Szenen machten und ihre Qual und ihr Unglück vor das Antlitz des lieben Gottes trugen. Vorläufig aber erstickte die Sonnenglut jede Lebenslust. Frau Korotkowa durchmaß mit leerem Korb den Hof und erklärte, solch ein Wetter könne nichts Gutes bedeuten. Die räudige Katze leckte im Schatten des Kastanienbaums ihre Wunden, und über dem ganzen Viertel hing der schale Geruch der Fleischerei, die hinter Cyrsons Laden lag. Höchstens einmal in der Stunde rumpelte über das Katzenkopfpflaster unserer Straße irgendein Auto und wirbelte Wolken von Staub auf, die sich langsam wieder legten. Und plötzlich sahen wir Weiser und Elka durch die Hintertür des Hauses kommen; sie gingen durch den schäbigen, von der Sonne verbrannten Garten, zwischen den Reihen der gelb gewordenen Bohnen hindurch, die in diesem Sommer nicht einmal die Mitte der Stangen erklommen hatten. Sie gingen, Weiser sagte etwas zu Elka, und Elka lachte. Ich stieß Szymek in die Seite und bedeutete ihm, wir sollten ihnen nachgehen, aber Szymek hielt mich zurück. »Warte«, sagte er und lief nach Hause, um den französischen Feldstecher zu holen, den sein Großvater im Ersten Weltkrieg bei Verdun erbeutet hatte. Ich weiß nicht, ob er sich heute noch in Szymeks Besitz befindet, aber ich weiß noch, daß es ein Artilleriefeldstecher war, mit einer geeichten Skala in beiden Gläsern. Auch erinnere ich mich daran, daß er für uns ein Gegenstand des Verlangens und des Neides war, und deshalb 43
sicherlich brachte Szymek ihn nur selten von zu Hause mit, nur bei besonderen Gelegenheiten, wie zum Beispiel damals, als wir, ein Jahr zuvor, vom Dach des Hauses den Brand eines chinesischen Großfrachters beobachteten, der mit einer Ladung Baumwolle auf Nowy Port zuhielt. Elka und Weiser gingen an den Straßenbahngleisen bei der Endstation der Linie 12 vorbei und begaben sich auf die Pilotów-Straße in Richtung des Viadukts, der oberhalb der Eisenbahngleise das obere Wrzeszcz mit Zaspa verband und von dem aus man zu den Bahnsteigen hinunterging. Weiser und Elka blieben oben auf dem Viadukt stehen und blickten eine Weile zum Flugplatz hinüber. Vorläufig brauchten wir den in einem Lederfutteral stekkenden Feldstecher nicht, denn die beiden Gestalten auf dem Viadukt standen zwei Biegungen des an dieser Stelle steilen Weges höher als wir. Wir hatten uns hinter dem Zaun der Papierfabrik versteckt und sahen, wie Weiser etwas aus der Tasche zog und es Elka zeigte, und wie sie es in die Hand nahm und aufmerksam betrachtete. Der Schatten alter Ahornbäume bot uns eine gute Deckung, und selbst wenn irgend etwas an jenem Tag anders gewesen ist, als meine Erinnerung es aus der Vergangenheit zu fischen vermag, so ist der Schatten der großen Ahornbäume bestimmt das Wahrhaftigste auf der Welt. Die Ahornbäume mußten schon sehr lange an dieser Stelle gestanden haben, und als man die Holzlagerschuppen der Fabrik, die an der Pilotów-Straße lag, errichtet hatte, hatte man die Bäume nicht abgesägt, sondern Löcher für sie in den Schuppen gelassen. So standen wir im Schatten von Bäumen, die direkt aus dem Dach wuchsen. Szymek wurde langsam ungeduldig. »Was machen die da?« sagte er und wollte schon nach dem Feldstecher greifen, als die beiden in Richtung des Flugplatzes aufbrachen. Unter uns huschte ein blaugelber Zug vorbei, und wir gingen, schon auf dem 44
Viadukt, Weiser und Elka nach, die durch ein Loch im Zaun direkt auf das Gelände des Flugplatzes schlüpften. »Sie haben überhaupt keine Angst vor dem Wächter«, sagte Szymek anerkennend und holte den Feldstecher aus dem Futteral. »Und jetzt werden wir sehen, was sie da suchen.« Er drückte die dunkelbraunen Röhren an seine Augen. Elka und Weiser waren in dem dichten Gebüsch des Ginsters verschwunden, das an die Startbahn grenzte. Wenn ich schreibe »grenzte«, so könnte jemand denken, daß dieses verdammt wichtige Gebüsch irgendwo auf halber Länge der Startbahn oder an einer der Nebenpisten lag, die zum Rollen bestimmt waren. Nichts wäre irreführender: das Ginstergebüsch, in dem Elka und Weiser verschwunden waren, war der Punkt, wo die Startbahn am südlichen Ende des Flugplatzes begann, um von dort geradlinig in nördlicher Richtung zum Meer hin zu verlaufen. »Wo sind sie denn verschwunden!« regte sich Szymek auf. »Donnerkeil!« rief er – so sagte man damals. »Ich sag dir, die spielen Doktor.« »Was?« fragte ich mißtrauisch. »Doktor«, wiederholte Szymek. »Er zieht ihr den Schlüpfer aus und schaut sich alles Nötige an! Aber wo sind sie?« Er stand da, auf das gußeiserne Geländer des Viadukts gestützt, und drehte an den Gläsern, auf das Ginstergebüsch zielend. Zu unserer Rechten lag wie auf dem Präsentierteller das alte Wrzeszcz mit seiner dunklen, ziegelroten Farbe und den Kirchtürmen. Zur Linken, weit weg, zeichnete sich die Silhouette Oliwas ab, und geradeaus vor uns dehnte sich der Flugplatz aus, mit dem kleinen Passagiergebäude, den Hangars und dem unbeweglich herunterhängenden, farbig gestreiften Windsack. Jenseits des Landeplatzes konnte 45
man das weiße Band des Strandes sehen, die Bucht und die Schiffe, die auf der Reede warteten. »Wo können sie denn verschwunden sein«, fragte Szymek wieder, »sie sind doch nicht aus dem Gebüsch gekommen.« Und er gab mir mit einer unschlüssigen Bewegung den Feldstecher, denn er trennte sich ungern und immer nur für kurze Zeit von ihm. Als die schwarzen Striche der Skala in den Gläsern auf dem Ginstergebüsch blinkten, fühlte ich mich wie ein Offizier der französischen Artillerie, der bei Verdun gefallen war. Gerade als ich die richtige Schärfe einstellte, dröhnte hinter uns, von den Hügeln her, ein Flugzeug. Die Ginsterbüsche, diejenigen, die dem Betonstreifen am nächsten lagen, bewegten sich, und erst jetzt sah ich die beiden, wie sie nebeneinander lagen, sich die Hände hielten, und wie sie ungeduldig die Köpfe hoben und nach der Iljuschin spähten, die herangeflogen kam. Aber es war nicht das Doktorspiel, das sie spielten: sie lagen auf dem Rücken mit ausgestreckten Beinen, hielten sich bei der Hand, und die andere Hand hatten beide in die Wurzeln des Ginsters gekrallt, die an dieser Stelle dick und verwachsen waren. Das Flugzeug ging herunter, flog über Bukowa Górka hinweg und erreichte jetzt die Höhe des Viadukts und der Bahngleise, ich aber zielte auf Elkas rotes Kleid und ihre nackten Knie und erreichte endlich die ideale Schärfe. Denn das, was ich Sekunden später sah, als das riesige, glänzende Ungetüm von Flugzeug mit seinem Bauch das Ginstergebüsch zu berühren schien, sah ich absolut scharf. Die Maschine ist zehn, vielleicht fünfzehn Meter über der Erde, und von dem Ginstergebüsch und dem Anfang der Landebahn nur noch einen knappen Steinwurf weit entfernt. Elka hebt die Knie, und ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, sie sieht aus, als würde sie schreien vor Angst, den Mund weit geöffnet. Auch Weiser hat den Mund geöffnet, aber nicht 46
verzogen, er hebt auch nicht die Knie. Die Ginsterbüsche legen sich flach, wie abgemäht vom Wind, Elka löst sich nicht vom Boden und hebt die Knie noch höher, und mit ihnen die Hüfte, und man kann sehen, wie ihr rotes Kleid, vom Wind weggerissen, einen schwarzen Punkt zwischen ihren Beinen enthüllt. Aber da ist kein Schlüpfer, da ist keine Wäsche, denn das Schwarze, leicht in die Höhe gehoben, durch das dröhnende Flugzeug vom roten Kleid enthüllt, ist sonderbar weich, wellig und zart, dieses Etwas, das sich mit dem Punkt 0 der Artillerieskala im Glas des französischen Feldstechers von Verdun deckt, dieses an ein Dreieck erinnernde Phänomen verschwindet gleich wieder in den Falten des roten Kleides, das auf die Hüfte und die Knie Elkas zurückfällt, als die große Iljuschin mit den Rädern die Betondecke der Landebahn berührt, zehn bis fünfzehn Meter hinter den beiden. Und schon ist eigentlich alles vorbei, denn sie stehen auf, laufen schnell zum Zaun, um der Verfolgung des mit einem Gewehr bewaffneten Wächters zu entgehen. Szymek reißt mir den Feldstecher aus den Händen, setzt ihn an die Augen und ruft: »Siehst du, sie haben doch Doktor gespielt, und das Flugzeug hat sie aufgeschreckt.« Aber ich wußte schon damals, daß sie nicht das spielten, was Szymek gern wollte. Als das Flugzeug über ihnen war, hatte Weisers Hand die ganze Zeit an der gleichen Stelle geruht, und nicht sie war es, die Elkas rotes Kleid hob. Ja, ich wußte schon damals, daß Elka durch Weisers Vermittlung den Flugzeugen sonderbare und anregende Spielchen erlaubte. Und ich weiß nicht, was mich mehr wunderte – daß die silberne Il 14 Elkas rotes Kleid hochhob, oder aber, daß zwischen ihren Beinen dieses schwarze, dreieckige Etwas war, das gleiche wie bei meiner Mutter oder bei Piotrs älterer Schwester, was schwer zu übersehen war, da doch unser Haus nur ein Bad auf jedem Stockwerk hatte. 47
Am Nachmittag ließ die Hitze etwas nach, und aus den offenen Fenstern der Wohnungen tönte der Widerhall der häuslichen Szenen. Allmählich kehrten die letzten heim, die noch nicht genug gehabt und auf dem Rückweg in der Liliput-Bar vorbeigeschaut hatten. Die Bar lag gegenüber der evangelischen Kapelle, in der jetzt ein neues Kino eingerichtet werden sollte. Die evangelische Gemeinde hatte in unserem Teil der Stadt zwar aktive Anhänger, aber ihre Zahl schmolz von Jahr zu Jahr, so daß sie ihr Gotteshaus nicht mehr halten konnte. Hauptsächlich waren es alte Danziger, die von der zugewanderten Bevölkerung als Deutsche bezeichnet wurden, was nicht immer der Wahrheit entsprach. Frau Korotkowa schrie ihren Mann an: »Du Lump, du Schuft, du elender!« – aus dem Radio drangen die Klänge eines beschwingten Volkstanzes, und alle Jungen wußten schon von Szymek, daß Weiser mit Elka auf den Flugplatz ging, um sie zu befummeln, wenn sicher auch nicht alle hätten sagen können, was dieses Wort bedeutete. Und als Elka über den Hof ging, rief einer von ihnen, sie solle sich auch von uns befummeln lassen, nicht nur von diesem Itzig aus dem ersten Stock. Elka kam auf die Bank zu, auf der wir saßen, und ihre Augen sprühten Blitze. »Ihr seid blöd«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Blöde Rotzlöffel und stinkige Dreckspatzen. Ihr – ihr könnt doch nur Fußball spielen und euch die Zähne ausschlagen, und sonst nichts!« »Warum?«, klang es angriffslustig. »Darum«, parierte sie. »Er kann alles, versteht ihr, ihr blöden Dackel? Alles, was er will, kann er. Sogar die Tiere hören auf ihn!« »He, he«, lachte Szymek sie aus. »Kann er vielleicht ein rasendes Auto anhalten oder ein Flugzeug in der Luft?« 48
Die letzte Bemerkung tat Elka am meisten weh, jedenfalls ging sie mit den Krallen auf Szymek los, und wir hätten eine neue Keilerei gehabt – wir hätten, wenn nicht die Stimme aus dem ersten Stock gewesen wäre. Durch das offene Fenster hatte Weiser die ganze Szene beobachtet, und als Elkas Fingernägel sich schon in Szymeks Gesicht und Haare versenken wollten, hörten wir plötzlich seine Stimme: »Gut, sag ihnen, sie sollen morgen um zehn zum Zoo kommen, zum Haupteingang.« Weiser wandte sich an sie, ich erinnere mich genau an das »sag ihnen«, obwohl er uns alle wie auf dem Präsentierteller vor sich hatte und ebenso gut einfach hätte sagen können: »Kommt morgen um zehn zum Eingang des Zoos.« Aber er zog es vor, sich an Elka zu wenden, und so war es auch später, wenn er uns zu seinen Vorführungen im Tal hinter dem Schießplatz einlud. »Habt ihr gehört«, wiederholte Elka, »ihr sollt morgen um zehn vor dem Tor des Zoos sein, da werdet ihr sehen –« Aber sie sagte nicht, was wir sehen würden, sondern ging weg, und jetzt hörten wir, wie Herr Korotek seine Frau mit dem Gürtel seiner Hose schlug und wie sie alle Heiligen zu Hilfe rief, offensichtlich schwach und ohne den rechten Glauben, denn durch das offene Fenster drangen alle Augenblicke breites Klatschen und verzweifeltes Stöhnen. Am Abend strömten die alten Leute hinaus zu den Bänken, schauten zum Himmel und suchten den angekündigten Kometen. Wir spielten Fußball auf dem vertrockneten Gras bei der preußischen Kaserne. Piotr, der an diesem Tag in Jelitkowo gewesen war, meldete, daß die Fischsuppe nun eine lila Farbe angenommen habe und noch mehr stinke als vorher, und daß große Tafeln mit den Unterschriften der Behörden aller drei an der Bucht gelegenen Städte den Zugang zum Strand untersagten. »Schluß jetzt, einmal muß doch endlich Schluß damit sein. Warum sind diese Jungen in keinem Lager gewesen, 49
keiner Ferienkolonie, bei keinem Bauhelfertrupp, warum hat keiner daran gedacht, sie zu beschäftigen, damit sie nicht in der Gegend herumlungern, wo sie ständig Blindgänger und Munition finden. Dafür sind zum Teil auch Sie verantwortlich«, tönte jetzt die Stimme des Staatsanwalts in tiefem Timbre, und der Direktor lockerte seine Krawatte schon nicht mehr, denn sie war völlig aufgelöst. »Warum sind die Jungen nicht in die Ferien gefahren, Sie wissen doch genau so gut wie ich«, fuhr der Staatsanwalt fort, »daß in diesem Milieu (die Betonung lag auf diesem) die Eltern aus Mangel an Zeit und pädagogischen Fähigkeiten den Einfluß auf die heranwachsenden Kinder verlieren. Und an dieser Stelle beginnt Ihre Rolle, die der Schule, des Kollektivs, übrigens, soll ich Ihnen vielleicht Unterricht erteilen? Allein im vergangenen Jahr hatten wir in ganz Polen einige Dutzend ähnlicher Fälle, und ich bin überzeugt, daß es zu vielen von ihnen gar nicht hätte kommen müssen, wenn es die entsprechende Aufsicht auch (mit Betonung auf dem auch) während der Ferien gegeben hätte!« Wir hörten die Worte des Staatsanwalts und dann das, was der Direktor und M. mit angehaltenem Atem sagten. Natürlich drang nicht alles durch die angelehnte Tür des Arbeitszimmers deutlich an unser Ohr, aber auch so erfuhren wir, daß sie immer noch auf der falschen Spur waren. Denn M., der Direktor, der Mann in der Uniform und der Staatsanwalt, der um sieben Uhr im Sekretariat der Schule erschienen war, alle dachten sie, Weiser und Elka wären durch die Explosion im Tal hinter dem Schießplatz einfach in Hunderten oder Tausenden von Stückchen zum Himmel geflogen. Sie dachten, es wäre ein Blindgänger gewesen. Eines nur wollte nicht dazu passen: man hatte bei der Suche weder Fetzen von der Kleidung noch Leichenteile gefunden, und deshalb waren sie wütend auf uns, schrien 50
und drohten, als wäre es unsere Schuld. Sie glaubten nicht, daß wir sie dort, im Tal, den Berg hatten hinaufgehen sehen. Sie ahnten nicht, daß unser letztes Treffen wirklich am nächsten Tag an der Strzyża, bei der gesprengten Brücke stattgefunden hatte, wo das Flüßchen in einem schmalen Tunnel unter dem Bahndamm hindurchfließt. Sie verhedderten sich in unseren Aussagen, weil sie glaubten, wir hätten aus Angst irgendwo Leichenteile versteckt, und jetzt würden wir, in Widersprüche verwickelt, lügen. Es kam ihnen nicht in den Sinn, daß wir, wäre es wirklich so gewesen, schließlich und endlich gesagt hätten, wo wir den Fetzen von Weisers Hemd oder den Streifen von Elkas rotem Kleid vergraben hatten. »Die Deutschen haben mehr als ein vergrabenes Arsenal hinterlassen«, sagte der Staatsanwalt jetzt, »und das ist die tragischste Ernte des Krieges (Betonung auf tragischste) in unserer Zeit! Allerdings wurde an Ihrer Schule (Betonung auf Ihrer) diesem Problem keine einzige Unterrichtsstunde gewidmet. Sagen Sie, Herr Direktor, was haben Sie getan, um die Jugend vor Gefahren dieser Art zu warnen? Wissen Sie schon, wieviel Sprengstoff in der Ziegelei war? Wir haben genaue Daten – es hätte gereicht, nicht nur dieses Gebäude, sondern alle umliegenden Häuser in die Luft zu jagen.« Der Direktor gab eine verworrene Erklärung ab, und dann erzählte M. von der wachsenden Unlust gegenüber den Massenorganisationen, vom Zerfall des Geistes der Wachsamkeit und so weiter, bis er zum Schluß auf die Politik des Vatikans und die unversöhnliche Haltung des Klerus kam, mit dem er – natürlich – seine Konflikte habe. Und er erzählte dem Staatsanwalt von unserem Treffen beim Friedhof von Brętowo als Beweis dafür, daß er die Wahrheit sagte. »Mich interessieren Fakten«, der Staatsanwalt ließ sich nicht abspeisen, »und nicht Gemeinplätze. Ich möchte eine 51
genaue Beschreibung der Vorgänge an jenem kritischen Tag. Sie, Feldwebel (jetzt wandte er sich sicher an den Mann in der Uniform), fügen dem Bericht eine Lageskizze bei, und ich brauche Ihnen wohl keine Instruktionen geben, wie das gemacht wird. Gehen Sie vor, wie Sie wollen, bis Montag früh hat der Bericht fertig zu sein, ohne Lükken und ohne Unklarheiten! Immerhin«, fügte er abschließend hinzu, »noch vor einem Jahr hätten diese Jungen (damit waren wir gemeint) wegen Sabotage in der Okopowa-Straße gesessen, und selbst die Muttergottes hätte ihnen nicht helfen können! Ja, ja«, fügte er, das Zimmer verlassend, hinzu. »Die Zeiten und Gewohnheiten ändern sich.« Und er ging durch das Sekretariat, einen starken Geruch von süßlichem Kölnischwasser hinter sich lassend. »Na, da haben wir eine Nuß zu knacken«, sagte M. gleich darauf (und bestimmt zeigte er mit seinem Wurstfinger auf die Papiere, mit denen der Schreibtisch des Direktors übersät war), »denn hier in diesen Aussagen stimmt nichts überein und paßt nichts zusammen!« »Sie (das waren wieder wir) lügen alle unverschämt«, fügte der Feldwebel hinzu, »sie haben Angst, aber sie lügen.« »Sie lügen, weil sie Angst haben – haben Sie das nicht bemerkt?« nahm der Direktor den Faden auf, und so warfen sie sich längere Zeit den Ball zu, während ich mir überlegte, warum Weisers alter Großvater, der Schneider war und nur selten das Haus verließ, gestorben war, als die Suche begann. Man hatte an seine Tür geklopft, und niemand hatte geöffnet, also brach man sie auf, und es stellte sich heraus, daß Herr Weiser an einem Herzschlag gestorben war. Es hieß, sie hätten ihn auf dem Stuhl sitzend vorgefunden, den Kopf auf die alte Nähmaschine der Marke Singer gestützt, bei einer nicht zu Ende gebrachten Arbeit. Diese Arbeit war, wie ich erst sehr viel später erfuhr, die 52
Weste zu einem Anzug, die eine Kapitänswitwe bestellt hatte – wieso ausgerechnet eine Witwe, weiß ich auch nicht. An Herrn Weiser erinnerte ich mich mit einem leichten Grauen, sein plötzlicher Tod konnte kein Zufall gewesen sein, jetzt verstand ich das genau. Denn der immer schweigsame Großvater Weisers war die einzige Person gewesen, der wir hätten sagen können, wo und wie Elka und Weiser an jenem sonnigen Tag von uns gegangen waren und wie es kam, daß wir es selbst nicht ganz begreifen konnten. Denn um das alles ganz zu begreifen, hätte man mehr oder weniger das tun müssen, was ich jetzt, etwa fünfundzwanzig Jahre danach, tue. Man hätte sich alle wichtigen Einzelheiten ins Gedächtnis rufen, sie ordnen und dann zusammen betrachten müssen, so, wie man eine vor Jahrmillionen erstarrte Fliege in einem Stückchen goldenen Bernsteins betrachtet. Aber damals war darauf niemand vorbereitet, weder Szymek noch Piotr, noch ich selbst. Keiner von uns hätte damals die Fischsuppe mit der Weihrauchwolke in Verbindung gebracht, die Pfarrer Dudak an Fronleichnam verströmen ließ, als wir »Wahrer Leib, o sei ge-grü-ßet« sangen, niemand wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, daß die Dürre jenes Jahres nicht einfach eine gewöhnliche Dürre war, und niemand hätte vermutet, daß Weisers Explosionen im Tal hinter dem Schießplatz in irgendeinem Zusammenhang standen mit dem, was er im Keller der stillgelegten Ziegelei machte, oder mit dem glänzenden Rumpf der Il 14, der in den Ginsterbüschen Elkas rotes Kleid und ihren ganzen Körper emporhob. Übrigens, selbst wenn wir ausführlich erzählt hätten, was wir am letzten Tag an der Strzyża hinter der gesprengten Brücke gesehen hatten, so hätte weder M. noch der Direktor, noch der Mann in der Uniform, noch irgend jemand anders auf der ganzen Welt das ernstge53
nommen. »Das ist unmöglich«, hätten sie gesagt, und sie hätten sich die Brille geputzt, Kaffee geschlürft und an ihren Manschetten herumgespielt. »Das ist unmöglich«, hätten sie gesagt, »ihr lügt schon wieder, ihr ungezogenen Bengel.« Und wieder wäre das Verhör, wie vorher, um die letzte Explosion gekreist, mit der – ihrer Meinung nach – alles zu Ende gewesen war. Außerdem waren wir an das Versprechen oder vielmehr an den Schwur gebunden, den wir Weiser geleistet hatten. Aber ich habe beschlossen, nichts vorwegzunehmen. Ich saß also vorerst im Sekretariat, zwischen Szymek und Piotr, mein Bein tat mir fürchterlich weh, und durch das angelehnte Fenster entschwebte der letzte Rest des ausgesuchten Duftes von dem Kölnischwasser des Herrn Staatsanwalts, der die Schule pünktlich um halb acht verlassen hatte. »Wojtal«, ertönte in der Tür des Arbeitszimmers Piotrs Name, »jetzt du«, und Piotr ging mit dem letzten Gongschlag der Uhr hinein. Warum hatte der Staatsanwalt das Wort ›Okopowa‹ gebraucht? Er hatte gesagt, noch vor einem Jahr wären wir alle drei wegen Sabotage dort gelandet. Heute weiß ich sehr wohl, warum er das gesagt hatte, aber damals, als Piotr hinter der Tür des Arbeitszimmers verschwand und die zweite, oder eigentlich die dritte Runde des Verhörs begann, ließ mir das vom Staatsanwalt gebrauchte Wort keine Ruhe. Ich erinnerte mich daran, wie eines Nachmittags, zwei Jahre zuvor, vor unserem Haus ein erdbraunes Auto gehalten hatte und wie aus diesem Auto zwei Männer in Mänteln ausgestiegen waren. Sie hatten sich zur Wohnung von Frau Korotkowa begeben, und gleich darauf hatten sie ihren Mann, Herrn Korotek, herausgeführt. Er war stockbetrunken, obwohl kein Zahltag war. Die Erwachsenen flüsterten sich damals zu, Herr Korotek sei in die Okopowa-Straße gebracht worden, weil jemand ausgeplaudert hätte, daß er Radio London höre. Und Herr Ko54
rotek kam zurück, aber erst nach drei Wochen, mit einem Auge wie eine saftige Pflaume, und als der jüngste Tag der nächsten Lohnzahlung da war, stellte er sich mitten auf den Hof, zog das Hemd aus und zeigte jedem, der es sehen wollte, seinen Rücken, der wie ein gestreiftes Zebra von gelbroter Farbe aussah. Dabei verfluchte er sein Schicksal und beklagte die ganze, von Huren, Gaunern und Schurken regierte Welt. Ich stand am Tor und sah, wie die Frauen vorsichtig die Fenster schlossen, um die schrecklichen Ausdrücke nicht zu hören, und wie Herr Korotek, bevor seine Frau nach unten gelaufen kam und ihn in die Wohnung schaffte, die Hand in die Höhe hob und dem lieben Gott dafür drohte, daß er von oben auf all das herabschaute und nichts tat, sondern nur in seinem Zimmer saß und die Hände in den Schoß legte, ganz so, als wäre er Direktor und nicht Arbeiter. Und als Piotr hinter der Tür des Arbeitszimmers verschwand und Szymek und ich auf das träge Ticken der Uhr hörten, erschrak ich, als ich an den Anblick jenes Rückens dachte und an die OkopowaStraße, denn ich dachte damals, daß weder das schrecklichste Rüsselziehen noch das Tanzenlassen und Griffelklopfen, noch irgendwelche anderen Torturen dem Rücken Herrn Koroteks gleichkämen, fantastisch farbig, wie er war, mit ausgehöhlten Kanälen wie bei geharztem Kiefernholz. Draußen wurde es immer schneller dunkel, als der Hausmeister, vom Direktor herausgerufen, ins Arbeitszimmer ging und die Tür angelehnt ließ. Flüsternd wandte ich mich an Szymek mit dem Vorschlag, die Aussagen zu verändern – was würde es letzten Endes Weiser oder Elka schaden, wenn wir erzählten, was sich an der Strzyża am Tag nach der Explosion im Tal zugetragen hatte? Falls sie sich irgendwo in der Umgebung aufhielten, würde man sie ohnehin nicht finden, da konnte man ganz ruhig sein, und wenn 55
sie ganz anderswo waren, würde es ihnen um so weniger schaden. Aber Szymek war hart. Immer, die ganze Schulzeit hindurch, war er hart, und bei dem Verhör beschloß er, noch härter zu sein. Er biß die Zähne zusammen, ich sah es genau, und verneinte mit einer Kopfbewegung. Mit der gleichen Bewegung antwortete er mir, als ich ihn in der weit entfernten Stadt besuchte und noch einmal nach den Ferien ausfragte, als die Fischsuppe die Bucht füllte und Weiser und Elka zusammen auf den Flugplatz gingen. Er wünschte nicht, zu der Schulzeit zurückzukehren, und wollte mir bei nichts helfen, erinnerte sich nicht oder wollte sich nicht an die graue Wolke aus dem goldenen Weihrauchfaß Pfarrer Dudaks erinnern, und zum Thema Weiser äußerte er einige platte Banalitäten. Das war seine neue, erwachsene Härte, die ich übrigens nicht beklage, denn Szymek hat es als einziger von uns im Leben zu etwas gebracht. Indessen kam der Hausmeister aus dem Arbeitszimmer, mit der Porzellankanne für den Kaffee, und schickte mich zur Toilette zum Wasserholen. Ich ging also durch den leeren Flur und dachte, daß es kaum etwas Traurigeres gab als einen leeren Flur in einer Schule, der man weiß nicht wohin führt, melancholisch leer und scheinbar ganz und gar nicht derselbe wie einige Stunden vorher, als hier Hunderte von Erstkläßlern und älteren Schülern lärmten. Ich bedauerte, daß ich kein Gift mit blitzartiger Wirkung bei mir hatte. Aber ich spuckte, den glotzenden Blick M.s vor Augen, in die Kanne und verrührte den weißen Schaum mit dem Finger, damit er sich auflöste. Als ich ins Sekretariat zurückkam, war Szymek schon im Arbeitszimmer, und Piotr saß auf dem Klappstuhl zu meiner Linken, so wie vorher. Der Hausmeister hatte aus seiner Wohnung ein elektrisches Gerät mitgebracht und begann das Wasser hier zu erhitzen, um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Das Wasser zischte träge, leise tickte die Uhr, mir wurde schläfrig und warm. 56
Am nächsten Tag hatte sich Weiser vor dem Haupteingang des Oliwaer Zoos mit uns verabredet. Wie weit war das geplant, und wie weit ergab es sich aus der Situation, als Elka, von Szymek angepöbelt, um ein Haar dessen Gesicht mit ihren Krallen durchpflügt hätte? Ich bin mir nicht sicher. Und übrigens – was für ein Wort – »verabredet«? Er hatte dieses Treffen einfach für uns festgesetzt, wie ein Souverän für seine Vasallen, durch den Mund eines Herolds. Damals, das ist klar, hatte ich das nicht so gespürt, aber schon im Sekretariat auf dem Klappstuhl, als das Wasser für den Kaffee rauschte und die Wanduhr tickte, da hatte ich schon die vage Ahnung, daß Weiser von diesem Augenblick an unser Souverän war und daß nichts daran etwas ändern konnte. Jetzt sehe ich, daß das erste Kapitel des nicht geschriebenen Buches über ihn mit den Worten »Gut, sag ihnen, sie sollen morgen um zehn zum Zoo kommen, zum Haupteingang« beginnen müßte, die Weiser aus dem Fenster im ersten Stock äußerte, von wo aus das bekannte Rattern der Nähmaschine an unsere Ohren drang. Darüber habe ich jedoch schon gesprochen, und wenn ich manche Dinge wiederhole und nicht, wie in einem Schulaufsatz, wegstreiche, dann deshalb, weil ich kein Buch schreibe. Vielleicht könnte ich zusammen mit Elka, Szymek und Piotr solch ein Buch schreiben, aber – wie übrigens schon gesagt – Szymek zieht es vor, sich an nichts zu erinnern, Elka antwortet nicht auf meine Briefe, auch nicht nach meinem Besuch in Deutschland, und Piotr kam im Dezember 1970 auf der Straße um und liegt in der fünften Reihe des Friedhofs von Srebrzysko. Im Biologieunterricht unterstrich M. immer wieder, daß sich für einen solchen zoologischen Garten wie den in Oliwa keine europäische Stadt zu schämen brauche. Ich weiß nicht, was M. damit meinte – daß wir nicht in Europa wohnten, oder aber, daß es außer dem zoologischen Gar57
ten etwas gäbe, wofür wir uns schämen müßten. Aber der Zoo war wirklich schön, er lag weitab von der Stadt, im tiefen Tal des Baches von Oliwa, der an dieser Stelle aus sieben mit einem Mischwald aus Kiefern und Buchen bewachsenen Hügeln entsprang. Die Rehe hatten hier sonnenüberflutete Waldlichtungen, die Elche dunkle und düstere Sümpfe, die Wölfe in Abhänge eingegrabene Höhlen, und die Känguruhs tummelten sich auf der mit rötlichem Klee und Sauerampfer bedeckten Brache. Nur die Raubtiere, aus tropischen Ländern eigens eingeführt, hatten wesentlich schlechtere Gehege, etwa dreißig bis vierzig Quadratmeter, mit Eisengittern verschlossen. Damals entging das unserer Aufmerksamkeit, aber heute, da ich keine zoologischen Gärten mehr besuche, klingt M.s Satz vom schönsten Zoo Europas lächerlich und dumm. Ganz so, als ob wir, von einem Führer durch eine fremde Stadt geführt, plötzlich hören würden: »Und hier, meine Herrschaften, das schönste Gefängnis, das jemals in unserer Stadt gebaut wurde, vielleicht sogar in ganz Europa.« Die heutigen Touristen oder Einwohner der Stadt gelangen mit dem Bus zum Zoo, von der Endstation der Straßenbahn in Oliwa aus. Aber damals gab es anscheinend weniger Busse, und wir mußten den Weg von der Haltestelle, an der Zisterzienserabtei entlang, zu Fuß zurücklegen. Wir gingen an den schattigen Abhängen des Pachołek-Hügels vorbei, auf dem unmittelbar nach dem Krieg noch ein Obelisk mit deutscher Inschrift gestanden hatte, marschierten an den Teichen des alten Vorwerks entlang, die jetzt zugewachsen und sumpfig waren, atmeten den Staub der Sonnenglut vermischt mit dem Duft blühender Linden ein, die den Weg säumten, bis wir endlich, schon etwas müde, die Hügel erblickten, die das Tal der Freude eröffneten und an deren rechter Flanke der zoologische Garten lag. Endlich sahen wir Weiser, er lehn58
te am Tor und trug an diesem Tag grüne Hosen und ein hellblaues Hemd vom Schnitt eines Russenkittels, was unnatürlich und lächerlich aussah, als stammte es von einem älteren Bruder. Zuerst gingen wir drei auf Weiser zu, dann Janek Lipski, der Sohn eines Eisenbahners aus Lida, der in einem Eisenbahnwaggon geboren worden war, sodann Krzysio Barski, Kind eines Teilnehmers am Warschauer Aufstand und einer Danziger Krämerin, nach ihm ging Leszek Żwirełło zum Tor, der immer saubere Hemden trug und im Gegensatz zu uns ›Entschuldigung‹ und ›danke‹ sagte, sicher mit Rücksicht auf die adlige Herkunft seines Vaters; und den Reigen schloß an diesem Tag die mucksmäuschenstille Basia Szewczyk. Ihr Vater hatte nach dem Krieg den Bergbau aufgegeben und war hierhergekommen, um sein Glück und eine Stiefmutter für seine Tochter zu finden. Wir bildeten um Weiser einen Kreis. »Na, und jetzt?« fragte Szymek ihn. »Was zeigst du uns jetzt?« Und er geleitete uns zu einer Seitenpforte, durch die wir ohne Eintrittskarten hineinkamen, und danach führte er uns an den einzelnen Gehegen entlang, wobei er da, wo er Lust hatte, längere Zeit verweilte. Dann stützte er sich auf den Zaun, und wir wußten nicht, warum er so lange ein träges Lama betrachtete oder was er an den tauchenden Seehunden fand, die bei dieser Hitze gar nicht aus dem Wasser herauskamen. Bei den Vogelkäfigen wartete Elka, ich erinnere mich, daß sie die riesigen argentinischen Geier bewunderte. Ihre schwarzen Flügel spiegelten die Sonnenstrahlen mit einem dunkelblauen Glanz wider, und die Vögel wiegten langsam ihre Köpfe, als seien sie eingeschlafen. Dann kamen wir an einem Terrarium vorbei, aber Weiser ging nicht hinein, also folgten wir ihm zu den Käfigen mit den Pavianen und Schimpansen. Hier war ei59
ne größere Menge versammelt, schreiend und fröhlich. Jeden Augenblick streute der dumme Schimpanse eine Handvoll Sand ins Publikum, und dieses vergalt dem Affen Gleiches mit Gleichem, pfeifend, trampelnd und Essensreste durchs Gitter des Käfigs werfend. Das Tier hob ab und zu den Schädel in die Höhe und zauste das Fell auf seinem Schopf, genau so wie M., wenn er etwas Wichtiges vergessen hatte. Aber das war der Trick eines Affen, die List eines Schimpansen, denn gleich darauf neigte das Tier den Kopf bis über den Nabel, pißte sich in die Schnauze, und plötzlich spritzte ein schmales Bächlein aus dem verengten Maul in die am nächsten stehenden Leute, wie aus einem Feuerwehrschlauch. Bei jedem Pissen zeigte sich der Schimpanse schneller als seine Gegner, und die Zuschauer in den ersten Reihen mußten sich die gelbe, stinkende Flüssigkeit von Schulter und Gesicht wischen. Das Spielchen gefiel uns sehr, und eine Weile lang vergaßen wir Weiser, der jedoch über dieses Springspiel nicht lachte. Schließlich versteckte sich der Schimpanse im Innern des Käfigs, die Leute gingen weg, und wir schauten erwartungsvoll Weiser an, denn wenn er uns das hatte zeigen wollen – wie einige vermuteten –, dann war es ein großer Schwindel und Bluff. Aber Weiser prüfte unsere Geduld, er blieb noch einen Moment hier stehen und ging dann auf die Käfige mit den Raubtieren zu. Diese Käfige müssen auch heute noch, da ich dies schreibe, einen ganz anderen Geruch als die Behausungen der anderen Tiere haben, anders als die Affen, anders als das Gehege der Elefanten, als alles Horn- und Borstenvieh, denn diesen anderen Geruch hatten sie damals, und an ihn erinnere ich mich bis heute – süßlich, Übelkeit erregend, in schmalen Schwaden in der klebrigen Juliluft hängend, der abstoßende Geruch der verschimmelten Lager der afrikanischen Löwen, des bengalischen Tigers und des schwarzen Panthers, der auf einem verdorrten, kahlen Ast lag. 60
Vor seinem Käfig hielt Weiser an. Elka legte den Finger an den Mund und sagte, wir sollten uns etwas weiter hinten hinstellen, um ihn nicht zu stören. Weiser hatte uns den Rücken zugekehrt und stand etliche Minuten regungslos da, bis die anderen Leute sich vom Käfig entfernt hatten, und da sahen wir, daß der bisher in eine südliche Siesta versunkene Panther langsam den Kopf hob. Seine Lefzen, mit den langen Nadeln des Schnurrbarts, waren leicht aufgeworfen, und es sah aus, als würde der Panther rülpsen, aber das war erst der Anfang. Die zitternden Lefzen hoben sich immer höher, und unter dem schwarzen Samt war jetzt die Reihe der weißen Zähne zu sehen. Wir hörten den ersten Laut, der gleich darauf in ein tiefes, irgendwo aus dem Inneren kommendes Brummen überging. Der Panther glitt langsam, mit weichen Bewegungen, vom Ast und näherte sich mit gesträubtem Fell dem Gitter, sein Schwanz zitterte unmerklich, dann schlug er immer stärker, rhythmischer, wie das Pendel einer Uhr gegen die glänzenden Flanken. Und jetzt stand das Tier, mit der Schnauze die Eisenstäbe berührend, Weiser gegenüber, und das, was vorher ein Knurren war, ging plötzlich in ein heiseres Murmeln über, in dem sich der Trommelwirbel eines Marsches mit dem Getöse eines angeschwollenen Flusses und der Herbststurm mit der Stimme der Auferstehungsglocken mischten. Der Panther spielte am Gitter verrückt, schlug mit der Tatze auf den Zementboden, ließ den Kopf sinken und hob ihn dann wieder, und plötzlich richtete er seinen Körper auf wie einen senkrechten Balken und stützte sich mit den Vorderpfoten gegen die Stäbe, und wir sahen, wie die dicken, gekrümmten Krallen hervortraten. Aber das war noch nicht alles. Weiser verschob die Barriere, die ihn vom Käfig trennte, und stand jetzt so nahe an den Eisenstäben, daß er, wenn er sich kaum einen Schritt vorgebeugt hätte, mit der Stirn die Krallen der Kat61
ze hätte berühren können. Der Panther erstarrte. Und plötzlich ging das heisere Murmeln in ein tiefes Knurren über, und das Knurren in ein leises Brummen wie zu Anfang, und das Tier, immer noch mit gesträubtem Fell und an die Flanken schlagendem Schwanz, kroch zurück, den Blick auf Weiser geheftet. Das war außergewöhnlich. Der Panther robbte ins Innere des Käfigs zurück, ganz langsam, mit dem Bauch über den Betonboden scheuernd, und seine schrägen, zusammengekniffenen Augen, die wie unbewegliche Spiegel glänzten, fixierten Weiser. Als sein Schwanz die hintere Wand des Geheges spürte, duckte er sich in die Ecke und senkte endlich den Blick, am ganzen Körper zitternd. Jeder Muskel unter der angespannten Haut bebte jetzt wie vor Kälte, und die große Katze erinnerte an den Pinscher Frau Korotkowas, der sich in eine Ecke des Hofs zurückzog, wenn man mit dem Fuß stampfte. Wir standen schweigend da, als Weiser auf uns zukam und Elka ihm ein Taschentuch reichte und er sich die Schweißtropfen von der Stirn wischte, wie nach einer schweren Arbeit. Aber das war noch nicht das Ende des Tages, den wir mit Weiser verbrachten, ähnlich, wie es auch nicht das Ende der Geschichte jenes Sommers ist, als die Fischsuppe in den Gewässern der Bucht kochte und die Leute in den Kirchen beteten, daß die Dürre abgewendet werde und Regen kommen möge. Denn Weiser zeigte uns einen anderen Weg nach Hause als den, auf dem wir zum Zoo von Oliwa gekommen waren. Da waren weder die Haltestelle noch die klapprige Straßenbahn der Linie 2, die damals zwischen dem Kohlenmarkt und Oliwa verkehrte und am Depot, unserer Schule und unserem Haus vorbeifuhr. Statt dessen war da der Weg das Tal der Freude hinauf, an der stillgelegten Schmiede der Zisterzienser vorbei, oberhalb des Zuflusses des Bachs von Oliwa, da war kniehohes Gras auf dem Pla62
teau, und von dort aus konnte man das Meer sehen, wie von Bukowa Górka aus, da waren tiefe Schluchten und Klüfte im Schatten von Buchen, und da war der schmale, sandige Weg durch das Kiefernaltholz, das sich stellenweise mit Birkenwäldchen und dem Dickicht der Haselsträucher mischte. Das klingt jetzt wie ein lyrisches Gejammer über das verlorene Paradies, aber als Weiser uns die Stelle bei der Quelle zeigte, wo Friedrich der Große nach der Jagd ausgeruht hatte, oder als in die sonnenüberflutete Lichtung aufgescheuchte Rehe sprangen, oder als wir ganze Hände voll süßer Himbeeren sammelten, da war das ein gefundenes Paradies für uns, weitab von der Stadt, lieblich und anziehend wie die dunkle Kühle einer Kathedrale an einem heißen Tag. Weiser ging voraus und sprach, scheinbar zu Elka, doch eigentlich zu uns, »hier kommen im Winter die Wildschweine her«, oder »hierlang geht’s nach Matemblewo«, oder »und hier ist der größte Ameisenhaufen roter Ameisen mit einem Hasenschädel.« Mit Vorliebe zeigte er die Stellen, wo der Wald von den Linien der Schützengräben aus dem letzten Krieg durchschnitten war und erklärte in ähnlichem Stil: »Das ist ein Granattrichter«, oder »hier ist ein Graben für ein Auto«, was wir mit angehaltenem Atem vernahmen. Bis er uns endlich durch das Tal hinter dem Schießplatz zum Rand der Moräne brachte, von wo aus wir das Türmchen der Backsteinkirche von Brętowo sahen und die wohlbekannten Umrisse des Friedhofs. Und obwohl ich den gleichen Weg später in beiden Richtungen durchwanderte, allein und in Gesellschaft, im Sommer zu Fuß oder mit dem Fahrrad, im Winter auf Skiern, und obwohl ich diesen sechseinhalb Kilometer langen Weg den Weg Weisers nannte, konnte ich nie, auch jetzt nicht, da er nur eine blaue Route des im Stadtführer beschriebenen Naturparks ist, konnte ich mich also nie daran erinnern, ob Weiser, als 63
er uns nach Hause zurückführte, uns all dies mit der Hand gezeigt hatte, oder ob er einen knorrigen Stecken bei sich trug, auf den er sich stützen konnte wie auf einen Spazierstock. Denn wir gingen doch nach Hause, und er führte uns, als seien wir von diesem Tag an sein Volk. Und gegen Abend saßen wir auf der Bank unter dem Kastanienbaum, und Piotr dachte darüber nach, was gewesen wäre, wenn der schwarze Panther nicht durch die Eisenstäbe von Weiser getrennt gewesen wäre. »Es wär wie im Zirkus gewesen«, behauptete Szymek, »da hören die wilden Tiere auch auf den Menschen und berühren ihn sogar und fressen ihm aus der Hand.« Aber ich sagte, Weiser sei schließlich kein Dompteur, habe weder hohe, glänzende Stiefel noch eine Peitsche, noch ein weißes Hemd mit Fliege, na, und er übe ja auch nicht täglich mit dem schwarzen Panther. Diese Frage mußte geklärt werden, darin stimmten wir überein, und wir kamen auf die Idee, Weiser noch einmal auf die Probe zu stellen, vielleicht mit einem anderen Tier und nicht unbedingt im Zoo. Nur wußten wir nicht, daß Weiser in den darauffolgenden Tagen wieder seine eigenen Wege gehen würde und daß unsere Zweifel für jemanden wie ihn völlig unwesentlich waren. Aus dem Tor kam Elkas Mutter und blieb einen Moment stehen. »Was sitzt ihr so herum, Jungs«, sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme. »Ihr würdet besser in die Kirche gehen, heute hält der Pfarrer einen Gottesdienst, nicht?« Bevor sie sich jedoch auf dem Katzenkopfpflaster der Straße in Richtung der Auferstehungskirche entfernte, sagte sie uns noch, gestern habe man über der Bucht einen riesengroßen Kometen gesehen und uns erwarte nichts Gutes.
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Indessen brühte der Hausmeister den Kaffee auf und trug die Kanne ins Arbeitszimmer des Direktors. Das Telefon klingelte, und als ich die müde Stimme M.s hörte, der den Hörer abnahm, erstarrte ich. »Ja, Herr Heller«, sagte M., »Ihr Sohn ist hier bei uns, einen Moment, ich gebe Ihnen den Genossen Direktor.« Und weiter sprach nun der Direktor, das heißt, er sprach eigentlich nicht, sondern antwortete auf die Fragen meines Vaters. »Aber nein«, erklärte er mit freundlicher Stimme, »Ihr Sohn ist nicht angeklagt, das ist nur ein Verhör durch unsere Kommission, wir handeln im Auftrag des Staatsanwalts, nein, nein, wir beschuldigen Ihren Sohn nicht, den Unfall verursacht zu haben, die Untersuchungsergebnisse weisen eindeutig auf diesen Weiser hin, wir müssen nur alle Umstände des Unglücks aufklären, das müssen Sie verstehen, alle Umstände!« Aber mein Vater gab sich offensichtlich nicht geschlagen, denn der Direktor sprach noch lauter weiter als vorher: »Warum regen Sie sich auf, ich sehe keinen Grund, eine Klage einzureichen, wie auch immer. Das ist kein unrechtmäßiges Festhalten. Überlegen Sie sich lieber, Herr Heller, warum er dorthin gegangen ist, ohne daß jemand etwas davon wußte, schließlich hat Ihrem Kind ernsthafte Gefahr gedroht, und Sie als Vater haben nichts getan, um …« Und hier schwieg der Direktor längere Zeit, und ich dachte mir, daß dies wohl einer der cholerischen Ausbrüche meines Vaters war, der, normalerweise ruhig, wenn er schon in Zorn geriet, auf nichts und niemanden Rücksicht nahm. Es tat mir sogar leid, daß er hier nicht bei uns war, denn ich sah plötzlich M. zum Fenster hinausfliegen, den Direktor an seiner Krawatte an der Decke hängen und den Mann in der Uniform an der Tür des Zimmers plattgedrückt, und irgendwie wurde mir sonderbar angenehm ums Herz, als ich mir all das ausmalte. Aber mein Vater war noch nicht fertig, denn der Direktor räus65
perte sich nur in den Hörer und rutschte bestimmt auf seinem Stuhl herum, und mit der zweiten, freien Hand rückte er vermutlich den Knoten seiner Krawatte zurecht, als er plötzlich abrupt unterbrach: »Nein, das ist ausgeschlossen, die Schule ist geschlossen, bis wir die Ermittlungen abgeschlossen haben.« Und dann sagte er noch – ich erinnere mich ganz genau –: »Ich verabschiede mich, Herr Heller.« Ganz wie im Film oder in einem Buch: Ich verabschiede mich, Herr Heller. Und der Hörer fiel auf die Gabel. Draußen war es schon dunkel, an der Straße blinkten die Laternen auf. Ihr Schein fiel ins Sekretariat, und bevor der Hausmeister den Schalter betätigte, saßen wir im gelblichblassen Licht wie die Betschwestern in der Kirche nach dem schon lange beendeten Gottesdienst. Und ich überlegte mir, warum Weiser keine Eltern hatte, sondern bei seinem Großvater wohnte. Nie, weder damals noch später, habe ich erfahren, wer sein Vater, wer seine Mutter war. Vielleicht war der Mann, der in der Nummer elf wohnte und sich mit dem Schneiderhandwerk befaßte, gar nicht sein echter Großvater und nicht einmal unbedingt jemand aus der Familie. Aber niemand vermochte das aufzuklären, weder damals noch später, als es mir nach Jahren nicht ohne List gelang, die Schulunterlagen Weisers durchzusehen und als ich auch an die entsprechenden Dokumente im Archiv der Stadtverwaltung herankam. Die alten Klassenbücher waren damals schon beseitigt, aber es gab noch die Zeugnisbögen, auf denen, mit verblaßter Tinte geschrieben, stand: ›Name: Weiser, Vorname: Dawid, geb.: 10.9.1945.‹ Die Rubrik für den Geburtsort, zweigeteilt in die Woiwodschaft und den Bezirk, war nicht ausgefüllt, nur unten hatte jemand mit Kopierstift hinzugefügt: ›Brody‹. Und in Klammern war dahinter noch zu lesen: ›UdSSR‹. In den Zeilen ›Vater‹, ›Mutter‹ hatte die gleiche Hand zuerst mit Tinte waagerechte Striche gemacht und 66
offenbar danach, wiederum mit Kopierstift, hinzugefügt: ›Waise‹. Und weiter war mit der gleichen Handschrift die Information eingetragen: gesetzlicher Vormund: A. Weiser, wohnhaft – und hier war unsere Adresse angegeben, das heißt, die Adresse unseres Hauses mit der Wohnungsnummer Weisers. Heute, da ich all dies aus dem Gedächtnis fische wie Bernsteinstückchen aus dem schmutzigen Wasser der Bucht, treten die Eltern Weisers in Gestalt zweier waagerechter Tintenstriche auf dem Zeugnisbogen hervor. Denn die Abteilung zur Bevölkerungserfassung bei der Stadtverwaltung hatte zu diesem Thema nichts weiter zu sagen. An dem Schalter, der an die Kasse eines obskuren Bahnhofs erinnerte, legte mir die Hand der Beamtin eine kleine Karte vor, aus der ich folgendes erfuhr: Abraham Weiser, Volkszugehörigkeit jüdisch, Staatsangehörigkeit polnisch, geboren in Krzyworównia (UdSSR) im Jahre 1879, im Jahre 1946 als Repatriant nach Gdańsk gekommen. In jenem Jahr fehlt jeglicher Vermerk über Kinder, die ihn auf dieser Reise eventuell begleitet hätten. Erst im Jahre 1948, also zwei Jahre danach, meldete Abraham Weiser, daß unter seiner Vormundschaft ein Junge polnischer Volkszugehörigkeit und polnischer Staatsangehörigkeit stehe, geboren in Brody am 10.9.1945. Ein Vermerk über die Eltern des Jungen fehlt, es gibt auch keine Kopie der Geburtsurkunde des Kindes. Abraham Weiser behauptete, das Kind sei sein Enkel, aber in der Rubrik ›Eltern‹ stehen keinerlei Daten über die Mutter oder den Vater des Jungen. Wie das gekommen ist, kann keiner erklären. Ähnlich, wie bisher auch die Ursache des Verschwindens des zwölfjährigen Dawid Weiser ungeklärt ist, der wahrscheinlich im August 1957 im Wald von Brętowo von einem Blindgänger zerrissen wurde. Was den Tod Abraham Weisers betrifft, gibt es keinen Zweifel, das bezeugt die vom diensthabenden Arzt des Woiwodschaftskrankenhau67
ses ausgestellte Urkunde. »Möchten Sie die Nummer dieser Akte?« fragte die Beamtin, die sah, daß ich immer noch am Schalter stand, während in dem dunklen, düsteren Flur schweigend die Leute an mir vorbeigingen, aber ich hatte keine Fragen mehr, zumindest nicht an sie und an keinen dieser Menschen, die hin und her gingen mit Karten, Formularen, Gesuchen, Abschriften, Auszügen, Kopien, Bescheiden, Vorladungen, Zeugnissen und der ganzen Makulatur, zu der das Leben sich auswächst, noch nach dem Tod. Ich hatte keine Fragen mehr, oder hatte eher immer noch die gleiche Frage: Wer war letzten Endes Weiser, denn wenn er nicht der Enkel Abraham Weisers, wenn er nicht sein Enkel war, warum trug er dann denselben Namen, und war das sein richtiger Name, und dann, warum gab Herr Abraham Weiser, als er in der Abteilung zur Bevölkerungserfassung den Jungen meldete und als seinen Enkel ausgab, nicht an, wer seine Eltern waren. Denn wenn er doch sein wirklicher Enkel war, Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blut, dann mußte Dawids Vater der Sohn Abraham Weisers sein oder sein Schwiegersohn, Dawids Mutter die Tochter Abraham Weisers oder seine Schwiegertochter, also mußte er doch die Namen seiner Tochter und seines Schwiegersohns oder seines Sohns und seiner Schwiegertochter kennen, und selbst wenn eine Schicht Sand sie bedeckte oder sie durch Frost oder Typhus umgekommen waren, so mußte er es doch wissen und wollte es nur nicht angeben, oder er wollte es angeben, wußte aber nichts oder nicht viel. Doch dann wäre Dawid Weiser gar nicht Dawid gewesen, wäre nicht sein Enkel, wäre kein Jude gewesen, wäre nicht in Brody geboren und nicht einmal unbedingt im Jahre 1945. Ja, damals nach dem Krieg, als Tausende von Menschen von Osten nach Westen, von Süden nach Norden und von Westen nach Osten wollten, damals gingen öfter Papiere ver68
loren, und man konnte die verschiedensten Dinge angeben, denn nicht alles ließ sich überprüfen. Das Verlorengehen und wundersame Wiederauffinden von Menschen war, so scheint es, das tägliche Brot der damaligen Beamten der Abteilung zur Bevölkerungserfassung, und Herr Abraham Weiser konnte erfolgreich behauptet haben, der Junge sei sein Enkel, heiße Dawid und trage denselben Namen wie er, nur, daß er polnischer Volkszugehörigkeit war, aber vielleicht einfach deshalb, weil jenes Volk völlig aufgehört hatte zu existieren. Als Herr Abraham Weiser das Formular ausfüllte, war sein Volk aus Europa verschwunden, und deshalb trug er für den Jungen die polnische Volkszugehörigkeit ein oder ließ sie eintragen, denn die Staatsangehörigkeit war schließlich eine zweitrangige Sache in Zeiten wie dieser, die er irgendwo im Südosten unter Ukrainern, Deutschen, Russen, Polen, Juden, Armeniern und was für Leuten sonst noch verbracht hatte – so dachte ich, als ich aus dem dunklen Gebäude des Amts hinausging, und ich sah noch einmal die zwei waagerechten Striche auf Weisers Zeugnisbogen, diese zwei mit von Jahr zu Jahr heller werdender Tinte gezogenen Linien. Und jetzt, da ich dies schreibe, sehe ich sie ebenfalls, wenn auch die Tinte vielleicht schon völlig verblaßt ist und die Rubrik ›Vater, Mutter‹ so aussieht, als hätte dort niemals etwas gestanden. Statt sich aufzuklären ist alles noch viel komplizierter geworden, aber damals, im Sekretariat unserer Schule, nach dem Telefonanruf meines Vaters, der einen Wutanfall bekam und den Direktor samt allen Schulen der Welt beschimpfte, nahm ich an, der plötzliche Tod des Herrn Weiser, dieser unerwartete Herzschlag, sei das Werk Weisers gewesen. Wenn er wilde Tiere bändigen konnte und wenn er in der stillgelegten Ziegelei etwas tat, angesichts dessen uns die Haare zu Berge standen – worüber ich üb69
rigens noch schreiben werde –, wenn also Weiser solche Dinge vollbrachte, warum sollte er dann nicht plötzlich den Herzrhythmus seines Großvaters beschleunigen können – so dachte ich. Weshalb sollte er ihn nicht von der Nähmaschine befreien können, von den Nadeln, der Kreide, den Mustern, den Futterstoffen und Knöpfen, über denen er tagelang mit gebeugtem Rücken hockte, warum sollte er es nicht getan haben, damit niemand mehr ihn irgend etwas fragen konnte. Weiser beseitigte einen Zeugen, und heute muß ich zugeben, daß ich, als Piotr 1970 auf der Straße umkam und Elka nach Deutschland fuhr, in ähnlicher Weise dachte, Weiser habe sie einfach auf verschiedene Arten von hier fortgeschafft, denn Szymeks Fahrt in die ferne Stadt war auch eine Art, ihn aus etwas herauszuhalten, was ich nicht verstand, was aber für Weiser ganz offenbar wichtig war. Und damals im Sekretariat erschrak ich sehr, denn die ganze Untersuchung konnte ja am Ende eine Probe sein, der Weiser uns unterzog, und falls etwas nicht in Ordnung war, würde er den Schlag unserer Herzen anhalten, genau wie er das mit dem Herz seines Großvaters getan hatte. Unterdessen hielten sie Szymek dort drinnen verdächtig lange fest, und ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich nicht auf den Platz bei der preußischen Kaserne gegangen war, um Fußball zu spielen, ein Umstand, dank dessen Weiser und Elka mich zu einem Ausflug mitgenommen hatten, wenngleich es durchaus keine gewöhnliche Expedition gewesen war. Aber der Reihe nach: Am Tage nach dem zoologischen Garten schickte mich meine Mutter in aller Frühe zu Cyrsons Laden nach Suppengrün. Ich ging gern dort hin, im kühlen Inneren roch es nach Gemüse, die Kisten quollen über von Klaräpfeln, und im Glasschaukasten fesselten Gläser mit Fruchtbonbons und farbige Mäuschen aus Stärke, das Stück zu fünfund70
zwanzig Groschen, den Blick. Die Frau des Besitzers, die hinter der hölzernen Theke die Kunden bediente, hatte Brüste so groß wie Blumentöpfe und war sehr lustig, und wenn sie mit flinken Bewegungen die Ware reichte, flogen die Brüste wie zwei federnde Melonenhälften unter dem Baumwollkleid und der schmutzigen Schürze hin und her. Und wenn bei den Einkäufen ein Złoty übrigblieb, konnte man dafür eine Handvoll Fruchtbonbons oder Stärkemäuschen kaufen, jedes in einer anderen Farbe, oder eine mit einer Porzellankapsel und einem groben Draht verschlossene Flasche Limonade trinken. Das waren eben die Kracherln, wie die Erwachsenen sie nannten, ich weiß bis heute nicht weshalb, denn es waren keine Kracherln, sondern Limonade, und das Öffnen, wenn man auf der Betonmauer vor dem Eingang zum Laden stand, war immer mit einer gewissen Aufregung verbunden. Wenn der Verschluß dicht war und die Kohlensäure nicht in kleinen Bläschen entwich, schüttelte man die Flasche, und die leicht angehobene Kapsel sprang von selber heraus, in der Luft schwebte, zusammen mit dem Widerhall des platzenden Geräusches, ein duftender Dunst, und alle Käufer wandten sich in diese Richtung, und man stand auf der Mauer und kippte den Inhalt der Flasche in den Hals, genauso wie Vater oder Herr Korotek in der Liliput-Bar die Bierflaschen kippten. Aber das Öffnen der Limonade war ein doppeltes Lotteriespiel. Eine Überraschung – außer der Explosion des Verschlusses – war auch die Farbe. Zu jener Zeit stellte man Limonade in zwei Farbtönen her – am häufigsten war sie gelb, aber es gab auch rote, mit einer besonders schönen Nuance, und noch heute würde ich meinen Kopf wetten, daß die rote ein stärkeres Aroma hatte und mit bedeutend mehr Kohlensäure versetzt war. Ich stand also auf der zementierten Mauer von Cyrsons Laden, schaute in das dunkelgrüne Glas der Flasche und 71
wollte erraten, was für eine Limonade es wohl war – gelbe oder rote –, als ich im Staub der Straße die Jungen in Richtung der preußischen Kaserne ziehen sah. An der Spitze marschierte Piotr mit einem richtigen Fußball unter dem Arm, und ich erinnerte mich, daß wir eben heute diesen Fußball ausprobieren wollten, den Piotr gestern von seinem reichen Onkel bekommen hatte. So ein Lederball war nicht irgend etwas – bisher hatten wir mit einem aus Gummi gespielt, der nicht länger als einen Monat hielt, und jetzt, dank Piotrs Onkel, konnten wir uns wie richtige Profis fühlen. Sie kamen auf mich zu, und ich hörte schon von weitem ihre Schreie, »rot«, »gelb«, »rot«, »gelb«, »ich sag dir, rot«, »eben nicht, sondern gelb«, und als ich mit dem Daumen den Draht nach oben drückte und die Porzellankapsel mit der Gummidichtung aufsprang, brüllten alle »rot, rot«, und wir tranken die rote Limonade, jeder einen kleinen Schluck, wie immer, wenn es einem von uns gelang, Flaschenpfand zu bekommen oder wenn etwas vom Einkaufsgeld übrig war. Sie gingen auf den Sportplatz, und ich mußte meiner Mutter das Suppengrün bringen, und als ich wieder die Treppe hinunterjagte und aus dem Tor rannte, sah ich Weiser und Elka auf dem Bürgersteig in Richtung Oliwa gehen. Ich ahnte etwas, genau wie damals, an dem Tag, als ich sie, zusammen mit Szymek, mit dem französischen Feldstecher vom Viadukt beim Flugplatz aus beobachtet hatte, und obwohl weder Szymek noch sein Feldstecher zur Hand waren, beschloß ich, ihnen nachzugehen. Unsere Straße verlief, wie heute noch, in einem langen Bogen parallel zu der etwa zweihundert Meter entfernten Straßenbahnlinie, und bog erst bei der Mauer des Depots scharf nach links ab, bei einer der gesprengten Brücken der nicht mehr existierenden Bahnlinie. In Gedanken gab ich den Ball an den linken Flügel zu Szymek, der raste wie der Wind und täuschte die 72
Verteidiger links und rechts, aber ich ließ Weiser und Elka nicht aus den Augen, die in der Kurve hinter dem abgebröckelten Pfeiler verschwanden, gerade als der Ball in die Mitte gespielt und dann geschossen wurde. Ich beschleunigte meine Schritte, um eventuell noch rechtzeitig abstauben zu können und um die beiden nicht zu verlieren, aber statt eines Abstaubertors gab es Eckball, und Weiser und Elka warteten genau hinter diesem Pfeiler auf mich. »Du mußt uns überhaupt nicht nachspionieren«, sagte Elka, mal mich, dann wieder Weiser anschauend. »Wenn du willst, dann komm mit, er ist einverstanden«, und wieder neigte sie den Kopf in seine Richtung. Ich ging darauf ein, obwohl Szymek inzwischen sicher das nächste Tor reinhaute, doch ich stellte mir Weiser Auge in Auge mit einem wilden Jaguar vor, ohne die Stäbe eines Käfigs, oder uns drei unter dem glänzenden Rumpf einer Iljuschin am Rande der Startbahn, und ein Schauer überlief mich bei solchen Gedanken. Aber Weiser wiederholte sich nie, jedenfalls nicht, wenn einer von uns ihm zuschauen konnte. Möglicherweise war es mit Elka anders, bestimmt sogar, aber mit Elka war Weiser die ganze Zeit zusammen und mit uns nur, wenn er wollte. Und an jenem Tag wollte er, weshalb weiß ich natürlich nicht, daß ich mit ihm und Elka ging, obwohl da weder wilde Tiere noch ein dröhnendes Flugzeug waren. Es war eine normale Besichtigung verschiedener Örtlichkeiten, anfangs sogar etwas langweilig, denn für mich war nicht alles, was Weiser damals sagte, und er sprach eigentlich nur zu Elka – für mich war nicht alles bis ins letzte verständlich und klar. In der PolankiStraße blieb er vor einem der alten Häuser stehen, von denen man sagte, hier hätten reiche Deutsche gewohnt. Und zwischen ihm und Elka fand folgendes Gespräch statt: 73
»Siehst du, und hier hat Schopenhauer gewohnt, und unter diesen Kastanienbäumen ist er im Herbst spazieren gegangen.« »Und wer war Schopenhauer?« fragt Elka. »Das war ein großer deutscher Philosoph, ein sehr berühmter.« »Oh, das ist interessant, aber was tut eigentlich ein Philosoph, ich meine, was macht er, daß er so berühmt wird?« »Nicht jeder Philosoph wird so berühmt wie er«, antwortet Weiser. »Aber was macht so ein Philosoph?« Elka wird ungeduldig. »Berühmt oder nicht, er muß doch irgendwas machen, oder?« »Ein Philosoph weiß alles über das Leben, verstehst du? Und er weiß, wie das Leben ist, das heißt gut oder schlecht. Er weiß auch, warum die Sterne nicht auf die Erde fallen und warum die Flüsse vorwärts fließen. Und wenn er will, schreibt er darüber Bücher, und die Leute können es lesen.« »Alles?« fragt Elka mißtrauisch. »Alles«, antwortet Weiser. »Über den Tod weiß ein Philosoph auch sehr viel.« »Über den Tod?« »Na, wenn man stirbt«, schließt Weiser, »denn ein Philosoph muß darüber nachdenken, sogar wenn er unter den Kastanienbäumen spazieren geht.« Und als wir schon ein Stück weiter waren, beim nächsten Haus, das ein wenig wie ein Gutshof aussah, etwa dreißig Meter von der Straße zum Wald hin versetzt, als ich an der Lindenallee vorbeiging, die neben einem eingefallenen Tor hineinführte, fragte Elka noch: »Und du bist ein Philosoph, ja?« 74
»Nein«, antwortete Weiser, »warum sollte ich einer sein?« »Woher weißt du denn dann alles«, fügte sie schnell hinzu. »Vom Großvater«, erklärte er genauso rasch. »Mein Großvater ist der größte Philosoph auf der Welt, aber er schreibt keine Bücher.« So, scheint mir, schloß Weiser seine Antwort, ich habe wohl nichts ausgelassen, nichts, was heute für mich von Bedeutung wäre, aber wenn ich mich an diese Antwort erinnere, spüre ich den gleichen Schauer auf dem Rücken wie damals, als die Iljuschin Elkas rotes Kleid in den Ginsterbüschen hochhob oder als Weiser den schwarzen Panther bändigte oder als er im Keller der stillgelegten Ziegelei das tat, wovon uns die Haare zu Berge standen. Ich wußte nicht, ob Weisers Großvater sich außer mit dem Nähen auf der Maschine noch mit etwas anderem beschäftigte, speziell mit Philosophie. Wie also war das? Im Dom von Oliwa zeigte Weiser uns die gotischen Gewölbe und die große Orgel und erklärte, wozu die Engel die Messingtrompeten brauchten, die ein bißchen wie Säbel aussahen, gekrümmt und lang. Und als wir auf der Brücke im Park stehenblieben, um zu sehen, wie sich in dem unter unseren Füßen dahineilenden Wasser die Türme des Doms spiegelten, bei dem alten Speicher, fragte Elka ihn, ob der Barsch, der zwischen den Wasserpflanzen vorbeihuschte, etwas sagen könne. Das war eine blöde Frage, ganz in Elkas Stil, denn warum sollte der Barsch etwas sagen, fast in jeder Biologiestunde erklärte M., wir sollten stillsitzen wie die Fische, und selbst wenn, zu wem hätte denn dieser in der Sonne schimmernde Barsch etwas sagen sollen – zu uns oder zu seinen Verwandten, den Fischen? So dachte ich damals, aber Weiser antwortete ganz ernst. Eigentlich antwortete er nicht, sondern erzählte, und wie75
der ging es um den Großvater, den größten Philosophen, der sich vor dem Krieg gar nicht mit dem Schneiderhandwerk beschäftigt hatte, sondern als Wanderglaser durch die Dörfer gefahren war, und wenn er sich viel Geld zusammenverdient hatte, ging er in die Berge und unterhielt sich dort mit allem, was Gott geschaffen hatte – mit Vögeln, Steinen, Wasser, Fischen, Wolken, Bäumen und Blumen. So war es nach den Worten Weisers, und ich stand da, an das knorrige Brückengeländer gelehnt, und riß, wie man so sagt, das Maul auf, stand und schaute mal auf ihn, dann wieder auf den Hang des Pachołek hinter den Türmen des Doms, denn schließlich war ich noch nie richtig in den Bergen gewesen, und wenn Weiser erzählte, sein Großvater hätte in diesen Bergen manchmal ein halbes Jahr verbracht, dann war das für mich so, als sähe ich Herrn Weiser eben auf diesem Berg inmitten der Buchen, das Ohr an der Erde oder am Bach, ohne seine Drahtbrille oder das Zentimetermaß um den Hals. Ja. Heute bin ich mir nicht sicher, vielleicht hatte Weiser diese Geschichte mit dem Großvater von vorn bis hinten erfunden, aber selbst wenn er zu einem nur ihm bekannten Zweck gelogen hatte, so ist doch dieses Bild, das Bild des Herrn Weiser mit dem Ohr an der Erde auf dem Pachołek-Hügel hinter dem Dom, eines der schönsten, die mir das Leben geschenkt hat. Und nachher fuhren wir mit der Zwei nach Wrzeszcz, und Weiser stieg extra aus, um Elka noch ein Haus zu zeigen, diesmal nicht das eines Philosophen, sondern das von Schichau, der vor dem Krieg, als dieser Stadtteil Langfuhr hieß, der Besitzer der Werft gewesen war und bestimmt schrecklich viel Geld besaß, denn das Haus war wirklich riesig, hatte mehrere Eingänge und runde Türmchen, die Elka am besten gefielen. »Genau wie im Märchen«, lachte sie Weiser an und zeigte auf ein Türmchen mit einem Fen76
ster. »Da möchte ich wohnen und von Drachen bewacht werden, und du würdest kommen und mich aus den Händen des bösen Zauberers befreien, oder nein, am besten wärst du Merlin und würdest mich furchtbar quälen, mich in einen Frosch oder eine Kröte verwandeln, oder in eine Spinne, und ich würde schrecklich weinen, und keiner würde mich befreien«, und Elka schwatzte ihr dummes Zeug; Weiser sagte nichts; ich aber überlegte mir, warum so ein Schichau und ähnlich reiche Leute so sonderbare Häuser bauten. Was hatten sie von den unpraktischen Türmchen, den Schnörkeln, dem Firlefanz, von diesen spitz zulaufenden Dächern, den Balkönchen und kleinen Galerien, und ich dachte damals, sicher war es aus Langeweile, denn wenn M. uns im Biologieunterricht von der Ausbeutung und vom Klassenkampf erzählte, dann äußerte er sich eben in dieser Weise über die Reichen, daß sie aus Langeweile die schlimmsten Dinge taten, auf Arbeiter schossen, ihnen ihre Frauen und Töchter nahmen und überhaupt degeneriert und unmoralisch waren, weil sie nichts zu tun hatten. Zum Glück muß ich heute nicht daran erinnern, was M. für gut und moralisch hielt, damals jedenfalls stellte ich mir Schichau vor, wie er in seinem Zimmer sitzt, dick, fett, schweißüberströmt, eine Zigarre raucht, und draußen auf der Jaśkowa Dolina, denn so unschuldig heißt die Straße mit den Türmchenhäusern, draußen also marschieren unsere Väter und singen »Als das Volk mit Waffen in den Kampf zog«, und Herr Schichau nimmt mit seinen dicken Wurstfingern den Hörer seines goldenen Telefons ab und ruft die Polizei, weil er, Herr Schichau, genug hat von dem Lärm vor dem Fenster seiner Villa und es Zeit ist, für Ordnung zu sorgen. Unsere Väter marschierten zwar nie vor dem Haus Herrn Schichaus durch die Jaśkowa Dolina und sangen nicht »Als das Volk mit Waffen«, aber 1970 gingen sie am Parteikomitee vor77
bei und sangen »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt«. Und Piotr ging hinaus auf die Straße, um zu sehen, was los war und bekam eine Kugel in den Kopf. Aber das ist eine andere Geschichte, die mit Weiser überhaupt nichts zu tun hat. Vom Haus Schichaus gingen wir zur Straßenbahnhaltestelle zurück, und Weiser führte uns nach Gdańsk. Heute noch überlege ich mir, ob die beiden diese Route geplant hatten oder ob er im Hinblick auf meine Anwesenheit etwas änderte? Aber vielleicht gab es keine Route, keinen festen Plan, und Weiser strich an jenem Tag mit Elka einfach so durch die Gegend, um ihr etwas zu zeigen, um die Zeit totzuschlagen? Daran glaube ich auch nicht unbedingt, aber eine sinnvolle Antwort habe ich nicht. Und ich weiß auch nicht, woher Weiser seine Kenntnisse hatte, die mir vor allem damals beängstigend groß erschienen. Denn als er uns das Gebäude der Polnischen Post zeigte, kam ich aus dem Staunen nicht heraus, woher er das alles wußte. »Hier stand ein deutscher Panzer«, zeigte er mit der Hand. »Und hier griffen die Soldaten mit Flammenwerfern an, und dort, ein Stück weiter, standen die MGs, und von dort, an dieser Stelle, ist ein deutscher Soldat vom Dach geflogen, er war von einem Postbeamten in den Kopf getroffen, und hier haben sie sie rausgeführt.« Und er sagte das alles leichthin, als wäre er selbst dabeigewesen und hätte den Panzer, die Flammenwerfer und die MGs mit eigenen Augen gesehen. Und als wir auf den Langen Markt kamen, erzählte er uns, an welcher Stelle der Parteigenosse Gauleiter Forster stand, als er den Anschluß unserer Stadt ans Tausendjährige Reich verkündete. Das konnte er doch weder von seinem Großvater noch aus irgendeinem Geschichtsbuch erfahren haben, denn die Historiker, selbst die gewissenhaftesten, befassen sich mit solchen Dingen nicht. Und keiner von ihnen erwähnt auch nur mit einem 78
Wort, an welcher Stelle Friedrich der Große bei der Jagd in den Wäldern von Oliwa ausruhte. Schon damals, als ich im Sekretariat der Schule saß, wußte ich, daß Weiser mit besonderer Vorliebe deutschen Spuren nachging, aber was der Grund dafür war, bekam ich weder damals heraus, noch erkenne ich es heute, wenn ich mir seine Briefmarkensammlung in Erinnerung rufe oder das Waffenlager in der stillgelegten Ziegelei und die Explosionen im Tal hinter dem Schießplatz. Denn die verrostete Schmeisser, die er uns auf dem Friedhof von Brętowo schenkte, als Szymek mit der Exekution anfangen sollte, und deren Verlust wir nach der Flucht des Verrückten im gelben Bademantel nicht verschmerzen konnten, diese Schmeisser war der klägliche Ausschuß seiner Sammlung, wie sich später herausstellte, als wir Weiser und Elka in ihrem Versteck aufspürten. Indessen kehrten wir vom Langen Markt zur Straßenbahn zurück, und als uns der scheppernde Wagen in Richtung Wrzeszcz davontrug, dachte ich wieder an Piotrs neuen Ball, an Szymeks Vorlagen und daran, ob wir an jenem Tag nachmittags noch auf dem Rasen bei der preußischen Kaserne spielen würden. Und in der Tat – wir spielten an jenem Nachmittag, nur war es kein gewöhnliches Spiel, denn wenn es gewöhnlich gewesen wäre, so wie alle, und wenn es nicht mit Weiser verbunden gewesen wäre, würde ich es nicht erwähnen. Aber der Reihe nach. Während ich mit Weiser und Elka durch die Gegend streifte, spielten die Jungen auf dem Rasen bei der preußischen Kaserne und genossen es, einen richtigen ledernen Ball zu treten. Und eben mit ihm fing das Unglück an jenem Tag an, ich wiederhole, damit es keinen Zweifel gibt: das Unglück an jenem Tag, nicht das Unglück überhaupt. Auf den Sportplatz kam, als sie etwa eine Stunde gespielt hatten, Militär. Natürlich keine Soldaten in Uniform, sondern die Jungen, deren Väter beim Mi79
litär waren und die in den neuen Blocks hinter der Kaserne wohnten. Sie machten sich wichtig, und vor allem waren sie etwas älter als wir und besser angezogen. Sicher deshalb, weil ihre Mütter Waschmaschinen und eigene Badezimmer hatten, nicht wie unsere, denn bei uns gab es, wie ich schon erwähnte, ein Badezimmer für das ganze Stockwerk, und eine Waschmaschine hatte damals nur der Vater von Leszek Żwirełło. Die da waren also Wichtigtuer, aber so einen Ball wie wir hatten sie nicht, und ihre Augen blitzten gierig. Zuerst standen sie an der Seite und schauten zu, wie wir mit dem Ball spielten, störten alle naselang, warfen Steinchen oder lachten laut, wozu wir denn so einen Ball brauchten, wenn wir nicht spielen könnten, schrien, sie würden uns besser eine gewöhnliche Pflaume geben, denn der gute Ball wäre zu schade für unsere Füße. Das erboste Szymek, er ging zu ihrem Anführer und sagte, sie sollten mit uns spielen, dann würde man ja sehen. Doch die waren schlau. »Einverstanden«, antworteten sie, »aber wenn ihr verliert, gehört der Ball uns.« Unsere waren einverstanden und Piotr auch, denn hier ging es nicht nur um den Ball, sondern um die Ehre, wie im Krieg. Es wurden jeweils sechs Mann plus Torwart aufgestellt und man legte fest, daß es ein richtiges Match sein sollte, das heißt, in zwei Halbzeiten, eine vor dem Mittagessen, die andere nachmittags, wenn es etwas kühler sein würde. Und obwohl Szymek überall gleichzeitig war, Piotr sich selbst übertraf und Staś Ostapiuk so genau wie noch nie Krzysiek den Ball zuspielte, gewannen die Militärs die erste Halbzeit vier zu null. Gerade als ich nach Hause kam und an dem runden Betonbau vorbeiging, an dem seit Monaten die Fetzen der gleichen Plakate verbleichten, sah ich, wie sie sich niedergeschlagen dahinschleppten, ohne Hoffnung auf einen Sieg in der zweiten Halbzeit. Szymek sagte mir, worum es ging. Und nach dem Mittagessen 80
kehrten wir zu dem Rasen zurück, wo eine Kuh weidete und Büschel von vertrocknetem Gras abfraß. Die anderen kamen etwas später, sie waren sicher, daß sie den Ball schon in der Hand hatten. Wir begannen zu spielen. Piotr gab den Ball mit einem langen Paß zum linken Flügel an Leszek, der zog an zwei Militärs vorbei und näherte sich ihrem Strafraum, da nahm ihm der Verteidiger den Ball ab und schickte ihn mit einem mächtigen Schlag in unsere Hälfte, wo nur Krzysiek war, unser Torwart und vier von ihnen. Sie umdribbelten ihn, schon jagten sie auf unser Tor zu, und eine Sekunde später stand es fünf zu eins. Szymek sagte nichts, Piotr hatte Tränen in den Augen, denn außer der Ehre war er immer deutlicher im Begriff, seinen Ball zu verlieren, den er von dem reichen Onkel bekommen hatte. Und da geschah etwas Unerwartetes, etwas, was eigentlich nicht hätte geschehen dürfen. Den kleinen Hügel herunter kam Weiser, den wir erst jetzt sahen, und sagte, wir würden das Spiel gewinnen, wenn er mitspielte und wenn wir in allem seine Befehle befolgten. Szymek war der Kapitän und zögerte, aber es war keine Zeit zum Nachdenken, denn die Militärs fingen an zu drängen. Nun begann ein großartiges Schauspiel, und obwohl wir keine hunderttausend Zuschauer und nicht einmal einheitliche Trikots hatten und Krzysiek und ich barfuß spielten, wäre jeder Trainer in absolutes Entzücken verfallen. Denn das war kein gewöhnliches Spiel, kein gewöhnliches Treten, Passen, Täuschen, Schießen, das war ein wahrhaftiges Poem mit fünf Schauspielern in der Hauptrolle und einem allwissenden Erzähler, als der Weiser sich entpuppte. Vor allem stellte er uns auf, wie es sich gehörte, und von da an liefen wir nicht mehr in einem Haufen dem Ball nach. Am linken Flügel also Szymek, am rechten ich, in der Mitte Weiser und ein Stückchen nach ihm, einige Schritte nach 81
hinten versetzt, Piotr. In der Verteidigung blieben in unserer Hälfte Krzysiek Barski und Leszek Żwirełło, und das Tor bewachte wie immer Janek Lipski in dem etwas zu langen Eisenbahnerhemd seines Vaters. In den ersten paar Minuten verzog hinter der Auslinie Staś Ostapiuk, der für Weiser den Platz hatte räumen müssen, das Gesicht wegen dieser Veränderungen, aber nur einige Minuten, bis zum ersten Tor, das Szymek den Militärs reinhaute, als ich vom rechten Flügel aus Weiser eine Vorlage gab. Dieser legte zwei von den anderen rein, und statt gleich auf den Torwart zu gehen, täuschte er ihn, kickte mit der Ferse den Ball nach hinten zum Schuß, was Szymek sofort begriff und wunderschön ausführte. Es stand fünf zu zwei. Aber das war erst der Anfang. Denn Weiser spielte zu unserem Erstaunen hervorragend, und noch besser führte er uns auf dem Spielfeld, und nichts entging seiner Aufmerksamkeit. Als er in die Hälfte der Militärs eintrat, zögerte er zunächst, verlangsamte das Spiel und wartete, bis sie ihn, angelockt von seiner scheinbaren Hilflosigkeit, umringen würden. Dann, als spielte er mit ihnen, schlug er den Ball in die Höhe und stieß ihn danach mit dem Kopf zum linken oder rechten Flügel, rief dann Szymek oder mir zu »jetzt, jetzt«, und wir warteten nur auf solch eine Gelegenheit, um den Militärs schnell die nächsten Tore zu verpassen. Das dritte Tor setzte ich ihnen hinein, eben aus solch einer Vorlage, und das vierte jagte Piotr rein, als Weiser zuerst an Szymek abgab, dieser zurück an ihn, und Weiser dann, ähnlich wie beim zweiten, aufs Tor zu raste, den Ball nach hinten kickte zum Schuß, diesmal für Piotr, der die Chance nicht vergeudete. Das fünfte, das Ausgleichstor, fiel nach einem direkten Freistoß, und hier zeigte Weiser, was er konnte, denn der Ball flog buchstäblich einen Zentimeter über die Köpfe der Militärs, die eine Mauer gebildet hatten, hinweg und landete unter den hilf82
losen Blicken des Torwarts zwischen den Holzpfosten. Elka spielte verrückt, sie schrie und fuchtelte mit den Händen, und Staś Ostapiuk tanzte neben ihr einen wahnsinnigen Zuschauertanz und zeigte uns den erhobenen Daumen. Bis zum Schluß des Spiels waren es noch fünf Minuten, aber Weiser beruhigte uns mit einer Handbewegung. Denn er wartete offensichtlich auf seinen Augenblick, wartete auf seine Glanznummer, und obwohl er nur ein einziges Mal mit uns spielte, redeten wir noch lange danach von Weisers Nummer. Wie das kam? Piotr, der sich unerwartet auf dem linken Flügel neben Szymek befand, nahm den Ball einem Militär vom Fuß und flankte ihn in die Mitte, nur daß er des Guten etwas zuviel tat und Weiser mit keinem Sprint der Welt den abprallenden Ball mehr erreicht hätte, denn es fehlte ihm ein halber Meter. Also duckte er sich, richtete sich dann kerzengerade auf und machte im Laufen einen Salto, und als seine Gestalt sich in senkrechter Position befand, das heißt, seine Hände fast das Gras berührten und die Beine in die Höhe ragten wie Bohnenstangen, da trat er mit aller Kraft mit der einen Stange in den Ball und segelte weich aufs Gras, und das war unser sechstes, unser Siegestor. Elka johlte auf ihrem Platz, und die Militärs fürchteten bis zum Ende des Matchs unseren Ball. Und als die Zeit um war und nichts mehr sie retten konnte, kam der größte von den Bengeln auf uns zu und sagte: »Und trotzdem seid ihr Arschlöcher, hört ihr, eine Bande von stinkigen Arschlöchern.« Aber wir suchten Weiser, um ihn um das Spielfeld zu tragen. Doch er hatte aufgehört, sich für uns zu interessieren, als wäre ihm Fußball in Wirklichkeit völlig schnuppe, und er zog seine Hosen an und ging mit Elka nach Hause. Der Anführer der Militärs hatte unterdessen Piotrs Schatz geschnappt und ging mit ihm in Richtung der Büsche, wo sie ihre Kleider hatten. 83
Blitzschnell nahm er aus dem Brotbeutel ein Messer, durchlöcherte den Ball, warf ihn in unsere Richtung und schrie: »Da habt ihr euren Scheiß.« Und seine Kumpel lachten über das, was er gesagt hatte, brüllten geradezu vor Lachen und wiederholten »Scheiße« und »Arschlöcher«, als fiele ihnen nichts anderes mehr ein. Wir standen hilflos da, denn die anderen waren mit den Zuschauern doppelt so viele, und aßen übrigens, was zu sehen war, besser als wir. Ich schaute in die Richtung, wo Weiser sein mußte, und alle wandten wir die Köpfe dahin, denn wir begriffen plötzlich, daß der einzige, der hier helfen konnte, eben er war, der magere und leicht gebeugte Weiser, der nie mit uns Fußball spielte oder mit uns in Jelitkowo schwimmen ging. Aber er war schon hinter der Kaserne verschwunden. Was gingen ihn unsere Auseinandersetzungen an? Sein Auftritt war beendet, und wie ein echter Künstler verachtete er den Applaus der Menge, wenn er von der Bühne ging. Uns überließ er die bitteren Krümel seines Ruhms. So sehe ich ihn heute – er spielte keinesfalls wegen Piotrs Ball und noch weniger um unserer Ehre willen, er spielte damals, um uns zu zeigen, daß er es besser konnte und daß er in allem besser war als wir. Bestimmt ging es ihm nicht um gewöhnliche Prahlerei, es sah eher nach dem Standpunkt aus: »Na und, ihr habt gesagt, ich könnte nicht Fußball spielen, weil ich nie mit euch über das Spielfeld gejagt bin? Na, jetzt habt ihr’s gesehen.« Und hätte einer von uns gefragt, ob er noch einmal mit uns spielen würde, so hätte er sicher gesagt: »Das interessiert mich überhaupt nicht.« Ich fürchte, daß sich in dieser mutmaßlichen Behauptung, die ich ihm zuschreibe, ein großer Teil seiner Natur verbarg.
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Während ich auf dem Klappstuhl im Sekretariat der Schule saß und Szymek verdächtig lange im Arbeitszimmer blieb, überlegte ich, warum Weiser es all die Jahre vorgezogen hatte, in unseren Augen als Schwächling zu gelten, statt auch nur ein einziges Mal mit uns Fußball zu spielen oder in Jelitkowo zu der roten Boje zu schwimmen. Und schon damals, als wir mit Piotrs durchlöchertem Ball, aber sehr glücklich vom Sportplatz bei der preußischen Kaserne nach Hause gingen, schon damals überkam uns eine Art Unruhe. Denn wenn Weiser seine Fähigkeiten vor uns verbarg, wenn er uns nie zeigte, wie er drei Gegner gleichzeitig verladen konnte oder den Ball mit der Schuhspitze vom Boden aufnehmen, ihn auf den Spann legen, dann mit dem Knie weiter nach oben kicken und mit der Stirn zum linken oder rechten Flügel stoßen, wenn er uns das nie zeigte und oft am Rande des Spielfeldes saß und zuschaute, wie wir all dies viel schlechter machten als er, dann mußte er irgendwelche Gründe dafür haben, die wir nicht kannten. Und warum hatte er gerade dieses Mal beschlossen, aus seinem Versteck zu kommen und mit uns zu spielen? Szymek wiederholte Elkas Behauptung, er könne alles, und jetzt lachte keiner mehr darüber, denn wir erinnerten uns an den Zoo und den schwarzen Panther am Tag zuvor, und ich wußte überdies, daß Weiser und Elka am Rande der Startbahn keineswegs Doktor und Patient spielten, obwohl ich nicht recht verstand, wozu sie eigentlich dorthin gingen. Erst als die Wanduhr neun schlug, faszinierte mich ein ganz einfacher Gedanke, nämlich der, daß Weiser Elkas rotes Kleid vermittels des glänzenden Flugzeugrumpfes hochgehoben hatte, weil er es nicht selbst hatte tun wollen – das war ihm offensichtlich zu einfach oder vielleicht zu ordinär. Und als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete und sie endlich Szymek hinausließen, sah ich noch einmal das silberne Ungetüm von Ilju85
schin über den Ginsterbüschen, Elkas hochgezogene Knie, ihre sich hebenden und senkenden Hüften, zwischen denen sich das dreieckige schwarze weiche Etwas wellte, und ich erinnerte mich an ihr Gesicht mit dem offenen Mund, als wollte sie das schreckliche Dröhnen der landenden Maschine übertönen. Ich habe, wie mir scheint, bisher noch nicht gesagt, daß Elka sich später wiederfand und lange unter uns lebte, bevor sie für immer nach Deutschland fuhr. Aber weder damals noch später, als ich ihr schrieb, und auch nicht, als ich nach Deutschland fuhr, nur um sie zu sehen, niemals also sagte sie etwas zum Thema Weiser oder dazu, was am letzten Tag an der Strzyża geschehen war. Sie sagte nichts, und die Ärzte erklärten ihr hartnäckiges Schweigen mit einem psychischen Schock, partieller Amnesie und so weiter, und nur ich wußte und weiß, daß das nicht wahr ist. Denn Elka allein muß wissen, wer Weiser war oder immer noch ist. Ihr Schweigen, bis heute, da ich wieder Briefe nach Mannheim schreibe – nicht eingedenk dessen, was während meines Besuchs dort zwischen uns geschah –, ihr hartnäkkiges Schweigen zeugt sehr beredt davon. Ja, wenn ich mich an Weiser im Keller der stillgelegten Ziegelei erinnere, stehen mir noch heute die Haare zu Berge. Wir waren nur einmal da, aber Elka hat ihm bestimmt viele Male dabei assistiert. Und all die Explosionen im Tal hinter dem Schießplatz waren, scheint mir, auch für sie. Aber ich schreibe kein Buch über Weiser, das mit der Szene in der stillgelegten Ziegelei beginnen könnte. Das tue ich nicht. Ich stelle nur die Fakten und die Umstände klar, und deshalb setzt sich Szymek jetzt auf den Klappstuhl neben mich, und ich höre meinen Namen: »Heller, jetzt du«; und ich stehe langsam auf, mit dem schmerzenden Bein, gehe auf die mit gestepptem Wachstuch bespannte Tür zu, gehe und habe Angst vor M. oder vielmehr vor den Torturen, die er in dieser Runde des Verhörs anwenden wird. 86
Der Mann in der Uniform öffnete zwei Knöpfe seines blauen Hemdes, und ich sah, daß er darunter ein Netzunterhemd trug, aus dem durch die kleinen Maschen dichte schwarze Haare hervorkamen. Gleich mußte ich an den Schimpansen im Oliwaer Zoo denken, der auf der Brust ebenfalls solche Büschel hatte, und ich stellte mir vor, wie lustig es wäre, dort statt dessen den Feldwebel der Miliz zu sehen, wie er Sand ins Publikum warf, herumtobte und von Zeit zu Zeit in die ersten Reihen der belustigten Leute pinkelte. Ich lächelte ihm also zu, und er nahm das für bare Münze, denn er revanchierte sich seinerseits mit einem Lächeln, wies mit der Hand auf den Stuhl und sagte: »Bitte, du kannst dich setzen.« M. linste mißtrauisch in meine Richtung, der Direktor dagegen fummelte mit den Händen an seiner Krawatte herum, die inzwischen weder an eine jakobinische Kokarde noch an einen Schal erinnerte, sondern an einen nicht besonders gut ausgedrückten und ausgewrungenen nassen Lappen. »Wir wollen alles über die Explosionen hinter dem Schießplatz wissen«, begann M. »Wie viele es waren und an welchen Tagen. Woher euer Kamerad das Explosionsmaterial hatte. Was war es – TNT? Pulver? Woher nahm er es – aus Granathülsen? Aus Blindgängern? Und wir wollen, daß du uns noch einmal von dieser letzten Explosion erzählst, als Weiser und eure Freundin verschwanden. Hab keine Angst, sag die Wahrheit. Habt ihr nicht vielleicht ein Stück von einem Hemd oder einem Körper irgendwo in der Nähe gefunden? Oder vielleicht auf einem Baum?« All diese Fragen stellte M. schnell, sie waren wie die Themen einer Ouvertüre, unerwartet, eins nach dem anderen. Denn eigentlich sollte das Verhör erst beginnen. »Ja«, stöhnte der Mann in der Uniform, »also sag uns, wann die erste Explosion war, wann war das?« »So Anfang August«, antwortete ich. 87
»Und genauer?« warf der Direktor ein. »Genauer kann ich mich nicht erinnern, aber bestimmt Anfang August, weil da der Herr Pfarrer mit den Gottesdiensten begann.« »Welche Gottesdienste denn?!« M. sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Welche Gottesdienste denn – hören Sie, Herr Direktor? Hören die denn nie auf«, und er wandte sich wieder an mich. »Also, was für Gottesdienste waren das?« »Die Bittgottesdienste für die Bauern und Fischer«, antwortete ich freundlich. »Eigentlich um Regen, daß die Bucht gereinigt und die Felder begossen werden, denn es war ja eine große Dürre, und Pfarrer Dudak hat gesagt, das sei die Strafe Gottes für die Sünden.« »Wessen Sünden?« warf der in der Uniform ein. »Na ja, für die Sünden der Menschen«, ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte. »Der Pfarrer hat gesagt, die Leute entfernen sich von Gott und dem heiligen katholischen Glauben, also hat Gott diese Dürre gesandt als Zeichen, daß die Menschen sich bessern sollen, und wenn nicht, dann …« »Dann? Na?« griff der Direktor auf und verdrehte seine Krawatte noch mehr. »Wenn nicht – was dann?« »Wenn sie sich nicht ändern, dann macht Gott das gleiche mit uns wie in Sodom und Gomorrha, er verbrennt die Städte und die Menschen und …« »Jetzt reicht’s!« brüllte M. »Jetzt reicht’s, hören Sie, Herr Feldwebel? Das ist ja noch schlimmer als im Mittelalter, sie verschonen nicht einmal die Kinder, und wir sollen unter solchen Bedingungen arbeiten, wie? Schade, daß der Staatsanwalt das nicht gehört hat, das fällt sicher unter irgendeinen Paragraphen!« 88
Der Mann in der Uniform unterbrach ihn mit einer Handbewegung: »Wir müssen sachlich arbeiten, Genosse M., Emotionen sind ein schlechter Ratgeber in solchen Angelegenheiten.« Er wandte sich wieder mir zu: »Du sagst also, Kamerad, das war Anfang August, ja?« »Ja, das war Anfang August«, bestätigte ich. »Gut, und woher habt ihr gewußt, daß Weiser so etwas machen würde?« »Er hat es uns selbst gesagt.« »Wie war das?« »Wir spielten in Brętowo, und er kam und sagte, wenn wir etwas Tolles sehen wollten, sollten wir mit ihm kommen, und er führte uns in das Tal hinter dem Schießplatz.« »Und die Wiśniewska«, erinnerte er sich an Elkas Nachnamen. »War damals die Wiśniewska dabei?« »Ja, sie war überall dabei.« »Überall, das heißt, wo noch?« »Na ja, überhaupt, sie ging überall mit ihm hin, ich weiß nicht, wohin noch, aber sie gingen immer zusammen.« Ich sah, wie der Uniformierte den nächsten Knopf seiner Jacke öffnete und die Haare noch mehr durch die Maschen des Unterhemds herauskamen. »Gut«, sagte er, »ihr seid natürlich mit ihm gegangen, das heißt mit den beiden, denn die Wiśniewska war dabei, und was war dann weiter?« »An Ort und Stelle sagte Weiser, es würde eine Explosion geben und wir sollten gut auf ihn hören, denn es könnte ein Unglück passieren. Er sagte, wir sollten uns in den Graben legen, und dann machte er etwas mit den Kabeln von … von dem …« 89
»Dynamo«, warf der Uniformierte ein. »Ja, von dem Dynamo, und dann sagte er ›Achtung‹ und drehte an der Kurbel, und plötzlich tat es einen Schlag, und wir spürten, wie Sand und Grasstückchen auf uns rieselten.« »Und das war alles?« »Ja, Weiser verstaute den Dynamo irgendwo und sagte, wir könnten nach Hause gehen.« »Moment, aus dem, was du sagst, geht hervor, daß Weiser, als ihr an den Ort der Explosion gegangen seid, die Sprengladung nicht bei sich hatte, ja?« »Ja, denn jedes Mal, wenn wir eine Explosion anschauten, hatte er die Mine schon in der Erde vergraben, und in unserer Anwesenheit verband er nur die Drähte mit dem Dynamo, also muß er vorher alles vorbereitet haben.« »Das heißt, er legte die Ladung und die Leitungen, wenn ihr nicht da wart, ich verstehe. Und jetzt sag mir, wie lange die Mine da gelegen hat bis zur Explosion – eine Stunde, zwei, einen ganzen Tag?« »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Das wußte niemand, denn Weiser erklärte solche Dinge nicht, und zu der Explosion nahm er uns immer in letzter Minute mit.« Der Uniformierte kratzte sich am Kopf, schaute den Direktor und dann wieder M. an. »Nun gut, aber hat es euch nicht gereizt, ohne ihn dorthin zu gehen und zu schauen, ob die nächste Ladung vielleicht schon vorbereitet war?« Ich spürte, wie dem Mund des Uniformierten, der sich bei den letzten Worten weit zu mir vorbeugte, ein leichter Hauch von Knoblauchgeruch entströmte, der gleiche wie aus einem Glas saurer Gurken, obwohl es in diesem Sommer in dem bei unserem Haus gelegenen Garten wenig davon gab, genau wie es Dill und Knoblauch wenig gab. 90
»Nein, denn Weiser hatte uns verboten, ohne ihn dorthin zu gehen, und gesagt, das ganze Tal sei vermint.« »Und habt ihr ihm geglaubt?« »Er hat nie gelogen, wissen Sie, außerdem war jede Explosion in einem anderen Teil des Tals, und wir hatten Angst, auf eine solche Mine zu treten.« Der Direktor zog mit einer heftigen Handbewegung seine Krawatte, statt sie zu lockern, enger um den Hals. »Erkennst du das?« Der Uniformierte zeigte mir die Fotografie eines schwarzen Kastens mit Kurbel und Knopf, der wie ein schlecht an das Ganze angepaßter Griff eines Korkenziehers aussah. »Ja, das ist der Dynamo, den Weiser nach der Explosion immer irgendwo verstaut hat.« »Und woher hatte er ihn?« warf M. schnell ein. »Ich weiß nicht, vielleicht hat er ihn zusammen mit all den anderen Sachen in der Ziegelei gefunden.« »Eben, und was hatte er in dieser Ziegelei, was hat er euch gezeigt, als ihr dorthin gegangen seid?« »Wir sind nicht dorthin gegangen, in der Ziegelei haben wir Weiser nur einmal getroffen.« »Wie war das?« griff der Uniformierte auf. »Irgendwann nach der zweiten oder dritten Explosion kam Elka zu uns und sagte, wenn wir eine richtige MP haben wollten, das heißt eine richtige MP zum Spielen, sollen wir mit ihr gehen. Sie sagte nicht wohin und führte uns in die alte Ziegelei, wo Weiser wartete und uns die verrostete MP und den deutschen Helm gab, denn wir spielten damals die ganze Zeit Partisanen, und Weiser sagte also, das sei für uns. Und mehr hat er uns nicht gezeigt.« »Moment, in welchem Teil der Ziegelei wart ihr da?« »Bei den Öfen, da, wo diese Wagen und Schienen sind.« 91
»Und ihr wußtet nichts über den Keller und das Waffenlager, das er dort angesammelt hatte?« »Nein, erst als die Suche begann und als die Miliz den verschütteten Keller fand, erst da hörten wir, was Weiser dort hatte.« »Und ihr habt euch nichts gedacht? Woher er zum Beispiel den Dynamo und das Pulver für die Sprengladungen hatte? Habt ihr ihn nie gefragt? Kein einziges Mal?« »Wir haben gefragt, aber Weiser sagte, der Helm und die MP sei die Belohnung dafür, daß wir den Mund halten könnten, und wenn er sich von uns überzeugt hätte – genau so hat er es gesagt – wenn er sich von uns überzeugt hätte, würden wir noch etwas extra bekommen, aber nur dann. Also haben wir nicht gefragt.« »Nun gut«, der Uniformierte war sichtlich enttäuscht, »und Weiser spielte nicht mit euch Partisanen?« »Nein, als man nirgends baden konnte, gingen wir auf den Friedhof in Brętowo und er kam manchmal auch, aber Krieg spielte er nie mit uns.« »Den Krieg machte er selbst, aber anderswo«, sagte M., und der Direktor nickte mit dem Kopf und sagte nichts mehr. »Und es ist euch nicht in den Sinn gekommen, daß man über all das jemanden von den Erwachsenen informieren müßte?« fuhr der Uniformierte fort. »Daß das für euch alle böse enden könnte?« Ich schwieg eine Weile, denn was sollte ich ihm auf solch eine Frage – ihm, dem Uniformierten im Netzunterhemd, einem Mann, behaart wie Tarzan – antworten? Und schließlich brachte ich heraus, was er hören wollte: »Ja, jetzt denke ich, das hätten wir tun sollen.« »Eben, jetzt erst«, fügte M. hinzu, aber der Uniformierte unterbrach ihn: 92
»Was ist euch in den Sinn gekommen, die alte MP und den Helm einem entlaufenen Patienten des Krankenhauses in die Hand zu geben? Habt ihr nicht gewußt, daß das ein psychisch Kranker ist? Er ist damit in der Gegend umhergerannt und hat die Leute erschreckt, na, wessen Streich war denn das?« »So war das nicht, wissen Sie. Den Helm und die MP haben wir nach dem Spielen, wenn wir nach Hause gingen, immer in der leeren Krypta versteckt, ganz am Ende des Friedhofs. Bis wir eines Tages kamen, und da waren der Helm und die MP weg. Und erst später hat uns jemand gesagt, daß dieser Verrückte mit unserem Helm und unserer MP durch Brętowo rennt, aber selbst haben wir ihn nicht gesehen.« »Wenn’s nur darum ginge«, seufzte der Direktor und lockerte seine Krawatte, die jetzt an ein farbiges Kopftuch von Frau Korotkowa erinnerte. »Wenn’s nur darum ginge, Jungs, mein Gott, was mach ich bloß mit euch.« Aber er redete nicht aus, denn M. schaute ihn drohend an, und da verstummte der Direktor wie von einem Zauberstab berührt, und der Uniformierte fragte weiter: »Sag uns jetzt, wie viele Explosionen es waren und wie sie sich voneinander unterschieden?« »Moment«, ich zählte in Gedanken, »es waren insgesamt sechs Explosionen, jedes Mal eine. Sie waren alle ähnlich, nur die letzte, von der ich schon das letzte Mal erzählt habe, war sehr stark, das heißt, stärker als die anderen.« »Jaaa«, brummte der Uniformierte, »nun gut, und jetzt, Kamerad, beschreib noch einmal genau, was beim letzten Mal im Tal passiert ist.« Ich sprach also wie zuvor, als M. mir das Rüsselziehen machte, ich sprach langsam, um nichts zu verwechseln, und sie hörten aufmerksam zu, als wären die Wörter, die 93
aus meinem Mund flossen, Würmchen und als nähmen sie jedes dieser Geschöpfe unter die Lupe und betrachteten es von allen Seiten. Und als ich damit schloß, wie Elka und Weiser auf dem Hügel verschwanden, was der Wahrheit entsprach, als ich also damit schloß, wie sie auf dem Hügel verschwanden, hielt M. es nicht mehr aus und brüllte: »Wie konntet ihr sie sehen, da haben sie doch gar nicht mehr gelebt! Willst du uns einreden, ihr hättet zwei Geister gesehen, die zum Himmel fahren, oder was?« Und er kam mir gefährlich nahe, aber der Uniformierte hielt ihn zurück und beorderte mich zum Schreibtisch, wo er eine Militärkarte ausbreitete, auf der das Tal mit schwarzen Horizontalen gekennzeichnet war. »Ihr habt hier gestanden, bei dem Erdtrichter, ja?« »Ja, genau«, bestätigte ich. »Und der Berg, von dem du sprichst, das ist diese Talwand, ja?« »Ja«, nickte ich. »Na, da trennten euch vom Fuß der Anhöhe genau hundert Meter, wie kannst du also mit völliger Sicherheit behaupten, daß das Weiser und die Wiśniewska waren? Vielleicht schien es euch ja auch nur so, als hättet ihr sie gesehen, was? Vielleicht hattet ihr Angst zu denken, sie seien in die Luft geflogen, jemand, anscheinend Korolewski, sagte ›da gehen sie den Berg rauf‹, und aus dieser Angst heraus habt ihr sie gesehen, weil ihr sie unbedingt sehen wolltet, war es nicht so? Na, gib’s endlich zu.« Ich schwieg, überrascht von der Karte und von seiner Genauigkeit. Es mußte so aussehen, als würde ich ihm recht geben, denn sofort schloß er: »Aus dem, was du gesagt hast, geht hervor, daß du nicht genau weißt, wo Weiser und eure Freundin sich im Au94
genblick der Explosion befanden. Du hast gesagt: ›Weiser ordnete an, wir sollten beim Lärchenwäldchen warten, und als er sah, daß wir da waren, ging er durch das Tal und winkte zum Zeichen, daß wir uns hinlegen sollten, gleich darauf bebte die Erde von der Explosion, und auf unsere Köpfe rieselte Sand‹, so hast du gesagt, stimmt’s?« Ich nickte. Der Knoblauchgeruch war jetzt deutlicher, und ich bekam Appetit auf saure Gurken. »Na, dann schau her.« Der Uniformierte klopfte mit dem Bleistift auf die Karte. »Schau genau her. Zuerst steht ihr bei dem Lärchenwäldchen, hier. Weiser sieht euch und steht ungefähr zwanzig Meter weiter, hier. Dann geht er auf die Mine zu, ›er ging durch das Tal‹, hast du gesagt, also entfernt er sich von euch in Richtung der Sprengladung. Die Wiśniewska seht ihr zu diesem Zeitpunkt nicht, denn sie kommt von hier, aus den Haselsträuchern. Und jetzt schau genau her, denn das ist das Wichtigste, Weiser gibt euch von hier aus ein Zeichen, und ihr liegt da und hebt nicht die Köpfe, also könnt ihr nicht sehen, daß eben in diesem Moment eure Freundin zu ihm hingeht. Und was geschieht? Gleich nach dem Zeichen mit der Hand erfolgt die Explosion. Und von wo aus gab er das Zeichen? Dieser rote Kreis bezeichnet die Stelle der Explosion, da, wo der Erdtrichter ist. Weiser hat euch genau von hier aus gewinkt, von der Stelle, wo die Mine lag. Denn es war so – Weiser winkte zuerst mit der Hand, und als ihr schon mit dem Gesicht zur Erde lagt, beugte er sich über die Ladung, um die Leitungen zu prüfen. Dann wollte er zusammen mit der Wiśniewska zum Dynamo gehen, der hier war, genau hier haben wir ihn gefunden, nur daß dieses Mal die Ladung von selbst explodierte, ohne daß die Kurbel gedreht und der Detonator betätigt wurde. Vermutlich war es ein Blindgänger, und keine von eurem Kameraden konstruierte Mine. Bei den vorhergehenden Explosionen – das 95
habt ihr selbst bestätigt – vergingen von Weisers Zeichen bis zur Detonation in der Regel zwei Minuten. Ungefähr so lange brauchte er, um sich von der Ladung zu dem sicheren Ort zu begeben, wo der Dynamo versteckt war. Denn Weiser hat, obwohl die Sprengladungen an verschiedenen Stellen angebracht waren, jedes Mal das gleiche gemacht. Zuerst gab er ein Zeichen, damit ihr euch hinlegt, hier oder hier oder hier, darauf prüfte er ein letztes Mal den Anschluß der Leitungen an den Zünder der Bombe, ob alles in Ordnung war, und dann ging er zum Dynamo, hier oder hier oder hier, und erst dann drehte er die Kurbel und drückte den Knopf. Dieses Mal prüfte er die Leitungen – seit dem Handzeichen konnten höchstens fünfzehn Sekunden vergangen sein – und wollte auf den Dynamo zugehen, hier, aber er kam nicht so weit, denn die Ladung explodierte von selbst. Er flog zusammen mit der Wiśniewska in die Luft, und ihr wolltet die beiden unbedingt sehen, na, da habt ihr sie gesehen, aber nur scheinbar. Ihr habt geglaubt, sie gingen hier den Berg rauf, als ihr schon bei dem Erdtrichter gestanden habt, obwohl das hundert Meter von dieser Stelle entfernt war. War es nicht so?« Ich stand am Schreibtisch und bewunderte, daß alles in seiner Erzählung so gut zusammenpaßte. Zu gut, um wahr zu sein. Aber ich sagte nichts, denn der Uniformierte wußte ja nicht, daß wir uns am nächsten Tag an der Strzyża wiedergetroffen hatten, diesmal wirklich zum letzten Mal. Er wußte nichts von dem schwarzen Panther, von unserem Match mit den Militärs auf dem Rasen bei der preußischen Kaserne, er hatte Weiser nicht im Keller der alten Ziegelei gesehen, und die Haare hatten ihm nicht zu Berge gestanden, zumindest nicht davon. Er atmete auf, und wieder spürte ich den Hauch von Knoblauchgeruch, und M. erklärte: 96
»Das stimmt, und du weißt nicht einmal, wer bestätigt hat, daß man euch an der Strzyża einen Tag zuvor gesehen hat, na?« Ich schwieg, und M. fuhr fort: »Der Küster der Kirche von Brętowo hat euch gesehen.« Und M. lachte zum ersten Mal an jenem Tag triumphierend, und diesmal atmete ich auf, denn das war ein ernsthaftes Alibi. Offensichtlich hatte der Küster, als man ihn fragte, die Tage verwechselt. ›Um so besser‹, dachte ich, ›wenn jetzt alles so zusammenpaßt.‹ Aber das war nicht das Ende des Verhörs. Der Uniformierte setzte sich wieder in den Sessel, und M. kam auf mich zu. »Eines müssen wir noch klären, wo habt ihr die Überreste Weisers und der Wiśniewska versteckt? Sag!« Ich schwieg. »Das ist eine kriminelle Sache«, fügte der Direktor hinzu. »Ihr habt weder den Unfall gemeldet, noch jenes entsetzliche Begräbnis«, die Stimme wurde immer bedrohlicher. »Wie konntet ihr so etwas Scheußliches tun?! Das ist, das ist – schlimmer als Kannibalismus«, stieß er hervor. »Ihr habt wohl kein Gewissen, was bringt man euch eigentlich in Religion bei?« »Sag sofort, wie das mit diesen, mit diesen – Überresten war«, fiel der Uniformierte ihm ins Wort. »Ihr müßt schließlich ein Stück von einem Körper oder von einem Kleidungsstück gefunden haben, oder?« Ich stand da, den Kopf gesenkt, und stellte mir vor, wie ich Weisers Auge in der Hand halte und Szymek einen Fetzen des Kleides und wie wir das in unsere kleine Grube legen und Piotr ›Herr, gib Frieden dieser Seele, nimm sie auf zum ewgen Licht‹ dazu anstimmt, dann schütten wir die Grube zu, treten sie mit den Absätzen fest, aber Weisers Auge zwinkert uns aus der Erde zu und wird bis in alle Ewigkeit zwinkern und uns unterjochen, wie den schwarzen Panther hinter den Gittern des Oliwaer Zoos. Das war schrecklich. Ich 97
zitterte am ganzen Leib. M. packte mich bei den Haaren, ganz nahe am Ohr, an der Stelle, wo heute der Bartwuchs anfängt, und zog leicht nach oben, aber die dünnen Härchen entschlüpften seinen Fingern, also packte er noch einmal zu, diesmal etwas höher, und das Tanzenlassen begann. »Wo habt ihr das ver-gra-ben«, skandierte er, und bei jeder Silbe zog er stärker nach oben, und ich erhob mich immer höher, bis ich schließlich ganz auf den Zehenspitzen stand und wie ein Pinguin hin und her wackelte, während M. noch stärker zog, ja, eigentlich schon meine Haare ausriß. »Na, wo habt ihr das ver-gra-ben, sagst du’s endlich, o-der soll ich dir den Kopf ab-rei-ßen, ja?« Und bestimmt hätte ich gleich aus Leibeskräften geschrien und hätte mit diesem Schrei vielleicht sogar herausgeschrien, wie es wirklich war, hätte nicht das Telefon auf dem Schreibtisch des Direktors geklingelt. M. ließ meine Haare los und schaute in jene Richtung, und der Direktor, der den Hörer abnahm, sagte zu dem Uniformierten: »Für Sie.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen, ich spürte, wie mir der Kopf brannte, denn vom Tanzenlassen tat der ganze Kopf weh, die Wangen und die Schläfen, und der Uniformierte nickte mit dem Kopf und sagte nur »ja, ja, gut, ja, ja, selbstverständlich, ja, gut, natürlich, aber ja, gut, gut«. Und obwohl ich bis heute nicht weiß, wer damals um neun Uhr mit dem Mann in der Uniform redete, empfinde ich diesem Jemand gegenüber eine große Dankbarkeit. Schließlich hörte M. seinetwegen auf, mich an den Haaren zu ziehen. Denn als der Uniformierte aufgelegt hatte, stellte sich heraus, daß sie sich beraten mußten, und man schickte mich ins Sekretariat auf den Klappstuhl zurück, dessen Leisten beim Sitzen furchtbar drückten. Wieder al98
so saßen wir zu dritt da, vom Hausmeister bewacht. Ich schaute auf die Uhr, und mir schien, die Messingscheibe, die das Pendel unten abschloß, sei von der gleichen Farbe wie die Büchse Pfarrer Dudaks, aus der er an Fronleichnam Wolken grauen Rauchs entließ, während wir sangen: ›Du den Himmel hast erschlossen, uns erlöst vom ewgen Tod.‹
Die gleiche Uhr, mit einem Pendelstab, der unten durch eine Messingscheibe abgeschlossen wurde, sah ich in Mannheim in Elkas Wohnung, als ich viele Jahre später nach Deutschland fuhr, um sie zu treffen. Selbstverständlich gestand ich ihr nie, was das Ziel meiner Reise war. Als sie meine Stimme am Telefon hörte, besser gesagt, als sie meinen Namen hörte, gab sie keine Antwort. Vielleicht standen ihr all die Briefe vor Augen, die ich nach Mannheim geschickt und die sie in den Papierkorb geworfen hatte. Ich weiß es nicht, jedenfalls schwieg sie eine ganze Weile, bis ich die recht geistesgegenwärtige Frage vernahm: »Von wo rufst du an?« »Vom Bahnhof«, rief ich in den Hörer. »Vom Bahnhof, und ich möchte mich mit dir treffen!« Wieder schwieg sie eine Weile. »Na gut, ich bin den ganzen Tag zu Hause«, antwortete sie, als hätten wir uns erst gestern gesehen. »Weißt du, wie du herkommst?« Natürlich wußte ich, wie ich hinkam, denn ich hatte alles vorbereitet für dieses Treffen, alles geplant und ausgeklügelt, die Fragen, Gesprächsthemen, das Foto von Piotrs Grab, all das zielte schlau, oder eher, sollte unweigerlich auf Weisers Person zielen. Am Steuer des Taxis, mit dem 99
ich durch die Innenstadt fuhr, saß ein schnurrbärtiger Türke. Er war begierig auf eine Unterhaltung, als er merkte, daß ich kein Deutscher war, aber ich war in Gedanken schon bei Elka und erinnerte mich an jenen Septembermorgen des Jahres 1975, als ich sie zum Hafen von Gdynia begleitete, von wo aus sie nach Hamburg gefahren war. »Elka«, fragte ich sie zum letzten Mal, »du erinnerst dich also wirklich an nichts, von dem was damals geschah? Du weißt wirklich nicht, wie es war? Weiser hat dich doch an der Hand geführt. Du verbirgst etwas, du hast die ganze Zeit etwas verborgen. Sag es wenigstens jetzt, ich bitte dich sehr darum, sag, wenn du jetzt für immer wegfährst, was an jenem Tag an der Strzyża wirklich geschehen ist?« Und ich erhob meine Stimme fast zum Schrei, je näher Elka der Zollbarriere kam, bis sie endlich sagte: »Schrei nicht so, die Leute schauen her.« Das waren ihre letzten Worte, kein »auf Wiedersehen«, kein »macht’s gut«, nur dieses »schrei nicht so, die Leute schauen her«! Und später antwortete sie nicht auf meine Briefe, so wie sie vor ihrer Abreise nicht über Weiser hatte reden wollen. Also dachte ich jetzt, da ich mit dem Taxi durch die Innenstadt von Mannheim fuhr, ein zweites Mal würde ich solch einen Fehler nicht begehen, und als das Auto an der Ampel stehenblieb, wußte ich, daß ich völlig anders anfangen, lange kreisen, lange auf den richtigen Moment warten würde, um sie dann endlich in die Ecke zu treiben und zu einem Geständnis zu zwingen. Elka hatte die ersten anderthalb Jahre hier kein leichtes Leben gehabt. Sie arbeitete bei einer entfernten Tante, einer entsetzlich bösartigen alten Frau, als Dienstmädchen. Diese Tante nannte Elka eine Kommunistin und demütigte sie auf Schritt und Tritt, aber Elka biß die Zähne zusam100
men, denn die Tante war reich und sollte ihr ein paar Mark vermachen. Nachdem das Testament eröffnet war, schuftete Elka noch schwerer, denn die Tante hatte ihr nichts hinterlassen. Sie schuftete in zwei Schichten, morgens putzte sie in privaten Wohnungen, und abends schrubbte sie die Fußböden in einem Restaurant, dessen Besitzer ein Bekannter ihrer Tante war. Und hier lernte sie Horst kennen, denn Horst hatte seine Frau bei einem Autounfall irgendwo in Hessen verloren und trank jetzt, statt sich um seine Firma zu kümmern, bis das Lokal zumachte, bis spät in die Nacht. Sie heiratete ihn, ohne lange zu zögern, er war weder alt noch häßlich, und vor allem handelte er mit Pferden und hatte eine eigene Firma, und Elka mußte keine Fußböden mehr im Restaurant oder in privaten Wohnungen putzen. Horst fährt öfter weg, und dann sitzt Elka tagelang allein da, denn Horst hat außer ihr keinerlei Verwandte, und allein macht sie nicht gern Besuche oder empfängt Gäste. Manchmal fahren sie zusammen weg, wenn Horst nicht allzu viel zu tun hat, und den Urlaub verbringen sie im Süden in den Bergen. Aber all dies erfuhr ich erst eine halbe Stunde später, als das Taxi die Innenstadt bereits verlassen, ich mit dem schnurrbärtigen Türken einige Seitenstraßen passiert hatte und ich Elka bei einem Kaffee gegenübersaß und sie mir ein Foto von Horst aus dem letzten Urlaub, den sie in Bayern verbracht hatten, zeigte. An den Wänden des großen Zimmers hingen Aquarelle, die Reiter und Pferde darstellten, in der Mitte aber die Uhr, die gleiche wie im Sekretariat unserer Schule, mit einem langen Pendelstab, der unten von einer Messingscheibe abgeschlossen wurde. Daran konnte Elka sich natürlich nicht erinnern. Ich zeigte ihr das Foto von Piotrs Grab. Elka war mehrmals dort gewesen, aber den Grabstein hatte sie selbstverständlich nicht gesehen, und ich erzählte ihr, welche Scherereien es damit gegeben hatte, denn kein 101
Steinmetz wollte die Inschrift ›ermordet‹ einmeißeln, und schließlich blieb es dann bei ›tragisch umgekommen‹. Alle Bekannten steuerten etwas zu diesem Grabstein bei, und so war es eigentlich unser gemeinsames Denkmal für Piotr, obwohl Piotr an den Demonstrationen und Kämpfen nicht teilnahm, sondern nur auf die Straße ging, um zu sehen, was los war. Aber daran dachten wir erst bei den Toasts zurück, die Elka hervorragend zubereitete – mit Ketchup, Salatblättern, Schnittlauch, Tomatenscheiben, Kümmel, Pfeffer, Paprika und was weiß ich, womit noch, ganz heiß, direkt aus dem Backofen. Die Toasts brachten beinahe meine Pläne durcheinander, aber bis heute erinnere ich mich an ihren Geschmack, als Elka unerwartet sagte: »Ich hab nicht auf deine Briefe geantwortet und auch auf keine anderen. Denn wenn man hier ist«, erklärte sie, »dann kann man nicht dort sein, und umgekehrt. Ich bringe es nicht fertig, hier und dort zu sein.« Schon wollte ich nachlässig etwas einflechten, damit sie weitersprach, aber sie wechselte schnell das Thema, so geschickt, daß ich von mir erzählen mußte oder vielmehr von meinem jetzigen Leben, in dem es übrigens weder Interessantes noch Schönes gab. So war es eine graue und langweilige Erzählung, aber Elka ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt, sie unterbrach sogar manchmal und fragte nach einem Detail, einer Person, einem Ereignis. Ich spürte, daß sie das aus Höflichkeit tat. Schließlich erfuhr sie, was ich in Deutschland machte, und fragte, ob ich noch am gleichen Tag nach München zurückfahren müsse, von wo ich gekommen war, um sie zu besuchen. Ja, ich hatte mich wirklich zwei Wochen lang in München aufgehalten und sollte noch einmal für einige Tage dorthin zurückfahren, zu meinem Onkel, der aus dem Gefangenenlager nie nach Polen zurückgekehrt war, weil das sei102
ner Meinung nach nicht Polen war, sondern nur eine Attrappe aus einem nicht besonders guten Theater. Aber diese verworrenen Dinge erklärte ich Elka nicht, ich sagte ihr nur, nein, ich müsse nicht, denn ich mußte wirklich nicht, und vor allem war unser Gespräch über Weiser noch nicht einmal bei der Anfangsphase der Konversation übers Wetter angelangt. »Das ist toll«, freute sie sich diesmal aufrichtig. »Wenn du Lust hast, ein paar Tage zu bleiben, dann ist das gar kein Problem, und Horst wird sich freuen, wenn er zurückkommt«, sagte sie, »jetzt ist er nämlich verreist«, und obwohl ich nicht recht verstand, worüber sich ihr Mann freuen sollte, war ich einverstanden, bis zum nächsten Tag zu bleiben. Zum Glück hatte ich Geld und mußte, wenn wir in die Stadt fuhren, nicht auf jede Mark achten. Aber bevor Elka das Auto aus der Garage fuhr, sah ich mir ihr Haus an. Wie alle Häuser in diesem Viertel rechteckig, mit einem kleinen Garten, drei Zimmern oben, Eßzimmer und Küche im Parterre, und ich dachte mir, für zwei Jahre Bodenschrubben sei das sehr viel, fürs ganze Leben aber wohl ein bißchen wenig, obwohl der Rasen vor dem Eingang flauschig wie ein Teppich war und die Möbel, die Tapeten und die Holzverkleidung an den Wänden, wie mir schien, von guter Qualität waren und von gutem Geschmack zeugten. Wann also begann das Spiel zwischen Elka und mir, das Spiel um Weiser, in dem wir beide auf Zehenspitzen aufeinander zugingen, mit angehaltenem Atem, immer gegen den Wind, nie mit dem Wind, wann begann unser Spiel, das in gewisser Weise bis zum heutigen Tag anhält? Heute weiß ich, daß Elka ganz von Anfang an spielte, von dem Augenblick an, als ich vom Bahnhof aus anrief, schon da muß sie begriffen haben, worum es mir ging, und sicher legte sie sich schon damals ihren Plan zurecht oder doch 103
seine allgemeinen Umrisse. Nur, daß ich mich damals in Mannheim vom Schein trügen ließ, ich überlegte nicht einmal, warum Elka mich festhalten wollte, und ich begriff auch nicht gleich, daß Elka mich völlig durchschaut hatte, und obwohl ich dachte, ich könnte sie in einem Netz von Anspielungen, Fragen und scheinbar unbedeutenden Behauptungen fangen, schnappte doch in Wirklichkeit sie mich listig in einer noch raffinierter gestellten Falle. Wir spielten also von Anfang an. Und als ich mit der Besichtigung des Hauses und des Gartens fertig war, sagte Elka: »Warte, zu solch einer Gelegenheit muß ich etwas Besonderes anziehen.« Einen Moment später sah ich sie in einem roten Kleid, natürlich nicht in einem aus Baumwolle wie dem damals, sondern in einem gut geschnittenen aus teurem Stoff, doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es um das Kleid ging, in dem ich sie damals an der Strzyża gesehen hatte, wo der Bach in einem engen Tunnel unter dem Bahndamm der seit dem Krieg nicht mehr existierenden Eisenbahnlinie durchfloß. Ja, als Elka ins Auto stieg, wußte sie, was ich empfand, und als wir – schon außerhalb der Stadt – an den Hallen der DaimlerBenz-Werke vorbeikamen, fragte sie, ob ich nicht Lust hätte, an den Rhein zu fahren, sie schaue gern dem Fließen des Wassers zu. Später standen wir an einem der betonierten Vorsprünge der Uferbefestigung, Elka warf Hölzchen hinunter, und ich dachte die ganze Zeit darüber nach, ob die Amnesie, von der die Ärzte gesprochen hatten, von Anfang bis Ende Weisers Idee gewesen oder ob Elka nicht selber darauf gekommen war. Zum Mittagessen führte sie mich in ein Restaurant, aus dessen Fenstern wir die Friedrichsburg sahen, und während wir auf den Nachtisch warteten, erzählte sie mir die Geschichte der Stadt, die sie aus einem Reiseführer hatte, was sie nicht verschwieg. Beim Eis kam das Gespräch aus irgendeinem Grund auf Tiere. 104
»Eines kann ich nicht ausstehen«, sagte sie und schleckte ihren Löffel ab. »In den zoologischen Gärten hier gibt es einen fürchterlichen Brauch, der sich Fütterung der Löwen nennt. In jeder Stadt, in der ein Zoo ist, rennen die Leute zu einer bestimmten Stunde hin und schauen zu, wie die Wärter den Raubtieren bluttriefende Fleischstücke in den Käfig werfen, und die größte Freude bereitet es ihnen, wenn die Löwen diese Fleischstücke dann zerreißen.« Und sogleich fügte sie hinzu: »Bei euch macht man das nicht, oder?« »Bei uns macht man das nicht«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an unseren Ausflug in den Zoo von Oliwa?« Elka nickte. »Ja, natürlich, der Zoo liegt im Wald, und wir sind danach durch den Wald zurückgekehrt.« »Und erinnerst du dich an den Käfig mit dem Panther?« Ich gab mich nicht geschlagen. »Ja«, antwortete sie schnell, »der Panther war gereizt, daran erinnere ich mich, der Wärter kam zu uns her und sagte, wir sollten vom Käfig weggehen.« »Nein, so war es nicht, es war doch gar kein Wärter da« – ich legte meinen Löffel weg – »so war es nicht, denn Weiser, dieser Weiser, um den so viel Aufhebens …« Sie unterbrach mich: »Ständig fragst du nach ihm! Oh, wie langweilig das ist, wir werden uns doch nicht über Einzelheiten streiten, oder?« »Aber das ist doch keine Einzelheit«, protestierte ich. »Du bist schließlich wieder aufgetaucht, ich weiß zwar nicht wie, immerhin, du bist wieder aufgetaucht, aber er?« Elka lächelte melancholisch. »Ich bin den Bahndamm hinuntergestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen. Wenn du dich so genau an alles 105
erinnerst, dann wirst du auch wissen, daß ich zwei Monate im Krankenhaus lag, oder nicht?« »Ja, ja, ich weiß, aber du bist doch nicht den Bahndamm hinuntergestürzt«, sagte ich fieberhaft. Worauf Elka den Kellner rief und mir erklärte, oder genauer gesagt, nicht erklärte, sondern mich nur noch mehr verwirrte, indem sie sagte: »Na ja, du bist anscheinend von der Sorte von Leuten, die alles besser wissen. Was soll ich da machen?« Und so ging es bis zum Abend, immer nach dem gleichen Schema – als ich vom Flugplatz zu reden versuchte, antwortete Elka, natürlich habe sie dort Drachen steigen lassen, vielleicht auch mit Weiser zusammen, wenn ich das behauptete, aber auch mit anderen Jungen, was das betreffe, gäbe es keinen Zweifel, und als ich wiederum das Match mit den Militärs erwähnte, sagte sie, schließlich hätten wir ununterbrochen Fußball gespielt, wie alle Jungen auf der Welt, aber warum sollte sie sich ausgerechnet an ein bestimmtes Spiel erinnern? Und nur auf die Erwähnung der alten Ziegelei hin erwiderte sie nichts, dann was die Explosionen anging, so gab sie zu, daß sie toll gewesen seien. Elkas Meinung nach mußte Weiser in die Luft geflogen sein, und sie war am nächsten Tag den Bahndamm hinabgestürzt, als wir an der Strzyża spielten. Aber das sagte sie erst später, nicht in dem Restaurant, sondern zu Hause, als wir zusammen das Abendessen zubereiteten und die zweite Flasche Wein tranken, die erste ein Rotwein, die zweite Flasche ein weißer Wermut, und ich spürte, wie Zorn und Aggression in mir aufstiegen, denn ich wußte schließlich, daß sie Blindekuh mit mir spielte und daß meine Reise nach Mannheim zwecklos war, ähnlich wie die Briefe, die ich noch heute mit einer endgültiger Wahrheiten würdigen Hartnäckigkeit abschicke. Ich ging nach oben, wo Elka mir das Zimmer zum Schlafen herge106
richtet hatte, legte mich in das weiße Bett und hörte, wie sie mir von unten etwas zurief, sich entschuldigend, weil sie anscheinend etwas vergessen hatte. Und erst, als ich oben an der Treppe stand und nach unten schaute, packte mich Entsetzen. Elka machte sich grausam über mich lustig. Das Sofa, das im Eßzimmer am Fenster gestanden hatte, war jetzt mitten ins Zimmer gerückt und sah wie eine Verlängerung der Treppe aus. Und sie selbst lag auf dem Sofa mit zwei Kissen, eines unter dem Kopf, das zweite in Höhe des Kreuzes, hatte leicht die Beine gespreizt, und das rote Kleid wogte auf ihren Schenkeln im gleichen Rhythmus wie ihr ganzer Körper. Keine Macht konnte mich von dem Schritt nach vorn abhalten, eigentlich von dem Schritt nach unten, stand ich doch am Ende der Treppe. Und darin bestand Elkas teuflischer Gedanke. Mit jedem Schritt nämlich leisteten meine Beine weniger Widerstand, als hätten sie sich vom Boden losgerissen, bis ich auf der Mitte des Weges endlich begriff, daß mein Körper nach unten trieb und nicht mehr mein Körper war, sondern der in den Sonnenstrahlen glänzende Rumpf des Flugzeugs, daß meine Arme nicht mehr meine Arme waren, sondern jeder von ihnen ein silberner Flügel, und ich sah nicht mehr das Sofa, sondern den Anfang der Landebahn, ich ließ die Hügel am südlichen Rand der Stadt hinter mir, flog tief über die roten Dächer der Häuser, huschte beim Viadukt über die Gleise und sah jetzt nur noch Elkas gespreizte Beine, ihr hochgehobenes Kleid und das in dem wogenden Windstoß entblößte schwarze und weiche Etwas, dem ich mich donnernd und bebend näherte. Aber der silberne Rumpf landete diesmal nicht auf dem Beton der Landebahn, er ging mit einem starken Aufprall von Masse und Schwung im Gebüsch nieder, die Luft mit einem Pfiff durchschneidend, ging in dem unbefleckten Weich nieder, und es nahm seine Kühle mit federndem 107
Wogen und einem Schrei auf, der im Dröhnen der Maschine und der Luft unterging. Ja, Elka brachte es zu einer Flugzeugkatastrophe, und von zerstörerischem Wahnsinn besessen, zwang sie mich, als ich schon wieder nach oben stieg, meinen Körper abermals in den glänzenden Rumpf zu verwandeln und die Landung noch mehrere Male zu wiederholen, bis schließlich die Konstruktion des stählernen Vogels dem ständigen Auf und Ab zwischen Himmel und Erde nicht mehr standhielt und zerschmettert, mit gebrochenen Flügeln, ins Ginstergebüsch fiel, das nach Mandeln roch. Elka krallte ihre Finger in meine Haare, und mir schien, als hörte ich die Stimme des Gelbflüglers von der Verbrennung der Erde und ihrer Bewohner, und gleich danach spürte ich hinter den Gittern des Beichtstuhls den sauren Atem Pfarrer Dudaks, der mir keine Absolution erteilte. Aber da versuchten Angst und Einbildung einander zu übertreffen, denn die einzige Stimme war die Stimme Elkas, die nicht meinen Namen flüsterte, und der einzige Geruch war der Geruch ihres Körpers, in dem sich Wind, Salz und Mandelcreme mischten. Das Spiel um Weiser war zu Ende, ich war weder rein noch siegreich daraus hervorgegangen. Am nächsten Tag fuhr ich nach München, wo ich ebenfalls ein Spiel spielte, diesmal mit meinem Onkel, und das war ein streng politisches Spiel. Denn mein Onkel setzte sich, als ich sein Auto gewaschen und seinen Rasen vor dem Haus gemäht hatte, neben mich und sagte: »Wie könnt ihr dort leben?« Und ich antwortete: »Onkel, kneif mich ins Ohr«, und mein Onkel kniff mich belustigt. Ich sagte: »Na, siehst du, scheinbar hast du recht, und andererseits wieder überhaupt nicht.« »Wieso denn, warum?« fragte er neugierig, worauf ich erwiderte, daß ich, wenn ich wirklich existierte, wovon er sich ja eben durch das Kneifen überzeugt habe, nicht irgendeine Attrappe oder 108
ein Requisit sein könne. Und da ich der Teil eines Ganzen sei, sei jenes Ganze auch keine Attrappe, sei Polen keine Attrappe, und überhaupt, obwohl die Welt eher an einen Saustall als an ein Theater erinnere, habe er nicht recht. Ja, lieber Onkel, heute ruhst du schon unter der Erde und weißt nicht, daß ich damals keinesfalls zum Geldverdienen nach Deutschland und zu dir gekommen bin, wie Tausende von Türken, Jugoslawen, Polen, daß ich nicht gekommen bin, um für ein Auto oder andere wunderbare Dinge zu arbeiten, denn mein einziges Ziel war, Elka zu treffen und sie über Weiser auszufragen, und wenn ich bei der Gelegenheit – dich in gewissem Sinne belügend – ein paar Mark verdiente, wirst du das deinem Neffen wohl verzeihen.
Was war weiter? M. kam aus dem Arbeitszimmer mit großen Bögen von Kanzleipapier. Er gab uns doppelte Blätter und sagte, jetzt müßten wir alles, was wir gesagt hätten, in einfachen Worten und genau niederschreiben. Wir sollten von den einzelnen Explosionen erzählen, die Weiser ausgelöst hatte, einschließlich der letzten, ohne etwas auszulassen, ohne alle Grillen und Beschönigungen. Der Hausmeister machte ein zusätzliches Licht an, und man setzte uns auseinander, jeden einzeln, ganz so, als sollten wir eine Klassenarbeit schreiben. Ich bedauerte nur, daß Frau Regina unsere Aufsätze nicht lesen würde, die einzige Lehrerin in der Schule, die wir uneigennützig liebten. Denn Frau Regina unterrichtete Polnisch, sprach nie von der Ausbeutung, schrie uns nicht an und las so schön Verse, daß wir immer mit angehaltenem Atem lauschten, wenn Ordon die Festung in die Luft jagte, und mit ihr sich selbst und die anstürmenden Russen, oder wenn General Sowiński sich mit dem Degen gegen die Feinde des Vater109
lands verteidigte und sein Leben verlor. Ja, Frau Regina kümmerte sich anscheinend nicht besonders um den Lehrplan, und heute bin ich ihr dafür dankbar. Aber das ist eine andere Geschichte. Damals, im Sekretariat der Schule, wußte ich nicht so recht, wie ich das alles aufschreiben sollte. Ein paar Mal begann ich einen Satz und strich ihn dann durch mit dem Gefühl völliger Hilflosigkeit und mangelnder Erfindungsgabe. Jeder, der auch nur einmal im Leben eine Untersuchung mitgemacht hat, versteht diesen Geisteszustand. Denn mündlich auszusagen ist eine Sache, eine ganz andere aber, mit eigener Hand aufzuschreiben, was die anderen wissen wollen. Wie schreiben und nichts sagen? Oder – wie schreiben und nur das sagen, was man sagen durfte? Man mußte auf jedes Wort achten, auf jedes Komma und jeden Punkt, denn sie würden alles unter die Lupe nehmen und jeden Satz zwei- oder dreimal lesen. Als ich, auf M.s Frage antwortend, sagte: »Ich habe Weiser gesehen«, konnte ich gleich hinzufügen: »Aber eigentlich nicht so genau.« Und wenn er die Stirn runzelte, konnte man sich sofort verbessern: »Aber das war ein anderes Mal, als ich ihn nicht so genau sah, denn damals, an dem Tag, nach dem Sie fragen, sah ich ihn so wie Sie, ganz genau.« Ein Bogen kariertes Kanzleipapier dagegen war etwas völlig anderes. Was konnte ich in solch einer Situation gestehen, und was sollte ich verheimlichen? Es gab nicht viel zu sagen. Nicht viel – denn konnte ich ihnen die Feinheiten der Explosionen beschreiben, von denen keine den vorangegangenen ähnelte? Konnte ich erzählen, wie Weiser uns mit seinen Ideen begeisterte? Und selbst wenn ich es konnte, hatten sie es denn verdient? Ich berührte die geschwollene Nase und die Stelle an der Wange, wo heute der Bartwuchs anfängt. Das eine wie das andere tat ordentlich weh. Ich dachte, wenn ich auch nicht sagen würde, was an der Strzyża an jenem letzten Tag 110
passiert war, so mußte ich doch irgend etwas sagen, irgend etwas auf das riesige Blatt schreiben, um nicht ihren Zorn und ihren Ärger zu erregen. Ich erinnere mich an den ersten Satz: ›Dawid spielte mit uns nicht Krieg, weil sein Großvater ihm solche Spiele verboten hatte.‹ Sollte nicht gerade mit solch einem Satz das Buch über Weiser beginnen? Denn seine erste Explosion, die wir in dem Tal hinter dem Schießplatz anschauten, war schließlich kein Kriegsspiel. Ich weiß bis heute nicht, warum Weiser diese Explosionen veranstaltete, wozu er sie brauchte, aber als ich die blaue Staubfontäne zum Himmel spritzen sah, da ahnte ich schon, daß es hier nicht um Krieg ging. Weiser mischte jeder Ladung eine farbgebende Substanz bei, und wenn die Detonation die Erde aufriß, schoß ein farbiger Strahl in die Luft. Beim ersten Mal war es eine blaue Explosion. Als die letzten Stückchen Erde und Holz zu Boden gefallen waren, sahen wir, daß der blaue Dunst noch in der Luft schwebte, und es sah aus, als wirbelte eine azurfarbene Wolke über unseren Köpfen, die langsam immer höher stieg und ihre Form veränderte, bis sie endlich unseren Blicken entschwand. Wir waren völlig begeistert, und nur Weiser schüttelte den Kopf, als wäre ihm etwas nicht gelungen. Ich vermute, er experimentierte die ganze Zeit unter unseren Augen, und wir waren wie eine Handvoll Laien, denen man Zugang zu einer Alchimistenküche voller Retorten, Tiegel und flammender Brenner gewährte. Ich behaupte nicht, daß Weiser sich für Alchimie interessierte, das weiß ich nicht, aber genau so sah es aus, denn bevor wir uns vom ersten Eindruck erholt hatten, hieß er uns an der selben Stelle warten, legte eine neue Ladung, verband sie durch Drähte mit dem schwarzen Kasten, und wieder zerriß das Dröhnen einer Explosion die Luft. Der Effekt war noch verblüffender – die Wolke, die sich nach der Explosion in der Luft hielt, war deutlich zweifar111
big, ihr unterer Teil schillerte in der Sonne in allen Violettönen, und die abschließende Verzierung der wirbelnden Säule bildete eine rote Quaste. Diesmal schien Weiser zufrieden zu sein. Die Wolke schwebte ziemlich lange über dem Tal, und erst nach zwei, vielleicht drei Minuten verschwamm sie im Nichts, nachdem sie vorher zu einer erdbraunen Kugel zerflossen war. Das war aufregender als die grauen Rauchwolken, die Pfarrer Dudak aus dem goldenen Weihrauchfaß aufsteigen ließ, das fühlten wir genau, aber Weiser beendete seine Arbeit, verstaute den schwarzen Dynamokasten irgendwo und sagte, wie könnten nach Hause gehen. Heute weiß ich, daß solche Kunststückchen nicht kompliziert sind, sogar die Tataren wandten sie an und ließen auf die christlichen Ritter farbige Wolken los, so daß die Pferde scheuten und die Menschen vor Grauen schauderten, aber damals hielten wir Weiser für einen Zauberkünstler. Das war nach unserem Besuch in der stillgelegten Ziegelei, zu der wir auf Elkas Spuren gelangt waren, und nichts konnte uns von der Überzeugung abbringen, daß Weiser, wenn er nur wollte, alles bewerkstelligen konnte. Aber davon, was wir in dem feuchten Keller gesehen hatten, werde ich noch erzählen. Denn darauf muß ich mich besser vorbereiten als auf die Osterbeichte, wenn ich in Furcht vor dem Zorn Gottes und Pfarrer Dudaks meine Sünden aufschrieb und sie auswendig lernte wie ein Schauspieler vor der Generalprobe. Die nächste Explosion oder eher der nächste Auftritt Weisers fand etwa eine Woche danach statt und war ganz anders als der erste. In die Luft schoß eine Säule glitzernder Plättchen, die ganz langsam auf die Erde herabfielen. Das Schönste war diesmal das Herabfallen – die Wolke zerfloß nämlich nicht oben, wie beim letzten Mal, sondern schwebte langsam nach unten und ließ sich auf den Büscheln der Gräser und Farne nieder, die sehr dicht wuch112
sen in dem Tal. Auf ihren Blättern blieb ein grauer Staub zurück, und ich konnte nicht verstehen, warum das da oben so beeindruckend aussah und warum hier unten die eben noch glitzernden Partikel an den gewöhnlichen Julistaub erinnerten, der in diesem Sommer alles mit einer klebrigen Schmutzschicht bedeckte. Weiser hatte an einfachen und unkomplizierten Konstellationen keine Freude, mit jedem Mal strebte er subtilere Effekte an, und obwohl diese Bemerkung sich erst jetzt, nach so vielen Jahren aufdrängt, halte ich sie für offenkundig. Denn das nächste Mal, als die Erde von der Explosion erbebte, bot sich uns ein Anblick, der unsere kühnsten Erwartungen übertraf. Was war das? Wenn ich sage, die französische Flagge, so ist das nicht gelogen, aber auch nicht die Wahrheit. Wenn ich schreibe, es erinnerte an drei um sich selbst kreisende Säulen, jede von einer anderen Farbe, so wird das auch nicht unzweifelhaft sein oder das Wesen der Sache ganz wiedergeben. Kann man im übrigen überhaupt das Wesen der Sache wiedergeben? Ich fürchte nein, und deshalb schreibe ich ja auch nicht das Buch, von dem ich denke, daß es schon lange hätte geschrieben werden sollen. Ebensowenig wie das Buch über Piotr und jenen Dezember, als Hubschrauber über die Stadt flogen, oder über unsere Väter, die sich mit überwiegender Mehrheit am Zahltag betranken und wie Herr Korotek den Herrgott verwünschten, der das alles zuließ. Aber damals, im Tal, stupste mich Szymek in die Seite und sagte: »Jesus, ist das schön«, und fügte gleich hinzu, »wie macht er das, dieser Itzig.« Aber diesmal war es kein beleidigendes Epitheton, sondern so etwas wie ein ordinäres Kompliment, genauso hätte Szymek sagen können, »dieser Halunke«, und es wäre das gleiche gewesen, so empfand ich es damals, während ich in den Himmel starrte, vor dessen Hintergrund drei Rauchsäulen kreisten, 113
oder besser gesagt, drei senkrecht ausgedehnte Wolken. Eine weiß wie Leinen, die zweite blau und die dritte rot wie das Tuch des Stierkämpfers, mit dem er das wahnsinnige Tier direkt in den tödlichen Degenstich lockt. Die farbigen Flächen vermischten sich diesmal nicht, sondern stiegen immer höher hinauf, bis sie über den Spitzen der Kiefern verschwanden. An jenem Tag, als wir durch die tiefe Schlucht in Richtung Brętowo heimkehrten und Szymek sich mit Piotr stritt – was war das: Hutbänder oder die französische Flagge? –, trafen wir M. Zuerst blinkte beim Ausgang der lehmigen Schlucht das bekannte Schmetterlingsnetz auf, dann erblickten wir den Herrn von der Biologie, wie er im Laufschritt die an dieser Stelle steile Böschung hinaufstürmte, sich mit den Händen am Bärlapp festhaltend. Der Schmetterling, den M. jagte, flog ganz nah am Boden, daher streckte der Lehrer den Hals so gut er konnte nach vorn und blieb mit der Nase fast am Bärlapp hängen. Als M. sich schon auf halber Höhe befand, änderte der Schmetterling seine Absichten, denn er drehte über seinem Kopf einen zitternden Salto und flog jetzt nach unten, mit seinen farbigen Flügelchen flackernd. M. setzte ihm nach, doch da er nun den Steilhang hinunterrannte, konnte er seinen Schwung nicht bremsen und stürzte uns beinahe vor die Füße, und wir hörten das Krachen des Stocks, an dem das Netz befestigt war. Aber M. bemerkte weder uns noch den zerbrochenen Stock, denn im Netz flatterte der riesige Schmetterling. »Langsam, mein Kleiner, langsam«, flüsterte M. und holte, immer noch liegend, aus seinem Brotbeutel ein gläsernes Etui, worauf er mit einer gekonnten Bewegung den Schmetterling damit fing. »Endlich hab ich dich«, sprach er zärtlich zu ihm. »Du bekommst das schönste Nädelchen, mein Liebling«, und als er sich erhob und uns sah, 114
war er keineswegs verlegen, sondern lächelte triumphierend. »Na, Jungs«, sagte er, »wißt ihr, was das ist? Nein, das ist leider kein Parnassius Mnemosyne, das würde an ein Wunder grenzen, aber auch so wird es etwas zu beschreiben geben. Ihr wißt nicht, was für ein Exemplar das ist? Das ist, meine Lieben, der Parnassius Apollo, der Parnassius Apollo, hier, im Norden, in nacheiszeitlicher Moräne! Er ist in den Sudeten völlig verschwunden, lebt noch in den Pieniny und in der Tatra, ja, ja, Jungs, kein Wissenschaftler würde glauben, daß der Apollo auch hier vorkommt! Und ich habe ihn gefunden. Und ich werde das in ›Wszechświat‹ beschreiben! Die Raupen des Apollo nähren sich vom Mauerpfeffer, und wißt ihr wenigstens, wie der Mauerpfeffer auf lateinisch heißt? Familie der Succulentae, und er heißt Sedum acre, merkt’s euch, Jungs – Sedum acre, was man mit Scharfer Mauerpfeffer übersetzt!« Wir standen da und staunten Bauklötze, starrten auf das gläserne Etui, das an einen kleinen Zylinder erinnerte, und sahen, wie der Schmetterling die Flügel zu bewegen versuchte, aber zu wenig Platz hatte in der gläsernen Falle und dagegenschlug, wie ein Fisch im Aquarium, ohne seine Situation zu verstehen. Natürlich hatte M., der gleich darauf seines Weges ging, nichts mit der dreifarbigen Explosion Weisers gemein. Doch als ich den letzten Satz meines Aufsatzes auf das karierte Kanzleipapier schrieb, langsam und mit Bedacht, da dachte ich, daß Weiser manchmal an solch einen Schmetterling erinnerte, besonders, wenn ihm etwas mißlang und er sich aufregte und seine Betroffenheit durch verstärktes Gestikulieren zu verbergen suchte. Ja, die vierte Explosion gehörte nicht zu den gelungenen, das war klar, denn als wir den Ausbruch hörten, bot sich unseren Augen eine gewöhnliche graue Staubwolke, die sich schnell senkte, und das war alles. Weiser lief zu der Stelle, wo die Ladung lag, und kehrte, 115
tänzelnd wie der Parnassius Apollo, sichtbar mißmutig zu uns zurück. »Nochmal«, sagte er zu Elka, und wieder hörten wir das Drehen der Kurbel, den dumpfen Knacks des Knopfes, aber diesmal erfolgte überhaupt keine Explosion. »Vielleicht sind die Leitungen unterbrochen«, fragte Piotr zaghaft, aber Weiser geriet noch mehr in Fahrt. »Das kann nicht sein«, erklärte er in den Himmel starrend. »Das kann absolut nicht sein, wir probieren es nochmal«, und wieder lief er zu der Ladung, und seine Hände flatterten unermüdlich weiter. Diesmal erfolgte eine Explosion, aber außer einem gelblichen Wölkchen, das für einen kurzen Augenblick über einer Staubfontäne schwebte, war nichts. An diesem Tag ging Weiser mit uns nach Hause, und ich erinnere mich, daß er nicht einmal zu Elka ein Sterbenswörtchen sagte. Ich behaupte nicht, daß er etwas mit irgendeinem Schmetterling gemein gehabt hätte, aber als die Uhr im Sekretariat zehn schlug und ich gerade die letzte Zeile der ersten Seite schrieb, schien mir dieser Vergleich besonders treffend, treffender als heute, da meine Phantasie in keiner Weise an jene von vor vielen Jahren erinnert. Aber den Schmetterling und die dreifarbige Wolke hielt ich damals für mich fest, ähnlich wie Szymek und Piotr. Ich schrieb kein Wort über Weisers Experimente oder darüber, wie die letzte Explosion wirklich ausgesehen hatte. Ich schrieb ganz einfach, der Idee jener drei folgend, die jetzt hinter der Tür mit dem gesteppten Wachstuch saßen. Ich schrieb, daß Weiser jedes Mal zu dem Dynamo auf die andere Seite des Tals gegangen sei, daß wir während der Explosionen die Köpfe unten gehalten hätten, ganz dicht am Boden, und daß die Explosionen sich eigentlich durch nichts unterschieden hätten als durch die Stärke der Detonation. Und als der Hausmeister für einen Augenblick hinausging, hob Szymek den Kopf über dem Blatt und flüsterte: »Ich 116
schreib das«, und Piotr und ich wußten schon was, bevor Szymek noch leiser hinzufügte, »ich schreib, wir hätten ein Stück von dem roten Kleid gefunden und ich hätte es auf den Abfall geworfen, weiter nichts, oder«, verbesserte er sich sofort, »wir hätten es verbrannt.« Ich wußte, genau wie Szymek und Piotr, daß sie das zufriedenstellen würde, denn sie hatten ihr eigenes Bild von den Ereignissen, und von uns verlangten sie nur, es zu erfüllen. Der Hausmeister kam von der Toilette zurück, und ich überlegte, wie ich die letzte Explosion, einen Tag vor den Ereignissen an der Strzyża, beschreiben konnte, eine Explosion, die für Weiser besondere Bedeutung gehabt haben mußte, wovon ich noch heute überzeugt bin. Diesmal ging es nicht um den Farbeffekt, sondern um etwas Raffinierteres. Wie meistens in solchen Fällen fehlt es mir an einer Vergleichsskala. Womit hatte es Ähnlichkeit? Hätte ich es damals beschreiben müssen, hätte ich gesagt, mit dem Trichter, den meine Mutter benutzte, um Himbeersaft in Flaschen zu füllen – die Staubwolke, die nach der Explosion entstand, war völlig schwarz, unten schmal, nach oben zu breiter werdend, und drehte sich um die eigene Achse. Aber das, so scheint mir, war kein Trichter mehr, und wenn schon, dann ein mächtiger, wie eine Windhose wirbelnder Trichter aus schwarzen Partikeln. Er bot sich unseren Augen sofort nach der Explosion und schwebte in kreisförmiger Bewegung eine gute Minute lang über dem Tal, bevor er in der Luft zerfließend verschwand. Erst nach Jahren fiel mir die Ähnlichkeit des Weiserschen Trichters mit dem gegen den Drachen kämpfenden Erzengel auf. Ich hatte keinen Zweifel, daß die phantastisch angeordneten Gewänder des Engels, seine ausgebreiteten Flügel und die ganzen himmlischen Heerscharen, daß all das in der schwarzen, wirbelnden Wolke enthalten war, obwohl Weiser natürlich den Holzschnitt nie hat sehen 117
können, ähnlich wie auch wir damals nicht genau wußten, was Kunst war. »So ein Wirbelwind kann alles einsaugen«, sagte Szymek überzeugt, »einen ganzen Menschen.« Und Elka, wie immer zu Übertreibungen neigend, fügte hinzu: »Ach du, nicht bloß einen Menschen, der kann ein ganzes Haus einsaugen und es woandershin versetzen.« Und während ich den letzten Satz in meinem schriftlichen Geständnis beendete, dachte ich, Weiser könnte doch plötzlich so einen Wirbelwind schicken, der unser Schulgebäude wegrisse und es irgendwohin hinter Bukowa Górka versetzte, in die Nähe des alten Friedhofs oder, noch besser, ins Tal hinter dem Schießplatz, denn dann würden M., der Direktor und der Uniformierte erst begreifen, daß hier etwas anderes vorgefallen war als ein gewöhnlicher Unfall mit einem Blindgänger. Aber Weiser war von dem nur ihm bekannten Platz aus nicht darauf erpicht, uns zu helfen, also setzte ich einen Punkt und wartete, was weiter passieren würde. Der Hausmeister sammelte unsere Aufsätze ein. Und ich mußte wieder an Frau Regina denken, die uns Polnischunterricht gab und so schön Verse vorlesen konnte. Besonders die von der verbrecherischen Frau, die ihren Mann umbrachte, sind mir im Gedächtnis haften geblieben, denn wenn Frau Regina bei dem Kampf der beiden Brüder angelangt war, wenn in der Kirche der Geist in der Rüstung erschien und wie mit einer unterirdischen Stimme rief, und wenn die Kirche unter Dröhnen einstürzte, da herrschte in der Klasse eine Stille wie niemals sonst, niemand unterhielt sich, niemand vergoß Tinte, und es war noch feierlicher als während der Wandlung, wenn Pfarrer Dudak die Oblate, rund wie die Sonne, in die Höhe hielt und lateinisch sang. Hätte Frau Regina uns einen Aufsatz über Weiser schreiben lassen, er wäre völlig anders ausgefallen als derjenige, den ich dem Hausmeister abgab. Vielleicht hätte ich nicht alles ge118
schrieben, aber bestimmt wäre da neben dem schwarzen Panther das tolle Fußballspiel gewesen, und über der Fischsuppe in der Bucht wäre ein Wirbelwind gekreist und hätte die ganze Schweinerei in den mächtigen Trichter gesaugt, und am Tag darauf hätten wir baden können wie jedes Jahr. Indessen saßen wir weiter im Sekretariat auf den Klappstühlen, deren Leisten beim Sitzen drückten, und der Hausmeister verschwand im Direktorzimmer, die Tür hinter sich offenlassend. »Jetzt müßt ihr warten«, teilte er uns mit, als er nach einer Weile zurückkam. »Wenn alles in Ordnung ist, unterschreibt ihr eure Aussagen und könnt nach Hause gehen. Aber reden dürft ihr noch nicht«, fügte er mit einem drohenden Blick auf Piotr zu, der sich in meine Richtung beugte. Also redeten wir nicht, wie all die Stunden, die vergangen waren, seit man uns hierher gebracht hatte, und ich hörte, wie es in Szymeks Bauch und auch in meinem und dem Piotrs immer mehr knurrte, denn sie gaben uns wirklich nichts zu essen. Der Hausmeister schaltete das Radio ein, und aus dem Holzkasten drang leise Volksmusik. »Gleich kommen Nachrichten«, sagte er zu sich selbst und machte sich daran, das nächste Brot zu verdrücken. Tatsächlich wurde die Musik noch leiser, und der Sprecher kündigte an, jetzt kämen Ausschnitte aus einer Rede von Władysław Gomułka, dessen Glatze seit einiger Zeit in allen Klassen auf den Porträts zu sehen war. Die lächerliche, etwas schrille Stimme redete etwas von Ordnung in unserem gemeinsamen Haus; und ich wunderte mich, daß die Erwachsenen den Namen dieses Mannes so andächtig aussprachen, wo er doch so langweilig redete, noch schlimmer als Pfarrer Dudak beim sonntäglichen Hochamt. Aber wer wird die Geheimnisse der politischen Mäander erforschen? Heute, da ich weiß, warum die Leute sich für Władysław Gomułka begeisterten, oder das zu119
mindest verstehen kann, erinnere ich mich daran, wie die gleichen Erwachsenen enthusiastisch die Worte seines Nachfolgers begrüßten, besonders das, was er auf der Werft sagte, als Piotrs Grab noch frisch war, denn er redete ebenfalls von Ordnung und dem gemeinsamen Haus. Ja, heute gelte ich als Erwachsener, und wenngleich ich mich nicht für Politik interessiere, verfalle ich nie in Enthusiasmus für einen führenden Mann, der vom gemeinsamen Haus und von der Ordnung anfängt. Ich höre schon auf, denn schließlich wollte ich nicht davon erzählen. Es geht um Weiser. Nur um ihn. Und es gibt noch sehr viel zu erklären. Das Spiel ist noch nicht beendet. Das Spiel? Ich kann es nicht anders nennen. Ich nehme an, daß, genauso wie damals, als wir zu dritt dasaßen und auf das Unterschreiben unserer Aussagen und das Ende der Untersuchung warteten, daß Weiser jetzt genauso mit mir spielt und meine Unternehmungen mit dunklen Augen betrachtet. Aber darüber werde ich noch zu reden haben.
Was war nach dem denkwürdigen Match mit den Militärs? Das Wichtigste war das Wetter. Die Sonne brannte wie toll auf die Stadt und die Bucht, die Blätter auf den Bäumen wurden gelb wie zu Beginn des Herbstes, und die Vögel sangen fast gar nicht mehr, erschöpft von der Glut, die vom Himmel strömte. Eines Tages fuhren wir nach Jelitkowo, um den Zustand der Fischsuppe zu untersuchen, und was wir sahen, überstieg alle, auch die schwärzesten Erwartungen. Denn da füllten, außer den Stichlingen, das unbeweglich stehende Wasser Hunderte von verendenden Aalen, Flundern, Heringen und anderen Fischen, deren Namen ich bis heute nicht kenne. All das, halb verfault und entsetzlich stinkend, bewegte sich zuckend. Besonders die Aale, die stärksten von allen Fischen, starben lange, 120
noch heute sehe ich ihre sich windenden Leiber vor mir, ein Symbol jenes Sommers. Die Fischer waren aus ihren Häusern gekommen und saßen tagelang auf den Bänken, Zigaretten rauchend und ihr Los verwünschend. Einer von ihnen hielt uns an, als wir zwischen den leeren Kisten hindurchgingen: »Was macht ihr hier, Jungs«, sagte er melancholisch, »das ist hier nichts für euch.« Und gleich, ganz ungefragt, kam er ein bißchen ins Reden. »Das ist das Yperit, alles von diesem verdammten Yperit, ich sag’s euch, Jungs, diese preußischen Schweine.« Und als er merkte, daß wir nicht so recht begriffen, worum es ihm ging, erklärte er weiter: »Na, wißt ihr nicht, daß das Yperit von einem deutschen U-Boot ist? Dieses U-Boot ist in den letzten Kriegstagen bei Hela gesunken und war ganz mit Yperit beladen, wie ein Faß mit Heringen, na, und jetzt haben wir’s, eine Kloake haben wir, keine Bucht!« »No, no, Ignac«, hörten wir durchs Fenster, »red den Kindern keinen Unsinn ein, alle wissen, daß das nicht das U-Boot war, sondern daß hier zu Johannis russische Manöver waren und daß die ein Zeug ins Wasser gelassen haben, daß wir alle nacheinander krepieren wie die Fische!« Der Fischer geriet nun völlig in Zorn: »Mach, daß du fortkommst, Alte, quatsch nicht so viel«, fuhr er seine Frau an, und in unsere Richtung gewandt sagte er noch einmal: »Das U-Boot und basta, es ist verrostet, und aus den Büchsen ist diese Sauerei ausgelaufen, diese verdammten Nazis, als hätten sie nicht schon genug Schaden angerichtet, und jetzt das noch!« Und wir teilten uns gleich in zwei Fraktionen, und als beim Warten auf die Straßenbahn an der Endstation beim Kreuz ein lauter Wortwechsel zwischen den Anhängern des U-Boots und denen der sowjetischen Manöver ent121
brannte, schaute ich zum vor Hitze weiß schimmernden Himmel auf, schaute auf den Sonnenball und wußte, daß weder das U-Boot noch die sowjetischen Manöver in der Bucht der Grund für all das waren. Hätte mich damals jedoch jemand gefragt, oder würde mich heute jemand fragen, was der Grund für die Fischsuppe war, so könnte ich keine klare Auskunft geben. Denn bestimmt waren es weder die Sünden der Menschen noch der Zorn Gottes, wie Pfarrer Dudak glaubte, und mit ihm viele Bewohner unseres Hauses. Sie versammelten sich abends im Hof und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, als fürchteten sie sich vor schlimmerem Unglück. Und man konnte immer merkwürdigere Dinge in den Gesprächen hören – daß Fischer aus Hela über den Gewässern der Bucht einen orangeroten Ball gesehen hätten, der wie ein Kugelblitz aussah, daß sich einer Frau, die durch den Wald nach Brętowo ging, die Muttergottes von Matemblewo gezeigt habe, daß Matrosen mit eigenen Augen ein Segelschiff ohne Mannschaft gesehen hätten, das in der Nacht zwischen den Schiffen auf der Reede vorbeigeglitten sei. Es gab auch solche, die einen Kometen in Gestalt eines Pferdekopfes über der Stadt hatten kreisen sehen, und diejenigen, die ihn gesehen hatten, beteuerten, daß der Komet nach der Umkreisung der Erde wiederkommen und mit fürchterlicher Kraft niederfallen würde. Indessen schien jeder Tag heißer als der vorhergehende, und wir spielten nicht einmal mehr Fußball bei der preußischen Kaserne, in Anbetracht der Hitze und der Wolken beißenden Staubs, die sich aus dem verbrannten Gras zusammenballten. Was konnte man tun? Trotz M.s Drohungen gingen wir auf den Friedhof von Brętowo. Im Schatten der alten Buchen war es kühler. Nur hatten wir jetzt weder den Helm noch die verrostete Schmeisser, und von dem Gelbflügler war jede Spur verschwunden. Wir nah122
men an, daß man ihn irgendwo in der Nähe geschnappt und unsere Waffe konfisziert hatte. Das Spiel mit den Deutschen und den Partisanen schien uns ohne diese Beigaben seines Glanzes beraubt, und immer größere Langeweile erfüllte unser Gemüt. Wenn Weiser gekommen wäre, so wie damals – so dachten wir –, hätte er vielleicht etwas Interessantes mitgebracht, etwas, was uns den nötigen Feuereifer für unsere Kriege verliehen hätte. Aber Weiser dachte nicht daran, zu kommen. Sein Auftritt in dem Match war das letzte Zeichen, das er uns gegeben hatte, und jetzt wartete er, daß wir zu ihm kamen. Dieser Gedanke reifte allmählich in uns, aber so schnell ging das nicht. Einmal sagte Piotr, während wir im Schatten der Haselsträucher lagen: »Der Strand ist geschlossen, das Spielfeld ist futsch, was sollen wir eigentlich hier machen?« Wir wußten nicht, was er meinte – den Friedhof oder die Stadt überhaupt, die unter dem glühenden Sonnenball in den letzten Zügen lag –, aber eigentlich begann mit diesem leichthin geäußerten Satz, der an keinen von uns gerichtet war und in der Luft verpuffte, eben mit diesem Satz begann unser Abenteuer mit Weiser. Nach einem Augenblick des Schweigens, wie das so ist, spuckte Szymek den Grashalm, den er kaute, aus und sagte: »Weiser würde etwas einfallen.« Und alle stimmten zu: »O ja.« Weiser würde bestimmt etwas einfallen, denn Weiser war nicht irgend jemand – davon waren wir schon überzeugt, nur, wie sollten wir an ihn herantreten, um nicht als Trottel dazustehen, denen selbst nichts mehr einfiel. Andererseits war er derjenige, dem immer etwas einfiel, und er hätte uns etwas vorschlagen können, natürlich nicht Blindekuh oder Schlagball, denn das waren normale, alltägliche Dinge, und die Hitze hatte unsere natürliche Abneigung gegen normale, alltägliche Dinge noch verstärkt. Ja, wir wollten Abwechslung, und wer weiß, ob es nicht eine unbewußte 123
Lust war, das Schicksal herauszufordern, wie sie sich oft bei Jungen meldet, die sich eine Landkarte anschauen oder den ›Grafen von Monte Christo‹ lesen. Der Wunsch nach Abwechslung brannte in unseren von tödlicher Langeweile geplagten Herzen. Plötzlich begriffen wir, daß nur Weiser uns diese Abwechslung verschaffen konnte. »Man muß ihnen ein paar Mal nachgehen«, entschied Szymek. Und Piotr meldete, daß Elka und Weiser jetzt nicht mehr zum Flugplatz, sondern irgendwo nach Brętowo gingen und dort manchmal für einen halben Tag verschwanden. Es blieb also dabei, morgen würden wir ganz früh an der Hausecke auf der Lauer liegen und herausfinden, was sie machten, wohin sie gingen, und auch, warum sie unsere Gesellschaft mieden. Doch das war nicht so einfach, wie wir dachten. Schon ganz zu Anfang vermehrten sich die Schwierigkeiten wie die Karnickel. Erstens vergaß Szymek seinen französischen Feldstecher und mußte in dem Moment zurückgehen, als Weiser und Elka schon aus der Eingangstür kamen. Zweitens hatten die beiden, wie mit Absicht, an jenem Tag ihre Pläne geändert und statt – wie wir gedacht hatten – die Straße geradeaus in Richtung Bukowa Górka zu gehen, bogen sie in den Weg zwischen den Gärten ab und gingen in Richtung Flugplatz. Drittens war die Verfolgung durch eine ganze Gruppe unpraktisch, und an jenem Tag waren wir zu fünft oder zu sechst. Ständig mußte man stehenbleiben und jemanden zur Ruhe mahnen, und dabei verloren wir sie aus den Augen. Bei der Endstation der Zwölf holte uns Piotr ein. »Hab ich’s nicht gesagt«, freute er sich, »sie gehen zum Flugplatz.« Und irgendwie machte ihn niemand darauf aufmerksam, daß er vorher nichts dergleichen gesagt hatte. Einen Moment lang erschauerte ich in der Hoffnung, noch einmal das Spiel mit dem Flugzeug zu sehen, aber nur einen Moment, denn El124
ka und Weiser gingen die Treppe hinunter, zu der Haltestelle der S-Bahn, die damals Gdańsk-Flugplatz hieß. Und bevor wir uns versahen, fuhren sie in dem gelbblauen Wagen davon in Richtung Sopot, und das war eigentlich alles an jenem Tag. »Sie haben uns zum Narren gehalten«, versetzte Piotr, »wir können nach Hause gehen.« Und so standen wir auf der Brücke und warteten auf eine bessere Idee, aber es kam keine Idee. Statt dessen sahen wir am Himmel einen Doppeldecker, der mit heiser röchelndem Motor nach oben stieg. »Oh, ein Doppeldecker«, sagte Piotr. »Von wegen Doppeldecker, nur ein Kukuruźnik«, stellte Szymek richtig und nahm seinen französischen Feldstecher aus dem Futteral, »schauen wir ein bißchen!« Am Eisengeländer der Brücke entlang stellten wir uns für den Feldstecher an, indessen entfernte sich das Flugzeug, das eine immer größere Höhe erreichte, in Richtung der Bucht. Szymek ließ, wenn auch ungern, den Feldstecher herumgehen. Der Kukuruźnik, der inzwischen eine ziemliche Höhe erreicht hatte, drehte um in Richtung Stadt und flog jetzt mit ausgeschaltetem Motor, wobei alle Augenblicke der langsam kreisende Propeller knallte – trach – trach trach – trach trrrach – trach trach. Plötzlich, als der erdbraune Rumpf den Friedhof von Zaspa hinter sich gelassen hatte, der von hier aus nur in Gestalt einer Baumgruppe zu sehen war, tauchte der Bovist eines Fallschirms auf. Einer, und ein paar Sekunden später noch einer und noch einer, und danach noch zwei, insgesamt fünf Fallschirmspringer schwebten jetzt herab, direkt auf den Rasen des Flugplatzes zu. Das Flugzeug flog über unsere Köpfe hinweg, drehte um, korrigierte seinen Kurs und landete bei den Hangars. Daran war nichts Außergewöhnliches, jeden Frühling und Sommer übten hier ein- oder zweimal in der Woche Fallschirmspringer, und das Rattern 125
des Doppeldeckers über unserem Stadtteil ist mir aus jener Zeit in Erinnerung wie das Leitmotiv aus einem Film. Nur, daß wir damals nichts Besseres zu tun hatten, und die Fallschirmspringer gefielen uns sehr, wir standen auf der Brücke, der Doppeldecker startete und landete, die weißen Kuppeln tauchten am Himmel auf, und hinter uns fuhr alle sechs Minuten die blaugelbe Schlange der S-Bahn vorbei, deren Wagen unsere Stadt von der Berliner U-Bahn geerbt hatte. Ich habe geschrieben: geerbt, ist das falsch? Ich hätte es nicht geschrieben, wenn sich dies alles zu einem Buch über Weiser fügen würde, zu einem Buch, das heißt zu einer Veröffentlichung, da unterstreicht man sofort solche Ausdrücke und fragt: »Was heißt da – geerbt?!« Hans Jürgen Hupka, Gonschorek, Czaja, sie warten auf solche Formulierungen und reiben sich die Hände. »Das ist unser«, sagen sie, »alles unser, deutsch«, und gleich streicht der verantwortliche Redakteur solch ein Wort, denn wozu sollte man den Revanchisten Wasser auf ihre Mühlen gießen? Und ich sehe schon, wie die Hand des Redakteurs die Bemerkung auf mein Manuskript schreibt: durch eine andere Formulierung ersetzen. Und hinter uns fuhr alle sechs Minuten die blaugelbe Schlange der S-Bahn vorbei, deren Wagen sich dank der Waffenbrüderschaft der heldenhaften polnischen Armee und der unbesiegten sowjetischen Armee, die in gemeinsamem Sturm die Berliner Bestie zermalmten, in unserer schönen Piastenstadt befinden. Nun ja, ich habe ein bißchen übertrieben, heute würde kein Redakteur mehr so schreiben, und statt des gestrichenen ›geerbt‹ würde ich da finden: ›als Kriegsentschädigung erhalten.‹ Nur mache ich kein Buch über Weiser. ›Ich lebe, um zu schreiben, und ich glaube, daß man ohne Rücksicht auf die Umstände sein Leben der Aufklärung sowohl des Chaos als auch der Ordnung widmen sollte.‹ Ich weiß nicht 126
mehr, wer das gesagt hat. Und obwohl der erste Teil dieses Satzes nach Kitsch riecht, und obwohl ich durchaus nicht um des Schreibens willen lebe, so ist doch der zweite Teil wichtiger jetzt, da ich die Zeilen fülle in der Hoffnung, daß ich endlich verstehe, was ich nicht verstehen kann, daß ich endlich sehe, was ich vorher nicht bemerkt habe. Daß ich die Ordnung vom Chaos trenne oder daß sich mir im Chaos eine andere, ganz unbekannte Ordnung offenbart. Ja, eben darum geht es. Deshalb sind da so viele verwirrte Fäden. Deshalb auch werde ich keinen schon geschriebenen Ausdruck in einen anderen umändern, selbst wenn er besser klingt. Standen unser Verharren auf der Brücke und die Sprünge der Fallschirmspringer in irgendeinem Zusammenhang mit Weiser? Ja und nein. Wenn ich mich an diese Stunde des heißen Sommers erinnere, dann hauptsächlich deshalb, weil ich einmal im Gespräch mit Piotr auf sie zurückkam. Jedes Jahr gehe ich zu ihm auf den Friedhof, und wenn alle Leute weggehen, alle Erwachsenen, die an Gott glauben, aber nicht an Geister, wenn nur die Blumen, Kränze, schwarzen Fähnchen und brennenden Kerzen auf den Gräbern bleiben, dann setze ich mich auf die steinerne Platte und unterhalte mich mit Piotr, manchmal streiten wir uns sogar über unwesentliche Einzelheiten, ganz so, als gingen wir noch zusammen in die Schule im oberen Teil von Wrzeszcz. Einmal setzte ich mich auf die Ecke der Platte, schob die vertrockneten Blätter weg, und Piotr fragt mich gleich: »Na, was gibt’s Neues in der Stadt?« Und ich antworte ihm, eigentlich nichts Besonderes, nur mit den Verkehrsmitteln gebe es große Schwierigkeiten. »Was für Schwierigkeiten?« »Na ja, du bewegst dich ja von hier nicht weg«, sage ich versöhnlich zu Piotr, »sie tauschen die S-Bahn aus.« 127
»Was heißt austauschen?« »Eben austauschen«, antworte ich, »die alten Züge, die von der Berliner U-Bahn, kommen auf den Schrott, und an ihrer Stelle werden neue verkehren, solche wie überall in Polen, in Warszawa, Łódź oder Kraków, auch elektrische, nur daß sie dreitausend Volt haben, und die hatten neunhundert.« – »Neunhundert«, sagt Piotr mißtrauisch, »diese Bahn hatte keine neunhundert Volt, sondern achthundert.« – »Nein«, sage ich zu Piotr, »du erinnerst dich falsch – ganz bestimmt nicht achthundert, sondern neunhundert Volt!« Piotr »achthundert«, ich »neunhundert«, »bestimmt achthundert« Piotr wieder, »nein, bestimmt neunhundert« wieder ich, »sie wechseln doch das ganze Triebwerk aus, um diesen Abschnitt direkt an Bydgoszcz anzuschließen«, darauf Piotr »das ist kein Argument, so oder so müssen sie das Triebwerk umbauen, aber ich sage dir, die alte hatte achthundert!« Und so streiten wir uns wie zwei gute Freunde, und die letzten Züge der alten elektrischen Bahn verkehren noch zwischen Gdańsk und Wejherowo in unregelmäßigen Zeitabständen, denn die Arbeiten gehen auch an solchen Tagen wie jetzt, an Feiertagen weiter. Und als ich die krumme Allee des Friedhofs hinunterging, in einer immer größeren Flut von Lichtern, im Duft tausender Kerzen, erinnerte ich mich an jenen Tag, als wir an das Eisengeländer der Brücke gelehnt standen und die Übungen der Fallschirmspringer beobachteten, als wir Weiser schon fast vergessen hatten und hinter uns die gelbblauen elektrischen Züge von der Berliner U-Bahn vorbeihuschten. Piotrs Gedächtnis erwies sich als das bessere, die alte Bahn hatte in der Tat ein Triebwerk von achthundert Volt. Indessen war der Kukuruźnik zum letzten Mal auf dem Rasen gelandet, die Fallschirmspringer verschwanden in den Hangars, und der Feldstecher von Verdun wanderte 128
von Piotrs Händen direkt in das Lederfutteral. Szymek spuckte in einer Fontäne hinunter. »Wir haben hier nichts mehr zu suchen«, sagte er entschlossen, »gehen wir heim.« Und wieder kam das Gespräch auf Weiser. Nur worüber und in welcher Weise redeten wir? Ich weiß es nicht mehr. Aber bestimmt über ihn, heiß und leidenschaftlich stritten wir darüber, wie wir uns an ihn heranschleichen, wie ihn überraschen, wie ihm vorschlagen sollten, daß er etwas mit uns machte. Es vergingen zwei weitere Tage, entsetzlich langweilig und fruchtlos. Weiser entwischte jedes Mal unserer Aufmerksamkeit, einmal verschwand er irgendwo in der Nähe der Auferstehungskirche, ein anderes Mal verloren wir ihn bei Bukowa Górka aus den Augen. Darauf beschlossen wir, ihm am alten Bahndamm aufzulauern, denn wenn es stimmte, daß er mit Elka bis hinter Brętowo ging, dann mußte er einen guten Teil des Weges eben da entlanggehen. Vom Morgen an saßen wir auf dem Friedhof, an der Stelle, wo dieser mit einer seiner Ecken an die ehemalige Bahnlinie grenzt. Heute, da ich mich bemühe, den Ablauf jenes Tages zu rekonstruieren, bleiben viele weiße Flekken, mit kartographischer Genauigkeit jedoch taucht aus dem Nebel jene Bahn auf, die es damals doch gar nicht gab. Die Strecke führte in einem Bogen in südöstliche Richtung. In Höhe der Station Gdańsk-Flugplatz von der Hauptarterie der Stadt abbiegend, durchschnitt sie mit den Brückenköpfen gesprengter Brücken die GrunwaldzkaStraße, die Wit-Stwosz-Straße, die Polanki-Straße, verlief anschließend am Wald entlang bei der Auferstehungskirche, überquerte die Schlucht des Grabens und führte weiter am Friedhof von Brętowo vorbei, übersprang wiederum mit den zerfallenden Pfeilern des Viadukts die Landstraße, die nach Rębiechowo führte, und trat, nicht ganz einen halben Kilometer weiter, in Höhe der Irrenanstalt, in 129
eine noch tiefere Schlucht ein, gleich hinter der Stelle, an der die Strzyża in einem engen gewölbten Tunnel unter dem Bahndamm hindurchfloß. Von dort aus führte sie weiter in ein uns nicht bekanntes Territorium, wir wußten nur, daß sie, genau wie hier, unverändert gesprengte Brükken begleiteten, mit der Hartnäckigkeit einer unbegreiflichen Logik. Übrigens war es schwer zu verstehen, weshalb unter so vielen gesprengten Brücken nur die erhalten geblieben waren, die heute völlig nutzlos waren, wie die zwischen der Kirche von Pfarrer Dudak und dem Friedhof von Brętowo, die fantastisch hoch war und über dem Graben die beiden Seiten der mit Gras, Ginster und wilden Himbeeren bewachsenen Böschung verband. Aber das war damals nicht das wichtigste Problem. Wir warteten auf Weiser in der leeren Krypta, die, verborgen im Dickicht von Brennesseln und Farn, ein ausgezeichnetes Versteck darstellte. Szymek ließ die Augen nicht von den Gläsern des Feldstechers, und wir lagen auf dem Bauch, kauten Grashalme, und von Zeit zu Zeit gab jemand im Summen der Wespen und Hummeln träge etwas von sich. Die Hitze drang langsam auch hierher durch, ins Innere der Krypta, so daß der Geruch modriger Feuchtigkeit und kühlen Zements sich immer mehr mit dem schweren Duft der Blumen mischte. Die Sonne stieg immer höher, und irgendwann gegen Mittag legte Szymek den Feldstecher weg und sagte, man wisse eigentlich nicht, wozu wir hier lägen, denn wenn Weiser bis jetzt nicht gekommen wäre, würde er bestimmt nicht mehr kommen. Und vielleicht ging er überhaupt nicht hier entlang. Vielleicht hatte er diese Stelle umgangen und den Weg über die Steinbrüche und den Berg genommen, den wir wegen seiner Kegelform und seines konkaven Gipfels den Vulkan nannten? Oder vielleicht saß er jetzt im Ginstergebüsch auf dem Flugplatz und wartete mit Elka auf die Landung 130
eines Flugzeugs? Schließlich war alles möglich. Nichts war unwahrscheinlich. Sicher deswegen dachte ich damals, gleich würden wir hinter dem Hügel das Rattern eiserner Räder vernehmen, den langgezogenen Signalpfiff, und in Rauchschwaden, unter Zischen und Knirschen würde vor unseren Augen die Lokomotive erscheinen, geführt von Weiser mit einer Eisenbahnermütze. Er würde die Maschine anhalten, von den steilen Sprossen der Eisenleiter herabspringen und uns mit der Hand ein Zeichen geben, wir sollten einsteigen, denn gleich würde er weiterfahren. Die Kolben erdröhnen in beschleunigtem Rhythmus, der Dampf donnert in den Ventilen und los geht’s, bis hinter die Strzyża und die letzte gesprengte Brücke aus roten Backsteinen, dorthin, wo endlich wirkliche Gleise und Weichen sein müssen. Ich glaubte damals, daß der Bahndamm zu solch einer Stelle führte, und ich malte mir aus, wie wir mit Weiser fahren und auf stillgelegte kleine Stationen stoßen würden, auf verrostete Signale und von Unkraut überwucherte Bahnwärterhäuschen, und Weiser würde mich, wie der Kapitän eines Schiffes, auf Wache schicken, damit ich auf heimtückische und unter üppigen Grasbüscheln unsichtbare Weichen aufpaßte, von denen verräterisch tote Gleise abzweigten. Ich erzählte das alles laut, ich weiß eigentlich nicht, warum, aber keiner lachte oder fand es dumm. Denn was waren schließlich gesprengte Brücken und nicht existierende Schienen gegen die Möglichkeiten Weisers? Seine Lokomotive hätte in Schwaden von Rauch erfolgreich hierhergelangen und uns zu einer Reise ins Unbekannte mitnehmen können. Doch er kam nicht, und die Zeit begann sich entsetzlich zu dehnen. Ich weiß nicht mehr, wen wir in Cyrsons Laden schickten, um Limonade zu holen, und wen, um Brötchen oder etwas anderes Eßbares heimlich von zu Hause zu bringen. 131
Ich kann mich auch nicht mehr erinnern, wie viele Flaschen Limonade es waren und ob aus allen in kleinen Bläschen die Kohlensäure entwich. Meine Idee mit Weiser, oder eigentlich mit der Lokomotive und Weiser, kam sehr gut an, ich mußte noch einmal alles von Anfang an wiederholen, jeder der Zuhörer fügte von sich aus etwas hinzu, und so entstand unsere Erzählung von der außergewöhnlichen Lokomotive auf der toten Bahnlinie. Während die letzten Tropfen der Limonade auf den klebrigen Flaschen aus grünem Glas trockneten und rote Ameisen die Krumen der Brötchen vor unseren Augen wälzten, dachten wir uns weitere Einzelheiten dieser Geschichte aus. Schöne, unserer Meinung nach, und ausgesprochen erhabene. Da zeigte sich die Lokomotive mit dem seltsamen Maschinisten immer bei Vollmond. Mit brennenden Lichtern, einen Strom von Funken sprühend, kam sie langsam aus Richtung Wrzeszcz, leicht und locker die gesprengten Brücken überspringend. Auf der kleinen Brücke bei der Auferstehungskirche hielt sie eine Weile an, und dann konnte man sehen, wie aus der Sakristei verstohlen ein Männchen mit kurzem Frack gelaufen kam. Das Männchen ging auf die keuchende Maschine zu und übergab dem Maschinisten einen Geldbeutel mit klingenden Münzen. Die Lokomotive verabschiedete sich mit einem kurzen Pfiff von dem Männchen und setzte sich in Bewegung, und dieses lief im Trab in den dunklen Tannenwald auf der anderen Seite des Bahndamms. Wofür wurde der Maschinist bezahlt? Alles hat seine Gründe – die Lokomotive, die jetzt in eine tiefe Schlucht fuhr, kam beachtlich in Schwung, schoß flink unter dem Bogen der steinernen Brücke hindurch, und schon bremste sie knirschend am Rande des Friedhofs, auf dem wir gerade saßen und uns das alles ausdachten. Weiser zog den Hebel und pfiff dreimal durchdringend. Und plötzlich öffneten sich im 132
Mondlicht die überwucherten Krypten, wurden die geborstenen Tafeln beiseitegeschoben, und ein Schwarm von Verstorbenen kroch, mit den Schienbeinen klappernd, aus den Gräbern und begab sich zu der Lokomotive. Als alle bereit zur Reise waren, ließ der Maschinist sie auf den Tender steigen und fuhr weiter, über die nächsten gesprengten Brücken und unsichtbaren Weichen. So geschah es jeden Monat, immer bei Vollmond, unabhängig von der Jahreszeit. Der Maschinist kehrte gegen Morgen zurück, die müden Reisenden begaben sich wieder in die Krypten, und die Lokomotive verschwand irgendwo in der Nähe der Station Gdańsk-Flugplatz, wo der alte Bahndamm auf die wirkliche Eisenbahnlinie stieß. Einige Bewohner entfernter Vororte sahen diese Dinge und erzählten sie, zitternd vor Grauen, vertrauten Personen. Natürlich gab es auch einige Verwegene, die das Geheimnis ergründen wollten, aber sie mußten teuer bezahlen für ihre Neugier. Einmal sprang der Bruder des Küsters auf den Tender und fuhr zusammen mit den Verstorbenen in Richtung Strzyża. Er konnte niemandem mehr erzählen, was er gesehen hatte, denn als die Lokomotive zurückkam und beim Friedhof anhielt, packten die Skelette ihn bei den Armen und nahmen ihn mit in eine der Krypten. Seither hörte man in windstillen Nächten den halb lebendigen, halb toten Bruder des Küsters rufen: »Laßt mich raus! Laßt mich raus!« Aber man wußte nicht, wo die Leichen ihn versteckt hielten, und im übrigen war der Schrei so entsetzlich, daß niemand es gewagt hätte, den Verschwundenen zu suchen. Vielleicht gebe ich nicht alle Einzelheiten dieser Geschichte genau wieder, aber jetzt, ähnlich wie im Sekretariat der Schule, als wir auf das Ergebnis unserer schriftlichen Aussagen warteten, denke ich, daß es keineswegs eine schlechtere Geschichte ist als diejenige, die Frau Regina uns im Polnischunterricht vorlas. Letzten Endes spielte sie 133
auch nachts, und der Verstorbene stand aus dem Grab auf und sprach zu den Lebendigen. Und obwohl wir den Friedhof nicht besonders fürchteten und es früher Nachmittag war – als alles ausgedacht, erzählt und von den sich vermischenden Stimmen im Chor aufgesagt worden war, als die ganze Geschichte in der Stille der verlassenen Krypta verklungen war, da wurde uns doch unbehaglich. Als stimmte es, daß das Gesagte Wirklichkeit werden könne, wider den gesunden Menschenverstand und die weisen Geister. Indessen erschien Weiser nicht in unserem Gesichtsfeld. Im Tal gegenüber dem Friedhof, auf der anderen Seite des Bahndamms, mähte ein Landwirt aus Brętowo Gras. Das ausgespannte Pferd rupfte Klee, und der arbeitende Mann unterbrach von Zeit zu Zeit seine Tätigkeit, richtete sich auf, zog einen Wetzstein aus der Tasche und wetzte die Klinge. Der metallene Laut zerfloß träge in der glühenden Luft, und wir wurden immer weniger, denn viele zweifelten am Sinn des Wartens, und alle Augenblicke ging jemand über Bukowa Górka nach Hause zurück, den Platz in der Krypta und die Hoffnung aufgebend. »Bittet, so wird euch gegeben«, sagte Szymek sentenziös und ahmte dabei die Stimme von Pfarrer Dudak nach. »Wie denn«, wunderte sich Piotr, »befaßt der liebe Gott sich überhaupt mit solchen Sachen?« »Mit was für Sachen?« fragte ich. »Na, zum Beispiel mit so einer Bitte, daß Weiser hier auftauchen soll, wenn wir sehr darum bitten«, erklärte Piotr, aber Szymek zerstreute sofort seine Zweifel. »Glaubst du, der liebe Gott hat keine wichtigeren Sachen zu tun? Und überhaupt, wozu soll man darüber nachdenken, Weiser ist Jude, und das ist etwas ganz anderes!« »Der Herr Jesus war auch Jude«, gab sich Piotr nicht geschlagen, »und da er der Sohn Gottes war, heißt das, daß 134
der liebe Gott auch Jude ist, oder nicht? Wenn dein Vater Pole ist«, wandte er sich an Szymek, »dann wirst du auch als Pole geboren, und wenn er Deutscher wäre, dann würdest du als Deutscher geboren, oder?« »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär«, brummte Szymek unwillig und äußerte sich nicht weiter zu diesem Thema. Irgendwo in der Ferne, hinter den Hügeln des Niedźwiednik, brummte ein Flugzeug. Nur noch zu dritt, schwiegen wir lange, keiner von uns hatte Lust, unnötig zu schwatzen. Ich dachte, ähnlich wie sie, daß Weiser heute nicht hier vorbeikäme und wir eigentlich nach Hause gehen könnten, und wenn wir uns beeilten, würden wir es noch schaffen, die Limonadeflaschen abzugeben, bevor Cyrsons Laden zumachte. Die Sonne stand schon tiefer, und die langen Schatten der Kiefern durchschnitten jetzt den Bahndamm wie über einen Bach gelegte Balken. Die von unten her beleuchteten Baumstämme sahen unnatürlich rot aus, wie bei einem Jahrmarktsmaler. Auf der anderen Seite hörte der Mann auf, das gemähte Gras zu kleinen Häufchen zusammenzurechen, spannte dann das Pferd an und fuhr in Richtung der Häuser. Wir spürten den Duft von Heu, vermischt mit dem Geruch von Tierschweiß, die Luft stand unbeweglich wie an allen diesen Tagen, seit die Fischsuppe die Bucht bedeckte. »Vielleicht kommen wir nachts hierher?« unterbrach Piotr die Stille. »Wozu denn?« fragte Szymek. Da sagte Piotr, es würde sich lohnen, sich zu vergewissern, ob wirklich um zwölf Uhr nachts die Verstorbenen aus den Gräbern aufstünden oder zumindest miteinander redeten. Die Leute sagten das, und man wußte nicht, wieviel daran wahr sei. Vielleicht sagten sie es, weil sie es wußten, aber vielleicht auch deshalb, weil sie einfach Angst hatten und sich selbst nie vergewissert hatten. Also könnten wir uns vergewissern. »Also 135
gut«, stimmte Szymek zu, »aber wer geht hin? Denn nachts auf den Friedhof muß man allein gehen, die Verstorbenen wittern eine größere Anzahl von Leuten, wie die Tiere«, sagte er, »und dann ist das ganze Spiel für die Katz.« Wir beschlossen, Lose zu ziehen – wir würden natürlich zu dritt gehen, aber vor dem Friedhof würde der, auf den das Los fiel, sich bekreuzigen und allein weitergehen. Und er würde mindestens eine Viertelstunde in der Mitte des Friedhofs warten, bei den steinernen Engeln mit den zertrümmerten Flügeln. Aber es kam nicht zum Losen. »Guckt mal«, flüsterte Szymek und kroch aus der Krypta, »da sind sie, da!« Tatsächlich, den Bahndamm entlang ging Weiser, und einen halben Schritt hinter ihm, irgendein Päckchen in der Hand, marschierte Elka, wie ein kleines Mädchen hüpfend. Schnell verließen wir die Krypta und versteckten uns hinter einem dichten Hagebuttenstrauch, der nicht mehr als fünf Meter vom Bahndamm entfernt war. Sie gingen an uns vorbei und bogen in einen Feldweg, in Richtung des Schießplatzes. Als sie in der lehmigen Schlucht verschwunden waren, gingen wir ihnen nach. Es war dieselbe Schlucht, in der wir viel später M. mit dem Schmetterlingsnetz trafen, als er dem Apollo nachstellte. Wir waren wie Hunde, die man nach langem Warten von der Leine ließ, Hunde, die das Wild witterten und losrannten, um die Spur nicht zu verlieren. Dort, wo die Schlucht endet, geht der Weg leicht aufwärts. Wir hielten uns eng an diese Anhöhe und beobachteten, wie die beiden jetzt am Rande der Moräne auf das Plateau kletterten. Wir schlichen uns unter Wahrung aller Regeln der Kriegskunst an sie heran, und das war keine leichte Aufgabe, wenn man den Höhenvorsprung, den sie hatten, in Betracht zog. Hinter einem breit wuchernden Ginsterbusch liegend, beobachteten wir jede ihrer Bewegungen und Gesten. Aber sie verhielten sich 136
außergewöhnlich ruhig. Sie saßen auf dem höchsten Punkt des Plateaus, dem Meer zugewandt, und unterhielten sich über etwas wohl recht Unwichtiges, wie man aus Elkas Gesichtsausdruck schließen konnte. Damals dachten wir, Elka und Weiser warteten auf irgendein Zeichen, auf etwas Wichtiges, was sie und uns aus der starren Erwartung reißen würde, aber heute weiß ich, daß sie einfach auf den Sonnenuntergang warteten. Denn das, was später geschah, konnte nur nach Sonnenuntergang geschehen. Der orangerote Ball verschwand endlich hinter dem Wald, über den Himmel ergoß sich ein roter Glanz, vor dessen Hintergrund mit schwindelerregender Geschwindigkeit die schwarzen Pünktchen der Insekten flimmerten, da stand Weiser auf und gab Elka die Hand, und sie gingen weiter in Richtung Schießplatz. Wir glitten hinter ihnen her wie Geister – schnell und geräuschlos. Wir gingen durchs Altholz, weiter das Tal hinter dem Schießplatz entlang, von wo wir in einen schmalen Pfad abbogen und zwischen finsteren Buchen und Haselsträuchern bergauf gingen, dann kreuzte unser Weg die Landstraße nach Rębiechowo und führte uns jetzt ohne Unterbrechung durch den Wald in unbekannte Richtung, immer weiter fort von den Häusern von Brętowo. In der warmen Luft spürte man den Geruch von Harz und getrockneter Rinde, den auch nicht der leiseste Windhauch verwehte. In der dunklen, mondlosen Nacht, da nur die Sterne schweigend auf uns herabschauten, wirkte das Gebäude der stillgelegten Ziegelei, das sich unerwartet vor unseren Augen erhob, wie ein Riesenbau mit dem aufstrebenden Turm des Schornsteins, den schwarzen Höhlen der Fenster und dem steilen Dach, dessen entblößte Sparren uns wie die Rippen eines großen Tieres erschreckten. Wir standen zaghaft am Waldrand, und erst die dröhnende Stimme Weisers brachte uns in die Wirklichkeit zu137
rück. Er sagte etwas zu Elka, und sie antwortete ihm in abgerissenen Sätzen. Die Worte drangen aus der Tiefe zu uns herauf, vervielfacht durch das Echo der leeren Wände. Es war klar, daß die beiden irgendwo unten waren, wahrscheinlich im Keller. Auf Zehenspitzen huschten wir an den gußeisernen Wagen und der Öffnung des Brennofens vorbei. In dem Teil der Halle, aus dem die Stimmen kamen, war der Boden aus Holz und außerdem morsch. Die Schuhe in den Händen, gingen wir so leise wie möglich zu der hochgezogenen Klappe, von wo aus man die Stufen sehen konnte, die nach unten führten. Plötzlich leuchtete unter uns das Licht eines Streichholzes auf, gleich darauf eine Kerze, die Elka an die Wand stellte. Wir schmiegten uns mit dem Gesicht an die Bretter, zum Glück waren die Ritzen hier so breit, daß wir alles ganz klar sahen. Elka setzte sich mit gekreuzten Beinen an die Wand in die Nähe der Kerze. In der Mitte des Kellers, ebenfalls auf dem Boden, saß Weiser; er sah aus, als hätte er sich zusammengerollt oder als betete er. Sie schwiegen, und ich schluckte und spürte, daß gleich etwas Schreckliches geschehen würde. Ich hörte mein eigenes Blut wie die Niagarafälle in jeder Ader und jedem Gefäß. Elka wickelte das Päckchen aus. Im flackernden Schein der Kerze erblickte ich in ihren Händen ein merkwürdiges Musikinstrument, es sah aus wie miteinander verbundene Flöten von ungleicher Länge, die sie an den Mund setzte, auf ein Zeichen von Weiser wartend. Endlich, als er den Kopf hob, hörten wir die ersten Töne, seltsam weit weg von uns, so, als spielte jemand auf dem Gipfel eines Berges eine langsame und sehnsüchtige Melodie. Das Timbre des Instruments war weich und wogend. Weiser stand auf. Er zog die Schultern hoch und verharrte eine Weile in dieser Position. Die Melodie wurde immer lebendiger, die Tonfolgen kamen eine nach der andern, kehrten jedoch 138
immer zum gleichen Thema zurück. Und Weiser, der Weiser, den wir an Fronleichnam in einer Wolke von Weihrauch erblickt hatten, der Weiser vom Flugplatz und vom zoologischen Garten in Oliwa, der Weiser, der das Match mit den Militärs gewonnen hatte, tanzte jetzt bei Kerzenlicht zu der auf der komischen Flöte gespielten Melodie. Er tanzte im Keller der verfallenen Ziegelei, Staubwolken aufwirbelnd, die Hände in die Höhe und zur Seite werfend, den Kopf in alle möglichen Richtungen neigend. Er tanzte immer schneller und heftiger, als hätte ihn die Melodie, die sich mit jedem Takt bis zur Grenze des Möglichen beschleunigte, ganz in ihrer Gewalt. Er tanzte, als wäre er besessen von zuckenden und springenden Dämonen, er tanzte mit halb geschlossenen Augen wie ein vom Alkohol berauschter Hochzeitsgast, er tanzte wie ein heimgesuchter Verrückter, weder Maß noch Grenze der Müdigkeit kennend, er tanzte, und unsere Augen wurden immer größer, sahen wir doch einen völlig Fremden. Das war nicht mehr Weiser, unser Schulkamerad von der Nummer dreizehn, erster Stock, der Enkel des Herrn Abraham Weiser, des Schneiders. Das war eher ein erschreckend Unbekannter, ein beunruhigend Fremder, jemand, der durch ein Zusammentreffen von Umständen jetzt in menschlicher Gestalt auftrat, die ganz offensichtlich seine auf eine Befreiung von den unsichtbaren Fesseln des Körpers abzielenden Bewegungen hemmte. Plötzlich wurde die Musik leiser. Das war noch unheimlicher, als wenn unter den Flötentönen eine Orgel oder ein Jagdhorn ertönt wäre. Weiser fiel auf den Boden. Rötlicher Dunst umschwebte seine Gestalt, und im Kerzenlicht sah ich wirbelnde Staubwolken von derselben Farbe. Ich kam nicht dazu, zu denken, daß gerade die Stille so schrecklich und grausig klang, da machte Weiser den Mund auf, als wollte er Luft holen, und wir vernahmen eine tiefe männliche Stimme, 139
die irgendwelche abgerissenen Ausdrücke in einer unverständlichen Sprache von sich gab. Mir schien, eine Hand berührte meine Schulter, und ich weiß, daß ich diese Täuschung dem Entsetzen verdanke, denn die Stimme, völlig fremd und streng, kam aus Weisers Kehle, als spräche er, ohne es zu wissen. Seine Augen waren geschlossen. Seine Fäuste ballten und öffneten sich bei jedem Ausdruck. Er sah aus wie ein müder Mensch, der unter größter Qual und gegen seinen Willen langsam Laute aus seinem geschwollenen Hals hervorbringt. Erst als er abbrach und nunmehr wie tot aussah, schaute ich Elka an. Sie saß regungslos an der Wand und war eigentlich nicht mehr Elka, sondern eine hölzerne Puppe. Ihre auf Weiser starrenden Augen erinnerten an die Glasperlen der Puppen aus dem Kindertheater. Sie bewegten sich nicht und zuckten nicht einmal, als Weiser schließlich seinen Körper in eine knieende Position brachte und die Kerze weiter in die Mitte schob. Und dann geschah es. Weiser stellte sich auf beide Füße, breitete die Arme aus wie zum Flug und stand lange da, in die Flamme der Kerze starrend. Ich weiß nicht, in welchem Augenblick, wann genau ich bemerkte, daß seine Füße nicht mehr den Estrich berührten. Anfangs hielt ich es für eine Sinnestäuschung, aber Weisers Füße erhoben sich immer deutlicher über den Boden. Ja, sein ganzer Körper schwebte jetzt in der Luft, zuerst dreißig, vielleicht vierzig Zentimeter über der Erde, und langsam erhob er sich noch höher, von einem unsichtbaren Arm gewiegt. »Jesus«, vernahm ich Szymeks Flüstern, »Jesus, was macht er?« Weiser levitierte über dem schmutzigen Boden, sein Körper war nicht mehr angespannt. Piotrs Finger drückten sich in meinen Arm. Also wie war das wirklich? Kann das, was wir im Keller der stillgelegten Ziegelei sahen, nur eine Sinnestäuschung gewesen sein? Kann es sein, daß es uns nur so schien, als hätte Weiser über dem Boden geschwebt, oder aber levi140
tierte er tatsächlich im Licht der flackernden Kerze? Dreiundzwanzig Jahre später stellte ich diese Frage Szymek, als wir uns in seiner sonnigen Wohnung gegenübersaßen, in einer ganz anderen Stadt und, was ich ebenfalls betonen muß, in einer ganz anderen Zeit. Draußen vor dem Haus zog ein Umzug vorbei. Auf den Transparenten waren neue oder fast gänzlich neue Losungen zu sehen. »Wir fordern die Anerkennung«, las ich auf einem davon. »Die Presse lügt«, stand auf einem anderen. »Es lebe Gdańsk«, bemerkte ich auch irgendwo inmitten der Menschenmasse, gleich neben einem großen Porträt des Papstes, das von einem jungen Mädchen getragen wurde. Szymek war nicht mehr der Szymek mit dem französischen Feldstecher aus Verdun, das war klar, aber eine solche Veränderung hätte ich doch nicht erwartet – größer als die Entfernung von dreiundzwanzig Jahren und die Kilometerzahl, die unsere Städte trennte. Er interessierte sich für die aktuellen Ereignisse und fragte mich ständig nach Einzelheiten aus Gdańsk. Lange erklärte ich ihm, wie alles bei uns aussah, und noch länger mußte ich erzählen, wie in all diesen Tagen das Tor zur Werft aussah und das hölzerne Kreuz, an dem die Leute Bilder der Schwarzen Madonna anbrachten und wo sie Blumen hinlegten. »Dieses Mal haben sie nicht geschossen«, freute er sich wie ein Kind, »aber wie geht es weiter?« Ich wußte nicht, wie es weiterging, und im übrigen konnte das niemand, von der Tatra bis zum Strand in Jelitkowo, voraussehen, ich ärgerte mich nur, daß meine Fragen zu Weiser genauso unbeantwortet blieben wie die Probleme der großen Politik, über die Korrespondenten aller Zeitungen der Welt sich die Köpfe zerbrachen. »Ist das letzten Endes jetzt so wichtig«, sagte Szymek, »nach so vielen Jahren und gerade jetzt, wo solche Dinge geschehen?« 141
Ich konnte ihn nicht davon überzeugen, daß dem so war, daß das für mich das Wichtigste war. »Also, wie war das wirklich?« Ich gab mich nicht geschlagen. »Levitierte Weiser, oder erlagen wir einer Massenpsychose?« Szymek machte das Bier auf, das im Süden besser schmeckt, und schüttelte bedenklich den Kopf. Er sprach wie immer ganz ruhig. »Wenn du in einem Buch liest, daß dem Autor Gott erschienen sei, in Gestalt einer Feuersäule und unter Flügelrauschen, dann weißt du doch auch nicht, ob es wirklich so war oder ob es dem Autor nur so schien. Natürlich«, fügte er hinzu und kippte sein Glas, »müssen wir den Fall einer offensichtlichen Mystifikation außer acht lassen.« »Und dort, im Keller«, fragte ich, »hat Weiser da in der Luft geschwebt, oder schien es nur so?« Szymek zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß nicht«, antwortete er nach einer Weile, »vielleicht levitierte er wirklich oder vielleicht erlagen wir nur einer Massenpsychose, das kommt schließlich häufiger vor, als daß einer über der Erde fliegt, findest du nicht?« Und so war es die ganze Zeit während meines Besuchs bei ihm, übrigens dem einzigen in all den Jahren. Szymek hatte keine bestimmte Absicht was Weiser betraf und beantwortete alle von mir aufgeworfenen Fragen auf ähnliche Weise: »Es kann so gewesen sein, aber es kann auch anders gewesen sein«, antwortete er jedes Mal. So viele Jahre sind vergangen, und unser Gedächtnis kann schließlich trügen. Und als er erfuhr, daß ich drei Jahre zuvor bei Elka in Mannheim gewesen war, fragte er, was für ein Auto sie habe und wie es ihr gehe. Nein, er konnte sich nicht einmal denken, wozu ich dorthin gefahren war, und er wollte auch nicht wissen, ob Elka mir etwas über Weiser 142
gesagt hatte. An eines erinnerte sich Szymek sehr gut, und zwar an das Instrument, auf dem sie zu Weisers Tanz gespielt hatte im Keller der alten Ziegelei. »Eine Panflöte, das ist wirklich ein ungewöhnlicher Ton, eine seltsame Musik«, sagte er lebhaft zu mir. »Woher kann sie so ein Instrument gehabt haben?« Ich wußte natürlich, wie das war, dieses Detail hatte ich sehr genau untersucht, im gleichen Jahr, als ich mir die Schulpapiere Weisers anschaute, und ich sprach sogar mit der unermüdlichen Musiklehrerin. Sie bestätigte, daß aus der Sammlung der Volksinstrumente in jenem Jahr eine Panflöte verschwunden sei und sie sich nie habe erklären können, wie aus der Vitrine, dem Stolz ihres Arbeitszimmers, wo es neben einem Xylophon auch eine Ukulele, eine Balalajka, eine skandinavische Geige und eine Menge anderer Exponate zu sehen gab, ausgerechnet die Panflöte verschwand. »Wer hat denn die gebraucht?« Sie zuckte mit den Schultern, die von dem ständigen Herumfuchteln bei den Chorproben schon gebeugt waren. »Wer kann wohl darauf spielen?« Aber von all dem erzählte ich Szymek nichts. Und als wir die letzten Flaschen Bier tranken und durch das offene Fenster wieder der normale Straßenlärm und das Zwitschern der Vögel zu hören war, und als Szymeks Frau eine tischdeckengroße Platte mit belegten Broten brachte, da fragte ich endlich, was er von jenem Tag an der Strzyża halte, als Weiser zum letzten Mal mit uns sprach, und warum Elka ein paar Tage später gefunden worden sei und Weiser nicht? Und was eigentlich ihr Gedächtnisschwund bedeuten könne, der nie aufhörte, bei allem, was seine Person betraf? Szymek wechselte zuerst die Gläser, denn nach dem Bier erschien jetzt auf dem Tisch hausgemachter Wein. Ja, er hatte darüber auch oft nachgedacht, viele Jahre danach, und es niemandem gegenüber zugegeben. Alles deu143
tete darauf hin, daß Weiser verborgene hypnotische Fähigkeiten besaß, von denen wir nur eine vage Ahnung haben konnten. Diese Annahme bestätigte sein Auftritt mit dem Panther, zweifellos konnte er diese Gabe aber auch Menschen gegenüber nutzen. Wozu er Elka brauchte? Das war klar – er nützte sie aus und führte mit ihrer Hilfe Experimente durch, weil er damals selbst in einer Phase der Entdeckung seiner ihm nicht bis ins letzte bewußten Möglichkeiten war. Dort, im Keller der Ziegelei, unterzog er sie den verschiedensten Proben, und selbst wir unterlagen seiner außerordentlichen Suggestionskraft. Also war er doch eher nicht levitiert. Er tat so, als levitierte er, und machte Elka und uns glauben, er schwebe in der Luft. Die Psychologie kennt solche Fälle und erklärt dergleichen mit recht einfachen Mechanismen suggestiver Wirkung. Die Explosionen? Ja, das war schwer zu erklären, letzten Endes konnte Weiser, der praktisch allein unter der Obhut des wunderlichen Alten aufwuchs, noch andere, tausendmal schlimmere Formen von Verfolgungswahn haben. Weiser war ein Pyromane, daran bestand kein Zweifel. Aber diese visuellen Effekte? Er hatte ein paar Bücher gelesen, und das ganze Geheimnis seines Wissens war enthüllt. Warum er sich mit Elka so nahe an die Startbahn des Flugplatzes legte? Diese Übung diente der Kräftigung ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die Angst, schließlich würde jemand, der auch nur einmal unter dem Bauch eines landenden Flugzeugs gelegen hatte, keine Angst mehr davor haben, hypnotisiert oder in einen Zustand der Trance versetzt zu werden. An der Strzyża, am letzten Ferientag, wurde Elka einfach vom Wasser fortgerissen, was unserer Aufmerksamkeit entgangen sein mußte. Als Weiser begriffen hatte, was geschehen war, versteckte er sich irgendwo an der Seite und wartete, bis wir kamen, und dann begann er auf eigene Faust mit der Suche. Nur überschätz144
te er seine Fähigkeiten, und als er ihren Körper im nahegelegenen Teich suchte, durch den die Strzyża fließt, ertrank er auf ganz gewöhnliche Weise und das Wasser trug seine Leiche zu dem unterirdischen Kanal, in dem das Flüßchen jenseits des städtischen Baugebietes weiterfließt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Nur, daß Elka wie durch ein Wunder nicht ertrank, die Strömung trug sie ins Schilf am Ufer, und dort lag sie halb bewußtlos, bis die Milizionäre mit den Hunden sie fanden. Weiser bezahlte für seine Fahrlässigkeit. Konnte er doch nicht schwimmen, nie badete er mit uns in Jelitkowo. Wie hatte Elka drei Tage im Schilf überlebt? Das war tatsächlich eine rätselhafte Angelegenheit, die aber eher in das Gebiet der Biologie gehörte. Jedenfalls war es durchaus wahrscheinlich, solche Fälle hat es nicht nur einmal gegeben. Ja, wäre nicht die Fürsorge dieses wunderlichen Schneiders gewesen, oder besser gesagt, der völlige Mangel an Fürsorge von seiner Seite, so wäre Weiser heute so etwas wie ein Bühnenkünstler, vielleicht würde er sogar im Zirkus auftreten, wo sein Talent auf Beifall und Anerkennung stoßen würde. So oder so war er in gewissem Sinne ein Opfer des Krieges, die Tatsache, daß er Waise war, muß ernsthafte Veränderungen in seiner Psyche bewirkt haben. Dachte er wohl irgendwann an seine Eltern? Zweifellos, aber was kann er gedacht haben? Wer weiß, was der alte Weiser ihm von ihnen erzählt hatte. Er machte den Eindruck eines griesgrämigen Sonderlings, der mit seinem Blick alle Leute allein dafür anklagte, daß sie lebten. Solche Augen verhießen nichts Gutes. Dawid hatte eine ausgeprägte Obsession was alles Deutsche betraf, und das Arsenal, das er gefunden hatte und dann in der Ziegelei aufbewahrte, war das beste Beispiel dafür. Er wollte sie töten, und alles, was er mit den Waffen anstellte, war wahrscheinlich nur eine Vorbereitung. Auf wen oder besser worauf zielte er letzten 145
Endes, als wir später in die Ziegelei gingen? Die Attrappen ließen keinen, auch nicht den geringsten Zweifel. Lebhafte Phantasie, unwahrscheinliche Klugheit, kindliche Phantasie in Verbindung mit hypnotischen Fähigkeiten, vor denen er sich im übrigen mehr fürchten mußte als Elka, all das kam zusammen in der Person Weisers. Beim dritten Gläschen Wein unterbrach Szymek seinen Monolog. Ich hatte Lust, ihn nach einigen Einzelheiten zu fragen. So zum Beispiel, woher er die Gewißheit nahm, daß Weiser nicht schwimmen konnte. Vielleicht verhielt es sich damit wie mit dem Fußballspielen? Oder woher die Überzeugung, daß Elka vom Wasser fortgetragen wurde, und daß das unserer Aufmerksamkeit entgangen war? Schließlich waren beide gleichzeitig verschwunden, und Szymeks Behauptung war nicht haltbar. Außerdem konnte Weisers Leiche, selbst wenn er wirklich ertrunken war, nicht in den unterirdischen Kanal gelangt sein, denn der Eingang am Ende des Teichs war durch ein Eisengitter versperrt. Aber die beiden fragten mich nach Neuigkeiten aus Gdańsk. Das Denkmal, das jetzt beim Tor zur Werft stehen sollte, an derselben Stelle, wo die Schüsse gefallen waren, dieses Denkmal interessierte sie am meisten. Sie fragten, ob dann dort Piotrs Name stehen würde. Ich wußte keine Antwort, doch nach dem, was seine Eltern durchgemacht hatten, nach der nächtlichen Beerdigung mit einer Gruppe von bewaffneten Totengräbern, als Piotrs Leiche in einem Plastiksack in eine Erdgrube geworfen worden war, nach all dem hoffte ich nicht darauf, daß dieses große, herrliche Monument sie in irgendeiner Weise für jenen Winter entschädigen würde. »Aber darum geht’s doch nicht«, wurde Szymek ungeduldig. »Ja, darum geht’s wirklich nicht«, antwortete ich unwillkürlich und erinnerte mich, daß Piotr dem Bericht seiner Mutter zufolge den Anblick der über der Stadt kreisenden Hubschrauber an 146
jenem Tag nicht ertragen konnte und zu Fuß (die Straßenbahnen fuhren nicht mehr) nach Gdańsk gegangen war, um zu sehen, was dort los war. »Sie haben ihn von diesem Hubschrauber aus erschossen«, behauptete seine Mutter hartnäckig, und als Augenzeugen ihr erzählten, daß Piotr durch Zufall zwischen die Menschenmenge und eine Abteilung der Armee geraten war und daß ihn dort die Kugel direkt in den Kopf traf, von links, durch den Kopf hindurch, da winkte sie ab und sagte, das sei nicht wahr, bestimmt hätten sie aus dem Hubschrauber geschossen, und sie regte sich auf, als man von der Armee sprach. Für sie war das verkleidete Miliz. Ich sprach also vom Denkmal, und Szymek und seine Frau hörten mir aufmerksam zu. Und Weiser? Weiser entschwand aus unserem Gespräch, als wäre er nie dagewesen, und als ich im Waggon saß, der im gleichförmigen Rhythmus über Schwellen und Weichen schaukelte, war mir, als führe ich auf der nicht existierenden Eisenbahnlinie über die zehn gesprengten Brücken, am Friedhof von Brętowo mit seiner kleinen Backsteinkirche vorbei, die in der Stille der Bäume verborgen lag, und in der Lokomotive stand Weiser mit der Eisenbahnermütze auf dem Kopf, eingehüllt in eine Wolke von Weihrauch, die wie die Ewigkeit roch.
Indessen wurde der Hausmeister ins Zimmer des Direktors gerufen. »So geht das nicht«, hörte ich M.s Stimme, »daß diese Rotzlöffel uns an der Nase herumführen! Ich sagte ja, Herr Direktor, daß hier von Anfang an strenge Methoden vonnöten sind, oh, ich kenne sie, anders kriegt man nichts aus denen heraus! Und Sie«, wandte er sich an den Hausmeister, »werden hier mit uns sitzen müssen, das wird noch ein wenig dauern!« Der Hausmeister brummte etwas in seinen Bart, was aus dem Innern des Zimmers nur undeutlich 147
zu hören war, aber damals hätte ich meinen Kopf gewettet, daß es sein bekannter Ausspruch war: »Was sein muß, muß sein.« Und er kehrte ins Sekretariat zurück und rief Piotr. ›Etwas stimmt nicht in unseren schriftlichen Aussagen, und sicher ärgert sich M. deshalb so‹, dachte ich. Ach ja, ich wußte schon, es ging um das Kleid, das heißt eher um den Fetzen von dem Kleid, von Elkas rotem Kleid, von dem Szymek, damit sie endlich Ruhe gaben, geschrieben hatte, wir hätten es nach der letzten Explosion verbrannt. Ja, das fanden sie weder in meiner noch in Piotrs Aussage, also würden sie fragen, wie sich das mit dem Kleid verhielt. Wer es gefunden hatte, wo, wann wir den Stoffetzen verbrannt hatten, der von unserer Freundin übriggeblieben war. Wir hatten einen Fehler gemacht, wir hätten die Einzelheiten festlegen sollen, als der Hausmeister nicht im Sekretariat war, dann würde jetzt jeder das gleiche sagen, und sie würden die Untersuchung beenden in der Überzeugung, daß es so war, wie sie es sich gedacht hatten. Aber der Hausmeister machte es sich auf seinem Stuhl bequem und dachte nicht daran, uns für einen Augenblick allein zu lassen. Im Radio war die mit tosendem Beifall und Ovationen belohnte Ansprache Władysław Gomułkas schon lange vorbei. Aus dem Lautsprecher drangen jetzt Klänge von Operettenmusik, die unerträglich dünne Stimme der Sängerin zog das »ach, ach, ich li-ii-iie-be dich« immer mehr in die Länge, und ich spürte, wie mir das Bein einschlief, und der Schmerz im linken Fuß ließ mir keine Ruhe. Diesen Schmerz verdankte ich – und ich verdanke ihn in gewissem Sinn noch heute – Weiser. Immer wenn Regen im Anzug ist, werfe ich einen Blick auf die kleine Narbe unterhalb des Knöchels und weiß, daß ich bei feuchtem Wetter humpeln werde. Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen und kehre noch einmal zur stillgelegten Ziegelei zurück, denn noch ist nicht alles aufgeklärt worden. 148
»Jesus«, sagte Szymek flüsternd, »was macht er?« Piotrs Finger drückten sich in meinen Arm, und einen Augenblick später hörten wir das fürchterliche Krachen von entzweibrechenden Brettern. Zusammen mit dem Boden und den hölzernen Stempeln sausten wir mit Donnergetöse nach unten, direkt auf Weiser und Elka. Die Kerze erlosch, ich spürte nur, daß sie irgendwo unter uns waren, ganz nahe, aber nichts sagten und warteten, daß wir zuerst etwas von uns gaben. Endlich sagte Piotr, der sich am schnellsten aus dem Haufen zerbrochener Bretter herausgearbeitet hatte, zaghaft: »Elka, sei nicht böse, wir sind nur so …« und das Wort blieb ihm im Hals stecken, denn unter den Brettern bewegte sich unmerklich etwas. »Habt ihr irgendein Licht?« Weisers Stimme verriet keinerlei Zeichen von Zorn oder Ungeduld. »Wenn ja, dann macht an!« Szymek holte ein Benzinfeuerzeug aus der Tasche, das er seinem älteren Bruder zu Anfang der Ferien geklaut hatte, und die winzige Flamme erleuchtete das Innere des Kellers. Die Holztreppe war in der Mitte gebrochen, und um hier rauszukommen, mußte man eine provisorisch zusammengebastelte Leiter an die Wand stellen. Weiser befehligte die Arbeit, und als wir alle oben waren, schaute er uns an und sagte: »Könnt ihr den Mund halten?« Wir antworteten ihm mit einem Kopfnicken. »Na gut«, sagte er, nachdem er einen Moment abgewartet hatte, »wenn das so ist, dann kommt morgen um sechs hierher, aber nur zu dritt, klar?« Und so, auf unverhoffte Weise, hatten wir unser Ziel erreicht: Weiser schlug uns ein Treffen vor. Merkwürdig, als wir auf dem gleichen Weg nach Brętowo zurückgingen, 149
wollte keiner von uns über das sprechen, was wir in der stillgelegten Ziegelei gesehen hatten. Heute weiß ich, daß es ganz gewöhnliche Angst war. Da war die Weihrauchwolke nichts dagegen, die Fischsuppe, das landende Flugzeug, der schwarze Panther, das gewonnene Match, da war mein Ausflug nichts, bei dem ich zum ersten Mal im Leben von jemandem wie Schopenhauer gehört und gesehen hatte, wo der deutsche Panzer vor dem Gebäude der Polnischen Post stand. Da war all das, was wir im übrigen damals nicht zu einer zu Weiser führenden Linie verbanden, nichts dagegen, es reichte, daß wir ihn über dem Boden der Ziegelei hatten schweben sehen, und plötzlich stellte sich heraus, daß Weiser, der zuerst ausgelachte Dawidek, dann der etwas seltsame Beschwörer von Tieren und der geniale Fußballspieler, scheinbar eben dieser, nicht mehr die gleiche Person war. Ich überlege mir, wie man das Gefühl wiedergeben kann, das damals unser Gemüt beherrschte. Denn das war nicht, wie ich oben geschrieben habe, gewöhnliche Angst. Das war es nicht. Manchmal, wenn ich zuviel trinke oder in ein ungutes Dunkel tauche, quält mich ein merkwürdiger Traum. Ich bin in der Küche in der Wohnung meiner Mutter. Ich stehe am Fenster, und hinter meinem Rücken setzt Piotr in dem rußigen Teekessel Wasser auf. Plötzlich drehe ich den Kopf in Richtung zum Herd und sehe, daß hinter mir ein völlig Fremder steht, jemand der nicht Piotr ist. Ich gehe zu ihm hin und verlange eine Erklärung, doch statt etwas zu sagen, lächelt der Unbekannte nur nachsichtig. Das Schlimmste ist, daß ich in seinem Lächeln etwas von Piotr erkenne – eben dieses Verziehen der Unterlippe –, und ich weiß nicht, wie ich mir das erklären soll. Damals also empfanden wir etwas Ähnliches. Weiser wurde für uns noch fremder als während all der Schuljahre und all der Ferientage, seitdem wir mit ihm diese ganz besondere Bekanntschaft gemacht 150
hatten an Fronleichnam, oder eigentlich an dem Tag, als die Religionszeugnisse ausgegeben wurden. Er war Weiser und war es gleichzeitig nicht. Wer aber wurde er, als der Augenblick kam, in dem er aufhörte, er selbst zu sein? Oder vielleicht gab es gar keinen bestimmten Augenblick, vielleicht gab er die ganze Zeit nur vor, ein normaler Junge zu sein? Doch woher sollten wir das alles wissen, wenn ich sogar heute diese Frage nicht beantworten kann? Wir gingen in völligem Schweigen, und die Furcht, er könne plötzlich im Sternenlicht vor uns erscheinen, vor der schwarzen Wand des Waldes, er könne ebenso erscheinen wie im Keller der Ziegelei – einen Meter oder mehr über der Erde – diese Furcht verschloß uns den Mund und nahm uns jede Lust zur Unterhaltung. Vom Rande der Moräne kamen wir in die Schlucht. Hier war es noch dunkler als im freien Gelände. Vor dem Hintergrund des schwarzen Turms der Kirche von Brętowo, der am Ausgang der Schlucht schon zu sehen war, blinkten goldene Pünktchen auf. »Jesus«, sagte Szymek zum zweiten Mal, »die Sterne fallen herunter!« Aber das waren nicht die Sterne. Ein Schwarm von Johanniskäfern schwebte über uns wie ein Regen aus goldenen Molekülen, und es war so still, daß wir unseren eigenen Atem hören konnten. »Ich dachte«, fügte Szymek hinzu, »sie würden nur im Juni leuchten.« Und in der Tat war daran etwas Seltsames. Nie vorher und nie danach habe ich in unserer Gegend eine solche Menge von Glühwürmchen in einer Julinacht gesehen. »Das sind die Seelen von Toten«, sagte Piotr in völligem Ernst, »deshalb leuchten sie.« »Die Seelen von Toten in fliegenden Käfern?!« entrüstete sich Szymek. »Wer hat dir das erzählt?« 151
Aber Piotr war nicht zu vertraulichen Mitteilungen bereit. Erst auf dem Bahndamm, näher bei der Kirche, sagte er sinngemäß, daß umherspukende Seelen, wenn es ihnen gelänge, in den Körper eines Insekts zu gelangen, zu leuchten anfingen. Aber die Käfer würden so etwas nicht lange aushalten und sterben, deshalb könne man die Glühwürmchen auch nur kurze Zeit sehen, zu Sommeranfang. »Diese Seelen«, erläuterte Piotr, »sind bestimmt von großen Sündern und leuchten länger als gewöhnlich.« Szymek war empört, als ginge es um seinen Feldstecher oder um Fußballregeln. »Du bist dumm«, protestierte er laut, »die Seele kann man nicht sehen, weil sie unsichtbar ist! Was hat denn Pfarrer Dudak in der Religion gesagt? Na, was?« »Die Seele ist unsterblich«, verteidigte sich Piotr, »aber er hat überhaupt nicht gesagt, man könnte sie nicht sehen.« »Stimmt gar nicht, er hat gesagt, sie ist unsterblich und unsichtbar, eins ist genau so wichtig wie das andere, oder?« Mit dieser Frage kam Szymek plötzlich zu mir gerannt und wollte mich zum Zeugen haben. Ich war mir nicht sicher, wie das war, wie ich mir übrigens auch heute noch nicht sicher bin – kann man eine Seele sehen? Wenn man es kann, dann müßte man sie sehen, wenn jemand stirbt, aber wer weiß, in welcher Gestalt? Wichtig ist, daß man sie sieht, wenn sie den sterblichen Körper verläßt, den man nach ein oder zwei Tagen ins Grab legt. Man müßte sie in Gestalt einer weißen Dunstwolke sehen, oder vielleicht in Gestalt eines sanften Lichts, das nach oben entweicht, ohne sich unterwegs aufzulösen. Ich weiß es nicht. Und damals wußte ich es auch nicht. Das Schlimmste war, daß ich den Streit entscheiden sollte, als wäre ich Theologe oder der Papst. 152
»Der Herr Pfarrer Dudak«, sagte ich, »weiß das auch nicht, aber er sagt das, weil …« »Weil was?« – »Eben, warum sagt er das?« unterbrachen sie mich ungeduldig. »Er sagt das«, erklärte ich weiter, »weil er es im Seminar so gelernt hat, und weil der Herr Bischof befiehlt, es zu sagen, und der Pfarrer muß in allem auf den Bischof hören, genau wie bei der Armee.« »Soll das heißen«, beide wurden ärgerlich, »daß der Pfarrer es nicht weiß?« »Das weiß man nie«, behauptete ich mit sicherer Stimme, »erst wenn man stirbt, kann man es erfahren.« Wir schauten zum Friedhof hinüber, an dem wir links vorbeigingen. Die Bruchstücke der Figuren und die zerbrochenen Grabsteine sahen jetzt aus wie gebeugte, betende Menschen. »Das ist schrecklich«, seufzte Szymek, »daß man sterben muß, um etwas Bestimmtes zu erfahren, nicht wahr?« Wir nickten verständnisvoll. Im gleichen Augenblick gerieten die Glocken von Brętowo ins Schwingen, bewegt von unbekannter Hand, und durch den Wald flog, als wollte sie Alarm schlagen, eine mächtige Stimme. »Jesus«, sagte oder rief eigentlich eher Szymek zum dritten Mal, »jemand ist auf dem Friedhof!« Nein, ich werde jetzt nicht schreiben »unsere Herzen erstarrten vor Grauen« oder »das Herz rutschte uns in die Hose« oder noch besser »unsere Herzen schlugen bis zum Hals«. Ich werde das nicht schreiben, denn solche Sachen schreibt man in Büchern, solche Sachen und solche Szenen passen hervorragend zu einem Erziehungsroman. Im ersten Moment dachte ich, Weiser treibe sein Spiel mit uns und wolle ausprobieren, ob wir nicht vielleicht über Bukowa Górka nach Hause ausrissen. Wenn er eine Ab153
kürzung ging, konnte er eine Viertelstunde vorher dort sein. Doch gleich kam mir ein anderer, sehr viel nüchternerer Gedanke – das war nicht Weisers Stil, dieser nächtliche Glockenalarm, der in die Kiefern eindrang und unter der funkelnden Himmelskuppel dröhnte, unerhört laut, die Stille der warmen Luft zerreißend. In der Tat, das war nicht Weisers Einfall, und nicht seine Hand hatte alle drei Seile gezogen zwischen den morschen Balken des Glokkenturms. Das war der Gelbflügler. Sobald wir, hinter dem Haselstrauch kauernd, ihn erkannt hatten, kam der Vorschlag, nach Hause zurückzukehren. »Wir hatten schon einmal mit ihm Scherereien«, erinnerte Szymek, »gleich kommt jemand aus dem Pfarrhaus gelaufen und geht auf uns los.« Ich war mir da nicht so sicher. »Mitten in der Nacht? Jetzt?« Aber Piotr zeigte mit der Hand auf das Gebäude neben der Kirche: »Schaut nur!« Tatsächlich, zwischen den Zweigen blinkte in der Ferne ein Licht auf, zuerst in einem, dann in einem zweiten Fenster. Indessen sprang der Gelbflügler in die Höhe, wiegte sich hin und her, ging in die Hocke, all das bei immer lauterem Glokkenläuten. Er sah aus wie eine an Fäden befestigte Marionette, ein wenig lächerlich, ein wenig gefährlich. Er hatte nicht mehr den Bademantel aus dem Krankenhaus an, seine Kleidung bestand jetzt aus einer bestimmt irgendwo gestohlenen Drillichhose und einem ebensolchen Hemd. Wir konnten den Blick nicht von ihm wenden, jedesmal, wenn er die Stränge zog, sagte er etwas, aber es ging in dem metallischen Dreiklang unter. Vielleicht rührten wir uns gerade wegen dieses Geläutes nicht vom Fleck, auch dann nicht, als wir zwei Männer sahen, die vom Pfarrhaus herübergelaufen kamen – der Küster und der Pfarrer der hiesigen Kirche, der uns überhaupt nicht an unseren Pfarrer Dudak erinnerte. Vielleicht ging es dem Gelbflügler darum – sie aus dem Haus zu locken und die Aufmerksamkeit 154
auf sich zu lenken – denn er wartete, bis sie ganz nahe herangekommen waren, worauf er die Seile losließ, einen Satz ins nahe Gestrüpp machte und in Richtung Brętowo entwischte. »Herr Pfarrer«, schnaufte der Küster, »gehen Sie ins Pfarrhaus zurück und rufen Sie die Miliz, und ich laufe ihm nach!« Die Männer trennten sich – der Küster rannte, noch lauter keuchend, hinter dem Flüchtigen her, der Pfarrer trabte zum Pfarrhaus. Jetzt, das war ein klarer Fall, konnten wir uns nicht zurückziehen. Wir mußten das Ende der Geschichte abwarten, und obwohl uns der Gelbflügler eigentlich gleichgültig war, waren wir neugierig, wie die Treibjagd enden würde. Wir folgten der Spur des Küsters auf einem kaum sichtbaren Pfad, der sich im wild wuchernden Gestrüpp von Brennesseln und Farn verlor. Der Gelbflügler hatte etwa dreißig Meter Vorsprung und kannte sich besser in der Gegend aus. Er sprang von einem Hügel zum anderen, versteckte sich zwischen Grabsteinen, und wenn wir dachten, er sei hinter einem von ihnen verschwunden, sprang er plötzlich hervor wie aus dem Boden gestampft und rannte weiter. Offensichtlich trieb er sein Spiel mit dem Küster. Schließlich gelangte er an die Friedhofsgrenze, stellte sich auf eine zersprungene Platte und schrie in Richtung der Verfolger: »Eeeee – eeee – ehee – ehee – eeeee!!!« Der Küster beschleunigte seine Schritte. Aber der Gelbflügler war schon weit weg. Er lief auf die ersten Häuser von Brętowo zu, wo die Leute aufgewacht waren und aus den offenen Fenstern nach dem Grund der nächtlichen Streife Ausschau hielten. »Leute! Leuuute!« schrie der Küster. »Fangt ihn, schnappt den Verrückten, haltet ihn fest!« und immer mehr Fenster wurden hell, als wäre ein Brand ausgebrochen oder der Krieg. Der Gelbflügler lief zum ersten Haus und kletterte über den Blitzableiter auf das steile Dach. Er stand jetzt an des155
sen Rand und breitete die Arme weit aus, als grüße er alle, die anfingen, sich vor dem Gebäude zu versammeln. Männer in Schlafanzügen, ausgetretenen Hausschuhen oder auch barfuß, manche in Unterhosen, zeigten mit dem Finger auf ihn. »Leute«, der Küster kam endlich angerannt, »das ist der, der auf dem Friedhof eure Frauen und Kinder erschreckt, er ist aus dem Irrenhaus weggelaufen und läßt euch keine Ruhe, man muß ihn fangen, gleich kommt die Miliz, nehmt eine Leiter und fangt ihn, aber schnell, sonst läuft er wieder weg, fangt ihn, worauf wartet ihr!??« Die Männer waren aber nicht darauf erpicht, den Verrückten zu schnappen, noch dazu auf dem Dach. Sie standen unentschlossen herum, traten von einem Fuß auf den andern, einer schaute den anderen an. Einige Frauen kamen angetrippelt. Das Stimmengewirr, Flüstern, Spötteln wurde immer lauter, als plötzlich der Gelbflügler die Stimme erhob. Es war eigentlich keine Stimme, sondern ein Ton, ein musikalischer Ton, denn alles, was jetzt kam, war Musik, das Singen ganzer Sätze, die anschwollen, explodierten und wieder verklangen, einer nach dem andern, in kurzen Zeitabständen hintereinander. »Weh euch, die ihr am Meer wohnt! Weh euch! Das Wort des Herrn ist in mein Ohr gedrungen und hat durch meinen Mund gesprochen! Des Herrn großer Tag ist nahe, er ist nahe und eilt sehr. Horcht, der bittere Tag des Herrn! Da werden die Starken schreien!« Bei diesen Worten stellte der Gelbflügler sich auf die Zehenspitzen und streckte die Hände nach oben, und sein langes, krauses Haar sah aus wie der Bart des Moses, der mir gut in Erinnerung war von einem Bild Pfarrer Dudaks, als er uns im Religionsunterricht den Durchgang durchs Rote Meer gezeigt hatte. »Er fällt runter«, »er fällt nicht«, »er fällt doch«, flüsterte man unten, aber die folgenden Gesänge des Gelbflüglers verschlossen 156
den Neugierigen den Mund. »Dann sende ich Angst auf die Menschen herab, daß sie umhergehen sollen wie die Blinden!!!« Seine Hand wies jetzt auf die Köpfe derer, die dicht gedrängt einer neben dem anderen standen. »Ihr Blut soll verspritzt werden, als wäre es Staub, und ihre Eingeweide weggeworfen, als wären sie Kot!!! Es wird euch euer Silber und Gold nicht retten können am Tag des göttlichen Zorns, denn das Feuer Seines Zorns wird die ganze Erde verschlingen!!! Wahrlich, ein schreckliches Ende wird euch allen den Untergang bereiten, die ihr wohnt auf der Erde!!!« Dieses letzte ›Erde‹ hallte besonders lang und durchdringend. Ich sah, wie einige Frauen entsetzt davongingen und die Männer hielten die Köpfe hoch, als sähen sie einen Kometen am Himmel. »Ich habe auch die Dürre gebracht über Land und Berge, über alles, was aus der Erde kommt, über jeglicher Hände Arbeit«, die Stimme wurde immer stärker und klang lauter als alle drei Glocken von Brętowo zusammen. »Weh euch, die ihr am Meer wohnt! Der Himmel hat über euch den Tau zurückgehalten, und das Erdreich sein Gewächs!« Der ratlose Küster breitete die Arme aus wie Pontius Pilatus, bis er schließlich wutentbrannt, sobald die Klagemelodie wieder abfiel, so laut wie möglich rief: »Leute! Christen! Hört nicht auf ihn! Das ist der lebendige Antichrist, ein Ketzer, ein Verrückter, ein Verrückter, ich sag’s euch, es ist eine Todsünde, solche Dinge anzuhören! Fangt ihn lieber, rasch, na los!!!« Aber keiner tat auch nur einen halben Schritt nach vorn. Der Gelbflügler triumphierte. »Ist die Zeit schon da«, wandte er sich noch lauter an die untenstehenden Menschen, »ist die Zeit schon da, daß ihr in gekachelten Häusern wohnt, während das Haus des Herrn in Trümmern liegt? Ihr hattet mit viel gerechnet, aber es war wenig, und als ihr es nach Hause gebracht hat157
tet, blies ich es weg. Warum das? Spricht der Herr Zebaoth: Wegen meines Hauses, das in Trümmern liegt, während jeder von euch sich eifrig am eigenen Haus zu schaffen macht!!!« Plötzlich hörten wir von der Stadt her das schwache Heulen einer Sirene, und einen Augenblick später blinkten auf der Landstraße nach Rębiechowo die Lichter eines Autos. »Die Miliz kommt«, rief der Küster erfreut aus, »umringt das Haus, damit er nicht wegläuft!« Aber auch dieses Mal brannte keiner darauf zu handeln. Der Gelbflügler streckte die Hand aus in Richtung der näherkommenden Lichter. »Weh dem«, er hob die Stimme noch bedrohlicher als vorher, »der eine Menge von Dingen ansammelt, die ihm nicht gehören! Aller Herzen werden verzagen und die Knie schlottern, aller Lenden zittern und aller Angesicht bleich werden!« Aus dem Auto sprangen vier mit Stöcken und Pistolen bewaffnete Milizionäre. Der Kommandant der Patrouille war ein dunkelhaariger Oberleutnant. »Auseinander«, sagte er kurz und energisch, »stört jetzt nicht, Bürger!!« Aber der Gelbflügler, der zu diesem Zeitpunkt noch eine Chance hatte zu fliehen, spürte angesichts der Dunkelheit und dank seiner ausgezeichneten Ortskenntnis neuen Geist in sich aufkommen. Deutlich in Richtung des Oberleutnants geneigt, rief er singend: »Weh dem, der die Stadt mit Blut baut und sie mit Unrecht aufrichtet! Am Tag des Opfers des Herrn werde ich alle heimsuchen, die sich in fremde Gewänder kleiden! Weh der mörderischen Stadt! Alles in ihr ist Betrug, voller Beute ist sie, und der Raub hat kein Ende!« Die Milizionäre scharten sich in einer engen Gruppe um den Oberleutnant, und dieser gab ihnen Befehle. Der Kommandant hob den Kopf in Richtung Dach, von wo der Gelbflügler immer grimmigere Flüche herabschleuderte, dieses Mal eigens an die Adresse der Uniformierten ge158
richtet. »Das Schwert soll deine Welpen fressen! Ich will deinem Rauben im Lande ein Ende setzen, und man soll die Stimme deiner Boten nicht mehr hören!!! Ich werde das schlimmste aller Völker herbeiholen, damit eure Feinde sich eure Häuser nehmen, und ich werde eurer stolzen Macht ein Ende setzen!!! Wenn der Kummer kommt, werdet ihr den Frieden suchen, aber es wird ihn nicht geben! Ich werde mit euch vorgehen, wie ihr mit anderen vorgeht, und ich werde euch richten nach euren Gesetzen!« »Komm sofort da runter«, unterbrach ihn die scharfe Stimme des Oberleutnants, »komm runter, sonst muß ich Gewalt anwenden!« – »Deine Angestellten sind so viele wie die Heuschrecken«, antwortete ihm der Gesang des Gelbflüglers, »deine Wunde wird unheilbar sein, alle, die von dir hören, werden in die Hände klatschen, denn wen hat deine Bosheit ohne Unterlaß verschont?!! Du hast viele Völker beraubt, also werden auch dich viele Völker berauben wegen des Menschenblutes und des Frevels begangen am Lande!!!« Wir sahen, daß jetzt zwei Milizionäre das Haus von hinten umstellten und der Oberleutnant die Pistole aus dem Halfter nahm. »Komm runter«, wiederholte er den Befehl, »komm runter, oder ich schieße!!!« – »Ich will Unrat auf dich werfen«, lautete die Antwort des Gelbflüglers, »und dich schänden und zum Spektakel machen, daß alle, die dich sehen, vor dir fliehen!!! Das Feuer wird dich fressen und das Schwert töten, es wird dich fressen wie einen Heuschreckenschwarm!!!« Das letzte Wort, eigentlich der letzte lang und melodisch ausklingende Vokal, fiel mit dem Knall eines Schusses zusammen. Der Oberleutnant feuerte einen Schreckschuß in die Luft ab, die Leute, die am Tor des Nachbarhauses und an den Fenstern versammelt waren, zogen instinktiv die Köpfe ein, und die zwei Milizionäre, die den Gelbflügler 159
von hinten umstellt hatten, sprangen auf das Gesims und kletterten schnell nach oben. Die Sekunden seiner Freiheit schienen gezählt. Noch einmal hob er die Hände zum Himmel, als riefe er die Sterne als Zeugen seiner Unschuld an, schrie: »Gott der Herr ist meine Stärke« und stellte sich dem Treffen mit den Milizionären, die bereits auf dem Dach waren. Ihre weißen, zum Schlag erhobenen Stöcke zeichneten sich bedrohlich auf dem schwarzen Himmel ab. Der Gelbflügler war jedoch nicht vom Geist Christi beseelt, denn statt sich den Männern in Uniform zu ergeben und ruhig die auf ihn niederprasselnden Hiebe entgegenzunehmen, stieß er die beiden Milizionäre mit einer entschiedenen Bewegung des Ellenbogens vom Dach. Das Geräusch fallender Ziegel, die Schreie der Milizionäre und der erneute Gesang des Gelbflüglers flossen nun in eins zusammen. »Gott der Herr ist meine Stärke«, wiederholte er freudig, »er wird meine Füße machen wie Hirschfüße und wird mich über die Höhen führen!!!« Bei diesen Worten sprang der Gelbflügler vom Dach auf die weiche Erde des Gartens und nahm schnell Reißaus in Richtung Friedhof. Die übel zugerichteten Milizionäre setzten ihm nach. »Stehenbleiben«, schrie der Oberleutnant, »stehenbleiben, oder ich schieße!!!« Aber der Gelbflügler dachte gar nicht daran, anzuhalten. Weitere Schüsse knallten – wie der erste in die Luft, zur Abschreckung. Und eigentlich wäre alles schon vorbei gewesen, wären nicht der Verrückte und seine Verfolger direkt auf uns zugerannt. Wir liefen davon, was die Beine hergaben, doch der Gelbflügler war schneller, nach einigen Sekunden spürten wir schon seinen Atem im Rücken. Er fragte nichts, sah, daß wir wie er davonliefen und deutete mit der Hand an, wir sollten uns teilen. Aber das war nicht möglich. Aus Richtung Bukowa Górka, vom gegenüberliegenden Ende des Friedhofs her, kamen uns Gestalten in 160
weißen, langen Kleidern entgegen. Bis heute weiß ich nicht, wer die Pfleger vom Krankenhaus gerufen hatte, und vor allem, warum sie aus dieser Richtung kamen und damit uns und dem Gelbflügler den Rückzug abschnitten. Vielleicht hatte der Pfarrer der Kirche von Brętowo, nachdem er die Miliz geholt hatte, für alle Fälle noch im Krankenhaus angerufen, und jetzt hatten wir die Miliz, den Verrückten und die Leute in den weißen Kitteln am Hals, die zwischen den Grabsteinen wie Gespenster aussahen. Zum ersten Mal fühlte ich mich wie ein Tier in der Falle, und in Satzfetzen dachte ich angestrengt und chaotisch darüber nach, was wir als Erklärung vorbringen würden. Würden sie uns verhaften? Und wenn ja, würden sie uns als Komplizen des Gelbflüglers behandeln? Die Treibjagd zog den Kreis immer enger und schon schien es, als könnte uns nichts mehr retten, als Piotr mich am Arm packte. »Die Krypta! Dort werden sie uns nicht finden!« Natürlich, das war eine hervorragende Idee. Wir sprangen, und hinter uns her der Gelbflügler, in Richtung Bahndamm, wo unser Versteck war. Ein leichtes Schieben an der Öffnung wie gewöhnlich, und wir konnten nun lautlos hineinkriechen. Ja, an jenem Abend, eigentlich in jener Nacht, war noch nicht alles in Erfüllung gegangen, mein Gedächtnis läßt mich nach so vielen Jahren daran zurückdenken, daß, als die Treibjagd zu Ende war, als Szymek, Piotr und ich eilig die Krypta verlassen und den Gelbflügler dort allein gelassen hatten, als ich Bukowa Górka und die Kmieca-Straße, die vom Wald zu unserem Haus führte, hinter mir hatte, als ich schließlich an die Tür unserer Wohnung klopfte – daß mir da mein Vater im Schlafanzug öffnete, mit dem Gürtel in der Hand, und mich wortlos übers Knie legte; und die Zahl der Schläge, die auf meinen Hintern niedergingen, wuchs zu einer schlechterdings astronomischen 161
Summe an. Als seine Hand müde wurde, legte er eine Pause ein und ächzte: »Ich schlage dich nicht, weil du nicht zu Hause warst, sondern weil deine Mutter sich seit vier Stunden die Augen nach dir ausweint, du Rotzlöffel!« Und das war wohl der liebevollste Ausspruch meines Vaters mir gegenüber, denn gerade er ist mir am besten im Gedächtnis haften geblieben. Damals aber dachte ich, das sei unwichtig, genauso wie die Schläge, von denen ich einen geschwollenen Hintern bekam – hatten wir doch Weiser, besser gesagt, er hatte uns seit jener Nacht in der Hand, wenngleich ich nicht wußte, für wie kurze Zeit es sein sollte. Warum habe ich vom Gelbflügler geschrieben? Warum habe ich nicht beim Einsturz des morschen Bodens oder bei den Johanniskäfern aufgehört? Ich habe das geschrieben, als stünde es in irgendeinem Zusammenhang mit Weiser, denn tatsächlich, als sich am nächsten Tag herausstellte, daß nicht nur ich rote Striemen am Gesäß hatte und nicht nur mein Vater sich als pädagogisch so einfühlsam erwies, am nächsten Tag also, sobald wir zu dritt zusammenkamen, schlug Piotr vor, wir sollten zur Krypta gehen und nachsehen, ob der Gelbflügler noch da war, und Szymek fügte gleich hinzu, daß man Weiser von all dem berichten und ihn sogar fragen mußte, was er von Verrückten, insbesondere von diesem, halte. Merkwürdig, denn als Weiser aus dem Tor kam, ging keiner von uns zu ihm hin, als wäre die von ihm bestimmte Zeit um sechs der Termin einer Audienz, über den man sich nicht hinwegsetzen konnte. Wir spürten auch Elka nicht nach, die hinter ihm herlief. Die Ereignisse des Vortags hatten zwischen uns Fäden des Einvernehmens geknüpft, aber es war ein einseitiges Einvernehmen, und in gewisser Weise spürten wir diese Eigentümlichkeit. Schließlich war es Weiser, der sich mit uns zu verabreden geruhte, und nicht umgekehrt. Und das mußte man respektieren. Ebenso wie das, 162
was wir in der stillgelegten Ziegelei gesehen hatten. Denn sobald Elka hinter der Litfaßsäule verschwunden war, kam Janek Lipski auf uns zu, der mit uns im Zoo gewesen war und in dem berühmten Match gegen die Militärs mitgespielt hatte, und fragte: »Na und, habt ihr die beiden noch aufgespürt, oder nicht?« Janek war der letzte außer uns dreien gewesen, der die Krypta verlassen hatte, als wir auf Weiser warteten. »Ach da …« rettete Szymek die Situation, »wieso?« Das kurze Schweigen war von mißtrauischen Blicken erfüllt. »Was habt ihr denn gesehen?« »Nichts Besonderes, es hat sich nicht gelohnt zu warten«, log Szymek wie gedruckt, »sie fingen Fische in der Lehmgrube.« »Du flunkerst.« »Ach was, lauf doch hinter ihnen her, du ungläubiger Thomas, wir haben keine Lust mehr.« Dieses Argument war entscheidend. Und wir bemerkten nicht einmal, wie durch diese erste Lüge ein geheimes Einvernehmen über Weiser zwischen uns entstand. Vorläufig aber hatten wir anderes zu tun. Der Gelbflügler, den wir in der Krypta antrafen, hatte seit gestern sein Versteck nicht verlassen. Man merkte es ihm an, wenn man sah, wie gierig er das Stück Hörnchen verzehrte, das Piotr ihm gab. Der Held der vergangenen Nacht zitterte vor Angst am ganzen Leib, und wir konnten nicht begreifen, wie dieser ungewöhnliche Mensch, der brillante Reden hielt und Milizionäre vom Dach stieß, wie dieser Mensch sich innerhalb von kaum zwölf Stunden verändert hatte. Als er unsere über seinen unruhigen Schlaf gebeugten Gesichter erblickte, verdeckte er sein 163
Gesicht, als erwartete er Schläge. Er verständigte sich mit uns mit Hilfe kurzer Silben, »ee«, »aa«, »uhm«, und wäre nicht sein gestriger Auftritt gewesen und der vorherige, als wir M. mit der Arnica montana getroffen hatten, wären nicht jene erhabenen, aus voller Brust gesungenen Sätze gewesen, so hätte man denken können, dieser unrasierte Mann in den löchrigen Drillichhosen sei ein stummer Vagabund, der in unserer Krypta zeitweilig Unterschlupf suchte. Heute kann ich mir denken, worin sein Geheimnis bestand, und obwohl das nur eine Vermutung ist, weiß ich, daß der Gelbflügler nur jene schrecklichen Verse verkünden konnte, die mit Katastrophen, Blut und Mord drohten. Das war seine Krankheit und zugleich seine Größe. Piotr fragte ihn, ob er dableiben wolle. Er nickte. Szymek schlug vor, ihm etwas zu essen zu bringen. Er lächelte, und aus seinem Hals sprudelte, statt einer Antwort oder eines Danks, ein unartikulierter Laut, der Zustimmung signalisierte. Also wurden die Aufgaben zugeteilt. Piotr sollte das Essen beschaffen. Szymek etwas zum Anziehen, und ich Zigaretten, da der Gelbflügler mit einer Handbewegung zu verstehen gab, daß er das dringend brauchte. Wir machten uns auf den Weg zu unseren Häusern, eigentlich zu ein und demselben Haus, nur zu verschiedenen Wohnungen, und es kam uns gar nicht in den Sinn, daß das, was wir da taten, daß alle diese Unternehmungen gesetzeswidrig waren. Etwas, was das sogenannte Gesetz verletzte und Strafe verlangte. Ich will nicht sagen, daß wir dem Gesetz den Geist Christi entgegenhielten, von dem Pfarrer Dudak so oft erzählt hatte, das kann ich nicht behaupten, denn es entspräche nicht der Wahrheit. Jedoch muß ich eines erklären: Hätten wir damals einen Moment lang überlegt und wären zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht nur einem gefährlichen Irren halfen, sondern auch jemandem, der die Miliz tätlich angegriffen hatte – 164
auch dann hätte Piotr aus der Speisekammer einen Laib Brot, gelben Käse und ein Stück Speck gemopst, hätte Szymek die gewendeten Hosen und das karierte Flanellhemd gebracht und ich die »Grunwald«-Zigaretten organisiert, die gleichen, die mein Vater rauchte und die ich für ihn in Cyrsons Laden kaufte, denn damals dachte noch niemand auch nur im Traum an einen Kiosk in unserem Viertel. Da waren nun also Brot, Speck, gelber Käse, die gewendeten Hosen, das karierte Flanellhemd, da waren die »Grunwald«-Zigaretten, und da war auch das strahlende Lächeln des Gelbflüglers, als wir mit vollen Händen zur Krypta zurückkehrten. Er aß und rauchte um die Wette. Und als zum Schluß Piotr je eine Flasche Limonade für uns und zwei für den Gelbflügler aus dem Leinenbeutel holte und wir den Nektar mit den Bläschen tranken, schien unsere Bekanntschaft mit dem Sonderling besiegelt. Ich erinnere mich, daß nur in meiner Flasche rote Limonade war, und ich erinnere mich ebenfalls, daß ich Piotr nicht fragte, woher er das Geld für solche Ausgaben hatte. Fünf Flaschen Limonade, das waren schließlich fünf Złoty, und fünf Złoty waren keine kleine Summe. Ich fragte Piotr jedoch nie, woher er soviel Bargeld hatte, damals nicht, als wir in die gleiche Schule gingen, und auch später nicht, als unsere Wege sich trennten, und nicht einmal dann, als ich zu seinem Grab ging, um über dieses und jenes zu plaudern, denn wenn jemand auf der anderen Seite steht, gehört es sich nicht, ihn mit solchen Dingen zu behelligen. Wir tranken also die süßliche, perlende Flüssigkeit und ließen genüßlich die Tropfen auf dem Gaumen zergehen, und der Gelbflügler schmatzte zufrieden und lächelte uns an, als wären wir seine besten Freunde.
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Wieviel Uhr mochte es wohl sein? Die wievielte Stunde auf der Uhr und die wievielte Stunde der Untersuchung? Als Piotr noch hinter der Tür des Direktorzimmers schmachtete und ich mir den Geschmack der erfrischenden Limonade ins Gedächtnis rief, die wir in der Krypta wie Ambrosia tranken, eben da begann die Wanduhr zu schlagen und zu verkünden, daß alles vergänglich sei wie die mit blechernem Mechanismus gemessene Zeit. Doch ich war zu durstig, zu hungrig und zu eingeschüchtert, um zu schauen, welche Stunde die Zeiger anzeigten. Letztlich war das nicht von Bedeutung, die Dunkelheit, die draußen herrschte, besagte, daß es schon sehr spät war. Genau das dachte ich: Es ist schon sehr spät, und die drei müssen sehr müde sein. Und obwohl ich nicht weiß, was sie geredet haben, werden sie die Untersuchung bald beenden. Selbst, wenn sie ihr Ziel nicht erreichen, wenn das Bild der Ereignisse, das sie zu konstruieren versuchen, nicht ausreichend ist, selbst dann werden sie das Verhör auf den nächsten Tag verschieben. Und morgen ist doch Sonntag, also eigentlich nicht auf den nächsten Tag, sondern auf Montag. Natürlich werden sie uns hier nicht einschließen, sondern nach Hause lassen, und dann … Dann werden wir uns bis aufs letzte Detail einigen, genau festlegen, wo wir den Fetzen des roten Kleides verbrannt haben, der von Elka übrig geblieben ist. Und obwohl weder Elka noch Weiser von einem Blindgänger zerrissen worden sind, werden wir das um des lieben Friedens willen tun. Alle werden zufrieden sein – der Direktor, der Mann in der Uniform und M., der Staatsanwalt wird zufrieden sein und vor allem Weiser, der unsere Tricks sicher anerkennend verfolgt. Plötzlich sah ich unter halbgeschlossenen Lidern, wie mir das dreieckige Auge Gottes zuzwinkerte, das zwischen den Wolken hindurchschimmerte. Es war wie auf dem Bildchen, das Pfarrer Dudak uns gezeigt hatte. 166
»Denkt daran«, sagte er mit erhobenem Finger, »es weiß alles und sieht alles, wenn ihr eure Eltern anlügt, wenn ihr eurem Kameraden den Bleistift wegnehmt oder wenn ihr euch nicht bekreuzigt, wenn ihr an einem Kreuz oder einer Kapelle vorbeigeht. Es vergißt nichts, erinnert sich an alles, an jede Sünde und an jede gute Tat. Und wenn eure Seelen vor Seinem Antlitz stehen werden, wird es euch an das erinnern, was ihr auf Erden getan habt.« Ja, Pfarrer Dudak besaß zweifelsohne pädagogisches Talent, denn oft, wenn ich wegen Kleinigkeiten meine Mutter anlog oder den Rest vom Einkaufsgeld für mich behielt, ließ mir das dreieckige Auge keine Ruhe. Und jetzt wurde ich mir seiner Existenz noch stärker bewußt, denn hier ging es nicht um irgendeine kleine Lüge, sondern vielmehr um ein ganzes, von uns konstruiertes System, ein ganzes Gebäude von Lügen zum Nutzen – ja eben, zu wessen Nutzen eigentlich?; darüber war ich mir nicht im klaren, und das ließ mir keine Ruhe. Für wen war diese Lüge? Für die, die hinter der Tür mit dem gestepptem Polster saßen? Für uns selbst? Oder für Weiser, der uns hatte schwören lassen, daß wir niemandem jemals irgend etwas sagen würden? Wenn es aber so war, wenn diese Lüge in erster Linie für Weiser war, was war dann mit dem dreieckigen Auge, das von der himmlischen Höhe aus auf jede Geste schaute und jedes Wort hörte? Auf wessen Seite war in diesem Fall der liebe Gott? – so überlegte ich. Wenn er auf unserer, das heißt vor allem auf Weisers Seite war, dann müßte er uns vergeben. Und wenn er doch auf der anderen Seite war? Wenn Weiser uns doch hinterhältig durch diesen Schwur gebunden hatte? Und jetzt erschrak ich ernstlich, denn zum ersten Mal schien es mir möglich, daß Weiser eine unreine Kraft war, die uns in ein Netz von Versuchungen verstrickt hatte und uns so auf die Probe stellte. 167
Sofort fiel mir auch ein, was Pfarrer Dudak vom Satan erzählt hatte. »Oh ja, er sieht nicht immer gefährlich aus. Manchmal sagt ein Freund zu dir, du sollst nicht in die Kirche gehen, und das ist eine Einflüsterung des Satans, die dich, statt dich an deine Pflicht zu erinnern, mit dem Bild falscher Annehmlichkeiten trügt. Manchmal gehst du, statt den Eltern zu helfen, an den Strand, denn eine Stimme hat dir eingeflüstert, das sei interessanter. Ja –«, der Pfarrer machte eine dramatische Pause wie bei der Predigt, »auf diese Weise führt der Teufel sogar Kinder in Versuchung, aber denkt daran, meine Lieben, daß sich vor Gottes Antlitz nichts verbergen läßt, und die Strafe für die Sünden kann fürchterlich sein. Schaut nur«, der Pfarrer begann fast zu schreien und zog das nächste Bildchen hervor, »welche Qualen die Sünder treffen können, die nicht auf die Stimme der Gerechtigkeit gehört haben, die sich nicht beizeiten besonnen haben, schaut nur, wie sie leiden, und das nicht hundert, zweihundert oder fünfhundert Jahre lang, sondern in alle Ewigkeit!!!« Und vor unseren Augen tauchte das von künstlerischer Hand dargestellte Bild des Höllenschlunds auf, in den zottige Teufel die nackten Verdammten warfen. Ihre nach unten fallenden Leiber wurden von Gabeln gedreht und gestochen, von Klauen zerrissen, von den Flammen des Feuers geleckt, das aus dem tiefsten Grund der Hölle loderte. Als der Pfarrer die Bilder wieder wegsteckte, zweifelten wir nicht daran, daß so die Hölle aussah. Als ich indessen neben Szymek auf dem Klappstuhl saß, war ich mir immer noch nicht sicher, ob unsere Lügen uns nicht von dem dreieckigen Auge vorgehalten werden würden, wenn es uns beschieden sein sollte, ihm allein gegenüberzustehen, und wenn man nichts mehr würde verbergen können, so, wie vor M. oder dem Mann in der Uniform. Heute weiß ich, daß diese Betrachtungen ein sicheres Zeichen dafür waren, daß ich gebrochen war, und von die168
sem Zeitpunkt an war die Untersuchung für mich eine noch größere Qual. Ich überlegte, ob ich nicht die Ereignisse des letzten Tages an der Strzyża enthüllen sollte. Was macht es schon, daß sie es nicht glauben, was macht’s, so dachte ich, wenn sie dem, was wir sagen, keinen Glauben schenken? Letzten Endes war das Weisers und Elkas Sache, und niemandes sonst. Und die Wahrheit bliebe gewahrt, die Wahrheit, die ohnehin keiner akzeptieren wollte. Letzten Endes mußte ich nicht alle Geheimnisse, in die Weiser uns eingeweiht hatte, preisgeben. Es reichte, der Reihe nach zu erzählen, Minute für Minute, was Weiser und Elka machten, als wir bis zu den Knöcheln im Wasser standen, in der prallen Sonne, und als Weiser sagte, wir sollten jetzt auf sie warten. Vielleicht meinte Weiser ein ganz anderes Warten, eines, das völlig verschieden war vom Warten auf den Zug oder darauf, daß der Laden öffnete oder die Ferien anfingen? Das konnte ich nicht wissen. Aus dem Arbeitszimmer drang, trotz der geschlossenen Tür, M.s Schreien zu uns und einen Augenblick später das von Piotr. Sie wendeten ihm gegenüber wohl etwas ganz Ausgefallenes an, vielleicht das Rüsselziehen in Verbindung mit dem Tanzenlassen, vielleicht machten sie aber auch etwas ganz anderes mit ihm, etwas, was man überhaupt nicht erwartete? Szymek bewegte sich auf seinem Stuhl, und ich spürte, wie mein Bein noch steifer wurde. Ich weiß nicht warum, ich erinnerte mich an das Lied, das wir in jenem Jahr an Fronleichnam gesungen hatten, als wir hinter Pfarrer Dudak und der Monstranz hergingen: »Wahrer Leib, o sei ge-grü-ßet, dich Ma-ri-a uns ge-bar.« Und nicht die Worte, auf die ich damals nicht besonders achtete, sondern allein die Melodie, die langsame und ehrwürdige Melodie, die sich, ein schmales Rinnsal der Erinnerung, einem Schwaden von Weihrauch gleich dahinzog, diese sehnsuchtsvolle Melodie wirkte beruhigend auf mich. Wie ging’s weiter? 169
Bis um sechs hatten wir noch viel Zeit. Der Gelbflügler war versorgt, Gesellschaft brauchte er nicht. Aus Langeweile kamen in unseren Köpfen die merkwürdigsten Ideen auf, natürlich alle Weiser betreffend. Was würde er uns zeigen? Oder was würde er – vielleicht – mit uns machen? Würde er uns vielleicht beibringen, in der Luft zu fliegen, oder würde er vielleicht einen Schmetterling in einen Frosch verwandeln oder umgekehrt? Und wenn man ihn fragen würde, wozu er im Keller der stillgelegten Ziegelei getanzt hatte? Piotr gab zu, das wäre interessant, aber vielleicht sollte man ihn lieber um eine weitere verrostete Schmeisser bitten? Wenn er den ganzen Wald bis Oliwa kannte oder noch weiter, so konnte er so manche ausgegraben haben in den ehemaligen deutschen Schützengräben. Oder wollte Weiser vielleicht ein richtiges Kriegsspiel mit uns spielen? Wozu hatte er damals, auf dem Friedhof von Brętowo, unserem Treiben zugeschaut? Nach dem Mittagessen, als wir auf der morschen Bank zwischen den Wäscheleinen saßen, riefen wir uns jede Geste und jedes Wort von ihm in Erinnerung. Warum ging er nicht mit uns in den Religionsunterricht? Wozu brauchte er Elka? Wer hatte ihm beigebracht, Tiere zu zähmen? Unsere Überlegungen wurden für eine Weile von Frau Korotkowa unterbrochen, die die Sachen ihres Mannes, wie’s gerade kam, durchs Fenster warf. »Du Lump, du Säufer du«, schrie sie, »mach sofort, daß du fortkommst, und laß dich nicht mehr blicken! Ich will nichts mehr von dir sehen und hören!« Auf dem Boden war schon das Hemd gelandet, ein Paar Hosen, Schuhe, und plötzlich kam aus dem Eingang Herr Korotek. Mit schwankenden Schritten ging er zu dem Häufchen mit den Kleidern und begann, als wäre nichts geschehen, sich anzuziehen, denn der Zorn seiner Frau hatte ihn barfuß und nur in Unterhosen hinausgeworfen. »He«, schrie er hinauf, »und was ist mit 170
den Socken?« Frau Korotkowa kannte kein Mitleid und knallte das Fenster zu, und wir sahen, wie Herr Korotek, der jetzt auf dem Boden saß, die Schuhe anzog, barfuß, und wie er mit dem rechten Fuß in den linken Schuh wollte und umgekehrt. Endlich, als die Schuhe paßten, verließ er im Seemannsgang den Hof und sang dabei nicht einmal schlecht: »Adieu, du mein Liebchen, adieu meine Mulattin!« Doch Frau Korotkowa war keine Mulattin, und ihr Mann sang offensichtlich einfach so, um seine Laune etwas zu heben. Gut, aber wo hatte Weiser Fußballspielen gelernt, und das so gut? Unser Gespräch ging auf der gleichen Spur weiter. Wenn er doch in dem Match mit den Militärs solch eine Klasse gezeigt hatte, warum hatten wir dann vorher nie den Fußballer in ihm gesehen, weshalb stand er immer abseits, wenn der Sportlehrer die Klasse in zwei Mannschaften teilte und uns spielen ließ? Welchen Zweck verfolgte er, wenn er seine Geschicklichkeit verbarg? Und konnte er außerdem noch etwas, etwas, wovon wir nicht einmal eine Ahnung hatten? Bei solchen Fragen bekamen wir eine Gänsehaut, aber um so lieber wurden sie gestellt. Über dem Dach unseres Hauses eilten Schwalben dahin mit diesem charakteristischen Laut – weder Piepsen noch Pfeifen –, der Himmel war wie an allen Tagen dieses Sommers von einem verschossenen Blau, Herr Korotek war schon aus der Liliput-Bar zurückgekehrt, betrunken bis an die Grenze des Menschenmöglichen, und wir führten unser Gespräch fort, in dem der Konditional und das Fragezeichen die wesentlichen Elemente der Äußerungen bildeten. In einigen Tagen war der Juli schon vorbei und die Hälfte der Ferien vergangen, jedoch konnte weder diese Tatsache noch die Fischsuppe in der Bucht, noch die Exzesse Herrn Koroteks unsere Aufmerksamkeit vom Grundsätzlichen ablenken. 171
Pünktlich um sechs waren wir am Waldrand, dort, wo einst die Lager der verfallenen Ziegelei angefangen hatten. Das Gebäude, das nachts an ein gewaltiges Schloß erinnerte, sah jetzt ganz harmlos aus, wie eines der alten Gemäuer, die es zuhauf gab in den Vororten von Wrzeszcz und Oliwa. Zum Eingang ging man über einen mit Quekken, Gänsefuß und Gräsern bewachsenen Platz, auf dem seit Jahren kein Ziegel mehr gelegen hatte. Innen herrschte eine angenehme Kühle, aber zu unserem Erstaunen war dort niemand. Stapelweise altes, vom Rost zerfressenes Eisen, umgekippte Wagen und ein zu drei Vierteln abmontierter Ofen – das war alles. Auf dem Boden lagen Farbdosen herum, Fetzen von Säcken und Stücke verfaulter und schimmlig riechender Pappe. Es vergingen fünf Minuten, wie fünf Stunden so lang, in denen Piotr mit den Dosen kickte, Szymek in den Ofen schaute und ich versuchte, einen der Wagen wegzurücken. Ich begann daran zu zweifeln, daß uns hier irgend etwas Interessantes erwartete, als ich vom Eingang her, hinter uns, Weisers Stimme hörte: »Die erste Bedingung habt ihr erfüllt – ihr seid allein. Gut. Und jetzt die zweite. Kommt mit.« Schweigend gingen wir nach unten, über die Treppe, die zusammen mit dem Holzfußboden in der vergangenen Nacht eingebrochen war. Aber vergeblich hätte man nach Spuren der Katastrophe gesucht, alles war in Ordnung – die Klappe, die Treppe und der Boden waren repariert. Kein einziges Brett unterschied sich durch frische Hobelspuren, keine einzige Stufe war aus einem neuen Balken eingefügt worden. Wir blieben auf dem Estrich des Kellers stehen. »Ihr müßt ein Gelöbnis ablegen. Seid ihr bereit?« Natürlich waren wir nicht bereit, aber konnte man denn Weiser widersprechen? »Und worauf werden wir schwören?« fragte Szymek. »Auf das Kruzifix muß es nämlich etwas ganz Wichtiges sein.« 172
»Denkst du, es ist nicht wichtig?« fragte Weiser, und nach dieser Frage herrschte ein unerträgliches Schweigen, denn da wir nicht wußten, was er in petto hatte, waren wir in Verlegenheit. »Also worauf werden wir schwören?« fragte Szymek. »Wieso fragst du worauf, wär’s nicht besser zu fragen wozu?« sagte Weiser. »Ist doch klar«, unterbrach Piotr. »Damit wir das Geheimnis nicht verraten. Man schwört immer deshalb.« »Gut«, antwortete Weiser, »damit ihr das Geheimnis nicht verratet. Na, dann sagt mir, ob ihr an das Leben nach dem Tod glaubt?« Wir standen fassungslos da, denn noch niemals hatte jemand uns dergleichen so geradeheraus gefragt. Eine Selbstverständlichkeit, die man mit solch einer Frage festnagelt, kann selbst einem erfahrenen Menschen zweifelhaft erscheinen; und wie erst uns damals, im Keller der stillgelegten Ziegelei, als unsere Erwartung wie ein Fieber war, das unsere Herzen und unsere Phantasie anheizte. »Eigentlich ja«, antwortete ich für alle, »warum sollten wir nicht daran glauben?« »Na gut«, erklärte Weiser, »dann schwört beim Leben nach dem Tod, daß ihr nichts, was ich euch hier oder anderswo zeige, irgend jemandem verratet, und nur das, was ich euch sage, dürft ihr weitererzählen, wenn man euch danach fragt! Und wenn ihr etwas verratet, werdet ihr sterben ohne ein zukünftiges Leben, das wird die Strafe für den Verrat des Geheimnisses sein. Habt ihr verstanden?« Wir nickten konzentriert. Weiser hieß uns die linke Hand auf seine rechte legen, und als wir das getan hatten, ließ er jeden von uns einzeln sagen: »Ich schwöre!« 173
Dann ging er zu einer der Wände, schob sie mühelos weg, und vor unseren Augen erschien ein schmaler Durchgang, der zu einem großen Raum führte. Es war ein langer Saal, entstanden aus der Verbindung von drei oder vier Kellerräumen, aus denen man die Zwischenwände entfernt hatte. Ihre Reste zeigten sich als hervorstehende Bruchstücke von Ziegeln und Steinen. Gleich beim Eingang, auf der linken Seite, standen zwei Kisten, neben denen wir Elka erblickten. Der Raum wurde von zwei starken Glühbirnen erleuchtet, die an isolierten Kabeln von der Decke hingen. Damals schenkte ich dem nicht die geringste Aufmerksamkeit, heute jedoch bin ich überzeugt, daß Weiser die ganze Installation selbst vorgenommen und zu diesem Zweck die Leitung der Straße nach Matemblewo angezapft hatte, was einiges an Pfiffigkeit und Geschicklichkeit verlangte. Aber wer hätte auf solche Lappalien geachtet, als Elka die erste Kiste öffnete und wir darin echte Waffen sahen? Ja, das waren wirklich echte Waffen – drei deutsche Schmeisser, eine russische MP, zwei Parabellumpistolen und zwei Trommelrevolver, wie sie sowjetische Offiziere neben den häufiger anzutreffenden TT-Pistolen benutzten. Szymek pfiff voller Bewunderung, und Piotr nahm eine Parabellum in die Hand und versuchte, das Magazin herauszuziehen. »Nicht so«, Elka nahm ihm die Pistole weg. »So«, zeigte sie. »Und so tut man es hinein und entsichert.« Wir standen da wie Kinder vor der Auslage eines Spielzeugladens, und obwohl wir schon etwas größere Kinder waren, so waren wir doch in unserer Bewunderung und dem Wunsch, dies alles mit eigenen Händen anzufassen, ebenso ungeduldig und gierig. Während wir also alle diese wunderbaren Dinge anfaßten, die polierten Läufe und die oliv glänzenden Schäfte bewunderten, die Abzüge und Zündnadeln inspizierten, während wir völlig in diesen Beschäftigungen aufgingen, holte 174
Weiser aus der anderen Kiste eine Schachtel mit Munition, und aus der rechten Ecke, die wir bis dahin nicht beachtet hatten, schleppte er Attrappen aus Pappe heran. Elka deutete mit dem Finger auf mich: »Du wirst als erster schießen, laßt eine Parabellum hier, den Rest wickelt ihr in die Lappen und legt ihn in die Kiste zurück.« Wir führten den Befehl aus, ohne zu murren. Elka lud die Pistole und hieß alle, sich hinter mich zu stellen. Als Weiser von der gegenüberliegenden Wand zurückkam, wo er die Attrappen aufgestellt hatte, reichte sie mir die entsicherte Parabellum. »Du kannst schießen«, sagte sie, und es klang wie ein weiterer Befehl. Wären nicht all die Kriegsfilme gewesen, die wir im Kino »Tramwajarz« gesehen hatten, so hätte ich nicht gewußt, welche Haltung ich einnehmen, was ich mit der linken Hand tun und wie ich durch die Kimme die Spitze des Korns anvisieren sollte. Ich wußte das alles – zumindest theoretisch – und wollte es so gut wie möglich machen, aber als ich den Lauf in Richtung der Attrappe richtete, begannen mir die Hand und die Beine zu zittern, und im Nacken und an den Schläfen spürte ich Schweißtropfen. In den Filmen nämlich war das Ziel genau bestimmt – der Verschwörer schoß auf den Gestapo-Agenten, der SS-Mann auf den Juden, der Partisan auf den Gendarmen, der sowjetische Soldat auf den deutschen und umgekehrt, und hier sah ich etwas, was ich nicht definieren konnte, etwas, was mir allen Ernstes einen Schrekken einjagte – so, als sollte ich auf einen lebendigen Menschen schießen. Die Attrappe, die ich durch die Kimme sah, stellte ein mit Wasserfarben gemaltes Brustbild M.s dar. Aber das war nicht der gewöhnliche M., das heißt der, den wir in der Schule sahen, bei den Kundgebungen oder auf einer Lichtung des Waldes von Oliwa. Der M. aus Pappe hatte einen großen, langen Schnurrbart, die ausgeprägten Augenbrauen und die Lage der Augen ließen kei175
nen Zweifel, wem er ähnlich sehen sollte. Ja, obwohl die Porträts, groß wie Leintücher, seit einiger Zeit von den Straßen und Schaufenstern unserer Stadt verschwunden waren, verspürte ich Angst und Entsetzen. Zu allem Überfluß, als wäre es noch nicht genug, trug der Mann, auf den ich schießen sollte, die Mütze eines Offiziers der Wehrmacht. Das konnte sich nur Weiser ausgedacht haben. »Schießt du oder nicht?« Elkas Worte klangen wie Hohn. Ich schoß also – einmal, ein zweites, drittes, viertes Mal, bis das Magazin leer war, und alle Kugeln gingen in die Wand über oder neben der Attrappe, nur eine, die letzte, bohrte ein Loch genau an der Stelle, wo auf der hohen Mütze der deutsche Adler mit dem Hakenkreuz zu sehen war. »Den Geier hat er getroffen«, rief Piotr, und Weiser ging etwas mißtrauisch zu M. hin und steckte den Finger in das Einschußloch. »Du hast in den Kreis getroffen, den Adler hast du nicht berührt«, sagte er und kam wieder her zu uns, während ich meine Finger streckte, die vom mehrmaligen Rückschlag des Schafts eingeklemmt worden waren. Die Parabellum, wie übrigens jede richtige Pistole, war zu schwer für unsere Knabenhände, daher waren auch Piotrs und Szymeks Schüsse nicht viel besser als meine. Der erste traf nur zweimal in die Stirn, der zweite schoß ein Stück vom linken Schnurrbart weg und küßte M. auf die rechte Wange. Muß ich betonen, daß erst Weiser Klasse zeigte? Ich weiß nicht, wie lange er geübt hatte, hier oder irgendwo im Wald, ich weiß nicht, wie viele Hülsen auf den Boden gefallen waren, bevor er solch eine Perfektion erlangte. Weiser gab sechs Schüsse nacheinander ab, und wir erblickten auf M.s Gesicht zwei gleichseitige Dreiecke, die so angeordnet waren, daß sie eine Art Stern bildeten. Elka tauschte die Attrappe aus. Auch diesmal war es M., aber in der Uniform eines amerikanischen Generals aus dem 176
Zweiten Weltkrieg. Ein Detail nur entsprach dem vorherigen Geier auf der Mütze – der amerikanische M. hatte unter dem Hemdkragen, da, wo jeder Soldat eine Krawatte trug – an eben dieser Stelle hatte M. ein eisernes Kreuz hängen, eines, wie wir es in vielen Kriegsfilmen gesehen hatten. Wir schossen der Reihe nach, wieder nicht besonders gut, und Weiser stach uns wie zuvor durch seine Treffer aus. Dieses Mal schoß er ins Gesicht der Attrappe zwei Buchstaben, US, die durch M.s Nase voneinander getrennt waren. Wenn ich jenen Abend aus dem Gedächtnis fische, den Geschmack des Ziegelstaubs auf dem Gaumen und in den Ohren das Knallen der Schüsse spüre, wenn ich das Klatschen der auf den Estrich fallenden Hülsen höre – ich weiß wirklich nicht, wie die politische Einstellung Weisers war. Ob er sich überhaupt für Politik interessierte? Außer den Attrappen deutet nichts darauf hin. Denn was verbindet M., Stalin und General Eisenhower in einer Person? Das ist völlig inkonsequent. Und das war es aller Wahrscheinlichkeit nach auch. Außer dem Geier und dem eisernen Kreuz natürlich. Aber das war nicht alles. Als Elka die Attrappe wegschob, zog Weiser aus der Kiste mit der Munition ein Album. Ja, es war ein richtiges Briefmarkenalbum, mit festem Einband, mit Pappseiten, über die wie Lichtstreifen die Bänder der Cellophanhüllen huschten. Jeder, der wie Piotr in jenen Jahren Briefmarken sammelte, bekam beim Anblick solch eines Schatzes große Augen. Im Innern lagen fast auf allen Seiten, gleichmäßig eingereiht, zweierlei Briefmarken des Generalgouvernements – die einen stellten Hitler dar, auf den anderen war ein Bild vom Schloßhof des Wawel, wo während der Besatzung Hans Frank residierte. Die Briefmarken waren ungestempelt, und Weisers Hand hatte sie der Farbe nach geordnet – zuerst kamen die rotbraunen, dann die erdbraunen, darauf die grü177
nen und am Schluß der Sammlung die stahlblauen. Von denen mit Hitler gab es entschieden mehr, fast aus allen Seiten, in Reih und Glied wie bei der Parade, schaute uns das finstere Gesicht mit dem Schnurrbart entgegen. »Adolfs gibt’s hier«, flüsterte Piotr, »im Laden kriegt man dafür zwei Złoty das Stück!« Tatsächlich kaufte der philatelistische Laden in der Altstadt diese Marken, und in der Sammlersprache hießen sie einfach Adolfs. Nur, daß Weisers Sammlung keine gewöhnliche Briefmarkensammlung war, denn als wir alles angeschaut hatten, holte er fünf rotbraune Konterfeis des Reichskanzlers heraus, schloß das Album und ging mit den Marken zu der gegenüberliegenden Wand, wo er sie, nachdem er vorher jedes Stück abgeleckt hatte, an die Ziegel klebte. »Saubere Arbeit«, sagte Elka, als Weiser wieder herkam, »sie kleben wie neue!« Er prüfte indessen die Magazine und stand mit gespreizten Beinen da, wie bei einem Wettkampf. Zu jedem Schuß legte er nicht länger als drei Sekunden an, die ganze Operation dauerte zusammen also nicht länger als zwanzig Sekunden, wenn man je einen Schuß pro Konterfei rechnet. Ich erinnere mich, als wir dann an der Wand standen, bedurfte es keiner geringen Anstrengung, um die Stellen auszumachen, an denen der Kanzler des Dritten Reichs angeklebt worden war. Die Kugeln, die die Briefmarken trafen, zerfetzten sie völlig, und nur an manchen Punkten blieb eine einzelne Zacke übrig oder ein Stückchen buntes Papier, nicht größer als ein Streichholzkopf. Von fünf Adolfs war kein einziger übriggeblieben. »Er könnte jetzt schon bei der Olympiade mitmachen«, sagte Elka stolz. Weiser legte die Parabellum in die Kiste und schickte uns nach Hause. »In einigen Tagen sage ich Bescheid, und ihr kommt hierher, vorläufig sollt ihr das haben«, er reichte Szymek ein Büchlein, »und das«, er gab mir eine Parabellum. 178
Noch bevor wir in den Wald kamen, untersuchten wir das Büchlein und die Pistole. Das Buch war eine Instruktion zum Schießen mit Faustfeuerwaffen aus der Vorkriegszeit, und die Parabellum besaß kein Magazin und es fehlte ihr die Zündnadel. Ja, Weiser sagte nicht – lernt schießen und macht es so, daß keiner es sieht. Er nahm uns einen Eid ab, gab uns eine Instruktion und eine entschärfte Pistole. Wer verhält sich so? Ich konnte das nicht wissen im Sekretariat der Schule, heute aber denke ich, daß er auf diese Weise seine wirkliche Tätigkeit vertuschte. Denn an jenem Tag, als wir sahen, wie er zu den Klängen der Panflöte tanzte und wie er in der Luft schwebte, als wir Zeugen seiner Trance waren, da hatte er nicht mit uns gerechnet, wollte keine Zeugen haben außer Elka. Was sollte er in dieser Situation tun? Er gab uns zuerst ein Spielzeug in die Hand, dann weitere, und von Zeit zu Zeit prüfte er, wie wir ihre Mechanismen in Gang brachten. Aber ich hegte schließlich die Vermutung, daß er die ganze Zeit auf uns lauerte, wie sollte es da anders sein? Vielleicht rechnete er jedoch nicht damit, daß wir ihn so schnell aufspüren würden, vielleicht hätte das erst später geschehen sollen, unter ganz anderen Umständen? Und so entwaffnete er unsere Neugier und lenkte sie auf ganz andere Gleise. Tatsächlich fragten wir ihn nie und Elka noch weniger nach jener Nacht und dem verrückten Tanz. Es kam uns nicht in den Sinn, daß er uns, indem er uns die Pistole gab und seinen Schießstand zeigte, vom Wichtigsten fernhielt. Denn was waren seine Schießvorführungen gegen das Sprechen mit fremder Stimme in einer unverständlichen Sprache, gegen das Levitieren? Ja, wir konnten von da an Weiser als unseren Anführer betrachten, wir konnten glauben, wir seien seine Partisanen, wir konnten sogar mutmaßen, daß all dies mit einem Aufstand enden würde, aber wir mußten nicht darüber nachdenken, warum 179
ein Mensch einen halben Meter über der Erde levitieren konnte. Weiser ließ uns – um an dieser Stelle einen Vergleich zu gebrauchen – in die Vorhalle seines Heiligtums ein, und den Vorhang gab er als die Schlußwand aus. Was aber wollte er uns übermitteln, wovon uns, die wir nichts wußten, überzeugen? Das war kein Thema für ein Gespräch mit Szymek oder Elka, es blieb also Piotr, mit dem ich nie über Weiser gesprochen hatte. Erst vor zwei Jahren, genauer vor zwei Jahren und einem Monat (denn jetzt, da ich das schreibe, nähert sich der Oktober seinem Ende), also vor fünfundzwanzig Monaten entschloß ich mich zu diesem Gespräch. Immer, wenn ich zu Piotr gehe, setze ich mich an den Rand der Platte und verharre eine Weile schweigend. Jeder von uns kann sich dann an die Anwesenheit des anderen gewöhnen. Genauso an jenem Septembernachmittag – zuerst scharrte ich die Blätter, den Sand und die Kiefernnadeln vom Zement, und erst nach einer Weile sagte ich: »Bist du da?« »Ja, ist schon Allerheiligen?« »Nein.« »Warum bist du gekommen? Du sagst nichts?« »Sie haben Szymek verhaftet!« »Was ist passiert?« »Er hat Flugblätter gedruckt, und jetzt sitzt er. Warum antwortest du nicht, geht dich das nichts an?« »Wenn sich jemand mit Politik befaßt, muß er solche Situationen in Kauf nehmen.« »Du redest wie ein Fremder, Piotr.« »Ich bin ein Fremder.« »Du redest, als könnte dich nichts berühren.« »Hier kann einen nicht viel berühren.« 180
»Das glaube ich nicht.« »Du wirst dich selbst noch davon überzeugen.« »Mach mir keine Angst.« »Ich mach dir keine Angst, das sind offenkundige Tatsachen.« »Für mich nicht so offenkundig.« Wir schwiegen. Über dem Friedhof, ganz hoch oben, donnerte ein Flugzeug, von ferne her drang die Melodie eines Grabgesangs, und der Wind trug vertrocknete Gräser und Blätter zwischen die steinernen Gräberreihen. »Warum schweigen wir, Piotr?« »Vielleicht, weil du nicht gekommen bist, um mit mir über Szymek zu sprechen.« »Richtig. Nicht nur über ihn.« »Also was ist?« »Ich muß dich etwas über Weiser fragen!« »Du mußt, warum?« »Er läßt mir keine Ruhe, seit ein paar Jahren immer weniger. Wozu brauchte er uns? Wozu hat er uns in seine Angelegenheiten hineingezogen? Nur, um einige absurde Vermutungen und Fragen zu hinterlassen? Um uns für einige Jahre einen Floh ins Ohr zu setzen? Warum antwortest du nicht, Piotr? Warum tust du jetzt so, als wärst du nicht da?« »Du solltest nur einmal im Jahr kommen und keine Fragen stellen, hast du das etwa vergessen?« »Ich hab’s nicht vergessen, Piotr, aber für mich …« »Es gibt keine Ausnahmen, und jetzt geh schon, ich bin müde.« Ja. Vor fünfundzwanzig Monaten hörte ich von Piotr – ›und jetzt geh schon, ich bin müde‹. Und das war das letz181
te Gespräch über Weiser, das ich führte, beziehungsweise, das ich zu führen versuchte. Dann fing ich an zu schreiben, denn es gab keine andere Möglichkeit, Klarheit zu schaffen, als diese. Wir hatten also die Instruktion, die Parabellum ohne Magazin und Zündnadel und dazu viel guten Willen und noch bessere Ideen. Weiser hörte auf, ein Wundertäter zu sein. Mit der für dieses Alter typischen Leichtfertigkeit und Ungezwungenheit verlegten wir unsere Gedanken über ihn mehr in Richtung Robin Hood oder Major Hubal als in Richtung chaldäischer Magier oder Jahrmarktskünstler. Da war nichts zu machen. Die Übungen wurden jedoch verschoben. Am nächsten Tag begann nämlich die Bittwoche für die Bauern – so hießen die Gottesdienste zur Wiederherstellung der Ordnung in der Natur, das heißt, die Gebete um Regen. Zunächst paßten alle Mütter zu Hause auf, daß die Kinder sich wuschen, und achteten auf ihre Kleidung. Dann zogen die Männer weiße Hemden an, und manche banden sich, ungeachtet der Hitze, noch Krawatten um und legten die schwarzen Sonntagsanzüge an. Zum Schluß führten sie, mit Kölnischwasser besprengt, das bei zweiunddreißig Grad im Schatten ohnehin den Schweißgeruch nicht vertuschen konnte, ihre Familien aus, und alle Gläubigen machten sich zu Fuß oder mit der Straßenbahn auf den Weg zum Dom von Oliwa. Für den ersten feierlichen Gottesdienst hatte der Bischof seine Anwesenheit angekündigt, und alle waren gespannt, mit welchen Worten er sich an das erschöpfte Volk wenden würde. Die nächsten Gottesdienste sollten in den einzelnen Gemeinden stattfinden, täglich um achtzehn Uhr. Soviel erfuhr ich von meiner Mutter, die seit dem frühen Morgen davon in Anspruch genommen war. Sie erlaubte mir nicht einmal, mich länger als eine halbe Stunde zu entfernen, sicher in der Furcht, 182
ich könne irgendwo verlorengehen. Bevor wir in den Dom gingen, hörte ich den tausendstimmigen Gesang der Bittgebete. Und später, als ich im Innenraum war, lang und schmal wie ein Wikingerschiff, mischten sich der Gesang, die Gebete, das Dröhnen der Orgel, der Geruch von Schweiß, Kölnischwasser und verbranntem Weihrauch zu einem mächtigen Flehen um Regen und um die Abwendung der Mißernte auf den Feldern und in der Bucht. Die Delegation der Bauern und Fischer kniete in der ersten Reihe. Alle Augen waren auf sie gerichtet, als hätten ihre Gebete die meiste Kraft. »In heidnischen Zeiten«, sagte der Bischof, der irgendwo ganz fern in den goldenen Girlanden der Kanzel versank, »brachten unsere Vorfahren, wenn eine Dürre kam, ein blutiges Opfer, um sich mit ihren Göttern auszusöhnen und Regen zu erbitten! Wir aber, über die Gott seine Liebe und Gnade ausgegossen hat in der Gestalt Marias und ihres Sohnes, wir, die wir uns zum Evangelium bekennen, sind frei von falschem Glauben und Aberglauben. Christus, der sein Blut für uns vergossen hat, hat das größte und endgültige Opfer gebracht, dieser Christus wird unsere demütigen Bitten für die Bauern, die Fischer und uns alle erhören!!!« Die Orgel ertönte. »Herr, erbarme dich unser. Christus, erbarme dich unser. Herr, erbarme dich unser«, erscholl es aus tausend Kehlen. Alle sangen, und ich bin sicher, daß die Bischöfe, Prälaten und Magnaten auf den großen Porträts, die an der Wand hingen, auch mit uns sangen. »Geliebte in Christus dem Herrn«, fuhr der Bischof fort, »die Sünde führt uns oft auf den falschen Weg und bringt uns von Gott ab. Dann prüft uns Gott, damit wir uns besinnen und auf den Weg der Tugend und Gnade zurückkehren, damit wir die falschen Propheten und jegliche Versuchung von uns weisen!!!« – »Vor Hunger, Krieg und unversehenem Tod bewahre uns, o Herr«, 183
erklang es unter dem Gewölbe, hoch wie der Himmel. »Und jetzt«, sagte der Bischof, »laßt uns gemeinsam bedenken, wieviel Böses, Sünde und Unrecht in unseren Herzen zu Gast war und wie sehr das den Herrn erzürnte, der uns prüft! Wie viele von euch wurden zu Anhängern des Mammon, der Wollust, falscher Götzen, wie viele von euch haben in ihrer Verstocktheit und Dummheit Gott und den Glauben verleugnet für ein – wie sie sicher meinten – leichteres Leben? Wie viele von euch, frage ich?!?!?!?« Es herrschte tiefes Schweigen im Dom. Die gesenkten Köpfe nahmen demütig die bitteren Worte des Seelenhirten an. »Ich antworte: Viele von euch, meine Lieben, viele von euch haben gegen die Gebote des Herrn gesündigt, viele von euch sind vom richtigen Weg abgekommen! Deshalb laßt uns bitten und reumütig Buße tun, laßt uns Maria bitten, sie möge für uns bei Gott Vater und Sohn Vergebung erflehen, laßt uns bitten, sie mögen uns die reiche Gnade des Himmels senden. Wenn es an ihr nicht mangelt, so wird es auch an der irdischen nicht mangeln. Amen.« Nach diesen Worten des Seelenhirten erdröhnte die Orgel noch gewaltiger, mit doppelter Kraft, und das flehentliche »Höre, Jesus, wie das Volk dich bittet, höre, höre, lasse ein Wunder geschehen!« füllte das Gotteshaus bis in den letzten Winkel. Die Leute wischten sich verstohlen die Tränen ab, und ich schaute nach hinten, wo Engel mit Trompeten, wie Säbel gekrümmt, wo große kreisende Sterne waren, wo Gesichter, pausbäckig wie Amorfiguren, in die Pfeifen tuteten, in die Bälge bliesen, die Glocken läuteten, mit Blechblasinstrumenten und Triangeln schepperten, wo all das Goldene, Silberne, Marmorne und Hölzerne tönte, sich bewegte und zum ewigen Ruhme musizierte. Am Abend zog ein Gewitter über die Stadt hinweg, das erste in diesem Sommer, und alle erkannten darin ein Zeichen Gottes sowie ein Zeichen für die besondere Heilig184
keit seiner Eminenz des Bischofs. »Wenn er nicht gewesen wäre«, so sagte man, »wäre kein Tropfen Regen gefallen.« Aber der Regenguß dauerte keine halbe Stunde, und gleich darauf klärte sich der Himmel auf, und alles war wie vorher – die stinkende Fischsuppe in der Bucht, schwüle Luft und trockene Erde. Am nächsten Morgen stand ich in Cyrsons Laden, wohin meine Mutter mich geschickt hatte, um Kartoffeln zu holen, und ich hörte, was die Frauen in der Schlange erzählten. »Ja, ja, meine Liebe«, erklärte die eine, »wenn alle so zu den Sakramenten gingen, würde es drei Tage und Nächte regnen.« »Kann man denn den Leuten glauben? In die Kirche gehen sie einer wie der andere, beten vielleicht sogar zur Heiligen Jungfrau«, brauste eine andere auf, »aber zu Hause und bei der Arbeit vergessen sie alles. Am Zahltag besaufen sie sich wie die Schweine, und wenn der Sekretär nach der Überzeugung fragt, sagen sie gleich, sie glauben nur an Marx, denn das ist für die Arbeiter scheinbar ein sichererer Glauben als das Evangelium!« »Und das wollen Katholiken sein?« mischte sich eine dritte Frau ein, »daß so einer in den Himmel kommt – da könnt ihr lange warten!!!« »Ihr werdet sehen, das Mehl, die Eier und die Kartoffeln werden teurer«, meinte die erste, »bei so einer Trockenheit, da kann man nichts machen!« »Wenn’s bloß keinen Krieg gibt«, erschrak die zweite, »wenn die Preise steigen, gibt’s bestimmt Krieg.« Doch ich hörte ihren Ausführungen nicht weiter zu, denn ich dachte, daß im Dom statt des Bischofs der Gelbflügler in den goldenen Girlanden der Kanzel hätte stehen sollen, und statt Worten der Hoffnung und der Liebe hätten die Gläubigen lieber die schrecklichen Prophezeiungen des Irren an185
hören sollen. Hätte der Bischof vor den Versammelten das bedrohliche Bild der Vernichtung und des göttlichen Zorns ausgebreitet, hätte er wie jener von Blut, Leichen und Strafe für die Treulosigkeit gesprochen, dann, dachte ich, wären bestimmt mehr Leute auf die Knie gefallen, hätten sich an die Brust geschlagen und bekannt: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!!!« Nur – in wessen Namen sprach der Bischof und in wessen Namen der Gelbflügler? Anstatt zu antworten, werde ich erzählen, was weiter geschah. Am vorangegangenen Tag hatte Piotr die Parabellum in seinem Keller versteckt und den Schlüssel des Vorhängeschlosses auf die Kommode im Flur gelegt. Das Pech wollte es, daß sein Vater, als er zur Arbeit ging, den Schlüssel mitnahm, offensichtlich aus Versehen. Und jetzt mußten wir auf die Heimkehr des Papas warten und langweilten uns ganz fürchterlich in dem knochentrockenen Garten beim Haus. Etwa gegen zwei sah ich Frau Korotkowa mit einem Korb voller Wäsche. »O je«, sagte sie, »was soll denn nun werden, es ist ein Kreuz mit diesen Kerlen«, hier stellte sie den Korb auf die Erde, holte aus ihrem Kleid die Wäscheklammern aus Holz und hängte die Unterhosen, Hemden und Geschirrtücher auf die Leine. »Ein Kreuz«, wiederholte sie, »er läßt sich wieder vollaufen und bringt kein Geld heim!« Und zum ersten Mal spürten wir ein Gefühl von Solidarität mit Frau Korotkowa und mit allen Müttern und Ehefrauen unseres Hauses – denn es war Zahltag! »Er kommt nicht um vier«, bemerkte Piotr, »und wenn er den Schlüssel verliert? Letztes Mal«, erklärte er, »hat er den ganzen Geldbeutel und seine Papiere verloren!« »Und einen zweiten habt ihr nicht?« fragte Szymek. »Wenn wir einen zweiten Kellerschlüssel hätten, du Hammel«, brauste Piotr auf, »würdest du dann seit heute morgen hier sitzen?« 186
Da brauchte man nichts mehr zu sagen, wir wußten, daß Piotrs Vater, ebenso wie meiner oder Herr Korotek, genausogut um sechs wie auch nachts um zwölf heimkommen konnte. »Der ganze Tag ist verplempert«, sagte ich, »was machen wir jetzt?« Unverhofft kam uns Frau Korotkowa zu Hilfe. Als sie mit dem leeren Wäschekorb zurückkam, blieb sie bei uns stehen und sagte: »Was macht ihr denn hier, Jungs?« »Äh, nichts, wir sitzen halt so da.« »Habt ihr schon zu Mittag gegessen?« »Ja.« »Und jetzt habt ihr nichts zu tun?« »Nein, Frau Korotkowa.« »Und nachher?« »Was meinen Sie mit nachher, Frau Korotkowa?« »Na, so um drei, halb vier?« »Eigentlich nicht.« »Da könnt ihr mir vielleicht helfen, Jungs?« »Na, klar, aber was sollen wir machen?« »Nichts, es ist nur eine Kleinigkeit, ihr geht ins Liliput, wißt ihr, da, wo’s Bier gibt, und da schaut ihr nach meinem Mann, der sitzt immer da. Ihr geht zu ihm hin und sagt, am besten leise, daß ich krank bin und daß der Rettungswagen gekommen ist, um mich ins Krankenhaus zu bringen, ja? Macht ihr das, ihr Lausbuben?« »Ja, Frau Korotkowa.« »Also, was sollt ihr meinem Mann sagen?« »Daß Sie krank geworden sind, daß der Rettungswagen da ist und man Sie ins Krankenhaus bringt und daß Herr Korotek schnell nach Hause kommen soll.« 187
»Genau, ihr seid Goldjungs«, lächelte sie breit, »ihr vergeßt es nicht?« »Nein, wir vergessen es nicht, Frau Korotkowa, wir gehen«, und in Gedanken legten wir uns einen Plan zurecht, wie wir Piotrs Vater den Schlüssel abnehmen könnten, ohne daß er Verdacht schöpfte. Daß er mit Herrn Korotek zusammensaß, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Die Liliput-Bar befand sich gegenüber der preußischen Kaserne, neben der einstigen Garnisonskirche, die nach dem Krieg nur noch evangelische Kapelle gewesen und in diesem Sommer geschlossen worden war und in ein neues, großes Kino umgebaut wurde. Tagtäglich, vom frühen Morgen an, vor allem an heißen Tagen, versammelten sich dort drinnen und in dem kleinen Garten Gruppen von trinkenden Männern, und an Tagen wie diesem war das Stimmengewirr schon von weitem zu hören. Die LiliputBar gehörte zu jener Art von Lokalen, in die Frauen üblicherweise nicht gingen. Im Liliput wurde kein Schnaps verkauft – die Kunden brachten die Flaschen selbst mit, in Tüten, in der Jackentasche, im Gürtel der Hose, um einige Krüge schaumiges Bier zu bestellen und sie mit der klaren Flüssigkeit entsprechend aufzunorden. Alle Männer, die in unserem Teil des oberen Wrzeszcz wohnten, schauten hier mindestens einmal im Monat nach der Arbeit vorbei, um sich für kurze Zeit von den Alltagssorgen, den Gedanken an die Zukunft und unangenehmen Erinnerungen freizumachen. Diejenigen, die auf der Werft arbeiteten, hatten schon einiges intus, wenn sie im Liliput eintrafen. Unterwegs, gleich beim zweiten Eingangstor, erwartete sie die Bar »Unter den Kastanien«, und erst von dort kamen sie hierher, mit der Straßenbahn der Linie 2 oder der S-Bahn. Als wir zwanzig nach drei das verblaßte gelbe Schild der Bar erblickten, bog sich der Drahtzaun schon durch wie die Wand eines Fasses unter dem Druck der zusammen188
gepferchten, lärmenden und gestikulierenden Körper. Ganz in der Ecke des Gartens, gleich neben dem Fliederstrauch, stand Herr Korotek und neben ihm Piotrs Vater, meiner und noch zwei Männer, jeder mit einem Krug in der Hand. »Einen Scheiß«, schrie Herr Korotek, »einen Scheiß werden die machen! Soll sich der Brigadier doch mit der Verteilung der Prämien, nicht mit Beratungen beschäftigen!« »Genau«, pflichtete ihm einer der Unbekannten bei, »wo du recht hast, hast du recht!« Sie stießen alle mit den Bierkrügen an und tranken aus. Mein Vater holte eine Flasche aus der Tasche und schenkte der Reihe nach in jeden Krug ein wenig Schnaps. »Bevor er besoffen ist«, schlug Szymek vor, »horchen wir, über was sie reden.« Wir gingen von der Straße bis dicht an den Fliederstrauch heran, und im Schatten der Blätter stehend, schnappten wir ihre Worte auf. Aber das Thema war offensichtlich erschöpft, denn Herr Korotek drehte sich in unsere Richtung, knöpfte seinen Hosenschlitz auf und pinkelte mit einem starken Strahl von gelber Färbung an den Fliederstrauch. Dann wandte er sich wieder seinen Kumpanen zu, knöpfte den Schlitz aber nicht zu. Wir konnten das nicht sehen, erst die späteren Ereignisse überzeugten uns davon, welche Folgen die Vernachlässigung der Kleidung und der Sitten haben kann. Einer von den Maurern, eben von denen, die am Umbau der evangelischen Kapelle in ein Kino arbeiteten, rief Herrn Korotek zu: »He, du, mach deinen Käfig zu, sonst fliegt dir dein Vogel fort«, und die Schar der um ihn herumstehenden Männer grölte vor Vergnügen. Herr Korotek leerte den Inhalt des Kruges, wischte den Mund mit dem Hemdsärmel ab und antwortete: 189
»Und dir Scheißkerl wird die Hand verdorren!« »Und wieso?« »Weil, wenn man das Kreuz von einem geweihten Ort nimmt, einem früher oder später die Hand verdorrt!« Der weitere Wortwechsel, von den übrigen Stimmen ergänzt, ging immer schneller vonstatten. »Das ist eine lutherische Kapelle, eine deutsche!« »Lutherisch oder nichtlutherisch, das Kreuz ist immer dasselbe.« »Du machst auch, was man dir sagt!« »Guck mal, ein Philosoph!« »Wenn sie zahlen, machst du’s!« »Du würdest für Geld die eigene Scheiße fressen, und was bedeutet es dagegen, ein Kreuz abzunehmen!« »Na, na, aber Vorsicht!« »Wieso?« »Weil dir, Genosse, sonst der Schwanz abfällt!« »Na, mit dem Genossen kann man ja fein plaudern! Hört ihr, wie der Genosse sich ausdrückt?« »Gefällt’s dir vielleicht nicht?!« »Lernt ihr das in der Partei, so mit Älteren zu reden?!« »Hast du was mit der Partei?« »Ob ich was hab oder nicht, Anstand kann ich dir immerhin beibringen!« »Probier’s doch!« »Wenn ich will, dann probier ich’s!« »Da haben wir so einen verpißten Verteidiger des Glaubens, haha!« »Sag das nochmal!« »Was denn?« 190
»Du wirst vergessen, wie deine Mutter geheißen hat, verdammt, und die Mutter Gottes wird dir nicht helfen!!!« »Du verpißter Verteidiger der Mutter …«, und an dieser Stelle konnte der Maurer nicht zu Ende reden, denn Herr Korotek schmiß den leeren Bierkrug nach ihm, der über den Kopf des Gegners wegflog und zufällig einen anderen traf. Für den Bruchteil einer Sekunde verstummte das Stimmengewirr. Die Kumpel des Getroffenen warfen sich auf die Maurer, denn sie standen am nächsten. Diese verteidigten ihren Kollegen, verprügelten aber nicht den Richtigen. Brust berührte Brust, Faust prallte gegen Faust, Krüge knallten gegen Köpfe, Bein trat gegen Bein. Die Soldaten von der nahegelegenen Kaserne nahmen ihre schweren Gürtel ab und droschen drauflos, was das Zeug hielt. Nach einer Weile entbrannte der Kampf auch im Innern der Bar, wovon die Stücke eines zertrümmerten Tisches zeugten, die zusammen mit den Fensterscheiben und dem Rahmen herausflogen. Verunsicherte Passanten verlangsamten ihre Schritte und blickten fragend drein, aber selbst die Kämpfenden wären nicht imstande gewesen, zu erklären, warum und wozu sie sich schlugen. Die Masse von Körpern drückte jetzt gegen den Zaun, und der verrostete Draht brach wie ein Stück Papier. Ein rundes Dutzend Männer fiel auf den Bürgersteig. »Die Miliz! Die Miliz kommt!« schrie jemand warnend. »Rette sich, wer kann!« Und als von der Grunwaldzka-Straße her immer deutlicher das Heulen der Sirene zu hören war, sahen wir, wie unter dem Haufen betrunkener Körper nacheinander Herr Korotek, Piotrs und mein Vater hervorkrochen und sich schnell nach Hause davonmachten, um bloß nicht in den Kessel zu geraten, den es hier gleich geben würde. Dank des nicht zugeknöpften Hosenschlitzes war Herr Korotek vor sechzehn Uhr zu Hause, wenn auch mit blau geschlagenem Auge und blutbeflecktem Hemd, und wir hat191
ten eine halbe Stunde später die Parabellum, und unsere Übungen konnten beginnen. Was also war am Anfang? Da war die Wolke von Weihrauch, aus der unerwartet Weiser auftauchte. Warum ziehe ich mich zurück, kehre um, wiederhole mich, statt weiterzuerzählen? Es gibt Sätze, die – scheinbar verständlich und offensichtlich – wenn man sie einen Moment lang näher betrachtet, plötzlich voller Unklarheit zu sein scheinen, verdammt kompliziert und schließlich überhaupt nicht zu begreifen, Sätze von verschiedenen Personen, an die wir uns unerwartet erinnern und die uns dann keine Ruhe lassen. Was bedeutet zum Beispiel: ›Mein Königreich ist nicht von dieser Welt‹? Nicht nur einmal erklärte es Pfarrer Dudak, nicht nur einmal hörte ich später, wie Klügere als er es zitierten. Was brachte es, daß man diesen Satz mit vielen klugen Kommentaren versehen, daß man eigentlich alles, was er enthielt, erklärt hatte? Wenn ich ihn laut oder leise lese, mit lautlos geöffnetem Mund, wenn ich wieder einmal, und nicht das letzte Mal, an ihn denke, ergreift mich Angst, Entsetzen, schließlich Verzweiflung. Denn es ist kein eindeutiger oder klarer Satz, je mehr man aber darüber nachdenkt, um so größer wird die Unsicherheit, und ein schwarzes Loch ohne Boden steht einem vor Augen. Genauso war es, besser gesagt, ist es mit Weiser, sein kurzes Erscheinen und Verschwinden kann ich nur mit solch einem Satz vergleichen – einem scheinbar eindeutigen und leicht verständlichen Satz. Das ist natürlich keine einfache Analogie, Weiser äußerte sich in unserer Gegenwart nie zu religiösen Themen, und was könnte man erst zu seinem Innenleben sagen, zu dem niemand, wie es scheint, Zugang hatte. Wenn man jedoch sein Leben mit solch einem Satz vergleichen will, so muß man ihn unablässig wiederholen, in der Hoffnung, daß das, was unverständlich ist, sich irgendwann einmal als verblüffend einfach erweist. 192
Wo war ich also stehengeblieben? Ja, eine halbe Stunde später hatten wir die Parabellum, und unsere Übungen konnten beginnen. Aber entgegen unseren Absichten war es uns an diesem Tag nicht beschieden, auch nur einmal die Anleitung zum Schießen aufzuschlagen oder zu üben, wie man die Pistole anlegt und Kimme und Korn in eine Linie bringt. Ein paar Minuten nach fünf, als wir gerade in Richtung Bukowa Górka weggehen wollten, hielt uns die Stimme von Piotrs Mutter aus dem Fenster des zweiten Stocks auf: »Wo geht ihr hin, Jungs? Ab nach Hause, waschen und umziehen, um sechs ist Gottesdienst, habt ihr das vergessen?« Da war nichts zu machen, man mußte auf Piotrs Mutter hören, denn es war klar, daß sie im Namen aller unserer Mütter sprach. Ja, schließlich gab es – und gibt es – so etwas wie die Internationale aller Mütter unter der Sonne, genauso wie die Internationale aller sich am Zahltag betrinkenden Väter. Ich werde nicht im einzelnen vom Gottesdienst Pfarrer Dudaks berichten. Für alles auf dieser Welt gibt es anscheinend einen Prototyp, und der Pfarrer trat an jenem Tag als Spiegelbild seiner Eminenz des Bischofs auf. Als die Gebete und Gesänge zu Ende und der letzte Ton des alten Harmoniums, vermischt mit dem heiseren Falsett des Organisten verklungen war, verließen wir die Kirche und sammelten uns auf dem sandigen Weg, der direkt aus dem Wald hierher führte. Aus der Menge kam Elka auf uns zu. »Na«, fragte sie, »wie geht’s?« Wir wußten nicht, was sie meinte – unsere Übungen mit der Pistole, die noch kein einziges Mal stattgefunden hatten, oder den Gottesdienst, der gerade zu Ende gegangen war. »Was willst du denn?« »Ich hab was für euch«, lächelte sie verschmitzt. 193
»Wenn du was hast, dann gib’s her und verdrück dich, wir haben keine Zeit«, antwortete Piotr lässig. Elka lachte jetzt und zeigte die Reihen ihrer blendend weißen Eichhörnchenzähne. »Ihr seid vielleicht Deppen! Ich hab eine Nachricht!« »Von Weiser?« Sie nickte. »Kommt morgen um fünf ins Tal hinter dem Schießplatz, und das bringt ihr mit«, sie formte mit den Fingern so etwas wie eine Pistole, »klar?« Damals war alles klar, abgesehen davon, was Weiser uns zeigen oder was er uns tun lassen würde. Wir wußten nur, daß der erste Monat der Ferien schon vorbei war, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß bis zum Ende unserer Bekanntschaft nicht mehr viele Tage blieben. Am nächsten Tag trafen wir den Gelbflügler nicht auf dem Friedhof an. »Er ist irgendwo hingegangen«, »oder sie haben ihn geschnappt«, »aber nicht hier, denn es gibt überhaupt keine Spuren«, tauschten wir unsere Meinungen aus. »Also, an die Arbeit«, kommandierte Szymek. Und kurz darauf konnte man streng fachmännische Bemerkungen hören. Du stehst nicht richtig. Höher mit der Hand. Ohne Auflegen, ohne Auflegen, sag ich! Jetzt Kimme und Korn, abdrücken, gut, nochmal, du zielst zu lang, du mußt sofort abdrücken, wenn du das Ziel in der Schußlinie hast, ja, so, gut. Und jetzt ich! – Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon lange überschritten, und wir wiederholten unablässig dieselben Tätigkeiten, nahmen bis zum Überdruß die vorschriftsmäßige Haltung an, legten an und betätigten den unbeweglichen Abzug der schäbigen alten Parabellum. Von Zeit zu Zeit stellte sich Szymek auf die Spitze der Krypta und beobachtete das Terrain mit dem französischen Feldstecher, denn schließlich war alles, was wir taten, konspirativ und eine Vorbereitung auf den richtigen 194
Kampf. Außerdem übten wir das Schießen knieend, aus der Hüfte und im Liegen, genau, wie es die Anleitung aus der Vorkriegszeit vorschrieb. »Jetzt könnten wir eine Bank ausrauben«, verkündete Piotr, »wenn wir nur eine richtige Pistole hätten.« Szymek war da anderer Ansicht: »Partisanen oder Aufständische rauben keine Banken aus.« Und ich erinnerte an einen Film, in dem die Verschwörer mit der Waffe in der Hand einen Panzerschrank ausgeräumt und so Geld für ihre Organisation erbeutet hatten. »Das war aber während der Okkupation, und alles wurde den Deutschen weggenommen.« Szymek gab sich nicht geschlagen: »Und jetzt?« Seine Frage blieb unbeantwortet. Letztlich konnte das nur Weiser entscheiden, und ihm überließen wir die Ideen für die Zukunft. Nach dem Mittagessen gingen wir wieder auf den Friedhof, denn bis fünf Uhr blieb noch viel Zeit. Doch wir übten nicht lange. Den Eisenbahndamm entlang in Richtung Brętowo lief M., ohne Schmetterlingsnetz und ohne Schachtel für Pflanzen und Gräser. Hätten nicht seine ständigen Attribute gefehlt, so wären wir ihm nicht nachgegangen, aber seine leeren Hände und der schnelle Schritt machten uns sehr neugierig. M. ging den Bahndamm entlang bis zu der gesprengten Brücke, dort, wo die tote Eisenbahnlinie die Landstraße nach Rębiechowo kreuzt. Nachdem er die Asphaltdecke überquert hatte, kehrte er nicht wieder auf den an dieser Stelle hohen Damm zurück, sondern begab sich auf den in halber Höhe verlaufenden Pfad. Er kam schließlich an die Stelle, wo die Strzyża in einem schmalen Tunnel unter dem Damm durchfloß, und ging auf den Bach zu, wobei er sich nicht umschaute. »O«, zeigte Szymek mit dem Finger, »jemand wartet auf ihn!« Tatsächlich, etwa dreihundert Meter weiter, auf einer kleinen Lichtung inmitten des Dikkichts von Haselsträuchern und Erlen, die am Ufer des 195
Baches wuchsen, blieb M. bei jemandem stehen. Wir pirschten uns näher heran, die letzten zwanzig Meter auf dem Bauch robbend. M. saß bereits im Gras neben einer Dunkelhaarigen, die aussah wie eine Hausfrau, die sich gerade vom Kochen oder Bügeln losgerissen hat. Die Hand des Lehrers kroch unter ihre Schürze. »Nein«, sagte die Frau, »jetzt nicht, ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mehr hierher kommen! Wir müssen uns woanders treffen!« »Warum bist du denn dann gekommen?« M. hatte ihr die Schürze schon abgenommen, und seine Hand strich über den Schenkel der Frau wie ein Scheibenwischer bei Regen, hin und her. »Noch einmal«, bat er sie, »nur noch einmal.« »Ach, nein, nein«, sagte die Dame, knöpfte M. aber die Hose auf. »Wie immer?« fragte sie etwas leiser. »Wie immer«, antwortete M., und da stand die Dame auf, M. ebenfalls, die Dame zog ihr Kleid aus, M. die lächerliche weiße Unterhose, die er unter der Hose trug, und die Dame schlug M. mit voller Kraft ins Gesicht, einmal, ein zweites Mal, mit voller Wucht. »Ah«, hörten wir ihn stöhnen, »weiter!« Die Dame schlug M. jetzt ununterbrochen ins Gesicht, und wir sahen, wie sein mit Muttermalen getüpfelter Rücken sich bei den folgenden Schlägen hob und senkte. »Noch ein bißchen«, schnaufte M., also wechselte die Dame die Hand und drosch dem Lehrer weiter ins Gesicht. Plötzlich richtete M. sich kerzengerade auf und stand stramm, ein Schauer überlief seinen Körper, und wir sahen, wie sein Hintern bebte. »Ah«, seufzte der Lehrer. »Fertig«, sagte die Dame und zog ihr Kleid an, darauf die Schürze, und M. zog im Stehen die heruntergelassene Unterhose und Hose herauf, aus der er einen zusammenge196
rollten Geldschein nahm; er händigte ihn der Dame aus, wie man einem Schaffner die Fahrkarte aushändigt. »Das nächste Mal«, sagte die Dame, »brauchst du mich hier nicht zu suchen.« »Wo dann?« fragte M. sanft. »Da, wo wir uns letztes Mal getroffen haben.« »Gut, aber du kommst bestimmt?« »Ja, ja, ich komme«, sagte die Dame und machte sich auf den Weg den Bach hinauf, von wo sie offensichtlich gekommen war; M. hingegen brachte Hose und Hemd in Ordnung und begab sich auf den Rückweg, ohne sich zu verabschieden. »Das war vielleicht ein Zirkus«, sagte Szymek, als wir uns schnell nach Brętowo aufmachten, »hätte er sie nicht ganz normal befummeln können? Irgendwas stimmt da nicht, er hat sich ja nicht mal auf sie gelegt!« »Ob er sich draufgelegt hat oder nicht«, entrüstete sich Piotr, »eine Sauerei ist es trotzdem!« »Dummes Geschwätz«, fuhr Szymek fort, »wenn ihr eine Ahnung hättet, was Janeks Schwester mit ihrem Freund bei uns auf dem Dachboden angestellt hat, dann wüßtet ihr erst, wie man das richtig macht!!!« »Und warum sind sie nicht in den Wald gegangen«, fragte ich, »sondern haben es auf dem Dachboden gemacht?« »Es war Winter, du Holzkopf!« Szymek stieß mich in die Seite. »Und jetzt los, es ist bald fünf!« Wir rannten querfeldein den Moränenhügel hinauf, und nur die hohen Grasbüschel, die uns bis zu den Knien reichten, bremsten unseren Lauf. Zur Linken, ganz weit unten, waren die Umrisse des Militärschießplatzes zu sehen, zur Rechten, hinter der Wand des Waldes, blinkte das 197
Meer auf, noch weiter entfernt und blau wie auf einem Bild. »Man hört euch wie eine Elefantenherde«, giftete Elka zur Begrüßung, »wir warten schon seit einer Viertelstunde!« Doch keiner erklärte, was der Grund unserer Verspätung war. »Und jetzt«, sagte Elka, »jetzt werdet ihr etwas sehen, was euch Respekt beibringen sollte!« Vor wem oder wovor? Nein, das erläuterte Elka nicht, sie sagte nur so – ›Respekt beibringen!‹ – und erklärte weiter nichts. Weiser drehte an der Kurbel des Dynamos, und damals, während wir am Rand des Tals lagen, sahen wir die erste Explosion, von der ich schon geschrieben habe, daß sie an eine Wolke in Form einer senkrecht rotierenden Säule von himmelblauer Farbe erinnerte. Ja, es war die erste Explosion, die Weiser uns im Tal hinter dem Schießplatz präsentierte. Als wir zu der Verabredung an diesen Ort eilten, wäre uns dergleichen nie in den Sinn gekommen. Wir waren schließlich auf ein Schießexamen eingerichtet, Weiser indessen überraschte uns wieder mit etwas verblüffend Unerwartetem. Doch als er dann die nächste Ladung legte, als von neuem der Knall der Explosion die Luft zerriß und eine zweifarbige Wolke emporwirbelte und nach einigen Augenblicken wie ein morgendlicher Nebel zerfloß, waren wir bereit, vor Weiser nicht nur einen, sondern zehn Eide abzulegen, auf alles, was er verlangen mochte, und alles zu tun, was immer er wollte. Aber Weiser hatte es gar nicht eilig und verlangte vorläufig nichts, Elka nahm uns die Anleitung und die ramponierte Parabellum ab, und das war alles, abgesehen vom Termin für das morgige Treffen, das am frühen Nachmittag in der Ziegelei stattfinden sollte. Wir standen ziemlich unsicher da und warteten, was weiter passieren würde. »Ihr könnt nach Hause gehen«, sagte Weiser, »für heute reicht’s!« 198
»Und morgen werden wir schießen, ja?« fragte Szymek schüchtern. Weiser antwortete nicht, dafür platzte Elka heraus: »Macht ihn nicht verrückt«, als hätte Szymek sich ungebührlich benommen. »Es gibt Wichtigeres für ihn als eure Schießerei! Ihr sollt zuhören und keine Fragen stellen, klar?« Was hätte man da noch sagen sollen? Abends schossen wir mangels anderer Beschäftigungen mit der Schleuder auf Büchsen, die wir auf den Mülleimern aufgestellt hatten, und zwischen uns spielte sich etwa folgendes Gespräch ab: »Ich sag dir, der bereitet was Großes vor.« »Was denn?« »Ich weiß nicht, irgendwas, worüber die ganze Stadt sprechen wird, und in den Zeitungen wird man über uns schreiben!« »Du Dummkopf! In den Zeitungen schreibt man nicht über solche wie uns!« »Die werden schreiben!« »Aber was macht er eigentlich?« »Wenn sie uns fangen, gibt’s bombensicher Gefängnis!« »Wofür?« »Sind die Waffen vielleicht nichts? Und der Dynamo und die Explosionen?« »Das sind doch nicht unsere!« »Das ist egal, wir waren dabei!« »Na, was macht er denn eigentlich?« »Einen Aufstand!« »Ha, einen Aufstand! Einen Aufstand macht man in der Stadt, da müssen Barrikaden sein!« 199
»Na, dann halt einen Partisanenkampf!« »Nur mit uns? Fünf Leute sind zu wenig.« »Und woher willst du wissen, daß da nur wir sind? Vielleicht hat er solche wie uns haufenweise, und nur, damit’s geheimer bleibt, wissen die einen nicht von den anderen?« »Hm!« »Oder vielleicht jagt er das Tor des Zoos in die Luft und alle Käfige und läßt die Tiere frei?« »Das wär was, ein Löwe auf der Grunwaldzka-Straße!« »Und er wirft sich auf eine Mutter mit Kind, und wir kommen gelaufen – ›zack‹, weg ist der Löwe, ›zack‹, weg ist der Tiger, ›zack‹, weg ist der schwarze Panther!« »Der schwarze Panther ist für ihn!« »Also gut, wir erledigen alle wilden Tiere, und dann fotografieren sie uns in der Zeitung, könnt ihr euch das vorstellen? Schüler der Schule Nummer sechsundsechzig retteten Passanten vor wilden Tieren!« »Ich glaube, es geht um das Schiff!« »Was für ein Schiff?« »Wenn er uns geschult hat, kapern wir ein Schiff im Hafen!« »Nicht im Hafen, sondern auf der Reede!« »Gut, von mir aus auf der Reede, ja, und dann – er paßt auf die Brücke auf, wir auf die Kabinen und die Laderäume, und ab geht’s – nach Kanada!« »Nach Afrika!« »Nicht Afrika, ich sag dir, nach Kanada!« Und so verging der Abend zwischen Partisanenkampf und Schiffskaperung, während wir auf die verrosteten Büchsen schossen; immer mehr Steine sammelten sich unter der Mülltonne, immer stärker zogen wir an den Ventil200
schläuchen, bis die Dämmerung hereinbrach und wir nach Hause mußten. Nur – warum unterhielten wir uns nicht über M.? Warum sprachen wir nicht über sein Treffen mit der Schwarzhaarigen am Bach, warum gab uns der Anblick des Lehrers mit der heruntergelassenen Hose und Unterhose, dem ins Gesicht geschlagen wurde, nicht zu denken, der Anblick desselben M., vor dem wir im Biologieunterricht und während der Pause zitterten, wenn er durch den überfüllten Flur ging? Vielleicht war Weiser uns näher als M.s Geheimnisse? Oder vielleicht kannten wir das Laster noch nicht? In jener Nacht indessen hatte ich einen Traum, an den ich mich bis heute erinnere, bunt wie ein Film von Walt Disney und sehr beunruhigend. Ich stand am Ufer des Meeres, wahrscheinlich im Morgengrauen, und aus dem Wasser stieg ein Tier nach dem anderen. Bestien, wie man sie vergeblich im Zoo oder irgendeinem Buch über die Fauna der Länder in Übersee suchen würde. Zuerst zeigte sich, von Wasser triefend, ein geflügelter Löwe, gleich hinter ihm kam ein brummender Bär mit Knochen zwischen den Zähnen, und dann tauchte aus der grünen Tiefe ein schwarzer Panther mit vier Köpfen auf, mit den Flügeln eines Vogels auf dem Rücken. Den Zug schloß ein äußerst sonderbares Monstrum, eine Kreuzung aus Nashorn und Tiger, mit riesigen stahlblauen Zähnen, das wie ein degenerierter Hirsch mehrere Geweihe hatte. Wie viele davon aus dem schrecklichen Schädel wuchsen, weiß ich nicht mehr, vielleicht zehn oder auch zwölf, das war übrigens nicht das Wichtigste – die Tiere stürzten sich auf die nahegelegenen Häuser der Fischer, schlugen mit den Hieben ihrer Pranken die Türen und Fenster ein, zerfleischten die aus dem Schlaf gerissenen Männer, rissen mit den Krallen den Frauen die Haare aus, und die Kinder, denen es nicht gelang zu fliehen, wurden an den weißen Wänden 201
zerschmettert. Das dauerte lange, und die Angst, die ich spürte, erlaubte mir nicht einmal aufzuwachen und mich von dem Alptraum loszureißen. Plötzlich sah ich im Osten in den Strahlen der Sonne einen weißgekleideten kleinen Jungen. Es gab keinen Zweifel – da kam Weiser, und er zeigte mit ausgestreckter Hand auf etwas oder jemanden, was ich im Gewirr der zuckenden Körper und verkrümmten Leichen nicht sehen konnte. Weiser ging zuerst auf den Löwen zu und riß ihm die Adlerflügel aus. Das Tier fiel atemlos zu Boden und schlug regellos mit dem Schwanz. Daraufhin zwang er mit der Hand den Bären nieder – auch dieses Tier stürzte kraftlos in den Sand. Als drittes war das Monstrum mit den Hörnern dran – Weiser riß sie aus wie Unkraut, und das Ungeheuer ging in die Knie, wälzte sich dann auf den Bauch – und die stahlblauen Zähne fielen ihm aus dem Rachen und verwandelten sich in runde Zehnzłotymünzen. Zum Schluß maß Weiser sich mit dem schwarzen, vierköpfigen Panther mit den Vogelflügeln auf dem Rücken, und dies war das Sonderbarste und zugleich Schrecklichste – alle vier Augenpaare, die vier Nasen und die acht Ohren, all das gehörte zu M., denn die vier Köpfe der Bestie waren vier Gesichter M.s. Ich werde nie vergessen, wie furchtbar sie aussahen. Genau wie im Zoo durchbohrte Weiser den Panther mit seinem Blick, und auf eine nur ihm bekannte Art und Weise machte er aus ihm ein erschrockenes Kätzchen, das um seinen Bändiger herumschwänzelte und ihm die Hand leckte. Ich hörte nicht, was Weiser zu den am Leben gebliebenen Fischern und ihren Familien sagte, das Getöse der Wellen übertönte alles, wie auch die Straßenbahn der Linie 4, die in der Regel mit fürchterlichem Quietschen und Knirschen in die Endstation von Jelitkowo einbog und auf die Weiser jetzt behende aufsprang, um davonzufahren, als wäre er ein Tourist, der 202
vom Strand in die Stadt zurückkehrt. Die Sonne, die sich in der Scheibe des zweiten Wagens spiegelte, blendete mich, und plötzlich spürte ich das vom Schweiß feuchte Laken und begriff, daß ich im Bett lag und all das ein ganz gewöhnlicher Traum war. Ein ganz gewöhnlicher? Ein Sonnenstrahl fiel durch einen Spalt im Vorhang und kitzelte mich, durch die geschlossene Küchentür hörte ich meinen Vater zur Arbeit gehen, neben mir schnarchte noch meine Mutter, müde vom langen Waschtag gestern. Über dem Bett hing, in einem Biedermeierrahmen, das Bild der Muttergottes von Częstochowa, und von der Straße drang durch das offene Fenster das Rattern eines Fuhrwerks, das zum Markt in Oliwa eilte. Da waren kein Meer, keine Tiere, die aus ihm stiegen, da war weder Weiser in weißer Kleidung noch die zerfleischten Fischer. Statt dessen hörte ich Schritte auf dem Flur, der Nachbar schlurfte ins Bad. In der ehemals deutschen Wohnung, durch dünne Wände in kleine Kammern geteilt, hörte man sehr viel – auch, daß der Nachbar sich jetzt mit gleichmäßigen Messerstrichen rasierte und nach der gestrigen Trinkerei Durchfall hatte. Also wie war das mit dem Traum? Ich habe nichts übersehen und auch nichts hinzugefügt. Vielleicht kam er über mich statt unseres Gesprächs über M., das nie stattfand? Ich fürchtete diesen Traum so sehr, daß ich selbst, als ich das letzte Mal am Gitter des Beichtstuhls kniete und Pfarrer Dudak mir wichtig schien wie der Papst persönlich oder die Heilige Kongregation, daß ich selbst da nicht von diesen Bildern erzählen konnte, die mir für immer im Gedächtnis geblieben sind. Das war im Januar 1971, als ich genau wußte, was mit Piotr geschehen war und wie sein Begräbnis ausgesehen hatte. Ich kam damals nicht, um zu beichten, doch kniete ich wie immer demütig und bußfertig im Angesicht der Majestät. 203
»Ereifere dich nicht, mein Sohn, die Fügungen der Vorsehung sind unergründlich, und wahrlich nicht an uns ist es, ihren Sinn und ihre Bedeutung zu erforschen«, sprach der Pfarrer, und ich spürte seinen säuerlichen Greisenatem, und immer mehr blinder Zorn und Verzweiflung stiegen in mir auf. »Bedeutet das, Vater«, fragte ich, »daß Gott seinen Tod wollte?« »Das kann man nie so sagen, nie«, stieß er in einem Atemzug hervor, und ich fragte weiter: »Aber alles geschieht doch, Vater, nach Gottes Willen, also brauchte er auch auf irgendeine Weise diesen Tod, oder nicht?« »Wer mit dem Schwert kämpft, wird durch das Schwert umkommen«, tönte die Stimme hinter dem Gitter hervor. Und da konnte ich meinen Schmerz nicht mehr unterdrücken; ich schrie beinahe aus voller Kehle und verscheuchte alle heimlich lauschenden Scheinheiligen: »Das kann nicht sein, Vater, Piotr hat gegen niemanden gekämpft und nicht einmal einen Stein angerührt, Sie wissen selbst, wie es geschehen ist, eigentlich durch Zufall.« »Was willst du eigentlich«, unterbrach mich Pfarrer Dudak, »es gibt keinen Zufall, wo Gott regiert. Was möchtest du? Daß ich, Sein Diener, dir, der du Staub bist, Sein Geheimnis enthülle? Aus welchen Gründen sollte Er dir Seine Absichten enthüllen? Du sündigst, mein Sohn, durch Hochmut, und das ist eine schwere Sünde, Größere als du haben gefragt, und Er hat ihnen nicht geantwortet. Kennst du das Buch Hiob? Wieviel hast du erduldet im Vergleich zu ihm, daß du es wagst, so zu fragen und dich noch vom Zorn hinreißen läßt? Hier braucht man den Geist der Demut, mein Sohn, Demut und Geduld brauchen wir alle! Das ist es!« 204
»Es fehlt mir nicht an Demut, Vater«, antwortete ich schon leiser, »aber warum wird der Ungerechte geehrt und spottet über die Rechtschaffenheit des Gottesfürchtigen!? Kann man das nicht ändern?« »Euer Lohn wird reichlich sein im Himmelreich, und in die Politik misch dich nicht ein!« »Piotr hat sich nicht eingemischt!« »Nicht dir, mein Sohn, steht es zu, über des Herrn Gericht zu urteilen, hast du noch andere Sünden?« »Nein, Vater, ich bin nur gekommen, um zu fragen, warum immer weniger Glaube in mir ist.« »Du hast also«, unterbrach er mich wieder und bewegte sich auf seinem Sitz, »nicht nur durch Hochmut, sondern auch durch Zweifel gesündigt! Hör auf, an deinen Freund zu denken, und bete.« »Ich kann nicht«, unterbrach jetzt ich, »ich kann nicht, Vater, je mehr ich denke, desto weniger Glaube ist in mir!« »Bereue deine Sünden!« »Ich kann nicht!« »Bitte Gott um Verzeihung!« »Ich kann keine Schuld in mir finden, Vater!« »Der Satan lauert auf dich, mein Sohn, bitte um Verzeihung!« »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht!« Und ich lief schreiend aus der Kirche, denn vor meinen Augen stand noch einmal die Traumszene vom Bezwinger der wilden Bestien am Strand von Jelitkowo. Wieder also war Weiser zu mir zurückgekehrt – in den Gittern des Beichtstuhls. Vielleicht war das eine weitere List, die Aufmerksamkeit irrezuführen, dieses unerwartete 205
Eindringen in die intimste Sphäre des Lebens, darauf werde ich jedoch noch zurückkommen. Ich lag also auf dem Sofa, aus dem Alptraum erwacht, meine Mutter schnarchte müde vom gestrigen Waschtag, und aus dem Bad drang das Echo der Wasserspülung. Ich dachte daran, daß Weiser heute bestimmt prüfen würde, welche Fortschritte wir in der schwierigen Kunst des Schießens gemacht hatten, und ich freute mich schon beim Gedanken daran, daß wir heute die stillgelegte Ziegelei besuchen würden.
Indessen. Indessen? Lassen wir’s so: Indessen öffnete sich, ich weiß nicht, zum wievielten Mal, die Tür zum Arbeitszimmer, und aus dem großen, Licht und Tabakrauch atmenden Rachen Leviathans wurde die dünne Gestalt Piotrs herausgestoßen. Daß er dort geschrien hatte, hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht – vor uns bekannte er sich lieber nicht zu den Tränen. Er bewahrte jedoch seine Geistesgegenwart, denn als der Mann in der Uniform Szymek aufrief, machte Piotr, so, daß wir es sehen konnten, eine Handbewegung und deutete das Anzünden eines Streichholzes an. Das hieß, daß er während des Verhörs nach der vereinbarten Version ausgesagt hatte: der Fetzen von Elkas Kleid sollte im Feuer verbrannt sein, zur Genugtuung der drei und des Herrn Staatsanwalts, der auf den Abschluß der Angelegenheit wartete. Wir nickten unmerklich. Nur – wo lag dieser unglückliche Fetzen, wo sollten wir ihn gefunden haben? Sicher würden sie eine Karte herausziehen und uns auf einen Meter genau die Stelle zeigen lassen. Und weiter – wo war das Feuer? Das hatten wir nicht festgelegt, und telepathische Fähigkeiten besaß leider keiner von uns. Der Uniformierte knallte die Tür hinter Szymek zu, und im Sekretariat, wo ich schon alle möglichen Kombinationen der Parkettbretter durchge206
zählt hatte – der Länge nach, der Breite nach und diagonal –, im Sekretariat herrschte tiefe Stille, ausgefüllt vom gleichmäßigen Ticken der Uhr. Ich hatte Angst einzuschlafen. Seit jenem Traum hatte ich Angst, daß, wenn ich die Augen schloß, wenn ich die bösen Gedanken nicht von mir fernzuhalten vermochte – das wieder erscheinen könne. Ich hatte während all der folgenden Tage Angst, bis zum Ende der Ferien, und jetzt, im Sekretariat der Schule, hatte ich noch mehr Angst. Warum sagte ich damals Szymek oder Piotr nichts von dem Traum? Warum verheimlichte ich jenes Bild der sonderbaren, aus dem Meer an den Strand von Jelitkowo kriechenden Bestien, warum stellte ich mich nicht hin wie der Gelbflügler und offenbarte meine Wahrheit? Erst jetzt, als wir im Schein der einen Lampe, die auf dem Tisch des Hausmeisters brannte, auf den Klappstühlen saßen und Piotr resigniert den Kopf hängen ließ, während ich die Striemen auf seinen Händen betrachtete, erst jetzt begann ich, den Vorfall besser zu verstehen, der sich nach meinem Traum ereignet hatte, als wir im Tal hinter dem Schießplatz mit der Schmeisser schossen. Aber der Reihe nach. Wir waren natürlich zur verabredeten Zeit in der Ziegelei. Weiser zog schweigend aus dem Briefmarkenalbum zwölf erdbraune Adolfs, klebte sie an die Backsteinwand, reichte uns die geladene Parabellum und sagte: »Für jeden von euch vier, schießt, bis ihr trefft!« Elka sollte die verschossenen Hülsen zählen und das Magazin auffüllen. Ich erinnere mich genau – der beste war Piotr, denn um vier Kanzler zu treffen, brauchte er nur sechs Patronen, der zweite war Szymek mit acht Hülsen, der dritte war ich – für vier Adolfs verbrauchte ich elf Schüsse. Es dröhnte mir in den Ohren vom Knallen. »Nicht schlecht«, sagte Weiser, »und du«, das war an mich gerichtet, »solltest noch üben!« Und als Weiser verkündete, wir würden jetzt ins 207
Tal gehen, weil er sich nicht in uns getäuscht habe – genau so drückte er sich aus –, als wir durch das Dickicht von Farn, Brennesseln und Ginster gingen, vorbei an dem Wäldchen und den sogar bei Tage schwarzen Fichten, wartete ich, bis er ein Stück zurückblieb, etwas weiter entfernt von den anderen, und offenbarte ihm als größtes Geheimnis meinen Traum. Ich erzählte von den aus dem Meer kriechenden Bestien und wie er sie gezähmt und die unglücklichen Fischer gerettet habe. Ich glaube nicht, daß ich mich damals bei ihm einschmeicheln wollte, obwohl ich so schlecht geschossen hatte, nein; im übrigen faßte Weiser es auch nicht so auf, er hörte mich, ohne zu unterbrechen, bis zum Schluß an und sagte – ich erinnere mich noch ganz genau daran: »Gut, sag niemandem etwas davon.« Aber das war keine Drohung. Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Du wirst die Tafeln wechseln, das ist eine sehr wichtige Arbeit.« Und ich ging beglückt weiter, war es doch, als hätte sich ein besonderes Wohlwollen über mich ergossen, trotz meiner fatalen Schüsse. Ja, wenn ich heute schreibe, daß Weiser ein ganz anderer war, habe ich guten Grund dazu, das heißt aber keineswegs, daß er damals nicht unser Anführer oder einfach General war. Wer anders als ein General wäre auf die Idee gekommen, direkt neben einem Militärschießplatz zu schießen, vor der Nase echter Soldaten? Der Keller der Ziegelei war zu klein zum Spielen mit der Maschinenpistole. Aber wo konnte man schießen, ohne daß der Widerhall der Ballerei früher oder später die Aufmerksamkeit der Bewohner der umliegenden Häuser oder der Liebhaber von Waldhimbeeren auf sich lenkte? Seine Idee war einfach: Wenn auf dem Militärschießplatz Schießübungen stattfanden, so konnten auch wir zur gleichen Zeit in der Nähe unsere Übungen abhalten. Gleich hinter dem hohen Wall des Schießplatzes begann das Tal, wo ein geducktes 208
Wäldchen, hohe Gräser und Gruppen von dichten Sträuchern im Falle einer notwendigen Flucht eine Chance boten. Im übrigen ging das Tal in eine sich über etwa zwei Kilometer erstreckende, mit Kiefern bewachsene Erdspalte über, für deren Absperrung die Soldaten gut fünfhundert Mann gebraucht hätten. All das hatte Weiser genau vorausgesehen und geplant, staunend schauten wir, wie er uns anwies, unsere Stellungen einzunehmen, die MP lud und wartete, bis von der anderen Seite des Dammes her Schüsse ertönten. »Jetzt zeige ich euch«, sagte er, bereit zum Abdrücken, »wie man das macht!« Und kaum hörten wir das gegen die Wand des Waldes schlagende Knattern einer kurzen Serie von jenseits des Walls, da machte sich Weiser an die MP und gab Feuer, mit einer ebenso kurzen Serie, die wie der Widerhall der ersten war. »Sie werden sich nichts dabei denken«, sagte er, »auf der anderen Seite klingt das wie ein Echo, man muß nur im gleichen Moment schießen.« Darin bestand die Kunst – man mußte sich jedesmal auf den Schuß vorbereiten und abwarten, bis von der anderen Seite des Walls, auf dem richtigen Schießplatz, der nächste Soldat abdrückte. Wir schossen also praktisch gleichzeitig auf denselben Rasen, mit dem der Damm auf beiden Seiten bedeckt war. Nur, daß die anderen automatische Maschinenpistolen von Kalaschnikow hatten und wir die deutsche Schmeisser, die Weiser gefunden und instandgehalten hatte. Am schwierigsten war es, sich dem Rhythmus der anderen anzupassen. Ihre Serien, kurz, meistens aus drei Sequenzen bestehend, waren kaum einmal die gleichen. Tak, ta tak, ta ta tak – das war die häufigste – , ein Schuß, dann zwei, dann drei in kurzen Abständen. Aber es gab auch andere Sequenzen – zum Beispiel drei, zwei, zwei, einer oder zwei, drei, zwei oder einer, einer, drei und dann überraschend noch einer. 209
»Sie schießen, als hätten sie nicht genug Munition«, sagte Szymek, »ich versteh das nicht.« Und Weiser lächelte fast unmerklich, wie es so seine Art war, über dem herausgezogenen Magazin und warf beiläufig hin: »Stimmt genau, ein Soldat muß schießen, als hätte er nicht genug Munition.« Piotr war neugierig, weshalb. »Wie viele Patronen könntest du denn aufs Schlachtfeld tragen«, fragte Elka hochnäsig, als wüßte sie alles, »hundert? Zweihundert? Neunzig Stück?« Nach dieser Frage, auf die übrigens niemand eine Antwort gab, waren wir überzeugt, daß Weiser etwas Großes vorhatte, und plötzlich fühlten wir uns wie die Vertrauensleute Fidel Castros, die vor einem Jahr, am zweiten Dezember, in der Provinz Oriente gelandet waren und gegen den verhaßten Batista, einen Lakaien der Imperialisten, gekämpft hatten, wovon M. eine ganze Biologiestunde lang spannend erzählt hatte. »Schade«, flüsterte Szymek, als wir in einer Vertiefung unter dem Farn lagen, weil auf der anderen Seite gerade eine Pause war, »schade, daß es bei uns nicht so einen Batista gibt!« »Was?« fragte Elka. »Das verstehst du nicht«, erklärte Piotr. »Dem würden wir’s zeigen! Wir landen vom Meer aus am Strand, greifen die Kasernen an, und das ganze Land wird von der Revolution ergriffen, so eine richtige Revolution mit Partisanenkrieg und überhaupt!« Elka brach in lautes Gelächter aus, so daß sogar Weiser sie vorwurfsvoll ansah. »Ihr seid vielleicht Deppen«, sagte sie mit etwas ge210
dämpfter Heiterkeit, »ihr Trottel, wie kann man denn zum zweiten Mal eine Revolution machen?« Aber wir hatten keine Zeit, Elka zu erklären, wie sehr sie sich irrte, was den Gegenstand unserer Wünsche betraf, Weiser hieß mich auf den Bahndamm gehen, und sie bereiteten sich zur nächsten Schießrunde vor. Die Tafeln, auf die wir zielten, waren leider nicht Batista. Auf Packpapier war mit schwarzer Farbe M. mit Schnurrbart aufgemalt, und ähnlich wie das letzte Mal im Keller der Ziegelei erinnerte er – vielleicht schon etwas weniger, aber immerhin – an die großen Porträts, die wir noch in der zweiten Klasse auf dem Marsch am Ersten Mai getragen hatten. Und da geschah das, was ich damals nicht verstehen konnte, was mir aber im Sekretariat der Schule irgendwie klar und keineswegs als Zufall erschien. Als ich den letzten Stein auf das Stück Papier gelegt hatte, ertönten auf der anderen Seite des Schießplatzes Schüsse. Tack ta tack ta ta tack – knatterte es gegen die Wand des Waldes. Das war die Serie einer, zwei, drei Schüsse. »Schneller«, rief Elka mir zu, »komm da runter, es fängt schon an!« Und ich begriff, daß ich bis zur nächsten Serie aus dem Schußfeld verschwinden mußte, denn jetzt war Weiser an der MP und wartete ungeduldig auf die nächste Serie von der anderen Seite, die in spätestens zehn Sekunden erfolgen würde. Ich hatte also zehn Sekunden, um von dem Wall herunter und den schmalen Pfad entlang bis zu seinem Ende zu laufen, von wo aus man am Rande des Tals, ohne sich den Kugeln auszusetzen, zu der Stelle zurückkam, wo die anderen waren. Ich lief, was die Beine hergaben, aber ich hatte noch nicht die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als von jenseits des Walls erneut eine Kanonade ertönte. Ob Weiser glaubte, ich sei schon weit genug vom Ziel weg und er, der der Beste von uns war, könne schon schießen? Das dachte ich ein paar Sekunden später, 211
als ich ein leichtes Zwicken unterhalb des linken Knöchels spürte, direkt über der Ferse, und glaubte, der Dorn einer wilden Distel oder ein Stein hätte sich in meine Haut gebohrt, einen Moment dachte ich das, denn gleich darauf lag ich schon im Gras, und der Schmerz erlaubte mir nicht, aufzustehen und einen Schritt zu tun. Die anderen kamen aus dem Farn gelaufen und ließen die Maschinenpistole liegen. »Ein Streifschuß«, schrie Weiser, »ein Streifschuß, beweg dich nicht«, und gleich waren sie bei mir. Elka zog mir die Sandale aus, und Weiser hob den Fuß und schaute, was passiert war. Tatsächlich, es war ein Streifschuß, die Kugel hatte den Fuß getroffen und ein Stückchen Fleisch herausgerissen, steckte aber nicht drin. »Gut«, sagte Weiser, »der Knochen ist nicht verletzt, man muß einen Verband anlegen, sonst gibt’s eine Infektion!« »Nach Hause ist es zu weit«, bemerkte Elka, »und hier haben wir nicht einmal Borwasser!« Ich schaute, wie das herausrinnende Blut auf dem trokkenen Sand dunkle Klümpchen bildete, aber ich konnte nicht einmal zwei Schritte tun, ohne mich auf Szymeks und Piotrs Schultern zu stützen, die mich in die Mitte nahmen. »Zur Ziegelei«, kommandierte Weiser, und tatsächlich fühlten wir uns alle plötzlich wie im Krieg. Von jenseits des Walls war das Knattern einer Kanonade zu hören; das Pfeifen der Kugeln, die die Zielscheiben durchschlugen und im Sand versanken, drang bis hierher durch, und ich war richtig verletzt und der Fuß tat mir sehr weh. Weiser führte an, dann kamen humpelnd wir drei, und Elka bildete die Nachhut, in einigem Abstand, denn Weiser hatte ihr befohlen, die verbrauchten Tafeln und die in einen 212
Sack aus grober Leinwand gewickelte Maschinenpistole mitzunehmen. Im Keller der Ziegelei war es kühl, und einen Augenblick lang schien die Wunde weniger wehzutun, aber nur einen Augenblick lang, denn als Elka meine Ferse berührte, brüllte ich aus Leibeskräften: »Was machst du, du Idiot?« Und sie zog sich zurück, einerseits erschrocken und andererseits voller Anerkennung für meine Wunde, aus der immer noch Blut rann. Sie legten mich auf die große Kiste. »Es ist Sand dran«, sagte Weiser, »das ist nicht gut!« Natürlich ging es um das Loch im Fuß, nicht um die Kiste. »Bring Wasser«, befahl er Elka, und als sie verschwand, öffnete er die zweite Kiste und nahm einen Spirituskocher heraus. »Das Wasser ist nur für den Anfang«, sagte er, man wußte nicht, zu wem eigentlich, »dann muß man es ausbrennen.« Nach dem Kocher zog er aus der Kiste ein zerbrochenes deutsches Bajonett, das er sicher auch irgendwo gefunden hatte. Elka brachte in einer Konservenbüchse Wasser und wusch mit einem Tuch das Loch aus. »Tut es weh?« fragte sie. Ich gab keine Antwort. Ich schaute die ganze Zeit, was Weiser machte. Er stellte den Spirituskocher auf zwei Backsteine, zündete den Brenner an und tauchte jetzt die Spitze des Bajonetts, die er ständig drehte, in den bläulichen Strahl des Feuers. »Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte er und wandte den Blick nicht vom Brenner, »um nicht den Wundbrand zu bekommen. Etwas anderes haben wir hier nicht.« Szymek drückte mich an den Rippen gegen die Kiste, Piotr packte das rechte, gesunde Bein und drückte es ebenfalls so fest, daß es sich nicht bewegen konnte, und Weiser nahm meine linke Wade unter den Arm wie ein berufsmäßiger Feldscher und machte sich mit der glühenden Spitze 213
des Bajonetts an die Operation. Weiser mußte meinen Fuß höher heben, ans Licht, und die ganze Zeit, während er mit der Bajonettspitze in dem Loch herumstocherte, sah ich seine Hand. »Diese Schmeisser«, sagte er ruhig und stocherte weiter mit der Spitze im Loch, »taugt zu nichts mehr! Ich wußte zwar, daß sie etwas streut, aber eine solche Abweichung kann man nicht tolerieren.« So drückte er sich aus – tolerieren. Und gleich darauf, als die Spitze noch tiefer in das Loch ging, fügte er hinzu: »Die kommt zum Schrott, wir montieren das Schloß, das Magazin und die Zündnadel ab.« Zu wem sagte er das? Alle, auch ich, waren still, und nur der Geruch verbrannter Haut hing in dem Keller. »Gut«, sagte er und legte das Bajonett weg, »bind ihm jetzt das Tuch um, und dann könnt ihr ihn gleich nach Hause bringen.« Elka befolgte die Anweisung, indem sie das feuchte Stück Stoff vorsichtig um den Fuß legte, obwohl sie sich damit gar nicht hätte zieren müssen, denn seit Weiser die Spitze des Bajonetts herausgezogen hatte, spürte ich nichts mehr, als hätte ich keinen Fuß oder als sei es nicht meiner, sondern einer aus Holz. »Ich bleibe noch hier«, gab er bekannt, »und du«, wandte er sich an Elka, »gehst mit ihnen.« Als wir auf der knarrenden Treppe standen, hielt er uns noch einmal einen Moment lang zurück: »Sicher wirst du zu Hause bleiben müssen«, sagte er jetzt zu mir. »Wenn sie dich fragen, was passiert ist, dann sag, du wärst an einem verrosteten Stück Stacheldraht hängengeblieben. Ja, ein verrosteter Stacheldraht«, wiederholte er ruhig, »und jetzt geht!« Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, auf welchem Weg wir nach Hause gingen, vielleicht wie gewöhnlich über den Hügel oberhalb des Militärschießplatzes oder vielleicht über die Lichtung, über die einige große erratische Gesteinsblöcke verstreut waren und die wir deshalb 214
den Steinbruch nannten. Schon damals kamen mir Weisers Worte merkwürdig vor. Die Maschinenpistole, die wir benutzten, streute keineswegs, wenn sogar ich in der Runde, die dem Unfall vorangegangen war, fünf Mal M. getroffen hatte. Und selbst wenn sie gestreut hätte, dann – entsprechend den Regeln der Büchsenmacherkunst – nach oben oder nach unten, aber nie im Leben seitlich. ›Du wirst zu Hause bleiben müssen‹ – an diesen Satz erinnerte ich mich im Sekretariat der Schule, und plötzlich begriff ich, daß es genau darum ging: Weiser war daran gelegen, daß ich in den nächsten Tagen nicht mit ihnen zusammen wäre, sondern alles nur aus den Erzählungen Szymeks oder Piotrs erführe. Weiser hatte mich gezielt abgeschoben, und das nicht im Hinblick auf meine schwachen Ergebnisse beim Schießen. Vielleicht wollte er mich warnen? Aber wovor? Jedenfalls machte mir der Fuß bis zum Ende der Ferien viel Kummer, und selbst jetzt, da ich dies schreibe und einen Blick auf meine Socke werfe, weiß ich, daß zwei Zentimeter unterhalb des Knöchels die Narbe ist, die von Weisers Streifschuß und dem Ausbrennen des Loches herrührt. Ich weiß auch, sobald der Wind von der Bucht her seine Richtung ändert, spüre ich einen leichten, fast unmerklichen Schmerz, der wie ein kleines Rinnsal ist, in meinem linken Fuß, und nie werde ich vergessen können, was im Tal hinter dem Schießplatz geschah, und auch Weiser nicht und all die Tage jenes heißen Sommers, als die Dürre die Felder verwüstete, die stinkende Fischsuppe die Bucht bedeckte, der Bischof und die Pfarrer mit den Gläubigen Gott um anderes Wetter anflehten, als die Leute einen Kometen in Gestalt eines Pferdekopfes sahen, der Gelbflügler aus der Irrenanstalt ausriß und von der Miliz gejagt wurde, die Maurer die evangelische Kapelle gegenüber der Liliput-Bar in ein neues Kino umbauten und die Männer in unserem Haus begeistert wa215
ren von den Reden Władysław Gomułkas und sagten, solch einen Anführer hätten die Arbeiter noch nie gehabt und würden sie auch nicht wieder haben. Ist doch all das, was meine Augen damals sahen und meine Hände berührten, in dieser Narbe oberhalb der Ferse enthalten, in der Narbe, einen Zentimeter lang und einen halben breit, die ich mit dem Finger berühre, wenn ich den Faden verliere oder überlege, ob all das wirklich war, so wie unsere mit Katzenköpfen gepflasterte Straße wirklich war und Cyrsons Laden, die dampfende Metzgerei und die Kaserne, neben der wir Fußball spielten, oder wenn mich Zweifel befallen, ob all das nicht der Traum eines Jungen von seiner eigenen Kindheit oder von dem bedrohlichen Biologielehrer M. und dem abnormalen, von seltsamen Manien besessenen Enkel des Schneiders Abraham Weiser war. Ja, eben dann beuge ich mich über meinen linken Fuß und streiche mit den Fingern der rechten Hand über die Narbe und weiß, daß Weiser tatsächlich existierte, daß die Explosionen im Tal wirkliche Explosionen waren und daß nichts an dieser Geschichte erfunden ist, kein einziger Satz und kein einziger Augenblick jenes Sommers und jener Untersuchung. Und noch einmal sehe ich, als wäre ich wieder dort, Pfarrer Dudak mit dem goldenen Weihrauchfaß, spüre den Geruch verbrannter Myrrhe und höre »Wahrer Leib, o sei ge-grü-ßet« und sehe, wie Weiser plötzlich aus der grauen, nach Ewigkeit und Barmherzigkeit duftenden Wolke auftaucht, sehe ihn, wie er mit seinen reglosen Augen auf all das blickt, und dann höre ich: ›Dawid, Dawidek bleibt bei uns in Reli weg!‹ Und sein kariertes Hemd fliegt in die Luft, Elka kämpft wie eine wütende Löwin, und nur wir können nichts begreifen. Und im übrigen, wovon kann man denn schon behaupten – ich begreife das? Wovon überhaupt und wovon in dieser Geschichte? Begreife ich zum Beispiel, warum Weiser mich eine Zeitlang 216
von sich fernhielt? Oder begreife ich, wie Piotr, der unter der Erde liegt, sich mit mir unterhalten kann? Keine Theorie erklärt irgend etwas davon. Das einzige, was ich tun kann, ist, daß ich weitererzähle. Ja. Wenn Weiser aus nur ihm bekannten Beweggründen wollte, daß ich längere Zeit zu Hause blieb, so erreichte er seine Absicht voll und ganz. Eine Infektion bekam ich zwar nicht, aber schon am nächsten Tag schwoll der Fuß an wie ein Kürbis, und in dem Loch sammelte sich Eiter. Meine Mutter schleppte mich zum Arzt, der den Fuß wusch und Umschläge und so wenig Bewegung wie möglich empfahl. Ich mußte nun den ganzen Tag Kartoffeln schälen, auf die Nudeln aufpassen, die gekocht wurden, und mir anhören, wie meine Mutter sich über meinen Vater und über die Männer im allgemeinen beklagte, denn so war meine Mutter nun einmal – sie war gutmütig und jammerte gern. Die Verletzung am Fuß war ihrer Meinung nach die Strafe dafür, daß ich ungehorsam gewesen und tagelang in der Gegend umhergestreift war. Außerdem lief den ganzen Tag der Lautsprecher des Rundfunksenders, und beim Kartoffelschälen oder beim Auswellen der Nudeln, was ich am wenigsten ausstehen konnte, weil es eine typische Weiberbeschäftigung war, bei all dem also dudelte in der Küche abwechselnd eine Volksmusikkapelle aus Opoczno oder Łowicz, und kaum war sie verstummt, begann eine Opernarie aus »Boris Godunow« oder der »Kameliendame«, öde, lang und schwer, von Zeit zu Zeit vom Fragment irgendeiner Ouvertüre durchwoben. Ich bedauerte, daß wir nicht ein Radio wie Herr Korotek hatten, das man auf verschiedene Frequenzen einstellen konnte, denn der Lautsprecher strahlte nur ein Programm aus, und mit dem Gummiknopf konnte man höchstens die gellende Stimme der Volksliedsängerin oder den mächtigen Bariton des russischen Sängers leiser stellen. Und meine Mutter 217
erlaubte nicht, den Lautsprecher ganz auszuschalten, denn manchmal kam es vor, daß Tanzmusik oder, seltener noch, amerikanischer Jazz gesendet wurde. Dann drehte sie den Gummiknopf bis zum Anschlag, nahm mir das Nudelholz oder das Messer zum Kartoffelschälen aus der Hand und machte die ganze Arbeit für mich, schlug den Takt, summte mit und lächelte wie sonst nie. Ich wußte, daß meine Mutter sehr gern tanzte, aber seit ich mich erinnern konnte, hatte mein Vater sie nie irgendwohin mitgenommen. Wenn er müde von der Arbeit heimkam, schlief er gewöhnlich nach dem Essen über der Zeitung ein, und sonntags, wenn er von der Kirche kam, legte er sich aufs Bett und konnte so den ganzen Tag vor sich hindämmern, falls ihn nicht vorher einer der Kollegen oder Nachbarn in die Liliput-Bar mitnahm. Ich langweilte mich also fürchterlich, zumal das einzige Buch außer dem Kochbuch bei uns zu Hause, man wußte nicht warum, »Die Puppe« von Prus war – schon nach dem ersten Kapitel hatte ich aufgegeben, ohne daß es mir um den Rest schade war. Ich starb fast vor Neugier, was die anderen jetzt wohl machten, aber meine Mutter erlaubte mir nicht, am Fenster herumzustehen, und so konnte ich nicht einmal Szymek oder Piotr rufen, wenn sie durch den Hof gingen. Und beide gaben zwei Tage lang kein Lebenszeichen von sich, ganz als hätte Weiser ihnen verboten, in unsere Wohnung zu kommen. Erst am Morgen des dritten Tages klopfte Piotr an die Tür. Wir konnten uns nur flüsternd unterhalten, denn unsere Wohnung besaß nur ein Zimmer und die Küche, und meine Mutter lief gerade zwischen den beiden Räumen hin und her, weil sie gleichzeitig bügelte und kochte. »Gestern hat er uns ein neues Kunststück vorgeführt«, sagte Piotr ohne sonderliche Begeisterung. »Was denn?« Ich konnte kaum an mich halten. »Was war es?« – »Nichts Besonderes, weißt du, mit Feuer.« – 218
»Was heißt mit Feuer?« – »Wir haben ein Lagerfeuer gemacht.« – »Wo?« unterbrach ich ihn ungestüm. »Nicht weit von der Ziegelei, da ist so eine Lichtung in einem Haselgehölz«, erläuterte Piotr. »Aber was für ein Kunststück war das?« Und von meinen Fragen gedrängt, erzählte Piotr, daß sie zuerst wie immer im Keller der Ziegelei mit einem Trommelrevolver geschossen hätten und das sei schwieriger gewesen als mit der Parabellum oder der Schmeisser, denn der Revolver, so führte Piotr aus, schlage fürchterlich, rückwärts und seitwärts, und er streue wie keine andere Waffe. Danach hatte Weiser ihnen von dem Lagerfeuer erzählt, und abends waren sie zu dem verabredeten Platz gegangen. Er hatte gemeint, daß wir ihn, als wir ihn im Keller der Ziegelei tanzen und in der Luft schweben sahen, sicher für einen Verrückten gehalten hätten und daß er uns deshalb nicht einmal böse sei, weil er in solch einer Situation das gleiche gedacht hätte. Aber es sei gar nicht verrückt gewesen, er wolle nämlich, wie er sagte, so fuhr Piotr fort, Zirkuskünstler werden. Ich traute ihm nicht. »Zirkuskünstler«, wiederholte er und aß die Schattenmorellen, die meine Mutter auf einem Porzellantellerchen gebracht hatte. »Wenn er ein paar gute Nummern eingeübt hat, läßt er die Schule sausen, und jeder Zirkusdirektor wird ihn mit offenen Armen empfangen, auch ohne Zeugnis der siebten Klasse, und Elka wird seine Assistentin.« »Und der Schießplatz? Und die Explosionen? Und die Waffen? Und die Kaperung des Schiffs? Und der Partisanenkampf? Ist das alles nichts?« »Laß mich damit in Ruhe«, sagte Piotr und spuckte die Kerne in die halb geöffnete Hand. »Wir haben ihn auch gefragt, und er hat gesagt, daß er einfach so zum Spaß schießt, 219
und im übrigen kann er das vielleicht eines Tages für irgendeine Nummer brauchen, er weiß es selbst noch nicht, er wird schon sehen. Und dann hat er uns«, setzte Piotr seine Erzählung fort, »das Kunststück mit dem Feuer gezeigt, das heißt, er nahm aus dem Feuer glühende Kohlen, legte sie auf die Erde und stellte sich barfuß darauf, und dann ging er hin und her, und nichts passierte, er machte keinen Mucks, und als er seinen Fuß zeigte, war da nicht eine winzige Spur von Verbrennung. Hast du noch ein paar?« Ich brachte aus der Küche das tropfende Sieb mit den letzten Schattenmorellen dieses Jahres. »Und sie hat dazu gespielt?« »Nein.« Wieder hatte er den Mund voll und konnte nicht gleich reden. »Sie hat die ganze Zeit gequasselt wie ein Buch, aber bestimmt, weil sie das schon gesehen hat.« »Und weiter hat er nichts gesagt?« »Nein, was sollte er denn sagen, wenn wir Bauklötze staunten bei sowas? Solche Kunststücke gelingen nur Fakiren, und er kann das.« »Warum geht er dann nicht gleich zum Zirkus? Er kann so viel, daß sie ihn sofort nehmen würden, weißt du noch, der Panther im Zoo?« »Hm.« Wieder spuckte er die Kerne aus, einen nach dem anderen, diesmal auf den Teller. »Vielleicht bereitet er noch etwas anderes vor?« Er zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich denn das wissen? Bei einem Künstler weiß man nie, was ihm in den Sinn kommt.« »Und woher weißt du das?« Er spuckte die letzten Kerne aus. »Ich weiß das so allgemein, also tschüß« – und schon war er weg, er sagte nicht einmal, was sie vorhatten. Und ich 220
saß den ganzen Abend da und überlegte mir, wie Weiser wohl im Frack aussehen würde, mit einer Peitsche in der Hand, wenn er Löwen oder, noch besser, einen schwarzen Panther bändigte, im Scheinwerferlicht, wenn er sich unter tosendem Beifall vor dem Publikum verneigte. Das konnte schön sein – auch Elka in einem Kostüm mit Flittern, die wie Diamanten glitzerten, Elka, die einen brennenden Reif hielt oder dem gefährlichsten Löwen den Kopf in den Rachen steckte, so daß der ganze Zuschauerraum vor Angst starb und die älteren Damen in Ohnmacht fielen, natürlich nur bis zum Ende der Nummer. Weiser führte uns mit seiner Geschichte überzeugend hinters Licht, denn wir glaubten an seine Pläne und betrachteten alle das letzte Kunststück mit dem Übers-Feuer-Gehen als Beweis für die Richtigkeit seiner Worte. Wer wäre auf den Gedanken gekommen, daß es eine geschickte Täuschung war? Ich spreche nicht von seinen nackten Füßen, die die Glut berührten, das war mit Sicherheit ganz echt, es geht mir nur darum, daß er unsere Aufmerksamkeit in eine völlig andere Richtung lenkte, wo keine anderen Mutmaßungen mehr gediehen.
Die Uhr im Sekretariat schlug elf. Ich hatte mein Zeitgefühl wiedergewonnen. Die Tür des Arbeitszimmers ging plötzlich auf, und ich hörte, wie M. meinen Namen sagte. »Setz dich«, fuhr mich der Mann in der Uniform an. »Und du«, wandte er sich an Szymek, »geh an deinen Platz zurück!« »Na«, M. kam gleich zur Sache, »warum hat nur Korolewski in seiner Aussage geschrieben, daß ihr den Fetzen des roten Kleides im Feuer verbrannt habt? Warum hast du nicht darüber geschrieben, und auch dein anderer Kamerad nicht, he?« 221
»Ich hatte Angst.« »Du hattest Angst?« »Ja.« »Na, dann sag, wo ihr dieses unglückselige Stück Stoff gefunden habt?« »Im Tal hinter dem Schießplatz, da, wo Weiser seine Explosionen veranstaltet hat!« »Das wissen wir schon«, sagte der Direktor in sanfterem Ton, »es geht uns um die genaue Bestimmung des Ortes, erinnere dich, dann wird alles gut.« Während er das sagte, spielte der Direktor mit dem Zipfel seiner Krawatte, die inzwischen nicht mehr an eine jakobinische Kokarde und auch nicht mehr an einen eingeweichten Lappen erinnerte, sondern aussah wie die Schlinge einer Schnur, deren beweglichen Knoten man nach oben oder unten verschieben konnte. »Na, erinnere dich«, wiederholte der Uniformierte wie ein Echo. »Irgendwo beim Farn.« M. lachte trocken auf. »Wem willst du denn das erzählen? Farn gibt es da mehr als Bäume!« Der Uniformierte breitete den Plan des Tals auf dem Schreibtisch aus. »Komm her«, sagte er, »und zeig genau, wo es war!« Was sollte ich machen? Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, welche Stelle ihnen Piotr gezeigt hatte und später Szymek, ich suchte also eine aus, die möglichst nahe an dem Kreuzchen war, das den Punkt markierte, wo Weiser die Sprengladungen gelegt hatte. »Du lügst!« Es war M., der schrie. »Wieder lügst du, und deine Freunde lügen auch, ihr lügt alle miteinander, aber ich werde euch …« Und schon streckte er die Hand 222
in meine Richtung aus, um mich am Ohr zu packen, als der Direktor ihn mit einer schnellen Bewegung zurückhielt. »Einen Moment, Herr Kollege, fragen wir ihn doch, wo das Feuer war, in dem sie die Stoffetzen verbrannt haben.« »Das waren keine Fetzen«, warf ich ein, und sie erstarrten vor Staunen, gespannt, was ich weiter sagen würde. »Es waren keine Fetzen, es war ein ganzes Stück vom Kleid!« »Korolewski hat eindeutig geschrieben ›ein Fetzen Stoff‹, wenn es also kein Fetzen war, was dann?« Der Uniformierte rückte so nahe an mich heran, daß ich den Schweiß von seinen Schläfen rinnen sah. »Vielleicht wirst du sagen, daß es das ganze Kleid war, wie?« »Nein, das ganze Kleid war es nicht, bestimmt nicht das ganze, aber ein Stück so groß wie diese Landkarte, so«, und ich zeigte in der Luft, wie groß das Stück gewesen war, das nie jemand gesehen hatte, denn Elka war ja gar nicht in die Luft geflogen. Der Uniformierte rückte mir noch näher. »Wenn es so war, dann weist alles darauf hin, daß irgendwo auch ein Stück des Körpers gewesen sein muß, und darüber hat weder Korolewski noch einer von euch geschrieben.« »War da ein Stück vom Körper, oder nicht?« fuhr mich M. an. »Aber such nicht wieder nach Ausreden!« »Nur dieses Stück vom Kleid«, antwortete ich, zufrieden, daß ich ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte; aber sie ließen sich nicht hereinlegen, denn sie kamen sofort wieder auf die gleiche Frage zurück. »Ob groß oder klein«, meinte der Direktor, »du hast uns das Wichtigste nicht gesagt: Wo habt ihr es verbrannt?« 223
»Nicht weit vom Bahndamm.« »Von welchem Bahndamm?« »Na, von dem, wo keine Züge fahren.« »An welcher Stelle?« »Bei der gesprengten Brücke.« »Du versuchst dich wieder rauszureden.« M. war jetzt schon gefährlich nahe. »Gesprengte Brücken gibt es dort mehrere, bei welcher genau?!« »Hinter der Kirche von Brętowo, da, wo der Bahndamm die Straße nach Rębiechowo kreuzt!« »Jetzt reicht’s«, schrie M., »jetzt reicht’s mit diesen Lügen, deine Kameraden sagen etwas anderes aus.« Und er packte mich am einen und anderen Ohr gleichzeitig und hob mich so in die Höhe, daß ich in der Luft schwebte wie Weiser im Keller der stillgelegten Ziegelei. »Wie lange wollt ihr noch lügen? Da war noch etwas außer dem Kleid, stimmt’s? Wo habt ihr die Überreste eurer Freundin vergraben?« fragte er, während er mich hochhob und wieder herunterließ, und ich konnte gar keine Antwort geben, sondern schrie nur: »Lassen Sie mich los, lassen Sie mich los«, bis er mich endlich, weil ihm die Hände wehtaten, losließ, und mich in Richtung Wand stieß, wo ich einen Augenblick aufatmen konnte. »Gib die Pfote her«, sagte M., völlig außer Atem, »vielleicht wird das deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.« Und ich sah, wie er aus der Schublade einen Gummischlauch nahm, denselben, der im Biologieunterricht für Ordnung sorgte. »Komm näher«, sagte er, aber ich rührte mich nicht vom Fleck. »Na, komm her«, sagte er und schaute den Direktor und den Uniformierten an, »hast du Angst?« Ich blieb an der Wand stehen. »Also«, fragte der Uniformierte, »sagst du’s oder sagst du’s nicht?« 224
»Ich hab schon alles gesagt«, schluchzte ich, denn wider Willen liefen mir die Tränen aus den Augen, aber dieser Anblick reizte M. nur noch mehr, er öffnete meine Faust wie bei einem kleinen Kind und verabreichte mir fünf Schläge, die wie Pferdehufe auf dem Asphalt knallten. »Sag’s!« »Es war an derselben Stelle, wo wir Sie an der Strzyża gesehen haben!« »Wo?« fragte der Direktor. »An der Strzyża, das ist der Bach, der unter dem Bahndamm durchfließt!« M. erstarrte, aber nur einen Augenblick lang. Seine Wangen röteten sich. »Ich fange da manchmal Schmetterlinge«, wandte er sich an die anderen, »aber das hat nichts mit der Sache zu tun!« Wieder packte er meine Hand, aber ich kam ihm zuvor. »Damals hatten Sie kein Schmetterlingsnetz«, sagte ich, »und keine Schachtel für Pflanzen!« Der Gummischlauch schwebte in der Luft und fiel nicht auf die geöffnete Hand. M. blickte mich bedrohlich und etwas beunruhigt an. »Bist du dir da sicher?« »Ja, da bin ich mir sicher«, und ich grinste unverschämt, denn die Karten waren aufgedeckt, wenngleich der Uniformierte und der Direktor nichts ahnten. »Gut«, sagte er, »wir werden darüber nachdenken. Und jetzt«, wandte er sich an sie, »machen wir eine Teepause!« Als ich ins Sekretariat hinausging und zum ersten Mal den schalen Geschmack der Erpressung, vermischt mit Tränen, spürte, sprang der Hausmeister von seinem Stuhl auf. »Fertig«, warf er fragend dem Uniformierten zu, »ist jetzt alles vorbei?« – »Nein«, erwiderte der, »bringen Sie 225
uns etwas Wasser in der Kanne. Und ihr«, damit waren wir gemeint, »redet kein Wort!« Der Hausmeister verschwand mit der Kanne, wir hörten seinen hinkenden Gang im leeren Korridor, und sie öffneten die Tür des Arbeitszimmers einen Spalt, damit wir uns nicht unterhalten konnten. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man alles hören, was sie sagten, aber diesmal nutzten wir die Chance nicht. »Ge-fun-den bei der al-ten Ei-che«, flüsterte Szymek, »verbrannt am sel-ben Tag a-bends bei den Stein-brü-chen. Abends um sie-ben, wir ha-ben aus Angst einen Platz gesucht, und jetzt sa-gen wir das auch aus Angst.« Bevor der Hausmeister zurückkam durch den nach Stille und Bodenwachs duftenden Korridor, war das Wichtigste vereinbart. Ja, Szymek wußte, was er sagte, er hatte die Einzelheiten gut ausgedacht, und das Wichtigste war, daß sie wahrscheinlich klangen. Tatsächlich, die alte Eiche war in dem Tal kaum zu übersehen. Vorausgesetzt, daß Elka von einer Explosion zerrissen worden war, hätte wirklich ein Fetzen des Kleides dorthin fliegen können. Dann wußten wir nicht, was wir damit machen sollten. Und auf der Lichtung mit den erratischen Gesteinsblöcken, das heißt in dem Steinbruch, der vierzig Minuten zu Fuß vom Tal entfernt lag, war wirklich ein Platz, der vom Förster für Lagerfeuer vorgesehen war. Also gingen wir dorthin – was Wunder –, und den roten Fetzen verschlang das Feuer. Der Hausmeister kehrte mit der Kanne voll Wasser zurück und verschwand für einen Moment im Arbeitszimmer. »Ich hab’s bei den Wur-zeln ge-fun-den«, flüsterte Szymek, »du hast’s in der Ta-sche ge-habt«, damit war ich gemeint, »und Pio-trek hat’s ins Feu-er ge-wor-fen. Dann nach Hau-se.« Schon war der Hausmeister bei uns, die Tür zum Arbeitszimmer hatte sich geschlossen, und ich – wenn ich 226
heute an diese Szene zurückdenke, so glaube ich, es war das schönste szenische Geflüster, das ich je gehört habe. Eines nur ist erstaunlich: Warum schickten sie dieses Mal den Hausmeister zum Wasserholen und nicht einen von uns? Allein, ohne Wächter konnten wir sogar, wenn die Tür des Arbeitszimmers offen stand, mühelos alles Nötige festlegen, und was das betraf, konnten sie keine Zweifel haben. Wollten sie um jeden Preis die Untersuchung beenden? War es vielleicht eine Intrige von M.? Über M. dachte ich jedenfalls die ganze Zeit während dieser langen Pause nach, während sie Tee tranken und wir im Sekretariat auf den Klappstühlen saßen, die schrecklich in den Hintern drückten. M. hatte jetzt eine schwierige Aufgabe, und es gab keinen Zweifel, daß er begriffen hatte, worum es ging. Unmerklich hatte sich das Spiel zwischen uns in ein Spiel zwischen M. und mir verwandelt, und obwohl ich den Jungen nie von der ersten Erpressung meines Lebens erzählte, zog sich dieses Spiel später noch über Jahre hin, über den Abschluß der Schule hinaus, und es endete auch nach Piotrs Tod nicht, sondern dauert – wie ich inzwischen denke – vielleicht sogar bis heute an, an einem ganz anderen Ort und zu einer ganz anderen Zeit. Als ich die Schule abschloß, unterrichtete M. noch Biologie und war weiterhin stellvertretender Direktor für Erziehungsangelegenheiten. Später, nach 1970, als die zwei Staatsmänner jenen Vertrag unterschrieben, den die Zeitungen in Deutschland und Polen als ein historisches Ereignis bezeichneten, als viele Menschen für immer in das Land des Georg Wilhelm Friedrich Hegel auswanderten, erfuhr ich, daß unter ihnen auch M. war. Damals zuckte ich mit den Schultern, aber – wie sich herausstellte – zu Unrecht. Denn während meines Besuches bei Elka – von dem ich geschrieben habe, er sei ebenfalls ein Spiel gewesen, nur 227
um Weiser –, ganz gegen Ende dieses Besuches tauchte M. noch einmal unerwartet auf, als könnte ohne ihn nichts geschehen. Aus dem großen Zimmer im Parterre, wo Elka lag, begab ich mich ins Schlafzimmer. Meine Arme waren nicht mehr die Flügel der Il 14, und die übrigen Glieder erinnerten keineswegs an ihren silbernen Rumpf, der das rote Kleid emporgeweht hatte. Neben dem Bett stand ein kleiner, tragbarer Fernsehapparat. Ich schaltete ihn ein und zog, ohne auf das Programm zu achten, ganz resigniert Horsts Schlafanzug an. Und da erblickte ich auf dem Bildschirm M.s Gesicht, lächelnd und rund, das auf die Fragen eines Reporters antwortete. »Weshalb haben Sie sich so spät entschlossen, in Ihre Heimat zurückzukehren?« fragte der Journalist. »Ach, das ist nicht so einfach«, antwortete das Gesicht, »allgemein würde ich sagen, aus politischen Gründen.« »Was haben Sie in Polen gemacht?« »Wissenschaftliche Forschungen«, sagte das Gesicht, »und notgedrungen unterrichtete ich auch an der Schule.« »Warum notgedrungen?« »Weil meine Forschungen, in denen ich das Außergewöhnliche der Flora und Fauna«, das Gesicht legte sich in Falten, »der Wälder um Danzig hervorhob, weil diese Forschungen keinerlei Publizität oder Anerkennung erlangten.« »Haben Sie nach Ihrer Einreise hier die Ergebnisse Ihrer wissenschaftlichen Forschungen publiziert?« »Leider«, das Gesicht drückte Anzeichen einer gewissen Ungeduld aus, »wurde mein Manuskript an der Grenze konfisziert.« »Warum?« 228
»Ich fürchte, ebenfalls aus politischen Gründen«, antwortete das Gesicht, ohne zu zögern. »Und was machen Sie zur Zeit?« »Zur Zeit«, das Gesicht dachte einen Moment nach, »zur Zeit unterrichte ich in einer Gartenbauschule die berufskundlichen Fächer.« »Führen Sie nunmehr Ihre wissenschaftliche Arbeit ungehindert fort?« »O ja«, lächelte das Gesicht wie auf einer Coca-ColaReklame, »völlig ungehindert!« »Und was sind das für Forschungen, wenn man fragen darf?« »Ich beobachte«, das Gesicht setzte eine wichtige Miene auf, »aussterbende Schmetterlingsarten in Oberbayern.« »Werden die Ergebnisse Ihrer Forschungen veröffentlicht?« »Ja«, antwortete das Gesicht, »bald!« Ich wollte schon den Fernseher ausschalten und das Gesicht abstellen, wenigstens für diese Nacht, als auf dem Bildschirm der Bundeskanzler erschien, Herr Willy Brandt. Er hielt eine Rede im Bundestag und polemisierte gegen die Thesen der zukünftigen Grünen. »Sie wissen gar nicht«, sagte ich laut, denn es war niemand im Zimmer, »Sie wissen gar nicht, Herr Bundeskanzler, was für einen Verbündeten die jetzt haben!« Und ich schaltete den Fernseher aus in der Furcht, daß aus dem Bildschirm plötzlich ein Gesicht springen könnte, das gleiche wie vor Jahren, mit dem von Weiser gemalten Schnurrbart. Meine Entdeckung drückte mich völlig nieder, und am nächsten Tag war ich – wie ich schon erwähnte – wieder bei meinem Onkel in München, der ein schönes Haus, einen Rasen und ein Auto hatte, und sonst nichts. Ich dachte 229
darüber nach, warum die Dame, die wie eine Hausfrau aussah, M. ins Gesicht geschlagen hatte, und noch heute weckt dieses Bild in mir gemischte Gefühle, denn wenn M. im Sommer in Nieder- oder Oberbayern aussterbende Schmetterlinge fängt, verabredet er sich dort bestimmt mit einer bayerischen Hausfrau und steht genauso wie an der Strzyża an einem Gebirgsbach, der die klatschenden Schläge der properen Deutschen übertönt.
Wie ging’s weiter? Ja, wir glaubten Weiser sein Märchen. Wenn er kein Anführer oder Pirat sein wollte, warum sollte er dann nicht ein Artist sein, der im Zirkus auftritt? Mein Traum – so folgerte ich damals – bestätigte nur diese Vermutung, Weiser schien wie kein anderer dazu geeignet, wilde Tiere zu bändigen. Aber wozu brauchte er diese pyrotechnischen Effekte und das ganze Arsenal, das er im Keller der stillgelegten Ziegelei angesammelt hatte? Das konnte ich nicht verstehen, denn das eine hatte mit dem anderen nicht viel zu tun. Ich glaubte also, aber nicht so ganz, ich traute, aber nicht völlig, und ohne jemandem meine Zweifel anzuvertrauen, ging ich zu den nächsten Explosionen im Tal hinter dem Schießplatz. Nach jeder dieser Unternehmungen begann das Loch im Fuß wieder zu eitern, meine Mutter schrie mich fürchterlich an und paßte noch mehr auf, daß ich nirgends hinging. Von den einzelnen Explosionen werde ich nicht ein zweites Mal erzählen. Sie waren so, wie ich sie beschrieben habe. Mehr kann ich nicht dazu sagen, ich habe nichts verschwiegen und wohl auch nichts weggelassen. Und Weiser? Abgesehen von den Explosionen brachte er Szymek und Piotr wie vorher das Schießen bei – entweder im Keller der Ziegelei oder im Tal. Ich wußte, daß sie sich nicht schlecht amüsierten, und um so schrecklicher langweilte ich mich zu 230
Hause. Ich hatte jedoch Angst, wegzugehen, nicht wegen meiner Mutter, sondern weil ich fürchtete, daß mein dadurch geschwächtes Bein mir dann nicht erlauben würde, zur nächsten Explosion zu entwischen, von der ich von Szymek oder Piotr immer einen Tag vorher erfuhr. Es verstrich einige Zeit, und eines Tages sah ich am Himmel die ersten Wolken. Ihre hohen, ausgedehnten Federn kündigten zwar keine Änderung des Wetters an, aber ich konnte jetzt am Fenster hocken, das Kinn in die Hand gestützt, und die allmählichen Veränderungen der Formen an dem aquamarinblauen Gewölbe beobachten. Die Nachrichten, die Szymek und Piotr brachten, waren nicht außergewöhnlich – die Fischsuppe in der Bucht war etwas dünner geworden, und der Sand war nicht mehr mit stinkenden Bergen von verfaulendem Aas bedeckt, aber an Baden war nicht im Traum zu denken. Der Verwegene, der die Fußspitze ins Wasser tauchte, zog sie sofort angeekelt wieder zurück. Massenweise starben auch die Möwen, und die Reinigungsarbeiter trugen die toten Leiber weg auf große Haufen, die von weitem aussahen wie Schneehügel. Man fuhr sie mit den Fischen weg und verbrannte sie zusammen auf einer Müllkippe außerhalb der Stadt. Die Fischer von Jelitkowo wandten sich an die Behörden wegen einer Entschädigung, aber niemand konnte etwas Genaues sagen. Dafür tauchte in Brętowo wieder der Gelbflügler auf, und wie die Leute erzählten, stolzierte er einmal mit unserem verrosteten Helm an den Häusern vorbei und rief allgemeine Unruhe hervor. Aber man schnappte ihn nicht. Auf jeden Fall schlief er nicht mehr in unserer Krypta, er mußte also irgendein anderes Versteck haben. Und im übrigen erschienen im Tal auf der anderen Seite des Bahndamms, gleich hinter dem Friedhof, Leute mit Stangen, vermaßen den Boden und unterteilten mit Rollen von Stacheldraht das Gebiet in umzäunte Schre231
bergärten. Da, wo es schon eingezäunt war, kamen andere Leute hin und bastelten aus Brettern, alten Sperrholzplatten und Pappe Schuppen und kleine Häuschen zusammen. Sie sahen es sehr ungern, wenn ein Fremder sich in ihre Nähe wagte. Vielleicht deshalb, weil sie in diesen Schuppen Spaten, Hacken und Rechen aufbewahrten, vielleicht aber auch, weil sie einfach böse und unfreundlich von Geburt an waren, wovon Piotr überzeugt war. In Gdańsk auf dem Langen Markt ließ man eine historische Straßenbahn fahren, die von zwei Pferden gezogen wurde, und die Karte für eine Fahrt kostete ganze fünfzig Groschen. Die beiden fuhren mit dieser Straßenbahn, aber ohne Elka und Weiser, die an diesem Tag spurlos verschwunden waren. Ich fragte, wo sie hingegangen sein könnten – auf den Flugplatz oder in die Ziegelei, aber außer daß Elka morgens das Instrument bei sich gehabt hatte, mit dem sie Weiser zum Tanz begleitete, konnten sie nichts sagen. Szymek dachte sich, Weiser bereite eine neue Nummer vor und werde sie uns bestimmt bald vorführen. Heute weiß ich, daß Weiser keine neue Nummer vorbereitete, denn schließlich hatte er nie vor, Zirkusartist zu werden. Damals konnten wir daran glauben und ruhig sein Arsenal bewundern oder, wie Piotr und Szymek an jenem Tag, mit der historischen Straßenbahn für ganze fünfzig Groschen pro Fahrt den Langen Markt entlang fahren. Außerdem kam aus dem Neptunbrunnen kein Tropfen Wasser, und Herr Korotek bekam einen Strafzettel, weil er an der Kreuzung, an der vor kurzem die erste Ampel der Stadt angebracht worden war, wie immer quer über die Straße gegangen war. Überdies hatte er die Milizionäre Rotzlöffel geschimpft, so daß nicht viel fehlte, und sie hätten ihn aufs Kommissariat gebracht. Noch etwas? Ja, in der Nachbarstraße, die Karłowicza hieß, hatte man elektrische Lampen installiert, und die alten Gaslaternen sollten 232
auf den Schrott kommen. Die Liliput-Bar wurde für ganze drei Tage geschlossen nach der letzten Schlägerei zwischen Maurern und Soldaten, die ohne Passierschein von den nahegelegenen Kasernen herübergekommen waren, um einen zu heben. Das neue Kino sollte »Znicz« heißen, und man hatte versprochen, daß es dort eine Panoramaleinwand geben werde, wie sie das »Tramwajarz« beim Straßenbahndepot, in der Nähe unserer Schule, nicht besaß. Weiser besuchte mich nicht ein einziges Mal, während ich zu Hause saß, und wenn ich zu seinen Explosionen kam, erwähnte er mit keinem Wort das Loch im Fuß und das, was passiert war. Die Zeit verging langsam und ruhig für mich, wie für alle in unserem Viertel während dieses heißen Sommers, in dem kein einziges Mal der Staub des Junis und Julis und der Schmutz des Augusts mit den Tropfen des immer noch ersehnten Regens von den Blättern rannen. Mangels einer anderen Beschäftigung malte ich auf die Seiten meines Heftes, was immer mir in den Sinn kam. Einmal war es der Gelbflügler, der auf dem Dach eines Hauses in der Altstadt stand. Gleich hinter seinem Rücken wuchsen schlanke Kiefern, und über der Stadt und den Köpfen der auf dem Bürgersteig versammelten Leute flogen Flugzeuge in ganzen Scharen, wie Kraniche. Ein anderes Mal füllte Weiser eine Heftseite, wie er auf einem schwarzen Panther über die Bucht flog, während die Fischer auf die Knie fielen und ihre Frauen voller Angst die Gesichter verbargen. Dann war da Herr Korotek, wie er über den Hof eine Schnapsflasche rollte, so groß wie ein Faß, aus der die Mäuse direkt in die nächste Mülltonne entwischten. M. malte ich zusammen mit Pfarrer Dudak: ich setzte letzterem Schmetterlingsflügel an und plazierte ihn als Exponat im Netz des Naturkundelehrers. Ferner war da ein Panorama oder besser gesagt, 233
ein allgemeiner Ausblick, und über die Hügel huschte in Richtung des Flugplatzes ein Flugzeug in Gestalt eines Weihrauchfasses, und wir alle saßen darin, und über der Stadt, der Bucht und dem Friedhof schien statt der Sonne ein großes dreieckiges Auge, das nach allen Seiten Strahlen aussandte. Meine Mutter mochte es nicht, wenn ich über das Blatt gebeugt saß, denn statt Blumen oder Bäumen erblickte sie auf meinen Bildern immer nur Scheusale. So zumindest nannte sie es, wenn sie meine Beschäftigung unterbrach, weil wieder einmal die Kartoffeln oder Nudeln warteten. Bis eines Tages – es war wohl nach der fünften Explosion, als mein Fuß schon ganz gut aussah – Szymek an unsere Wohnungstür klopfte. In der Hand hatte er ein zusammengerolltes Papier. »Weißt du, was das ist?« fragte er an der Tür. »Rat mal, schnell!« »Eine Flagge? Ein Steckbrief? Eine Ankündigung?« »Schon besser«, lächelte er, »das ist ein Plakat!« »Aha«, sagte ich, nicht besonders überzeugt, »und was ist damit?« Szymek rollte das farbige Papier auf der Couch aus und sprach dabei weiter: »Das hat mir der Herr gegeben, der die Anschlagzettel an die Säulen klebt, der mit dem alten Fahrrad, schau nur, wie toll.« Und tatsächlich erblickte ich einen großen Löwenrachen neben einer Frau in buntem Kostüm und darunter die Aufschrift ›ZIRKUS ARENA LÄDT EIN‹!!! »Nicht schlecht«, sagte ich, »und was weiter?« »Was weiter? Morgen gehen wir in den Zirkus«, brach die freudige Nachricht aus ihm heraus, »verstehst du nicht?« 234
»Und die Karten?« »Elka ist schon welche kaufen gegangen, für dich auch.« »Und das Geld?« »Mach dir keine Sorgen um das Geld, wenn du’s hast, gibst du’s zurück!« »Wieviel?« »Für Erwachsene zehn und für uns je fünf Złoty!« »Und woher habt ihr soviel?« »Ich erzähl’s dir gleich.« Szymek schob das Plakat weg und setzte sich auf die Couch, denn alle Stühle im Zimmer waren mit Wäsche belegt, die zum Waschen vorbereitet war. »Also, morgens ist Piotr nach Gdańsk gefahren, um für seinen Vater im Eisenwarenladen Nägel zu kaufen. Und da hat er auf dem Versammlungsplatz Zirkuswagen gesehen. Na, und da ist er nicht in den Laden gegangen, sondern bei der Haltestelle dort von der Straßenbahn gesprungen und hat sich alles genau angeschaut – den Wagen, in dem der Clown wohnt, die Käfige mit den wilden Tieren, die Pferde, die Akrobaten, er hat sogar den Zylinder des Zauberers gesehen, denn als die Träger das Gepäck brachten, ist der Zylinder herausgefallen und über die Erde gerollt, und der Zauberer, der wie ein normaler Mensch aussah, hat schrecklich geschrien und die Träger als Tölpel beschimpft. Das alles hat Piotr gesehen und gehört, er hat auch den Arbeitern zugeschaut, wie sie die Seile des großen Zeltes angezogen haben, und zum Schluß hat er gesehen, wie sie mit großen Hämmern die dicken Pflöcke in den Boden schlugen, die die Seile festhalten. Dann sind ihm die Nägel für seinen Vater eingefallen, er hat gekauft, was er brauchte, und ist mit der Neuigkeit zu uns gefahren. Und eine halbe Stunde später, na, vielleicht war es auch eine Stunde, ist das da an unserer Litfaßsäule aufgetaucht«, Szymek streckte die Hand aus und zeigte auf das grelle Plakat. 235
»Und das Geld? Woher habt ihr das Geld gehabt?« »Ach, das war komisch«, redete er weiter, »wir standen bei der Säule und haben zugeschaut, wie der Mann mit den Anschlagzetteln das Papier mit Leim beschmiert und anklebt und dann wieder schmiert und wieder klebt, denn er hat fast die ganze Säule mit demselben Plakat beklebt, und wir standen so da und haben geredet – wie toll es wäre, in den Zirkus zu gehen, wenn wir genug Geld hätten, denn mir würde es reichen für eine Karte und Piotr wohl auch, aber Elka sicher nicht und Weiser, das wußten wir nicht, na, und du, und da kam Herr Korotek her, ganz nüchtern, und anscheinend hatte er unser Gespräch gehört. ›Na, wie viele seid ihr denn?‹ fragte er. ›Fünf‹, antworteten wir, denn mit dir sind wir fünf – und er zog den Geldbeutel raus und gab uns dreißig Złoty. ›Da habt ihr Geld‹, sagte er, ›und wenn ihr Flaschen verkauft, könnt ihr’s mir zurückgeben, aber es muß nicht sein.‹ Elka ist Karten kaufen gegangen, für morgen, weil heute noch keine Vorstellung ist, nicht schlecht, wie?« schloß er seine Erzählung und wickelte das Plakat wieder zu einer langen Rolle zusammen. »Das häng ich mir übers Bett«, fügte er hinzu, »wenn’s meine Mutter nicht wegschmeißt, denn das Fräulein ist fast ganz ausgezogen.« Szymek ging höchst zufrieden davon, und meine Mutter, die einen Teil des Gesprächs gehört hatte, sagte, die fünf Złoty für die Karte gebe sie mir sehr gern, und ich müsse nicht – so sagte sie – Herrn Koroteks Großzügigkeit in Anspruch nehmen. Am nächsten Tag zog sich die Zeit schon vom Morgen an unerträglich in die Länge, denn die Vorstellung, für die wir Karten hatten, begann erst um sechzehn Uhr. Frühmorgens ging ich vor das Haus, um mir die Plakate anzuschauen, die an der Betonsäule klebten. Die Säule sah großartig aus – vom Boden bis an den oberen Rand er236
streckten sich rundum die gleichen Löwenrachen und die gleichen Fräuleins im Kostüm. An die Eintönigkeit der Säule gewöhnt, an der schon seit mehreren Monaten nichts Neues gehangen hatte und wo die Überreste alter Plakate mit schweinischen Aufschriften und der Aufforderung an die Wehrpflichtigen vom letzten Jahr, ihrer Meldepflicht nachzukommen, einander abwechselten, stand ich wie verzaubert da und überlegte, ob der Löwe, den ich im Zirkus sehen würde, wohl genauso gefährlich aussehen würde wie auf dem Plakat, mit riesigem, offenem Rachen und zwei Reihen großer schimmernder Zähne. Plötzlich spürte ich einen leichten Schubs in die Seite. »Kannst du schon gehen?« Ja, das war Weisers Stimme. »Ist der Fuß nicht geschwollen?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »es tut nicht mehr weh und ist nicht mehr geschwollen. Na, und?« In diesem ›Na, und?‹ verbarg sich natürlich die Hoffnung auf etwas Neues, wenn Weiser von hinten an mich herantrat und fragte, mußte er eine Idee haben – so dachte ich. »Dann komm mit«, sagte er, »dann kannst du sehen, wie man Ringelnattern fängt.« »Wozu brauchst du denn Ringelnattern?« fragte ich. »Willst du sie dressieren?« Weiser zuckte mit den Schultern. »Wenn du nicht willst, dann eben nicht, ich dachte nur, du willst vielleicht sehen, wie man das macht«, sagte er langsam und resigniert. Ich wollte sehen, wie er Ringelnattern fing, aber ich wollte auch wissen, wozu er sie brauchte. Wir machten uns auf den Weg die Straße hinauf, und erst da fragte ich nochmals: »Und wozu brauchst du sie?« 237
»Du wirst schon sehen, du wirst alles sehen«, sagte er. »Das ist der Sack, wo wir sie hineintun«, erklärte er, »und einen Stab finden wir schon im Wald.« Wir gingen an einer Reihe kleiner, fast identischer Häuser vorbei, mit schrägen Dächern, in denen die halbrunden Mansardenfensterchen aussahen wie die am Tage ausgeschalteten Lichter von Autos. Weiser war verstummt und sagte auf dem weiteren Weg, während wir den Pfad zwischen den Lärchen hinaufkletterten, kein Wort. Nach zehn Minuten standen wir keuchend auf der Anhöhe: auf der einen Seite sah man den Flugplatz und die Bucht, und im Süden, ganz weit unten, schimmerten die Umrisse von Brętowo und den Hügeln, hinter denen der Schießplatz lag. »Wir gehen dorthin«, sagte er und zeigte mit der Hand nach Süden, wo die Zäune gezogen worden waren und die Schrebergärten angelegt werden sollten. Wir gingen jetzt den Abhang hinunter, und es war fast wie beim Skifahren – mal nach links, mal nach rechts, in scharfen Serpentinen, um nicht zu sehr in Schwung zu kommen. In der Luft trafen Schwaden verschiedener Gerüche aufeinander, verblühte Lupinen mischten sich mit Klee, und der kühle Duft der Minze verband sich mit dem starken Aroma wild wachsenden Thymians. »Sag, willst du sie verkaufen? Oder M. bringen? Reicht ihm nicht eine Ringelnatter, muß er mehrere haben?« fragte ich, als wir in dem Tal stehenblieben, das mit seinem von hier aus nicht sichtbaren Ende an den Friedhof und den Bahndamm grenzte, über den kein Zug mehr fuhr. Aber Weiser antwortete nicht. Zuerst suchte er einen gabelförmigen Stock, einen Meter lang, einen, wie ihn die Otternfänger in den Bieszczady benutzen, und dann wandte er sich an mich: 238
»Siehst du das Gestrüpp da?« Ich nickte. »Dort sind die meisten, geh hin und beweg die Sträucher und scheuch sie auf. Aber sachte, nicht zu heftig«, fügte er hinzu, »damit sie nicht alle auf einmal entwischen, verstehst du?« Es war keine schwierige Aufgabe, ich ging langsam an dem Streifen Gestrüpp entlang und berührte mit dem Stab die hohen Grasbüschel, die Brennesseln, die Zwerghimbeeren, den schwarzen Ginster und den Farn. Die Ringelnattern glitten zuerst langsam, dann immer schneller an meinen Füßen vorbei und huschten lautlos auf Weiser zu, der sie mit äußerster Geschicklichkeit zuerst mit Hilfe des gabelförmigen Stocks bewegungslos machte und sie dann vorsichtig zwischen die Finger nahm und in den Leinensack warf. »Nochmal«, sagte er, als ich die Treibjagd beendete, »man scheucht nie alle auf!« Ich wiederholte den Vorgang auf die gleiche Art und Weise, und zu meiner Überraschung eilten nicht viel weniger Ringelnattern davon als beim ersten Mal. Weiser knüpfte den Sack mit einem großen, aber dichten Knoten zu. »Gut«, sagte er, »jetzt gehen wir durch diese verdammten Schrebergärten und bringen sie auf die andere Seite.« ›Verdammte Schrebergärten‹, sagte er, ich erinnere mich sehr gut, denn Weiser sagte nie zuviel, und man konnte sich immer alles genau merken. ›Verdammte Schrebergärten‹, wiederholte er, als wir an den dort arbeitenden Leuten vorbeigingen, die hartnäckig die Erde umgruben, die trocken war wie in der Wüste, und noch hartnäckiger aus Brettern und löchrigen Sperrholzplatten ihre Buden zusammenbastelten, die sie Häuschen nannten und an deren 239
Wände sie sofort, man wußte nicht weshalb, lachende Heinzelmännchen, verirrte Rehlein oder Gänseblümchen mit Mädchengesichtern malten, was schrecklich und geradezu obszön aussah. »Was schleppt ihr denn da, Jungs«, pöbelte uns ein verschwitzter Dicker an, der hinter einer Hacke hervorschaute, »was sucht ihr hier?« »Äh, nichts«, antwortete ich als erster, »wir sammeln nur Gras für die Kaninchen, weil’s hier am meisten gibt.« Weiser verlangsamte ein wenig seinen Schritt, blieb jedoch nicht stehen und würdigte den Dicken keines Blikkes. Ich ging hinter ihm her und schaute auf den Sack, der sich im Takt der gleichmäßigen Schritte bewegte. »Das nächste Mal«, rief der Dicke, »sucht ihr euer Gras woanders, ich will euch hier nicht mehr sehen, verstanden? Das ist kein Niemandsland mehr!« Und der Dicke schrie noch weiter, aber wir waren schon zu weit entfernt. Über einen abwärtsführenden Pfad gelangten wir zum Bahndamm. »Das hast du dir nicht schlecht ausgedacht«, sagte Weiser, »man kann sich auf dich verlassen.« Mir wäre beinahe das Herz zersprungen vor Stolz, und ehe ich’s mich versah, waren wir auf dem Friedhof, im oberen Teil, wo er mich mit einer Handbewegung anhielt. »Hier lassen wir sie los«, sagte er und knüpfte den Sack auf, »hier kann ihnen nichts mehr passieren.« Ich sah, wie die Ringelnattern aus dem offenen Sack krochen, manche schnell, andere, vielleicht die erschrockeneren, so langsam, daß Weiser sie mit der Hand stupsen mußte. Die Schlangen krochen auseinander, zwischen die Gräber. Die graubraunen Zickzacklinien huschten flink in das dichte Gestrüpp von Brennesseln und weißem Gänsefuß, und einen Augenblick später war keine einzige mehr in Sichtweite. Keine einzige – habe ich ge240
schrieben, aber das ist nicht richtig. Denn plötzlich erblickte ich auf einem Grabstein einen langen Schlangenleib im flimmernden Sonnenlicht, in den Strahlen, die durch die Kuppel von Buchenblättern drangen wie durch die grünen Scheiben der Mosaikfenster in unserer Kirche während des Hochamts. Die Ringelnatter war über einen Meter lang, sie bewegte sich fast nicht und hob nur den Kopf, als suche sie Licht, um ihn sofort wieder auf die Steinplatte zu legen. Die gelben Flecken um die Schnauze leuchteten symmetrisch auf, sooft ein Strahl von oben auf die Platte fiel. »Guck«, flüsterte ich Weiser zu, »sie hat überhaupt keine Angst vor uns.« Und tatsächlich, als ich die Hand nach der Schlange ausstreckte und an den Fingern ihr kühles, flaches Maul spürte, das sich wie eine Hundenase anfühlte, floh die Schlange nicht, sondern bewegte sich nur ein wenig zurück. Erst nach einer Weile drehte sie ihr Maul von uns weg und verschwand in einem nahen Büschel Farn, das von der Berührung ihres Körpers leicht schwankte. »Hier steht etwas geschrieben«, sagte ich zu Weiser, »kannst du das lesen?« Er beugte den Kopf über den Grabstein und las: »Hier ruht in Gott Horst Meller. 8.VI.1925 – 15.I.1936«, und weiter buchstabierte er: »Warst unser Lieb alle Zeit und bleibst es auch in Ewigkeit. Ich kann kein Deutsch«, erklärte er, »aber das erste heißt, daß hier Horst Meller ruht, und das zweite ist irgendein Vers, denn es reimt sich, schau«, er berührte mit dem Finger die eingemeißelte Inschrift aus gotischen Lettern, »Zeit, und in der zweiten Zeile Ewigkeit. Eit – eit, es ist bestimmt ein Vers.« »Er war elf«, sagte ich, »als er starb, so alt wie wir.« »Nein, er ist nicht 1925 geboren, sondern 1929«, Weiser beugte das Gesicht dichter über die Inschrift, »schau, das ist keine Fünf, sondern eine Neun!« 241
»Du redest, als würdest du ihn kennen!« Zum ersten Mal stritt ich mich mit Weiser. »Das hier ist keine Neun, sondern eine Fünf, also ist er 1925 geboren, und als er starb, war er elf!« »Wir wissen sowieso nicht, wer es war«, schnitt Weiser mir das Wort ab, und auf dem Heimweg erzählte er noch, daß die Ringelnattern von den Leuten in den Schrebergärten umgebracht würden, weil sie Nattern nicht von Ottern unterscheiden könnten, und wann immer sie etwas kriechen sähen, liefen sie zusammen und machten die Schlangen mit ihren Hacken oder Rechen kaputt, also mußte man sie auf den alten Friedhof bringen oder zu der Lichtung, da, wo die erratischen Gesteinsblöcke waren, so würde vielleicht ein Teil von ihnen überleben. Ja, Weiser hatte recht, schon im nächsten Jahr, als die Schrebergärten das ganze Tal hinter dem Friedhof, jenseits des Bahndamms, einnahmen und als statt hoher Gräser dort die ersten Reihen von Mohrrüben, Erbsen und Blumenkohl wuchsen, traf man nur noch äußerst selten Ringelnattern an – am häufigsten in Gestalt von verfaulenden Überresten, von emsigen Ameisen umkreist. Und drei bis vier Jahre später gab es sie nirgends mehr – weder dort noch in der Gegend des alten Friedhofs, noch auf der Steinbruch genannten Lichtung, wohin Weiser sie in einem Leinensack gebracht hatte. Ich erfuhr allerdings nie, warum er das getan hatte. Bestimmt war es keine Vorliebe von der Art, wie M. sie besaß, und seine eigene Erklärung hat mich bis heute nie ganz überzeugt. Genauso habe ich übrigens auch nie erfahren, wer der im Jahre 1936 begrabene Horst Meller war, auf dessen Grabstein die Ringelnatter meine Hand berührt hatte. Sicher bin ich mir nur, daß Weiser bei der Evakuierung der Ringelnattern nie Piotrs oder Szymeks Hilfe in Anspruch nahm, und damals, an jenem Tag, hatte er mich wohl zufällig mitgenommen, 242
wahrscheinlich einer augenblicklichen Eingebung folgend. Oder meinte er vielleicht, die Ringelnattern seien keine Sache für jeden? M. kam aus dem Arbeitszimmer heraus, blieb in der offenen Tür stehen, schaute zuerst mich, dann Szymek und Piotr und zum Schluß die Wanduhr an und sagte: »Es reicht!« Er blickte in unsere Gesichter, als wollte er in ihnen seine eigenen Gedanken lesen. »Es reicht«, wiederholte er nach einer langen Pause. »Jetzt reicht’s! Ihr habt noch eine Chance, und wenn ihr die nicht nützt, werden sich der Staatsanwalt und die Miliz mit euch beschäftigen! Verstanden?« Er bekam keine Antwort. »Korolewski«, erklang Szymeks Name, »du zuerst!« In Gedanken wiederholte ich die Einzelheiten der angeblichen Beerdigung, doch kaum war hinter Szymek die Tür zugefallen, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir alles richtig gemerkt hatte. War M.s Drohung echt? Ich bezweifle es, sogar heute noch, aber damals hätte sie uns, auch wenn sie ganz echt gewesen wäre, nicht schrecken können. Denn was konnte uns noch schrecken? Die Uhr zeigte halb zwölf, in der Dunkelheit draußen klopften Tropfen auf das blecherne Fensterbrett, und die Männer hatten anscheinend auch genug. Wie lange kann man schon ständig nach den gleichen Dingen fragen?
Die Vorstellung im Zirkus fing großartig an. Das Orchester, aus einigen Blasinstrumenten und einer riesigen Trommel bestehend, ließ eine Fanfare ertönen, und im gleichen Moment kam ein Conferencier in die Arena gelaufen, mit einem grünen Frack und einem weißen Hemd bekleidet, das an der Hemdbrust wie auch an den Man243
schetten mit üppiger Spitze verziert war. Er sagte die erste Nummer an, doch bevor er damit fertig war, trat von hinten ein runzliger Zwerg mit der Mütze eines Heinzelmännchens an ihn heran und zog ihn am Frackschoß. Darauf flog unter dem Frack eine Taube hervor, der Conferencier versetzte dem Zwerg, ohne sich umzudrehen, wie ein Pferd, einen Tritt, und der Zwerg rollte kreischend und schreiend mit akrobatischen Purzelbäumen hinter die Kulissen. Ein Beifallssturm und eine Lawine von Gelächter begleitete beider Abgang, und schon schritten die Akrobaten in die Arena. Zuerst gingen sie einmal rundherum und zeigten ihre gespannten Muskeln, groß wie Kürbishälften. Dann stellten sie sich der Größe nach in einer Reihe auf und sprangen aufeinander, bis sie eine Pyramide bildeten, so hoch wie ein Stockwerk. Der kleinste von ihnen, der ganz oben stand, vollführte jetzt verschiedene Übungen – er machte Handstand, stand auf einem Bein, sprang in die Luft und landete nach einem Salto wieder auf dem Kopf seines Partners. »Das ist der Obermann«, flüsterte Weiser Elka zu, aber so, daß wir es auch hören konnten. »Was?« meinte Szymek unsicher. »Der Obermann«, wiederholte Elka, »der unterste heißt Untermann, der in der Mitte Mittelmann, und der, der jetzt springt, ist der Obermann – der Allerhöchste!« – »Gar nicht der Allerhöchste, sondern nur am höchsten«, flüsterte Piotr, aber für einen weiteren Streit war keine Zeit, denn der Obermann landete nach dem letzten, doppelten Salto im Sand neben dem Untermann, der Mittelmann sprang gleich danach herunter, und jetzt verbeugten sich alle drei nach allen Seiten. Der Mann im grünen Frack kam wieder in die Arena und sagte die Pferdeparade und den Auftritt einer Kunstspringerin an. Am Eingang zu den Kulissen erwartete ihn der Zwerg mit einem gespannten Seil – es sollte eine Art Falle für den 244
Conferencier sein, aber an seiner Stelle fiel der Liliputaner über das Seil, der wie ein Frosch hinter dem verschwindenden Conferencier herhüpfte. Nach den Federbüschen, den bunten Socken und verschiedenen Figuren der Pferde, nach den Auftritten eines Akrobatenpaares in eng anliegendem Kostüm, kündigte der grüne Frack den Zauberkünstler an, den er einen Illusionisten nannte, und alle hielten Ausschau nach dem witzigen Zwerg, gespannt, was er sich diesmal ausdenken würde. Plötzlich griff der Conferencier sich an den Bauch, verzog schrecklich das Gesicht, und ein Musiker aus dem Orchester ließ mit der Posaune eine Art Furz ertönen. Dabei fiel aus dem etwas ausgebeulten Frackschoß, den niemand zuvor bemerkt hatte, unter einem Trommelwirbel der zu einem Knäuel zusammengerollte Gnom. Alle bogen sich vor Lachen, aber als der Conferencier die Clowns zum Aufräumen rief und diese sich die Nase zuhielten und dieses Etwas einander zuschoben wie einen unerwünschten Ball, brüllte und tobte der Saal vor Vergnügen, um so mehr, als der Conferencier mit schiefem Schritt wegging, als hätte er die Hosen voll. Nur Weiser lachte nicht, als ginge ihn das alles gar nichts an. Szymek, der bisher regungslos dagesessen hatte, zog aus seinem Hemd den Feldstecher hervor. »Schau genau hin«, erinnerte ihn Piotr, »vor allem auf die Hände und Ärmel.« Der Zauberkünstler hatte wie der Conferencier einen Frack an, nur einen schwarzen, seinen Kopf bedeckte natürlich ein Zylinder, an den Füßen trug er schwarze Lackschuhe, blankgeputzt wie ein Spiegel, und alle seine Kunststücke führte er mit weißen Handschuhen aus. Zuerst reichte eine Assistentin ihm einen Schirm. Im Nu wurde aus dem Schirm eine lange Angel mit einer echten Rolle, einer Angelschnur und einem Haken am Ende. Der Zauberkünstler legte den Finger an den Mund und befahl 245
absolute Ruhe – man weiß ja, daß Fische keinen Lärm mögen. Dann beugte er sich vor, scheinbar über das Wasser, warf aus – und an dem Haken erschien ein lebendiges, schillerndes Fischlein, schlimmer noch, ein golden glänzendes. Piotr hielt es nicht mehr aus. »Siehst du was? Siehst du, wie er es gemacht hat?« sagte er und stupste Szymek in die Seite. »Laß mich ein bißchen gucken.« Aber Szymek stellte nervös den Feldstecher ein und sagte überhaupt nichts. Das Fischlein wanderte in das Aquarium, das die Assistentin auf ein Tischchen stellte. Man konnte sehen, daß es lebte und schwamm wie jeder Fisch in einem normalen Aquarium. Der Zauberkünstler wiederholte das Kunststück einige Male, und jedesmal war es das gleiche – man wußte nicht woher, gleichsam aus der Luft erschien das nächste Fischlein am Haken, genauso lebendig und genauso munter im Aquarium schwimmend. Der Zauberkünstler legte die Angel weg und nahm den Zylinder ab. »Jetzt«, flüsterte Piotr fieberhaft, »jetzt paß auf!« Der Künstler zog aus dem Zylinder eine Reihe von farbigen Tüchern, ein paar Meter lang, dann schüttelte er sie so, daß ein einziges großes Tuch daraus wurde und bedeckte mit einer schnellen Bewegung das Aquarium mit den goldenen Fischlein. Aus der Angel machte er mit zwei Handbewegungen einen kurzen Zauberstab und berührte mit seiner Spitze das zugedeckte Aquarium. Unter dem Getöse von Trommeln und Becken hob die Frau das Tuch hoch. Statt der Fische und des gläsernen Kastens mit Wasser saß auf dem Tischchen ein weißes Kaninchen und spitzte unbeholfen die Ohren, eindeutig erschreckt von dem Beifallssturm. »Ich verstehe nichts«, sagte Szymek den Lärm übertönend, »man kann nichts sehen!« Ich schaute Weiser an, der jedoch auf Szymeks und Piotrs Aufregung nicht zu reagieren schien. Er saß kerzengerade, den Blick auf einen unbestimmten Punkt der Arena 246
geheftet, als langweilte ihn die ganze Vorstellung ein wenig und als säße er eher aus Höflichkeit hier als aus wirklichem Interesse. Während der Pause gingen Elka und Piotr zum Büffet und holten Limonade, und ich saß neben ihm und getraute mich nicht so recht, ihn irgend etwas zu fragen, obwohl er sich in allen Einzelheiten des Zirkusgewerbes auskannte. Das Orchester spielte die ganze Zeit wie verzückt Märsche und Walzer, die Leute gingen zwischen den Bänken umher und tauschten Grüße oder das förmliche ›Entschuldigung‹ aus, und in der Arena trieben zwei Clowns ihre Possen, traten einander in den Hintern, schlugen sich ins Gesicht und begossen sich mit Eimern von Wasser. Ich dachte damals, Weiser wäre sicher lieber dort in der Arena, würde lieber in einem tollen Anzug auftreten, sich vor dem Publikum verneigen und – wie die Artisten hier – Beifall für eine gut ausgeführte Nummer bekommen. So dachte ich, als ich sein konzentriertes Gesicht sah und die Distanz, die er, nur allzu sichtbar, zelebrierte, die Distanz des Gefühls: ›Ich hätte das besser gemacht, das jedem unerkannten Künstler bekannt ist. So dachte ich damals und noch lange danach, doch heute – da ich bei diesem Augenblick der Geschichte über ihn angelangt bin – heute muß ich etwas anderes bekennen, vor allem angesichts des Vorfalls, der sich im zweiten Teil der Vorstellung ereignete. Natürlich geht es um den Unfall während der Dressurnummer mit den Löwen und auch darum, wie er sich damals verhielt. Denn von der Pause an beobachtete ich ihn bei jeder Nummer genau, ich sah sein Gesicht, seine Hände und Finger, die mir heute etwas anderes sagen als damals, als ich – wie Szymek, Piotr und vielleicht auch Elka – glaubte, daß er Zirkusartist werden wolle. Weiser sah sich alles sehr gelassen an, er applaudierte schwach und ohne Enthusiasmus, und am wenigsten begeisterten ihn die dum247
men Späße des Zwerges und des grünen Fracks in den Pausen zwischen den einzelnen Nummern. Ebenso war es bei der Elefantenparade, beim Feuerschlucker, bei den Akrobaten mit den Reifen, beim Basketball der Hunde, dem Auftritt am Trapez und der zweiten Darbietung des Zauberkünstlers, der diesmal die verschiedensten Gegenstände aus der Luft zauberte – ein Glas Milch, einen quietschenden Ballon, einen riesigen Blumenstrauß, Tauben, ein Kaninchen – und der aus dem Zylinder eine Flasche Sekt und zwei Gläser hervorholte, um zum Schluß einen Umtrunk zu veranstalten und die Assistentin zu bewirten, vor den Augen des Publikums, das begeistert den Flug des Korkens verfolgte, der sich plötzlich in eine Taube verwandelte. Weiser rührte sich nicht ein einziges Mal, während alle anderen die Hälse vorstreckten, vor Freude aufsprangen und die einzelnen Auftritte laut kommentierten. Erst als zum Schluß der Vorstellung der grüne Frack die größte Attraktion des Abends ankündigte – die Dressur der Raubtiere – setzte Weiser sich auf der Bank zurecht, richtete sich noch mehr auf und flocht in ungeduldiger Erwartung die Finger beider Hände auf dem Knie ineinander. Durch einen vergitterten Tunnel liefen in den Käfig, der die Arena umgab, zwei Löwen, eine Löwin und ein schwarzer Panther – einer, wie wir ihn im Zoo von Oliwa gesehen hatten. Gleich hinter ihnen erschien der Dompteur in hohen Stiefeln und weißem Hemd mit Stehkragen. In der Hand hielt er eine Peitsche, etwas kürzer als die für die Pferde. Seine Ehefrau – wie der grüne Frack bekanntgab – und Assistentin in einer Person trug ein eng anliegendes, paillettenbesetztes Kostüm und ebenfalls hohe Stiefel, jedoch weiße, mit Fransen am Schaft. Die Tiere blinzelten und liefen in der Mitte der Arena umher, etwas unschlüssig, was sie tun sollten. 248
»Herman! Brutus!« schrie der Dompteur. »Auf die Plätze!« Und die Löwen sprangen zögernd auf die runden Schemel. »Helga!« Das war an die Löwin gerichtet. »Auf den Platz!« Und die Löwin schwang sich mit einer flinken Bewegung auf ihren Sitz. Jetzt war der schwarze Panther an der Reihe, »Sylwia! Auf den Platz!« Und der Panther war, wie auch die Löwen, mit einem Satz auf dem für ihn bestimmten Stuhl. Der Mann warf einen wachsamen Blick auf die Schar, »Herman! Brutus! Stehen!« Und die Löwen stellten sich auf die Hinterbeine und zeigten die Brust. »Helga! Sylwia! Stehen!« Beide Katzen führten gleichzeitig den Auftrag aus, und jetzt standen sie alle vier aufrecht auf zwei Pfoten, gestützt auf das Hinterteil, genau wie ein Hund, der um ein Stück Wurst bittet. Der Dresseur verneigte sich vor dem Publikum, und bei dieser Geste ertönte der Beifall, und die Tiere nahmen wieder ihre Ausgangsstellung ein. Der Dompteur ging näher an sie heran, knallte leicht mit der Peitsche, und nachdem die Assistentin noch einen leeren Sitz bereitgestellt hatte, schrie er: »Herman, hopp!« Und Herman sprang von seinem Schemel auf den zweiten, freien. »Brutus, hopp!« ertönte das nächste Kommando. Und Brutus tat das gleiche wie sein Vorgänger und nahm den von diesem freigegebenen Schemel ein. »Helga, hopp«, schrie der Dresseur, aber aus irgendeinem Grund zauderte Helga deutlich und hatte keine Lust zu springen. »Helga, hopp!« klang es ein zweites Mal, aber erst nach dem dritten Befehl, unterstützt von einem Peitschenschlag, führte Helga den Auftrag aus. Der Panther dagegen sprang, ohne das Kommando abzuwarten, sobald der Schemel frei geworden war, den eben noch die Löwin besetzt gehalten hatte. Der Beifall kam von allein, ohne daß der Dresseur sich verbeugte, und er näherte sich Sylwia und streichelte mit dem herunterhängenden Ende der Peitsche ihre Schnauze. »Gute Sylwia«, sagte er 249
laut, »brave Sylwia«, wiederholte er und streichelte ihren üppigen Schnurrbart, worauf der Panther leicht den Schädel hob und ein tiefes Brummen von sich gab, und das gefiel den Zuschauern wieder, diese zarte Liebkosung, und es wurde mit einer neuen Beifallswoge belohnt. Die Frau legte einen großen Lederball bereit. »Herman, hopp!« Und Herman sprang auf den Ball, rollte ihn ein paar Meter, mit den Pfoten fuchtelnd, und kehrte auf seinen Platz zurück, wobei er witzig mit dem Kopf wackelte. Das gleiche machten Brutus und dann Helga, und der Panther vollführte wieder die Nummer, ohne daß er mit einem Befehl dazu gedrängt worden war, und ließ den Ball am entgegengesetzten Rand der Arena liegen. Der Beifall war noch stärker. Als ich jedoch Weiser anschaute, sah ich, daß er nicht in die Hände klatschte. Er trommelte nur mit den Fingern auf sein Knie. Die Assistentin brachte jetzt einen Reifen, der mit irgend etwas beklebt war, was wie Papiermaché aussah, und zündete dieses mit einem Streichholz an. Durch die Reihen ging ein Raunen der Erregung. »Herman, hopp!« schrie der Dompteur und knallte mit der Peitsche in die Luft. Der Löwe machte einen herrlichen Satz durch den brennenden Reifen und blieb auf der anderen Seite der Arena, den Schemeln gegenüber, stehen. »Brutus, hopp!« Wieder knallte die Peitsche, und der lange Sprung der Katze entzückte das Publikum. »Helga, hopp!« klang es wieder, »Sylwia, hopp!«, und beide Katzenweibchen befanden sich bei den Löwen. Die Nummer wurde in entgegengesetzter Richtung wiederholt – die Tiere sprangen mitten durch den Feuerring und landeten nun wieder auf ihren Schemeln, und die Frau, auf deren Flitterkostüm Dutzende von Lichtreflexen funkelten, drehte den Reifen jeweils auf die entsprechende Seite. Wieder saßen alle vier auf den Hockern, der Dompteur verneigte sich und kassierte eine Portion Beifall. 250
Und dann geschah das, wovon niemand vermutet hätte, daß es geschehen könnte. Die Assistentin löschte mit einer schnellen Bewegung des Reifens die Flammen und machte sich, den Tieren den Rücken zukehrend, auf den Weg zum nächsten Requisit – das sollte eine Schaukel mit einem Brett sein, die an den Gitterstäben des Käfigs darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Die Frau machte zwei, vielleicht drei Schritte, da stolperte sie über eine Vertiefung im Sand. Das reichte dem Panther für einen blitzartigen Satz in ihre Richtung, und sie fielen fast gleichzeitig in den Sand der Arena – zuerst die Frau des Dompteurs und nach ihr, mit der Vordertatze auf ihren Kopf schlagend, die schwarze Katze. Es klang unglaublich – das zweifache platsch platsch und der heisere Schrei der Frau, und dann die absolute Stille. Niemand im Publikum rührte sich von der Stelle, alle erstarrten in stummer, dumpfer Erwartung. »Sylwia!« Der Dompteur machte einen Schritt in ihre Richtung. »Sylwia, auf den Platz!« Aber statt sich zum Schemel umzudrehen, zerrte der Panther am Körper der Frau, in Höhe des Schulterblatts, als wollte er den Dompteur erpressen und sagen: »Rühr dich nicht, das gehört mir!« Die Löwen bewegten sich unruhig auf ihren Hokkern. Brutus trat von einem Fuß auf den anderen, und Helga gab ein langes, tiefes Knurren von sich. Hinter den Kulissen kamen zwei Helfer mit einem Feuerlöscher hervor, aber der Dompteur gebot ihnen mit einer Handbewegung Einhalt, denn genau in diesem Moment bewegte sich die Frau, und darauf fauchte Sylwia zornig, verpaßte ihrer Herrin einen Schlag ins Kreuz und riß mit den Krallen ihr Kostüm herunter. Glänzende Pailletten fielen in den Sand, und von dem entblößten Hintern floß in roten Furchen Blut. In den oberen Bankreihen schluchzte jemand auf, aber man brachte ihn sofort zum Schweigen. 251
Weiser saß kerzengerade da, den Kopf unbewegt, und nur die Finger trommelten wie zuvor auf das Knie. ›Jesus‹, dachte ich, ›soll er doch hinuntergehen, soll er zeigen, was er kann, denn er kann es doch, soll er ihm doch in die Augen schauen wie damals im Zoo, ihn zähmen, zum Gehorsam zwingen, seine Auflehnung brechen, soll er ihn doch mürbe machen wie den anderen, ihn in einen erschrockenen Hund verwandeln, einen kleinen Pinscher, soll er es doch tun, bevor es zu spät ist.‹ Herman sprang vom Hocker und hob den Schädel, den anregenden Geruch in der Luft witternd. Der Dompteur gab dem Orchester ein Zeichen. Mit halber Lautstärke spielten die Musiker den Abgang aus der Arena. Die Löwen bewegten sich unruhig. »Herman! Brutus! Helga! Hierher! Hierher!« schrie der Dresseur wieder. »Hierher! Hierher!« Die Löwen gingen, wenn auch widerwillig, zum Tunnel. »Los, los«, und langsam, wie schlaftrunken, trotteten sie durch die Öffnung, bis endlich ein Helfer die Klappe hinter ihnen herunterließ. Der Dompteur war nun ganz allein mit dem Panther, der mit den Vordertatzen auf dem regungslosen Körper der Frau lag und unruhig mit dem Schwanz schlug, mal nach links, mal nach rechts. »Sylwia«, sagte er etwas leiser, »gute Sylwia, auf den Platz Sylwia!« Aber der Panther, der sich seiner Überlegenheit bewußt war, schnaubte warnend. Seine Augen folgten jeder Bewegung des Mannes. »Sylwia«, er machte einen Schritt nach vorn, »auf den Platz!« Sylwia jedoch hatte nicht die Absicht, auf ihre Beute zu verzichten, aus ihrer Kehle kam ein tiefes Knurren, und sie hob warnend die Pranke zum Hieb. Weisers Finger trommelten weiter aufs Knie, ich war zum ersten Mal wütend auf ihn, und wäre die Situation nicht so grauenvoll gewesen, so hätte ich ihn angeschrien und wäre mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Warum rührte er sich 252
nicht, warum lief er nicht hinunter, warum zeigte er seine Fähigkeiten nicht jetzt, da die rote Lache im Sand immer größer wurde, warum saß er so ruhig da, wie beim Auftritt der Kunstspringerin oder den Possen der Clowns? ›Jesus‹, dachte ich, ›tu etwas, damit er sich rührt, du brauchst ihn nur zu schubsen, den Rest macht er selber, er kann das hervorragend, zwinge ihn nur, zwinge ihn.‹ Aber Weiser blieb unbewegt sitzen, den Kopf wie ein Ölgötze, das Gesicht wie ein Ölgötze, die Beine wie ein Ölgötze, und nur die unnatürlich langen Finger schlugen immer den gleichen Rhythmus im Dreivierteltakt. Der Dompteur war mit seiner Weisheit am Ende. Er konnte weder vorwärts noch rückwärts gehen, stand wie hypnotisiert da und redete immer leiser auf Sylwia ein, immer die gleichen Worte: »Auf den Platz! Gute Sylwia, auf den Platz!« Und das war noch schrecklicher als die Möglichkeit, daß der Panther in seine Richtung sprang. Einer der Helfer umkreiste langsam, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, den Käfig auf der äußeren Seite der Bande mit einem Feuerlöscher unter dem Arm, ein zweiter kam mit einem schußbereiten Luftgewehr hinter den Kulissen hervor, und beide, dem Panther immer näher, warteten auf den Angriff. Ich wußte damals nicht, daß in dem Feuerlöscher ein Betäubungsmittel war und daß das Luftgewehr Kapseln mit einem Narkotikum enthielt. Sie sahen aus wie kleine Jungen, die mit einem hölzernen Schwert und einer Schleuder auf einen afrikanischen Büffel losgingen – lächerlich und hilflos. Der Panther stupste die Frau, wenngleich es keine entschiedene Bewegung war. Der Mann mit dem Feuerlöscher kniete nieder, legte wie zu einem Schuß an und sandte einen kräftigen Strahl direkt in die Schnauze des Tieres. Der Panther sprang auf. Der Druck warf seinen Kopf nach hinten, aber die Pranken, die großen Pranken blieben noch eine Sekunde an 253
derselben Stelle, und deshalb sicher schleppte er seine Beute, als er sie losließ, noch einen oder zwei Meter über den Sand, bevor er knurrend und mit der Tatze auf einen unsichtbaren Gegner einschlagend, an der Bande Schutz suchte. Von der Kapsel aus dem Luftgewehr getroffen, hüpfte er noch einen Augenblick in einem epileptischen Tanz, bevor er in den Sand fiel. Der Dompteur war schon bei seiner Frau, hob sie empor und trug sie auf den Armen hinter die Kulissen. Die drei Helfer warfen den Panther auf eine gummierte Plane, die sie dann zum zweiten Ausgang zogen. Und das war das Ende der Vorstellung. Ich heulte. Es tat mir leid um die schöne Dame und ihr nettes Flitterkostüm, aber mehr noch war ich erbittert über Weiser. Denn eines wußte ich jetzt – entweder konnte er doch nicht alles, oder er wollte nicht helfen. Es sah eher so aus, als wollte er nicht helfen, und das war entsetzlich. Es fehlte ihm nur das Smaragdglas. Er lief nicht hinunter, zwängte sich nicht durch die enge Öffnung, stand nicht Auge in Auge mit dem schwarzen Panther. Das überraschte Publikum wurde nicht wahnsinnig vor Grauen und danach vor Freude, als der Junge bis auf Reichweite an das Raubtier heranging und es mit seinem Blick zähmte, der stärker war als alle Geschosse und der Strahl zusammen genommen. Nein, nichts dergleichen geschah, denn Weiser fand, er müsse all dies nicht tun für die Frau des Dompteurs, die mit einem eng anliegenden paillettenbesetzten Kostüm bekleidet war. Doch für wen hätte er so etwas getan? Vielleicht für Elka, dachte ich, und für einen von uns? Hätte er getan, was er hätte tun sollen – er hätte, abgesehen von der Rettung der Assistentin, enormen Nutzen davon gehabt: Ruhm, Anerkennung, vielleicht sogar eine sofortige Einstellung im Zirkus, außerdem Reisen, Auftritte, noch größeren Ruhm, größer als unsere Stadt und das ganze Land. Wien und Pa254
ris, Berlin und Moskau – alle diese Städte zu Füßen eines elfjährigen Tierbändigers, der weder Peitsche noch Dressur brauchte. Große Schlagzeilen in den Zeitungen und noch größere Menschenmengen im Zuschauerraum. Und er wies das alles von sich und trommelte mit den Fingern aufs Knie, eins zwei drei, eins zwei drei, eins zwei drei. Heute weiß ich, daß es anders war, denn Weiser hatte ja nie den Wunsch, Zirkuskünstler zu werden. Jemand, der levitiert und auf den Kanzler des Dritten Reichs schießt, kann nicht im Zirkus auftreten. Nein. Dieser Satz ist unlogisch. Wenn ich ihn nicht streiche, dann deshalb, weil alles an dieser Geschichte unlogisch erscheint. Mag es denn so bleiben. Am nächsten Tag fuhren wir selbstverständlich zum Zirkuszelt, um zu erfahren, ob die Frau des Dompteurs noch lebte. Es interessierte uns auch sehr, was mit dem Panther los war. Aber wir hörten nur, daß die Frau im Krankenhaus sei und daß die Nummer mit der Dressur der wilden Tiere nunmehr ohne den schwarzen Panther stattfinde. Die Dame an der Kasse sagte, es sei noch nicht sicher, was man mit ihm machen werde, vielleicht werde er in einigen Tagen wieder auftreten, vielleicht werde der Zirkus ihn aber auch an den zoologischen Garten verkaufen. Anschließend strichen wir zwei Stunden lang in der Altstadt umher, aber mangels Bargeld und mangels irgendwelcher Attraktionen mußten wir nach Hause zurückkehren. Als wir an der Litfaßsäule in unserer Straße vorbeigingen, sah ich Weiser, der uns mit einem Leinensack unter dem Arm entgegenkam. Er war im Wald gewesen und hatte sicher wieder Ringelnattern gefangen, um sie in die Gegend des Friedhofs oder zu den Steinbrüchen zu bringen. Elka war nicht in der Nähe. »Was machen wir heute«, fragte ihn Szymek, »hast du eine Idee?« – »Heute habe ich keine Zeit«, Weiser sah überrascht aus. »Kommt morgen in das 255
Tal hinter dem Schießplatz, es gibt eine Explosion.« Statt nach Hause gingen wir direkt zu der preußischen Kaserne, aber auf dem Rasen spielten etwa zwanzig Militärs Fußball in Wolken von beißendem Staub, und da hatten wir nichts zu suchen. Am Nachmittag machten wir uns also über Bukowa Górka auf zum Friedhof, um bei der Krypta vorbeizuschauen und vielleicht das Kriegsspiel zu Ende zu spielen, wenngleich dieser Vorschlag bei niemandem auf Begeisterung stieß. Wie ich jetzt von Piotr erfuhr, hatte Weiser, als ich mit dem eiternden Fuß zu Hause saß, zweimal abgelehnt, ihnen die abgenutzte Parabellum zu leihen, und über die Schmeisser wollte er nicht einmal reden. Einander mit einem Stöckchen nachzujagen und ›ta ta ta tach‹ zu schreien – das war nicht mehr das Wahre, wenn man auch nur ein einziges Mal eine richtige Waffe in der Hand gehabt hatte. Aber man konnte nicht mit ihm diskutieren: Wenn er etwas ablehnte, dann endgültig. Szymek kickte mit Kiefernzapfen, die massenhaft auf dem Weg lagen, ich mahlte im Mund ein langes Gras mit einer Quaste. Wir hatten die Anhöhe hinter uns, und hinter der Biegung des sanft abfallenden Weges war schon der Friedhof zu sehen. Auf dieser Seite waren alle Grabsteine zerschlagen und die verrosteten, von Quecken, Gras und Brennesseln überwucherten Kreuze sahen aus wie die emporragenden Masten versenkter Schiffe. Als wir, immer noch bergab gehend, jetzt am Friedhof entlang, am Grab Horst Mellers vorbeikamen, ertönte heftiges Glockengeläut. »Der Gelbflügler!« riefen wir fast gleichzeitig, und Szymek, der geistesgegenwärtigste von uns, stieß wie einen Befehl hervor: »In die Krypta, sie werden ihn wieder verfolgen!« Die Idee war nicht so gut, denn selbst, wenn man oben auf der Krypta stand, konnte man nicht sehen, was beim Glockenturm geschah. Aber wir rannten, als würde man uns verfolgen und nicht den Verrückten, der 256
aus dem Irrenhaus entwichen war und sich irgendwo in der Gegend versteckt hielt. Es vergingen vielleicht drei Minuten, währenddessen prallte das Echo der Glocken von der Wand des Waldes zurück und es trat Stille ein. »Da ist schon jemand«, flüsterte Piotr, »sicher jagen sie ihn!« Und tatsächlich, kurz darauf erblickten wir im Knacken zerbrochener Pflanzenstengel und im Rascheln beiseite gebogener Äste den Gelbflügler, der auf uns zueilte. Er erinnerte sich an die Krypta, als er jedoch bis auf einige wenige Schritte herangekommen war und drei aufmerksam dreinschauende Gesichter erblickte, machte er sich aus dem Staub, in Richtung Bahndamm, wo der Friedhof endete und das Tal mit den ersten Schrebergärten begann. Vielleicht hatte er uns nicht erkannt, ganz von der Flucht in Anspruch genommen, aber vielleicht war er auch erschrocken, jedenfalls – statt im Innern der Krypta zu verschwinden, wo ihn nicht einmal eine Abteilung der Miliz und die Sanitäter gefunden hätten – nahm er weiter Reißaus, verfolgt von dem hinkenden Küster und einem Mann, der kein Pfarrer war und den wir bisher noch nie gesehen hatten. Sandfontänen spritzten unter den Füßen des Gelbflüglers hervor. Das Gras beugte vor ihm seine Halme, und die Sträucher öffneten sich von selbst, um ihm die Flucht zu erleichtern. Eines nur hatte er nicht vorausgesehen, wußte er nicht oder hatte er einfach vergessen – daß das Tal nicht mehr dasselbe Tal war, wo kniehohe Gräser wuchsen, Büschel von wilden Disteln und Ginster, wo an sonnigen Tagen leise die Ringelnattern vorbeihuschten und Rebhühner einem an den Füßen vorbeisausten wie geflügelte Geschosse. Er stolperte beim ersten Stacheldraht, stand wieder auf, riß ihn weg und rannte weiter, aber die Kerle mit den Hakken, Rechen und Spaten, die Kerle mit den Brettchen und Pinseln in den Händen hatten ihn schon gesehen, wie er da 257
lief und sich umsah, hatten mit ihren Hundenasen schon die freudige Musik ihrer Herzen und Leidenschaften gewittert und machten sich auf, um ihm den Durchgang zu versperren und ihn in ihrem Netz zu fangen, mit diesem Blick voll ekelhafter Genugtuung. Wir rannten hinter dem Küster und dem Mann her, um zu sehen, was nun passieren würde. Der Gelbflügler sah die auf ihn zulaufenden Gestalten, blieb einen Moment stehen und lief zurück, direkt dem Küster entgegen. Der ihn begleitende Mann streckte im geeigneten Augenblick – wie man zugeben muß, sehr fachmännisch – das Bein aus, und der Gelbflügler stürzte der Länge nach direkt vor die Füße des Küsters. Wäre er sofort aufgesprungen und in unsere Richtung gejagt, er wäre gerettet gewesen. Aber es kam anders. Er erhob sich langsam. Der Mann schaffte es, ihm in den Nakken zu springen, und eine Weile rauften sie wie tolle Hunde, bis es dem Gelbflügler gelang, davonzulaufen. Wieder rannte er, zum zweiten Mal in die falsche Richtung – die Schrebergärtner hatten einen großen Halbkreis gebildet und drückten nun die Zange der Treibjagd zusammen. Und da sahen wir den Gelbflügler in ganz neuer Gestalt. Er floh nicht, er stand inmitten des ihn umzingelnden Kreises, den Kopf leicht nach vorn gebeugt wie ein Ringkämpfer, und wartete unbeweglich auf die anderen. Sie hielten an, unsicher, was sie weiter tun sollten. »Es soll jemand zum Telefon ins Pfarrhaus gehen«, schrie der Küster, »man muß die Miliz oder das Krankenhaus anrufen!« Ein Dicker, der gleiche, der mich und Weiser angepöbelt hatte, als wir die Ringelnattern transportierten, legte die Hacke weg und machte sich auf in Richtung Friedhof. Im gleichen Augenblick näherten sich die zwei mutigsten Gärtner dem Gelbflügler. »Ruhig«, sagte der erste, »es geschieht dir nichts.« 258
»Ja, ja«, bestätigte der zweite, »es geschieht dir nichts, wenn du dich wegbringen läßt!« Aber der Gelbflügler war diesbezüglich anderer Meinung. Er warf sich mit einem blitzartigen Sprung auf sie, dem einen schlug er den Stock aus der Hand, den anderen streckte er nieder, indem er ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in den Bauch versetzte. Beide zogen sich eilig zurück, und der Gelbflügler stand nun wie ein Samurai inmitten der ihn umringenden Feinde und mit dem erhobenen Stock, den er mit beiden Händen hielt, sah er erhaben und grandios aus. »Das ist ein gefährlicher Verrückter«, sagte einer der Männer, »warten wir, bis die Miliz kommt.« »Sind wir etwa nicht genug«, empörte sich ein anderer, »für einen Irren?« Dann sahen wir den schönsten Teil des Schauspiels, denn all das war ja wie ein Schauspiel – diese erwachsenen Männer im Alter unserer Väter mit Hacken und Rechen, und mittendrin der Gelbflügler wie der Held einer Legende oder Erzählung. Die Männer rückten immer näher, der Gelbflügler spreizte die Beine. »Er muß mal Fechter gewesen sein«, meinte Szymek und hob den Kopf, »schaut nur!« Ja, der Gelbflügler konnte nicht nur mit der Verbrennung der Erde und ihrer Bewohner drohen, im Kampf mit dem Stock war er einige Klassen besser als die anderen. Er hüpfte, drehte sich nach allen Seiten, parierte blitzartig die Hiebe und verteilte selbst welche, immer zielsicher. Das Krachen zerbrochener Stiele und das Geschrei der Angreifer mischten sich, einen Moment lang sah es so aus, als hätten sie ihn schon, als hätten sie ihn schon erwischt mit ihren Gartengeräten, aber das war eine Täuschung. Sie zogen sich zurück, mit blauen Augen, übel zugerichtet und 259
lädiert, der Gelbflügler aber stand in der Mitte und triumphierte. Die Schrebergärtner zogen den Kreis enger und berieten eine Weile. Dann legten sie wieder los, noch schneller, und es war wie beim ersten Mal, sie bekamen ihn nicht und gingen angeschlagen und mit Blessuren aus dem Kampf hervor. Plötzlich flog ein Stein auf den Sieger zu. Dann ein zweiter. Dann ein dritter. Der Gelbflügler wich geschickt aus, einige Geschosse wehrte er mit dem Stock ab, aber es wurden immer mehr, und sie kamen immer schneller, von allen Seiten. Zuerst erwischte es ihn am Hals. Der zweite Treffer war schmerzhaft – er ging ans Handgelenk, und er konnte den Stock eine Zeitlang nur mit der einen Hand halten. Und dann trafen sie ihn am Kopf, nochmal am Hals, dann wieder am Kopf, und danach konnte man kaum noch etwas sehen, denn die Steine fielen wie Hagelkörner, und die Männer kamen immer näher, bis sie ihn endlich hatten, obwohl er sich noch wehrte, und nun sah man nur noch erhobene und niederprasselnde Stöcke und verzerrte Gesichter mit gefletschten Zähnen. Wieviel Zeit mochte vergangen sein, als von der Landstraße nach Rębiechowo her eine Sirene aufheulte? Ich weiß nur noch, daß während dieser langen Zeit, lang wie die Ewigkeit, die Stiele der Spaten und Hacken sich stetig hoben und niedergingen, ich weiß auch noch, wie ich, kaum drehte sich der Rettungswagen mit dem Krankenhauskreuz an den Türen im Sand des Bahndamms, über den kein Zug mehr fuhr, kaum sprangen die Sanitäter in weißen Kitteln heraus, wie ich zum Friedhof rannte, von Szymeks und Piotrs Schreien verfolgt, wie ich zum hölzernen Glockenturm rannte, das von der Hand des Küsters hinter einen schwarzen Balken gestopfte Seil losband und mit der ganzen Kraft meiner Arme und Beine daran zog, zog, indem ich hochsprang und wieder auf der Erde landete, wie ein Verrückter zog, 260
denn damals fühlte ich mich zum ersten Mal im Leben verrückt. Ich zog am Seil und heulte, heulte und zog und heulte wieder, bis Szymek und Piotr mich erwischten und mit Gewalt von dem Seil losrissen, denn ich war schon fast damit verwachsen, sie rissen mich los und schleppten mich in den Wald nach Bukowa Górka. Ich weiß auch noch, daß ich keinen Ton zu ihnen sagte und allein zum Strand nach Jelitkowo fuhr. Ich saß dort bis zur Dämmerung am schmutzigen, stinkenden Wasser der Bucht. Am Strand schlurften vereinzelt arbeitslose Fischer umher und prüften mit langen Latten den Zustand der Fischsuppe am Ufer. Der Leuchtturm von Brzeźno drehte sich schon, und die Schiffe auf der Reede schalteten ihre Positionslichter ein. Weit weg, in Richtung Sopot, machte jemand im Sand ein Lagerfeuer. Selbst wenn Weiser zu mir gekommen wäre, selbst wenn er mich um etwas gebeten hätte – ich wäre stumm geblieben.
Szymek kam aus dem Zimmer des Direktors. Er zwinkerte. Das bedeutete – alles in Ordnung, ich habe gesagt, was wir vereinbart haben. Ich hörte meinen Namen. Ich sah, daß der Mann in der Uniform alle Knöpfe zugeknöpft hatte, und der Direktor hatte seine Krawatte zurechtgerückt, die jetzt weder wie eine jakobinische Kokarde noch wie ein ausgewrungener Lappen aussah, noch wie ein Wickel um den Hals, sondern wie eine gewöhnliche, im Kaufhaus im Zentrum von Wrzeszcz gekaufte Krawatte. »Na, wie«, fragte M., »haben wir uns an dies oder jenes erinnert, oder wollen wir lieber im Arrest mit dem Herrn Staatsanwalt reden?« schloß er laut. »Ja.« »Na, dann sag«, der Uniformierte machte eine resignierte Handbewegung, »sag, was du weißt.« 261
»Soll ich alles von Anfang an erzählen?« »Nein«, warf der Direktor ein, »du sollst sagen, wie es mit dem Kleid der Wiśniewska war.« »Aber es war nicht das Kleid, Herr Direktor, es war nur ein Stück davon.« »Gut, ein Stück, also wo habt ihr es nach der Explosion gefunden?« »Da ist, wissen Sie, so eine alte Eiche, da haben wir es gefunden.« Der Uniformierte schob mir die Karte zu. »Wo?« »Hier, da ist die Eiche, und hier«, ich zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, »lag der Fetzen von dem Kleid.« »Wer hat ihn gefunden?« fragte M. schnell. Ich machte eine Pause, als müßte ich mir diese Einzelheit ins Gedächtnis zurückrufen. »Szymek.« »Na, gut«, M.s Gesicht verriet nichts, wenngleich ich wußte, wie froh er sein mußte, »und wo habt ihr den Fetzen verbrannt?« »Im Steinbruch.« Der Uniformierte verlor bei der letzten Erklärung die Geduld. »Hier in der Gegend gibt es keinen Steinbruch, was faselst du da?« »Gut, gut«, der Direktor erlaubte mir nicht, die Sache weiter zu erklären. »Das ist eine Lichtung mit erratischen Gesteinsblöcken«, wandte er sich an den Uniformierten, »alle aus der Gegend nennen sie so.« »Und wann war das«, forschte M. weiter. »Am gleichen Tag, abends.« 262
»Und du hast den Fetzen des Kleides getragen, nicht?« »Ja, woher wissen Sie das?« M. grinste triumphierend. »Siehst du, vor uns kann man kaum etwas verbergen. Um wieviel Uhr war das?« »Ich weiß nicht genau, so nach sieben war es wohl, eher kurz vor acht.« »Gut. Und was habt ihr danach gemacht?« »Nichts mehr. Wir sind dann nach Hause gegangen.« »Und warum habt ihr euren Eltern nichts davon gesagt?« »Weil es so schrecklich war, daß sie in die Luft geflogen sind, wissen Sie, es war so schrecklich, daß ich vielleicht nicht einmal bei der Beichte davon erzählen könnte«, stieß ich in einem Atemzug hervor. M. grinste ein zweites Mal. »Na, bitte, und trotzdem hast du’s gesagt, und zwar nicht dem Pfarrer, sondern uns!« »Seid ihr von hier?« fragte der Uniformierte überraschend. »Ich verstehe nicht«, antwortete ich, denn tatsächlich – worum konnte es ihm mit dieser Frage gehen? »Ich frage, ob deine Eltern von hier sind?« »Ja, die sind von hier, mein Vater ist in Gdańsk geboren und meine Mutter auch.« »Nun gut«, schloß M. das Verhör, »und irgendwelche Sachen von Weiser, etwas von ihm habt ihr nicht gefunden?« »Nein, die Explosion war aber auch so stark, daß wir überhaupt nichts gesucht haben, der Fetzen von dem Kleid – das war reiner Zufall!« 263
»Du kannst schon gehen, und ruf den zweiten Kameraden«, schnitt mir der Direktor das Wort ab. »Na, worauf wartest du?« Zum ersten Mal seit Beginn der Untersuchung fühlte ich mich sicherer. »Piotr, jetzt du«, rief ich durch die offene Tür, und als er an mir vorbei ging, zwinkerte ich ihm zu, genau so wie Szymek es getan hatte, daß bis jetzt alles so lief wie besprochen, so, wie die es von Anfang an gewollt hatten. Ich setzte mich auf den Klappstuhl und nickte Szymek zu, er begriff sofort. Der Hausmeister gähnte erbarmungslos und zeigte eine Reihe schwarzer, kaputter Zähne, und ich erinnerte mich daran, wie es weitergegangen war.
Am Morgen des nächsten Tages hörte ich in Cyrsons Laden folgendes Gespräch einiger Nachbarinnen von uns: »Haben Sie gehört? Man hat diesen Verrückten geschnappt, der durch Brętowo gerannt ist und die Leute erschreckt hat.« »So kann man auch sagen! Das war kein Verrückter, sondern ein Sittenstrolch, meine Liebe.« »Jesus Maria, ein Sittenstrolch, sagen Sie?« »Na klar, ein Sittenstrolch, welcher normale Verrückte rennt denn auf dem Friedhof rum und läutet die Glocken? Welcher Verrückte setzt sich einen Helm auf und läuft durch die Straßen? Ein normaler Verrückter, wissen Sie, macht Napolion oder Mickiewicz nach.« »Aber das ist doch klar«, mischte sich nun eine neu hinzugekommene Nachbarin ein, »meine Schwägerin sagt, die wohnt nämlich da, daß das überhaupt kein Verrückter war, sondern ein Erleuchteter, sozusagen ein heiliger 264
Mensch. Einmal hat er anscheinend auf einem Dach gestanden und Sachen gesagt wie aus der Heiligen Schrift!« »Was heißt aus der Heiligen Schrift?« »Na, nicht so genau, aber wie aus der Bibel, die ganze Zeit von Gott und Strafe für die Sünden!« »So was, nein, aber der ist trotzdem ein Verrückter – dazu ist der Pfarrer da, um über Gott zu sprechen. Auf dem Dach, sagen Sie?« »Auf dem Dach, und sogar die Miliz ist gekommen, aber damals ist er ihnen entwischt.« Ich kam an die Reihe und hörte nicht weiter zu, was die Nachbarinnen sagten, und als ich aus dem Laden hinauslief, traf ich Szymek. »Bist du wieder in Ordnung?« fragte er ohne Groll. »Ja.« »Na, dann lies«, er hielt mir die Zeitung unter die Nase, die er nach Hause trug. »Hier«, er zeigte auf eine Überschrift. ›Bürgerpflicht‹, verkündeten die Lettern. »Worum geht’s denn?« »Frag nicht, sondern schau.« Er wurde entschieden ungeduldig. Es war eine Notiz über die Festnahme eines gefährlichen Irren, den man dank der Hilfe der glücklichen Besitzer der Staatlichen Rosa-Luxemburg-Kleingärten verhaftet hatte. Mit den Initialen kz unterzeichnet, machte die Meldung auf mich keinen besonderen Eindruck. »Na und«, fragte ich, »was ist damit?« »Nichts, außer daß sie nur über ihn geschrieben haben und über uns nicht.« »Möchtest du das gern?« 265
»In dem Fall nicht, es ist besser, wenn keiner weiß, daß wir ihm geholfen haben.« »Ja«, antwortete ich, »besser, sie wissen es nicht.« Wir gingen über die Katzenkopfsteine auf die andere Straßenseite. Aus der Metzgerei hinter Cyrsons Laden wehte der unangenehme, süßliche Geruch von Kutteln herüber. Am Tor trafen wir Weiser und Elka, die gerade aus dem Haus kamen. »Kommt ein bißchen früher, wir machen heute ein Picknick«, sagte Elka fröhlich. »Am alten Platz?« »Am alten Platz«, und schon rannte sie hinter Weiser her. »Moment«, hielt Szymek sie auf, »wenn wir ein Picknick machen, dann müssen wir was zu essen haben, oder?« »Alles in Ordnung«, rief Elka und zeigte auf den Korb, den sie in der rechten Hand hatte, »ich hab alles, ihr braucht nichts mitzubringen.« Sie gingen hinauf, in Richtung des Waldes. »Ein Explosionspicknick«, sagte Szymon und lachte über seine eigene Idee, »nicht schlecht, wie?« Aber es war keineswegs ein Explosionspicknick. Als wir ins Tal hinunterkamen, saßen Elka und Weiser unter einer Eiche neben einem ausgebreiteten Tischtuch. »Wo hast du denn das organisiert«, fragte Piotr, »bei Pfarrer Dudak?« »Mach’s nur nicht schmutzig«, sie schaute uns an, »siehst du nicht, wie schön weiß es ist?« Alles war sehr elegant hergerichtet, man mußte zugeben, Elka verstand ihre Sache – neben Tomaten in Scheiben lagen Gurken, dazwischen standen das Salzfäßchen, Butter 266
in einer Porzellanschüssel und gelber Käse, ebenfalls in Scheiben geschnitten. Wir setzten uns, im Schneidersitz. Szymek nahm aus dem Netz fünf Flaschen Limonade, die wir gekauft hatten, um nicht mit leeren Händen zu kommen. »Na, das ist nicht schlecht«, sagte sie und salzte die Tomaten. »Ihr habt also auch was mitgebracht.« Als alles bereit war, nahm sie einen Laib Brot und ein Messer aus dem Korb. Sie gab Weiser beides, und er schnitt dicke Scheiben ab und reichte sie allen der Reihe nach, im Uhrzeigersinn. »Eigentlich nicht schlecht, so ein Picknick«, sagte Piotr und kaute sein Brot mit Tomate, »im Wald essen statt zu Hause, warum sind wir nicht früher darauf gekommen?« Und ich fragte Elka, aus welchem Anlaß das Picknick stattfinde. Sie hatte vorher nicht gesagt, daß sie so etwas vorhatte. »Ihr seid vielleicht Holzköpfe«, lachte sie mit ihren Eichhörnchenzähnen, »das ist doch der Abschied von den Ferien!« Allen wurde traurig zumute, tatsächlich, übermorgen sollten wir in weißen Trikots und dunklen Hosen in der Turnhalle stehen und uns die Rede des Direktors anhören, daß der Sommer nun bald zu Ende gehe, daß wir erholt und braungebrannt seien und er uns freudig in diesen Mauern willkommen heiße, die wir achten und ehren sollten. Aber jeden Sommer spürte man das nahende Ende – in den Haufenwolken, die wie Engelsflügel langsam über die Bucht hinwegzogen, in der scharfen Luft der letzten Augusttage, in kühlen Winden, noch nicht wirklich kalt, aber schon salzig wie die Anzeichen eines Sturms, in allem spürte man den sterbenden Sommer, wenn die Sommerfrischler Jelitkowo verließen und immer mehr Strand267
körbe leerstanden. Doch jetzt, als um die weiße Tischdekke Schweigen eintrat, war alles anders – der Sommer schien in der erwärmten und flimmernden Luft zu schwellen, Staub dreier Monate bedeckte die Blätter der Bäume und Farne mit einer grauen Schicht, und kein Hauch, nicht der leiseste Windhauch trübte die klebrige Stille zwischen der Erde und dem wolkenlosen Himmel, von wo wie ein dünner Strahl das Summen eines unsichtbaren Flugzeugs zu uns herabdrang. Nur die Grillen spielten wie immer ihre monotone Melodie, und wie immer um diese Jahreszeit tauchten Ameisen mit dünnen häutigen Flügeln auf, sonderbar und wunderlich, die nach zwei Wochen verschwanden, um erst in einem Jahr zur selben Zeit wieder zu erscheinen. »Ach Gott, was gäbe ich darum, wenn es so noch einen Monat dauern würde«, brach Szymek das Schweigen. Aber keiner war auf ein Gespräch erpicht. Weiser machte die erste Flasche Limonade auf und goß die perlende Flüssigkeit in ein Glas, das Elka ihm hinhielt. Das Gefäß ging von Hand zu Hand, und ich wunderte mich, wozu soviel Mühe, da wir doch sonst immer aus der Flasche getrunken hatten. »Rote«, sagte Piotr anerkennend, »ich weiß nicht, warum die rote besser schmeckt als die gelbe«, aber auch diesmal hatte keiner Lust zu reden, wußte doch jeder, der in Cyrsons Laden einkaufte, daß die rote Limonade mehr Kohlensäure enthielt und besser roch als die gelbe. Als alles aufgegessen und ausgetrunken war, sammelte Elka die Sachen ein und legte sie in den Korb. Weiser holte unterdessen den Dynamo aus dem Gebüsch und verband wie immer die Leitungen. Wir gingen von der Eiche weg auf die andere Seite des Tals. Ich habe schon geschrieben, daß die letzte Explosion, obwohl wir damals nicht wußten, daß es die letzte sein würde, daß die letzte Explosion also anders war als die vo268
rangegangenen. Ich habe auch geschrieben, daß die Wolke von Staub, Erdbrocken und Grasfetzen wie eine riesige Windhose war, von dunkler, fast schwarzer Farbe, unten schmal, nach oben hin breiter werdend, und ich habe auch geschrieben, womit ich sie viele Jahre später assoziierte. Und obwohl dieser Vergleich vielleicht anmaßend oder sogar lächerlich ist, so bewegte sich doch – was ich nicht geschrieben habe und hiermit tue – die Windhose fast über das ganze Tal hin – wie ein von unsichtbarer Hand aufgezogener Kreisel – und saugte in ihre wirbelnde Trombe kleine Hölzchen, Blätter vom Vorjahr und solche, die in diesem Jahr abgefallen waren, Zapfen und sogar kleine Steinchen ein. Ich habe auch nicht geschrieben, was ich hiermit tue, daß die Windhose den Korb, der unter der Eiche stehengeblieben war, in ihren Ärmel einwickelte, ihn emportrug und einige Meter weiter wieder abwarf, aber das Oberste zuunterst gekehrt, so daß alles, was darin war, auch die leeren Limonadenflaschen, unter klirrendem Getöse auf die Erde fiel. Die weiße Tischdekke schwebte langsam herab, leicht nach links und rechts schaukelnd. Und dann verabschiedeten sich Weiser und Elka von uns, aber nicht irgendwie besonders, sondern wie immer, »also tschüß«, und gingen zusammen den Berg hinauf. Ich weiß nicht mehr, ob sie sich an den Händen hielten oder nicht, aber angesichts dessen, was am nächsten Tag geschah, ist das von zweitrangiger Bedeutung. Szymek würde sagen, sie hätten Doktor und Patientin gespielt oder umgekehrt. Ich bin mir dessen nicht so sicher. Vielleicht verbrachten sie die Nacht im Keller der Ziegelei, wo sie auf der Panflöte spielte und er tanzte, auf den Boden fiel, unverständliche Worte sagte und levitierte. Vielleicht strichen sie die ganze Nacht im Wald umher oder saßen bis zum Morgengrauen auf einem der Hügel und warteten auf 269
den Sonnenaufgang. Alles ist möglich. Jedenfalls war die erste Person, die ich morgens im Treppenhaus traf, Weisers Großvater. »Wo ist Dawid«, fragte er streng, und ich erschrak, denn Herr Weiser ging fast nie aus dem Haus, und wenn er sich einmal zeigte, sah er immer bedrohlich aus. »Ich weiß nicht«, antwortete ich, und da beugte er sich so weit vor, daß das Zentimetermaß, das ihm um den Hals hing, meine Nase berührte. »Du mußt es wissen«, sagte er langsam und sehr deutlich, »wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht du?« Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn nicht gerade Frau Korotkowa vom Einkaufen gekommen wäre. Sie hatte ein gutes Gehör und mischte sich gleich in das Gespräch ein. »Was, Sie wissen nicht, Herr Weiser, daß er mit Elka nach Pszczółki gefahren ist, aufs Land?« »Wohin, sagen Sie, mit wem?« Herr Weiser blickte sie an, über seinen Drahtzwicker hinweg. »Nach Pszczółki, Herr Weiser, das ist ein Ort in Richtung Tczew, eine halbe Stunde mit dem Zug.« »Wie?« »Eine halbe Stunde mit dem Zug, sag ich.« »Wie?« »Eine halbe Stunde mit dem Zug, sag ich, Elka ist für einen Tag zu ihrer Oma dort gefahren und hat da übernachtet.« »Und Dawid?« »Dawid, das fragen Sie, der rennt doch Tag für Tag hinter ihr her.« Die Korotkowa zeigte lachend ihre noch übrig gebliebenen Zähne. »Der sieht auf Gottes weiter Welt nichts außer ihr, wissen Sie das nicht?« 270
Aber Herr Weiser war mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Er rückte den Zwicker zurecht und nahm das Zentimetermaß vom Hals. »Dawid spricht immer über alles, wieso hat er nichts gesagt?« »Fragen Sie ihn, wenn er zurückkommt«, und Frau Korotkowa ging nach oben. Einen Moment darauf hörte ich Herrn Weiser an Elkas Tür klopfen, ich hörte, wie er nach allem fragte und wie Frau Wiśniewska ihm erzählte, so sei es wohl gewesen, denn Elka habe gefragt, ob sie zu dem Ausflug einen Freund mitnehmen könne, und sie habe ja gesagt, warum auch nicht, auf dem Land sei mehr Platz als hier, und sie habe ihnen sogar etwas zum Essen mitgegeben, denn von der Station aus müsse man noch gute drei Kilometer gehen. Und als ich unten war und durch den Hof ging, wußten Szymek und Piotr schon alles, denn sie hatten das ganze Gespräch an der Hintertür zum Garten belauscht. Wir wußten, daß sie nicht nach Pszczółki gefahren waren, vorläufig nur das. Aber in der Ziegelei waren sie nicht, und die Wand, durch die man zum Schießplatz ging, war von außen versperrt. Sie waren auch nicht im Tal oder auf dem Friedhof oder im Steinbruch. Nirgends. Schließlich gingen wir am Bahndamm entlang bis zu der Landstraße nach Rębiechowo, wo man sich auf ein eingestürztes Brückenjoch setzen und schauen konnte, wie unter den Füßen, zehn Meter weiter unten, ab und zu ein Auto vorbeifuhr. Doch statt uns zu setzen, standen wir auf der Betonschwelle, wie an einem Abgrund, und spuckten nach unten, sobald ein Auto vorbeikam. Auf der anderen Seite der Straße, hinter einem ebensolchen Brückenkopf der gesprengten Brücke, führt der Bahndamm noch ein Stück weiter und geht dann nach fünfhundert Metern in sanftem Bogen in einen Graben über, an der Stelle, wo der Hügel beginnt. Eben dort, auf 271
seiner linken Seite, stößt die Einfriedung des Irrenhauses darauf, und ein Stück vorher, noch unter dem Bahndamm, fließt die Strzyża hindurch. Um an den Bach zu kommen, muß man nicht auf dem Damm über die Eisenbahnschwellen gehen, sondern unten entlang, wo ein schmaler Pfad verläuft, derjenige, den M. nahm, als er zu dem Treffen mit der Hausfrau ging. Der Pfad bricht am Wasser ab und führt nirgendwohin. Um am Flüßchen entlangzugehen, aufwärts, in Richtung Süden, muß man sich durch das Dickicht schlagen, wie wir, als wir dem Lehrer folgten. Auf der linken Seite des Bahndamms ergießt sich die Strzyża in einen kleinen Teich und verschwindet in einer gemauerten Fassung – von hier aus fließt sie als unterirdischer Kanal weiter in Richtung Stadt. Ich sehe das alles genau vor mir, wie auf einer aus dem Gedächtnis aufgezeichneten Karte, und ich weiß, daß ich gleich ›o!‹ schreien und die Hand ausstrecken werde, genau dahin, wo der Bach von Süden her an den Damm herankommt, und gleich werden wir vom Brückenkopf zur Landstraße hinunterlaufen und werden einer hinter dem anderen den schmalen Pfad entlanglaufen, uns gegenseitig auf die Fersen tretend, denn eben da, wo die Strzyża in den engen Tunnel unter dem Bahndamm fließt, habe ich gerade Elka und Weiser gesehen, oder eher Weiser und Elka, wie sie am Wasser sitzen, einfach sitzen und nichts tun, nur die Füße hineinhängen lassen, und wir werden jedesmal laufen um sie zu treffen, jedesmal, wenn ich daran denke, immer so laut und so fröhlich, als hätten wir die Bernsteinkammer oder den Schatz des letzten Inkaherrschers gefunden.
Wie also war das am Ende? Nein, nicht am Ende dieses Tages oder der ganzen Geschichte, denn diese Geschichte hat kein Ende, ich frage, wie es am Ende der Untersu272
chung war, drei Minuten vor zwölf, als Piotr schon verhört worden war und M. uns alle drei ins Arbeitszimmer rief? Wir standen vor dem Schreibtisch des Direktors, hinter uns der Hausmeister, in der vom Rauch grauen Luft hing der Geruch von Schweiß, draußen trommelte der Septemberregen, und wir unterschrieben einer nach dem anderen mit dem gelben Kugelschreiber des Uniformierten die Aussagen und den Entwurf des Protokolls, wir unterschrieben zweimal mit Kohlepapier, das heißt, jeder von uns hinterließ dort vier Autogramme zur Bestätigung der festgelegten Version der Ereignisse. Wir hatten die letzte Explosion im Tal hinter dem Schießplatz gesehen. Weiser und Elka waren zerrissen worden, außer dem Fetzen ihres roten Kleides, den wir aus Angst am selben Abend im Steinbruch verbrannt hatten, war leider nichts von ihnen übriggeblieben. Wir wußten nichts von irgendeinem Lager mit Explosionsmaterial außer von dem, das man im Keller der stillgelegten Ziegelei gefunden hatte. Sicher, Weiser hatte eine alte, verrostete deutsche Maschinenpistole besessen und uns einmal sogar erlaubt, sie eine Weile anzurühren, aber das war alles, was wir wußten. So sah die Sache aus. Zuerst setzte Szymon seine schiefe Unterschrift darunter, denn er schrieb immer mit der linken Hand und immer ein bißchen schief. Nach ihm Piotr, mit Buchstaben groß wie Zweizłotystücke. Als letzter unterschrieb ich. Genau beim letzten Buchstaben des Nachnamens schlug die Uhr zwölf. »Na«, sagte M., »jetzt könnt ihr nach Hause gehen, der Feldwebel wird euch begleiten.« Der Direktor stand auf und knöpfte die Jacke zu, und der Hausmeister leerte die Kippen aus dem Aschenbecher in den Papierkorb. Ja, an dieser Stelle hätte M. unweigerlich irgendeine Moral von sich gegeben, irgendeine schöne Sentenz, wie bei einer Gedenkfeier, etwas in der Art von ›Die Wahrheit fürchte nicht, und du hast nichts zu fürchten‹, 273
zweifellos hätte er etwas in diesem Stil gesagt, aber da war an der Eingangstür der Schule ein Gepolter zu hören, und jemand, dessen Stimme den Regen übertönte, brüllte fürchterlich: »Aufmachen, sofort aufmachen, sofort aufmachen!« und rüttelte an der Klinke und schlug mit der Faust gegen die Tür. Im Licht der vom Hausmeister angeschalteten Lampe sah ich im strömenden Regen meinen Vater, hinter ihm Herrn Korotek und Piotrs Vater und, ein Stück weiter weg, Szymeks und meine Mutter. Mein Vater platzte herein, und bevor jemand etwas sagen konnte, packte er M. am Kragen und schrie: »Sie haben sie gefunden.« Und als mein Vater M. losgelassen hatte, redeten alle gleichzeitig, wie bei einem Empfang oder auf dem Markt, man konnte also im ersten Augenblick nichts verstehen. Ja, man hatte Elka gefunden, am Teich, da, wo sich der Bach, hinter dem Tunnel, ins dichte Schilf ergießt. Sie lebte, war aber noch nicht bei Bewußtsein. Man hatte sie in die Akademie gebracht. Wie sie dort hingeraten war, wußte man nicht. Vorher hatte man die ganze Gegend durchkämmt, aber nur bis zum Militärschießplatz. Man wußte auch nicht, was mit Weiser geschehen war. Die Miliz suchte jetzt auf der Seite, wo man Elka gefunden hatte. M. schaute uns an, und in seinen Augen sahen wir leichtes Erstaunen, so, als hätte jemand fehlerfrei an der Tafel geantwortet oder eine Eins in der Klassenarbeit geschrieben. »Wenn das so ist«, sagte er, »ist die Untersuchung noch nicht beendet, und wir werden die Angelegenheit dem Staatsanwalt übergeben!« – »Bitte sehr«, sagte mein Vater noch lauter, »aber nicht heute!« Und er sah dabei so gefährlich aus, daß er, hätte M., der Uniformierte oder der Direktor uns auch nur noch einen Moment lang festhalten wollen, bestimmt einen von ihnen geschlagen und es ein schreckliches Theater gegeben hätte, schlimmer noch vermutlich als in der Lili274
put-Bar, denn Herr Korotek und Piotrs Vater standen sofort neben uns und sahen genauso gefährlich aus. Die Untersuchung wurde jedoch weder am Montag noch irgendwann später wiederaufgenommen. Denn als Elka das Bewußtsein wiedererlangt hatte, fragte man sie aus, aber sie konnte sich an nichts erinnern, weder wie sie hieß noch wo sie wohnte. Man erklärte das mit dem Schock und wartete auf Besserung. Nach drei Wochen wußte sie schon, wo sie wohnte, aber sie behauptete, sie sei ein Junge und heiße Weiser. Sie konnte einige Gegenstände nicht benennen und sagte zur Krankenschwester: »Gib mir die Uhr«, dabei wollte sie den Suppenteller. Sie brachte alles durcheinander. Erst Anfang Oktober war sie wieder im Lot, aber sie sprach auch weiterhin kein Wort darüber, schwieg wie ein Grab. Sie behauptete zum Beispiel, daß sie zum letzten Mal Mitte August mit Weiser gespielt habe und nicht mehr viel davon wisse. Zu dieser Zeit lebte Herr Weiser nicht mehr, und außer dem Staatsanwalt, der uns noch einmal in der großen Pause verhörte, fragte niemand nach Dawid. Dem Staatsanwalt sagten wir, eine Bestattung des Kleides habe es natürlich nicht gegeben. Nach der Explosion im Tal waren sie den Berg hinaufgegangen, und das war das letzte Mal, daß wir sie gesehen hatten. Und schließlich wurden die Ermittlungen eingestellt. Die letzte Version war folgende: Elka wurde nach der Explosion von einer Luftwelle ins dichte Farngebüsch geworfen, und wir gaben aus Angst Fersengeld. Wir konnten weder Weiser sehen, weil es ihn zerrissen hatte, noch Elka, die bewußtlos im Dickicht lag. Angst und Einbildungskraft taten ein übriges – es mochte uns so vorgekommen sein, als wären sie den Berg hinaufgegangen. Aber das war nur Phantasie, die Phantasie unartiger Buben, die mit Blindgängern gespielt und sich später aus 275
Angst eine Geschichte dazu ausgedacht hatten. Elka erlangte nach einiger Zeit das Bewußtsein wieder, zumindest teilweise, und versuchte aus eigener Kraft nach Hause zu kommen, aber sie verirrte sich an die Strzyża und fiel dort ins Schilf, als sie um den Teich lief oder fiel vom Bahndamm in den Teich und die Strömung trug sie ans Ufer, bevor sie ertrank. Alle unsere Lügen vergaß man, denn schließlich war, wie man behauptete, Weiser der Rädelsführer gewesen, und ihn traf die Hauptschuld. Nur M. schaute uns im Biologieunterricht mißtrauisch an, bis zum Ende der Schule, aber vielleicht nur deshalb, weil wir das eine oder andere von seinen verborgenen Leidenschaften wußten. Das war alles? Das wäre alles, wenn nicht jener Tag an der Strzyża gewesen wäre, da wir eben am Bach ankommen, Elka den Kopf in unsere Richtung dreht und ruft: »He, müßt ihr uns die Fische verscheuchen?« Das war ein Scherz. In der Strzyża gab es keine Fische, und sie hatten weder eine Angel noch ein Netz. »Was macht ihr hier?« keuchte Szymek. »Man sucht euch.« »Man sucht uns«, wunderte sie sich, »wer sucht uns?« »Na«, wurde er unsicher, »eigentlich dein Opa«, sagte er nun zu Weiser. »Er ist sehr beunruhigt.« »Ich habe ihm gesagt, daß ich mit ihr nach Pszczółki fahre.« »Lüg nicht«, Szymek erhob zum ersten Mal die Stimme gegen ihn, »lüg nicht, wir haben gehört, wie dein Opa alle nach dir ausgefragt hat und von nichts wußte. Und überhaupt wart ihr gar nicht in Pszczółki.« In seiner Stimme schwang ein Unterton von Erstaunen und brennender Neugier mit. »Das ist nicht eure Sache«, antwortete Elka, »seid ihr gekommen, um uns auszufragen?« 276
»Na gut«, meinte Piotr versöhnlich, »wenn nicht, dann halt nicht, aber was macht ihr hier? Hier gibt’s doch nicht mal Elritzen!« Elka schaute Weiser an, der jetzt bis zur Mitte der Waden im Bach stand und das Wasser betrachtete, das von der Betonschwelle herabrann. »Nichts machen wir«, antwortete er für sie und fügte nach einem Augenblick des Zögerns hinzu, »wir machen eigentlich nichts, nur Vorbereitungen.« Er stellte unsere Neugier auf die Probe, wir wußten, daß es in solch einem Augenblick nicht angebracht war, ihm Fragen zu stellen, denn gleich würde er den Rest sagen. »Vorbereitungen zu einer besonderen Explosion«, erklärte er. »Aber zuerst muß man alles berechnen und kalkulieren.« Ich schaute das Flüßchen hinauf, das hier zwischen Haselsträuchern und Erlen in kleinen Mäandern herabfloß, und sofort, im selben Moment, begriff ich, worum es ihm ging. Das war wirklich ein außergewöhnlicher Einfall – wenn man im Tunnel unter dem Bahndamm eine Sprengladung legte, müßte die Explosion seinen engen Einschnitt mit Erdmassen aus dem Bahndamm zuschütten, und an der Stelle des Durchlasses entstünde ein sieben bis acht Meter hoher Deich, und da, wo wir jetzt im Wasser standen und weiter oben am Bach bildete sich ein normaler See, bis hin zu den ersten Bäumen. »Genial!« flüsterte Szymek. »Toll.« Auch ihm gefiel der Gedanke, dem Bach den Lauf zu versperren. »Hier wird man schwimmen können«, er zeigte mit der Hand auf die Wiese an der Seite der Straße nach Rębiechowo, »alles wird überschwemmt!« »Ja«, bestätigte Weiser, »alles wird überschwemmt, aber man muß die Erdmasse und die Stärke der Explosion berechnen.« 277
Nur Piotr gefiel Weisers Idee nicht. Er sagte, auf der anderen Seite des Walls sei schließlich ein Teich und man könne zur Not versuchen, dort zu baden. Aber wir ließen ihn nicht zu Wort kommen, und im übrigen war der Teich ekelhaft mit Algen bewachsen und verschlammt, so daß man sich schon beim bloßen Gedanken, in so etwas hineinzusteigen, vor Abscheu schüttelte. »Man muß in den Tunnel gehen«, sagte Weiser, »und genau seine Länge ausmessen. Wer geht freiwillig?« Ich sprang als erster vor. »Gut«, sagte er jetzt zu mir, »aber zähl genau die Schritte, und paß auf den Boden auf!« Der Tunnel war nicht hoch, der Betonrand des Eingangs reichte mir an der höchsten Stelle des symmetrisch gewölbten Halbkreises bis zu den Augen. Ich duckte mich und schaute in das dunkle Loch. »Oho«, der Schrei kam als Echo zurück, »genau wie im Keller eller eller eller …« Leicht gebückt machte ich mich auf den Weg, indem ich mich mit den Händen an den feuchten und glitschigen Wänden abstützte – elf, zwölf, dreizehn. Ich ging vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, und unter meinen Sohlen spürte ich verfaulte Pflanzen, in Jahren angeschwemmten Schlamm und Stückchen von Ziegeln – einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Ich spürte, wie mich die Feuchtigkeit umfing, nach Moder, Sumpf und verfaultem Holz riechend, ich spürte ihren schneidenden Geruch in der Nase, kühl und durchdringend – einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig. Ein Geruch ähnlich dem in der Krypta auf dem Friedhof von Brętowo oder im Keller der stillgelegten Ziegelei, doch er schreckte mich gar nicht, so wie mir auch die Kubikmeter Erde über meinem Kopf keine Angst einflößten, denn am Ende des Tunnels und der mich umgebenden Dunkelheit – zweiundvierzig, dreiundvierzig, vierundvierzig –, am Ende des 278
dunklen Ärmels sah ich den hellen, immer größer werdenden Punkt des Ausgangs, und immer mehr Licht hatte ich vor mir, bis die Kälte aufhörte – neunundfünfzig, sechzig, einundsechzig –, und jetzt stand ich von heißen Strahlen blendender Helligkeit übergossen da, blinzelte und richtete mich auf, denn ich war auf der anderen Seite. »Vier Minuten«, hörte ich Piotrs Stimme, »volle vier Minuten, geht’s nicht schneller?« Er stand beim Ausgang des Tunnels, direkt gegen die Sonne, so daß ich ihm nicht gleich ins Gesicht sehen konnte. »Na klar kann man schneller«, antwortete ich, »aber ich wollte mich nicht verzählen!« Wir gingen den steilen Abhang des Bahndamms hinauf, und Piotr zeigte mit der Hand in Richtung des Irrenhauses, das man von hier aus in der Ferne hinter den Kuppeln der Bäume sehen konnte. »Glaubst du, daß er dort ist?« »Ja«, antwortete ich, »bestimmt ist er dort, umgebracht haben sie ihn ja nicht.« Ich erinnere mich, daß ich, als wir nach unten gingen, auf der anderen Seite des Bahndamms, der wie ein verlassener Weg aussah, mit dem Fuß an etwas hängen blieb, was aus dem Boden herausragte. Es war eine von Gras überwachsene Eisenbahnschwelle. Unten ließen alle die Füße ins Wasser hängen, nur Weiser stand am Ufer. Er hatte ein Stöckchen in der Hand, und ich sah, wie er etwas auf die Erde malte, da, wo das Gras spärlicher war. »Was ist das?« fragte ich, aber Elka sagte schnell, man solle ihn nicht stören. Weiser fragte über das in gleichmäßige Karos eingeteilte Quadrat hinweg – Karos, in die er etwas hineinschrieb, das er wegwischte, und wieder etwas hineinschrieb –, wie viele Schritte es waren. 279
»Einundsechzig«, gab ich an, und darauf schrieb er noch einmal etwas dazu und wischte etwas weg, als wäre es ein Einmaleins oder eine Rechentafel. »Komm her«, rief Elka mir zu, »siehst du nicht, daß er beschäftigt ist?« Ich ging zu ihnen hin, aber es gelang mir, alle Karos des Quadrats zu zählen – es waren sechsunddreißig, je sechs auf jeder Seite. Piotr sagte jetzt, wenn die Explosion gelänge, werde das Wasser die Wiese überschwemmen und nach einiger Zeit wegen eines fehlenden Abflusses bis an den Weg kommen. »Und dann?« fragte ich, aber Elka machte sich darüber keine Gedanken. »Die Feuerwehr wird kommen und die Armee, und sie machen einen Abfluß oder einen neuen Tunnel, aber wir sind dann schon fertig mit dem Baden«, erklärte sie, als ginge es um einen Ausflug nach Jelitkowo, »und sind schon weg.« »Oder wir kommen mit den anderen her und schauen zu«, schlug Szymek vor, »und niemand wird erfahren, wer es war.« »Und wenn über den Berg ein Zug fahren würde«, fügte Piotr hinzu, »das gäb erst ’n Theater!« Weiser wischte mit dem Fuß sein Quadrat weg. »Ich hab’s«, sagte er laut, »alles klar!« »Also wann?« fragte ich ungeduldig. »Ich muß schauen, wo man am besten die Ladung legt, ist da kein Glas?« wandte er sich an mich, und ich begriff, daß er jetzt in den Tunnel gehen wollte. »Nein«, antwortete ich, »kann ich mit dir gehen?« »Bleib da.« Elka ging zu ihm. 280
»Ich will’s auch sehen«, und schon waren sie am Eingangsgewölbe, die Köpfe gebeugt, und verschwanden in dem dunklen Gang wie ich zuvor, während Piotr den Hang hinaufrannte, um auf der anderen Seite auf sie zu warten. Ich stand da, die Hände auf das Betongewölbe gestützt, und sah die gebeugte Silhouette Elkas, die hinter Weiser ging, ich hörte ihre immer schwächer werdenden Stimmen und das sich entfernende Plätschern, vermischt mit dem Geräusch fließenden Wassers, bis ich schließlich den undeutlichen Umriß einer Gestalt sah, da, wo am Ende ein heller Lichtfleck schimmerte, in dem die Silhouette völlig zerfloß und verschwand. Wie lange mag es gedauert haben? Ich meine nicht den Weg zur anderen Seite, ich frage, wieviel Zeit vergangen sein mochte, als ich über meinem Kopf Piotrs Schrei hörte: »Was ist los, wo stecken sie?« Szymek hat behauptet, gute acht bis zehn Minuten, aber weder damals und noch viel weniger heute, da ich dies schreibe, könnte ich sagen, wie lange es gedauert hat. Piotr wartete auf der anderen Seite, wartete und zählte, zählte und wartete, bis er keine Lust mehr hatte zu warten und in den Ausgang des Tunnels schaute. Er sah sie nicht und dachte, sie seien sicher umgekehrt, weil sie einen guten Platz für die Ladung gefunden hätten. Er lief also noch einmal über den Damm zu uns herüber, aber er sah mich am Eingang stehen und Szymek im Wasser waten und sonst niemanden. Ich dachte, er mache Spaß, als er sagte, »sie sind da nicht rausgekommen«, und er nahm an, ich wolle ihn veräppeln und erschrecken, aber bald darauf wußten wir, daß weder er noch ich Spaß gemacht hatten, sondern Weiser. »Das kann nicht sein«, sagte ich, »es gibt dort keine Nische, keine Vertiefung an der Seite, wo sie sich verstecken könnten.« Aber sie waren weder auf dieser noch auf der anderen Seite des Bahndamms. Eine Stunde lang watete ich mit Szymek im Tunnel, und wir untersuch281
ten jeden Stein, jede Ritze, jeden Ziegel und jedes Stückchen Zement. »Weiser«, schrie ich, »Weiser, dieser Witz ist zu gut, wo seid ihr«, aber außer dem Rauschen des Wassers und dem dumpf tönenden Echo antwortete uns nichts. Wir saßen bis zum Abend an der Strzyża, auf beiden Seiten des Tunnels, und Piotr hielt oben Wache, auf der Spitze des Bahndamms – alles ohne Ergebnis. Wir gingen zurück und ließen die Köpfe hängen, denn obwohl jeder von uns dachte, es sei nichts Schlimmes passiert und sie würden spätestens morgen früh zur feierlichen Eröffnung des neuen Schuljahres erscheinen, obwohl wir unbestritten daran glaubten, so war doch trotzdem an diesem Verschwinden etwas Unnormales, als hätte Weiser sich mit uns verabredet, um uns dann an der Nase herumzuführen, was er im übrigen nie getan hatte, vom ersten Treffen an. Als wir den Friedhof von Brętowo hinter uns hatten – denn wir gingen den Bahndamm entlang – und als wir von der Höhe von Bukowa Górka aus die Dächer unseres Viertels und, weiter entfernt, die Platte des Flugplatzes und die Bucht sahen, wehte von Norden, vom Meer her deutlich der erste kühle, erfrischende Wind in diesem Jahr. Bei den Häusern, wo der Wald aufhörte, spürte ich schwere Regentropfen, groß wie Weintrauben. Sie fielen auf die Erde und sickerten sofort ein, aber nach ihnen kamen immer schneller weitere, und ein wenig später ging die Straße, die Stadt, ging die ganze Welt in grauen Strömen von Regen unter. Ja, hier hört die Erzählung eigentlich auf. Alle Gedanken an Weiser beunruhigen mich sehr, so sehr, daß ich sie nicht weiter ausführen werde, obwohl ich sie im Gedächtnis und im Herzen behalte. Aber da ist noch Piotr. Für ihn habe ich die beschriebenen Blätter in graues Papier gewikkelt und in einen Spalt der Zementplatte gesteckt. »Bist du’s?« fragte er. 282
»Ja, ich bin’s«, antwortete ich. »Warum bist du heute gekommen, es ist doch nicht Allerseelen?« »Nein, Piotr, aber ich hab dir etwas mitgebracht. Lies es dir durch, und morgen oder übermorgen komme ich wieder, und wir sprechen darüber.« Er antwortete nicht. Das bedeutete, er war einverstanden. Ich weiß selbst nicht, wie es kommt – statt mit dem Bus zu fahren, gehe ich zu Fuß zu diesem Treffen. Zuerst gehe ich an Bukowa Górka vorbei, wo die künstlichen Wege in keiner Weise mehr an jene Zeit erinnern. Linker Hand müßte ich am Friedhof von Brętowo vorbeikommen. Das ist hier. Auf dem großen Platz gibt es keine Grabsteine mit gotischen Buchstaben. Die Bäume sind abgesägt. Ein Bulldozer schiebt, gleich neben der Backsteinkirche, Massen von Steinen und zertrümmerten Platten auf einen Haufen. Er gräbt ein Fundament für eine neue, sehr viel größere Kirche. Das Loch ist einige Meter tief und hat die Ausmaße eines mittelgroßen Sportplatzes. Ich gehe weiter. Da, wo sich die leere Krypta befand, steht ein vierstöckiges Haus mit drei Eingängen. Die ersten Mieter hängen die Vorhänge auf und putzen, nachdem die Maler da waren, die Fenster, obwohl es kalt ist. Ich stehe jetzt auf dem Bahndamm. Dort, wo hinter der Wand des Waldes die den Schießplatz umgebenden Hügel zu sehen waren, sehe ich jetzt unverputzte Hochhäuser. Eins, zwei, drei und noch eins dahinter. Die Decke des Bahndamms ist schlechter – die Lastwagen und die Autos der Kleingärtner haben sie ausgefahren. Ich gehe auf dem Damm weiter, bis zur Landstraße nach Rębiechowo. Aber sie sieht nicht wie eine Landstraße aus. Sie ist eine normale Straße mit Bürgersteigen, Laternen und vielen Autos. Ich bin müde wie ein alter Mensch. Ich bedauere, daß ich nicht mit dem Bus gefahren bin. Aber vielleicht – denke ich mir – war es gut, 283
das anzuschauen. Denn Piotr beginnt das Gespräch gewöhnlich mit der Frage, was sich in der Stadt tut. Er will, daß man alle Einzelheiten sehr genau beschreibt. Ich werfe also noch einmal einen Blick auf all das und gehe auf seinen Friedhof. Ich überlege nicht mehr, ich gehe die Straße hinunter, dann rechts hoch, und ich bin da, wo ich hin wollte. Rechts vom Friedhofstor biegt man zum Irrenhaus ab. Wenn ich dort entlangginge, an den vergitterten, von einem alten Park umgebenen Pavillons vorbei, könnte ich zu der Stelle gelangen, wo ich zum letzten Mal Weiser gesehen habe. Aber nicht deshalb habe ich dieses Stück Weg zurückgelegt. Im Moment muß ich mit Piotr reden. Ich setze mich auf die kalte Platte und rücke meinen Schal zurecht. »Hast du’s gelesen?« Ich stelle die Frage, obwohl ich nicht weiß, ob er zu einem Gespräch bereit ist. »Ja«, antwortet er. Wir schweigen eine Weile. Ich ziehe das Manuskript aus dem Spalt und stecke es in die Tasche. Aber Piotr fängt nicht mit seinem ›Was gibt’s Neues?‹ an. Unsere Unterhaltung hat heute einen etwas anderen Charakter, ich spüre es beim ersten Satz: »Du hast nicht geschrieben, was für ein Kleid Elka anhatte.« »Wann?« »An der Strzyża.« »Natürlich das rote.« »Darauf mußt du hinweisen.« »Das gleiche, das sie auf dem Flugplatz anhatte.« »Na gut. Und was ist mit den Waffen, die Weiser aufbewahrte? In der Untersuchung ist die Rede davon, daß man nur Sprengstoff gefunden habe. Und von den Waffen kein Wort!« 284
»Weil sie nichts gefunden haben außer dem TNT und den Zündkapseln. Weiser muß sie versteckt haben, bevor wir ihn in der Ziegelei gesucht haben. Weißt du noch – die Wand, durch die man zu seinem Versteck ging, war versperrt.« »Ich weiß noch.« »Eben. Er hat alles vorhergesehen und genau geplant, meinst du nicht?« »Kommen wir zu anderen Einzelheiten. M. ist richtig dargestellt, so, wie er war. Aber bestimmt hat er keine Fehler in der Biologie gemacht. Er hat sich nie in den Namen von Pflanzen, Insekten oder Schmetterlingen geirrt und auch nicht in der Klassifizierung, und du …« »Es war also kein Bergwohlverleih?« »Natürlich war es eine Arnica montana, die Blüte des Bergwohlverleihs. Doch du hast geschrieben, M. hätte ihn der ersten Unterfamilie der Liguliflorae oder den Zungenblütlern zugeordnet. Aber M. hat keine Fehler in der Systematik gemacht, nie. Zur ersten Unterfamilie gehört zum Beispiel Scorzonera hispanica oder Taraxacum officinale, aber …« »Jesus, was ist das denn?« »Scorzonera hispanica? Schwarzwurzel. Und Taraxacum officinale ist einfach die Kuhblume oder der Löwenzahn, und die gehören tatsächlich zur Unterfamilie der Liguliflorae, aber nie und nimmer die Arnica montana!!!« »Ich werde verrückt, woher kennst du alle diese Namen?! M. hat uns das nicht beigebracht.« »Die Arnica montana hingegen gehört zur zweiten Unterfamilie – zu den Röhrenblütlern, auf lateinisch Tubuliflorae, zur selben wie zum Beispiel Achillea millefolium oder die gemeine Schafgarbe.« 285
»Ist das denn so wichtig?« »Wenn du über M. schreibst, ist das sehr wichtig. Aber ich habe noch etwas – Horst Meller. Hast du herausbekommen, wer er war?« »Erbarm dich, wen interessiert denn heute, wer irgendein Horst Meller war?« »Einverstanden, aber du schreibst manchmal über ein unwichtiges Detail, und die Haupthandlung wird deswegen zurückgestellt. Mit den Ameisen hast du übertrieben. Die Ameisen interessieren keinen. Oder, was für ein Geruch über der Fleischerei hinter Cyrsons Laden aufstieg. Ist das nicht zuviel des Guten?« »Ich glaube nicht. Wenn du die Unterfamilie der Arnica montana heranziehst, dann sind die Ameisen und die Fleischerei genauso wichtig.« »Gleich kommen wir zu dem Schluß, daß alles wichtig ist.« »Genau. Entweder nichts oder alles.« »Warum hast du dann nicht geschrieben, daß ich immer Angst vor der Dunkelheit hatte? Vor dunklen Fluren und nicht beleuchteten Kellern? Sogar an der Strzyża bin ich nicht in diesen verdammten Tunnel gegangen. Ich habe auf die beiden gewartet und gezählt, aber reingeguckt hab ich nicht. Warum hast du das nicht geschrieben?« »Ich war doch auf der anderen Seite, wie hätte ich es denn wissen sollen?« »Hast du nicht meine Silhouette gesehen?« »Nein. Ich habe Elkas Rücken gesehen, als sie in deine Richtung ging, sonst nichts.« »Noch was, wie bist du auf den Titel Direktor gekommen? In der Grundschule hießen sie damals Schulleiter.« »Ja, erst als du nicht mehr da warst, hat man sie in Direktoren umbenannt.« 286
»Na also?« »Wenn du meinst, das sei wichtig, mache ich einen Schulleiter aus ihm. Er wird wohl nicht böse sein, er ist schon lange in Rente.« »Sonst ist alles, wie es war.« »Und mehr sagst du mir nicht?« »Was hast du denn erwartet? Ich hab’s gelesen und sag dir, was mir aufgefallen ist.« »Und Weiser?« »Was – Weiser?« »Was würdest du über ihn sagen? Er wollte doch kein Zirkuskünstler werden. Er hat uns alle reingelegt. Wo ist er jetzt?« »Du hast das geschrieben und weißt es nicht?« »Ich weiß mehr als vorher, aber nicht alles. Deshalb komme ich zu dir. Ich muß die Wahrheit wissen.« »Ich habe mein Versprechen gehalten, und du willst wieder deinen Kopf durchsetzen.« »Was ist mit ihm passiert?« »Wir reden sowieso schon zu lange.« »Was ist mit ihm passiert? Warum sagst du nichts? Warum antwortest du nicht mehr, Piotr?« Ja. Du wirst wieder den gleichen Weg gehen, vom Friedhof aus zuerst abwärts, nachher bergauf, und nachher noch einmal bergab. Du wirst über dem dahineilenden Wasser des Baches stehenbleiben, da, wo er in die niedrig gewölbte Nische des Tunnels mündet. Du wirst in das kalte Wasser gehen und direkt an der Öffnung stehenbleiben, die Hände auf den feuchten Beton gestützt. Du wirst Luft holen und wie in den Bergen schreien: »Weiser!« Das Echo wird dir mit gedämpften Silben antworten, aber nur 287
das Echo, nichts sonst. Das gleiche Wasser wie vor Jahren wird über die Zementschwellen plätschern, und wäre nicht der Himmel bewölkt, so würdest du denken, jetzt wäre damals. »Weiser«, wirst du rufen, »ich weiß, daß du da bist!« und wirst einen Stein in das schwarze Loch werfen. Aber nur das Platschen des Wassers wird dir antworten. »Weiser«, wirst du wieder schreien, »ich weiß, daß du da bist, komm sofort raus!« In dem Rauschen und Glucksen wird es keine Antwort geben. »Weiser, du Trottel, komm raus«, wirst du immer lauter schreien, »hörst du mich?« Du wirst den Kopf in das dunkle Loch stecken und, immer tiefer ins Wasser eintauchend, wirst du dich auf den Knien langsam durch den Schlamm bewegen, über glitschiges Unkraut und Steine in Richtung des heller werdenden Punktes auf der anderen Seite. »Weiser«, wirst du aufschreien, »leg mich nicht rein, verdammt, ich weiß, daß du da bist!« Der dumpfe Widerhall wird über dich hinwegrollen, als ertönte auf dem Bahndamm das Dröhnen einer Lokomotive, aber niemand wird auf dein Rufen antworten. Endlich wirst du aus dem Tunnel herauskommen. Triefend von Wasser, mit Schmutz bedeckt wirst du dich ans Ufer des Baches setzen und dich, zitternd vor Kälte, an die Worte jenes Liedes erinnern: ›Weiser Dawidek bleibt bei uns in Reli weg.‹ Du wirst zum Himmel hinaufschauen, wo hinter dunkelgrauen Wolken die Motoren eines unsichtbaren Flugzeugs summen. Und statt Verwünschungen und Flüche auszustoßen, wirst du denken, daß alles, was deine Augen gesehen, und alles, was deine Hände berührt haben, längst zu Staub zerfallen ist. Du wirst mit dumpfem, starrem Blick vor dich hinschauen und weder das Wasser hören noch den Wind, der dein angeklebtes Haar zaust.
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Für Leser, die aus eigener Anschauung oder aus der Literatur das alte Danzig und seine Umgebung kennen, werden im folgenden die früheren deutschen Orts- und Straßennamen der Schauplätze des Romans genannt. Außerdem sind die deutschen Entsprechungen der polnischen Städtenamen verzeichnet. Gdańsk Danzig
Dolina Radości Schwabental
Brętowo Brentau
(wörtl.: Tal der Freude)
Brzeźno Brösen
Niedźwiednik Bärenwinkel
Jelitkowo Glettkau
Pachołek Karlsberg
Nowy Port Neufahrwasser
Strzyża Strießbach
Oliwa Oliva Srebrzysko Silberhammer
Bydgoszcz Bromberg
Stogi Reisau
Częstochowa Tschenstochau
Wrzeszcz Langfuhr
Gdynia Gdingen
Zaspa Saspe
Kraków Krakau
Jaśkowa Dolina Jäschkentaler Weg
Rębiechowo Ramkau
Łódź Lodz Karłowicza Torgauer Weg
Sopot Zoppot
Kmieca Strackwitzweg
Warszawa Warschau
Polanki Pelonker Weg
Wejherowo Neustadt
Słowackiego Hochstrieß
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