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Mit seinem neuen großen Abenteuerroman Wer aber Gewalt sät hat Wilbur Smith sich endgültig als »einer der drei TopAutoren der Welt« (Mirror) etabliert. Vor dem Hintergrund umwälzender historischer Ereignisse – von der Weltwirtschafs krise über den Aufstieg des Nationalsozialismus bis zu den Schlachten des II. Weltkriegs – entfaltet er eine dramatische Familiensaga, die zugleich auf anschauliche Weise die stürmi schen gesellschaftlichen Entwicklungen Südafrikas widerspie gelt. Im Mittelpunkt der spannungsgeladenen Handlung, die auf den rhodesischen Diamantenfeldern beginnt und bei der Olympiade 1936 in Berlin einen ersten Höhepunkt erreicht, steht die schicksalhafte Auseinandersetzung zweier Halbbrü der, Shasa Courtney und Manfred de la Rey: Sie wissen nicht, daß sie dieselbe Mutter haben, denn die schöne, von Leiden schaft und Ehrgeiz besessene Centaine de Thiry verleugnet ihren Zweitgeborenen, dessen Vater sie ewige Rache geschwo ren hat. »Bei einem Roman dieser Länge, meint man, könnte man ohne weiteres ein oder zwei Seiten überspringen. Das ist ein Irrtum. Mr. Smith ist ein Meistererzähler« (Daily Express). Wilbur Smith entstammt einer alten Siedlerfamilie aus Rhode sien/Simbabwe und ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher haben über 40 Millionen Gesamtauf lage und wurden in 14 Sprachen übersetzt. Erfolgreiche Ver filmungen (mit Roger Moore, Lee Marvin und Susannah York) haben seine Stoffe und Helden darüber hinaus breitesten Publi kumsschichten bekannt gemacht. Seine zwei jüngsten Romane Glühender Himmel und Wer aber Gewalt sät werden in einer 10-teiligen internationalen Fernsehserie unter italienischer Re gie verfilmt.
WILBUR SMITH
Wer aber Gewalt sät
ROMAN
Aus dem Englischen von Grit Zoller
PAUL ZSOLNAY VERLAG
WIEN • DARMSTADT
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vertrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. © Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien/Darmstadt 1988 Titel der englischen Ausgabe: Power of the Sword © Wilbur Smith 1986 Umschlag und Einband: Buchholz & Hinsch Satz: FotoSatz Pfeifer, Germering Druck und Bindung: May & Co., Darmstadt Printed in Germany ISBN 3-552-04022-6
Als ebook nicht für den Verkauf bestimmt. Private Sicherheitskopie. non-profit ebook by tigger
November 2003
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Smith, Wilbur:
Wer aber Gewalt sät / Wilbur Smith. Aus d. Engl. von Grit Zoller. –
Wien; Darmstadt: Zsolnay, 1988
Einheitssacht.: Power of the sword [dt.]
ISBN 3-552-04022-6
Für Danielle
mit all meiner Liebe
»Hätte ich der Willkür nachgegeben und,
der Saat der Gewalt weichend,
die Gesetze beugen lassen,
ich stünde nicht hier.«
König Karl I. von England auf dem Schafott, 30. Januar 1649.
Dichter Nebel lag über dem Wasser und dämpfte jeden Laut, jede Farbe. Es wogte und wallte mit den ersten Böen des Mor genwindes, die auf das Land zustrichen. Der Trawler lag drei Meilen vor der Küste am Rand der Benguela-Meeresströmung – dort, wo die gewaltigen, planktonreichen, aus den Tiefen des Ozeans aufsteigenden Fluten sich längs einer dunkelgrünen Linie mit dem sanften Küstengewässer vereinigten. Lothar De La Rey stand im Ruderhaus an das hölzerne Ru derrad gelehnt und starrte in den Nebel hinaus. Er spürte, wie sich allmählich prickelnde Spannung in ihm ausbreitete. Er hatte Hunderte solcher Morgendämmerungen erlebt, als er noch Jagd auf großes Wild machte – auf rauhmähnige Kalaha rilöwen, räudige alte Büffel mit gewaltigem Gehörn, weise Grauelefanten mit runzeliger Haut und kostbarem, langem Ge zähn aus Elfenbein –, aber jetzt war das Wild kleiner und doch in seiner großen Zahl ebenso gewaltig wie der Ozean, aus dem es stammte. Sein Gedankengang wurde unterbrochen, denn sein Sohn kam von der Kombüse über das offene Deck heran. Er hatte lange, braungebrannte kräftige Beine und ging barfuß. Er war fast so groß wie ein erwachsener Mann und mußte sich bücken, als er, in jeder Hand einen dampfenden Becher Kaffee balan cierend, ins Ruderhaus trat. »Gezuckert?« fragte Lothar. »Vier Löffel, Pa«, sagte der Junge grinsend. Sein blonder Schopf war von der Sonne platinfarben gebleicht, aber seine dichten Wimpern und Augenbrauen waren schwarz und seine Augen bernsteinfarben. »Wahnsinnsfang heute.« Lothar kreuzte abergläubisch die Finger seiner rechten Hand. »Wir brauchen ihn«, dachte er. »Um zu überleben, brauchen wir ihn unbedingt.« 7
Vor fünf Jahren war er noch einmal dem Ruf des Jagdhorns, den Lockungen der Jagd und der Wildnis erlegen. Er hatte die gutgehende Straßen- und Eisenbahnbaugesellschaft, die er un ter Mühen aufgebaut hatte, verkauft, Kredite genommen, wo er sie kriegte, und alles aufs Spiel gesetzt. Er wußte von den unermeßlichen Schätzen, die das kalte grü ne Wasser des Benguelastroms barg. Zum ersten Mal zu sehen bekommen hatte er sie in jenen chaotischen letzten Tagen des Ersten Weltkrieges, als er ein letztes Kommandounternehmen gegen die verhaßten Engländer und deren verräterische Mario nette Jan Smuts, der an der Spitze der südafrikanischen Trup pen stand, führte. Aus einem geheimen Vorratslager zwischen den hohen Dünen längs der südatlantischen Küste hatte er die deutschen U-Boote mit Treibstoff und Munition versorgt, und während er an diesem Küstenstrich tagelang auf die U-Boote wartete, sah er, wie die riesigen Fischschwärme den Ozean aufwühlten. In den Jahren, die dem unwürdigen Frieden von Versailles folgten und in denen er sich in Staub und Hitze mit Dynamit und schweren Maschinen durch die Berge fraß oder Straßen durch flimmernde Wüsten legte, war der Plan in ihm gereift. Er hatte gespart und Pläne geschmiedet. Die Boote, klapprige alte Sardinentrawler, hatte er in Portu gal aufgetrieben. Dort war er auch auf Da Silva gestoßen, einen alten und erfahrenen Seebären. Gemeinsam hatten sie die vier Trawler repariert und neu ausgerüstet und waren dann mit we nig Besatzung den afrikanischen Kontinent entlang nach Süden geschippert. Die Konservenfabrik hatte er in Kalifornien entdeckt, wo sie zur Thunfischverwertung errichtet worden war, allerdings von einer Gesellschaft, die die Thunfischvorkommen über- und die Fangkosten dieses unzuverlässigen, unberechenbaren »Hühn chen des Meeres« unterschätzte. Lothar kaufte die Fabrik um einen Bruchteil der Gestehungskosten und verschiffte sie kom plett nach Afrika. Hier ließ er sie auf dem gewalzten Sandbo 8
den neben der aufgelassenen und verfallenen Walfangstation, der diese trostlose Bucht den Namen Walvis Bay verdankte, wieder aufbauen. In den ersten drei Fangjahren hatten Lothar und der alte Da Silva gute Ausbeute gemacht und die riesigen Fischschwärme abgeerntet, bis die Darlehen, die Lothar bedrückten, abbezahlt waren. Um die altersschwachen portugiesischen Trawler zu ersetzen, hatte er umgehend neue Boote bestellt und sich auf diese Weise tiefer in Schulden gestürzt als zu Beginn des ris kanten Unternehmens. Und dann gab’s keine Fische mehr. Aus unerklärlichen Gründen waren die riesigen Pilchardschwärme bis auf kleine Pulks da und dort verschwunden. Sie suchten vergeblich nach ihnen, liefen hundert Meilen und mehr auf die offene See hin aus, entfernten sich weit über die wirtschaftlich vertretbare Grenze von der Konservenfabrik, durchstöberten die lange öde Küste, und dabei vergingen unaufhaltsam die Monate. An jedem Monatsersten traf eine Mitteilung über die abgelaufenen Zinsen ein, die Lothar nicht begleichen konnte, außerdem sammelten sich die Betriebskosten für die Fabrik und die Fi scherboote an, so daß er schließlich um weitere Kredite betteln mußte. Zwei Jahre vergingen ohne ergiebigen Fang. Doch dann, ge rade als Lothar sich geschlagen geben wollte, kam es zu einer unmerklichen Veränderung der Meeresströmung oder der herr schenden Windverhältnisse, und die Schwärme waren wieder da, riesig, unübersehbar, in der Morgendämmerung nach oben strebend wie frisches Gras. »Laß es so bleiben«, betete Lothar im stillen. »Bitte, Herr, laß es so bleiben.« Noch drei Monate, nur noch drei kurze Mo nate, und er würde alles abzahlen können und wieder schulden frei sein. »Es klart auf«, sagte der Junge, und Lothar schüttelte leicht den Kopf, um seine Gedanken zu verscheuchen. 9
Der Nebel hob sich wie ein Bühnenvorhang, und die Szene rie, die dahinter zum Vorschein kam, wirkte theatralisch und unwirklich. Der Dunst glühte und kochte wie der Widerschein eines Feuerwerks, und das orange-goldene Licht färbte die wa bernden Nebelschwaden blutrot und rosa. Dann brach mit einem Strahl hellen goldenen Lichts die Son ne durch die Nebelbank. Das Licht spielte auf der Wasserober fläche, so daß die Strömungslinie deutlich sichtbar wurde. Das Küstenwasser war wolkig blau und ruhig und glatt wie Öl, die Linie, wo es auf die Tiefenströmung traf, scharf wie die Schneide einer Messerklinge. »Daar spring hyl« schrie Da Silva am Vorderdeck und deute te auf die dunkle Linie im Wasser. »Da springt er!« Als der erste Sonnenstrahl auf das Wasser auftraf, sprang ein einzelner Fisch. Er war kaum länger als eine Männerhand – ein kleiner Span aus poliertem Silber. »Motor anlassen!« Lothars Stimme war heiser vor Erregung. Der Junge stellte seinen Becher so heftig auf den Kartentisch, daß die letzten Tropfen Kaffee herausspritzten, und ver schwand im Niedergang zum Maschinenraum. Lothar drehte mit fliegender Hast an den Schaltern und pack te den Gashebel, als sich der Junge unter ihm zum Griff der Anlaßkurbel bückte. »Los!« brüllte Lothar. Der Junge nahm seine ganze Kraft zu sammen und stemmte sich gegen den Druck der vier Zylinder. »Jetzt!« Lothar schloß die Vordrossel, und die Maschine, noch warm von der Fahrt aus dem Hafen, sprang augenblick lich an. Öligschwarzer Rauch brach aus dem Auspuffkanal an der Seite des Schiffsrumpfes, dann lief die Maschine rund und gleichmäßig. Der Junge kletterte die Leiter herauf und stürmte hinaus aufs Vordeck zu Da Silva. Lothar wendete und steuerte das Boot an die Strömungslinie heran. Der Nebel zog ab, und sie sahen die anderen Boote. Die 10
se hatten ebenfalls still in der Nebelbank gelegen und auf die ersten Sonnenstrahlen gewartet und hielten jetzt ungeduldig auf die Strömungslinie zu. Die Mannschaften drängten sich an die Relings und reckten die Hälse. Vom verglasten Ruderhaus aus kontrollierte Lothar ein letz tes Mal die Vorbereitungen. Das lange Netz war entlang der Steuerbordreling ausgelegt, die Obersimm fein säuberlich schneckenförmig aufgerollt. Trocken wog das Netz siebenein halb Tonnen, naß um ein Vielfaches mehr. Es war hundertfünf zig Meter lang und reichte im Wasser, wie ein Gazevorhang an den Korkschwimmern hängend, einundzwanzig Meter in die Tiefe. Das Netz hatte Lothar über fünftausend Pfund gekostet, mehr Geld, als ein gewöhnlicher Fischer in zwanzig Jahren unermüdlicher Arbeit verdienen konnte. Und die anderen drei Boote waren genauso ausgerüstet. Jeder Trawler hatte sein »Bucky« im Schlepptau, ein fünf Meter langes Dingi in Klin kerbauart, das mit einer schweren Fangleine am Heck befestigt war. Gerade als Lothar wieder nach vorne blickte, sprang der nächste Fisch, diesmal so nahe, daß er die dunkle Linienzeich nung an seiner glänzenden Flanke erkennen konnte. Dann plumpste der Fisch zurück und hinterließ dunkle Wellenringe auf der Wasseroberfläche. Wie auf ein Signal wurde das Meer plötzlich lebendig, ver dunkelte sich wie im Schatten einer mächtigen Wolke, aber diese Wolke kam von unten, stieg aus den Tiefen empor, und das Wasser begann zu brodeln, als würde es von einem Unge heuer aufgewühlt. Vor ihnen lag ein einziger dunkler Fischschwarm, eine Meile breit und so lang, daß sein anderes Ende in der zurückweichen den Nebelbank verschwand. Lothar hatte in all den Jahren als Jäger noch nie eine solche Anhäufung von Lebewesen, eine so große Menge von Exemplaren einer einzelnen Spezies gesehen. Neben diesen Massen waren die Wanderheuschrecken, die die 11
afrikanische Mittagssonne verhüllen und verdunkeln konnten, und die Scharen winziger Queleavögel, unter deren Gewicht die Äste großer Bäume abbrachen, vergleichsweise unbedeu tend. Der erste, der aktiv wurde, war Da Silva. Er drehte sich um und lief, beweglich und flink wie ein Jüngling, über das Deck nach achtern. Nur an der Tür zum Ruderhaus blieb er kurz ste hen. »Gäbe die Jungfrau Maria, daß wir das Netz noch haben, wenn dieser Tag zu Ende ist.« Nach dieser unmißverständlichen Warnung rannte der alte Mann zum Heck und kletterte über das Schandeck in das Bei boot, während die anderen Männer ebenfalls lebendig wurden und rasch ihre Posten einnahmen. »Manfred!« rief Lothar, und sein Sohn, der wie hypnotisiert am Bug gestanden hatte, hob den Kopf und kam gehorsam an gerannt. »Übernimm das Ruder.« Für ein Kind war das eine ungeheu re Verantwortung, aber Manfred hatte sich schon so oft be währt, daß Lothar bedenkenlos das Ruderhaus verlassen konn te. Ohne zurückzublicken, gab er vom Bug aus seine Signale und fühlte, wie sich das Deck unter seinen Füßen neigte, als Manfred das Ruder herumwarf und, dem Befehl seines Vaters folgend, den Schwarm in einem großen Bogen zu umfahren begann. »So viel Fisch«, flüsterte Lothar. Als er Entfernung, Windge schwindigkeit und Strömung abschätzte, stand die Warnung des alten Da Silva an erster Stelle seiner Überlegungen: Hun dertfünfzig Tonnen Fisch konnten der Trawler und das Netz bewältigen. Mit etwas Glück und Geschick vielleicht zweihun dert. Vor ihm lag ein Schwarm von einigen Millionen Tonnen. Brachte man das Netz im falschen Augenblick aus, würde es sich mit zehn- oder zwanzigtausend Tonnen füllen, und dann konnte es geschehen, daß Gewicht und Kraft der Fischmasse 12
das Maschenwerk zerfetzten oder gar das Netz losrissen, daß die Obersimm brach oder die Poller vom Deck in die Tiefe gezerrt wurden. Schlimmer noch, wenn Leinen und Poller hiel ten, denn dann bestand die Gefahr, daß der Trawler durch das Gewicht krängte und kenterte. Manfred grinste ihm durch das Fenster des Ruderhauses zu. Mit seinen strahlenden bernsteinfarbenen Augen und den blit zenden weißen Zähnen war er seiner Mutter ähnlich. Lothar wurde es schmerzlich bewußt, und er wandte sich rasch wieder seiner Arbeit zu. Die wenigen Augenblicke der Unaufmerksamkeit wären Lo thar beinahe zum Verhängnis geworden. Der Trawler fuhr di rekt auf den Schwarm zu, würde innerhalb von Sekunden über ihm sein, und die Fische würden wegtauchen. Der ganze Schwarm, der sich so harmonisch bewegte, als wäre er ein ein ziger riesiger Organismus, würde wieder in den Tiefen des Ozeans verschwinden. Rasch gab Lothar das Zeichen zum Ab drehen, und der Junge reagierte sofort. Der Trawler machte eine Drehung um sein Heck, und sie liefen in einer Entfernung von fünfzehn Metern am Rand des Schwarmes entlang und warteten auf eine günstige Gelegenheit. Ein rascher Blick in die Runde zeigte Lothar, daß seine Kapi täne auf den anderen Booten ebenfalls vorsichtig Abstand hiel ten. Swart Hendrick, ein riesiger Bulle von Mann, dessen Kahlkopf wie eine Kanonenkugel in der Morgensonne glänzte, starrte zu ihm herüber. Wie Lothar selbst hatte sein langjähri ger Kampfgefährte und Begleiter ohne Mühe den Wechsel vom Land zum Wasser geschafft und war als Fischer ebenso ge schickt wie einst als Elfenbein- und Menschenjäger. Der Fischschwarm behielt seine geschlossene Formation bei, und Lothar begann allmählich zu verzagen. Die Fische waren nun schon über eine Stunde an der Oberfläche, viel länger als gewöhnlich. Jeden Augenblick konnten sie wegtauchen oder verschwinden, und keines seiner Boote hatte das Netz ausge 13
bracht. Durch den Überfluß waren ihnen die Hände gebunden, und Lothar spürte, wie ihn eine wilde Verwegenheit überkam. Er hatte schon zu lange gewartet. »Zum Teufel damit, wirf das Netz aus!« dachte er und bedeu tete Manfred, näher an den Schwarm zu steuern. Bevor er sich zu dieser Wahnsinnstat entschließen konnte, hörte er Da Silva pfeifen und blickte zurück. Der Portugiese stand auf der Ruderbank des Beibootes und gestikulierte wild. Der Fischschwarm begann sich hinter ihnen auszubauchen. Die feste runde Masse veränderte ihre Form. Ein Fühler wuchs aus ihr hervor, nein, es sah eher aus wie ein Kopf an einem dünnen Hals, als ein Teil des Schwarmes sich von der Hauptmasse löste. Das war es, worauf sie gewartet hatten. »Manfred!« brüllte Lothar und bewegte seinen rechten Arm wie eine Windmühle. Der Junge riß das Ruder herum, das Boot drehte sich, sie fuhren mit voller Geschwindigkeit zurück, und der Bug des Trawlers zielte wie das Blatt eines Henkerbeiles auf den Hals des Schwarmes. »Geschwindigkeit drosseln!« Lothar gab das entsprechende Handzeichen, und der Trawler wurde langsamer. Mit viel Gefühl manövrierten Lothar und Manfred den Bug des Trawlers in die lebendige Masse. Sie fuhren mit kleinster Kraft, damit die Fische nicht unruhig wurden und wegtauchten. Der schmale Hals teilte sich vor dem Bug, und der kleinere Schwarm löste sich von der Hauptmasse. »Noch immer zuviel!« murmelte Lothar. Es waren nach Lo thars Schätzung noch immer weit über tausend Tonnen. Es war riskant, äußerst riskant. Aus dem Augenwinkel sah Lothar, daß Da Silva mit heftigen Gesten zur Vorsicht mahnte. Dann pfiff er auch noch, schrill vor Aufregung. Dem alten Mann machte diese Menge Fisch Angst, und Lothar mußte grinsen, als er dem alten Mann demonstrativ den Rücken zu kehrte und Manfred das Zeichen zum Beschleunigen gab. Er ließ Manfred die Geschwindigkeit bei fünf Knoten halten 14
und in engem Bogen beidrehen, so daß der Fischschwarm in der Mitte des Kreises zusammengetrieben wurde. Als der Trawler die zweite Runde gemacht hatte und im Wind an dem Schwarm vorbeitrieb, drehte sich Lothar zum Heck herum und legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Los!« brüllte er. »Beiboot losmachen!« Der schwarze Herero am Heck löste mit einem Griff den Knoten, mit dem die Fangleine des Beibootes befestigt war, und warf die Leine über Bord. Das kleine hölzerne Dingi mit Da Silva an Bord fiel rasch vom Trawler ab und zog das Ende des schweren braunen Netzes mit sich. Der Trawler umkreiste den Fischschwarm, und das grobe braune Maschengeflecht lief kratzend und knirschend über die hölzerne Reling. Die Obersimm, Nabelschnur zwischen Traw ler und Dingi, wickelte sich los und glitt wie ein Python über Bord. Als der Trawler vor dem Wind zurückstampfte, bildeten die Korkschwimmer der Obersimm, gleichmäßig aufgereiht wie die Perlen einer Kette, einen Kreis um den geschlossenen dunklen Fischschwarm, und das Dingi, in dem Da Silva mit hängenden Schultern saß, lag direkt vor ihnen. Manfred glich mit dem Ruder den Widerstand des großen Netzes aus und brachte den Trawler längsseits an das schau kelnde Dingi. Als sich die beiden Boote berührten, hielt er die Maschine an. Nun war das Netz geschlossen und der Schwarm gefangen. Da Silva kletterte, die Enden der schweren dreizölli gen Hanftaue über der Schulter, an Bord. »Du wirst das Netz verlieren«, rief er Lothar zu. »Nur ein Verrückter macht das Netz um diesen Schwarm zu – sie wer den mitsamt dem Netz abhauen. Der heilige Antonius und der heilige Markus sind meine Zeugen –« Aber die Mannschaft machte sich bereits davon, unter Lothars knappen Anweisun gen das Netz einzuholen. Zwei der Hereromänner hoben das Haupttau von Da Silvas Schultern und zurrten es fest, während ein anderer mit Lothar die Sacknetzleine zur Hauptwinde zog. 15
»Es ist mein Netz, und mein Fang«, brummte Lothar, als er die Winde in Gang setzte. »Häng das Bucky fest!« Das Netz hing zwanzig Meter tief ins klare grüne Wasser, aber es war unten offen. Die erste und vordringlichste Arbeit bestand darin, das Netz zu schließen, bevor der Schwarm die sen Fluchtweg entdeckte. Lothar beugte sich über die Winde und zog mit rhythmischen Bewegungen der Arme und Schul tern die Sacknetzleine ein, so daß sie sich um die rotierende Seiltrommel legte. Die Sacknetzleine lief durch Stahlringe am unteren Ende des Netzes und schloß wie das Zugband eines riesigen Tabaksbeutels die Öffnung. Manfred hatte im Ruderhaus alle Hände voll zu tun, das Heck des Trawlers vom Netz fernzuhalten und zu verhindern, daß dieses sich um die Schraube wickelte. Inzwischen hatte Da Silva das Ding ans andere Ende der Obersimm gerudert und es dort eingehakt, um für den kritischen Augenblick, wenn der übergroße Schwarm bemerkte, daß er gefangen war, und zu rasen begann, zusätzlichen Auftrieb zu schaffen. Lothar holte die schwere Sacknetzleine ein, bis schließlich das Bündel Stahlringe an der Reling auftauchte. Das Netz war geschlossen, sie hatten den Schwarm im Sack. Schweißnaß und so außer Atem, daß er nicht sprechen konn te, lehnte sich Lothar gegen das Schandeck. Die Korkschwimmer der Obersimm lagen säuberlich auf dem sanft bewegten Wasser. Doch während Lothar noch nach Luft rang, veränderte der Kranz von Korkschwimmern plötzlich seine Form und zog sich in die Länge. Der Schwarm hatte das Netz bemerkt und drückte in plötzlicher Vorwärtsbewegung dagegen. Dann drehte der Schwarm um, und der Ansturm er folgte in entgegengesetzter Richtung. Das Dingi wurde wie eine Nußschale hin und her geworfen. Der Schwarm besaß eine ungeheure Kraft. »Himmel, das ist ja noch mehr, als ich gedacht habe«, keuch te Lothar. Dann raffte er sich auf, warf mit einem Ruck die 16
nassen blonden Strähnen zurück und stürzte zum Ruderhaus. »Da Silva hatte recht. Sie spielen verrückt«, flüsterte er und langte nach dem Griff des Nebelhorns. Er ließ drei kurze schrille Signale ertönen – die Bitte um Unterstützung. Als er wieder an Deck stürmte, sah er, daß die anderen drei Trawler wendeten und mit Höchstgeschwindigkeit herankamen. Auf keinem von ihnen hatte man bisher den Mut aufgebracht, das Netz auszubringen. »Schnell, verdammt noch mal! Schnell!« rief Lothar ihnen zu. Und an seine eigene Mannschaft gewandt: »Alle Mann zum Hieven!« Die Mannschaft zögerte, wollte nicht so recht, wagte sich nur ungern an dieses Netz. »Bewegt euch, ihr schwarzen Bastarde!« schrie Lothar sie an und sprang zum Schandeck, um mit gutem Beispiel voranzu gehen. Sie mußten den Schwarm zusammendrücken, die klei nen Fische so fest gegeneinanderdrängen, daß sie keine Kraft mehr hatten. Das Netz war rauh und scharf wie Stacheldraht, aber sie stell ten sich in einer Reihe auf und bückten sich, um das Netz im Rhythmus der sanften Dünung mit der Hand einzuholen. Mit jedem gemeinsamen Zug schafften sie ein paar Zentimeter. Dann wurde der Schwarm wieder wild, und das Stück Netz, das sie gewonnen hatten, wurde ihnen aus den Händen geris sen. Einer der Hereromänner ließ nicht schnell genug los, und die Finger seiner rechten Hand verfingen sich im groben Ge flecht. Wie einen Handschuh riß es ihm die Haut von den Fin gern, so daß die blanken weißen Knochen und das rohe Fleisch zum Vorschein kamen. Er schrie und preßte die verstümmelte Hand gegen seine Brust. Das Blut spritzte ihm ins Gesicht, lief über die schweißglänzende schwarze Haut seines Oberkörpers und durchtränkte seine Hose. »Manfred!« rief Lothar. »Kümmere dich um ihn!« Dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Netz zu. 17
Der Schwarm versuchte wegzutauchen, zog ein Ende der Ober simm unter die Wasseroberfläche. Ein kleiner Teil des Schwarmes entwischte an dieser Stelle. »Gott sei Dank sind wir euch los«, murmelte Lothar. Aber der Großteil des Schwarmes war noch gefangen, und die Kork schwimmer kamen wieder an die Oberfläche. Der Schwarm drängte abermals nach unten, und diesmal krängte der schwere, fünfzehn Meter lange Trawler so gefährlich, daß die Männer mit aschgrauen Gesichtern nach einem Halt suchten. Das Dingi auf der anderen Seite des Korkschwimmerkranzes wurde mitgezogen. Es hatte nicht genug Tragvermögen, dem standzuhalten. Wasser strömte über das Schandeck ins Innere und brachte das Boot zum Sinken. »Spring!« brüllte Lothar dem alten Mann zu. »Weg vom Netz!« Sie wußten beide um die Gefahr. In der vorangegangenen Saison war einer aus ihrer Mann schaft in das Netz gefallen. Die Fische waren sofort auf ihn eingedrungen, hatten ihn unter die Oberfläche gedrückt und in dem Versuch zu entkommen gegen den Widerstand seines Körpers angekämpft. Als sie die Leiche schließlich nach Stunden vom Netzboden bergen konnten, sahen sie, daß die Fische durch den ungeheu ren Druck, der in Tiefe des gefangenen Schwarmes herrschte, durch Mund, Augenhöhlen und Anus in den Körper des Man nes eingedrungen waren. Der Leichnam war vollgestopft mit Fischen, zum Ballon gebläht – ein Anblick, den keiner von ihnen je vergessen würde. »Weg vom Netz!« brüllte Lothar noch einmal, und Da Silva warf sich auf der anderen Seite aus dem sinkenden Dingi, un mittelbar bevor es unter Wasser gezogen wurde. Swart Hendrick war schon zur Stelle, um ihn herauszuholen. Er schob seinen Trawler längsseits an die Obersimm heran, und zwei seiner Männer halfen Da Silva an Bord, während die an deren sich über die Reling beugten und unter Swart Hendricks 18
Anleitung das Netz einhakten. »Wenn bloß das Netz hält«, brummte Lothar, als sich die an deren beiden Trawler an der Obersimm einhakten. Nun bilde ten die vier großen Boote einen Kreis um den gefangenen Schwarm, und die Männer begannen das Netz einzuholen. Sie standen an der Reling und holten das Netz Zug um Zug ein – zwölf Mann auf jedem Trawler, selbst Manfred arbeitete an der Seite seines Vaters. Sie keuchten und schwitzten, das Blut lief ihnen über die zerschundenen Hände, der Schmerz brannte ihnen in Rücken und Schultern, aber sie hoben den riesigen Schwarm langsam, Zentimeter für Zentimeter aus dem Wasser, bis er schließlich »trocken hing«. »Ausschöpfen!« brüllte Lothar, und auf allen Booten nahmen die drei Schöpfmänner die langstieligen Schöpfnetze von den Halterungen über dem Ruderhaus und schleppten sie zur Re ling. Die Schöpfnetze hatten die selbe Form wie Schmetterlings netze oder die kleinen Handkescher, mit denen Kinder am Strand Garnelen und Krabben fangen. Allerdings waren die Stiele dieser übergroßen Kescher fast zehn Meter lang, und die Netzsäcke faßten über eine Tonne Fisch. Von drei Punkten des Stahlringes, der die Öffnung des Netzes bildete, gingen Hanf taue ab, die in der Mitte über dem Netz zu dem schweren Win dentau zusammengesplißt waren, mit dem das Schopf netz ge hoben und gesenkt wurde. Der Boden des Netzes konnte eben so wie das große Hauptnetz mit einer Sacknetzleine, die durch eine Reihe kleiner Stahlringe lief, geöffnet und geschlossen werden. Während das Schöpfnetz in Position gebracht wurde, öffne ten Lothar und Manfred die Lukendeckel zum Laderaum unter Deck. Dann nahmen sie eilig ihre Posten ein – Lothar an der Winde, Manfred am Ende der Sacknetzleine des Schöpfnetzes. Ratternd und quietschend kurbelte Lothar das Schöpfnetz am Ladebaum über ihren Köpfen hoch, während die drei Schöpf 19
männer das Netz am Stiel hinausschwenkten. Manfred zog an der Sacknetzleine, so daß sich der Boden des Schöpfnetzes schloß. Lothar warf den Hebel der Winde herum, und das schwere Schöpfnetz bohrte sich unter neuerlichem schrillen Quietschen des Rollkolbens in die silbrige Fischmasse. Die drei Schöpf männer verlagerten ihr ganzes Gewicht auf den Stiel und trie ben das Netz tief in den lebenden Brei von Pilchards. »Hieven!« brüllte Lothar und setzte die Winde wieder in Bewegung. Das Netz wurde durch den Schwarm hochgezogen und kam mit einer Tonne zappelnder, zuckender Pilchards zum Vorschein. Das volle Netz wurde bordeinwärts über die Lade raumluke geschwenkt. Manfred hing mit seinem ganzen Ge wicht an der Sacknetzleine. »Aufmachen!« rief Lothar seinem Sohn zu, und Manfred ließ die Sacknetzleine los. Der Netzboden öffnete sich, und eine Tonne Pilchards prasselte durch die offene Luke unter Deck. Sobald das Netz leer war, zog Manfred die Sacknetzleine zu, und die Schöpfmänner schwenkten den Stiel außenbords, quietschend rastete die Winde ein, das Netz fiel in den Schwarm, und die ganze Prozedur begann von vorn. Auf den anderen Trawlern wurde in derselben Art und Weise gearbeitet, und alle paar Sekunden ergoß sich eine Tonnenladung Fisch in die Laderäume. Es war eine mühsame, eintönige Arbeit, und sooft das Netz über die Köpfe der Männer hinwegschwang, ergoß sich eine Flut von eisigem Salzwasser und Fischschuppen über sie. Wenn die Männer an den Netzstielen vor Erschöpfung zusam menzubrechen drohten, wurden sie, ohne daß der Arbeits rhythmus gestört wurde, von den Bootsführern gegen die Män ner am Hauptnetz ausgetauscht. Lothar hielt die Stellung an der Winde, unerschütterlich, wachsam, unermüdlich. Silberne Dreipencestücke, dachte er schmunzelnd, als auf al len seinen Booten die Pilchards in die Laderäume prasselten. 20
Glänzende Dreipencestücke, keine Fische. Heute laden wir Bargeld. »Volle Deckladung!« rief er Swart Hendricks über den klei ner werdenden Ring des Hauptnetzes zu. »Volle Deckladung!« bestätigte dieser laut, genüßlich seine ungeheuren Kräfte vor den Augen der Mannschaft einsetzend. Die Laderäume der Trawler, von denen jeder über hundertfünf zig Tonnen Fisch aufnehmen konnte, waren bereits randvoll, also würden sie auf Deck weiterladen Das war riskant. Einmal voll beladen, wurden die Boote erst wieder leichter, wenn sie im Hafen lagen und der Fisch in die Fabrik gepumpt wurde. Bei voller Deckladung kam ein Gewicht von hundert Tonnen hinzu, wodurch das Sicherheitslimit weit überschritten war. Falls das Wetter umschlug und der Wind nach Nordwest dreh te, würde die rasch hochgehende See die überladenen Trawler in die kalten grünen Tiefen hineinhämmern. »Das Wetter muß halten«, dachte Lothar, während er an der Winde schuftete. Er saß auf dem Kamm der Woge, und nichts konnte ihn mehr aufhalten. Er hatte ein hohes Risiko in Kauf genommen und dadurch einen Fang von nahezu tausend Ton nen Fisch gemacht, der ihm einen Gewinn von fünfzig Pfund je Tonne einbringen würde. Fünfzigtausend Pfund mit einer ein zigen Fangfahrt. Die dickste Glückssträhne seines Lebens. Er hätte sein Netz, sein Boot und auch sein Leben verlieren kön nen – statt dessen zahlte er mit einem einzigen Fang seine ge samten Schulden ab. Sie leerten den Inhalt der Schöpfnetze auf die Laufplanken der Trawler, füllten die Boote bis an die Kanten der Schand ecks mit der silbrigen Fischmasse, in der die Mannschaft hüft tief versank. Die Rümpfe der Trawler sanken immer tiefer ins Wasser, bis kurz nach Mittag auch Lothar einsehen mußte, daß es genug war. Lothar stellte die Winde ab. Im Hauptnetz trieben noch unge 21
fähr hundert Tonnen Fisch. »Entleert das Netz«, befahl er. »Laßt sie raus und holt das Netz ein.« Dann machten sich die vier Trawler mit Lothars Boot an der Spitze auf den Heimweg in Richtung Küste. Die Boote lagen so tief im Wasser, daß bei jeder Welle Seewasser durch die Speigatts flutete. Eine Fläche von fast einer halben Quadratmeile, bedeckt mit toten Fischen, die, dick wie Herbstlaub auf dem Waldboden, mit dem Bauch nach oben auf dem Wasser trieben, blieb hinter ihnen zurück. Darüber kreisten tausende übersatter Seemöven, darunter wimmelte es von schlemmenden Haien. Die erschöpften Männer arbeiteten sich durch die Berge zap pelnder Fische an Deck zum Niedergang am Vorderdeck. Un ter Deck warfen sie sich, durchnäßt und von Fischschleim überzogen, in ihre engen Kojen. Lothar stand im Ruderhaus und trank zwei Becher heißen Kaffee. Dann blickte er auf den Chronometer über der Instru mententafel. »Vier Stunden Fahrt zur Fabrik«, sagte er. »Zeit genug für unseren Unterricht.« »Oh, Pa!« protestierte der Junge. »Nicht heute, heute ist ein besonderer Tag. Müssen wir heute unbedingt lernen?« In Walvis Bay gab es keine Schule. Die nächste befand sich in Swakopmund, dreißig Kilometer entfernt. Lothar war für den Jungen von Anfang an Vater und Mutter zugleich gewesen. Er hatte ihn noch naß und blutig aus dem Kindbett fortgenom men. Seine Mutter hätte ihn nicht einmal sehen wollen. Das war Teil ihrer abnormen Abmachung gewesen. Mit Ausnahme der Ammen, die den Jungen in den ersten Monaten stillten, hatte er ihn allein und ohne fremde Hilfe aufgezogen. Dadurch standen sie einander so nahe, daß Lothar es nicht ertragen hät te, auch nur einen Tag von ihm getrennt zu sein. Um ihn nicht fortschicken zu müssen, hatte er sogar seine Erziehung und Ausbildung selbst übernommen. 22
»So besonders kann gar kein Tag sein«, erklärte er Manfred. Er tippte ihm an die Stirn. »Das hier ist es, was einen Mann stark macht. Hol die Bücher!« Manfred warf Da Silva einen mitleidheischenden Blick zu, aber er wußte sehr wohl, daß jeder weitere Widerspruch zwecklos war. »Übernimm das Ruder.« Lothar übergab an den alten See mann und setzte sich neben seinen Sohn an den Kartentisch. »Nicht Rechnen.« Er schüttelte den Kopf. »Heute ist Englisch an der Reihe.« »Ich hasse Englisch!« begehrte Manfred auf. »Ich hasse Eng lisch und ich hasse die Engländer.« Lothar nickte. »Ja«, stimmte er zu. »Die Engländer sind un sere Feinde. Sie waren immer unsere Feinde und werden es bleiben. Deshalb müssen wir uns ihre Waffen aneignen. Des halb lernen wir ihre Sprache.« Er sprach das erste Mal an diesem Tag Englisch. Manfred antwortete ihm in Afrikaans, der südafrikanischen Mundart des Holländischen, die erst im Jahre 1918, ein Jahr vor Manfreds Geburt, als eigene Sprache anerkannt und als offizielle Sprache der Südafrikanischen Union eingeführt worden war. Lothar unterbrach ihn. »Englisch«, ermahnte er ihn. »Jetzt wird nur Englisch ge sprochen.« Eine Stunde lang arbeiteten sie. Lothar ließ seinen Sohn laut aus der Bibel und aus einer zwei Monate alten Ausgabe der »Cape Times« vorlesen und diktierte ihm einen englischen Text. Der Umgang mit der ungewohnten Sprache kostete Man fred einige Mühe. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten. »Erzähl mir doch von Großpapa und dem Schwur!« Lothar grinste. »Du bist ein gerissener kleiner Schlingel, mein Junge.« »Bitte, Pa –« 23
»Die Geschichte habe ich dir schon hunderte Male erzählt.« »Erzähl sie mir noch einmal. Heute ist ein besonderer Tag.« Lothar warf einen flüchtigen Blick auf die kostbare silberne Fracht an Deck. Der Junge hatte recht, es war ein ganz beson derer Tag. »Also gut.« Er nickte. »Ich erzähle sie dir noch einmal, aber in englisch.« Manfred klappte erfreut sein Übungsbuch zu und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er hatte die Geschichte vom großen Aufstand schon so oft gehört, daß er sie auswendig konnte und jede Abweichung vom Original korrigierte. »Also«, begann Lothar. »Als der verräterische englische Kö nig Georg V. dem deutschen Kaiser Wilhelm 1914 den Krieg erklärte, wußten dein Großpapa und ich, was wir zu tun hatten. Wir nahmen Abschied von deiner Großmutter und ritten aus, um uns am Ufer des Oranje dem alten General Maritz und sei nen sechshundert Kriegern anzuschließen, die gegen den alten ›Slim‹ Jannie Smuts ins Feld ziehen wollten.« ›Slim‹ war im Afrikaans das Wort für verschlagen oder verräterisch. »Weiter, Pa, weiter!« Als Lothar zur Schilderung der ersten Schlacht kam, in der Jannie Smuts’ Truppen den Aufstand mit Maschinengewehren und Artillerie niederwarfen, wurde der Blick des Jungen be kümmert. »Aber ihr habt gekämpft wie die Teufel, nicht wahr?« »Wir kämpften wie besessen, aber sie waren uns zahlenmä ßig überlegen und außerdem mit schwerer Artillerie und Ma schinengewehren ausgerüstet. Dann bekam dein Großpapa ei nen Bauchschuß, und ich trug ihn vom Schlachtfeld.« In den Augen des Jungen glänzten dicke Tränen, als Lothar zum Ende kam. »Als es mit deinem Großvater schließlich zu Ende ging, nahm er die alte schwarze Bibel aus der Satteltasche, auf die sein Kopf gebettet war, und ließ mich einen Eid schwören.« »Ich kann den Schwur auswendig«, unterbrach ihn Manfred. 24
»Laß mich ihn aufsagen!« »Nun, wie ging der Schwur?« ermutigte ihn Lothar. »Großpapa sagte: ›Schwöre mir, mein Sohn, schwöre mir auf die Bibel, daß der Krieg gegen die Engländer niemals enden wird.‹« Der alte Da Silva unterbrach die feierliche Stimmung, huste te, räusperte sich und spuckte durch das offene Fenster des Ruderhauses. »Du solltest dich schämen – dem Jungen Haß und Gewalt einzutrichtern«, sagte er, und Lothar stand hastig auf. »Hüte deine Zunge, alter Mann«, warnte er ihn. »Das ist nicht deine Sache.« »Gott behüte«, brummte Da Silva, »das ist eher Sache des Teufels.« Lothar runzelte die Stirn und wandte sich von ihm ab. »Für heute ist’s genug, Manfred. Räum die Bücher weg.« Er schwang sich aus dem Ruderhaus und kletterte auf das Dach. Nachdem er es sich an der Lukenkimming bequem ge macht hatte, nahm er eine lange schwarze Zigarre aus der Brusttasche, biß die Spitze ab und suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern. Manfred streckte schüchtern den Kopf über den Rand der Kimming, und als ihn sein Vater nicht fort scheuchte, kletterte der Junge hinauf und setzte sich neben ihn. Lothar zündete sich die Zigarre an, sog den Rauch tief in die Lunge, schnippte das Zündholz über Bord und legte seinen Arm wie zufällig um die Schultern seines Sohnes. Die kleine Flottille lief auf die Küste zu und umrundete das schroffe Horn im Norden der Bucht. Die tiefstehende Sonne überzog die hohen bronzefarbenen Dünen, die wie eine Ge birgskette hinter der kleinen Ansammlung von Gebäuden in der Bucht emporragten, mit einem goldenen Schimmer. »Ich hoffe, Willem war so klug, die Siedekessel anzuheizen«, murmelte Lothar. »Mit dieser Menge Fisch hat die Fabrik die ganze Nacht und morgen den ganzen Tag zu tun.« 25
»Wir schaffen es nie, den ganzen Fisch einzudosen«, flüsterte der Junge. »Nein, den Großteil werden wir zu Fischmehl und Fischleim verarbeiten müssen –« Lothar brach ab und starrte über die Bucht. Manfred spürte, wie sein Körper steif wurde. Dann nahm Lothar den Arm von den Schultern seines Sohnes und beschattete seine Augen. »Dieser verdammte Idiot«, knurrte er. Mit dem scharfen Blick des Jägers hatte er bereits den fernen Schornstein des Siedehauses ausgemacht. Er rauchte nicht. »Was, zum Teufel, treibt der Kerl bloß?« Lothar sprang auf. »Er hat die Siedekes sel kalt werden lassen. Es dauert fünf oder sechs Stunden, sie wieder anzuheizen. Inzwischen verdirbt unser Fisch. Zum Teu fel mit dem Kerl!« tobte er und ließ sich auf Deck hinunter. Er zog am Nebelhorn, um die Fabrik zu alarmieren. »Was, zum Teufel, geht da vor!« Er riß das Fernglas aus der Halterung neben dem Instrumentenbrett und stellte es ein. Sie waren nun nahe genug, um die Menschengruppe vor den Haupttoren der Fabrik erkennen zu können. Es waren die Schneider und Ver packer in ihren grünen Gummischürzen und Stiefeln. Sie hätten eigentlich an ihren Arbeitsplätzen in der Fabrik sein sollen. »Dort ist Willem.« Der Fabriksleiter stand am Ende des lan gen hölzernen Entladestegs, der auf schweren Pfählen in das ruhige Wasser der Bucht hinausragte. Willem war nicht allein, zwei Fremde standen neben ihm. Sie trugen dunkle Straßenan züge und hatten das selbstgefällige, arrogante Auftreten kleiner Beamter, etwas, das Lothar kannte und fürchtete. Sein Ärger verrauchte und machte einem plötzlichen Unbe hagen Platz. Staatsdiener hatten ihm noch nie Gutes gebracht. »Schwierigkeiten«, dachte er. »Gerade jetzt, wo ich tausend Tonnen Fisch zu konservieren habe –« Dann sah er die Autos. Das Fabrikgebäude hatte sie verdeckt, bis Da Silva in den Hauptkanal einfuhr, der zum Entladesteg führte. Lothar konnte zwei Autos erkennen. Eines davon war 26
ein alter, verbeulter Ford, das andere jedoch ein größerer Wa gen – Lothar spürte einen Stich in der Herzgegend und begann schneller zu atmen. Diesen Wagen konnte es nicht zweimal in Afrika geben. Es war ein riesengroßer, narzissengelber Daimler. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, stand er vor dem Büro der Courtney Bergwerks- und Finanzierungsgesellschaft in der Main Street in Windhuk. Damals war er gerade im Begriff gewesen, mit der Gesell schaft eine Verlängerung seiner Kredite zu verhandeln. Er hatte von der anderen Seite der breiten staubigen Straße mit angese hen, wie sie, flankiert von zwei unterwürfigen Angestellten in dunklen Anzügen und gestärkten weißen Kragen, die breiten Marmorstufen heruntergeschritten kam; einer der beiden hielt ihr die Tür des auffälligen gelben Wagens auf und half ihr mit einer tiefen Verbeugung beim Einsteigen, während der andere um den Wagen herumeilte, um die Anlasserkurbel zu bedienen. Sie war abgefahren, ohne Lothar auch nur bemerkt zu haben. Blaß und zitternd, mit den widersprüchlichen Gefühlen, die ihr bloßer Anblick in ihm erweckte, war er zurückgeblieben. Fast ein Jahr war seither vergangen. Er schreckte auf, als Da Silva mit dem schwerbeladenen Trawler anlegte. Sie hatten solchen Tiefgang, daß Manfred einem der Männer auf dem Entladesteg über ihnen das Bugtau hinaufwerfen mußte. »Lothar, diese Herren – sie wollen dich sprechen«, rief Wil lem nervös und deutete mit dem Daumen auf den Mann an seiner Seite. »Sind Sie Mr. Lothar De La Rey?« fragte der kleinere der beiden Fremden, indem er seinen staubigen Filzhut in den Nacken schob und sich über die Stirn wischte. »Ganz recht.« Lothar hatte seine Arme in die Hüften ge stemmt und starrte zu ihm hinauf. »Und wer sind Sie?« »Sind Sie der Besitzer der Südwestafrikanischen Konserven 27
fabrik und Fischfanggesellschaft?« »Ja! Ich bin der Besitzer. Und was weiter?« »Ich bin der Sheriff des Gerichts in Windhuk und habe hier eine Verfügung über die Beschlagnahme aller Vermögenswerte der Gesellschaft.« Der Sheriff schwenkte das Dokument, das er in der Hand hielt. »Sie haben die Fabrik geschlossen«, erklärte Willem un glücklich. »Ich mußte das Feuer unter den Siedekesseln lö schen.« »Das können Sie nicht machen!« fauchte Lothar, und seine Augen verengten sich zu gelben Schlitzen. »Ich hab’ hier tau send Tonnen Fisch, die verarbeitet werden müssen.« »Sind das die vier Trawler, die unter dem Namen der Gesell schaft eingetragen sind?« fuhr der Sheriff ungerührt fort, knöpfte aber sein Jackett auf und stemmte die Arme in die Hüf ten. Dabei kam ein schwerer Webley-Dienstrevolver zum Vor schein, der in einem Gürtelhalfter steckte. Er sah zu, wie die anderen Trawler zu beiden Seiten des Entladestegs festmach ten, dann redete er, ohne Lothars Antwort abzuwarten, seelen ruhig weiter. »Mein Gehilfe wird die Gerichtssiegel an den Booten und der Fracht anbringen. Ich muß Sie darauf hinwei sen, daß das Entfernen der Boote oder der Fracht eine strafbare Handlung wäre.« »Das können Sie mir nicht antun!« Lothar kletterte die Leiter zum Entladesteg hoch. Sein Tonfall klang nicht mehr heraus fordernd. »Ich muß meinen Fisch verarbeiten. Verstehen Sie denn nicht? Spätestens morgen früh stinkt er zum Himmel –« »Das ist nicht Ihr Fisch.« Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Der gehört jetzt der Courtney Bergwerks- und Finanzierungs gesellschaft.« Er gab seinem Gehilfen ungeduldig einen Wink. »Na los, Mann.« Und dann begann er sich abzuwenden. »Sie ist hier«, rief Lothar ihm nach, und der Sheriff drehte sich wieder um. »Sie ist hier«, wiederholte Lothar. »Das dort drüben ist ihr 28
Wagen. Sie ist selbst hergekommen, stimmt’s?« Der Sheriff wich seinem Blick aus und zuckte die Achseln, aber Willem platzte heraus: »Ja, sie ist hier – sie wartet in mei nem Büro.« Lothar wandte sich von der Gruppe ab und eilte mit großen Schritten und geballten Fäusten, wie zu einem Kampf bereit, den Steg hinunter. Am Ende des Stegs erwarteten ihn die aufgeregten Arbeiter aus der Fabrik. »Was ist los, Baas?« bestürmten sie ihn. »Die wollten uns nicht arbeiten lassen. Was sollen wir tun, Ou Baas?« »Warten!« befahl Lothar schroff. »Ich bringe das in Ord nung.« »Bekommen wir unseren Lohn, Baas? Wir haben Kinder –« »Ihr bekommt euer Geld«, fauchte Lothar, »das verspreche ich euch.« Das war ein Versprechen, das er nicht halten konnte, nicht bevor er seinen Fisch verkauft hatte. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und eilte auf das Verwaltungsbüro zu. Der Daimler stand direkt vor der Tür, und am vorderen Kot flügel des großen gelben Wagens lehnte ein Junge. Er war au genscheinlich schlecht gelaunt und gelangweilt. Er mußte ein Jahr älter sein als Manfred, war aber ein paar Zentimeter klei ner und hatte einen schlankeren, feingliedrigeren Körper. Er trug ein weißes Hemd, das in der Hitze ein wenig gelitten hatte, und eine elegante Oxfordhose aus grauem Flanell, die staubig war und zu modisch für einen Jungen seines Alters, aber er besaß eine natürliche Anmut und war schön wie ein Mädchen mit seiner makellosen Haut und seinen dunkelblauen Augen. Lothar stutzte bei seinem Anblick, und es entfuhr ihm: »Sha sa!« Der Junge richtete sich auf und warf das dunkle Haar zurück. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte er, und seine dunkelblauen Augen leuchteten interessiert auf. Es gab vieles, was Lothar ihm darauf hätte antworten kön 29
nen, und es drängte sich ihm auf die Zunge: Vor vielen Jahren habe ich dir und deiner Mutter im Busch das Leben gerettet … Ich habe geholfen, dich von der Muttermilch abzusetzen, und nahm dich als Baby zu mir aufs Pferd … Ich liebte dich fast so sehr, wie ich einst deine Mutter liebte … Du bist Manfreds Bruder, der Halbbruder meines Sohnes. Statt dessen sagte er: »Shasa ist das Buschmannwort für ›gu tes Wasser‹, das kostbarste Gut im Leben eines Buschmannes.« »Das ist richtig.« Shasa Courtney nickte. »Sie haben recht. Es ist ein Buschmanname, aber mein Taufname ist Michel. Das kommt aus dem Französischen. Meine Mutter ist Französin.« »Wo ist sie?« fragte Lothar, und Shasa warf einen flüchtigen Blick auf die Bürotür. »Sie möchte nicht gestört werden«, warnte er, aber Lothar De La Rey kümmerte sich nicht darum. Er ging so nahe an Shasa vorbei, daß dieser den Fischgeruch wahrnehmen und die win zigen weißen Fischschuppen auf seiner gebräunten Haut sehen konnte. »Besser, Sie klopfen vorher an –« riet Shasa mit gesenkter Stimme, aber Lothar ignorierte das und stieß die Bürotür auf. Er blieb in der geöffneten Tür stehen, und Shasa konnte an ihm vorbeisehen. Seine Mutter erhob sich von dem unbequemen Stuhl am Fenster und drehte sich um. Sie war schlank wie ein junges Mädchen, und der gelbe Crê pe de Chine ihres Kleides fiel in dekorativen Falten über ihre kleinen, modisch flachen Brüste und wurde um die Hüften von einem schmalen Gürtel zusammengehalten. Der schmalkrem pige Glockenhut war tief in die Stirn gezogen und bedeckte ihren schwarzen Haarschopf. Sie hatte große, fast schwarze Augen. Sie sah sehr jung aus, nicht viel älter als ihr Sohn. Erst als sie den Kopf hob, zeigte sich die harte, entschlossene Linie ihres Kinns. Sie starrten einander an, suchten nach Veränderungen, die die 30
langen Jahre seit ihrer letzter Begegnung bewirkt haben moch ten. »Wie alt sie jetzt sein mag?« fragte sich Lothar, und dann fiel es ihm wieder ein: »Sie ist eine Stunde nach Mitternacht am ersten Tag des Jahrhunderts geboren. Sie ist gleich alt wie das zwanzigste Jahrhundert – deshalb wurde sie Centaine getauft. Also ist sie einunddreißig Jahre alt und sieht noch immer aus wie neunzehn, so jung wie an dem Tag, als ich sie blutend und sterbend im Busch fand, mit den tiefen Wunden von Löwen klauen in ihrem süßen jungen Fleisch.« »Er ist gealtert«, dachte Centaine. »Er muß jetzt über vierzig sein, und er hat gelitten – aber nicht genug. Ich bin froh, daß ich ihn nicht umgebracht habe, ich bin froh, daß meine Kugel sein Herz verfehlte. Jetzt ist er in meiner Gewalt und wird all mählich begreifen, was wahre –« Plötzlich erinnerte sie sich ganz gegen ihren Willen an seinen nackten, glatten, harten Körper, und eine heiße Welle durch fuhr ihre Lenden, ebenso heiß wie das Blut, das ihr in die Wangen stieg, und ebenso heiß wie die Wut gegen sich selbst und ihre Unfähigkeit, ihre animalischen Gefühle zu beherr schen. In allen anderen Dingen war sie durchtrainiert wie ein Athlet, aber diese zügellose Anwandlung von Sinnlichkeit hatte sie noch immer nicht unter Kontrolle. Sie blickte an dem Mann vorbei und sah Shasa draußen im Sonnenlicht stehen. »Machen Sie die Tür zu«, befahl sie mit heiserer, tonloser Stimme. »Kommen Sie herein und machen Sie die Tür zu.« Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fen ster, um ihre Fassung wiederzufinden. Die Tür schloß sich, und Shasa war enttäuscht. Er spürte, daß da etwas Bedeutsames vor sich ging. Dieser blonde Fremde mit den katzengelben Augen, der seinen Namen und dessen Her kunft kannte. Und diese Reaktion seiner Mutter, dieses plötzli 31
che Erröten und der Ausdruck in ihren Augen – und dann diese Unsicherheit, etwas für sie völlig Untypisches. Shasa hätte nur zu gern gewußt, was sich hinter der geschlossenen Tür abspiel te. »Wenn du etwas wissen willst, dann geh und finde es her aus.« Das war einer der Aussprüche seiner Mutter. »Das Fen ster«, dachte er und setzte den Gedanken sofort in die Tat um. Als er, in der Absicht, am offenen Fenster zu lauschen, um die Ecke bog, war er plötzlich Gegenstand der Aufmerksamkeit von fünfzig Augenpaaren. Der Fabriksleiter und die Arbeiter waren noch immer vor dem Haupttor versammelt, und als er um die Ecke des Verwaltungstraktes kam, verstummten sie und musterten ihn genau. Shasa warf den Kopf zurück und änderte seine Marschrich tung. Da sie ihn noch immer beobachteten, steckte er die Hän de in die Hosentaschen und schlenderte mit vollendet gespielter Gleichgültigkeit auf den langen hölzernen Entladesteg zu, so als wäre das von Anfang an seine Absicht gewesen. Nun würde er nicht mehr erfahren, was in dem Büro vor sich ging, außer er konnte es später seiner Mutter entlocken, aber das war sehr unwahrscheinlich. Plötzlich entdeckte er die vier flachen höl zernen Trawler, die am Steg lagen, und seine Enttäuschung ließ ein wenig nach. Boote hatten ihn immer schon fasziniert. Als er den ersten Trawler erreichte, blieb er stehen. Das Boot war verwahrlost und häßlich, und es stank nach brackigem Wasser, Treibstoff und ungewaschenen Männern, die dort auf engstem Raum zusammenlebten. Nicht einmal einen Namen hatte es, nur die Lizenz- und die Zulassungsnummern waren am Bug aufgemalt. Seine eigene Sechs-Meter-Jacht, die ihm seine Mutter zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, hieß The Midas Touch, ein Name, den seine Mutter vorgeschlagen hatte. Shasa rümpfte, angeekelt von dem Gestank des Trawlers und traurig über dessen schändlich verwahrlosten Zustand, die Na 32
se. »Wenn Mutter deshalb die lange Fahrt von Windhuk hier her gemacht hat –« Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, denn ein Junge bog in diesem Augenblick um die Ecke des Ruderhauses. Er trug eine geflickte kurze Segeltuchhose, hatte braune, muskulöse Beine und balancierte auf bloßen Füßen die Luken kimming entlang. Als die Jungen einander erblickten, warfen beide den Kopf zurück und erstarrten wie zwei Hunde, die sich unerwartet ge genüberstehen. Schweigend musterten sie einander. »Ein Luxusbübchen«, dachte Manfred. Er hatte schon einige von dieser Sorte bei ihren seltenen Besuchen in Swakopmund gesehen. Kinder reicher Eltern, die lächerlich steife Kleidung trugen und mit diesem schrecklich hochmütigen Gesichtsaus druck gehorsam hinter ihren Eltern herliefen. »Sieh dir nur sein Haar an, es glänzt von Pomade, und er stinkt wie ein Blumen strauß.« »Einer von den armen weißen Afrikanern«, beurteilte Shasa sein Gegenüber. »Ein Bywoner, ein Arbeiterkind.« Seine Mut ter hatte ihm immer verboten, mit ihnen zu spielen, aber er hatte festgestellt, daß einige unter ihnen recht unterhaltsam waren. Das Verbot seiner Mutter steigerte ihre Anziehungskraft natürlich noch. Einer von den Söhnen des Obermaschinisten in der Mine imitierte so täuschend ähnlich Vogelstimmen, daß die Vögel auf seinen Ruf von den Bäumen herunterflogen. Und die ältere Schwester dieses Jungen, sie war ein Jahr älter als Shasa, hatte ihm, als sie einmal verbotenerweise ein paar Minuten allein hinter dem Pumpenhaus waren, etwas noch Bemerkens werteres gezeigt. Sie hatte ihm sogar erlaubt, es zu berühren, dieses warme, pelzige Ding, das sich wie ein neugeborenes Kätzchen unter ihrem kurzen Baumwollrock verbarg – ein höchst aufregendes Erlebnis, das er bei nächster Gelegenheit zu wiederholen gedachte. Dieser Junge hier sah auch recht interessant aus, vielleicht 33
konnte er Shasa den Maschinenraum des Trawlers zeigen. Er warf einen flüchtigen Blick zur Fabrik zurück. Seine Mutter konnte ihn nicht sehen, und er war bereit, Großmut zu zeigen. »Hallo.« Er machte eine großzügige Geste und lächelte vor sichtig. Sein Großvater, Sir Garrick Courtney, das wichtigste männliche Wesen in seinem Leben, hatte ihn immer ermahnt: »Du nimmst von Geburt eine besonders hohe Stellung in der Gesellschaft ein. Damit hast du nicht nur Vorrechte und Privi legien, sondern auch Verpflichtungen. Ein richtiger Gentleman behandelt die, die unter ihm stehen, ob schwarz oder weiß, alt oder jung, Mann oder Frau, mit Höflichkeit und Respekt.« »Mein Name ist Courtney«, erklärte Shasa. »Shasa Courtney. Mein Onkel ist Sir Garrick Courtney und meine Mutter ist Mrs. Centaine de Thiry Courtney.« Er wartete auf die Unterwürfig keit, die dieser Name gewöhnlich hervorrief, und als nichts dergleichen sich zeigte, fuhr er eher verlegen fort: »Und wie heißt du?« »Ich heiße Manfred«, erwiderte der andere Junge in afrikaans und hob die dichten schwarzen Augenbrauen, die viel dunkler waren als sein strähniges blondes Haar. »Manfred De La Rey. Und mein Großvater, mein Großonkel und mein Vater waren ebenfalls De La Rey und schossen den Engländern das Gehirn aus dem Schädel, wann immer sie einem von ihnen begegne ten.« Dieser unerwartete Angriff ließ Shasa erröten, und er wollte sich schon abwenden, als er sah, daß im Fenster des Ruderhau ses ein alter Mann lehnte, der sie beobachtete, und daß vom Vorderdeck zwei farbige Seeleute nähergekommen waren. Jetzt konnte er nicht den Rückzug antreten. »Wir Engländer haben den Krieg gewonnen und den Rebel len 1914 die Hölle heiß gemacht«, brauste er auf. »Wir!« wiederholte Manfred und wandte sich an sein Publi kum. »Dieser kleine Gentleman mit dem Parfüm im Haar hat den Krieg gewonnen.« Die Schwarzen lachten ermutigend. 34
»Dem Geruch nach sollte er eigentlich Lily heißen – Lily, der parfümierte Soldat.« Manfred drehte sich wieder zu ihm um, und Shasa bemerkte, daß er mindestens einen halben Kopf grö ßer war und beängstigend muskulöse braune Arme hatte. »Du bist also Engländer, was, Lily? Dann lebst du wohl in London, süße Lily?« Shasa war es nicht gewohnt, daß sich ein armer weißer Junge so gewählt ausdrückte oder den Verstand hatte, so ätzende Be merkungen zu machen. Gewöhnlich war er es, der das große Wort führte. »Natürlich bin ich Engländer«, entgegnete er wütend und suchte nach einer scharfen Erwiderung, um dieses Gespräch beenden und sich ehrenhaft zurückziehen zu können. »Dann lebst du also in London«, meinte Manfred hartnäckig. »Ich lebe in Kapstadt.« »Aha!« Manfred wandte sich an sein größer werdendes Pu blikum. Auch Swart Hendrick war von seinem Trawler herü bergekommen. »Deshalb nennt man sie Soutpiel!« verkündete Manfred. Dieser derbe Ausdruck rief schallendes Gelächter hervor. Manfred hätte es nie gewagt, diesen Ausdruck in Ge genwart seines Vaters zu gebrauchen. Übersetzt hieß das Wort »Salzschwanz«. Shasa errötete und ballte bei dieser Beleidi gung unwillkürlich die Fäuste. »Ein Salzschwanz steht mit einem Fuß in London und mit dem anderen in Kapstadt«, erklärte Manfred genüßlich, »und sein Schwanz baumelt in der Mitte über dem salzigen Atlan tik.« »Das wirst du zurücknehmen!« Mehr wußte Shasa vor Wut nicht zu sagen. Kein Tieferstehender hatte jemals so mit ihm geredet. »Zurücknehmen – du meinst, so wie du deine salzige Vor haut zurückziehst? Wenn du damit spielst? Meinst du das?« fragte Manfred. Der Applaus hatte ihn leichtsinnig gemacht, er war näher gekommen und befand sich nun direkt unterhalb der 35
Stelle, wo der Junge auf dem Entladesteg stand. Shasa ließ sich ohne Vorwarnung auf Manfred fallen, der das nicht so bald erwartet hatte. Er hatte gedacht, sie würden noch ein paar Beleidigungen austauschen, bevor sie wütend genug waren, um einander anzugreifen. Shasa sprang aus einer Höhe von fast zwei Metern und traf ihn mit der vollen Wucht seines Körpers und seiner Wut. Pfei fend entwich die Luft aus Manfreds Lungen, dann landeten sie eng umschlungen in dem Haufen toter Fische. Sie wälzten sich herum, und Shasa erschrak über die Kraft, die sein Gegner besaß. Seine Arme waren hart wie Holzbalken, und seine Finger fühlten sich an wie eiserne Fleischerhaken. Nur das Überraschungsmoment und Manfreds augenblickliche Atemnot bewahrten ihn vor einer sofortigen Niederlage. Fast ein wenig zu spät erinnerte er sich an die Ermahnungen von Jock Murphy, seinem Boxlehrer: »Laß dich mit einem stärke ren Mann auf keinen Nahkampf ein. Halt ihn auf Distanz.« Manfred griff nach seinem Gesicht, versuchte mit einem Arm seinen Hals zu umklammern, und sie wühlten sich in den kal ten, glitschigen Fischhaufen. Shasa zog sein rechtes Knie an und stieß es Manfred in die Brust, als dieser sich über ihm auf richtete. Manfred rang nach Luft und wich zurück, aber als Shasa versuchte, sich wegzurollen, warf er sich auf ihn, um seinen Kopf in die Zange zu nehmen. Shasa zog den Kopf ein und befreite sich aus Manfreds Griff. Der Fischschleim, der seinen Hals und Manfreds Arme bedeckte, kam ihm dabei zu gute. Und kaum war er frei, schlug er mit der linken Faust zu. Diese kurze Linke hatte Jock ihn endlos üben lassen. »Diesen Schlag mußt du unbedingt beherrschen.« Es war zwar nicht einer von Shasas besten Schlägen, aber er traf den anderen Jungen kräftig genug am Auge, daß sein Kopf zurückschnellte und er so weit abgelenkt war, daß Shasa auf die Beine kam und zurückweichen konnte. Inzwischen wimmelte es auf dem Steg über ihnen von 36
schwarzen Arbeitern in blauen Monturen und Gummistiefeln. Sie brüllten vor Vergnügen und Aufregung und feuerten die beiden Jungen an, als wären sie Kampfhähne. Manfred ging auf Shasa los, aber die schlüpfrige Masse unter seinen Füßen hinderte ihn, und die linke Gerade traf abermals. Sie kam ohne Vorwarnung, hart und treffsicher, und sie brann te auf seinem geschwollenen Auge, so daß er vor Wut laut auf brüllte und seinen Widersacher zu packen versuchte. Shasa duckte sich unter Manfreds Arm weg und schlug noch einmal zu, so wie Jock es ihm beigebracht hatte. Der Schlag traf Manfreds Mund voll, so daß die Lippen auf platzten und zu bluten begannen. Der Anblick des Blutes ermu tigte Shasa, und das vielstimmige Gebrüll der Menge rief tief in seinem Inneren einen urzeitlichen Instinkt wach. Er ge brauchte abermals seine Linke und knallte sie in das rotge schwollene Auge. »Es funktioniert«, dachte Shasa triumphierend. Doch in die sem Augenblick stieß er rückwärts gegen das Ruderhaus, und Manfred, der seinen Gegner in die Enge getrieben sah, warf sich auf ihn. Verzweifelt duckte Shasa sich, stemmte für einen Augenblick die Beine gegen das Ruderhaus und schnellte nach vorn, seinen Kopf in Manfreds Magen bohrend. Manfred ging abermals die Luft aus, und für ein paar Sekun den wälzten sie sich im Fischhaufen. Dann konnte Shasa sich herauswinden und erreichte halb robbend, halb kriechend das untere Ende der hölzernen Leiter zum Entladesteg. Er zog sich hinauf. Die Menge lachte verächtlich und pfiff, als er floh, und Man fred hechtete heftig keuchend und spuckend hinter ihm her. Shasa war die Leiter halb hinaufgeklettert, als Manfred seine Knöchel zu fassen bekam und ihm beide Füße von den Leiter sprossen riß. Manfred hing, ausgestreckt wie ein Opfer auf der Folterbank, an der Leiter und klammerte sich mit aller Kraft an die oberste Sprosse, um nicht von dem beachtlichen Gewicht 37
seines Gegners losgerissen zu werden. Shasa trat mit dem freien Fuß nach unten und traf mit der Ferse Manfreds geschwollenes Auge. Manfred schrie auf und ließ los, und Shasa zog sich auf den Steg. Der Fluchtweg den Steg hinunter war offen, und er wäre gern davongelaufen. Aber die Männer um ihn herum lachten und höhnten, und sein Stolz ließ eine Flucht nicht zu. Er schaute sich um und sah entsetzt, daß Manfred das obere Ende der Lei ter erreicht hatte. Shasa wußte nicht recht, warum er sich auf diesen Kampf eingelassen hatte oder was der eigentliche Streitpunkt war, er wünschte nur sehnlichst, er könnte sich herauswinden. Aber das war unmöglich. Seine Herkunft, seine Erziehung verboten es. Er versuchte das Zittern zu unterdrücken und drehte sich zu Manfred um. »Mach ihn kalt, Kleinbasie«, brüllten die Schwarzen. »Bring ihn um, kleiner Master.« Ihr Spott rüttelte Shasa auf. Er holte tief Atem, hob seine Fäuste und nahm die klassische Boxerhal tung ein. »Dauernd in Bewegung bleiben«, hatte Jock ihm einge schärft, und er verlagerte sein Gewicht auf die Zehenspitzen und begann Manfred zu umtänzeln. »Seht ihn euch an!« höhnten die Männer. »Er glaubt, er ist Jack Dempsey. Er will mit dir tanzen, Manie. Zeig ihm den Walvis-Bay-Walzer!« Doch Manfred hatte nun gehörigen Respekt vor der verzwei felten Entschlossenheit in den dunkelblauen Augen und vor den weiß hervortretenden Knöcheln an Shasas linker Hand. Er begann ihn zu umkreisen und stieß dabei leise Drohungen aus. »Ich reiß dir den Arm aus und stopf dir damit das Maul. Ich schlag’ dir die Zähne ein, daß sie hinten wie Soldaten in Reih’ und Glied wieder rausmarschieren.« Shasa kniff die Augen zusammen, behielt aber seine Vertei digungsstellung bei. Manfred täuschte mit der Linken, machte 38
einen Ausfallschritt und griff von der Seite an. Trotz seiner Größe und der Wuchtigkeit seiner Beine und Schultern war er sehr schnell. Shasa wirkte im Vergleich zu ihm fast mädchen haft zart. Seine Arme waren dünn und blaß und seine Beine lang und dürr, aber er bewegte sich geschickt auf ihnen. Er blockte Manfreds Angriff ab, und während er auswich, schnell te abermals sein linker Arm nach vorn. Manfreds Zähne stießen unter dem Schlag hörbar gegeneinander, sein Kopf wurde nach hinten geschleudert. »Vat hom, Manie, gib’s ihm!« brüllte die Menge, und Man fred griff neuerlich an und holte weit auf Shasas blasses, glattes Gesicht aus. Shasa duckte sich nach unten weg und stieß seine linke Faust unerwartet und schmerzhaft nach oben auf das dunkelrot ver färbte geschwollene Auge, gerade als Manfred durch seinen eigenen Schwung ein wenig aus dem Gleichgewicht kam. Er legte die Hand über das verletzte Auge und fauchte Shasa an: »Kämpfe, wie es sich gehört, du verdammter Soutpiel.« Gleichzeitig änderte Manfred seine Taktik. Anstatt zu tänzeln und zu täuschen, drang er direkt auf Shasa ein und verteilte die Schläge mit beiden Händen. Shasa wich verzweifelt zurück, duckte sich, tänzelte hin und her und versuchte die Schläge abzuwehren. Er traf Manfreds Auge, die Lippen, das Kinn. Dann kassierte er einen Hieb an der Schläfe und gab es auf, seine linke Gerade anzubringen. Er hatte bereits Mühe, den hämmernden Fäusten auszuweichen, denn seine Beine wurden allmählich lahm und schwer. Manfred griff unaufhörlich und pausenlos an, während Shasa immer langsamer wurde. Eine Faust traf ihn in die Rippen, er stöhnte auf und taumelte, während er die andere Faust direkt auf sein Gesicht zukommen sah. Er konnte dem Schlag nicht ausweichen, daher packte er Manfreds Arm und ließ nicht mehr los. Genau das hatte Manfred gewollt. Er schlang den anderen Arm um Shasas Hals. 39
»Jetzt hab’ ich dich«, murmelte er durch seine blutigen, ge schwollenen Lippen, als er Shasa, dessen Kopf unter seinem linken Arm eingeklemmt war, in die Knie zwang. Dann holte er mit der rechten Faust zu einem brutalen Kinnhaken aus. Shasa ahnte die Faust mehr, als daß er sie sah, und er wand sich so heftig unter Manfreds Griff, daß er das Gefühl hatte, sein Genick würde zerbrechen. Aber er schaffte es, den Kopf so zu drehen, daß der Schlag nicht sein ungeschütztes Gesicht, sondern die Stirn traf. Der Schmerz bohrte sich wie ein Eisen splitter von der Schädeldecke bis ins Rückgrat. Shasa wußte, daß er einen zweiten solchen Schlag nicht mehr aushalten wür de. Durch vor seinen Augen tanzenden Sternen sah er, daß er bis an den Rand des Stegs getaumelt war, und benutzte seine letz ten Kraftreserven, um seinen Gegner weiter zur Kante zu drän gen. Manfred war nicht darauf gefaßt und drückte in die fal sche Richtung. Daher konnte er nicht verhindern, daß sie ge meinsam über den Rand des Stegs torkelten und in den Fisch haufen auf dem zwei Meter tiefer liegenden Trawler fielen. Shasa, immer noch im Zangengriff und vom Körper seines Gegners niedergedrückt, versank augenblicklich in dem Fisch brei. Manfred verlagerte sein ganzes Gewicht auf Shasas Hals und drückte dessen Kopf tiefer in die schleimige Masse. Shasa drohte zu ersticken. Er versuchte zu schreien, doch da bei rutschte ihm ein toter Pilchard in den offenen Mund, und der Kopf des Fisches gelangte bis in seinen Rachen. Mit letzter Kraft versuchte er, sich aus Manfreds eisernem Griff zu befrei en, er schlug mit beiden Händen wild um sich und strampelte, aber sein Kopf wurde unbarmherzig tiefer gedrückt. Durch den Fisch in seiner Kehle bekam er keine Luft mehr. Dunkelheit erfüllte seinen Kopf, in seinen Ohren begann es zu rauschen, so daß er das mörderische Gebrüll der Zuschauer am Landungs steg nicht mehr hörte. »Ich sterbe«, dachte er mit einer eigenartig gleichgültigen 40
Verwunderung. »Ich ersticke –« war sein letzter Gedanke, be vor er das Bewußtsein verlor. »Sie sind hergekommen, um mich zu vernichten«, beschul digte Lothar De La Rey Centaine. »Sie haben den langen Weg nur gemacht, um dabeizusein und Ihren Triumph auszukosten.« »Sie überschätzen sich«, erwiderte Centaine verächtlich. »Ich habe nicht das geringste Interesse an Ihnen persönlich. Ich bin gekommen, um meine nicht unbeträchtliche Investition sicher zustellen. Ich komme wegen fünfzigtausend Pfund plus aufge laufenen Zinsen.« »Wenn das wahr wäre, würden Sie mich nicht daran hindern, meinen Fang zu verarbeiten. Ich habe tausend Tonnen Fisch da draußen – bis morgen abend bei Sonnenuntergang könnte ich fünfzigtausend Pfund daraus machen.« Centaine unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewe gung. »Sie leben in einer Traumwelt«, erklärte sie. »Ihr Fisch ist vollkommen wertlos. Niemand wird ihn kaufen – jedenfalls nicht um fünfzigtausend Pfund.« »Das ist der Fang aber wert – Fischmehl und Konserven –« Sie brachte ihn abermals mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Die Lagerhäuser der ganzen Welt sind randvoll mit unverkäuflicher Ware. Lesen Sie keine Zeitung? Der Fisch ist wertlos – mit dem Erlös können Sie nicht einmal die Verar beitungskosten decken.« Er war wütend und störrisch. »Natürlich habe ich vom Fall der Börsenkurse gehört, aber essen müssen die Leuten trotz dem noch.« »Ich habe alles mögliche von Ihnen angenommen –«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben, »aber für dumm habe ich Sie nie gehalten. Begreifen Sie doch, daß dort draußen in der Welt etwas geschehen ist, das es noch nie gegeben hat. Auf der gan zen Welt ist der Handel zusammengebrochen, auf der ganzen 41
Welt schließen die Fabriken; Legionen von Arbeitslosen füllen die Straßen der Hauptstädte.« »Sie gebrauchen das als Rechtfertigung für das, was Sie tun. Sie verfolgen mich wegen eines eingebildeten Unrechts, das ich vor langer Zeit begangen haben soll.« »Dieses Unrecht haben Sie begangen.« Sie wich vor ihm zu rück, aber seinem Blick hielt sie stand, und ihre Stimme war hart und kalt. »Es war gräßlich und grausam und unverzeihlich, aber keine Strafe, die ich mir für Sie ausdenken könnte, würde dieses Verbrechen sühnen. Wenn es einen Gott gibt, wird er Vergeltung üben.« »Aber das Kind«, setzte er an. »Das Kind, das Sie mir gebo ren haben –« Damit brachte er sie zum ersten Mal ein wenig aus der Fassung. »Lassen Sie Ihren Bastard aus dem Spiel.« Sie umklammerte mit einer Hand die andere, um ihr Zittern zu verbergen. »Das war Teil unserer Abmachung.« »Er ist unser Sohn. Diese Tatsache können Sie nicht abstrei ten. Möchten Sie auch ihn vernichten?« »Er ist Ihr Sohn«, entgegnete sie. »Ich habe nichts mit ihm zu tun. Er beeinflußt weder mich noch meine Entscheidung. Ihre Fabrik ist bankrott, hoffnungslos und unwiderruflich bankrott. Ich kann nicht damit rechnen, daß ich mein Geld zurückbe komme, ich kann nur hoffen, wenigstens einen Teil davon zu retten.« Durch das offene Fenster drang der Laut von Männerstim men. Es klang selbst aus dieser Entfernung wie das aufgeregte und blutrünstige Gebell einer Hundemeute, die Witterung auf genommen hat. »Gib mir eine Chance, Centaine.« Er hörte den bittenden Un terton in seiner Stimme, und das widerte ihn an. Er hatte noch nie jemanden angebettelt, nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben, niemanden, aber diesmal konnte er die Aus sicht, noch einmal ganz von vorn beginnen zu müssen, einfach 42
nicht ertragen. Es war nicht das erste Mal. Er war schon zwei mal seiner Existenz beraubt worden, hatte durch den Krieg und seine Folgen alles verloren, außer seinem Stolz, seinem Mut und seiner Entschlossenheit. Und jedesmal war es derselbe Feind gewesen – die Briten und ihr Streben nach einem Welt reich. Er fühlte sich psychisch und physisch ausgelaugt. Immerhin war er sechsundvierzig Jahre alt; er hatte einfach nicht mehr die Energiereserven eines jungen Mannes. Plötzlich glaubte er, einen weichen Schimmer in ihren Augen zu entdecken, so, als wäre sie von seiner Bitte gerührt und bereit nachzugeben. »Gib mir eine Woche – nur eine Woche, Centaine, das ist al les, worum ich dich bitte.« Er demütigte sich, erkannte aber bald, daß er den Ausdruck in ihren Augen mißdeutet hatte. Was er für Mitgefühl gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Aus druck tiefer Befriedigung. Er war an dem Punkt, wo sie ihn in all den Jahren hatte haben wollen. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich niemals beim Vor namen nennen«, sagte sie. »Ich habe das gesagt, als ich erfuhr, daß Sie zwei Menschen umgebracht haben, die ich über alles liebte. Und ich sage das noch einmal.« »Eine Woche. Nur eine Woche.« »Ich habe Ihnen bereits zwei Jahre gegeben.« Sie wandte sich dem Fenster zu, denn der rauhe Klang der Männerstimmen war mittlerweile nicht mehr zu überhören. Es klang wie das blutrünstige Gebrüll in einer Stierkampfarena. »Durch eine weitere Woche geraten Sie nur noch tiefer in Schulden, und meine Verluste werden größer.« Sie schüttelte den Kopf, doch er sah es nicht, weil seine Aufmerksamkeit dem Lärm draußen galt. »Was geht eigentlich da unten auf dem Steg vor?« fragte sie. Sie stützte ihre Hände auf die Fenster bank und blickte angestrengt zum Strand hinunter. Lothar trat neben sie. In der Mitte des Entladestegs hatte sich ein dichter Menschenknäuel gebildet, und die beschäftigungs 43
losen Packer aus der Fabrik rannten ebenfalls hinunter. »Shasa!« rief Centaine in einer instinktiven Aufwallung von mütterlicher Sorge. »Wo ist Shasa?« Lothar schwang sich blitzschnell über die Fensterbank und jagte zum Steg hinunter. Er überholte die Nachzügler, drängte sich durch die heulende, brüllende Menge und kam gerade da zu, als sich die beiden Jungen auf den Rand des Steges zube wegten. »Manfred!« brüllte er. »Hör auf! Laß ihn los!« Sein Sohn hielt den Kopf des kleineren Jungen unter den Arm geklemmt und bearbeitete ihn mit Faustschlägen. »Du Narr!« Lothar hatte plötzlich Angst, war in echter Sorge um das Kind und vergegenwärtigte sich, wie Centaine reagie ren würde, wenn dem Jungen etwas zustieß. Aber bevor er die beiden erreichen konnte, taumelten sie über den Rand des Landungssteges. »O mein Gott!« Er hörte sie auf dem Deck des Trawlers auf schlagen, und als er die Stelle erreichte und hinunterschaute, lagen sie halb vergraben in der Fischmasse. Lothar kämpfte sich zur Leiter durch und kletterte hinunter. Manfred lag auf dem anderen Jungen und drückte Kopf und Schultern seines Gegners in den Fischhaufen. Sein Gesicht war von Wut verzerrt und durch Schwellungen und Blutergüsse entstellt, und Shasa hörte auf, sich zu wehren. Kopf und Schul tern waren nicht mehr zu sehen, aber sein Rumpf und seine Beine zuckten reflexartig. Lothar packte seinen Sohn an den Schultern und versuchte ihn fortzuziehen. Er riß Manfred gewaltsam los und schleuder te ihn so heftig gegen das Ruderhaus, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Dann griff er nach Shasas Beinen und zog ihn aus dem tödlichen Sumpf von toten Pilchards. Die Augen des Jungen standen offen und waren verdreht, so daß nur das Wei ße zu sehen war. »Du hast ihn umgebracht«, fauchte Lothar seinen Sohn an. 44
Manfred wurde blaß und begann vor Schreck zu zittern. »Das wollte ich nicht, Pa. Das hab’ ich –« In Shasas schlaffem Mund steckte ein toter Fisch, der ihn am Atmen hinderte, und aus seinen Nasenlöchern kam Fisch schleim. »Du Narr, du verdammter Narr!« Lothar griff dem bewußtlo sen Kind in den Mund und holte den toten Fisch heraus. »Tut mir leid, Pa. Das wollte ich nicht«, flüsterte Manfred. »Wenn er tot ist, hast du ein schreckliches Unrecht began gen.« Lothar hob Shasas leblosen Körper hoch. »Dann hast du deinen eigenen –« Er sprach das verhängnisvolle Wort nicht aus. Statt dessen ging er zur Leiter. »Er ist doch nicht tot?« rief Manfred flehentlich hinter ihm her. »Er ist doch nicht tot, oder? Es ist doch alles in Ordnung, nicht wahr, Pa?« »Nein.« Lothar schüttelte grimmig den Kopf. »Nichts ist in Ordnung – niemals.« Er kletterte mit dem bewußtlosen Jungen auf dem Arm die Leiter hinauf. Schweigend traten die Männer vor Lothar zur Seite. Sie wa ren entsetzt und schuldbewußt und wichen seinem Blick aus, als er sich durchdrängte. »Swart Hendrick«, rief Lothar dem großen schwarzen Mann zu. »Du hättest wenigstens so viel Verstand haben müssen, das zu verhindern.« Lothar eilte den Landungssteg hinauf, und keiner von ihnen folgte ihm. Centaine Courtney erwartete ihn auf halbem Wege. »Er ist tot«, flüsterte sie verzweifelt. »Nein«, entgegnete Lothar heftig. Der Gedanke war zu schrecklich. Wie zur Bestätigung begann Shasa zu stöhnen und zu würgen. »Schnell.« Centaine stürzte auf ihn zu. »Nehmen Sie ihn über die Schulter, bevor er an seinem Erbrochenen erstickt.« Lothar nahm Shasa wie einen Hafersack auf die Schulter, 45
rannte die letzten paar Meter zum Büro. Centaine fegte die Sa chen vom Schreibtisch. »Legen Sie ihn hierher«, befahl sie. Shasa kam allmählich wieder zu sich und versuchte sich auf zurichten. Centaine stützte ihn und säuberte mit dem feinen Stoff ihres Ärmels seinen Mund und seine Nasenlöcher. »Das war Ihr Bastard.« Sie starrte Lothar über den Schreib tisch hinweg an. »Er hat das getan, nicht wahr?« Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, daß sie recht hatte. Shasa hustete, würgte und erbrach sich abermals, und sofort fühlte er sich besser. Seine Augen wurden klar und sein Atem ging regelmäßiger. »Verschwinden Sie!« Centaine beugte sich schützend über Shasas Körper. »Scheren Sie sich zum Teufel – samt Ihrem Bastard. Gehen Sie mir endlich aus den Augen.« Die Straße von Walvis Bay nach Swakopmund führte dreißig Kilometer durch die gewundenen Täler zwischen den großen orangefarbenen Dünen, die zu beiden Seiten bis zu hundert zwanzig Meter in die Höhe ragten. Sie bestand bloß aus zwei tiefen Fahrrinnen im Sand, zu beiden Seiten markiert durch glitzernde Scherben von zerbrochenen Bierflaschen. Centaine fuhr konzentriert und schnell, hielt die Geschwindigkeit sogar über Bodenwellen und durch Löcher, wo andere Fahrzeuge steckengeblieben wären, steuerte den großen gelben Wagen mit leichten, geschickten Bewegungen des Lenkrades durch den tiefen Sand. Shasa saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Er trug einen alten, aber frisch gewaschenen Overall aus den Lagerbeständen der Konservenfabrik. Sein schmutziger Anzug lag im Koffer raum des Daimler. Seine Mutter hatte seit ihrer Abfahrt von der Fabrik noch kein Wort gesprochen. Shasa warf ihr einen verstohlenen Blick 46
zu. Er fürchtete ihren verhaltenen Zorn und wollte keinesfalls ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. »Wer hat angefangen?« fragte sie schließlich, ohne ihren Blick von der Straße zu nehmen. Shasa dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß nicht recht. Ich habe zwar als erster zugeschlagen, aber –« Er hielt inne. Seine Kehle schmerzte noch immer. »Ja?« fragte sie. »Es war irgendwie unvermeidlich.« Als sie nichts darauf er widerte, fuhr er lahm fort: »Er hat mich beschimpft.« »Womit?« »Das kann ich dir nicht sagen. Es ist ein unfeines Wort.« »Ich habe dich gefragt, womit?« Ihre Stimme klang ruhig und gelassen, aber er hörte den warnenden Unterton. »Er nannte mich Soutpiel«, sagte er hastig. Er sprach die schreckliche Beleidigung mit leiser Stimme aus und schaute beschämt zur Seite, so daß er nicht sehen konnte, daß Centaine nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte und leicht den Kopf abwandte, um das amüsierte Funkeln in ihren Augen zu ver bergen. »Ich hab’ dir ja gesagt, daß es ein unfeines Wort ist«, ent schuldigte er sich. »Und dann hast du ihn geschlagen – obwohl er jünger ist als du.« Shasa hatte nicht gewußt, daß er der ältere war, aber es über raschte ihn auch nicht, daß sie es wußte. Sie wußte alles. »Er ist vielleicht jünger, aber er ist mindestens einen halben Kopf größer als ich«, verteidigte er sich rasch. Sie hätte Shasa gern gefragt, wie ihr anderer Sohn aussah. Statt dessen sagte sie: »Und daher hat er dich verprügelt.« »Ich hätte fast gewonnen«, widersprach Shasa hartnäckig. »Ich hab’ ihn ganz schön zugerichtet.« »Fast ist nicht genug«, sagte sie. »In unserer Familie gewinnt man nicht fast – wir gewinnen immer.« 47
»Man kann nicht gewinnen, wenn der Gegner größer und stärker ist«, flüsterte er kläglich. »Dann läßt man sich nicht auf einen Boxkampf ein«, erklärte sie, »und läßt sich dann einen toten Fisch in den Hals stecken.« Peinlich berührt von dieser Demütigung, errötete Shasa. »Man wartet seine Gelegenheit ab und bekämpft den Gegner mit den eigenen Waffen und zu den eigenen Bedingungen. Man kämpft nur, wenn man sicher ist, daß man gewinnen kann.« Er dachte eingehend über das Gehörte nach. »Das ist es, was du mit seinem Vater gemacht hast, nicht wahr?« fragte er leise, und sie war so erstaunt über seine feine Witterung, daß sie den Blick für einen Augenblick von der Straße abwandte und der Daimler aus den Fahrrinnen sprang. Rasch brachte sie den Wagen wieder unter Kontrolle und nickte: »Ja, so ist es. Weißt du, wir sind Courtneys. Wir haben es nicht nötig, mit den Fäusten zu kämpfen. Wir kämpfen mit Macht, Geld und Einfluß. Auf diesem Gebiet kann uns nie mand schlagen.« Abermals schwieg er, um das Gehörte zu überdenken. »Ich werde es mir merken«, sagte er. »Wenn ich ihm das nächste Mal begegne, werde ich daran denken.« Der Wind wehte landeinwärts, und der Gestank des verwe senden Fisches war so stark, daß Lothar das Gefühl hatte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Den ganzen Tag hatte Lothar am Fenster des Verwaltungsgebäudes gesessen und seine schwarzen Bootsmannschaften und Fabriksarbeiter, die davor Schlange standen, ausbezahlt. Er hatte seinen alten Lastwagen verkauft und die paar Möbelstücke aus der Well blechbaracke, in der er und Manfred wohnten. Es waren die einzigen Wertsachen, die nicht der Gesellschaft gehörten und daher nicht beschlagnahmt worden waren. Der Erlös zusam men mit dem Bargeld, das Lothar unter den Dielenbrettern der 48
Baracke vergraben hatte, genügten gerade, um seinen Leuten auf jedes Pfund, das er ihnen an rückständigen Löhnen schul dig war, zwei Shillings auszubezahlen. Er hätte sie natürlich nicht bezahlen müssen, das war Sache der Gesellschaft – aber das kam für ihn nicht in Frage, immerhin waren es seine Leute. »Tut mir leid«, sagte er zu jedem einzelnen. »Mehr ist nicht da.« Als alles ausbezahlt war und die letzten seiner Leute in trau rigen kleinen Grüppchen davonmarschierten, verschloß Lothar die Bürotür und überreichte dem Hilfssheriff den Schlüssel. Dann gingen er und der Junge ein letztes Mal hinunter zum Landungssteg, setzten sich Seite an Seite auf den Stegrand und ließen die Beine hinunterbaumeln. »Ich verstehe das nicht, Pa«, murmelte Manfred durch seine geschwollenen, aufgeplatzten Lippen. »Wir haben doch einen guten Fang gemacht. Eigentlich sollten wir reich sein. Was ist geschehen, Pa?« »Wir sind reingelegt worden«, sagte Lothar leise. Nun schlug die Wut in dunklen Wogen über ihm zusammen, und er ver suchte nicht, dagegen anzukämpfen. Vielmehr schwelgte er in seiner Wut, denn das half ihm zu vergessen, wie sehr er sich erniedrigt hatte. »Können wir sie nicht daran hindern, Pa?« fragte der Junge, und beide wußten, wer mit »sie« gemeint war. Sie kannten ih ren Feind. Sie hatten ihn in drei Kriegen kennengelernt: im ersten Burenkrieg 1881, dann wieder im großen Burenkrieg von 1899, als Viktoria ihre Khakikrieger über den Ozean schickte, und schließlich 1914, als die britische Marionette Jannie Smuts die Befehle ihrer britischen Herren ausführte. »Es muß einen Weg geben«, fuhr der Junge beharrlich fort. »Wir sind doch stark.« Er erinnerte sich an das Gefühl, als Shasas Körper unter seinem Griff allmählich schlaff geworden war, und er ballte unwillkürlich die Fäuste. »Es gehört uns, Pa. Dieses Land gehört uns. Gott hat es uns gegeben – so steht es 49
in der Bibel.« Wie so viele vor ihnen hatten die Afrikaner die Bibel auf ihre Weise gedeutet. Sie sahen sich als das auser wählte Volk an und Südafrika als das versprochene gelobte Land. Als Lothar schwieg, zupfte Manfred ihn am Ärmel. »Gott hat es uns doch gegeben, oder Pa?« »Ja.« Lothar nickte bedrückt. »Dann haben sie es uns also gestohlen: das Land, die Dia manten, das Gold und alles andere – und jetzt haben sie uns auch noch unsere Boote und unseren Fang genommen. Es muß doch einen Weg geben, sie aufzuhalten und uns zurückzuholen, was uns gehört.« »So einfach ist das nicht.« Lothar wußte nicht recht, wie er es dem Kind erklären sollte. »Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen, Mani«, sagte er. Sie blieben sitzen, bis die Sonne am Horizont im Meer ver sank, und gingen in der Dunkelheit den Landungssteg hinauf und zu ihrer Unterkunft. Als sie die Baracke betraten, brannte im Küchenherd ein Feuer, und vor dem Herd stand Swart Hendrick. »Der Altwarenhändler hat zwar den Tisch und die Stühle mitgenommen«, sagte er, »aber die Töpfe und Becher habe ich versteckt.« Sie saßen auf dem Boden und aßen aus dem Topf. Während des Essens wurde kein Wort gesprochen. »Du hättest nicht bleiben müssen«, brach Lothar schließlich das Schweigen. Hendrick zuckte die Achseln. »Ich hab’ im Laden Kaffee und Tabak gekauft. Für mehr hat das Geld, das du mir ausbezahlt hast, nicht gereicht.« »Es gibt kein Geld mehr«, sagte Lothar. »Es ist alles dahin.« »Es war schon öfter so.« Hendrick zündete sich mit einem Zweig aus dem Feuer seine Pfeife an. »Wir waren schon ein paarmal pleite.« »Diesmal ist es anders«, erwiderte Lothar. 50
»Es ist schon komisch«, sagte Hendrick. »Als wir sie fanden, war sie in Felle gekleidet. Jetzt kommt sie in ihrem großen gel ben Wagen angefahren, und wir sind diejenigen, die nur noch Lumpen am Leib tragen.« »Ja, wir beide haben ihr das Leben gerettet«, stimmte Lothar zu. »Mehr noch, wir haben auch ihre Diamanten gefunden und ausgegraben.« »Jetzt ist sie reich«, fuhr Hendrick fort, »und kommt, um uns auch das letzte Geld wegzunehmen. Das hätte sie nicht tun dürfen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. Lothar richtete sich langsam auf. Als Hendrick seinen Ge sichtsausdruck sah, beugte er sich gespannt vor, und der Junge wurde aufmerksam und lächelte zum ersten Mal wieder. »Na endlich.« Hendrick begann zu grinsen. »Was ist es diesmal? Mit dem Elfenbein ist’s vorbei –« »Nein, nicht Elfenbein. Diesmal sind es Diamanten«, erwi derte Lothar. »Diamanten?« Hendrick ließ sich zurücksinken. »Welche Diamanten?« »Na welche wohl?« Lothar grinste ihm zu, und seine gelben Augen funkelten. »Natürlich die Diamanten, die wir für sie gefunden haben.« »Ihre Diamanten?« Hendrick starrte ihn entgeistert an. »Die Diamanten aus der H’ani-Mine?« »Wieviel Geld hast du noch?« fragte Lothar, und Hendrick wich seinem Blick aus. »Ich kenne dich doch«, fuhr Lothar ungeduldig fort und packte ihn an der Schulter. »Du hast im mer eine kleine Reserve beiseite gelegt. Wieviel?« »Nicht viel.« Hendrick versuchte aufzustehen, aber Lothar hielt ihn zurück. »Du hast gut verdient in dieser Saison. Ich weiß genau, wie viel ich dir bezahlt habe.« »Fünfzig Pfund«, brummte Hendrick. »Nein.« Lothar schüttelte den Kopf. »Es muß mehr sein.« 51
»Vielleicht ein bißchen mehr.« Hendrick gab sich geschla gen. »Du mußt an die hundert Pfund haben«, sagte Lothar be stimmt. »Und das ist genau die Summe, die wir brauchen. Gib es mir. Du weißt, daß du es zehnfach zurückbekommst. Das war immer so und wird immer so sein.« Der Pfad, dem die kleine Gesellschaft beim Schein der ersten Sonnenstrahlen folgte, war steil und steinig. Sie hatten den gelben Daimler im Tal am Ufer des Liesbeek-Flüßchens zu rückgelassen und waren im gespenstisch grauen Licht der Morgendämmerung aufgebrochen. An der Spitze gingen zwei alte Männer in unansehnlichen Anzügen, mit abgetragenem Schuhwerk und fleckigen, ausge beulten Strohhüten auf den Köpfen. Sie waren beide mager, als hätten sie lange hungern müssen. Ihre Haut war braun und fal tig wie gegerbtes Leder, so daß ein unbeteiligter Beobachter sie für zwei alte Landstreicher hätten halten können. Der unbeteiligte Beobachter hätte sich gründlich geirrt. Der größere der beiden alten Männer, der sich hinkend auf einer Beinprothese fortbewegte, war Komtur des Order of the British Empire, Träger des Viktoriakreuzes, der höchsten Tapferkeits auszeichnung, die das Empire zu vergeben hatte, außerdem einer der bedeutendsten Militärhistoriker des Jahrhunderts – und so reich und gleichgültig gegenüber allen irdischen Gütern, daß er sich nur selten die Mühe machte, seine Vermögenswerte zu zählen. »Ja, Garry«, sagte sein Gefährte zu ihm – eigentlich hätte er ihn mit Sir Garrick Courtney anreden müssen –, »das ist im Augenblick unser größtes Problem.« Er sagte das mit hoher, fast mädchenhafter Stimme. »Die Leute verlassen das Land und überschwemmen die Städte. Die Farmen veröden, und in den Städten gibt es keine Arbeit für sie.« Sein Atem ging ganz 52
gleichmäßig, obwohl sie ohne Pause den steilen Hang des Ta felberges emporgeklettert waren und mit ihrem Schrittempo alle jüngeren Mitglieder der Gesellschaft hinter sich gelassen hatten. »Das könnte zu einer Katastrophe führen«, stimmte Sir Gar rick zu. »Das Leben auf den Farmen ist nicht gerade üppig, aber in den Städten müssen die Leute hungern. Und hungernde Menschen sind gefährlich, Ou Baas. Das lehrt uns die Ge schichte.« Der Mann, den er »Ou Baas« – alter Meister – nannte, war von kleinerer Statur, hielt sich aber gerader. Er hatte muntere blaue Augen und einen grauen Spitzbart, der beim Sprechen wackelte. Im Gegensatz zu Garry war er nicht reich; er besaß nur eine kleine Farm auf dem rauhen Hochland von Transvaal und ging mit seinen Schulden ebenso sorglos um wie Garry mit seinem Vermögen. Aber die Welt hatte ihn mit Ehrentiteln überhäuft. Fünfzehn führende Universitäten auf der ganzen Welt, unter anderem Oxford, Cambridge und Columbia, hatten ihm das Ehrendoktorat verliehen. Er war Ehrenbürger von zehn Städten, darunter London und Edinburgh. Er war Burengeneral gewesen und nun General in der Armee des British Empire, er war Geheimer Staatsrat, Ehrenritter, Kronanwalt, Altmitglied des Middle Temple und Mitglied der Königlich Britischen Akademie der Naturwissenschaften. Er war zweifellos der klügste, gescheiteste, charismatischste und einflußreichste Mann, den Südafrika je hervorgebracht hatte. Sein Geist schien zu groß, um durch Landesgrenzen im Zaum gehalten werden zu können. Und das war auch die einzige Schwachstelle in sei nem Panzer, die von den Giftpfeilen seiner Feinde immer wie der durchbohrt worden war. »Sein Herz ist jenseits des Ozeans, nicht hier bei euch«, hatten sie argumentiert und damit ihn und seine Partei um die Regierungsmacht gebracht. Er war in dieser Zeit Premierminister, Verteidigungsminister und Außenmini ster gewesen und war nun Oppositionsführer. Er selbst sah sich 53
allerdings als Botaniker aus Berufung und als Soldat und Poli tiker nur aus Notwendigkeit. »Warten wir besser auf die anderen.« General Jan Smuts blieb auf einer von Flechten bewachsenen Felsplattform stehen und stützte sich auf seinen Stock. Beide spähten den Abhang hinunter. Etwa hundert Meter tiefer arbeitete sich eine Frau wild ent schlossen den Pfad herauf. Ihre Hüften, die sich umrißhaft un ter dem schweren Kattunrock abzeichneten, waren dick und kräftig wie die Keulen einer Zuchtstute, und die entblößten Oberarme waren muskulös wie die eines Ringers. »Mein kleines Täubchen«, murmelte Sir Garry zärtlich, als er seine neuvermählte Frau beim Aufstieg beobachtete. Nach vierzehn langen Jahren des Werbens hatte sie ihm knapp sechs Monate zuvor endlich ihr Jawort gegeben. »Schneller, Anna«, drängte der Junge, der hinter ihr den schmalen Pfad heraufkam. »Es wird Mittag, bis wir den Gipfel erreichen, und ich sterbe vor Hunger.« Shasa war so groß wie sie, wenn auch nur halb so breit. »Geh doch vor, wenn du es so eilig hast«, knurrte sie ihn an. Sie hatte den schweren Tropenhelm tief ins rote, rundliche Ge sicht gezogen. Dieses Gesicht war so faltig wie das einer freundlichen Bulldogge. »Warum muß man überhaupt auf die sen verfluchten Berg hinauf –« »Ich schiebe dich«, bot Shasa an und stemmte seine Hände gegen Lady Courtneys massiges rundes Hinterteil. »Ho ruck!« »Hör auf mit dem Unsinn, du Bengel«, stieß Anna hervor und hielt sich mit Mühe im Gleichgewicht. Bevor sie Lady Courtney wurde, war sie einfach Anna gewe sen, Shasas Kindermädchen und die geliebte Zofe seiner Mut ter. Ihr kometenhafter Aufstieg auf der gesellschaftlichen Lei ter hatte ihrer beider Beziehungen in keiner Weise verändert. Sie kamen lachend und keuchend bei den beiden Männern auf dem Felsvorsprung an. »Hier ist sie, Großvater! Spezial 54
transport!« sagte Shasa grinsend zu Garry Courtney. »Anna, Liebling, du solltest den Jungen nicht so in Anspruch nehmen«, mahnte er sie in gespieltem Ernst, und sie schlug ihm halb scherzhaft, halb empört auf den Arm. Sie hatte noch im mer einen starken flämischen Akzent und fiel dankbar in Afri kaans, als sie sich an General Smuts wandte. »Wie weit ist es noch, Ou Baas?« »Nicht mehr weit, Lady Courtney, seien Sie unbesorgt. Ah! Da sind auch die anderen.« Weiter unten am Hang tauchten am Waldrand Centaine und ihre Begleiter auf. Centaine trug ein loses weißes Kleid und einen weißen Strohhut, der mit künstlichen Kirschen verziert war. Als die Nachzügler bei der kleinen Gruppe anlangten, wandte sich Centaine lächelnd an General Smuts: »Ich bin vollkommen erschöpft, Ou Baas. Darf ich mich für die letzten Meter auf Sie stützen?« Und obwohl ihr die Anstrengung of fensichtlich nicht das geringste ausmachte, bot er ihr galant seinen Arm, und sie erreichten als erste den Gipfel. Das alljährliche Picknick auf dem Tafelberg war für die Fa milie die traditionelle Form, Sir Garrick Courtneys Geburtstag zu feiern, und für seinen alten Freund General Smuts war es Ehrensache, dieses Ereignis nie zu verpassen. Auf dem Gipfel ließ sich die Gruppe verstreut ins Gras nie der, um Atem zu schöpfen. Centaine und der alte General sa ßen etwas abseits von den anderen. Unter ihnen lag das weite Constantiatal mit seinem Schachbrettmuster aus Weingärten im saftiggrünen Sommerkleid. General Smuts unterbrach schließlich die Stille. »Nun, Cen taine, meine Liebe, was wollten Sie mit mir besprechen?« »Sie sind ein Gedankenleser, Ou Baas.« Centaine lachte zag haft. »Woher wissen Sie, daß ich mit Ihnen sprechen wollte?« »Wenn mich heutzutage ein hübsches Mädchen beiseite nimmt, kann ich sicher sein, daß es ums Geschäft geht und nicht ums Vergnügen.« Er zwinkerte ihr zu. 55
»Sie sind einer der faszinierendensten Männer, die ich kenne –« »Oh! Welch Kompliment! Es muß sich um etwas sehr Wich tiges handeln.« Ihr Gesichtsausdruck bestätigte es. »Es geht um Shasa«, sag te sie nur. »Da sehe ich kein Problem – oder ich müßte mich doch sehr irren.« Sie zog ein Blatt aus der Rocktasche und reichte es ihm. Es war ein Schulzeugnis. Den oberen Rand der Urkunde zierte eine geprägte Bischofsmütze, Emblem der vornehmsten Schule des Landes. Der General warf einen flüchtigen Blick darauf. Centaine wußte, wie schnell er selbst komplizierte Gesetzesblätter lesen konnte, daher war sie nicht überrascht, als er ihr das Dokument fast augenblicklich wieder zurückgab. General Smuts lächelte ihr zu. »Sie können stolz auf ihn sein.« »Er bedeutet mir alles.« »Ich weiß«, sagte er. »Und das ist nicht immer gut. Aus dem Kind wird nur zu bald ein Mann, und wenn er geht, nimmt er Ihr Leben mit.« »Er sieht gut aus, ist intelligent und kann mit Menschen um gehen, selbst mit solchen, die viel älter sind als er«, erwiderte sie. »Ich würde mir einen Sitz im Parlament für ihn wünschen, um es rundheraus zu sagen.« Der General nahm den Filzhut ab und strich mit der Handflä che sein silbernes Haar zurück. »Ich denke, er sollte erst seine Ausbildung beenden, bevor er ins Parlament einzieht, meinen Sie nicht auch, meine Liebe?« meinte er lächelnd. »Darum geht es ja. Genau das ist es, was ich von Ihnen wis sen möchte, Ou Baas. Soll Shasa zu Hause in Oxford oder Cambridge studieren, oder könnte ihm das später bei seiner Wählerschaft schaden? Sollte er besser eine der hiesigen Uni 56
versitäten besuchen – und wenn ja, kämen dann eher Stellen bosch oder Kapstadt in Frage?« »Ich werde darüber nachdenken, Centaine, und Sie beraten, wenn es soweit ist. Aber nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mir erlaube, Sie auf etwas hinzuweisen, auf eine Einstel lung, die Ihre Pläne für den jungen Mann beeinflussen könnte.« »Bitte, Ou Baas«, bat sie. »Ihre Meinung ist so viel wert wie –« »Dieses ›zu Hause‹ – ist eine fatale Ausdrucksweise. Shasa muß selbst entscheiden, wo seine wahre Heimat ist, und sollte er sich für Europa entscheiden, darf er nicht auf meine Hilfe zählen.« »Wie dumm von mir.« Er sah, daß sie sich aufrichtig über sich selbst ärgerte. Ihre Wangen röteten sich, sie preßte die Lippen aufeinander. Soutpiel. Sie mußte an den Spottnamen denken. Ein Fuß in London, der andere in Kapstadt. Es war nun gar nicht mehr lustig. »Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Arm, um ihre Aufrichtigkeit zu unterstreichen. »Können wir jetzt frühstücken, Mutter?« rief Shasa herüber. »Selbstverständlich. Trag den Picknickkorb zu dem Bach dort drüben.« Sie wandte sich wieder dem alten Mann zu. »Kann ich auf Sie zählen?« »Ich bin in der Opposition, Centaine –« »Das wird nicht lange so bleiben. Das Land muß wieder zur Vernunft kommen, spätestens bei der nächsten Wahl.« »Sie müssen einsehen, daß ich Ihnen im Augenblick nichts versprechen kann.« Er wählte die Worte sehr vorsichtig. »Er ist noch ein Kind. Aber ich werde ihn im Auge behalten. Wenn sich die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen und er meinen Erwartungen entspricht, dann wird er meine volle Unterstüt zung haben. Gott weiß, wie dringend wir tüchtige Männer brauchen.« Sie seufzte erleichtert auf, und er fuhr ein wenig gelöster fort: 57
»Sean Courtney war einer meiner fähigsten Minister.« Dieser Name ließ Centaine zusammenzucken. Er rief so viele Erinnerungen und Gefühle in ihr wach, freundliche wie schmerzliche. Aber der alte Mann schien es nicht bemerkt zu haben, denn er fuhr fort: »Er war außerdem ein guter und zuverlässiger Freund. Ich würde es begrüßen, wieder einen Courtney in mei ner Regierung zu haben, einen treuen Freund, jemanden, auf den ich mich verlassen kann.« Er erhob sich und half ihr auf. »Ich bin genau so hungrig wie Shasa und kann dem Duft einfach nicht mehr widerstehen.« Doch als das Essen ausgeteilt wurde, aß der General nur we nig, während die anderen, angeführt von Shasa, den mitge brachten Köstlichkeiten mit großem Appetit zusprachen. Centaine beobachtete ihren Sohn voll Stolz, und ihre Gedan ken wanderten zurück zu dem Tag, als er geboren worden war, jenem Tag, als der alte Buschmann ihm den Namen Shasa – »gutes Wasser« – gab und im heiligen Tal mitten in der Kala hari für ihn tanzte. Sie erinnerte sich an das Geburtslied, das der alte Mann komponiert hatte und in der schnalzenden, klik kenden Buschmannsprache vortrug: »Seine Pfeile werden zu den Sternen fliegen,
und wenn die Männer seinen Namen sagen,
wird es weithin schallen –
– und er wird gutes Wasser finden,
wo immer er ist, er wird gutes Wasser finden.«
Sie sah das Gesicht des alten, längst verstorbenen Busch mannes vor sich und flüsterte leise in der Buschmannsprache: »Laß es so werden, alter Großvater. Laß es so werden.«
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Auf der Rückfahrt hatten kaum alle im Daimler Platz, so daß Anna auf Sir Garrys Schoß sitzen mußte und ihn mit ihrer Fülle beinahe erdrückte. Centaine steuerte zügig durch das kunstvoll geschwungene weiße Haupttor des Landsitzes. Der Ziergiebel, der eine Grup pe tanzender Nymphen mit Weintrauben darstellte, war von dem berühmten Bildhauer Anton Anreith entworfen worden. Der Name des Gutes stand in erhabenen Lettern über der Skulptur: WELTEVREDEN 1790 »Sehr zufrieden« hieß das aus dem Holländischen übersetzt. Centaine hatte den Besitz genau ein Jahr, nachdem sie sich die Schürfrechte der H’ani-Mine gesichert hatte, von der berühm ten Familie Cloete gekauft und seither viel Geld, Sorgfalt und Liebe in den Landsitz investiert. Sie verlangsamte die Geschwindigkeit auf fast Schrittempo. »Ich möchte wegen der Weinreben keinen Staub aufwirbeln«, erklärte sie General Smuts. Die farbigen Arbeiter an den Weinstöcken richteten sich auf und winkten, als sie vorbeifuhren. Riesige Eichen säumten die Straße, die durch zweihundert Morgen Weingärten zum Gut hinaufführte. Der Rasen rund um das große Haus war hellgrü nes Kikuyugras. In seiner Mitte stand der hohe Turm mit der Sklavenglocke, die noch immer dazu da war, den Anfang und das Ende des Arbeitstages zu verkünden. Dahinter erhoben sich die schneeweißen Mauern und massiven Giebel von Weltevre den. Als die Gesellschaft aus dem großen gelben Wagen stieg, kamen die Dienstboten geschäftig aus dem Haus geeilt. »Mittagessen ist um halb zwei«, verkündete Centaine ener gisch. »Ou Baas, ich weiß, daß Ihnen Sir Garry sein letztes Kapitel vorlesen möchte. Cyril und ich haben noch ein volles 59
Vormittagsprogramm vor uns.« Sie unterbrach sich. »Shasa, wo willst du hin?« Der Junge war bis zum Ende der Veranda geschlendert und gerade im Begriff, sich davonzumachen. Seufzend drehte er wieder um. »Jock und ich wollten das neue Pony einarbeiten.« Das neue Polopony war Cyrils Weihnachtsgeschenk für Shasa gewesen. »Madame Claire wartet sicher schon auf dich«, erklärte Cen taine. »Wir waren uns doch einig, daß deine Mathematikkennt nisse eine Aufbesserung nötig haben, oder nicht?« »Ach, Mutter, es sind doch Ferien –« »Jeden Tag, den du müßig vergeudest, nützt irgendwo ein anderer. Und wenn er dir begegnet, wird er dich mit Leichtig keit schlagen.« »Ja, Mutter.« Diese Prophezeiung hatte Shasa schon oft ge hört. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg zu seiner Privatlehrerin. Anna verschwand im Haus, und Garry entführte General Smuts, um sein neues Manuskript mit ihm zu besprechen. »Also dann«, wandte sich Centaine an Cyril, »gehen wir an die Arbeit.« Er folgte ihr durch die doppelflügelige schwere Eingangstür und durch die weitläufige Halle zu ihrem Arbeits zimmer. Ihre Sekretäre erwarteten sie bereits. Beide waren gutausse hende junge Männer. Die dauernde Anwesenheit anderer weib licher Wesen hätte Centaine nicht ertragen. Sie setzte sich an den langen Louis-quatorze-Tisch, der ihr als Schreibtisch diente. Vor ihr standen zehn silbergerahmte Fotografien von Shasas Vater, die ihn in jedem Alter, vom Schulknaben bis zum schneidigen jungen Flieger in Uniform, zeigten. Auf dem letzten Foto war er zusammen mit den ande ren Piloten seiner Staffel vor ihren einsitzigen Aufklärern zu sehen. Die Hände in den Taschen, die Mütze weit nach hinten geschoben, grinste Michael Courtney aus dem Foto, seiner Un 60
sterblichkeit scheinbar ebenso sicher wie an jenem Tag, als er in seinem brennenden Flugzeug den Tod fand. Das erste, womit sich Centaine beschäftigte, war stets die Mine. Die H’ani-Mine war Ursprung aller Dinge, und während Centaine arbeitete, sehnte sie sich wie so oft nach der Weite der Kalahari, nach jenen geheimnisvollen blauen Bergen und dem heiligen Tal, das jahrtausendelang die Schätze der H’ani geborgen hatte, bevor sie, hochschwanger, in Fell und Lumpen gekleidet und wie ein Tier der Wüste lebend, über diese Schät ze gestolpert war. Der Wüste gehörte ein Teil ihrer Seele, sie fühlte eine freudi ge Erregung in sich aufkommen. »Morgen«, dachte sie, »mor gen werden Shasa und ich dorthin zurückkehren.« Die üppigen Weingärten des Constantiatales und das Gut Weltevreden wa ren auch ein Teil von ihr, doch sooft sie ihrer überdrüssig wur de, mußte sie in die Wüste zurückkehren, um ihre Seele von der grellen, glühenden Kalaharisonne reinigen zu lassen. Nachdem sie die letzten Dokumente unterschrieben und ihrem Chefsekretär zum Beglaubigen und Versiegeln übergeben hat te, stand sie auf und trat an die offene Glastür. Unten auf der Koppel hinter den ehemaligen Sklavenunter künften trainierte Shasa, endlich von seiner Mathematikstunde erlöst, unter Jock Murphys kritischem Blick sein Pony. Jock Murphy war eine von Centaines Entdeckungen. Er war ein untersetzter, muskulöser Mann mit kurzem Hals und völlig kahlem Schädel. Er hatte im Leben schon alles gemacht: er hatte in der Königlich Britischen Marine gedient, war Berufs boxer gewesen, Opiumschmuggler, Milizchef bei einem indi schen Maharadscha, Pferdetrainer, Rausschmeißer in einer Spielhölle in Mayfair, und war jetzt Shasas Trainer. Er war ein Meisterschütze, ein ausgezeichneter Polospieler und unschlag bar am Billardtisch. Er hatte im Ring einen Mann umgebracht, war beim Grand National in Aintree mitgeritten, und er behan delte Shasa wie seinen eigenen Sohn. 61
Ungefähr alle drei Monate ließ er sich mit Whisky vollaufen und verwandelte sich in einen leibhaftigen Teufel. Dann mußte Centaine jemanden zur Polizeiwache hinunterschicken, um den von Jock angerichteten Schaden zu bezahlen und ihn durch Erlegung einer Kaution aus der Haft rauszuholen. Jedesmal stand er dann, den Filzhut an die Brust gedrückt, leicht schwankend und beschämt vor ihrem Schreibtisch und ent schuldigte sich. Es war immer nützlich, eines Mannes Schwäche zu kennen: Das war die Leine, um ihn festzuhalten, und ein Druckmittel, um ihn auf Trab zu bringen. In Windhuk gab es keine Arbeit für sie. Sie hatten die weite Strecke teils zu Fuß, teils als Mitfahrer auf Lastwagen und Fuhrwerken zurückgelegt, und als sie die Stadt erreichten, ka men sie im Obdachlosenlager neben den Eisenbahngleisen am Stadtrand unter. Mit stillschweigender Billigung der Behörden durften die zahllosen Landstreicher, Obdachlosen und Arbeitslosen hier mit ihren Familien kampieren, aber die Polizei hatte ein wach sames Auge auf sie. Die Hütten bestanden aus Teerpappe und altem verrostetem Wellblech. Vor jeder kauerten mutlose Männer und Frauen. Nur die Kinder – braun, mager, schmutzig – waren laut und fast herausfordernd ausgelassen. Im ganzen Lager stank es nach Rauch und Urin. Alle besseren Plätze waren bereits besetzt, daher hatten sie ihr Lager unter einem kleinen Kameldornbaum aufgeschlagen und Teerpappe über die unteren Äste gelegt, um Schatten zu haben. Swart Hendrick kauerte neben dem Feuer und ließ weißes Maismehl bedächtig in einen rauchgeschwärzten Kessel mit kochendem Wasser rieseln. Er blickte auf, als Lothar, der wie der einmal erfolglos auf Arbeitssuche fortgewesen war, zu 62
rückkehrte. Lothar schüttelte nur schweigend den Kopf, und Hendrick wandte sich wieder dem Kochtopf zu. »Wo ist Manfred?« Hendrick deutete mit dem Kopf auf eine Hütte in der Nähe. Dort saßen ein paar zerlumpte Männer um einen großen bärti gen Mann und hörten ihm fasziniert zu. Er hatte die bewegten Züge und den fanatischen Blick des Eiferers. »Mal Willem«, murmelte Hendrick. Der verrückte Willem. Lothar seufzte. Er entdeckte Manfreds hellen Blondschopf un ter den anderen. Beruhigt, daß der Junge in Sicherheit war, holte er die Pfeife aus der Brusttasche. Der schwarze Tabak war würzig und stark, aber billig. Es schmeckte widerlich, hatte aber fast augenblick lich eine beruhigende Wirkung. Lothar warf Hendrick den Ta baksbeutel zu und lehnte sich gegen den Stamm des Kamel dornbaumes. »Und du, was hast du rausgefunden?« Hendrick hatte nahezu die ganze Nacht und den halben Vor mittag im Schwarzenviertel am anderen Ende der Stadt zuge bracht. Will man die intimsten Geheimnisse eines Menschen wissen, muß man die Dienstboten befragen, die ihm das Essen servieren und das Bett machen. »Ich hab’ rausgefunden, daß man hier nichts auf Kredit zum Trinken kriegt – und daß es die Mädchen von Windhuk nicht bloß aus Liebe machen.« Er grinste. Lothar spuckte aus und warf einen flüchtigen Blick auf sei nen Sohn. Es beunruhigte ihn ein wenig, daß der Bengel den Jungen seines Alters auswich und bei den Männern rumsaß. Doch die Männer schienen ihn zu akzeptieren. »Und was noch?« fragte er Hendrick. »Der Mann heißt Fourie. Er arbeitet seit zehn Jahren bei der Mine. Kommt jede Woche mit vier oder fünf Lastern her und fährt bis oben voll mit Proviant und Ausrüstung zurück.« »Weiter.« 63
»Außerdem kommt er jeden ersten Montag im Monat mit den vier anderen Fahrern in einem kleineren Laster her, und alle sind sie mit Schrotflinten und Pistolen bewaffnet. Sie fahren direkt zur Standard Bank in der Main Street. Der Bankdirektor und seine Mitarbeiter erwarten sie am Seiteneingang. Fourie und einer seiner Fahrer tragen eine kleine Eisenkassette in die Bank. Nachher gehen Fourie und seine Männer in die Bar an der Ecke und trinken bis zur Sperrstunde. Am Morgen darauf fahren sie zurück zur Mine.« »Einmal im Monat«, flüsterte Lothar. »Sie bringen die Pro duktion eines ganzen Monats auf einmal zur Bank.« Er schaute Hendrick an. »Die Bar an der Ecke, sagst du?« Und als der große schwarze Mann nickte: »Ich brauche zehn Shilling.« »Wofür?« Hendrick war sofort mißtrauisch. »Einer muß dem Barkeeper einen Drink spendieren, und an Schwarze schenken sie in der Bar nicht aus.« Lothar grinste hämisch und rief dann: »Manfred!« Der Junge hatte so gebannt zugehört, daß ihm die Rückkehr seines Vaters entgangen war. Er sprang schuldbewußt auf. Hendrick schöpfte Maisbrei in den Deckel des Kessels und goß eingedickte Sauermilch, den sogenannten Maas, darüber, bevor er es Manfred reichte, der sich mit gekreuzten Beinen neben seinem Vater niedergelassen hatte. »Hast du gewußt, daß das alles ein Komplott der jüdischen Goldminenbesitzer in Johannesburg ist, Papa?« fragte Manfred. »Was?« brummte Lothar. »Die Depression«, erklärte Manfred bedeutsam, denn er hatte dieses Wort gerade zum ersten Mal gehört. »Die Juden und Engländer haben das inszeniert, damit die Männer gezwungen sind, um einen Hungerlohn in ihren Minen und Fabriken zu arbeiten.« »Was du nicht sagst!« Lothar löffelte lächelnd seinen Mais brei. »Dann haben die Juden und die Engländer wohl auch die Dürreperioden inszeniert?« Sein Haß gegen die Engländer hielt 64
sich innerhalb der Grenzen der Vernunft, hätte jedoch nicht stärker sein können, wenn die Engländer tatsächlich für die Trockenheit verantwortlich gewesen wären, die so viele Far men seiner Landsleute in sandiges Ödland verwandelt hatte. »Wirklich, Papa!« rief Manfred. »Ohm Willem hat es uns er klärt.« Er zog ein zusammengefaltetes Stück Zeitungspapier aus der Gesäßtasche und breitete es auf seinem Knie aus. »Schau dir das hier an!« Bei der Zeitung handelte es sich um Die Vaderland – Das Vaterland – ein Blatt in Afrikaans, und die Karikatur, auf die Manfred mit vor Empörung zitterndem Finger zeigte, war ty pisch für diese Zeitung: »Seht, was die Juden uns antun!« Hauptfigur der Karikatur war Hoggenheimer, eine Erfindung der Zeitung: ein Jude, der als plumper Mensch in Frack und Gamaschen dargestellt war. Auf seiner Krawatte prangte ein riesiger Diamant, und auch an den Fingern beider Hände fun kelten Diamantringe. Die dunklen semitischen Ringellocken krönte ein Zylinder, und der Mann hatte eine dicke, hängende Unterlippe und eine gewaltige Hakennase, deren Spitze fast das Kinn berührte. Seine Taschen waren mit Fünfpfundnoten ge füllt, und er schwang eine lange Peitsche und trieb damit ein vollbeladenes Fuhrwerk, das anstelle der Ochsen von skelettar tig abgemagerten Menschen gezogen wurde, auf ein fernes Stahlgerüst zu, das die Aufschrift »Goldmine« trug. Lothar lachte leise und gab seinem Sohn die Zeitung zurück. »Wenn es so einfach wäre …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist es auch, Papa! Alles, was wir zu tun haben, ist, die Juden loszuwerden, hat Ohm Willem gesagt.« Lothar wollte gerade etwas erwidern, als er bemerkte, daß der Essensgeruch drei Kinder aus dem Lager angelockt hatte. Sie waren in höflicher Entfernung stehengeblieben und sahen ihnen beim Essen zu. Da war ein älteres Mädchen von etwa zwölf Jahren, blond und so dünn, daß ihr Gesicht nur aus Knochen und Augen zu 65
bestehen schien. Sie hatte hohe Backenknochen, eine gerade Stirn, und ihre Augen waren hellblau wie der Wüstenhimmel. Ihr Kleid bestand aus alten, zusammengenähten Mehlsäcken, und sie trug keine Schuhe. Die beiden kleineren Kinder, die sich an ihren Rock klam merten, waren ein Junge mit kahlgeschorenem Kopf und abste henden Ohren und ein kleines daumenlutschendes Mädchen mit tropfender Nase. Lothar schaute weg, aber er hatte plötzlich keinen Appetit mehr und kaute nur mit Mühe. Er merkte, daß auch Hendrick nicht zu den Kindern hinschaute. Manfred hatte sie nicht be merkt und brütete noch immer über der Zeitung. »Wenn wir ihnen zu essen geben, haben wir die Gören des ganzen Lagers auf dem Hals«, murmelte Lothar und beschloß, nie wieder in aller Öffentlichkeit zu essen. »Wir haben gerade noch genug für heute abend«, stimmte Hendrick zu. »Das können wir nicht teilen.« Lothar hob den Löffel an den Mund und ließ ihn wieder sin ken. Er betrachtete für einen Augenblick das Essen auf seinem Blechteller, dann winkte er das ältere Mädchen heran. Sie kam schüchtern näher. »Da, nimm«, befahl Lothar barsch. »Danke, Ohm«, flüsterte sie. Sie ließ den Teller flugs unter ihrem Rock verschwinden, um ihn fremden Blicken zu entziehen, dann zerrte sie die beiden Kleinen mit sich fort. Die drei verschwanden zwischen den Hütten. Eine Stunde später kehrte das Mädchen zurück. Teller und Löffel waren so lange poliert worden, bis sie glänzten. »Hat der Ohm ein Hemd oder sonst etwas, das ich für ihn waschen kann?« fragte sie. Lothar öffnete seinen Tornister und gab ihr seine und Man freds schmutzige Wäsche. Bei Sonnenuntergang brachte sie die Wäsche zurück. Sie war fein säuberlich zusammengelegt und 66
roch schwach nach Karbolseife. »Tut mir leid, Ohm, ich hab’ leider kein Bügeleisen.« »Wie heißt du?« fragte Manfred sie unvermutet. Sie drehte den Kopf nach ihm, wurde rot und blickte zu Boden. »Sarah«, flüsterte sie. Lothar knöpfte das saubere Hemd zu. »Gib mir die zehn Shil ling«, befahl er. »Sie würden uns die Kehle durchschneiden, wenn sie wüß ten, daß ich so viel Geld habe«, brummt Hendrick. »Du vergeudest meine Zeit.« »Zeit ist das einzige, wovon wir genug haben.« Außer dem Barkeeper waren nur drei Männer in der Bar, als Lothar die Schwingtüren auf stieß. »Ruhig heute abend«, meinte Lothar, nachdem er ein Bier bestellt hatte, und der Barkeeper seufzte. Er war ein unauffälli ger kleiner Mann mit schütterem grauen Haar und Nickelbrille. »Trinken Sie doch einen mit mir«, bot Lothar ihm an, und die Miene des Mannes hellte sich auf. »Ich nehme einen Gin, danke.« Er goß sich aus einer Spezial flasche ein, die er unter der Theke hervorholte. Beide wußten, daß die farblose Flüssigkeit Wasser war und der silberne Shil ling direkt in die Tasche des Barkeepers wandern würde. »Auf Ihr Wohl«. Der Barkeeper beugte sich über die Theke, bereit, sich für einen Shilling und die Aussicht auf einen zwei ten sehr leutselig zu geben. »Wie lange sind Sie schon in der Stadt? Ich hab’ Sie noch nie hier gesehen.« »Einen Tag – einen Tag zu lang«, erwiderte Lothar lächelnd. »Ich hab’ Ihren Namen nicht verstanden.« Als Lothar seinen Namen nannte, zeigte er zum ersten Mal echtes Interesse. »He«, rief er den anderen Gästen an der Bar zu, »wißt Ihr, wer das ist? Das ist Lothar De La Rey. Erinnert 67
ihr euch an die Steckbriefe während des Krieges? Er ist der, der den Engländern so viel Kopfzerbrechen gemacht hat, er war es, der den Zug bei Gemsbokfontein in die Luft gejagt hat!« »Ich suche einen Job«, erklärte Lothar, als sie alle gute Freunde geworden waren, und die Männer lachten. »Ich hab’ gehört, daß es draußen in der H’ani-Mine noch Ar beit gibt«, fügte er beharrlich hinzu. »Wenn das so wäre, würde ich es wissen«, versicherte ihm der Barkeeper. »Die Fahrer von der Mine kommen jede Woche einmal hierher.« »Würden Sie bei ihnen ein gutes Wort für mich einlegen?« fragte Lothar. »Ich weiß was Besseres. Sie kommen am Montag her, und ich mache Sie mit Fourie, dem Cheffahrer, bekannt. Er ist ein guter Freund von mir. Er wird wissen, wie’s da draußen mit Arbeit aussieht.« Als Lothar ging, galt er als guter Freund und Stammgast, und als er vier Abende später wiederkam, begrüßte ihn der Barkee per überschwenglich. »Fourie ist hier«, erklärte er. »Er steht da hinten an der The ke. Ich mache Sie mit ihm bekannt, sobald ich die hier bedient habe.« Die Bar war an diesem Abend recht voll, so daß Lothar den Fahrer in Ruhe studieren konnte. Er war ein kräftig aussehender Mann mittleren Alters mit einem Hängebauch vom stun denlangen Sitzen hinter dem Lenkrad. Er war kahlköpfig, hatte aber die Haare über seinem rechten Ohr wachsen lassen und mit Pomade über seine Glatze geklebt. Er benahm sich derb und laut und sah nicht aus wie einer, der sich einschüchtern oder erschrecken ließ. Der Barkeeper winkte ihm zu. »Ich möchte dir einen guten Freund vorstellen.« Sie gaben sich die Hand. Der Fahrer mach te eine Kraftprobe daraus, aber da Lothar das fast erwartet hat te, ergriff er anstelle der ganzen Hand nur die Finger, so daß 68
Fourie nicht seine volle Kraft einsetzen konnte. Sie starrten einander an, bis der Fahrer zusammenzuckte und versuchte, seine Hand zurückzuziehen. Lothar ließ sie los. »Trinken Sie einen mit nur.« Lothar war nun schon wohler zumute – der Mann war doch nicht so zäh, wie er angenommen hatte, und als der Barkeeper erklärte, wer Lothar sei, und eine übertriebene Version seiner Heldentaten während des Krieges folgen ließ, wurde Fouries Benehmen fast kriecherisch und unterwürfig. »Hören Sie, Mann.« Er zog Lothar ein wenig beiseite und senkte die Stimme. »Erik sagt mir, daß Sie einen Job suchen, draußen in der H’ani-Mine. Tut mir leid, aber das können Sie vergessen, glauben Sie mir. Die haben seit über einem Jahr keine neuen Leute mehr aufgenommen.« »Ja, ich weiß.« Lothar nickte verdrießlich. »Seit ich Erik we gen einem Job angesprochen habe, ist mir einiges über die H’ani-Mine zu Ohren gekommen. Wird schlimm für euch, wenn das stimmt.« Dem Fahrer wurde unbehaglich. »Wovon reden Sie, Mann?« »Ach, ich dachte, Sie wüßten es.« Lothar schien seine Un wissenheit zu überraschen. »Sie wollen die Mine im August schließen. Zusperren. Alle Leute auszahlen.« »Guter Gott, nein!« In Fouries Augen stand Furcht. Der Mann war ein Feigling, einfältig, leicht zu beeindrucken und noch leichter zu beeinflussen. »Tut mir leid, aber immerhin besser, man weiß, was einem bevorsteht, oder?« »Wer hat Ihnen das erzählt?« Fourie hatte Angst. Er fuhr jede Woche an dem Obdachlosenlager neben der Eisenbahn vorbei. Er hatte die Legionen von Arbeitslosen gesehen. »Ich gehe mit einem Mädchen, das für Abraham Abrahams arbeitet.« Das war der Anwalt, der alle Geschäfte der H’aniMine in Windhuk abwickelte. »Sie hat die Briefe von Mrs. Courtney aus Kapstadt gesehen. Es besteht kein Zweifel. Die 69
Mine muß zusperren. Sie können die Diamanten nicht mehr verkaufen. Heutzutage kauft niemand mehr Diamanten, nicht einmal in London oder New York.« »O mein Gott!« flüsterte Fourie. »Was wird dann aus uns? Meine Frau ist nicht gesund, und wir haben sechs Kinder.« »Für einen Mann wie Sie ist das doch kein Problem. Ich wet te, Sie haben ein paar hundert Pfund zusammengespart. Ihnen kann nichts passieren.« Aber Fourie schüttelte den Kopf. »Nun, wenn Sie nichts gespart haben, dann sollten Sie besser ein paar Pfund beiseite legen, bevor die Sie im August entlas sen.« »Wie soll ich das machen? Wie kann ich sparen – mit einer Frau und sechs Kindern?« fragte Fourie mutlos. »Ich sag’ Ihnen was. Verschwinden wir von hier. Ich besorge uns eine Flasche Brandy. Suchen wir uns einen Ort, wo wir ungestört reden können.« Die Sonne war schon aufgegangen, als Lothar am nächsten Morgen ins Lager zurückkehrte. Sie hatten die Brandyflasche geleert und die ganze Nacht geredet. Lothars Vorschlag faszinierte und reizte den Fahrer, aber er war unsicher und ängstlich. Lothar mußte ihm jeden einzelnen Punkt genau erklären und ihn überzeugen, vor allem was seine eigene Sicherheit betraf. »Niemand wird je mit dem Finger auf Sie zeigen können. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Sie sind absolut sicher, auch wenn etwas schiefgeht – aber es wird nichts schiefgehen.« Lothar hatte seine ganze Überzeugungskraft aufwenden müs sen und war erschöpft, als er durch das Lager marschierte und sich neben Hendrick niederkauerte. »Kaffee?« fragte er. »Fertig«, sagte Hendrick. »Wo ist Manfred?« Hendrick deutete mit dem Kinn die Richtung an. Manfred 70
saß unter einem Kameldornbaum am anderen Ende des Lagers. Dicht neben ihm hockte das Mädchen Sarah, und ihre blonden, über ein Zeitungspapier gebeugten Köpfe berührten einander beinahe. Manfred schrieb mit einem Stück Holzkohle aus dem Lagerfeuer auf dem Zeitungsrand. »Mani bringt ihr Lesen und Schreiben bei«, erklärte Hen drick. Lothar seufzte und rieb sich die blutunterlaufenen Augen. Sein Kopf schmerzte vom vielen Brandy. »Nun«, sagte er, »unseren Mann haben wir jedenfalls.« »Ach!« Hendrick grinste. »Dann werden wir Pferde brau chen.« Der private Eisenbahnwagen hatte einst Cecil Rhodes und der De-Beers-Diamantengesellschaft gehört. Centaine Court ney hatte ihn um einen Bruchteil des Preises erstanden, den ein neuer Waggon sie gekostet hätte, eine Tatsache, die sie tief befriedigte. Sie hatte einen jungen Designer aus Paris kommen lassen, um den Eisenbahnwagen im Art-Deco-Stil einzurichten, und er war jeden Pfennig seines Honorars wert gewesen. Sie erinnerte sich, daß sie den jungen Mann mit den langen, weichen Locken, den dunklen, sinnlichen Augen und den Ge sichtszügen eines schönen, gelangweilten und zynischen Fauns zuerst für einen Homosexuellen gehalten hatte. Ihr erster Ein druck entpuppte sich jedoch als Irrtum, wie sie zu ihrer Freude auf dem runden Bett feststellen konnte, das er im Schlafabteil des Wagens hatte aufstellen lassen. Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und trat durch die Glas tür auf die Plattform hinaus. Der heiße Wüstenwind stürzte sich auf sie und preßte den Rock um ihre knabenhaft schmalen Hüf ten. Sie reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und ließ ihr kur zes lockiges Haar im Wind flattern. »Wie spät ist es?« fragte sie mit geschlossenen Augen, und 71
Shasa, der ihr nach draußen gefolgt war, lehnte sich gegen das Geländer und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn der Lokomotivführer den Fahrplan einhält, sollten wir in den nächsten zehn Minuten den Oranje überqueren.« »Ich fühle mich immer erst zu Hause, wenn der Oranje hinter mir liegt.« Centaine lehnte sich neben ihn und hakte sich bei ihm unter. Der Oranje-Fluß kam aus dem westlichen Stromgebiet im Süden des afrikanischen Kontinents. Er entsprang hoch oben in den schneebedeckten Bergen von Basutoland und schlängelte sich vierzehnhundert Meilen durch wilde Schluchten und baumloses Grasland. Je nach Jahreszeit war er entweder ein sanftes, klares Rinnsal oder ein donnernder, brauner Strom, der fruchtbaren schokoladenbraunen Schlamm mitführte, weshalb ihn einige den »Nil des Südens« nannten. Er bildete die Grenze zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der deutschen Kolonie Südwestafrika. Die Lokomotive pfiff, die Bremsen quietschten, und die Kupplung begann zu rattern. »Wir nähern uns der Brücke.« Shasa beugte sich weit über das Geländer, und Centaine unterdrückte nur mit Mühe die Warnung, die ihr auf den Lippen lag. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Missis, aber Sie können ihn nicht ewig wie ein Baby behandeln«, hatte Jock Murphy ihr geraten. »Da ist sie!« rief Shasa. »Da ist die Brücke!« Die Stahlkonstruktion, die auf Betonpfeilern das achthundert Meter breite Flußbett überspannte, wirkte filigran und zer brechlich. Das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Quer schwellen veränderte sich, als sie auf dem Brückenbogen roll ten. »Der Diamantenfluß«, murmelte Centaine, als sie sich neben Shasa über das Geländer beugte und in die kaffeebraunen Flu ten starrte. 72
»Wo kommen die Diamanten her?« fragte Shasa. Er kannte die Antwort natürlich, aber er hörte seine Mutter gern erzählen. »Der Fluß sammelt sie auf und wäscht sie aus jeder kleinen Höhle und Mulde und Ader entlang seines Laufes. Seit Millio nen Jahren sammelt er die Diamanten und trägt sie zur Küste.« Sie sah ihn von der Seite her an. »Und weißt du, warum sie nicht ausgewaschen sind wie die Kieselsteine?« »Weil sie die härteste Substanz der Natur sind. Nichts kann einen Diamanten auswaschen oder zerkratzen«, antwortete er prompt. »Nichts ist härter oder schöner«, bestätigte sie und hielt ihm ihre rechte Hand hin, so daß ihn der riesige Brillant an ihrem Zeigefinger blendete. »Du wirst sie noch lieben lernen. Jedem, der mit Diamanten zu tun hat, ergeht es so.« »Erzähl mir mehr über den Fluß«, bat er. »Dort, wo der Fluß ins Meer fließt, läßt er die Diamanten am Strand zurück. Dieser Küstenstrich ist so reich an Diamanten, daß er zum Sperrgebiet erklärt worden ist.« »Du könntest also deine Taschen mit Diamanten füllen? Sie einfach aufheben wie Fallobst?« »Ganz so einfach ist es nicht«, meinte sie lachend. »Du könn test zwanzig Jahre lang suchen und nicht einen einzigen Stein finden. Aber wenn du weißt, wo du suchen mußt, wenn du eine einfache Ausrüstung hast und dazu viel Glück –« »Warum können wir nicht dort hingehen, Mutter?« »Weil das ganze Gebiet gesperrt ist, man chérie. Es gehört einem Mann namens Oppenheimer – Sir Ernest Oppenheimer – und seiner Gesellschaft, De Beers.« »Das ganze Gebiet gehört einer einzigen Gesellschaft? Wie ungerecht!« protestierte der Junge, und Centaine war erfreut, zum ersten Mal ein habgieriges Funkeln in seinen Augen zu bemerken. Ohne ein gesundes Maß an Habgier würde er nicht fähig sein, die Pläne auszuführen, die sie so sorgfältig für ihn schmiedete. 73
»Ihm gehört die Oranje-Konzession«, bestätigte sie nickend. »Und außerdem gehören ihm Kimberley, Wesselton, Bultfon tein und all die anderen großen Diamantenminen. Aber mehr noch, er kontrolliert auch den Verkauf eines jeden einzelnen Steines, sogar der Diamanten, die von uns, den wenigen klei nen Unabhängigen, gefördert werden –« »Er kontrolliert uns – und er kontrolliert die H’ani-Mine?« fragte Shasa entrüstet. Centaine nickte. »Wir müssen jeden Diamanten seiner Han delsgesellschaft anbieten, und er setzt einen Preis dafür fest.« »Und wir müssen seinen Preis akzeptieren?« »Nein, das müssen wir nicht! Aber es wäre sehr unklug, es nicht zu tun.« »Was könnte er tun, wenn wir uns weigern?« »Shasa, ich habe dir schon oft gesagt, kämpfe nicht gegen ei nen, der stärker ist als du. Es gibt nicht viele, die stärker sind als wir – jedenfalls nicht in Afrika –, aber Sir Ernest Oppen heimer ist einer von ihnen.« »Was könnte er tun?« fragte Shasa hartnäckig. »Er könnte uns auffressen, mein Liebling, und es gibt nichts, was er lieber täte. Wir werden von Jahr zu Jahr reicher und damit reizvoller für ihn. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, den wir zu fürchten haben, besonders wenn wir so unvor sichtig sind, seinem Fluß hier zu nahe zu kommen.« »Der Fluß gehört ihm?« fragte Shasa verblüfft. »Rechtlich nicht, aber wenn du dich an ihn ranmachst, tust du das auf eigene Gefahr, denn er wacht eifersüchtig über den Fluß und seine Diamanten.« »Es gibt also wirklich Diamanten hier?« »Dr. Twentyman-Jones und ich sind fest davon überzeugt – und für uns gibt es da ein paar sehr interessante Gebiete. Zwei hundert Meilen flußaufwärts gibt es einen Wasserfall, den die Buschmänner ›Aughrabis‹ – den ›Ort des Großen Rauschens‹ – nennen. Dort donnert der Oranje durch eine schmale Felsrinne 74
und fällt in eine tiefe unzugängliche Schlucht. Diese Schlucht müßte eigentlich die reinste Schatzkammer sein.« Sie ließen den Fluß hinter sich, und die Lokomotive gewann rasch wieder an Fahrt, als sie nordwärts in die Wüste hinein fuhren. Centaine beobachtete Shasas Gesicht, während sie mit ihren Erklärungen und Belehrungen fortfuhr. Sie wollte nie so weit gehen, ihn zu langweilen – beim ersten Anzeichen von Unaufmerksamkeit würde sie aufhören. Sie mußte ihm seinen Enthusiasmus erhalten, durfte ihn niemals ermüden. Diesmal schien sein Interesse über das gewöhnliche Maß hinauszuge hen, und sie erkannte, daß es Zeit war für den nächsten Vor stoß. »Laß uns hineingehen.« Sie führte ihn zu ihrem Schreibtisch. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich dir zeigen möchte.« Sie öffnete die höchst vertrauliche Mappe mit den Geschäftsbe richten der Courtney Bergbau- und Finanzierungsgesellschaft. Das war der schwierigste Teil seiner Ausbildung, sogar sie selbst fand diesen Papierkram schrecklich langweilig. Sie sah, wie er unwillkürlich vor den Zahlenreihen zurückschreckte. Mathematik war sein einziger Schwachpunkt. »Du spielst doch gerne Schach, nicht wahr?« »Ja«, gab er vorsichtig zu. »Das hier ist auch ein Spiel«, versicherte sie ihm, »aber tau sendmal spannender und lohnender, wenn man die Regeln einmal begriffen hat.« Das ermutigte ihn sichtlich – mit Spielen und Belohnungen kannte Shasa sich aus. »Bring mir die Regeln bei«, bat er. »Nicht alle auf einmal. Eins nach dem anderen, bis du genug weißt, um selber zu spielen.« Es war bereits Abend, als sie die Müdigkeit in seinen Mund winkeln und die weißen Ränder um seine Nasenflügel bemerk te. Aber er war noch immer konzentriert bei der Sache. »Genug für heute.« Sie schloß die dicke Mappe. »Wie lautet die goldene Regel?« 75
»Verkaufe eine Ware immer teurer, als du sie eingekauft hast.« Sie nickte aufmunternd. »Kaufe, wenn alle anderen verkaufen, und verkaufe, wenn al le anderen kaufen.« »Gut.« Sie stand auf. »Gehen wir noch ein wenig an die fri sche Luft, bevor wir uns zum Abendessen umziehen.« Draußen auf der Plattform legte sie den Arm um seine Schul ter. »Wenn wir in die Mine kommen, möchte ich, daß du an den Vormittagen mit Dr. Twentyman-Jones arbeitest. Die Nachmittage hast du frei, aber an den Vormittagen wirst du arbeiten. Ich möchte, daß du die Mine und den ganzen Betrieb kennenlernst. Natürlich bezahle ich dich dafür.« »Das ist nicht nötig, Mutter.« »Noch eine goldene Regel, mein Liebling: Lehne niemals ein faires Angebot ab.« Sie fuhren die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag durch die weite, von der Sonne versengte Landschaft nach Norden. Der Lokomotivführer verschob den Waggon auf ein Neben gleis hinter der Remise und kuppelte ihn neben der Betonram pe ab, wo Abraham Abrahams Ford stand. Abe sprang auf die Plattform, sobald der Waggon zum Stillstand kam. »Centaine, Sie werden immer schöner.« Er küßte ihr die Hand und drückte ihr dann auf beide Wangen einen Kuß. Er war klein, kaum größer als Centaine, und hatte ein ausdrucks volles Gesicht und lebhafte, wachsame Augen. Seine mit Diamanten besetzten Manschettenknöpfe wirkten aufdringlich, und sein Smoking war etwas zu extravagant ge schnitten, doch bei Centaine hatte er mehr Steine im Brett als sonst jemand. Er hatte zu ihr gehalten, als ihr Vermögen auf weniger als zehn Pfund zusammengeschmolzen war. Er hatte 76
die Schürfrechte für die H’ani-Mine eingereicht und seither den Großteil ihrer Rechtsgeschäfte sowie viele ihrer privaten Ge schäfte abgewickelt. Er war ein guter alter Freund und, was noch mehr zählte, er machte bei seiner Arbeit keine Fehler. »Mein lieber Abe.« Sie nahm seine Hände und drückte sie herzlich. »Wie geht es Rachel?« »Hervorragend«, versicherte er. Das war sein Lieblingswort. »Sie läßt sich entschuldigen, Sie wissen ja, das Baby –« »Natürlich.« Centaine nickte verstehend. Abraham kannte ih re Vorliebe für männliche Gesellschaft und brachte seine Frau selten mit, auch wenn sie eingeladen war. Centaine wandte sich von ihrem Anwalt ab und der großen, schmalschultrigen Gestalt zu, die beim Ausstieg stand. »Dr. Twentyman-Jones.« Sie streckte ihm beide Hände hin. »Mrs. Courtney«, murmelte er mit Leichenbestattermiene. Centaine schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Es war ein kleines Spiel von ihr, zu versuchen, ihm ein winziges Lächeln zu entlocken. Aber sie verlor wie immer, ja sein finsterer Ge sichtsausdruck verdüsterte sich eher noch. Ihre Partnerschaft reichte fast ebenso weit zurück wie die mit Abraham. Er war beratender Bergbauingenieur bei De Beers Consolidated Mines gewesen und hatte 1919 für sie das Gut achten erstellt und die ersten Abbaumaßnahmen für die H’aniMine ausgearbeitet. Centaine hatte fast fünf Jahre lang all ihre Überredungskünste einsetzen müssen, bevor er sich bereit er klärte, als ständiger Ingenieur für die H’ani-Mine zu arbeiten. Er war vermutlich der beste Diamantenfachmann Südafrikas, was soviel bedeutete wie der beste der Welt. Centaine führte die beiden in den Salon und schickte den Kellner hinaus. »Abraham, ein Glas Champagner?« Sie schenkte eigenhän dig ein. »Und Dr. Twentyman-Jones, einen kleinen Madeira?« Sie nannten sich noch immer mit dem vollen Titel und beim Nachnamen, obwohl ihre Freundschaft alle Prüfungen über 77
dauert hatte. »Ich trinke auf Ihre Gesundheit, meine Herren.« Centaine prostete ihnen zu, und als sie getrunken hatten, warf sie einen Blick zur Tür. Wie auf ein Stichwort erschien Shasa, und Centaine verfolgte mit kritischem Blick, wie er den beiden Männern die Hand reichte. Er tat das mit dem richtigen Maß an Respekt gegen über ihrem Alter, zeigte keinerlei Unbehagen, als Abraham ihn überschwenglich umarmte, und erwiderte Twentyman-Jones’ Begrüßung mit gleicher Feierlichkeit. Centaine nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Das war das Zeichen, daß nun der Höflichkeiten genug waren und man zum Geschäftlichen über gehen konnte. Die beiden Männer ließen sich auf den eleganten und bequemen Art-Deco-Sesseln nieder und beugten sich auf merksam vor. »Es ist soweit«, leitete Centaine die Geschäftsbesprechung ein. »Man hat unser Kontingent herabgesetzt.« Die Männer ließen sich zurücksinken und wechselten einen raschen Blick. »Das haben wir seit fast einem Jahr erwartet«, bemerkte Abraham. »Was die Tatsache keineswegs erfreulicher macht«, entgeg nete Centaine ihm schroff. »Um wieviel?« fragte Twentyman-Jones. »Vierzig Prozent.« Twentyman-Jones sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Jeder der unabhängigen Diamantenminen wurde von der DeBeers-Handelsgesellschaft ein Kontingent zugeteilt. Dieses Arrangement war nicht offiziell und vermutlich gesetzwidrig, wurde aber trotzdem unerbittlich durchgesetzt, und keiner der unabhängigen Minenbesitzer war jemals so tollkühn gewesen, die Legalität dieses Systems oder den ihm zugeteilten Marktan teil anzuzweifeln. »Vierzig Prozent!« platzte Abraham heraus. »Schändlich ist 78
das!« »Gut bemerkt, lieber Abe, aber in dieser Situation nicht be sonders nützlich.« Centaine blickte zu Twentyman-Jones. »Keine Änderung in den Kategorien?« fragte er. Die Kontin gente waren mittels Karat in die verschiedenen Diamantenklas sen aufgegliedert, vom dunklen Industriestein bis zur feinsten Juwelenqualität. »Derselbe Prozentsatz«, antwortete Centaine, und er ließ sich in seinem Sessel zurücksinken, zog ein Notizbuch aus der Brusttasche und begann eine Reihe von Berechnungen anzu stellen. Centaine warf Shasa, der hinter ihr an der holzgetäfel ten Wand lehnte, einen flüchtigen Blick zu. »Verstehst du, wovon wir reden?« »Das Kontingent? Ja, ich glaube schon, Mutter.« »Wenn du etwas nicht verstehst, dann frage«, befahl sie kurz und wandte sich wieder Twentyman-Jones zu. »Könnten Sie um eine Erhöhung von zehn Prozent bei den Qualitätssteinen ansuchen?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich bereits getan und wurde abgewiesen. Man hat mir unter größtem Bedauern mit geteilt, daß die Nachfrage bei Qualitätssteinen in der Edelsteinund Juwelenklasse am meisten gesunken ist.« Twentyman-Jones beugte sich wieder über sein Notizbuch, und die anderen lauschten dem Kratzen des Stiftes, bis er auf blickte. »Es wird knapp«, flüsterte er, »und wir werden einsparen, kürzen und knausern müssen. Aber die Fixkosten müßten wir decken können und vielleicht sogar einen kleinen Gewinn her auswirtschaften – das hängt vom Minimalpreis ab, den De Beers festsetzt. Aber der Rahm ist leider abgeschöpft, Mrs. Courtney.« Centaine fühlte sich schwach und zittrig vor Erleichterung. Sie nahm ihre Hände vom Tisch und verschränkte sie im Schoß, damit die anderen ihr Zittern nicht bemerkten. Sie 79
schwieg ein paar Sekunden und räusperte sich, um sicherzuge hen, daß ihr nicht die Stimme versagte. »Die Kürzung des Kontingents tritt am ersten März in Kraft«, sagte sie. »Das heißt, daß wir noch ein volles Paket liefern können. Sie wissen, was in diesem Fall zu tun ist, Dr. Twenty man-Jones.« »Wir werden das Paket mit Bonbons füllen, Mrs. Courtney.« »Was sind Bonbons, Dr. Twentyman-Jones?« Es war das er ste Mal, daß Shasa den Mund aufmachte, und der Ingenieur wandte sich ihm mit ernster Miene zu. »Wenn wir in einer Abbauperiode mehrere Diamanten von ausgezeichneter Qualität fördern, behalten wir einige der be sten zurück und legen sie beiseite, um damit spätere Pakete von minderer Qualität aufzubessern. Wir haben einen Vorrat von solchen Hochqualitätssteinen, die wir jetzt, solange noch Gele genheit dazu ist, der Handelsgesellschaft liefern werden.« »Ich verstehe.« Shasa nickte. »Danke, Mr. TwentymanJones.« »Immer gern zu Diensten, Master Shasa.« Centaine stand auf. »Darf ich jetzt zu Tisch bitten?« Eine Meile von der Stelle entfernt, wo Centaines Waggon abgestellt war, kauerten zwei Männer neben den Eisenbahn schienen an einem rauchenden Lagerfeuer und sprachen über Pferde. Die Pferde waren der springende Punkt ihres Plans. Sie brauchten mindestens fünfzehn kräftige, wüstenerprobte Tiere. »Der Mann, an den ich dabei denke, ist ein guter Freund von mir«, sagte Lothar. »Auch der allerbeste Freund würde dir nicht fünfzehn gute Pferde leihen. Weniger als fünfzehn reichen nicht, und um hundert Pfund werden sie nicht zu haben sein.« »Lassen wir die Pferde vorerst beiseite«, schlug Lothar vor. »Wie steht’s mit den Männern, die wir zur Ablöse brauchen?« 80
»Die Männer sind leichter zu kriegen als die Pferde.« Hen drick grinste. »Einen guten Mann bekommt man heutzutage für ein Butterbrot und seine Frau zum Nachtisch obendrauf. Ich hab’ den Männern sagen lassen, daß sie uns am Wild-HorseWasserloch erwarten sollen.« Beide schauten auf, als Manfred aus der Dunkelheit auf tauchte. Als Lothar den Gesichtsausdruck seines Sohnes sah, steckte er das Notizbuch in die Tasche und sprang auf. »Papa, komm schnell«, bat Manfred. »Was ist los, Mani?« »Es geht um Sarahs Mutter und die Kleinen. Sie sind krank. Ich hab’ ihnen gesagt, daß du kommst, Papa.« Lothar stand in dem Ruf, Menschen und Tiere von ihren Lei den heilen zu können. Sarahs Familie hauste unter einer zerrissenen Plane in der Mitte des Lagers. Die Frau lag, die beiden Kleinen neben sich, unter einer schmutzigen Decke. Obwohl sie vermutlich nicht älter als dreißig war, hatten Sorgen, Schwerarbeit und dürftiges Essen sie frühzeitig ergrauen lassen und zur alten Frau ge macht. Sarah kniete neben ihr und versuchte mit einem feuchten Lappen über ihr vor Hitze glühendes Gesicht zu wischen. Die Frau warf den Kopf hin und her und phantasierte im Fieber. Lothar kniete neben der Kranken nieder und wandte sich an das Mädchen. »Wo ist dein Vater, Sarah? Er sollte hier sein.« »Er ist fortgegangen, um in den Minen Arbeit zu suchen«, flüsterte sie. »Wann?« »Das ist schon lange her.« Dann fügte sie eilig hinzu: »Aber er wird uns nachkommen lassen, und dann werden wir in ei nem schönen Haus wohnen –« »Seit wann ist deine Mutter krank?« »Seit gestern abend.« Sarah versuchte abermals, der Frau den Lappen auf die Stirn zu legen, aber sie schob ihn kraftlos bei 81
seite. »Und die Kleinen?« Lothar musterte ihre gedunsenen Ge sichter. »Seit heute früh.« Als Lothar die Decke wegzog, schlug ihm der ekelerregende scharfe Gestank flüssiger menschlicher Exkremente entgegen. »Ich hab’ versucht, sie zu waschen«, flüsterte Sarah be schämt, »aber sie beschmutzen sich gleich wieder. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Lothar hob das besudelte Kleid des kleinen Mädchens hoch. Ihr kleiner, kreideweißer Bauch war gebläht vom Hungerödem. Ein schlimmer roter Ausschlag bedeckte ihn. Unwillkürlich zog Lothar die Hände zurück. »Manfred«, fragte er scharf, »hast du sie berührt – hast du einen von ihnen berührt?« »Ja, Pa. Ich hab’ versucht, Sarah dabei zu helfen, sie zu wa schen.« »Geh zu Hendrick«, befahl Lothar. »Sag ihm, daß wir unver züglich aufbrechen. Wir müssen weg von hier.« »Was ist es, Pa?« Manfred zögerte. »Tu, was ich sage«, befahl Lothar wütend, und als Manfred in der Dunkelheit verschwand, wandte er sich wieder dem Mädchen zu. »Habt ihr euer Trinkwasser abgekocht?« fragte er, und sie schüttelte den Kopf. Es war immer dasselbe, dachte Lothar. Einfache Leute vom Land, die ihr ganzes Leben lang fern von anderen Menschen gelebt hatten und gewohnt waren, klares reines Quellwasser zu trinken und ihre Bedürfnisse unbekümmert im Freien zu ver richten. »Was ist es, Ohm?« fragte Sarah leise. »Was fehlt ihnen?« »Typhus.« Lothar sah, daß ihr das Wort nichts sagte. »Ist es schlimm?« fragte sie hilflos, und er wich ihrem Blick aus. Er sah noch einmal nach den beiden Kleinen. Das Fieber 82
hatte sie ausgebrannt, durch den Durchfall waren sie innerlich ausgetrocknet. Für sie kam bereits jede Hilfe zu spät. Für die Mutter bestand vielleicht noch Hoffnung, aber auch sie war bereits sehr geschwächt. »Ja«, sagte Lothar. »Es ist schlimm.« Der Typhus würde sich wie ein Buschfeuer im Lager ausbreiten. Es bestand sogar die Möglichkeit, daß Manfred sich bereits infiziert hatte. Bei die sem Gedanken stand er rasch auf und trat von der stinkenden Matratze zurück. »Was soll ich tun?« fragte Sarah flehentlich. »Gib ihnen reichlich zu trinken, aber sieh zu, daß das Wasser abgekocht ist.« Lothar wandte sich zum Gehen. Er hatte Ty phus während des Krieges in den Konzentrationslagern der Engländer kennengelernt. Die Todesrate war viel höher gewe sen als auf dem Schlachtfeld. Er mußte Manfred von hier fort bringen. »Haben Sie eine Medizin dagegen, Ohm?« Sarah lief hinter ihm her. »Ich will nicht, daß meine Ma stirbt – und meine klei nen Geschwister –« Sie kämpfte mit den Tränen. Sarah holte ihn ein und ergriff seine Hand. Verzweifelt ver suchte sie, ihn zu dem Verschlag zurückzuzerren, wo die Frau und die beiden kleinen Kinder im Sterben lagen. »Helfen Sie mir, Ohm. Helfen Sie mir doch.« Bei ihrer Berührung bekam Lothar die Gänsehaut. Er stellte sich vor, wie die widerliche Infektion durch ihre warme glatte Haut übertragen wurde. Er mußte fort von hier. »Bleib hier«, befahl er und versuchte seinen Ekel zu verber gen. »Gib ihnen viel Wasser zu trinken. Ich gehe und hole die Medizin.« »Wann kommen Sie zurück?« Sie sah vertrauensvoll zu ihm auf, und es kostete ihn Mühe, die Lüge auszusprechen. »Ich komme zurück, sobald ich kann«, versprach er und machte sich sanft von ihr los. »Gib ihnen Wasser«, wiederholte er und drehte sich um. 83
»Danke«, rief sie leise hinter ihm her. »Gott segne Sie, Sie sind ein guter Mensch, Ohm.« Lothar eilte durch das dunkle Lager. Weil er diesmal darauf achtete, hörte er die schwachen Geräusche auch aus den ande ren Hütten: das gequälte fiebrige Weinen eines Kindes, das Keuchen und Stöhnen einer Frau mit den für Typhus typischen Bauchkrämpfen, und das besorgte Gemurmel jener, die die Kranken pflegten. Lothar begann zu rennen. Swart Hendrick erwartete ihn. Er hatte den Tornister bereits auf den Rücken geschnallt und trat gerade das Lagerfeuer aus. Manfred kauerte abseits unter dem Kameldornbaum. »Typhus«, sagte Lothar nur. Hendrick erstarrte. Lothar hatte ihn erlebt, wie er den Angriff eines verwundeten Elefantenbullen erwartete, aber davor hatte er richtig Angst, das sah man ihm an. »Komm, Manfred! Wir verschwinden.« »Wo gehen wir hin, Pa?« Manfred rührte sich nicht. »Fort von hier – weg von der Stadt und dieser Seuche.« »Was wird aus Sarah?« Manfred zog den Kopf ein – eine trotzige Geste, die Lothar gut an ihm kannte. »Sie gehört nicht zu uns. Wir können nichts mehr für sie tun.« »Sie wird sterben – wie ihre Ma und die beiden Kleinen.« Manfred schaute zu seinem Vater auf. »Sie wird sterben, nicht wahr?« »Steh gefälligst auf«, schnauzte Lothar ihn an. Seine Gewis sensbisse machten ihn wütend. »Wir gehen.« Er machte eine gebieterische Handbewegung, und Hendrick zog Manfred hoch. »Komm, Mani, hör auf deinen Pa.« Er folgte Lothar und zerrte den Jungen am Arm hinter sich her. Sie überquerten die Eisenbahnschienen, und Manfred gab seinen Widerstand auf. Hendrick ließ ihn los, und er trottete gehorsam hinter ihnen her. Innerhalb einer Stunde hatten sie 84
die Hauptstraße erreicht, und Lothar blieb stehen. »Kümmern wir uns jetzt um die Pferde?« fragte Hendrick. »Ja.« Lothar nickte. »Das ist der nächste Schritt.« Aber sein Kopf drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schweigend blickten alle drei zurück. »Ich konnte es nicht riskieren«, erklärte Lothar. Keiner ant wortete. »Wir müssen mit unseren Vorbereitungen weiterma chen – die Pferde –« Lothar verstummte. Plötzlich riß er den Tornister von Hendricks Schultern und warf ihn zu Boden. Wütend machte er ihn auf und holte den kleinen Segeltuchballen heraus, in dem er seine chirurgischen Instrumente und seinen Arzneivorrat aufbewahrte. »Du gehst mit Mani«, befahl er Hendrick, »und wartest in der Schlucht des Gamasflusses auf mich. An der Stelle, wo wir auf dem Marsch von Usakos kampiert haben. Erinnerst du dich?« Hendrick nickte. »Wie lange wird es dauern, bis du nach kommst?« »Genau so lange, wie sie zum Sterben brauchen«, sagte Lo thar. Er stand auf und sah Manfred an. »Tu, was Hendrick sagt«, befahl er. »Kann ich nicht mitkommen, Pa?« Lothar machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er wandte sich um und eilte zwischen den mondbeschienenen Dornenbäumen zurück. Sie sahen ihm nach, bis er in der Dun kelheit verschwand. Sarah kauerte neben dem Feuer und wartete darauf, daß das Wasser in dem rauchgeschwärzten Kessel kochte. Als sie aufblickte, sah sie Lothar am Rand des Feuerscheins stehen. Sie starrte ihn an, dann schien ihr blasses, hübsches Gesichtchen langsam zu schrumpfen, und Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich hab’ gedacht, Sie kommen nicht mehr«, flüsterte sie. 85
Lothar schüttelte nur den Kopf, noch immer wütend über sei ne eigene Schwäche. Er kauerte sich ihr gegenüber ans Feuer und rollte den Segeltuchballen aus. Der Inhalt war recht dürf tig. Damit konnte man einen faulen Zahn ziehen, einen Furun kel entfernen, einen Schlangenbiß behandeln oder ein gebro chenes Glied entfernen. Aber zur Behandlung von Typhus gab es fast nichts. Er gab einen Löffel von einem schwarzen Pulver, einem Mittel gegen Durchfall, in den Blechnapf und goß mit heißem Wasser aus dem Kessel auf. »Hilf mir«, befahl er Sarah. Gemeinsam brachten sie das jüngste Kind in eine sitzende Stellung. Das Mädchen war fe derleicht, und er konnte jeden einzelnen Knochen des zierli chen Körpers spüren. Es war hoffnungslos. »Morgen früh ist sie tot«, dachte er und hob den Becher an ihre Lippen. Sie hielt nicht einmal bis zum Morgen durch. Der kleine Junge lebte noch bis Mittag und starb ebenso still wie seine Schwester. Lothar hüllte beide in eine schmutzige graue Decke und trug sie auf den Armen zu dem Gemein schaftsgrab, das am Rand des Lagers ausgehoben worden war. Sarahs Mutter kämpfte um ihr Leben. »Weiß der Himmel, warum sie weiterleben möchte«, dachte Lothar, »das Leben hat ihr doch wahrlich nicht viel zu bieten.« Und er begann sie wegen ihres störrischen Überlebenswillens zu hassen. Als es dämmerte, dachte Lothar, sie habe den Kampf gewon nen. Ihre Haut kühlte ab, und sie wurde ruhiger. Sie schloß die Augen und schien zu schlafen. Sarah wischte ihr die Lippen ab und hielt ihre magere knöcherne Hand. Eine Stunde später setzte sich die Frau plötzlich auf und sag te klar und deutlich: »Sarah, Kind, wo bist du?« Dann sank sie zurück und rang röchelnd nach Luft. Unvermittelt hörte das Röcheln auf, ihr magerer Brustkorb fiel langsam in sich zu sammen. Sarah ging neben ihm her, als Lothar die Frau zu dem Ge 86
meinschaftsgrab trug. Er legte sie am Ende der langen Reihe von Toten. Dann kehrten sie zur Hütte zurück. Sarah sah tatenlos zu, wie Lothar den Segeltuchballen zu sammenrollte. Ihr schmales weißes Gesicht war völlig ohne Ausdruck. Lothar machte ein paar Schritte und drehte sich dann um. Sie zitterte wie ein ausgesetztes verlassenes Hünd chen, hatte sich aber nicht von der Stelle gerührt. »Also gut«, sagte er und seufzte ergeben. »Komm mit.« Und sie lief an seine Seite. »Ich werde Ihnen nicht zur Last fallen«, sprudelte sie fast hy sterisch hervor. »Ich werde Ihnen helfen. Ich kann kochen und nähen und waschen. Ich mache Ihnen ganz bestimmt keine Mühe.« »Was hast du mit ihr vor?« fragte Hendrick. »Sie kann nicht bei uns bleiben. Mit einem so kleinen Kind können wir unser Vorhaben niemals ausführen.« »Ich konnte sie nicht einfach dort zurücklassen«, verteidigte Lothar sich. »In diesem Todeslager.« »Für uns wär’s besser gewesen.« Hendrick zuckte die Ach seln. »Was machen wir also jetzt?« Sie hatten sich vom Lagerplatz in der Schlucht entfernt und waren auf den Scheitel der Felswand geklettert. Die Kinder waren unten zurückgeblieben und hockten Seite an Seite auf der Sandbank am Rand eines Tümpels, der als einziger in der Schlucht noch nicht ausgetrocknet war. »Mir wird schon etwas einfallen«, versicherte Lothar. »Hoffentlich bald. Wir dürfen keinen Tag mehr verlieren, denn die Wasserstellen im Norden trocknen langsam aus, und wir haben noch immer keine Pferde.« Lothar stopfte seine Tonpfeife mit frischem Tabak und dach te nach. Hendrick hatte recht; das Mädchen komplizierte alles. Er mußte sie irgendwie loswerden. Plötzlich hob er den Kopf 87
und lächelte. »Meine Kusine«, sagte er. Hendrick sah ihn verdutzt an. »Ich habe gar nicht gewußt, daß du eine Kusine hast.« »Die meisten meiner Verwandten sind im Konzentrationsla ger umgekommen. Aber Trudi hat überlebt.« »Wo ist sie, diese allerliebste Kusine?« »Direkt an unserem Weg nach Norden. Wir verlieren keine Zeit, wenn wir den Balg bei ihr abliefern.« »Ich will nicht weg«, flüsterte Sarah unglücklich. »Ich kenne deine Tante doch gar nicht. Ich möchte hier bei dir bleiben.« »Pst«, warnte Manfred. »Sonst wachen Pa und Hendrick auf.« Er rückte näher an sie heran. Das Feuer war niederge brannt, der Mond untergegangen. Nur die südlichen Sterne leuchteten über ihnen. Sarahs Stimme war nun so leise, daß er die Worte kaum ver stehen konnte, obwohl ihre Lippen nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt waren. »Du bist der einzige Freund, den ich je gehabt habe«, sagte sie. »Und wer bringt mir dann Lesen und Schreiben bei?« Bei ihren Worten fühlte Manfred, daß eine große Verantwor tung auf ihm lastete. Bis zu diesem Augenblick waren seine Gefühle für sie eher unbestimmt gewesen. Ebenso wie sie hatte er niemals gleichaltrige Freunde gehabt, nie eine Schule be sucht und nie in einer Stadt gelebt. Sein einziger Lehrer war immer sein Vater gewesen. Er war unter erwachsenen Männern aufgewachsen; eine Frau, die ihn tröstete oder liebkoste, hatte es nie gegeben. Mit Sarah hatte er zum erstenmal eine Gefährtin. Ihre Schwäche und ihre Albernheit ärgerten ihn zwar – er mußte auf sie warten, wenn sie einen Hügel hinaufstiegen, und jedesmal, wenn er einen Fisch gefangen hatte und ihn erschlug, begann 88
sie zu weinen. Andererseits konnte sie ihn zum Lachen brin gen, und er genoß es, wenn sie mit ihrer dünnen, aber sehr sü ßen und melodiösen Stimme sang. Er empfand ein tiefes Ge fühl des Wohlbehagens, wenn sie in seiner Nähe war. Sie besaß eine rasche Auffassungsgabe und konnte nach den wenigen Tagen, die sie nun zusammen waren, bereits das Alphabet auswendig und das kleine Einmaleins. Es hätte ihm natürlich viel besser gefallen, wenn sie ein Jun ge gewesen wäre. Aber da war noch etwas. Der Duft ihrer Haut, ihre samtene Weichheit. Und ihr Haar war so fein und seidig. Manchmal berührte er es wie zufällig, und dann erstarr te sie und hielt sehr still unter seinen Fingern, so daß er jedes mal verlegen wurde und schuldbewußt seine Hand zurückzog. Gelegentlich streifte sie ihn wie eine zärtliche Katze, und die seltsame Wonne, die er dabei empfand, stand in keinem Ver hältnis zu der flüchtigen Berührung. Der Weg nach Okahandja war lang, beschwerlich und stau big. Sie waren nun schon fünf Tage unterwegs, und für Man fred und Sarah wurde die bevorstehende Trennung mit jeder Meile, die sie zurücklegten, bedrohlicher. Manfred fand nicht die richtigen Worte, sie zu trösten. Sie drängte sich unter der Decke gegen ihn, und die Wärme, die von ihrem mageren, zer brechlichen Körper ausging, war erstaunlich. Verlegen legte er den Arm um ihre schmalen Schultern. »Ich komme zurück und hole dich.« Er hatte das nicht sagen wollen. Er hatte bis zu diesem Augenblick nicht einmal an die Möglichkeit gedacht. »Versprich es mir.« Sie bog sich zurück, so daß ihre Lippen nahe an seinem Ohr waren. »Versprich mir, daß du zurück kommst, um mich zu holen.« »Ich verspreche dir, daß ich zu dir zurückkomme«, wieder holte er, erschrocken über seine eigene Kühnheit, feierlich. »Wann?« »Wir haben etwas zu erledigen.« Manfred wußte nicht genau, 89
was sein Vater und Hendrick planten. Er begriff nur, daß es schwierig und irgendwie gefährlich war. »Etwas Wichtiges. Nein, mehr kann ich dir nicht darüber sagen. Aber wenn es vorüber ist, komme ich dich holen.« Das schien sie zufriedenzustellen. Sie seufzte, und er fühlte, wie ihre innere Spannung nachließ. »Du bist doch mein Freund, Mani?« »Ja. Ich bin dein Freund.« »Mein bester Freund?« »Ja, dein bester Freund.« Sie seufzte noch einmal, dann schlief sie ein. Am folgenden Abend arbeiteten sie sich mühsam durch den feinen, knöcheltiefen weißen Sand auf eine Anhöhe, und als sie Lothar auf dem Hügelkamm einholten, deutete er wortlos nach vorn. Die Blechdächer der kleinen Grenzstadt Okahandja glitzerten wie Spiegel in der untergehenden Sonne, und in ihrer Mitte ragte der Kirchturm empor. »Bei Einbruch der Dunkelheit sind wir da.« Lothar nahm sei nen Packen auf die andere Schulter und schaute auf das Mäd chen hinab. Ihr feines Haar war staubbedeckt und klebte an Stirn und Wange. Die Sonne hatte sie so braun gebrannt, daß man sie, wenn ihr blondes Haar nicht gewesen wäre, für ein Namakind hätte halten können. Ihre bloßen Füße waren mit einer dicken weißen Staubschicht bedeckt. Lothar beschloß, sie an dem Brunnen, der die Stadt mit Wasser versorgte, einer gründlichen Säuberung zu unterziehen. »Die Dame, bei der du bleiben wirst, heißt Mevrou Trudi Bierman. Sie ist eine sehr fromme, liebe Frau.« Lothar hatte mit seiner Kusine wenig gemein. Sie waren seit dreizehn Jahren nicht mehr in Verbindung. »Sie ist mit dem Pastor der Reformierten Kirche hier in Okahandja verheiratet. Er ist ebenfalls ein guter, gottesfürchtiger Mann. Außerdem haben sie Kinder in deinem Alter. Du wirst dich bestimmt wohl 90
fühlen bei ihnen.« »Ob er mir Lesen und Schreiben beibringt, wie Mani?« »Natürlich.« Lothar war bereit, alles zu versprechen, nur um das Kind loszuwerden. »Er unterrichtet auch seine eigenen Kinder, und du wirst wie eines von ihnen sein.« »Warum kann Manie nicht bei mir bleiben?« »Mani muß mit mir gehen.« »Bitte, kann ich nicht auch mitkommen?« »Nein, das geht nicht. Du bleibst hier – und jetzt möchte ich nichts mehr davon hören.« Am Sammelbecken der Wasserpumpe wusch sich Sarah und befeuchtete ihr Haar, bevor sie es zu ordentlichen Zöpfen flocht. »Ich bin fertig«, erklärte sie schließlich, und ihre Lippen zit terten, als Lothar sie kritisch musterte. Sie war ein verwahrlo ster kleiner Balg, eine Last, aber irgendwie hatte er sie doch ins Herz geschlossen. Plötzlich ertappte er sich bei der Überle gung, ob es keine andere Möglichkeit gäbe, als das Mädchen zurückzulassen, und es kostete ihn Mühe, den Gedanken bei seite zu schieben. »Na, dann komm.« Er nahm sie an der Hand und wandte sich an Manfred. »Du wartest mit Hendrick hier.« »Bitte, laß mich mitkommen, Pa«, bat Manfred. »Nur bis zum Tor. Nur, um Sarah auf Wiedersehen zu sagen.« Lothar zögerte und willigte dann verdrossen ein. »Also gut, aber halt den Mund und benimm dich.« Er führte sie an der Rückseite der Häuser entlang bis zum Hintereingang eines etwas größeren Hauses neben der Kirche. Es war ohne Zweifel das Pfarrhaus. In einem der hinteren Räume brannte Licht. Als sie das Tor öffneten und den Gartenweg betraten, ertön ten Stimmen. Durch das Drahtgitter der Küchentür sahen sie eine Familie an einem langen Holztisch sitzen und singen. Lothar klopfte an die Tür und der Gesang verstummte. Am 91
oberen Ende des Tisches erhob sich ein Mann und kam zur Tür. Er trug einen schwarzen Anzug, der für seine breiten Schultern zu eng, an Ellbogen und Knien jedoch ausgebeult war. Er hatte dichtes langes Haar, das in einer grauen Mähne bis auf seine Schultern herabfiel. »Wer ist da?« fragte er mit einer Stimme, die wohl darin ge übt war, von der Kanzel zu donnern. Er riß die Gittertür auf und spähte in die Dunkelheit heraus. Er hatte eine hohe Den kerstirn und die tiefliegenden brennenden Augen eines Prophe ten aus dem Alten Testament. »Du!« Er hatte Lothar erkannt, machte aber keine Anstalten, ihn zu begrüßen. Statt dessen rief er über die Schulter zurück: »Mevrou, es ist dein gottloser Cousin, der wie Kain aus der Wüste zurückkehrt!« Am unteren Ende des Tisches erhob sich eine blonde Frau und gebot den Kindern, still zu sein und auf ihren Plätzen sit zenzubleiben. Sie war Mitte der Vierzig, fast so groß wie ihr Mann und wohlgenährt. Ihre Gesichtsfarbe war von gesundem Rot, und sie trug das Haar auf deutsche Art um den Kopf ge flochten. Sie verschränkte die dicken, hellhäutigen Arme vor ihrem ausladenden, formlosen Busen. »Was willst du bei uns, Lothar De La Rey?« fragte sie. »Dies ist das christliche Heim gottesfürchtiger Leute; mit deinem liederlichen Leben und deinen wilden Sitten wollen wir nichts zu tun haben.« Als sie die Kinder bemerkte, brach sie ab und musterte sie interessiert. »Hallo, Trudi.« Lothar schob Sarah ins Licht. »Es ist einige Jahre her. Du siehst glücklich und zufrieden aus.« »Ich bin glücklich in Gottes Liebe«, stimmte seine Kusine ihm bei, »doch ganz gesund bin ich selten, wie du weißt.« Ihr Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an, und Lothar fuhr rasch fort. »Ich gebe dir Gelegenheit, christliche Nächstenliebe zu üben.« Er schob Sarah weiter. »Diese arme kleine Waise – hat 92
niemanden. Sie braucht ein Zuhause. Du könntest sie aufneh men, Trudi, und Gott wird es dir vergelten.« »Ist sie auch –« Lothars Kusine warf einen Blick auf die neugierigen Gesichter ihrer eigenen beiden Töchter, dann senk te sie die Stimme und zischte ihm zu: »Noch ein Bastard von dir?« »Ihre Familie ist der Typhusepidemie zum Opfer gefallen.« Das war ein Fehler. Er sah, wie sie vor dem Mädchen zu rückwich. »Das war vor ein paar Wochen. Sie ist vollkommen gesund.« Trudi beruhigte sich etwas, und Lothar fuhr eilig fort: »Ich kann nicht für sie sorgen. Wir sind auf der Durchreise, und sie braucht eine Frau, die sich um sie kümmert.« »Wir haben schon zu viele Münder –« begann sie, aber ihr Mann ließ sie nicht ausreden. »Komm her, mein Kind«, donnerte er, und Lothar schob Sa rah ihm zu. »Wie heißt du?« »Sarah Bester, Ohm.« »Dann gehörst du also zu unserem Volk?« fragte der große Pastor weiter. »Bist eine mit echtem Afrikanerblut?« Sarah nickte unsicher. »Und deine toten Eltern gehörten der Reformierten Kirche an?« Sie nickte wieder. »Und du glaubst an unseren Herrn Je sus Christus?« »Ja, Ohm. Das hat mich meine Mutter gelehrt«, flüsterte Sa rah. »Dann können wir das Kind nicht zurückweisen«, erklärte der Pastor seiner Frau. »Bring sie rein, Frau. Gott wird schon für uns sorgen. Gott sorgt immer für sein auserwähltes Volk.« Trudi Bierman seufzte theatralisch und griff nach Sarahs Arm. »So dünn und schmutzig wie ein Negerkind.« »Und du, Lothar De La Rey?« sagte der Pastor und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Hat dir der barmherzige Gott noch immer nicht den rechten Weg gewiesen?« 93
»Nein, noch immer nicht, lieber Cousin.« Lothar trat von der Tür zurück, seine Erleichterung gar nicht erst verbergend. Der Blick des Pastors fiel auf den Jungen, der im Schatten hinter seinem Vater stand. »Wer ist das?« »Mein Sohn Manfred.« Lothar legte dem Jungen schützend den Arm um die Schultern, und der Pastor kam näher und beugte sich nieder, um eingehend das Gesicht zu mustern. Sei ne langen, dunklen Barthaare starrten bedrohlich, seine Augen schauten wild und fanatisch, aber Manfred wich dem Blick nicht aus und sah, wie sich dessen Ausdruck allmählich verän derte. »Mach’ ich dir Angst, Jong?« Die Stimme klang sanft, und Manfred schüttelte den Kopf. »Nein, Ohm – jedenfalls nicht sehr.« Der Pastor gluckste. »Wer lehrt dich die Bibel, Jong?« »Mein Vater, Ohm.« »Dann möge der Herr deiner Seele gnädig sein.« Er richtete sich auf und wandte sich an Lothar. »Ich wollte, du würdest statt des Mädchens den Jungen hierlassen«, erklärte er. »Er ist ein vielversprechender junger Mann, und wir brauchen gute Männer im Dienste des Herrn.« »Er ist gut versorgt.« Lothar konnte seine Erregung kaum verbergen. Aber der Pastor heftete den zwingenden Blick wieder auf Manfred »Ich glaube, Jong, daß der Allmächtige bestimmt hat, daß du und ich einander wiedersehen. Wenn der Vater ertrinkt, von einem Löwen gefressen, von den Engländern gehängt oder in irgendeiner anderen Weise vom Herrn bestraft wird, dann komm hierher zurück. Hast du verstanden, Jong? Ich brauche dich, das Volk braucht dich und Gott braucht dich! Mein Name ist Tromp Bierman, die Trompete des Herrn. Kehre in dieses Haus zurück!« Manfred nickte. »Ich werde zurückkommen, um Sarah zu be suchen. Das habe ich ihr versprochen.« 94
Lothar zog Manfred von der Tür fort. »Das Mädchen ist will fährig und an harte Arbeit gewöhnt, Kusine. Du wirst deine Barmherzigkeit nicht bereuen«, rief er über die Schulter zu rück. »Das werden wir erst sehen«, murmelte seine Kusine zwei felnd, und Lothar trat eilig den Rückzug an. »Denk an die Worte des Herrn, Lothar De La Rey«, donnerte die Trompete des Herrn hinter ihnen her. »Ich bin die Wahrheit und das Licht. Wer an mich glaubt –« Manfred entwand sich dem Griff seines Vaters und schaute zurück. Die hohe, hagere Gestalt des Pastors füllte fast die Kü chentür, aber in Höhe seiner Taille war Sarahs schmales Ge sicht zu sehen – im Licht der Petroleumlampe wirkte es weiß wie Porzellan, und Tränen glitzerten darauf. Vier Männer erwarteten sie am vereinbarten Treffpunkt. Die ser Treffpunkt lag mitten in den Hügeln ein paar Meilen nörd lich des Gutes eines wohlhabenden deutschen Rinderzüchters, der ein guter Freund von Lothars Familie war, ein Gleichge sinnter, der sie gewiß auf seinem Land dulden würde. Lothar näherte sich dem Treffpunkt entlang eines trockenen Wasserlaufs, der sich wie eine verstümmelte Puffotter zwi schen den Hügeln hindurchschlängelte. Er marschierte auf recht, damit ihn die wartenden Männer von weitem sehen konnten. Sie waren noch über zwei Meilen vom Treffpunkt entfernt, als vor ihnen auf dem Hügelkamm eine kleine Gestalt auftauchte und zur Begrüßung die Arme schwenkte. Kurz dar auf gesellten sich die anderen drei hinzu, und sie eilten ge meinsam den steinigen Hang herunter, um Lothar und seinen Begleitern bis zum Flußbett entgegenzugehen. Sie wurden angeführt von Vark Van, oder auch Pig John, dem runzeligen gelben Khoisan-Krieger, in dessen Adern das Blut der Nama und der Bergdama floß und, wie er stolz beton 95
te, sogar ein wenig echtes Buschmannblut. Ihm folgte Klein Boy, Swart Hendricks unehelicher Sohn. Er trat sofort auf sei nen Vater zu und begrüßte ihn mit dem traditionellen Zusam menklatschen der Hände. Er war ebenso groß und kräftig ge baut wie Hendrick, hatte aber feinere Gesichtszüge und die mandelförmigen Augen seiner Herero-Mutter. Diese beiden hatten auf den Fischkuttern in Walvis Bay ge arbeitet und waren von Hendrick vorausgeschickt worden, um die anderen beiden zu suchen und zum Treffpunkt zu bringen. Lothar wandte sich nun diesen zu. Es war zwölf Jahre her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er begrüßte sie mit ih ren alten Kriegsnamen: »Legs«, den Owambo mit den Stor chenbeinen, und »Büffel«, dem seine für dieses Tier charakte ristische Kopfhaltung diesen Namen eingetragen hatte. Lothar musterte sie eingehend und sah, was die zwölf Jahre und das leichte Leben bewirkt hatten. Sie waren alt, dick und schlaff geworden. Aber die Aufgabe, tröstete er sich, für die er sie aus ersehen hatte, war nicht besonders anspruchsvoll. »Na«, sagte Lothar grinsend, »wir haben euch wohl von den fetten Bäuchen eurer Frauen heruntergezogen und von euren Bierkrügen weggelockt.« Sie brachen in dröhnendes Gelächter aus. »Wir sind sofort aufgebrochen, als Klein Boy und Pig John deinen Namen nannten«, versicherten sie. »Natürlich, ihr seid nur aus Liebe und Treue gekommen –« erwiderte Lothar mit ätzendem Sarkasmus. »So wie Geier und Schakal aus reiner Liebe zu den Toten kommen.« Wieder lachten sie schallend. Wie sehr sie seine scharfe Zun ge vermißt hatten. »Pig John hat was von Gold gesagt«, gab der Büffel lachend zu. »Und Klein Boy hat uns geflüstert, daß es vielleicht wieder Kampf geben wird.« Lachend ließ die Gruppe das Flußbett hinter sich und kletter te zu dem alten Lagerplatz hinauf, einem niedrigen, überhän genden Felsvorsprung, der vom Rauch zahlloser Lagerfeuer 96
geschwärzt war. Am Höhleneingang hatte man einen weiten Ausblick über die flimmernde Ebene. Es war fast unmöglich, sich der Hügelkuppe unbemerkt zu nähern. Die geheimen Vorräte hatten die Jahre besser überdauert, als Lothar erwartet hatte. Die Konservendosen und die Munitions kisten waren damals natürlich versiegelt worden, und die Mau sergewehre lagen eingeölt in wasserdichtem Ölzeug. Sie waren in ausgezeichnetem Zustand. Sogar Sattelzeug und Decken hatte die trockene Wüstenluft konserviert. Nachdem die Männer gegessen hatten, machten sie sich dar an, das Sattelzeug auszubessern und die Gewehre zu putzen. Während sie arbeiteten, überlegte Lothar, daß es, über das ganze Buschland verteilt, Dutzende solcher geheimer Depots gab; und auch in der geheimen Küstenbasis im Norden, von wo er die deutschen U-Boote mit Treibstoff und Munition versorgt hatte, mußten noch wertvolle Vorräte lagern. Bis zu diesem Augenblick wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, diese Vorratslager zu seinem eigenen Nutzen zu plündern – irgendwie waren ihm diese Waren immer wie ein treuhänderisch verwaltetes Gut vorgekommen. Er fühlte die lockende Versuchung: »Ich könnte in Walvis ein Boot chartern und die Küste hinauf segeln –« Aber dann fiel ihm siedendheiß ein, daß er dieses Land oder Walvis Bay nie wiedersehen würde. Wenn sie das, was sie planten, ausführ ten, gab es keine Rückkehr mehr. Er sprang auf und trat vor den Eingang der Felsnische. Plötz lich hatte er eine Vorahnung von Leid und Unglück. »Werde ich anderswo je glücklich werden?« fragte er sich. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Er drehte sich um und sah, daß Manfred ihn besorgt beobachtete. »Kann ich diese Entscheidung für meinen Sohn treffen?« Er starrte den Jungen an. »Kann ich ihn zu einem Leben in der Fremde verdam men?« Er schob seine Zweifel mit Gewalt beiseite und rief Manfred 97
zu sich. Er führte ihn von der Felshöhle fort, bis sie sich außer Hörweite der anderen befanden. Dann erklärte er ihm wie ei nem Erwachsenen, was vor ihnen lag. »Alles, wofür wir bisher gearbeitet haben, ist uns gestohlen worden, Mani, zwar nicht in den Augen des Gesetzes, aber in den Augen Gottes und der natürlichen Gerechtigkeit. Wir wer den es uns zurückholen, aber das englische Gesetz wird uns als Verbrecher ansehen. Man wird uns jagen wie wilde Tiere. Überleben können wir nur durch Klugheit und Mut.« Manfred sah seinen Vater mit großen, leuchtenden Augen an. Das klang alles so romantisch und aufregend. Er war stolz dar auf, daß sein Vater solche Dinge wie mit einem Erwachsenen mit ihm beredete. »Wir werden nach Norden gehen. In Tanganjika, Njassaland und Kenia gibt es gutes, fruchtbares Land. Viele von unserem Volk sind schon dorthin gegangen. Natürlich werden wir unse ren Namen ändern müssen und können nie mehr hierher zu rückkehren.« »Nie mehr zurückkehren? Aber was wird dann aus Sarah?« Lothar ignorierte die Frage. »Vielleicht kaufen wir eine schöne Kaffeeplantage in Njassaland oder an den Ausläufern des Kilimandscharo. Dort in der Serengeti gibt es noch große Herden von Wild, wir werden Landwirtschaft betreiben und auf die Jagd gehen.« Manfred hörte gehorsam zu, aber seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Wie konnte er seinem Vater erklären, daß er hierbleiben wollte. Er lag noch wach, als die anderen schon lange schliefen und das Lagerfeuer bis auf einen Glutrest niedergebrannt war. Er dachte an Sarah und erinnerte sich an ihr blasses, tränenver schmiertes Gesicht. Plötzlich riß ihn ein seltsamer und beunruhigender Laut aus seinen Träumereien. Er kam aus der Ebene unter ihnen, schien aber durch die Entfernung nichts von seiner Bedrohlichkeit 98
eingebüßt zu haben. Sein Vater hustete leise und setzte sich auf. Der schreckliche Laut kam wieder, schwoll unheimlich an und endete in tiefen Brummtönen. »Was ist das, Pa?« »Man sagt, daß selbst der tapferste Mann Angst hat, wenn er diesen Laut zum ersten Mal hört«, erklärte sein Vater leise. »Das ist das Jagdgebrüll eines hungrigen Kalaharilöwen, mein Sohn.« Als sie in der Morgendämmerung den Hang hinunterstiegen, blieb Lothar am Fuß des Hügels plötzlich stehen und winkte Manfred zu sich. »Du hast seine Stimme gehört – das hier ist seine Fährte.« Er bückte sich und berührte einen der Pranke nabdrücke, die, groß wie Eßteller, tief in die gelbe Erde einge drückt waren. »Ein alter Maanhar, ein männliches Tier, ein Einzelgänger, schon recht alt.« Lothar zeichnete die Umrisse des Abdrucks nach, als könnte er die Geheimnisse eines Abdrucks mit den Fingerspitzen er gründen. »Spürst du, wie glatt seine Ballen sind und wie er das Gewicht beim Gehen auf die Knöchel verlagert? Er tritt mit der rechten Vorderpranke stärker auf; ist also ein Krüppel. Es wird schwer für ihn sein, eine Mahlzeit zu ergattern, vielleicht hält er sich deshalb so nahe bei der Ranch auf. Rinder sind leichter zu erlegen als Wild.« Lothar richtete sich auf und setzte den Weg fort. Er führte sie durch einen breiten Talkessel, der von ein paar natürlichen ar tesischen Brunnen bewässert wurde. Hier wuchs saftiges grü nes Gras, das ihnen bis zu den Knien reichte. Sie kamen an den ersten Rinderherden vorbei, Rinder mit ungeheuren Hökern und mit Wammen, die fast den Boden berührten. Das Gutshaus der Ranch stand auf einer kleinen Anhöhe hin ter dem Brunnen und war von exotischen Dattelpalmen umge 99
ben, die man aus Ägypten importiert hatte. Das Gut war ein altes deutsches Fort aus der Kolonialzeit, Überbleibsel aus dem Hererokrieg im Jahr 1904, als das ganze Gebiet sich gegen die Auswüchse der deutschen Kolonisation erhoben hatte. Der Graf sah sie schon von weitem die staubige Straße he raufkommen und schickte ihnen einen offenen Zweisitzer ent gegen. Der Graf gehörte der Generation von Lothars Mutter an, war aber noch immer ungebeugt, schlank und stattlich. Eine helle Narbe aus einem Duell verunzierte seinen Mundwinkel, und seine Umgangsformen waren altmodisch steif und förm lich. Er schickte Swart Hendrick in den Dienstbotentrakt und führte Lothar und Manfred durch die kühle, dunkle Halle zu ihren Zimmern. Während sie badeten, nahmen sich die Dienstboten ihrer Kleider an und brachten sie innerhalb einer Stunde frisch ge waschen und gebügelt zurück. Zum Abendessen gab es zarte Kalbslendenstücke, dazu einen wundervollen Rheinwein. Zu Manfreds Entzücken folgten verschiedene Torten, Kuchen und Süßigkeiten, während für Lothar die gepflegte Unterhaltung mit Gastgeber und Gastgeberin den weit größeren Genuß dar stellte. Es war ein Vergnügen, über Bücher und Musik zu reden und dem korrekten, kultivierten Deutsch seiner Gastgeber lau schen zu können. Als Manfred beide Hände brauchte, um sein Gähnen zu ver bergen, führte ein Hereromädchen ihn auf sein Zimmer. Der Graf schenkte Lothar einen Schnaps ein und bot ihm eine Ha vanna an. Als die Zigarre richtig zog, erklärte der Graf: »Ich habe den Brief erhalten, den Sie mir aus Windhuk schrieben, und ich war äußerst bekümmert, von Ihrem Unglück zu erfahren. Die Zei ten sind schwer.« Er polierte sein Monokel mit dem Ärmel und fuhr fort: »Ihre selige Frau Mutter war eine feine Dame. Es gibt nichts, was ich für Ihren Sohn nicht tun würde.« Er hielt inne und zog genüßlich lächelnd an seiner Zigarre, bevor er hinzu 100
fügte: »Aber –« Lothars Stimmung sank bei dem Wort, das immer Vorbote von Absagen und Enttäuschungen war. »Aber knapp zwei Wochen bevor ich Ihren Brief erhielt, kam ein Offizier von der Remontenabteilung der Armee auf die Ranch, und ich habe ihm alle überzähligen Tiere verkauft. Ich habe gerade noch genug für unseren eigenen Bedarf.« Obwohl Lothar mindestens vierzig gute Pferde auf den Wei den gezählt hatte, nickte er verständnisvoll. »Natürlich habe ich noch zwei vortreffliche Maultiere – gro ße, kräftige Tiere, die ich Ihnen zu einem günstigen Preis über lassen könnte – sagen wir fünfzig Pfund.« »Für beide?« fragte Lothar respektvoll. »Für jedes«, erwiderte der Graf ruhig. »Und was den anderen Vorschlag in Ihrem Brief betrifft – ich habe es mir zur Regel gemacht, einem Freund niemals Geld zu leihen. Auf diese Weise erspart man sich, sowohl den Freund als auch das Geld zu verlieren.« Lothar ging darauf nicht ein, sondern kam auf das vorherige Thema zurück. »Der Remontenoffizier – hat er auf allen Gü tern in diesem Bezirk Pferde gekauft?« »Soviel ich weiß, hat er fast hundert gekauft.« Der Graf zeig te Erleichterung über Lothars vornehm gelassene Haltung an gesichts seiner Absage. »Alles vorzügliche Tiere. Er war nur an den besten interessiert – wüstenerprobt und immun gegen die afrikanische Pferdeseuche.« »Ich vermute, er hat sie per Eisenbahn nach Süden ge schickt?« »Noch nicht. Er hält sie auf einer Weide am Swakopfluß, um sie auf die Eisenbahnfahrt vorzubereiten. Wie ich höre, will er sie erst abtransportieren, wenn er hundertfünfzig Tiere bei sammen hat.« Sie verließen das Fort am nächsten Morgen nach einem üp pigen Frühstück mit Wurst, kaltem Braten und Eiern. Alle drei 101
ritten sie auf dem breiten Rücken des grauen Maultieres, das Lothar schließlich um zwanzig Pfund erstanden hatte. »Wir sollen also alle auf einem lendenlahmen alten Maultier entkommen«, bemerkte Hendrick. »Auf diesem Geschöpf, das schnell ist wie eine Gazelle, erwischen sie uns nie.« Er klopfte gegen den dicken Bauch des Tieres, und das Maultier behielt seinen gemütlichen Trott bei. »Wir werden es für die Jagd einsetzen«, erklärte Lothar und grinste über Hendricks verdutztes Gesicht. Als sie wieder bei der Felsenhöhle waren, ließ Lothar rasch zwölf Packsattel mit Munition, Proviant und anderen Ausrü stungsgegenständen füllen. Als sie fertig gepackt und ver schnürt waren, legte er sie am Höhleneingang bereit. »Schön«, bemerkte Hendrick grinsend, »die Sättel hätten wir. Jetzt fehlen nur noch die Pferde.« »Wir müßten eine Wache zurücklassen«, sagte Lothar, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »aber wir werden jeden Mann brauchen.« Er übergab Pig John das Geld, weil dieser der Vertrauens würdigste der Bande war. »Fünf Pfund genügen, um eine Badewanne voll ›Cape Smo ke‹ zu kaufen«, meinte er, »und schon ein Glas davon bringt einen Büffelbullen um. Aber merk dir eins, Pig John: Wenn du zu betrunken bist, um beim Reiten im Sattel zu bleiben, dann werd’ ich dich nicht so zurücklassen, daß dich die Polizei ver hören kann, sondern mit einer Kugel im Kopf. Darauf geb’ ich dir mein Wort.« Pig John steckte die Banknote hinter das Schweißband seines Schlapphutes. »Kein einziger Tropfen kommt über meine Lip pen«, sagte er weinerlich. »Der Baas weiß doch, daß er mir Schnaps, Frauen und Geld anvertrauen kann.« Zurück nach Okahandja waren es fast zwanzig Meilen, und Pig John brach sofort auf, um vor Lothar dort zu sein. Die an deren kletterten den Abhang hinunter, und Manfred führte das 102
Maultier am Zügel. Es war vollkommen windstill gewesen, so daß die Fährte des Löwen noch deutlich zu erkennen war. Die Jäger, jeder mit einer neuen Mauser bewaffnet, schwärmten fächerförmig aus und folgten der Löwenfährte. Manfred war von seinem Vater angewiesen worden, weit ge nug zurückzubleiben, und der Junge, der noch immer das wilde Gebrüll im Ohr hatte, war recht froh über den gemütlichen Trott des Maultieres. Die Jäger waren bald außer Sicht, aber sie hatten ihre Spur mit abgebrochenen Zweigen markiert, so daß er leicht folgen konnte. Binnen einer Stunde fanden sie die Stelle, wo der alte Löwe eine der Färsen des Grafen gerissen hatte. Außer dem Kopf, den Hufen und einigen größeren Knochen hatte er nichts von seiner Beute übriggelassen. Lothar und Hendrick suchten rasch das Gebiet rund um das erlegte Tier ab und fanden auch bald die abgehende Fährte. »Er hat sich erst vor einer knappen halben Stunde zurückge zogen«, schätzte Lothar, »möglicherweise hat er uns kommen hören.« »Nein«, widersprach Hendrick und tippte mit dem langen abgeschälten Zweig, den er bei sich trug, auf den Prankenab druck. »Er hat sich ganz gemächlich auf den Weg gemacht. Er war nicht beunruhigt. Er ist jetzt satt und wird zum nächstgele genen Wasser gehen.« »Die Spur führt nach Süden«, bemerkte Lothar. »Vermutlich will er zum Fluß. Dadurch kommt er in die Nähe der Stadt, was uns nur recht sein kann.« Er warf die Mauser wieder über die Schulter und bedeutete seinen Männern, in Schwarmlinie vorzurücken. Sie erklommen eine leichte Anhöhe, und kurz bevor sie die Kuppe erreichten, brach der Löwe direkt vor ihnen aus dem niedrigen Gebüsch und rannte in gestrecktem, katzenähnlichem Lauf auf die offe ne Ebene hinaus. 103
Die Entfernung war beträchtlich, trotzdem eröffneten sie das Feuer auf das rennende Tier. Außer Hendrick war keiner von Lothars Männern ein besonders guter Schütze. Er konnte ihnen einfach nicht begreiflich machen, daß die Geschwindigkeit der Gewehrkugel nichts damit zu tun hatte, wie stark sie den Ab zug betätigten. Lothar sah, daß seine erste Kugel den Löwen knapp verfehl te. Er hatte sich in der Entfernung verschätzt, was in der Wüste immer ein Problem darstellte. Ohne den Gewehrkolben von der Schulter zu nehmen, zielte er noch einmal. Der Löwe zuckte unter dem Schuß zusammen, blieb stehen, schwang seinen großen Kopf herum und schnappte nach der Stelle an der Flanke, wo die Kugel getroffen hatte. Dann ga loppierte er brüllend vor Schmerz und Wut weiter und ver schwand hinter der nächsten Anhöhe. »Er läuft nicht weit!« Hendrick trieb die Jäger vorwärts. Der Löwe ist ein Kurzstreckenläufer. Er kann schnellen Lauf nur über eine kurze Distanz durchhalten. Hetzt man ihn dann, dreht er sich gewöhnlich um und greift an. »Blut!« rief Hendrick, als sie die Stelle erreichten, wo der Löwe von Lothars Kugel getroffen worden war. »Lungenblut!« Sie folgten der Blutspur. »Vorsicht!« rief Lothar, als sie die Hügelkuppe erreichten, hinter der das Tier verschwunden war. »Haltet die Augen of fen! Er liegt irgendwo auf der Lauer –« Kaum hatte er das ge sagt, griff der Löwe an. Er hatte flach an die Erde gepreßt mit zurückgelegten Ohren direkt hinter dem Hügelkamm unter einem Sanseveriastrauch gelegen, und in dem Augenblick, als Lothar am Hügelkamm auftauchte, griff er aus einer Entfernung von nur fünfzehn Me tern an. Lothars erste Regung war, sofort zu feuern, aber er zwang sich, genau zu zielen. Ein Schuß in die Brust oder den Hals würde das Tier nicht auf der Stelle töten, und er war ein toter 104
Mann. Die Mauserkugel war zu leicht und für die Jagd auf Großwild ungeeignet, daher war ein Schuß ins Gehirn die ein zige Möglichkeit, den Löwen aus dieser kurzen Entfernung noch aufzuhalten. Die Kugel traf die Großkatze zwischen den Augen, durch drang den Schädel und das Gehirn und trat am Hinterkopf wie der aus – doch der Löwe wurde durch seinen eigenen Schwung weiterkatapultiert. Der riesige muskulöse Leib prallte mit vol ler Wucht gegen Lothars Oberkörper, so daß er nach rückwärts geschleudert wurde und mit Schulter und Schläfe am Boden aufschlug. Hendrick richtete ihn in eine sitzende Stellung auf und wischte ihm mit beiden Händen den Sand aus Mund und Na senlöchern. Als Lothar seine Hände fortschob, verschwand der ängstliche Ausdruck aus Hendricks Augen, und er grinste. »Du wirst allmählich alt und langsam, Baas«, meinte er la chend. »Hilf mir auf, bevor Manie mich so sieht«, befahl ihm Lo thar, und Hendrick zog ihn hoch. Lothar schwankte, stützte sich schwer auf Hendrick, aber er gab bereits wieder Befehle. »Klein Boy! Legs! Lauft los und haltet das Maultier, bevor es den Löwen wittert und mit Manie durchgeht!« Er machte sich von Hendrick los und wankte unsicher zu dem Löwenkadaver. »Wir werden jeden Mann und eine Menge Glück brauchen, um ihn aufzuladen.« Der Löwe war zwar alt, mager und abgezehrt, doch mit dem Bauch voll Rindfleisch wog er bestimmt noch über zweihun dert Kilo. Lothar hob sein Gewehr auf, wischte sorgfältig den Sand ab und lehnte es gegen den Kadaver. Dann hinkte er eilig zurück zum Hügelkamm. Das Maultier mit Manfred auf dem Rücken war nicht mehr weit entfernt, und Lothar begann zu laufen. »Hast du ihn erwischt, Pa?« rief Manfred aufgeregt. Er hatte 105
die Schüsse gehört. »Ja.« Lothar zog ihn vom Rücken des Maultieres. »Er liegt direkt hinter dem Hügel.« Er überprüfte das Kopfhalfter des Maultieres. Das Halfter war neu und stark, doch er befestigte noch einen zweiten Rie men an dem Eisenring und ließ die beiden Riemen von je zwei Männern halten. Dann verband er dem Maultier mit einem Se geltuchstreifen vorsichtig die Augen. »Okay. Mal sehen, was er macht.« Die Männer am Halfter zogen mit aller Kraft, doch das Maultier stemmte die Hufe ge gen den Boden und rührte sich nicht von der Stelle. Lothar ging um das Tier herum, achtete darauf, daß er nicht in die Reichweite seiner Hinterhufe kam, und verdrehte ihm den Schwanz. Doch das Maultier stand wie ein Felsen. Lothar beugte sich vor und biß es in die Schwanzwurzel, was zur Fol ge hatte, daß es mit beiden Hinterhufen ausschlug. Lothar biß noch einmal zu, und das Maultier kapitulierte. Es trottete widerstrebend auf den Hügelkamm zu, doch kaum war es oben, drehte der Wind, und das Maultier hatte den frischen scharfen Löwengeruch in den Nüstern. Der Geruch des Löwen übt auf alle Tiere, ob Haustier oder Wild, eine merkwürdige Wirkung aus. Kaum hatte das Maul tier den Löwen gewittert, gebärdete es sich wie verrückt. Es wieherte und bäumte sich auf, so daß die Männer an den Half terriemen umgerissen wurden und Lothar nur mit knapper Not den wirbelnden Hufen entging. Dann galoppierte es los und zog die vier Männer eine halbe Meile über Dornengestrüpp und durch tiefe Wasserrinnen mit sich fort, bis es schließlich be bend, schwitzend und mit zitternden Flanken stehenblieb. Sie brachten es wieder zurück, immer noch mit der Binde über den Augen, aber kaum witterte es den Kadaver, da begann die ganze Vorstellung von neuem. Es riß noch zweimal aus, bevor es schließlich schwitzend vor Angst und Erschöpfung und am ganzen Körper zitternd still 106
hielt, als sie den Kadaver auf seinen Rücken hievten und die Pranken des Löwen unter seinem Bauch zusammenbinden wollten. Doch das war zuviel. Das Maultier bäumte sich auf, bockte und schlug aus, bis der Kadaver von seinem Rücken rutschte. Die Männer hielten es mit Mühe fest, und nach einer Stunde harten Kampfes stand es schließlich, erbärmlich zitternd und schnaubend, mit dem Löwenkadaver auf dem Rücken zum Abmarsch bereit. Als Lothar das Halfter nahm und daran zog, stolperte das Tier lammfromm hinter ihm her. Lothar blickte vom Gipfel einer kleinen bewaldeten Anhöhe über den Swakopfluß auf die Dächer und den Kirchturm des Dorfes hinunter. Der Swakop machte hier einen weiten Bogen, und in der Ausbuchtung genau unter ihnen gab es drei kleine grüne Tümpel, die von gelben Sandbänken umgeben waren. Der Fluß führte nur in den kurzen Perioden nach einem Regen Wasser. Sie brachten die Pferde zum Tränken zu den Tümpeln, bevor sie sie für die Nacht in die Koppel sperrten. Der Graf hatte recht gehabt; die Armeeeinkäufer hatten wirklich nur die aller besten Pferde ausgesucht. Lothar betrachtete sie durch ein Fernglas. Es waren kräftige, durchtrainierte Tiere voller Ener gie. Lothar wandte seine Aufmerksamkeit den Viehtreibern zu und zählte fünf farbige Soldaten in der üblichen Khakiuniform. Weiße Offiziere konnte er nicht entdecken. »Sie könnten im Lager sein«, murmelte er und richtete das Fernglas auf die braunen Armeezelte hinter der Pferdekoppel. Da kam ein leiser Piff von hinten, und als er sich umdrehte, sah er Hendrick am Fuß des Hügels winken. Lothar ließ sich von der Kuppe gleiten und kletterte den Hang hinunter. Die 107
Männer lagen im Schatten unter den schütteren Zweigen eines Dornenbaumes und aßen Rindfleisch aus der Dose. Pig John erhob sich, als Lothar bei ihnen anlangte. »Du kommst spät«, tadelte Lothar, packte ihn an der Leder weste, zog ihn zu sich heran und schnupperte an seinem Atem. »Nicht einen Tropfen, Master«, winselte Pig John. »Ich schwör’ es bei der Jungfräulichkeit meiner Schwester.« »Das ist eine Legende.« Lothar ließ ihn los und warf einen Blick auf den Sack zu Pig Johns Füßen. »Zwölf Flaschen. Genau wie du befohlen hast.« Lothar öffnete den Sack und nahm eine Flasche des berüch tigten »Cape Smoke« heraus. Der Flaschenhals war mit Wachs versiegelt, und als er die Flasche gegen das Licht hielt, konnte er die dunkle, giftigbraune Farbe des Branntweins erkennen. »Was hast du herausgefunden?« fragte Lothar und steckte die Flasche in den Sack zurück. »Im Lager sind sieben Pferdeknechte –« »Ich hab’ nur fünf gezählt.« »Sieben«, beharrte Pig John, und Lothar gab sich zufrieden. »Was ist mit den weißen Offizieren?« »Die sind gestern nach Otjiwaronga geritten, um noch mehr Pferde zu kaufen.« »In einer Stunde ist es dunkel«, meinte Lothar nach einem Blick auf die Sonne. »Nimm den Sack und geh ins Lager.« »Was soll ich denen erzählen?« »Sag ihnen, daß du den Branntwein billig verkaufst – und dann gib ihnen eine Gratiskostprobe. Du bist doch ein berühm ter Lügner, erzähl ihnen irgendwas.« »Und wenn sie nicht trinken?« Lothar machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu ant worten. »Sobald der Mond über den Baumwipfeln steht, breche ich auf. Du hast also vier Stunden, sie mit deinem Branntwein einzuschläfern.« Die Flaschen klirrten, als Pig John den Sack auf die Schulter 108
nahm. »Und denk dran, Pig John, ich will, daß du nüchtern bleibst, sonst bist du ein toter Mann – und das ist mein voller Ernst.« »Glaubt der Master vielleicht, ich bin ein Tier, das nicht wie ein Gentleman trinken kann?« sagte Pig John, richtete sich auf und marschierte entrüstet davon. Als die Sonne unterging und die Nacht hereinbrach, war Lo thar wieder auf seinem Ausguck. Wie ein Seemann spürte er genau die Stärke und Richtung des Nachtwindes, der unbere chenbar böig war. Eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit legte der Wind sich schließlich und blies gleichmäßig aus einer Richtung in Lothars Nacken. »So sollte es bleiben«, murmelte Lothar und stieß einen lei sen Pfiff aus. Hendrick war im Nu bei ihm. »Überquere stromaufwärts den Fluß und umgehe das Lager in weitem Bogen. Dann kehre um und achte darauf, daß dir der Wind immer ins Gesicht bläst.« In diesem Augenblick hallte vom Lager jenseits des Flusses ein schwacher Ruf herüber, und beide blickten auf. Das Lager feuer vor der Zeltreihe war nachgeschürt worden, und die Flammen loderten bis zu den unteren Ästen der Kameldorn bäume empor. Im Feuerschein waren die dunklen Gestalten der farbigen Soldaten zu erkennen. »Was, zum Teufel, machen die da?« wunderte sich Lothar. »Tanzen sie oder kämpfen sie?« »Das wissen sie wohl selbst nicht so genau«, meinte Hen drick kichernd. Die Soldaten tanzten um das Feuer, stießen gegeneinander, fielen in den Sand, krochen weiter oder standen mühsam wie der auf. »Es wird Zeit, daß du aufbrichst.« Lothar klopfte Hendrick auf die Schulter. »Nimm Mani mit. Er soll die Pferde halten.« Hendrick kletterte den Abhang zurück, hielt aber kurz inne, als Lothar leise hinter ihm herrief: »Du trägst die Verantwor 109
tung für Mani. Du haftest mir mit deinem Leben für ihn.« Hendrick verschwand ohne eine Antwort in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später sah Lothar die beiden beim Überque ren der Sandbank, dann waren sie im Gebüsch verschwunden. Der Horizont wurde allmählich heller, und die Sterne im Osten verblaßten im Schein des aufgehenden Mondes. Im La ger jenseits des Flusses war es still geworden. Durch das Fern glas konnte Lothar die Gestalten der Soldaten erkennen, die wie auf einem Schlachtfeld bunt durcheinandergewürfelt rund um das Feuer lagen. Einer von ihnen sah wie Pig John aus, aber Lothar war sich nicht ganz sicher. »Wenn er es ist, dann ist er ein toter Mann«, murmelte Lo thar und stand auf. Es war Zeit zum Aufbruch. Das Maultier, das mit seiner schrecklichen Last auf dem Rücken unter den Bäumen angebunden war, schnaubte leise. »Nun hast du’s bald überstanden«, sagte Lothar und strich dem Tier über den Kopf. »Du hast dich gut gehalten, mein Al ter.« Er löste den Riemen, nahm die Mauser von der Schulter und führte das Maultier um den Hügel herum zum Fluß. Von Anpirschen konnte keine Rede sein, nicht mit dem gro ßen hellen Tier und seiner schweren Last auf dem Rücken. Als sie durch den tiefen Sand des Flußbettes stapften, lud Lothar das Gewehr nach und behielt die Bäume am anderen Ufer scharf im Auge, obwohl er eigentlich keinen Wachtposten er wartete. Das Lagerfeuer war niedergebrannt, und es war vollkommen still. Erst als sie die Uferböschung erklommen hatten, hörte Lothar das Stampfen eines Hufes und das leise Schnauben ei nes Pferdes in der Koppel. Der Wind blies noch immer gleich mäßig von hinten, und plötzlich wieherte eines der Pferde ent setzt auf. »Gut so – nimm ruhig noch eine Nase voll.« Lothar führte das Maultier auf die Koppel zu. Das Stampfen der Hufe wurde lauter, die Pferde wurden all 110
mählich unruhig. Die Angst, die der scharfe Geruch des Lö wenkadavers auslöste, erfaßte im Nu die ganze Herde. Vor dem Koppelzaun hielt Lothar das Maultier an und durch schnitt den Riemen, mit dem der Löwe auf seinem Rücken festgebunden war. Der Kadaver rutschte herunter und schlug auf dem Boden auf. Lothar bückte sich und schlitzte den Bauch des Löwen auf. Augenblicklich war die Luft von dem scharfen, widerlichen Gestank erfüllt. Die Herde geriet in Panik. Lothar hörte, wie sie in dem Ver such, vor dem entsetzlichen Geruch zu fliehen, auf der anderen Seite der Koppel gegen den Zaun rannten. Er hob das Gewehr, zielte knapp über die Köpfe der rasenden Pferde hinweg und schoß das Magazin leer. Die Pferde durchbrachen den Zaun und galoppierten mit fliegenden Mähnen hinaus in die Nacht, genau dorthin, wo Hendrick mit seinen Männern wartete. Hastig band Lothar das Maultier an und lud das Gewehr nach, während er auf das verglühende Lagerfeuer zustrebte. Einer der Soldaten war selbst in seinem betrunkenen Zustand durch das Stampfen der Pferde aufgewacht and wankte unsi cher auf die Koppel zu. »Die Pferde«, brüllte er. »Los, ihr betrunkenen Schweine! Wir müssen die Pferde aufhalten!« Da sah er Lothar. »Helfen Sie mir! Die Pferde –« Lothar schlug ihm den Gewehrkolben unter das Kinn. Der Soldat setzte sich in den Sand und fiel langsam hintenüber. Lothar ließ ihn liegen und rannte weiter. »Pig John!« rief er eindringlich. »Wo bist du?« Als er keine Antwort erhielt, eilte er zu der liegenden Gestalt hinter dem Feuer, die er vom Ausguck aus gesehen hatte. Er drehte den Mann mit dem Fuß um. Pig John starrte mit blicklosen Augen und einem glücklichen Lächeln in den Mond. »Auf!« Lothar trat mit voller Kraft zu. Pig Johns Lächeln verschwand nicht. Er war jenseits von Schmerz und Wirklich 111
keit. »Na schön, ich hab’ dich gewarnt!« Er legte den Lauf an Pig Johns Kopf an. Wenn er der Polizei lebend in die Hände fiel, genügten ein paar Hiebe mit der Nil pferdpeitsche, und Pig John würde reden. Wenn er auch nicht alle Einzelheiten des Planes kannte, so wußte er doch genug, um alle ihre Chancen zunichte zu machen und Lothar wegen Pferdediebstahls und Zerstörung von Armeeigentum auf die Liste der meistgesuchten Verbrecher zu setzen. »Das ist noch viel zu gut für ihn«, dachte er wütend. »Man sollte ihn zu Tode peitschen.« Aber er nahm den Finger vom Abzug und verfluchte seine Schwäche, als er das Gewehr wie der sicherte und zurücklief, um das Maultier zu holen. Obwohl Pig John ein dünner kleiner Mann war, kostete es Lothar einige Mühe, seinen schlaffen Körper auf den Rücken des Maultieres zu hieven. Lothar stieg hinter ihm auf, trieb das Maultier zur schnellsten Gangart an und lenkte es in die Windrichtung. Nach einer Weile dachte er, er habe seine Männer verfehlt, doch als er das Maultier anhielt, tauchte Hendrick direkt vor ihm aus der Dunkelheit auf. »Wie läuft’s? Wie viele hast du erwischt?« rief Lothar be sorgt. »So viele, daß uns die Halfter ausgegangen sind.« »Sechsundzwanzig!« jubelte Lothar, als er die angebundenen Pferde gezählt hatte. »Jetzt können wir sie uns sogar aussu chen.« Er unterdrückte seine Freude. »Gut, wir brechen sofort auf. Sobald die Armee Truppen hier oben hat, werden sie hinter uns her sein.« Er nahm dem Maultier das Halfter ab und gab ihm einen Klaps aufs Hinterteil. »Danke, alter Junge«, sagte er. »Du kannst jetzt nach Hause gehen.« Das Maultier nahm das Ange bot bereitwillig an und schaffte es sogar, die ersten hundert Meter seines Heimweges im Galopp zurückzulegen. Jeder von ihnen nahm sich ein Pferd, stieg auf und zog drei 112
oder vier Pferde hinter sich her. In der Morgendämmerung hielten sie kurz an, und Lothar nahm die gestohlenen Pferde in Augenschein. Zwei von ihnen hatten sich bei dem Durcheinander in der Koppel verletzt, und er ließ sie frei. Die anderen waren von so ausgesuchter Quali tät, daß die Wahl schwerfiel, obwohl sie nun mehr Pferde hat ten, als sie brauchten. Inzwischen erwachte Pig John aus seiner Bewußtlosigkeit und setzte sich auf. Er betete murmelnd zu seinen Ahnen und zu den Hottentottengöttern, daß sie ihn von seinen Leiden erlö sen mögen, und übergab sich geräuschvoll. »Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen«, versprach ihm Lothar und wandte sich dann an Hendrick. »Wir nehmen alle. In der Wüste werden wir sicher ein paar verlieren.« Sie erreichten die Felsenhöhle kurz vor Mittag, hielten aber nur an, um die Packsättel auf die Reservepferde zu verteilen und ihre eigenen Pferde zu satteln. Dann führten sie die Pferde den Hügel hinunter zum Wasserloch, um sie zu tränken. »Wieviel Vorsprung haben wir?« fragte Hendrick. »Die farbigen Soldaten können ohne ihre weißen Offiziere nichts unternehmen. Es kann zwei oder drei Tage dauern, bis sie zurück sind. Dann werden sie um weitere Befehle nach Windhuk telegrafieren und hernach einen Spähtrupp zusam menstellen. Ich würde sagen, wir haben mindestens drei Tage, eher sogar vier oder fünf.« »In drei Tagen kommen wir weit«, sagte Hendrick zufrieden. »Weiter als sonst jemand«, stimmte Lothar zu. Das war eine Tatsache, keine Übertreibung. Die Wüste war Lothars Reich. Nur wenige weiße Männer kannten sie so genau wie er, und keiner kannte sie besser. »Sollen wir aufsitzen?« fragte Hendrick. »Ich hab’ noch etwas zu erledigen.« Lothar nahm die übrigen Lederriemen aus seiner Satteltasche und schlang sie um sein rechtes Handgelenk, so daß die Messingschnallen herunterhin 113
gen. Dann ging er zu Pig John, der kläglich im Schatten der Uferböschung saß und das Gesicht in den Händen vergraben hielt. In seiner Not hörte er Lothar nicht kommen. »Ich hab’ es dir versprochen«, erklärte Lothar tonlos. »Master, ich konnte nichts machen«, schrie Pig John und versuchte sich hochzurappeln. Lothar holte aus. Der Hieb traf Pig John am Rücken, und die Messingschnallen wickelten sich um seinen Oberkörper und rissen eine tiefe Wunde in das Fleisch unterhalb der Achsel. Pig John heulte auf. »Sie haben mich gezwungen. Sie haben mich zum Trinken gezwungen –« Der nächste Hieb riß ihn von den Beinen. Er brüllte weiter, aber je öfter die Lederriemen auf seine gelbe Haut heruntersau sten, desto unzusammenhängender wurden seine Worte. Als er schließlich verstummte, trat Lothar schweratmend zurück und wischte die blutroten Lederriemen an einem Satteltuch ab. Dann blickte er in die Gesichter seiner Männer. Die Züchti gung hatte ihnen ebenso gegolten wie dem zusammenge krümmten Mann zu seinen Füßen. Sie waren wie wilde Wölfe und verstanden nur Strenge, respektierten nur Grausamkeit. Hendrick nahm für sie alle das Wort: »Eine gerechte Strafe für ihn. Soll ich ihn fertigmachen?« »Nein! Laß ein Pferd für ihn da.« Lothar wandte sich ab. »Wenn er wieder zu sich kommt, kann er uns folgen oder zur Hölle gehen.« Er schwang sich in den Sattel und mied den be troffenen Blick seines Sohnes. »Also los.« Lothar fühlte sich blendend. Vor ihm lag die offene Wüste. Mit dem Diebstahl der Pferde hatte er das Gesetz übertreten – er war wieder ein Bandit und frei von allen gesellschaftlichen Zwängen. Er führte seine Männer nach Nordosten, hinein in die weite, glühende Kalahari. Im Laufe der Nacht, als sie in einer tiefen Schlucht lagerten, damit der Schein ihres Feuers nicht gesehen werden konnte, 114
wurden sie durch einen leisen Pfiff des Wachpostens geweckt. Sie rollten sich aus den Decken, ergriffen ihre Gewehre und verschwanden in der Dunkelheit. Die Pferde schnaubten und scharrten mit den Hufen. Dann ritt Pig John in den Lichtkreis und stieg vom Pferd. Er blieb neben dem Feuer stehen wie ein geprügelter Straßenköter, der darauf wartet, daß man ihn fortjagt. Die anderen tauchten aus der Dunkelheit auf und wickelten sich, ohne ihn anzusehen oder auch nur zu beachten, wieder in ihre Decken. »Leg dich auf die andere Seite des Feuers«, befahl Lothar schroff. »Du stinkst nach Brandy.« Pig John wand sich förmlich vor Erleichterung und Dankbar keit, daß er wieder in den Kreis aufgenommen war. Bei Tagesanbruch bestiegen sie die Pferde und ritten in die grenzenlose, glühende Einöde der Wüste. Die Straße zur H’ani-Mine war vermutlich eine der schlech testen von ganz Südwestafrika, und jedesmal wenn Centaine zur Mine hinausfuhr, nahm sie sich vor, die Straße ausbessern zu lassen. Aber die Telegraphenleitung, die die Mine mit Windhuk verband, war schon teuer genug gewesen. Immerhin dauerte die Fahrt nur drei Tage, und sie mußte kaum öfter als dreimal im Jahr herkommen. Außerdem war die Fahrt wirklich noch ein Abenteuer. Sie erinnerte sich etwas wehmütig an die ersten Jahre, als sie noch im Freien kampieren und das Wasser selbst mitbringen mußten. Inzwischen gab es in regelmäßigen Abständen Rast stätten mit Tiefbrunnen und Dienstboten, die die Stationen durchgehend bewirtschafteten und für das Wohl der Gäste sorgten. Auf der Straße herrschte jetzt ein reger Verkehr. Es war Hochsommer und die Hitze erdrückend. An der Ka rosserie des Daimlers konnte man sich die Finger verbrennen, und sie waren gezwungen, regelmäßig anzuhalten, weil das 115
Wasser im Kühler zu kochen begann. Sie dachte daran, wie sie mit dem alten Buschmannpaar, das ihr das Leben gerettet hatte, zu Fuß durch die schreckliche Dü nenlandschaft der Wüste Namib gewandert war, wo sie ihre Körper mit einer Mischung aus Sand und Urin hatten bedecken müssen, um die ungeheure Mittagshitze zu überleben. »Warum lachst du, Mutter?« fragte Shasa. »Ach, mir ist gerade etwas eingefallen, das lange vor deiner Geburt war.« »Erzähl es mir, oh, bitte, erzähl es mir.« Ihm schienen die Hitze, der Staub und das schmerzhafte Holpern des Wagens nicht das geringste auszumachen. Warum sollte es auch? Sie lächelte ihm zu. Immerhin war er hier zur Welt gekommen. Auch er war ein Geschöpf der Wüste. Shasa deutete ihr Lächeln als Einwilligung. »Komm schon, Mutter. Erzähl mir die Geschichte.« »Pourquoi pas? Warum eigentlich nicht?« Sie erzählte es ihm und sah das Entsetzen in seinem Blick. »Überrascht dich das?« neckte sie ihn. »Dann hör erst, was wir taten, als das Wasser in unseren Straußeneiern zu Ende ging. O’wa, der alte Buschmann, tötete mit seinem Giftpfeil einen Antilopenbullen, dann nahmen wir den Pansen heraus, preßten die Flüssigkeit aus dem unverdauten Mageninhalt und tranken sie. Das hielt uns gerade so lange am Leben, bis wir die Schluckbrunnen erreichten.« »Mutter!« »Gewiß, chérie, auch mir ist Champagner lieber, aber in der Not trinke ich alles, um am Leben zu bleiben.« Sie schwieg, während er über ihren letzten Satz nachdachte. »Was hättest du getan, chérie? Hättest du das Zeug getrunken oder wärest du lieber gestorben?« fragte sie, um sich davon zu überzeugen, daß er die Lektion begriffen hatte. »Ich hätte das Zeug getrunken«, antwortete er ohne Zögern und fügte hinzu: »Weißt du, Mutter, du bist wirklich eine Ka 116
none!« Das war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte. Als sie weiterfuhren, überließ Centaine ihrem Sohn das Steu er. Die Fahrt auf der Ebene war einer der einfacheren Ab schnitte der Reise, und außerdem fuhr er gut. Sie machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem, und nach einer Weile brach Shasa das Schweigen. »Wenn wir allein sind, bist du immer ganz anders als sonst.« »Alles, was man zu lange macht, wird langweilig«, erklärte sie behutsam. »Der Trick liegt in der Abwechslung. Heute ha ben wir hier Spaß, morgen sind wir in der Mine, und dort war ten andere aufregende Dinge auf uns, und danach kommt wie der etwas anderes. Wir werden alles auskosten.« Twentyman-Jones war zur Mine vorausgefahren, während Centaine drei Tage länger in Windhuk blieb, um mit Abraham Abrahams den Schreibkram zu erledigen. Daher hatte er die Dienstboten in den Raststätten von ihrem Kommen unterrich ten können. Als sie an diesem Abend das letzte Rasthaus erreichten, war alles zu Centaines vollster Zufriedenheit vorbereitet. Sie brachen noch vor Tagesanbruch wieder auf und hielten bei Sonnenaufgang an, um auf einem Feuer aus Kameldorn zweigen Kaffee zu kochen. Das grobmaserige Holz verbrannte mit dunkelblauer Flamme und verlieh dem Kaffee ein beson ders köstliches Aroma. Sie verspeisten das Frühstück, das die Rasthausköchin für sie eingepackt hatte, spülten es mit dem dampfendheißen Kaffee hinunter und sahen sich den Sonnen aufgang an. Als sie weiterfuhren, stieg die Sonne höher und ließ die Landschaft, aus der jede Farbe zu weichen schien, un ter ihren grellen, silbrigweißen Strahlen erblassen. »Halt an!« befahl Centaine plötzlich, und Shasa war erstaunt, als sie auf das Dach des Daimler kletterte und nach vorn starr te. »Was ist los, Mutter?« »Siehst du es denn nicht, chérie?« Sie zeigte nach vorn. »Da! 117
Über dem Horizont.« Es trieb am Himmel, zart und verschwommen. »Der Berg, der am Himmel schwebt«, murmelte Centaine. Jedesmal wenn sie den Berg so sah, überwältigte der Anblick sie wie beim allerersten Mal. »Der Ort des Lebens.« Das war der Buschmanname für diesen Berg. Als sie weiterfuhren, wurden die Umrisse deutlicher, das ver schwommene Bild verwandelte sich in einen steilen Bergrük ken, unter dem sich dichter Mopaniwald ausbreitete. Stellen weise waren die Felsen schroff und von Rinnen und Schluchten durchfurcht. An anderen Stellen waren sie glatt und hoch und bewachsen mit hellen, schwefelgelben grünen oder orangefar benen Flechten. Die H’ani-Mine schmiegte sich an eine dieser jäh abfallenden Felswände, und die Gebäude wirkten klein und unbedeutend in dieser Umgebung. Centaine hatte Twentyman-Jones angewiesen, die Gebäude möglichst unauffällig zu gestalten, ohne daß natürlich die Pro duktivität der Arbeit darunter litte, aber er hatte ihren Anwei sungen nur begrenzt Folge leisten können. Die eingezäunten Unterkünfte der schwarzen Arbeiter und der Verwitterungs platz für die blaue diamanthaltige Erde waren recht groß ausge fallen, während Stahlgerüst und Förderwerk der Waschanlage hoch emporragten wie der Bohrturm einer Ölförderanlage. Doch die schlimmste Verwüstung war durch den ungeheuren Appetit des Dampfkessels auf Klafterholz entstanden. Um ihn zu stillen, war ein großer Teil des Waldes am Fuß des Berges abgeholzt worden, und anstelle der hohen grauen Baumstämme wucherte dort jetzt unansehnliches struppiges Dickicht. Twentyman-Jones erwartete sie bereits, als sie vor dem Ver waltungsgebäude aus dem staubbedeckten Daimler stiegen. »Hatten Sie eine gute Reise, Mrs. Courtney?« fragte er mit gewohnter Trauermiene. »Ich nehme an, Sie werden sich erst ausruhen und frisch machen wollen.« 118
»Seien Sie nicht albern, Dr. Twentyman-Jones. Gehen wir an die Arbeit.« Centaine schritt über die breite Veranda zu ihrem Büro. »Setz dich neben mich«, befahl sie Shasa, als sie hinter dem Schreibtisch Platz nahm. Sie begannen mit den Rechenschaftsberichten und gingen dann weiter zu den Kostenplänen. »Wie hoch ist der Preis pro Karat, wenn wir einen Durch schnitt von dreiundzwanzig Karat pro Load annehmen?« fragte sie Shasa plötzlich, und als er die Frage nicht beantworten konnte, runzelte sie die Stirn. »Das ist nicht der richtige Zeit punkt zum Träumen.« Dann wandte sie sich betont von ihm ab, um den Verweis zu unterstreichen. »Nun denn, Dr. Twenty man-Jones, jetzt sind wir dem unerfreulichen Thema lange genug ausgewichen. Überlegen wir, welche Einsparungen nötig sind, um der Quotenkürzung zu begegnen und den Betrieb der H’ani-Mine trotzdem aufrechterhalten zu können.« Es dämmerte bereits, als Centaine die Arbeit endlich abbrach und aufstand. »Wir machen morgen weiter.« Sie streckte sich wie eine Katze und trat auf die Veranda hinaus. »Shasa wird wie vereinbart für Sie arbeiten. Ich denke, er sollte bei der Förderung beginnen.« »Das wollte ich soeben vorschlagen, Madam.« »Wann soll ich anfangen?« fragte Shasa. »Die Schicht beginnt um fünf Uhr früh, aber Master Shasa wird vermutlich nicht so früh aufstehen wollen?« TwentymanJones warf Centaine einen Blick zu. Das war natürlich eine Herausforderung und ein Test. Centaine schwieg und überließ Shasa die Entscheidung. »Ich bin um halb fünf an der Hauptförderanlage, Sir«, sagte er. Centaine entspannte sich und nahm seinen Arm. »Dann soll test du lieber früh zu Bett gehen.« Sie lenkte den Daimler in die Straße mit den kleinen Einfamilienhäusern, die von den weißen Vorarbeitern und Handwerkern und deren Familien bewohnt wurden. Die 119
kern und deren Familien bewohnt wurden. Die gesellschaftli chen Regeln hielt man in der H’ani-Mine streng ein. Die schwarzen Arbeiter lebten in den umzäunten und bewachten Unterkünften, die weiß gekalkt waren und eher Stallgebäuden glichen. Nur für die schwarzen Vorarbeiter, die ihre Familien bei sich haben durften, gab es eigene, hübschere Unterkünfte. Während die weißen Handwerker und Vorarbeiter in den Häu sern am Fuß des Berges lebten, wohnten die Verwaltungsange stellten weiter oben am Berghang, wobei die Gebäude um so größer, die umgebenden Rasenflächen um so ausgedehnter wurden, je höher sie lagen. Als sie am Ende der Straße abbogen, sah Shasa auf den Ein gangsstufen des letzten Hauses ein Mädchen sitzen. Als der Daimler vorbeifuhr, streckte sie ihm die Zunge heraus. Es war fast ein Jahr her, seit Shasa das Mädchen zum letzten Mal ge sehen hatte, und in dieser Zeit hatte die Natur Erstaunliches bewirkt. Ihre Füße waren noch immer nackt und bis hinauf zu den Knöcheln voll Schmutz, ihre Locken nach wie vor zerzaust und von der Sonne gebleicht, aber der verwachsene Stoff ihrer Bluse lag nun so eng an, daß er ihre sprießenden Brüste ab schnürte. Ihre Knie hatten sich gerundet, ihre Beine waren länger ge worden. An den Knöcheln waren sie kaffeebraun und an den Innenseiten der Schenkel glatt und weiß wie Sahne. Sie saß mit leicht gespreizten Beinen auf der Verandastufe und öffnete die Knie unter Shasas Blick noch ein wenig mehr. Sie hatte eine mit Sommersprossen übersäte Stupsnase, die sie jetzt rümpfte, als sie ihn angrinste. Es war ein verschlagenes, kesses Grinsen, bei dem ihre Zunge hellrosa zwischen den weißen Zähnen her vorlugte. Schuldbewußt riß Shasa den Blick von ihr los und schaute starr geradeaus, aber dabei erinnerte er sich lebhaft an jede Einzelheit jener verbotenen Minuten hinter dem Pumpenhaus. Er warf seiner Mutter einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie 120
schaute geradeaus auf die Straße und schien nichts bemerkt zu haben. Er war erleichtert, bis sie plötzlich murmelte: »Sie ist eine ordinäre kleine Dirne, die allen Männern schöne Augen macht. Ihr Vater ist einer von denen, die wir entlassen werden. Dann sind wir auch sie los, bevor sie uns und sich selbst in echte Schwierigkeiten bringen kann.« »Was wird aus ihnen, Mutter?« fragte er leise. »Ich meine, aus den Leuten, die wir entlassen.« Als seine Mutter und Twentyman-Jones über die Entlassungen gesprochen hatten, waren ihm die Leute bloß als Nummern erschienen. Aber durch den Anblick des Mädchens waren sie zu Fleisch und Blut ge worden. Er stellte sich Annalisa Botha in einem Obdachlosen lager vor. »Ich weiß nicht, was aus ihnen wird.« Seine Mutter preßte die Lippen zusammen. »Und ich denke, das sollte uns auch nicht im geringsten kümmern. Das Leben ist hart, und jeder muß auf seine Weise damit fertigwerden. Ich denke, wir sollten lieber überlegen, was geschieht, wenn wir sie nicht entlassen.« »Wir machen Verluste.« »Richtig. Und wenn wir Verluste machen, müssen wir die Mine schließen, was zur Folge hätte, daß alle unsere Leute ihre Arbeit verlieren, nicht nur die wenigen, die wir entlassen müs sen. Dann leiden wir alle. Und täten wir das mit allem, was uns gehört, dann würden wir am Ende alles verlieren. Wir müßten so leben wie sie. Würde dir das gefallen?« Shasa sah sich barfuß und in schmutzigen, zerrissenen kurzen Hosen in einem Obdachlosenlager. »Nein!« rief er spontan aus und senkte dann die Stimme. »Wird das je geschehen, Mutter? Könnte das geschehen? Könnten auch wir arm werden?« »Es könnte schon geschehen, chérie. Es könnte sogar sehr schnell geschehen, wenn wir nicht jede Minute auf der Hut sind. Ein Vermögen zu erarbeiten ist äußerst schwer, es zu ver lieren sehr leicht.« »Wird das geschehen?« fragte er hartnäckig und dachte dabei 121
an seine Segeljacht, seine Poloponys, seine Schulfreunde und an die Weingärten von Weltevreden. »Nichts auf dieser Welt ist ganz sicher.« Sie griff herüber und nahm seine Hand. »Das ist der eigentliche Spaß an diesem Spiel, das wir Leben nennen.« »Ich möchte nicht arm sein.« »Nein«, sagte sie mit demselben Nachdruck wie er. »Das wird auch nicht geschehen, wenn wir geschickt und klug sind.« »Was du über den Welthandel gesagt hast und, daß die Leute unsere Diamanten nicht mehr kaufen können …« »Wir müssen daran glauben, daß sich die Räder eines Tages wieder anders drehen, und uns an die goldenen Regeln des Ge schäftslebens halten. Weißt du sie noch?« Sie fuhr die Serpen tinen hinauf, und die Gebäude der Mine verschwanden hinter dem Bergrücken. »Wie lautet die erste goldene Regel, Shasa?« fragte sie. »Verkaufe, wenn alle anderen kaufen, und kaufe wenn alle anderen verkaufen«, antwortete er. »Gut. Und was geschieht im Augenblick?« »Jeder will verkaufen.« Da ging ihm ein Licht auf, und er grinste triumphierend. Sie wartete, bis er alles durchdacht hatte und den ausschlag gebenden Punkt entdeckte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Aber, Mutter, wie können wir kaufen, wenn wir kein Geld haben?« Sie fuhr den Wagen an den Straßenrand und stellte den Mo tor ab. »Ich behandle dich jetzt wie einen Mann«, sagte sie. »Was ich jetzt sage, ist unser Geheimnis, unsere Privatsache, die niemanden etwas angeht, weder Großvater, noch Anna, noch Abraham Abrahams oder Twentyman-Jones. Es ist unsere An gelegenheit, deine und meine.« Er nickte, und sie holte tief Atem. »Ich habe das Gefühl, daß diese Katastrophe, in die die 122
ganze Welt hineingezogen worden ist, unsere große Chance ist, eine Gelegenheit, die sich nur sehr wenigen bietet. Ich habe in den letzten paar Jahren Vorkehrungen getroffen, um diese Ge legenheit zu nützen. Und weißt du, wie ich das gemacht habe, chérie?« Er schüttelte den Kopf und starrte sie fasziniert an. »Ich habe alles außer der Mine und Weltevreden zu Bargeld gemacht und selbst auf diese beiden enorme Hypotheken auf genommen.« »Darum hast du allen Schuldnern die Anleihen gekündigt. Deswegen sind wir wegen dieser Fischfabrik und den Trawlern nach Walvis Bay gefahren – du wolltest das Geld« »Ja, chérie. Ja.« Sie wollte, daß er selbst dahinterkäme. »Du willst kaufen!« rief er aus. »Ich hab’ schon damit begonnen«, erklärte sie. »Ich habe Land und Bergwerkskonzessionen gekauft, Fischereikonzes sionen und Gebäude. Ich habe das Alhambratheater in Kapstadt und das Kolosseum in Johannesburg gekauft. Aber was ich vor allem gekauft habe, ist Land und Optionen auf noch mehr Land, hunderttausende Morgen Land, chérie, den Morgen zu zwei Shilling. Land ist die einzig richtige Geldanlage.« Er konnte es nicht ganz begreifen, aber er ahnte die Unge heuerlichkeit dessen, was sie ihm mitteilte, und sie sah es in seinen Augen. »Jetzt kennst du unser Geheimnis«, meinte sie lachend. »Wenn ich richtig geschätzt habe, werden wir unser Vermögen vervielfachen.« »Und wenn die –«, er suchte nach dem Wort, »wenn die De pression für immer anhält, was dann, Mutter?« Sie spitzte die Lippen. »Dann, chérie, ist ohnehin alles verlo ren.« Sie ließ den Motor an und fuhr das letzte Stück zu dem Bun galow hinauf, der mitten in einer Parkanlage stand. Die Fenster waren hell erleuchtet, und auf der vorderen Veranda standen 123
die Dienstboten in ihren makellos weißen Livreen, um sie zu begrüßen. Sie parkte vor der Eingangstreppe, stellte den Motor ab und wandte sich ihm noch einmal zu. »Nein, chérie, wir werden nicht arm. Wir werden reich, viel reicher als je zuvor. Und später dann werden wir durch dich, mein Liebling, zum Reichtum auch die Macht haben. Oh, ich habe alles geplant, genau geplant!« Ihre Worte ließen Shasa nicht zur Ruhe kommen. Er konnte nicht einschlafen. Reichtum und Macht. Die Worte erregten und beunruhigten ihn. Er versuchte sich vorzustellen, was sie zu bedeuten hatten, und sah sich wie als Superman im Zirkus in Leopardenfell und mit ledernen Armbändern auf einer Pyramide von Goldstücken stehen, während eine andächtige Menge in weißen Roben vor ihm kniete und ihm huldigte. Allerdings fehlte dieser Vorstellung der letzte Schliff, bis er einer dieser weißgekleideten Gestalten eine Krone aus zerzau sten, sonnengebleichten Locken aufsetzte. Er stellte sie in die vorderste Reihe, und sie hob den Kopf und streckte ihm die Zunge heraus. Seine Erektion kam so plötzlich und so stark, daß er ruckartig Atem holte und unwillkürlich mit der Hand unter die Decke griff. In seiner Phantasie setzte Annalisa sich auf, spreizte ihre lan gen Beine und hob langsam ihre weiße Robe hoch. Die Haut ihrer Beine war glatt wie Butter, und er stöhnte leise. Sie starrte schamlos auf sein Leopardenfell und fuhr sich mit der Zunge über die leicht geöffneten Lippen. Es kam scharf und schmerzhaft wie ein Bajonettstoß, so daß er unwillkürlich aufschrie und in die Kissen zurücksank. Annalisas sommersprossiges, keck grinsendes Gesicht ver 124
blaßte, und die feuchte Vorderseite seines Pyjamas wurde eis kalt, aber er brachte nicht den Willen auf, die Hose auszuzie hen. Als ihn der Diener mit Kaffee und Sandkuchengebäck weck te, fühlte er sich ausgelaugt und benommen. Draußen war es noch dunkel, daher drehte er sich um und zog die Decke über den Kopf. »Madam hat gesagt, ich soll hier warten, bis Sie aufstehen«, sagte der schwarze Diener düster, und Shasa schleppte sich ins Badezimmer. Einer der Stallburschen hatte sein Pony gesattelt und wartete schon vor dem Bungalow. Shasa nahm sich einen Augenblick Zeit, um mit dem Stallburschen zu scherzen, dann begrüßte und streichelte er sein Pony. »Du bist dick geworden, Prester John«, neckte er das Pony. »Das werden wir abarbeiten müssen.« Er schwang sich in den Sattel und nahm die Abkürzung ent lang der Rohrleitung, um den Bergrücken herum. Sie führte das Wasser der Quelle um den Hügel herum zur Mine und zur Waschanlage. Centaine hatte angeordnet, daß der Wald auf dieser Seite des Hügels unangetastet bliebe, und die Mopanibäume waren hoch und stattlich. Er ritt um den Bergrücken herum, und der Kontrast war de primierend. Der geschändete Wald, die entstellenden Wunden von den Rodungen, die plumpen viereckigen Wellblechbarak ken und die kahlen skelettartigen Stahlträger der Waschanlage waren ausgesprochen häßlich. Er erreichte die Hauptförderanlage, als Twentyman-Jones’ alter Ford gerade die Straße vom Dorf heraufkam. Als er aus stieg, schaute er auf die Uhr und machte ein trauriges Gesicht, als er feststellen mußte, daß Shasa drei Minuten zu früh ge kommen war. »Waren Sie je unten im Förderschacht, Master Shasa?« 125
»Nein, Sir.« Twentyman-Jones führte ihn zur Förderanlage und macht ihn mit dem Vorarbeiter bekannt. »Master Shasa wird bei Ihnen arbeiten«, erklärte er. »Behan deln Sie ihn ganz normal – genauso wie Sie jeden anderen jun gen Mann behandeln würden, der eines Tages ihr Generaldi rektor sein wird«, wies er ihn an. An Twentyman-Jones’ Ge sichtsausdruck war nie zu erkennen, wann er scherzte, daher lachte auch niemand. »Geben Sie ihm einen Helm«, befahl Twentyman-Jones, und während Shasa den Riemen des Helms zuzog, führte er ihn zum Fuß der schroffen Felswand. Der Schacht war in den Sockel des Felsens getrieben worden, eine runde Öffnung, in der die Stahlschienen mit fünfundvier zig Grad Neigung nach unten führten. Am Ende der Gleise stand eine Reihe Förderwagen, auf die Twentyman-Jones zu ging. Sie kletterten in die Stahlwanne des vordersten Wagens. Die Schicht verteilte sich auf die Wagen hinter ihnen – ein Dutzend weißer Vorarbeiter und hundertfünfzig schwarze Ar beiter in zerlumpten, staubigen Overalls und mit hellen Metall helmen. Die Dampfwinde der Förderanlage zischte und rasselte, die Förderwagen ruckten an und fuhren schaukelnd und schwan kend in den steil abfallenden Schacht ein. Shasa scharrte unbehaglich mit den Füßen und starrte in pa nischer Angst in die plötzliche Dunkelheit, die ihn umgab. Doch da begannen die Ovamboarbeiter in den Wagen hinter ihnen zu singen, und ihre melodischen Baßstimmen verhallten in den dunklen Tiefen des Tunnels. Shasa entspannte sich und rückte näher zu Twentyman-Jones, um dessen Ausführungen folgen zu können. »Der Schacht hat einen Neigungswinkel von fünfundvierzig Grad, und die Belastbarkeit der Förderanlage beträgt hundert Tonnen, in der Bergbausprache sind das sechzig Loads. Unser 126
Fördersoll liegt bei sechshundert Loads pro Schicht.« Shasa versuchte sich auf die Zahlen zu konzentrieren; er wußte, daß ihn seine Mutter am Abend ausfragen würde. Vor ihm tauchte ein winziger grell weißer Lichtschimmer auf, der rasch größer wurde. Dann brachen sie jäh aus dem Tunnel her vor, und Shasa holte vor Überraschung unwillkürlich Atem. Er hatte die Pläne des »Schlotes« studiert, und natürlich stan den auf dem Schreibtisch seiner Mutter Fotografien, aber die konnten seine Größe nicht annähernd wiedergeben. Der Schlot war ein nahezu kreisrundes Loch in der Mitte des Berges. Oben war er offen, und seine Seitenwände fielen senk recht und glatt ab, eine kreisrunde Mauer aus grauem Fels. Die schmale Rampe, auf der sie von der anderen Seite des Berges durch den Schacht hereingekommen waren, führte im Nei gungswinkel von fünfundvierzig Grad bis zum Boden des Schlotes sechzig Meter unter ihnen. Der Abgrund zu beiden Seiten war atemberaubend. Der Durchmesser des Schlotes be trug eine Meile, und die glatten Wände waren insgesamt hun dertzwanzig Meter hoch. Twentyman-Jones erklärte weiter: »Das ist ein vulkanischer Schlot, eine Öffnung in der Erdoberfläche, durch die vor Jahr millionen geschmolzene Magma an die Erdoberfläche sprudel te. Durch die gewaltigen Temperaturen und den ungeheuren Druck bildeten sich Diamanten und wurden mit der feurigen Lava nach oben geschleudert.« Shasa sah sich aufmerksam um, während Twentyman-Jones fortfuhr: »Dann wurde der Schlot im Erdinneren enger, das Magma kühlte sich ab und erstarrte. Die oberste Schicht, die der Luft und der Sonne ausgesetzt war, oxydierte zum klassischen gelben Gestein der diamantenhalti gen Formation. Wir arbeiteten uns elf Jahre lang hinunter und haben erst kürzlich das blaue Gestein erreicht.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die den schiefergrauen Fels mit einbezog, der den Boden des Schlotes bildete. »Das ist die tiefere Schicht der erstarrten Magma, hart wie Eisen und mit 127
Diamanten gespickt wie ein Königskuchen mit Rosinen.« Sie erreichten den Boden des Schlotes und kletterten aus dem Förderwagen. »Der Abbaubetrieb ist ziemlich einfach«, fuhr TwentymanJones fort. »Die Frühschicht fängt bei Tagesanbruch an und arbeitet dort weiter, wo am Vorabend gesprengt wurde. Das abgesprengte Gestein wird zerkleinert, in die Förderwagen ge laden und nach oben transportiert. Dann werden die Löcher für die nächste Sprengung gebohrt und die Sprengladungen ver teilt. Am Abend fährt die Schicht wieder aus, und der Schicht führer setzt die Lunten in Brand. Über Nacht können sich Rauch und Staub verflüchtigen, und am nächsten Morgen be ginnen wir den ganzen Prozeß von vorn. Dort«, er deutete auf eine Stelle mit blaugrauen Gesteinstrümmern, »dort wurde ge stern abend gesprengt. Damit werden wir heute beginnen.« Shasa hatte nicht erwartet, daß ihn dieses mächtige Loch so faszinieren würde, aber im Laufe des Tages wuchs sein Interes se noch. Auch Hitze und Staub machten ihm nichts aus. Der Staub war fein wie Mehl. »Wir haben viele Fälle von Staublungenerkrankungen«, gab Twentyman-Jones zu. »Der Staub gelangt in die Lungen und wird zu Stein. Eigentlich sollten wir das Abbruchgestein be sprengen und feucht halten, damit der Staub sich absetzt, aber wir haben nicht genug Wasser. Es reicht nicht einmal für die Waschanlage. Wir können uns einfach nicht leisten, es zu ver spritzen. Also werden die Männer zu Krüppeln oder sterben, aber es dauert zehn Jahre, bis sich der Staub in den Lungen festsetzt, außerdem zahlen wir ihnen oder ihren Witwen eine schöne Pension, und der Bergbauinspektor ist uns wohlgesinnt, wenn uns das auch einiges kostet.« Mittags rief Twentyman-Jones Shasa zu sich. »Ihre Mutter hat gesagt, daß Sie nur die halbe Schicht machen müssen. Ich fahre jetzt hinauf. Kommen Sie mit?« »Ich möchte lieber bleiben, Sir«, erwiderte Shasa scheu. »Ich 128
möchte gern dabeisein, wenn die Sprengladungen angebracht werden.« Twentyman-Jones schüttelte bekümmert den Kopf. »Aus demselben Holz wie die Mutter!« murmelte er und ging kopf schüttelnd davon. Der Schichtführer erlaubte Shasa, unter seiner Aufsicht die Zündschnur in Brand zu setzen. Das gab Shasa ein Gefühl der Wichtigkeit. Dann fuhren er und der Schichtführer durch den Schacht nach oben, und der Ruf »Feuer im Loch!« ertönte. Shasa blieb am Schachteingang stehen, bis die Sprengladungen losgingen und die Erde unter seinen Füßen bebte. Dann sattelte er Prester John und ritt staubig, schwitzend, hundemüde und so glücklich wie selten in seinem Leben nach Hause. Er dachte nicht an sie, als er das Pumpenhaus erreichte, aber sie war da. Sie kauerte auf dem silbern gestrichenen Wasser rohr. Er erschrak, daß er fast den Halt verlor, als Prester John unter ihm scheute. Sie hatte einen Kranz wilder Blumen in ihr Haar geflochten und die obersten Knöpfe ihrer Bluse geöffnet. »Hallo, Annalisa.« Seine Stimme klang verräterisch rauh, und sein Herz pochte ungestüm. Sie lächelte, gab aber keine Antwort. Statt dessen streichelte sie mit einer aufreizenden Geste ihren Arm. Er sah ihre Finger über die feinen hellen Haaren an ihrem Unterarm gleiten. Sie beugte sich vor und legte, noch immer kokett lächelnd, ihren Zeigefinger an die Unterlippe. Er sah, daß die Haut zwi schen ihren Brüsten weiß und durchsichtig war. Shasa nahm die Füße aus den Steigbügeln und schwang ein Bein über Prester Johns Rücken. Doch im gleichen Augenblick sprang das Mädchen auf, hob ihren Rock hoch, hopste leicht füßig über die Rohrleitung und verschwand im dichten Unter holz. Shasa rannte hinter ihr her und arbeitete sich durch das Dik 129
kicht. Einmal hörte er sie in unmittelbarer Nähe kichern, doch dann brach ein Stein unter ihm los und er fiel hin. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war sie verschwunden. Er suchte noch eine Weile nach ihr, doch seine Leidenschaft kühlte rasch ab, und als er endlich wieder am Pumpenhaus war, mußte er feststellen, daß Prester John die Gelegenheit genützt und sich aus dem Staub gemacht hatte. Der Heimweg war lang, und Shasa merkte erst jetzt, wie mü de er war. Als er zu Hause ankam, war es bereits dunkel. Das reiterlose Pony hatte Alarm ausgelöst, und Centaines Besorgnis schlug augenblicklich in erleichterte Wut um, als sie Shasa erblickte. Nach eine Woche in der Hitze und in dem Staub des Schlotes wurde die monotone Arbeit allmählich reizlos, daher brachte Twentyman-Jones Shasa in den Windenraum der Hauptförder anlage. Der Windenmann war ein wortkarger, mürrischer Mann, der Shasa nicht an die Hebel der Winde heranließ. Er beharrte dickköpfig auf seinem Standpunkt, so daß Twen tyman-Jones Shasa nach zwei Tagen zum Verwitterungsplatz versetzte. Auf dem Verwitterungsplatz befand sich der ganze Vorrat der H’ani-Mine, tausende Tonnen diamanthaltigen Gesteins, das auf einem Areal von der Größe von vier Fußballfeldern ausgebreitet lag. Wenn das blaue Gestein aus dem Schlot kam, war es hart wie Beton; nur Dynamit und zehn Pfund schwere Vorschlaghammer konnten es zerbrechen. Aber nachdem es sechs Monate lang auf dem Verwitterungsplatz in der Sonne gelegen hatte, begann es spröde zu werden und zu zerbröckeln. Nun wurde es wieder auf die Förderwagen verladen und zuerst zur Mühle und dann zur Waschanlage gebracht. Shasa arbeitete in einem Trupp von vierzig Arbeitern und schloß bald Freundschaft mit dem Ovambo-Vorarbeiter. Wie 130
alle schwarzen Stammesangehörige hatte er zwei Namen, sei nen Stammesnamen, den er seinen weißen Arbeitgebern nicht nannte, und seinen Arbeiternamen. Der Arbeiternahme des Ovambo war Moses. Er war um etwa fünfzehn Jahre jünger als die anderen Vorarbeiter und hatte den bevorzugten Posten nur aufgrund seiner Intelligenz und seiner Entschlußfreudigkeit erhalten. Er sprach sowohl Englisch als auch Afrikaans, und den Respekt der schwarzen Arbeiter, den sie gewöhnlich nur den grauen Haaren des Alters entgegenbrachten, verschaffte er sich mit seinem Knüppel und seinem scharfen Verstand. »Wenn ich ein Weißer wäre«, erklärte er Shasa, »dann würde ich eines Tages Doctelas Job übernehmen.« »Doctela« war der Ovamboname für Twentyman-Jones, und Moses fuhr fort: »Vielleicht komme ich eines Tages trotzdem soweit – oder zumindest mein Sohn.« Shasa war zuerst schockiert, dann ver blüfft über diese unerhörte Bemerkung. Er hatte noch nie einen Schwarzen getroffen, der nicht wußte, wo sein Platz in der Ge sellschaft war. Sie verbrachten die Mittagspause meist zusammen, und Sha sa half Moses, seine Lese- und Schreibkenntnisse zu verbes sern. Dafür brachte der Ovambo ihm die Grundlagen seiner Sprache bei, vor allem Flüche, Schimpfwörter und einige Ar beiterlieder. Shasa war viel zu sehr mit der Arbeit und seinem neuen Freund beschäftigt, um die finsteren Blicke des weißen Aufse hers zu bemerken, und selbst als dieser eine spitze Bemerkung über »Kafferboeties« oder »Nigger-Freunde« machte, bezog Shasa das nicht auf sich. Am dritten Samstag nach der Lohnauszahlung ritt Shasa auf Moses’ Einladung zu dessen Häuschen hinunter, saß mit ihm auf den Verandastufen in der Sonne und las mit ihm in einer Ausgabe von Macaulays »History of England«. Shasa genoß die ungewohnte Rolle des Lehrers, bis Moses das Buch schließlich zuklappte. 131
»Das ist sehr harte Arbeit, Gutes Wasser« – er hatte Shasas Namen direkt in die Ovambosprache übersetzt –, »schlimmer als das Ausbreiten von Erzgestein im Sommer. Ich werde spä ter weiterlesen.« Dann trat er in den Wohnraum, stellte das Buch auf das Regal und kam mit einer Zeitung zurück. »Versuchen wir es damit.« Er gab Shasa die Zeitung, und der breitete sie auf dem Schoß aus. Die Zeitung hieß »Umlomo Wa Bantu«, was Shasa ohne Mühe übersetzen konnte: »Der Mund der schwarzen Völker«. Die meisten Artikel waren in Englisch, aber es gab auch einige in der Landessprache. Moses zeigte auf den Leitartikel, und sie begannen ihn durchzuarbeiten. »Was ist der Afrikanische Nationalkongreß?« fragte Shasa schließlich verwundert. »Und wer ist Jabavu?« Eifrig begann der Ovambo zu erklären, und während Shasa zuhörte, wurde ihm allmählich unbehaglich. »Jabavu ist der Vater der Bantu, der Vater aller Stämme, der Vater des schwarzen Volkes. Der Afrikanische Nationalkon greß ist der Hirte, der unser Vieh hütet.« »Das verstehe ich nicht«, meinte Shasa kopfschüttelnd. Er rutschte unruhig hin und her, als Moses zu zitieren begann: »Dein Vieh ist verloren, mein Volk,
Geh und befreie es! Geh und befreie es!
Legt eure Hinterlader beiseite
Und nehmt statt dessen die Feder,
Nehmt Papier und Tinte,
Denn das ist euer Schild.
Eure Rechte gehen verloren,
Also nehmt auf die Feder,
Taucht sie in die Tinte
Und kämpft den Kampf mit der Feder.«
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»Das ist Politik«, unterbrach ihn Shasa. »Schwarze haben in der Politik nichts zu suchen. Das ist Sache der Weißen.« Dieser Satz war der Grundstein des südafrikanischen Gesellschaftssy stems. Das Leuchten verschwand aus Moses Augen. Er nahm die Zeitung von Shasas Schoß und stand auf. »Ich gebe dir das Buch zurück, sobald ich es gelesen habe.« Er wich Shasas Blick aus und verschwand im Haus. Am Montag traf er Twentyman-Jones am Haupttor des Ver witterungsgeländes. »Ich denke, Sie haben jetzt alles über das Verwittern gelernt, Master Shasa. Es wird Zeit, daß Sie das Mühlenwerk und die Waschanlage kennenlernen.« Als sie längs der Schienen zur Hauptanlage gingen, meinte Twentyman-Jones: »Es ist besser, nicht allzu freundschaftlich mit den schwarzen Arbeitern zu verkehren, Master Shasa. Sie werden noch feststellen, daß die Schwarzen immer dazu nei gen, einen Vorteil daraus zu ziehen.« Für einen Augenblick war Shasa verwirrt, dann lachte er. »Ah, Sie meinen Moses. Er ist kein Arbeiter, sondern ein Vor arbeiter, und außerdem ist er recht intelligent, Sir.« »Intelligenter, als gut für ihn ist«, stimmte Twentyman-Jones bitter zu. »Die Intelligenten sind immer die Unzufriedenen und Aufrührer. Ihr Freund Moses versucht eine schwarze Minenar beitervereinigung zu organisieren.« Shasa wußte von seinem Großvater und von seiner Mutter, daß Bolschewiken und Gewerkschafter gefürchtete Ungeheuer waren, weil sie das Grundgerüst der zivilisierten Gesellschaft niederreißen wollen. Er war entsetzt, zu hören, daß Moses einer von ihnen sein sollte, aber Twentyman-Jones fuhr bereits fort: »Außerdem haben wir den Verdacht, daß er Drahtzieher ei ner hübschen kleinen IDB-Organisation ist.« IDB war das zweite Schreckgespenst der Zivilisation – Illicit 133
Diamond Buying, der illegale Diamantenhandel, also der Han del mit gestohlenen Diamanten. Shasa sträubte sich gegen die Vorstellung. Doch TwentymanJones nächster Satz deprimierte ihn noch mehr: »Ich fürchte, Mr. Moses wird ganz oben auf der Liste jener stehen, die wir am Monatsende entlassen. Er ist gefährlich. Wir müssen ihn loswerden.« »Sie wollen ihn nur deshalb loswerden, weil wir Freunde sind.« Shasa hatte die Sache durchschaut. »Es ist meinetwe gen.« Schuldgefühle überkamen ihn, verwandelten sich aber fast augenblicklich in Wut. Unbedachte Worte lagen ihm auf der Zunge, statt dessen warf er Twentyman-Jones einen flüch tigen Blick zu und erkannte intuitiv, daß jedes Plädoyer für Moses das Schicksal des Vorarbeiters nur beschleunigen wür de. »Sie wissen, was das beste ist, Sir«, gab er zu und sah, wie sich der alte Mann ein wenig entspannte. »Mutter«, dachte er. »Ich muß mit Mutter reden.« Dann dachte er tief deprimiert: »Wenn ich es nur selbst tun könnte, wenn ich nur selbst darüber bestimmen könnte.« »Macht«, murmelte er vor sich hin. »Eines Tages möchte ich Macht haben. Ungeheure Macht.« Die Arbeit im Mühlenwerk war anspruchsvoller und interes santer. Das mürbe, verwitterte Gestein wurde durch Trichter auf die Walzen geschüttet, die es so zerkleinerten, daß es die richtige Beschaffenheit für die Waschanlage hatte. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Die Anlage schaffte hundertfünf zig Tonnen in der Stunde. Annalisas Bruder Stoffel war Lehrling im Mühlenhaus. Er wurde beauftragt, Shasa herumzuführen, und tat das mit gro ßem Vergnügen. Als die Werksirene die Mittagszeit verkündete, führte er Sha sa auf die schattige Seite des Mühlenhauses, und sie machten 134
es sich auf dem Ventilatorgehäuse bequem. Hier auf dem Be triebsgebäude konnten sie ganz offen miteinander verkehren, und Shasa fühlte sich in seinem blauen Overall sehr erwachsen. Er öffnete den Picknickkorb, den der Chefkoch vom Bungalow für ihn heruntergeschickt hatte, und schaute nach, was er ent hielt. »Sandwiches mit Huhn und Zungenwurst und Pfannkuchen mit Marmelade«, stellte er fest. »Möchtest du, Stoffel?« »Nein. Da kommt meine Schwester mit dem Mittagessen.« Und Shasa verlor jedes Interesse an seinem Picknickkorb. Annalisa kam auf einem altmodischen schwarzen Fahrrad die Straße heruntergeradelt. Es war das erste Mal, daß er sie nach dem Zusammentreffen am Pumpenhaus wiedersah, obwohl er seither jeden Tag nach ihr Ausschau gehalten hatte. Sie fuhr in den Pedalen stehend, und ihre Beine traten gleichmäßig, als sie durch das Tor des Mühlenwerkes fuhr. Der Fahrtwind drückte den dünnen Stoff ihrer Bluse gegen ihren Körper. Ihre Brüste waren unverhältnismäßig groß für ihre schlanken braunen Glieder. Shasa beobachtete sie fasziniert. Als sie ihn neben ihrem Bruder sitzen sah, änderte sich ihr Verhalten. Sie setzte sich auf den Sattel, streckte die Schultern, nahm eine Hand von der Lenkstange und versuchte ihren zerzausten Haarschopf zu glät ten. Vor dem Ventilatorhaus bremste sie, stieg ab und lehnte das Fahrrad an die Mauer. »Was gibt’s zum Mittagessen, Lisa?« fragte Stoffel. »Wurst mit Kartoffelbrei.« Sie reichte ihm das Blechgeschirr hinauf. »Wie immer.« Die Ärmel ihres Kleides waren hochgerollt, und als sie den Arm hob, sah Shasa das blonde Haarbüschel in ihrer Achsel höhle. »Mann, Schwesterherz!« äußerte Stoffel angewidert. »Das nächste Mal werde ich Ma bitten, daß sie dir Filetsteaks mit Pilzen kocht.« Sie ließ den Arm sinken, zupfte ihren Blu 135
senkragen zurecht, und er sah, wie sich die sonnengebräunte Haut an ihrer Kehle leicht rötete. Aber sie hatte ihn noch im mer nicht angesehen. »Trotzdem danke«, entließ Stoffel sie, aber sie zögerte. »Du kannst etwas von mir haben«, bot Shasa an. »Dann tauschen wir doch«, erwiderte Stoffel großmütig. Shasa warf einen flüchtigen Blick in das Blechgeschirr. Als er den klumpigen Kartoffelbrei in der dünnen, fettigen Sauce schwimmen sah, sagte er: »Ich hab’ keinen Hunger.« Dann sprach er das Mädchen direkt an: »Möchtest du ein Sandwich, Annalisa?« Sie strich das Kleid an den Hüften glatt und sah ihn endlich an. Ihre Augen waren schräg wie die einer Wildkatze, und sie grinste verschlagen. »Wenn ich etwas von dir möchte, Shasa Courtney, dann pfei fe ich – und zwar so.« Sie spitzte die Lippen und flötete wie ein Schlangenbeschwörer. Gleichzeitig richtete sich ihr Zeigefin ger in unmißverständlicher obszöner Bedeutung auf. Stoffel brach in schallendes Gelächter aus und klopfte Shasa auf die Schulter. »Mann, die heizt dir aber ein!« Während Shasa errötete und schockiert sitzenblieb, drehte sich Annalisa langsam um und bestieg ihr Fahrrad. Am Abend, als Shasa an der Rohrleitung entlang nach Hause ritt, begann sein Herz in einer Vorahnung zu rasen. Als er sich dem Pumpenhaus näherte, zügelte er in der Angst vor einer Enttäuschung sein Pony und bog nur widerwillig um die Ecke des Gebäudes. Sie lehnte an einer Stütze der Rohrleitung, und Shasa brachte kein Wort heraus, als sie sich langsam aufrichtete und ohne aufzublicken neben das Pony trat. Sie ergriff den Wangenriemen des Halfters und flüsterte dem Pony zu: »Was für ein hübscher Junge du bist.« Das Pony schnaubte leise und verlagerte sein Gewicht. »Was für eine 136
wunderschöne weiche Nase du hast.« Sie streichelte mit einer aufreizenden Geste die Nüstern. »Du möchtest wohl ein kleines Küßchen, mein Hübscher.« Sie spitzte ihre Lippen und warf Shasa einen Blick zu, bevor sie sich vorbeugte und das Pony auf die Nase küßte. Schließ lich schaute sie mit ihren frechen, schräggestellten Augen zu Shasa auf. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Sie trat neben das Pony und streichelte seine Flanke. »So ein starker Kerl.« Ihre Hand streifte wie unabsichtlich Shasas Oberschenkel, strich dann bestimmter darüber. Sie schaute ihm nicht mehr ins Gesicht. Plötzlich begann sie kreischend zu la chen, trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du kampieren, Shasa Courtney?« fragte sie, und er schüttelte verlegen und verwirrt den Kopf. »Wozu stellst du dann ein Zelt auf?« spottete sie und starrte schamlos auf seine Hose. Shasa krümmte sich verlegen. Plötz lich schien er ihr leid zu tun, und sie nahm das Pony am Halfter und führte es den Weg hinauf, so daß Shasa Gelegenheit hatte, seine Fassung wiederzuerlangen. »Was hat dir mein Bruder über mich erzählt?« fragte sie, oh ne sich umzudrehen. »Nichts«, versicherte er. »Glaub nicht, was er sagt.« Sie nahm ihm seine Versicherung nicht ab. »Er versucht immer, mich schlechtzumachen. Hat er dir über den Fahrer Fourie erzählt?« Jeder in der Mine wußte, daß Gerhard Fouries Frau die beiden nach der Weihnachtsfeier zusammen in der Kabine des Lasters erwischt hatte. Fouries Frau, älter als Annalisas Mutter, hatte Annalisa zwei blaue Au gen verpaßt und ihr das einzige gute Kleid in Fetzen gerissen. »Er hat mir gar nichts erzählt«, wiederholt Shasa standhaft und fragte interessiert: »Was war denn mit ihm?« »Nichts«, sagte sie schnell. »Alles war gelogen.« Dann 137
wechselte sie schnell das Thema. »Möchtest du, daß ich dir etwas zeige?« »Ja, gern«, antwortete Shasa eifrig. Er ahnte dunkel, was sie ihm zeigen wollte. »Hilf mir.« Sie stellte sich neben den Steigbügel, und er half ihr hoch. Sie setzte sich hinter ihm auf das Pony und schlang beide Arme um seine Taille. »Nimm den linken Weg«, befahl sie ihm, und dann ritten sie zehn Minuten lang schweigend dahin. »Wie alt bist du?« fragte sie schließlich. »Fast fünfzehn«, erwiderte er nicht ganz der Wahrheit ent sprechend, und sie sagte: »Ich werde in zwei Monaten sech zehn.« Wenn es noch einen Zweifel darüber gegeben hatte, wer von ihnen beiden das Kommando führte, dann war er durch diese Erklärung endgültig beseitigt. »Wo reiten wir hin?« fragte Shasa nach langem Schweigen. Der Bungalow lag bereits weit hinter ihnen. »Still! Das wirst du sehen, wenn wir da sind.« Der Weg wurde allmählich schmaler und unebener. Shasa fragte sich, ob außer dem Kleinwild, das hier noch lebte, in den letzten Monaten ein Mensch diesen Weg gegangen war. Vor der Felswand hörte der Pfad schließlich ganz auf, und Annalisa glitt vom Rücken des Ponys. »Laß das Pferd hier.« Er band das Pony an und schaute sich aufmerksam um. Sie mußten mindestens drei Meilen vom Bungalow entfernt sein. Vor ihnen neigte sich der Hang steil nach unten, überall wu cherte dorniges Gestrüpp. »Komm«, befahl Annalisa. »Wir haben nicht viel Zeit. Es wird bald dunkel.« Sie begann, den Hang hinunterzuklettern. »He!« rief Shasa ihr nach. »Du kannst doch nicht da hinun terklettern. Du wirst dir weh tun.« »Angsthase«, spottete sie. 138
»Ich habe keine Angst.« Er kletterte hinter ihr her. Einmal blieb Annalisa stehen, um einen Strauß wilder gelber Blumen zu pflücken, dann ging es weiter, bis sie schließlich den Boden der Schlucht erreicht hatten. Schließlich legte Annalisa ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Es ist ein Geheimnis. Du mußt schwören, daß du es niemandem erzählst, vor allem nicht meinem Bruder.« »Gut, ich schwöre es.« »Du mußt richtig schwören. Heb die rechte Hand und leg die andere auf dein Herz.« Sie ließ ihn einen feierlichen Eid schwören, dann nahm sie ihn an der Hand und zog ihn zu ei nem mit Flechten bewachsenen Felsblock. »Knie nieder!« Er gehorchte, und sie schob vorsichtig einen Ast beiseite, der eine Nische zwischen den Steinblöcken verdeckte. Die Nische sah aus wie ein Reliquienschrein. Auf dem Boden standen ein paar leere Glaskrüge, in denen verwelkte braune Blumen steck ten. Hinter diesen Blumenopfern lag ein pyramidenförmig an geordneter Haufen weißer Gebeine, die ein menschlicher Schä del mit leeren Augenhöhlen und gelben Zähnen krönte. »Wer ist das?« flüsterte Shasa mit abergläubischer Scheu. »Die Berghexe.« Annalisa nahm seine Hand. »Ich hab’ ihre Gebeine hier gefunden und diese heilige Stätte errichtet.« »Woher weißt du, daß es eine Hexe ist?« Shasas Stimme bebte. »Sie hat es mir gesagt.« Er sah zu, wie sie die verwelkten Blumen gegen die frischen gelben Akazienblüten austauschte. Dann ließ sie sich zurück sinken und nahm seine Hand. »Die Hexe wird dir einen Wunsch erfüllen«, flüsterte sie, und er überlegte. »Was wünschst du dir?« fragte sie und drückte seine Hand. »Kann ich mir alles wünschen?« »Ja, alles«, erwiderte sie nickend und beobachtete sein Ge sicht. 139
Shasa starrte den gebleichten Schädel an, und seine Furcht schwand. Etwas schien nach ihm zu greifen, ein Gefühl der Wärme und Vertrautheit, die er nur als Baby gekannt hatte, als seine Mutter ihn noch säugte. An der Schädeldecke klebten noch Überreste von getrockne ter Kopfhaut mit winzigen schwarzen Löckchen daran, die aus sahen wie die kleinen weichen Haarbällchen auf dem Kopf des zahmen Buschmannes, der die Milchkühe einer Raststätte an der Straße nach Windhuk hütete. »Alles?« wiederholte er. »Ich kann mir alles wünschen?« »Ja, was du willst.« Annalisa lehnte sich an ihn, und ihr Kör per war weich und warm. Shasa beugte sich vor und berührte die weiße knochige Stirn des Totenschädels. Das Gefühl der Wärme und Vertrautheit wurde stärker. »Ich wünsche mir«, sagte er leise, fast träumerisch, »ich wünsche mir große Macht.« Er verspürte ein Prickeln in den Fingerspitzen, mit denen er den Totenschädel berührte und zog erschrocken die Hand zu rück. »Was für ein alberner Wunsch«, stieß Annalisa ärgerlich hervor und rückte von ihm ab. Sie war offensichtlich ver stimmt, und er konnte nicht verstehen, warum. »Du bist ein dummer Junge, und die Hexe wird einen so dummen Wunsch sicher nicht erfüllen.« Sie sprang auf und zog den Ast wieder über die Nische. »Es ist spät. Wir müssen zurück.« Shasa wollte diesen Ort nicht so schnell verlassen und zöger te. Annalisa rief ihm von oben zu: »Nun komm schon, in einer Stunde ist es dunkel.« Als er oben ankam, saß sie mit dem Rücken gegen die Fels wand gelehnt auf dem Boden. »Ich hab’ mir weh getan«, sagte sie vorwurfsvoll. Sie waren 140
beide erhitzt und außer Atem von der Kletterei. »Das tut mir leid«, keuchte er. »Wo hast du dir weh getan?« Sie zog den Rocksaum hoch. Ein spitzer Dorn der Teufels klaue hatte ihre glatte, helle Haut an der Innenseite des Ober schenkels aufgeritzt. Winzige Blutstropfen reihten sich anein ander wie eine Kette aus hellroten Rubinen. Er starrte den Kratzer wie hypnotisiert an, und sie ließ sich gegen die Fels wand zurücksinken, zog die Knie an und spreizte die Ober schenkel, den zusammengeknüllten Rock zwischen den Beinen an den Leib pressend. »Tu Spucke darauf«, befahl sie. Gehorsam kniete er zwischen ihren Füßen nieder und be feuchtete seinen Zeigefinger. »Dein Finger ist schmutzig«, belehrte sie ihn. »Was soll ich denn tun?« fragt er unsicher. »Mit der Zunge – leck es mit der Zunge ab.« Er beugte sich nieder und berührte die Wunde mit der Spitze seiner Zunge. Ihr Blut hatte einen eigenartig metallischen Ge schmack. Sie legte die Hand auf seinen Nacken und strich durch seine dichten dunklen Locken. »Ja, so ist es gut«, murmelte sie. Ihre Finger gruben sich in sein Haar und drückten seinen Kopf gegen ihre Oberschenkel, dann dirigierte sie ihn höher und zog mit der freien Hand lang sam ihren Rock hoch. Er sah, daß sie auf einem Stück Stoff saß, einem weißen Stoffetzen, der mit rosaroten Rosen bedruckt war. Mit einem erregten Prickeln erkannte er, daß sie in den wenigen Augen blicken, in denen sie allein gewesen war, ihr Höschen ausgezo gen und als Kissen auf dem weichen moosbedeckten Boden ausgebreitet haben mußte. Sie war nackt unter dem Rock. Shasa fuhr aus dem Schlaf hoch und wußte im ersten Augen 141
blick nicht, wo er sich befand. Es war dunkel, und ihm war kalt. Prester John stampfte und schnaubte irgendwo in der Nä he. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Annalisas Bein lag über dem seinen, und ihr Gesicht schmiegte sich an seinen Hals; sie lag halb auf seiner Brust. Er stieß sie so heftig von sich, daß sie mit einem Aufschrei erwachte. »Es ist dunkel!« sagte er lahm. »Sie werden schon nach uns suchen!« Er versuchte aufzustehen, aber dabei behinderte ihn seine Hose. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie geübt sie seine Hose aufgeknöpft und von seinen Hüften gezerrt hatte. Er zog sie hoch und mühte sich mit den Knöpfen. »Wir müssen zurück. Meine Mutter –« Annalisa stand neben ihm und versuchte, auf einem Bein ste hend, in ihr Höschen zu schlüpfen. Shasa blickte zu den Ster nen auf. Orion stand bereits hoch am Horizont. »Es ist schon nach neun Uhr«, sagte er mutlos. »Du hättest wach bleiben müssen«, jammerte sie und stützte sich auf seine Schulter. »Mein Pa wird mich verprügeln. Er hat gesagt, das nächste Mal bringt er mich um.« Shasa schüttelte ihre Hand ab. Er wollte fort von ihr, doch er wußte, das konnte er nicht. »Es war deine Schuld.« Sie bückte sich, faßte an den Knö cheln nach ihrem Höschen, zog es hoch und strich ihren Rock glatt. »Ich werde Pa erzählen, daß es deine Schuld war. Dies mal nimmt er sicher die Nilpferdpeitsche. Oh, er wird mich windelweich schlagen.« Shasa machte das Pony los, und seine Hände zitterten. Er konnte noch keinen klaren Gedanken fassen. »Das werde ich nicht zulassen.« Seine Ritterlichkeit klang halbherzig und we nig überzeugend. Das schien sie noch mehr zu reizen. »Was kannst du schon dagegen tun, du Kind?« Dieses Wort brachte sie auf einen an 142
deren Gedanken. »Was geschieht, wenn du mir ein Kind ge macht hast, he? Das wird dann ein Bastard. Hast du daran ge dacht, als du mir dein Ding hineingesteckt hast?« fragte sie giftig. Shasa schmerzte dieser ungerechte Vorwurf. »Du hast mir doch gezeigt, wie ich es machen soll.« »Da haben wir uns was Schönes eingebrockt.« Sie weinte. »Ich wünschte, wir könnten einfach davonlaufen.« Diese Idee hätte auch bei Shasa Anklang gefunden, und er ließ sie nur ungern fallen. »Komm schon«, sagte er und hob sie auf Prester Johns Rücken. Dann stieg er hinter ihr auf. Als sie um den Bergrücken herumritten, sahen sie die Fak keln der Suchmannschaften auf dem Talboden. Auch auf der Straße bewegte sich Fackelschein, man suchte offensichtlich den Straßenrand ab. Sie hörten schwach die Rufe der Männer heraufschallen, die den Wald tief unter ihnen absuchten. »Diesmal bringt mich mein Pa um. Er wird wissen, was wir getan haben«, schluchzte sie. Ihr Selbstmitleid ärgerte ihn. »Woher will er das wissen?« fauchte er. »Er war nicht dabei.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß du der erste warst, mit dem ich es getrieben habe«, sagte sie in der Absicht, ihn zu kränken. »Ich hab’s schon mit vielen getrieben, und zweimal hat mich Pa erwischt.« Bei dem Gedanken, daß sie all die wunderbaren Dinge auch mit anderen getan hatte, fühlte Shasa Eifersucht in sich aufstei gen, die jedoch gleich wieder abkühlte. »Nun«, meinte er, »wenn er auch über alle anderen Bescheid weiß, dann wird es dir kaum was nützen, wenn du mir die Schuld zuschiebst.« Sie hatte sich selbst eine Falle gestellt und begann von neuem herzerweichend zu schluchzen. Sie weinte noch, als sie am Pumpenhaus auf die Suchmannschaft trafen.
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Shasa und Annalisa saßen jeder in einer Ecke des Wohn zimmers und hielten sich instinktiv so weit als möglich vonein ander fern. Als sie den Daimler vor dem Bungalow vorfahren hörten, begann Annalisa wieder zu weinen und rieb sich die Augen, um noch ein paar Tränen mehr zu produzieren. Sie hörten Centaines schnellen, leichten Schritt auf der Ve randa. Shasa stand auf und nahm eine reumütige Haltung ein, als Centaine eintrat. Sie trug Reithosen, Reitstiefel und eine Tweedjacke und hatte einen gelben Schal um den Hals ge schlungen. Als Annalisa ihr Gesicht sah, heulte sie angstvoll los – und diesmal war es echt. »Halt den Mund, Mädchen«, befahl Centaine ruhig, »sonst gebe ich dir einen Grund zum Heulen.« Sie wandte sich an Shasa. »Ist einer von euch beiden verletzt?« »Nein, Mutter.« Er senkte den Kopf. »Und Prester John?« »Nein, er ist in bester Verfassung.« »So, das war’s dann wohl.« Mehr gab es nicht zu sagen. »Dr. Twentyman-Jones, würden Sie so liebenswürdig sein und diese junge Dame zu ihrem Vater bringen? Ich bezweifle nicht, daß er weiß, was mit ihr zu geschehen hat.« Centaine hatte erst vor einer Stunde mit dem Mann gesprochen. Er war groß und kahl köpfig, hatte einen dicken Bauch und Tätowierungen auf den Armen. Er hatte nach billigem Brandy gerochen und immer wieder seine behaarten Pranken geballt, als er ihr seine Absich ten gegenüber seiner einzigen Tochter verkündete. Twentyman-Jones nahm das Mädchen beim Handgelenk, zog sie hoch und brachte sie zur Tür. Als er an Centaine vorbei kam, wurde ihr Blick weich, und sie berührte leicht seinen Arm. »Was würde ich nur ohne Sie anfangen, Dr. TwentymanJones?« fragte sie leise. »Ich vermute, Sie würden auch allein ganz gut zurechtkom 144
men, Mrs. Courtney, aber es freut mich, daß ich Ihnen helfen konnte.« Er schob Annalisa aus dem Zimmer, und dann hörten sie den Motor des Daimlers anspringen. Centaines Miene erstarrte wieder, und sie wandte sich Shasa zu. »Ich habe dich vor dieser kleinen Hure gewarnt.« »Ja, Mutter.« »Sie hat es schon mit der Hälfte aller Männer in der Mine ge trieben. Wenn wir wieder in Windhuk sind, wirst du zu einem Arzt gehen müssen.« Er schauderte unwillkürlich. »Ungehorsam ist schlimm genug. Aber was daran ist wirk lich unverzeihlich?« Shasa fielen ohne Mühe mindestens zehn Vergehen ein. »Du warst dumm«, sagte Centaine. »Du warst dumm genug, dich erwischen zu lassen. Das ist das schlimmste. Du hast dich zum Gespött aller Männer in der Mine gemacht. Wie kannst du jemals leiten und befehlen, wenn du dich selbst auf diese Wei se erniedrigst?« »Daran habe ich nicht gedacht, Mutter. Ich hab’ mir über haupt nicht viel dabei gedacht. Es ist einfach passiert.« »Nun, dann denk jetzt darüber nach«, befahl sie ihm. »Nimm ein langes heißes Bad mit einer halben Flasche Lysol im Was ser und denk gut darüber nach. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Mutter.« Er trat zu ihr, und nach kurzem Zö gern hielt sie ihm die Wange hin. »Es tut mir leid, Mutter.« Er küßte sie auf die Wange. »Es tut mir leid, daß du dich meiner schämen mußtest.« Sie hätte ihn am liebsten in die Arme genommen, seinen hübschen, geliebten Kopf an sich gedrückt und ihm gesagt, daß sie sich niemals seiner schämen würde. »Gute Nacht, Shasa« sagte sie statt dessen kühl und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann sanken ihre Schultern nach vorn. »Oh, mein Liebling – mein Kleiner«, flüsterte sie. Sie ließ 145
sich in den schweren ledernen Sessel hinter ihrem Schreibtisch sinken und fühlte sich schwach, klein und verletzlich. »Nun ist es also geschehen«, flüsterte sie. »Er ist zum Mann geworden.« Plötzlich haßte sie das Mädchen. »Diese dreckige kleine Hure. Sie hat den Dämon viel zu früh in ihm geweckt, den Dämon in seinem De-Thiry-Blut.« Dieser Dämon war auch ihr allzu vertraut, er hatte sie ihr ganzes Leben lang gequält. »O mein Liebling.« Nun würde sie einen Teil von ihm verlie ren – oder hatte ihn bereits verloren. Sie fühlte sich allein. Es gab nur zwei Männer, die ihr jetzt hätten Trost sein kön nen. Shasas Vater war in seinem Flugzeug umgekommen, und sie hatte hilflos zusehen müssen, wie seine sterblichen Überreste verbrannten. Der andere Mann hatte sich mit einer brutalen, sinnlosen Tat selbst für immer aus ihrer Reichweite verbannt. Michael Courtney und Lothar De la Rey – für Centaine waren sie beide tot. Seither hatte es viele flüchtige kurze Affären gegeben, die nicht über körperliche Liebe hinausgingen. »Wenn es doch nur jemanden gäbe«, klagte sie, wie sie es zuvor nur einmal in ihrem Leben getan hatte, nämlich nachdem sie Lothar De la Reys blondgelockten Sohn zur Welt gebracht hatte. »Wenn es nur jemanden gäbe, den ich lieben könnte und der auch mich lieben würde.« Sie beugte sich vor und nahm die silbergerahmte Fotografie in die Hand, die sie auf jede Reise mitnahm. Sie betrachtete das Gesicht des jungen Mannes inmitten der Gruppe von Piloten. »Oh, Michel«, flüsterte sie. »Verzeih mir. Ich habe versucht, tapfer und stark zu sein, um deinetwillen und um deines Soh nes willen, aber –« Sie stellte das Bild auf den Schreibtisch zurück und trat ans Fenster. Blicklos starrte sie in die Dunkelheit hinaus. »Ich wer de mein Kind verlieren«, dachte sie. Sie merkte, daß sie am ganzen Körper zitterte. Aber sogleich meldete sich die andere 146
Stimme in ihr. »Auf dem Weg, den du gewählt hast, ist kein Platz für Schwäche und Selbstmitleid«, dachte sie und richtete sich auf. »Du mußt weitermachen. Es gibt kein Zurück, kein Schwanken, du mußt es zu Ende führen.« »Wo ist Stoffel Botha?« fragte Shasa den Aufseher in der Mühle, als die Werksirene die Mittagszeit verkündete. »Warum ist er nicht hier?« »Was weiß ich?« Der Aufseher zuckte die Achseln. »Ich wurde von der Hauptverwaltung benachrichtigt, daß er nicht mehr kommt. Vielleicht hat man ihn gefeuert. Ist mir auch egal – er war sowieso ein frecher kleiner Bastard.« Shasa versuchte den Rest des Tages sein Schuldgefühl zu un terdrücken. Als die Schicht schließlich vorbei war, bestieg er Prester John und lenkte das Pony in die Straße, wo Annalisas Familie wohnte. Er wußte, daß er damit den Zorn seiner Mutter herauf beschwor, aber ein trotziges Gefühl der Ritterlichkeit trieb ihn vorwärts. Er mußte herausfinden, wieviel Schaden und Unheil er angerichtet hatte. Doch am Haupttor des Mühlenwerkes wurde er abgelenkt. Moses, der Vorarbeiter vom Verwitterungsgelände, verstellte Prester John den Weg und ergriff das Halfter. »Ich grüße dich, Gutes Wasser«, begrüßte er Shasa mit seiner tiefen, weichen Stimme. »Ah, Moses.« Shasa lächelte erfreut, und seine Probleme wa ren für den Augenblick vergessen. »Ich wollte dich gerade be suchen.« »Ich bringe dir dein Buch zurück.« Der Ovambo reichte ihm die dicke Ausgabe der »History of England«. »Du kannst es unmöglich schon gelesen haben«, protestierte Shasa. »Ich werde es niemals lesen, Gutes Wasser. Ich verlasse die 147
H’ani-Mine. Ich fahre morgen früh mit den Lastern nach Windhuk.« »O nein!« rief Shasa, schwang sich aus dem Sattel und pack te seinen Arm. »Warum willst du fortgehen, Moses?« Aus ei nem Gefühl der Mitschuld heraus täuschte er Unwissenheit vor. »Es liegt nicht an mir. Viele Männer fahren morgen mit den Lastern fort. Doctela hat sie ausgesucht, und die Lady, deine Mutter, hat uns den Grund dafür genannt und einen ganzen Monatslohn ausbezahlt. Ein Mann wie ich stellt keine Fragen, Gutes Wasser.« Er lächelte, es war eine traurige, bittere Gri masse. »Hier ist dein Buch.« »Behalte es.« Shasa gab es ihm zurück. »Ich schenke es dir.« »Also gut, Gutes Wasser. Ich behalte es als Erinnerung an dich. Leb wohl.« Er wandte sich ab. »Moses –« Shasa rief ihn zurück und wußte dann nicht, was er sagen sollte. Er streckte impulsiv die Hand aus, und der Ovambo wich zurück. Ein Weißer und ein Schwarzer schüttel ten einander nicht die Hand. »Leb wohl«, beharrte Shasa, und Moses schaute sich verstoh len um, bevor er ihm die Hand drückte. »Wir sind doch Freunde«, sagte Shasa. »Oder?« »Ich weiß es nicht.« »Wie meinst du das?« »Ich weiß nicht, ob es möglich ist, daß wir Freunde sind.« Er machte sich sanft los und wandte sich ab. Er blickte kein einzi ges Mal zurück, als er an der Umzäunung entlang zu seinem Häuschen ging. Der Lasterkonvoi kroch schwerfällig über die Ebene. Über ihm lag eine dicke Staubschicht wie der gelbe Rauch eines Buschfeuers. Gerhard Fourie, der den ersten Laster fuhr, saß zusammenge 148
krümmt hinter dem Lenkrad und blickte alle paar Sekunden in den Rückspiegel über seinem Kopf. Auf der Ladefläche des Lasters türmten sich die Möbel und das Gepäck der schwarzen und weißen Familien, die entlassen worden waren. Die unglücklichen Eigentümer kauerten oben drauf. Die Frauen hatten Kopftücher umgebunden, um ihr Haar vor dem Staub zu schützen, und drückten ihre Säuglinge fester an sich, wenn der Laster über ein Schlagloch holperte. Fourie griff nach dem Rückspiegel und stellte ihn so ein, daß er das Mädchen auf der Ladefläche genau sehen konnte. Sie lag zwischen einer alten Teekiste und einem schäbigen Koffer aus Kunstleder. Sie hatte eine zusammengerollte Decke unter ihren Nacken geschoben und döste vor sich hin. Ein Knie war leicht angezogen, so daß ihr Rock dauernd höherrutschte, und als sie einschlief, konnte er flüchtig ihr Unterhöschen sehen. Dann schreckte das Mädchen hoch, schloß die Beine und rollte sich auf die Seite. Fourie schwitzte, und zwar nicht nur von der Hitze. Er hatte dieses junge Fleisch gekostet, wußte, wie süß, warm und an schmiegsam es war, und er wollte es wiederhaben. Er war be reit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um noch einmal davon zu kosten. Er fuhr den Laster an den Straßenrand, kletterte steifbeinig auf das Trittbrett hinaus und brüllte: »He, ihr da! Pinkelpause. Die Frauen gehen nach links, die Männer nach rechts. Wer in zehn Minuten nicht zurück ist, bleibt hier.« Er war als erster wieder beim Lastwagen und beschäftigte sich mit dem linken Hinterrad, als wollte er den Reifendruck überprüfen. In Wirklichkeit hielt er nach dem Mädchen Aus schau. Sie trat unter den Bäumen hervor und strich ihren Rock glatt. Als sie bemerkte, daß Fourie sie beobachtete, warf sie den Kopf zurück, schwang aufreizend das kleine Hinterteil hin und her und zeigte demonstrativ ihr Desinteresse an ihm. 149
»Annalisa«, flüsterte er, als sie neben ihm über die hintere Ladeklappe kletterte. »Hau ab, Gerhard Fourie«, fauchte sie ihn an. »Laß mich bloß in Ruhe, sonst sag’ ich’s meinem Pa!« Gewöhnlich wäre sie nicht so unfreundlich gewesen, aber ihr Rücken und ihr Hinterteil waren noch immer mit dunkelroten Striemen von der Peitsche ihres Vaters bedeckt. Vorläufig hatte sie jedes Interesse am männlichen Geschlecht verloren. »Ich muß mit dir reden«, drängte Fourie hartnäckig. »Ha, reden! Ich weiß genau, was du willst.« »Treffen wir uns heute abend außerhalb des Lagers«, flehte er. »Rutsch mir den Buckel runter.« Sie schwang sich auf die Ladefläche, und ihm drehte sich fast der Magen um, als er ihre langen, schlanken braunen Beine sah. »Annalisa, ich gebe dir Geld.« Annalisa hielt inne und schaute nachdenklich auf ihn hinab. Sein Angebot war eine überraschende Entdeckung, die ihr den Zugang zu einer neuen Welt voll ungeahnter Möglichkeiten eröffnete. Bis zu diesem Augenblick wäre ihr nie eingefallen, daß ein Mann ihr für etwas Geld geben könnte, das sie mehr genoß als essen und schlafen. »Wieviel?« fragte sie rasch. »Ein Pfund«, bot er an. Das war mehr, als sie je in der Hand gehabt hatte. Aber ihr Geschäftssinn war erwacht, und sie wollte sehen, wie weit sie gehen konnte. Daher warf sie den Kopf zurück und wandte sich halb ab, beobachtete ihn aber aus den Augenwinkeln. »Zwei Pfund«, flüsterte Fourie drängend, und Annalisa jubel te innerlich. Zwei ganze Pfund! Die Striemen auf ihrem Hinter teil und ihrem Rücken waren vergessen. Sie warf ihm einen jener wissenden, kecken Blicke zu, die ihn gewöhnlich rasend machten, und sah, wie die Schweißperlen an seinem Kinn und auf seiner Oberlippe zu beben begannen. 150
Das ermutigte sie so sehr, daß sie tief Atem holte und unver schämt wurde: »Fünf Pfund!« Sie leckte sich mit der Zungen spitze über die Lippen und erschrak über ihre eigene Kühnheit. Das war fast so viel, wie ihr Vater in einer ganzen Woche ver diente. Fourie erblaßte und zögerte. »Drei«, stieß er schließlich her vor. Aber sie spürte, daß er nahe daran war zuzustimmen, und spielte die Empörte. »Du alter Stinker«, sagte sie mit verächtli cher Stimme und wandte sich ab. »Schon gut! Schon gut!« kapitulierte er. »Fünf Pfund.« Sie steckte die Spitze ihres Zeigefingers in den Mund. »Und wenn du auch das willst, kostet dich das noch ein Pfund.« Ihre Kühnheit kannte nun keine Grenzen mehr. Der Mond stand bereits hoch am Himmel und tauchte die Wüste in weiches, gelbliches Licht, während die Schatten ent lang der Ravinen wie bläulicher Rauch aussahen. Fourie lehnte an der Grabenwand, zündete sich eine Zigarette an und hielt nach dem Mädchen Ausschau. Er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er die raubtierhaften Augen, die ihn ganz aus der Nähe beobachteten, nicht bemerkte. Sein ganzes Denken konzentrierte sich auf das Erscheinen des Mädchens, und er stöhnte in der Vorfreude auf den Genuß, der ihn erwartete. Sie erschien wie ein Geist im Mondlicht, elfenhaft und un wirklich. Er richtete sich auf und drückte die Zigarette aus. »Annalisa!« rief er mit tiefer, vor Verlangen bebender Stimme. Sie blieb außerhalb seiner Reichweite stehen. »Fünf Pfund, Menheer«, erinnerte sie ihn und trat näher, als er die zusam mengefalteten Banknoten aus den Hosentaschen zog. Sie nahm ihm das Geld ab und zählte es im Schein des Mondes. Dann steckte sie es zufrieden in ihre Rocktasche und trat keck auf ihn zu. 151
Er faßte sie um die Taille und bedeckte ihren Mund mit sei nen feuchten Lippen. Sie machte sich schließlich lachend los und packte sein Handgelenk, als er ihr unter den Rock greifen wollte. »Willst du das andere nicht auch?« »Du verlangst zuviel«, keuchte er. »Ich hab’ nicht mehr so viel Geld.« »Dann eben nur zehn Shilling«, bot sie an. »Eine halbe Krone«, stieß er hervor. »Das ist alles, was ich noch habe.« »Gut, gib sie mir«, stimmte sie zu und steckte die Münze ein. Dann kniete sie vor ihm nieder. Er legte seine Hände auf ihren blonden Lockenkopf, preßte sie an sich, beugte den Kopf vor und schloß die Augen. In diesem Augenblick wurde ihm etwas Hartes mit solcher Wucht von hinten gegen die Rippen gepreßt, daß er vor Schmerz nach Atem rang. »Sag der kleinen Hure, sie soll verschwinden.« Die Stimme war tief, gefährlich und schrecklich vertraut. Das Mädchen sprang auf und wischte sich mit dem Handrük ken über den Mund. Sie schaute flüchtig mit entsetzten Augen über Fouries Schulter, wirbelte herum und rannte wie gehetzt den Graben entlang auf das Lager zu. Fourie knöpfte ungeschickt seinen Hosenlatz zu und drehte sich zu dem Mann um, der mit der Mauser im Anschlag hinter ihm stand. »De La Rey!« stieß er hervor. »Hast du wen anderen erwartet?« »Nein! Nein!« Fourie schüttelte eifrig den Kopf. »Es ist nur – weil es so bald ist.« Seit ihrem letzten Treffen hatte Fourie Zeit gehabt, über ihre Abmachung nachzudenken. Die Feigheit hat te schließlich über seine Geldgier gesiegt, und er hatte sich einzureden vermocht, daß Lothar De la Reys Plan bloß Phanta sie gewesen war. Er hatte gehofft, nie wieder etwas von Lothar 152
De la Rey zu hören. Und nun stand er in voller Lebensgröße vor ihm. »So bald?« fragte Lothar. »Es ist schon Wochen her, mein al ter Freund. Die Vorbereitungen haben länger gedauert, als ich angenommen habe.« Dann fragte Lothar mit harter Stimme: »Hast du die Diamantenlieferung schon nach Windhuk ge bracht?« »Nein, noch nicht –« Fourie brach ab und ärgerte sich über sich selbst. Das wäre seine Chance gewesen. Er hätte sagen sollen: »Ja! Ich hab’ sie letzte Woche geliefert.« Doch nun war es zu spät. Die unüberlegten Worte konnten ihn eine lebens längliche Gefängnisstrafe kosten. »Wann ist die Lieferung fällig?« Lothar legte den Gewehr lauf unter Fouries Kinn und hob sein Gesicht hoch. Er wollte die Augen sehen. Er traute dem Mann nicht. »Sie haben es verschoben. Ich weiß nicht, wann. Es geht das Gerücht um, daß es diesmal eine besonders große Lieferung ist.« »Wie ich dir gesagt habe – das ist, weil sie die Mine schlie ßen wollen.« Lothar beobachtete aufmerksam Fouries Gesicht. Er spürte, daß der Mann noch unschlüssig war. Er mußte ihn überzeugen. »Es wird die letzte Lieferung sein, und dann bist du arbeitslos. Genau wie diese armen Teufel da drüben im La ger.« Fourie nickte finster. »Ja, die haben sie gefeuert.« »Und du bist der nächste, alter Freund. Dann wirst du jeden falls kein Geld mehr haben, um deine Kinder zu ernähren, und nicht einmal mehr die paar Pfund, um kleine Mädchen für ihre Tricks zu bezahlen.« »Mann, du darfst nicht so reden.« »Tu, was wir abgemacht haben, und du wirst so viele kleine Mädchen haben können, wie du willst.« »Red nicht so. Das ist gemein, Mann.« »Du kennst unsere Abmachung. Du weißt doch noch, was du 153
zu tun hast, sobald sie dir sagen, wann die Lieferung abgeht?« Fourie nickte. Aber Lothar blieb hartnäckig: »Sag es mir. Wiederhole es noch einmal.« Er hörte aufmerksam zu, als Fourie wiederstre bend seine Anweisungen wiederholte, und lächelte schließlich zufrieden. »Laß uns nicht im Stich, alter Freund. Ich hab’ es nicht gern, wenn man mich enttäuscht.« Er beugte sich vor und blickte Fourie starr in die Augen, dann drehte er sich ganz plötzlich um und verschwand in der Dunkelheit. Fourie schauderte und taumelte wie ein Betrunkener auf das Lager zu. Er hatte es schon fast erreicht, als ihm einfiel, daß das Mädchen zwar sein Geld hatte, ihr Teil des Handels aber noch nicht erfüllt war. Er fragte sich, ob er sie wohl im näch sten Lager dazu überreden konnte, und kam dann traurig zu dem Schluß, daß seine Chancen nicht besonders gut standen. Doch irgendwie erschien ihm das nun nicht mehr so wichtig. Die Kälte, die ihm Lothar De la Rey ins Blut injiziert hatte, schien sich bis in seine Lenden ausgebreitet zu haben. Sie ritten gutgelaunt und sorglos durch den Wald unterhalb des Bergrückens und freuten sich auf die Tage, die vor ihnen lagen. Shasa saß auf Prester John, und sein Mannlicher-Jagdgewehr steckte in der ledernen Scheide unterhalb seines linken Knies. Das Gewehr war ein Geschenk seines Großvaters zu seinem vierzehnten Geburtstag gewesen. Centaine ritt ihren grauen Hengst, ein prächtiges Vollblut pferd. Sie nannte ihn »Nuage«, Wolke, nach einem Hengst, den sie als Mädchen von ihrem Vater bekommen hatte. Centaine trug einen breitkrempigen Cowboyhut und über der Bluse eine Weste aus Kuduleder. Sie hatte einen gelben Sei denschal um den Hals geschlungen. 154
»Oh, Shasa, ich fühle mich wie ein Schulmädchen beim Schuleschwänzen! Wir haben zwei Tage ganz für uns allein.« »Reiten wir um die Wette bis zur Quelle!« forderte er sie heraus. Aber Prester John war kein Gegner für Nuage, und als Shasa die Quelle erreichte, war Centaine bereits abgestiegen und hielt den Kopf des Hengstes, um ihn daran zu hindern, sich mit Wasser vollzupumpen. Sie stiegen wieder auf und ritten tiefer in die Wildnis der Ka lahari hinein. Centaine war von einem der besten Lehrmeister, einem wilden Buschmann vom Volke der San, im Fährtenlesen unterrichtet worden und hatte nichts von ihren Fähigkeiten ver lernt. So entdeckte sie etwa zwei kleine, großohrige Füchse, die Shasa übersehen hätte. Dann scheuchten sie eine gelbe Sand katze vom Bau eines Ameisenbären fort. Am Nachmittag ent deckten sie eine Herde Springböcke, die im Gänsemarsch am Horizont entlangzog. Als die untergehende Sonne die Wüste in Schatten und Far ben tauchte, entdeckte Centaine neuerlich eine kleine Spring bockherde und suchte einen schwerfälligen jungen Widder für Shasa aus. »Wir sind nur noch eine halbe Meile vom Lager entfernt und brauchen etwas zum Abendessen.« Eilfertig nahm Shasa das Mannlicher aus der Scheide. »Einen sauberen Schuß!« mahnte sie ihn. Shasa stieg vom Pferd. Prester John als Deckung benutzend, pirschte er sich an die Herde heran. Prester John begriff seine Rolle und hielt sich stets zwischen Shasa und dem Wild. In einer Entfernung von zweihundert Metern kauerte Shasa sich nieder und stützte den Ellbogen auf den Knien ab. Centai ne war erleichtert, als der Springbockwidder unmittelbar nach dem Schuß zusammenbrach. Sie hatte einmal mit ansehen müssen, wie Lothar De la Rey eine kleine anmutige Gazelle verfehlte. Der Anblick des verwundeten Tieres verfolgte sie noch immer. Als sie heranritt, sah sie, daß Shasa das Tier genau hinter der 155
Schulter getroffen hatte, so daß die Kugel ins Herz gedrungen war. Das Lager war unterhalb einer kleinen Quelle am Fuße des Bergrückens aufgeschlagen worden. Centaine hatte am Vortag drei Hausangestellte mit Packpferden vorausgeschickt, und das Lager war bequem und sicher. Sie aßen Grillspieße mit Leber, Herz und Nieren und saßen bis spät in die Nacht am Feuer, tranken Kaffee, unterhielten sich zwanglos und sahen zu, wie der Mond aufging. Bei Tagesanbruch ritten sie wieder los. Sie waren etwa eine Meile weit geritten, als Centaine ihr Pferd zügelte und sich aus dem Sattel beugte, um den Boden zu untersuchen. »Was ist denn, Mutter?« Er sah, wie aufgeregt sie war. »Komm schnell, chérie.« Sie deutete auf die Spuren in der weichen Erde. »Was glaubst du, was das ist?« Shasa schwang sich aus dem Sattel und beugte sich über die Fährte. »Menschen?« Er war verwirrt. »Aber so klein? Kinder?« Er schaute zu ihr auf, und ihr strahlender Blick verriet ihm die Lösung. »Buschmänner!« rief er aus. »Wilde Buschmänner.« »Ja, genau«, erwiderte sie lachend. »Zwei Jäger. Sie sind hin ter einer Giraffe her. Schau! Ihre Spuren liegen über der Fährte ihrer Jagdbeute.« »Können wir ihnen folgen, Mutter? Können wir?« Shasa war nun ebenso aufgeregt wie sie. Centaine nickte. »Ihre Spur ist erst einen Tag alt. Wenn wir uns beeilen, können wir sie noch einholen.« Centaine ritt auf der Spur, während Shasa hinter ihr blieb, um die Fußabdrücke nicht zu verwischen. Er hatte sie nie so kon zentriert arbeiten sehen. Sie nahm selbst die schlimmsten Stel len, wo er mit seinen jungen scharfen Augen überhaupt nichts mehr erkennen konnte, im Galopp. »Hier haben sie die Giraffe zum ersten Mal gesichtet.« 156
»Woher weißt du das?« »Sie haben ihre Bogen gespannt. Dort sind die Abdrücke der Bogenenden.« Die kleinen Männer hatten die Spitzen ihrer Bogen in den Boden gedrückt, um sie zu biegen. »Schau, Shasa, hier haben sie angefangen, sich anzupir schen.« Und ein paar hundert Meter weiter: »Hier haben sie sich auf den Bauch gelegt und sind weitergekrochen. Hier nahmen sie eine kniende Stellung ein und schossen ihre Pfeile ab.« Zwanzig Meter weiter rief sie aus: »Schau nur, wie nahe sie der Beute waren. Hier fühlte die Giraffe die Pfeilspitzen ein dringen und galoppierte los – und die Jäger folgten ihr und warteten darauf, daß das Gift der Pfeilspitzen wirkte.« Sie galoppierten auf der Fährte weiter, bis Centaine sich auf richtete und nach vorn wies. »Geier!« Vier oder fünf Meilen entfernt zeigte sich eine feine Wolke aus schwarzen Punkten im Blau des Himmels. »Vorsicht jetzt, chérie«, mahnte Centaine. »Es könnte ge fährlich werden, wenn wir sie erschrecken oder in Panik ver setzen.« Sie näherten sich im Schrittempo der Stelle, wo die Jagdbeu te liegen mußte. Der riesige Kadaver der Giraffe lag halb enthäutet und zer stückelt auf der Seite. An den Dornenbüschen ringsum waren primitive Sonnendächer aus Stroh angebracht worden, und an den Ästen hingen Fleischstreifen und Innereien zum Trocknen in der Sonne. Die ganze Umgebung war von kleinen Füßen zertrampelt. »Sie haben ihre Frauen und Kinder geholt, um beim Zerlegen der Beute und beim Tragen zu helfen«, sagte Centaine. »Puh! Es stinkt entsetzlich!« Shasa rümpfte die Nase. »Wo sind sie eigentlich?« 157
»Sie haben sich versteckt«, erklärte Centaine. »Sie sahen uns kommen, wahrscheinlich schon aus fünf Meilen Entfernung.« Sie richtete sich in den Steigbügeln auf und nahm ihren Hut vom Kopf, um ihr Gesicht zu zeigen. Dann begann sie in einer eigenartig gutturalen, klickenden Sprache zu rufen, wobei sie sich langsam herumdrehte und die Nachricht in alle Richtungen wiederholte. »Bist du sicher, daß sie noch hier sind?« »Sie beobachten uns. Sie haben es nicht eilig.« Da erhob sich so dicht vor ihnen ein Mann, daß der Hengst scheute und nervös mit dem Kopf nickte. Der Mann trug nur ein Lendentuch aus Tierfell. Er war klein, aber makellos ge baut. Er hielt den Kopf stolz erhoben, und obwohl glatt rasiert, war nicht zu übersehen, daß er im besten Mannesalter stand. Seine Haut war wunderbar bernsteinfarben und wirkte in der Sonne fast durchsichtig. Er hob grüßend die rechte Hand und rief mit einer hohen, zwitschernden Stimme: »Ich grüße dich, Nam-Kind.« Er ge brauchte Centaines Buschmannamen, und sie schrie erfreut auf. »Ich grüße dich auch, Kwi!« »Wen hast du bei dir?« fragte der Buschmann. »Das ist mein Sohn Gutes Wasser. Wie ich dir erzählt habe, als wir uns das erste Mal trafen, wurde er am heiligen Ort dei nes Volkes geboren. O’wa war sein Adoptivgroßvater und H’ani seine Großmutter.« Kwi, der Buschmann, drehte sich um und rief in die leere Wüste hinaus: »Das ist die Wahrheit, o Volk der San. Diese Frau ist Nam-Kind, unser Freund, und der Junge ist der aus der Legende. Begrüßt sie!« Die kleinen bernsteinfarbenen Angehörigen des Sanvolkes tauchten aus unsichtbaren Vertiefungen und Mulden auf. Mit Kwi waren sie zusammen zwölf: zwei Männer, Kwi und sein Bruder Fat Kwi, ihre Frauen und die Kinder. Sie hatten sich nach allen Regeln der Kunst versteckt, aber nun eilten sie klik 158
kend, zwitschernd und lachend herbei. Centaine schwang sich aus dem Sattel, um sie zu begrüßen. Sie nannte jeden mit sei nem Namen und nahm schließlich zwei der Kleinkinder auf den Arm. »Woher kennst du sie, Mutter?« wollte Shasa wissen. »Kwi und sein Bruder sind mit O’wa, deinem Adoptivgroß vater vom Volk der San, verwandt. Als ich sie das erste Mal traf, warst du noch sehr klein, und die H’ani-Mine wurde gera de aufgebaut. Wir befinden uns hier in ihren Jagdgründen.« Sie verbrachten den Rest des Tages mit der Sippe, und als es Zeit zur Rückkehr wurde, gab Centaine jeder der Frauen eine Handvoll Messingpatronen, die sie mit viel Gezwitscher hoch erfreut and dankbar entgegennahmen. Sie würden die Patronen zu Halsketten verarbeiten, um die sie jede andere San-Frau, der sie auf ihrer Wanderung begegneten, beneiden würde. Shasa schenkte Kwi sein Jagdmesser mit dem Elfenbeingriff. Der kleine Mann prüfte mit dem Daumen die Schneide und grunzte verwundert, als er sich schnitt. Stolz präsentierte er seinen blu tigen Daumen den Frauen. Fat Kwi erhielt Centaines Gürtel, und als sie losritten, be staunte er noch immer sein Spiegelbild in der glänzenden Mes singschnalle. »Falls du uns noch einmal besuchen willst«, rief Kwi hinter ihnen her, »wir sind in dem Mongongowald bei O’che Pan, bis der große Regen kommt.« »Hast du wirklich so gelebt, Mutter?« fragte Shasa. »Hast du wirklich Fellkleider getragen und Wurzeln gegessen?« »Ja. Und du auch, Shasa. Um genau zu sein, du hattest über haupt nichts an, genau wie diese schmutzigen kleinen Racker.« Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »Manchmal träu me ich von einem dunklen Ort, einer Höhle mit Wasser, das raucht.« »Das war die Thermalquelle, in der wir badeten und in der ich den ersten Diamanten der H’ani-Mine fand.« 159
»Ich würde gern wieder einmal dorthin gehen, Mutter.« »Das ist leider nicht möglich.« Er sah, wie sich ihre Miene verdunkelte. »Die Thermalquelle befand sich in der Mitte des H’ani-Schlotes, dort, wo jetzt die Hauptförderanlage der Mine steht. Wir mußten die Thermalquelle zerstören.« Sie ritten eine Weile schweigend weiter. »Die Quelle war das Heiligtum der San – und doch schienen sie es seltsamerweise nicht übelzu nehmen, als wir«, sie zögerte kurz, »als wir ihr Heiligtum ent weihten.« »Das wundert mich. Stell dir vor, irgendeine fremde Rasse würde Westminster Abbey in eine Diamantenmine verwan deln!« »Ich habe vor langer Zeit mit Kwi darüber gesprochen. Er sagte, daß das Heiligtum nicht ihnen, sondern den Geistern gehörte, und hätten es die Geister nicht so gewollt, dann hätten sie es nicht zugelassen. Vielleicht langweilten sie sich schon und wollten an einen anderen Ort ziehen, genau wie die San.« »Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, daß du wie eine dieser San-Frauen gelebt hast, Mutter. Ausgerechnet du. Das übersteigt einfach mein Vorstellungsvermögen.« »Es war hart«, sagte sie leise. »Es war unvorstellbar hart – und doch wäre ich ohne diese harte, entbehrungsreiche Zeit nicht das, was ich heute bin. Weißt du, Shasa, hier draußen in der Wüste, als ich fast am Zusammenbrechen war, schwor ich einen Eid. Ich schwor, daß ich und mein Sohn nie wieder so arm sein würden.« »Aber damals war ich doch noch nicht bei dir.« »O doch«, erwiderte sie. »O doch, du warst bei mir. Ich trug dich in mir die Skelettküste entlang und durch die glühende Hitze der Dünen. Wir sind Geschöpfe der Wüste, und wir wer den überleben und Erfolg haben, wenn andere versagen und umkommen. Denk daran, Shasa, mein Liebling.«
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Am nächsten Morgen machten sie sich mit Bedauern auf den Heimweg in Richtung H’ani-Mine. Als die Sonne allmählich unterging, waren sie am Fuß des Bergrückens. Plötzlich richtete sich Shasa im Sattel auf und beschattete seine Augen, um den Berghang hinaufzuspähen. »Was ist, chérie?« Er hatte die Schlucht entdeckt, in der er mit Annalisa gewe sen war. »Du hast doch etwas«, fragte Centaine hartnäckig, und Shasa fühlte den plötzlichen Drang, seine Mutter zum Grabmal der Berghexe zu führen. Da fiel ihm sein Schwur ein, und er zöger te. »Möchtest du es mir nicht sagen?« Mutter zählt nicht, sie ist ein Teil von mir, sie ist keine Fremde, rechtfertigte er sich und platzte damit heraus: »Dort oben in der Schlucht liegt das Skelett eines Buschmannes, Mut ter. Soll ich es dir zeigen?« Centaine erbleichte und starrte ihn an. »Ein Buschmann?« flüsterte sie. »Woher weißt du, daß es ein Buschmann ist?« »Auf dem Schädel sind noch Haarreste – winzige schwarze Buschmannlocken, genau wie das Haar von Kwi und seiner Sippe« »Wie hast du das Skelett gefunden?« »Anna –« Er brach ab und errötete vor Scham. »Das Mädchen hat es dir gezeigt?« half ihm Centaine. »Ja.« Er nickte und senkte den Kopf. »Würdest du es wiederfinden?« Centaine hatte ihre Fassung wiedergewonnen. »Ja, ich glaube schon. Ich hab’ mir die Stelle gemerkt.« Er deutete auf die Felswand hinauf. »Diese Scharte in den Felsen und diese Spalte in Form eines Auges.« »Zeig es mir, Shasa«, befahl sie. »Wir müssen die Pferde hierlassen und zu Fuß hinaufstei gen.« 161
Das Klettern war beschwerlich, weil in der Schlucht noch immer eine drückende Hitze herrschte. »Hier muß es irgendwo sein.« Shasa kletterte auf einen der größeren Felsbrocken und schaute sich um. »Such nach einem Steinhaufen, unter dem eine Mimose wächst. Einer ihrer Äste verdeckt eine kleine Nische. Such du dort drüben, ich suche hier.« Sie kletterten entfernt voneinander langsam die Schlucht hin auf und blieben durch Pfiffe und Rufe in Verbindung, wenn sie sich durch Sträucher und Felsen aus den Augen verloren. Doch dann antwortete Centaine nicht mehr auf Shasas Pfei fen. Er lauschte aufmerksam und wurde besorgt, als alles still blieb. »Mutter, wo bist du!« »Hier!« Ihre Stimme klang dumpf. Shasa kletterte eilig über die Felsbrocken, um zu ihr zu ge langen. Sie stand klein und verlassen im Sonnenschein und drückte den Hut gegen die Brust. Tränen glitzerten auf ihren Wangen. »Mutter?« Er trat von hinten an sie heran und sah, daß sie das Grabmal gefunden hatte. Sie hatte den Ast, der die Nische verbarg, beiseite geschoben. Die Glaskrüge standen noch an Ort und Stelle, aber die Blumen waren verwelkt. »H’ani«, brach es aus Centaine hervor. »Meine geliebte alte Großmutter.« »Mutter!« Shasa legte den Arm um ihre Schulter und stützte sie, als sie schwankte. »Woher weißt du das?« Centaine lehnte sich an ihn, gab aber keine Antwort. »In den Senken und Schluchten könnten hunderte Busch mannskelette liegen«, fuhr er fort, aber sie schüttelte heftig den Kopf. »Wie kannst du so sicher sein?« »Sie ist es.« Centaines Worte waren nur undeutlich zu hören. 162
»Es ist H’ani – diese abgebrochenen Kaninchenzähne und die ses Zeichen aus Eierschalensplittern auf ihrem Lendentuch.« Shasa hatte den Lederfetzen, der ausgetrocknet zwischen den Gebeinen halb im Sand vergraben lag, vorher nicht bemerkt. »Aber diesen Beweis brauche ich gar nicht. Ich weiß, daß sie es ist. Ich weiß es einfach.« »Setz dich, Mutter.« Er half ihr, sich auf einem der flechten bewachsenen Felsblöcke niederzulassen. »Es geht mir schon besser. Das war nur der Schock. Ich hab’ in all den Jahren so oft nach ihr gesucht. Ich wußte, daß sie hier irgendwo liegen mußte.« Sie schaute sich unsicher um. »O’was Leiche muß ganz in der Nähe sein.« Sie blickte zu der Fels wand auf, die sich wie die Kuppel einer Kathedrale über ihnen wölbte. »Sie waren dort oben und versuchten zu entkommen, als er sie abknallte. Sie müssen dicht nebeneinander abgestürzt sein.« »Wer hat sie erschossen, Mutter?« Centaine holte tief Atem, aber selbst dann zitterte ihre Stim me noch, als sie seinen Namen nannte: »Lothar. Lothar De la Rey!« Eine Stunde lang durchstreiften sie die Schlucht auf der Su che nach dem zweiten Skelett. »Es hat keinen Sinn.« Centaine gab schließlich auf. »Wir finden ihn nie. Lassen wir ihm seine Ruhe.« »Mein erster Gedanke war, ihre sterblichen Überreste mitzu nehmen und anständig zu begraben«, flüsterte Centaine, als sie wieder beim Grabmal waren. »Aber H’ani war keine Christin. Diese Berge waren ihr Heiligtum. Hier wird sie Frieden fin den.« Sie stand auf und nahm Shasas Hand. »Sie war der gütigste, edelste Mensch, den ich je gekannt ha be«, sagte sie leise. »Ich hab’ sie so geliebt.« Hand in Hand 163
gingen sie zurück zu den Pferden. Den Rest des Heimweges legten sie schweigend zurück. Beim Frühstück am Morgen war Centaine von übertriebener Fröhlichkeit, doch ihre Lider waren vom Weinen verschwollen. »Das ist unsere letzte Woche, bevor wir wieder nach Kap stadt zurück müssen.« »Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben.« »Auf dich wartet die Schule, und ich habe meine Pflichten. Wir kommen wieder, das weißt du doch.« Er nickte, und sie fuhr fort: »Ich habe es so eingerichtet, daß du die letzte Woche in der Waschanlage und in den Sortierungsräumen arbeitest. Es wird dir gefallen. Das versprech’ ich dir.« Sie hatte recht, wie immer. Die Waschanlage war ein freund licher Ort. Das Wasser, das über die Spülbretter plätscherte, kühlte die Luft, und es herrschte eine wohltuende Ruhe. Die Atmosphäre in dem langgestreckten Ziegelbau ähnelte dem heiligen Schweigen in einer Kathedrale: Hier erreichte die An betung von Mammon und Adamant ihren Höhepunkt. Shasa verbrachte den ganzen Vormittag damit, an den riesi gen Trommeln, die dick mit gelbem Fett überzogen waren, damit die ausgewaschenen Diamanten an ihnen haftenblieben, auf und ab zu gehen und zuzusehen, wie die Steine auf der Fettschicht von Stunde zu Stunde mehr wurden. Zu Mittag kam der Leiter der Waschanlage, um die Trom meln von ihrem kostbaren Überzug zu befreien. Er war beglei tet von seinen vier weißen Assistenten, die eigentlich nur dazu da waren, einander zu beobachten und jede Gelegenheit zum Diebstahl zu vereiteln. Sie kratzten mit einer breiten Spachtel die Fettschicht von den Trommeln und sammelten das Fett mit den Diamanten in einem Kochkessel, dann bestrichen sie jede Trommel peinlich genau mit einer neuen Fettschicht. Im verschlossenen Entfettungsraum am Ende des Gebäudes 164
wurde der Stahlkessel zum Entfetten auf einen Spirituskocher gestellt. Schließlich blieb ein halber Kessel Diamanten übrig, und schon war Dr. Twentyman-Jones zur Stelle, um jeden Stein einzeln abzuwiegen und in das ledergebundene Haupt buch einzutragen. »Sie werden natürlich bemerkt haben, Master Shasa, daß kei ner dieser Steine weniger als ein halbes Karat hat.« »Ja, Sir«, erwiderte Shasa, obwohl ihm das nicht aufgefallen war. »Was ist mit den kleineren Steinen?« »Die Fettschicht ist nicht zuverlässig – die Steine müssen ein bestimmtes Minimalgewicht haben, um haftenzubleiben. Die kleineren fallen von den Trommeln ab.« Er führte Shasa in den Schwemmraum zurück und zeigte ihm den Trog mit den feuchten Kieseln, die die Reise über die Trommeln überlebt hatten. »Wir leiten das ganze Wasser ab und verwenden es wieder. Wasser ist hier draußen kostbar, wie Sie wissen. Dann werden diese Diamantenkiesel händisch aus geklaubt.« Während er sprach, traten zwei Männer durch die Tür am Ende des Raumes, und jeder schöpfte einen Eimer Kie sel aus dem Trog. Shasa und Twentyman-Jones folgten ihnen durch die hintere Tür in einen hellen, langgezogenen Raum, in dem durch glä serne Dachluken und hohe Fenster des Tageslicht flutete. Ein langer Tisch, dessen Platte mit einer glänzenden Metallegie rung überzogen war, füllte die ganze Länge des Raumes. An den Längsseiten des Tisches saßen Frauen. Alle blickten auf, als die beiden Männer eintraten, und Shasa erkannte die Frauen und Töchter vieler weißer Arbeiter und schwarzer Vor arbeiter wieder. Die weißen Frauen saßen nahe der Tür, wäh rend die schwarzen Frauen, durch einen schicklichen Abstand von ihnen getrennt, ihren Platz am oberen Ende des Tisches hatten. Die beiden Männer mit den Eimern schütteten die feuchten Kiesel auf die metallene Tischplatte, und die Frauen wandten 165
ihre Aufmerksamkeit den Steinen zu. Jede von ihnen hatte eine Pinzette in der einen Hand und einen flachen hölzernen Löffel in der anderen. Sie holten ein kleines Häufchen Kiesel zu sich heran und begannen mit flinken Fingern die Steine auszusortie ren. »Das ist eine Arbeit, für die die Frauen ideal geeignet sind«, erklärte Twentyman-Jones, als sie am Tisch entlanggingen und den Frauen über die Schultern schauten. »Sie haben die Ge duld, die scharfen Augen und die Geschicklichkeit, die den Männern fehlt.« Shasa sah, daß sie winzige undurchsichtige Steine, die zum Teil kaum größer waren als Zuckerkörner, zwischen den Kie selsteinen herauspickten. »Diese Steine sind unser täglich Brot«, erklärte TwentymanJones. »Sie finden Verwendung in der Industrie. Die großkarä tigen Steine, die Sie vorher gesehen haben, sind die Butter aufs Brot.« Als die Werksirene den Feierabend verkündete, fuhr Shasa mit Twentyman-Jones in dessen Wagen zum Verwaltungsge bäude. Auf dem Schoß hielt er die kleine verschlossene Stahl kassette, in der sich die Diamantenausbeute des ganzen Tages befand. Centaine kam ihnen auf der Veranda des Verwaltungsgebäu des entgegen und führte sie in ihr Büro. »Nun, wie hat es dir heute gefallen?« fragte sie. »Es war faszinierend, Mutter, und wir haben eine richtige Schönheit gefunden. Sechsunddreißig Karat – ein richtiges Monstrum von einem Diamanten!« Er stellte die Kassette auf den Schreibtisch, und nachdem Twentyman-Jones aufgeschlos sen hatte, zeigte er ihr den Diamanten so stolz, als hätte er ihn mit seinen eigenen Händen aus dem Fels gehauen. »Er ist groß«, stimmte Centaine zu, »aber die Farbe ist nicht besonders gut. Hier, halte ihn einmal ins Licht. Siehst du, er ist braun wie Whisky mit Soda und hat Einschlüsse und Wolken. 166
Diese kleinen schwarzen Punkte und den Sprung in der Mitte kann man sogar mit freiem Auge erkennen.« Shasa machte große Augen, als sein Stein so verunglimpft wurde, und Centaine wandte sich lachend an TwentymanJones. »Zeigen wir ihm doch ein paar wirklich gute Diaman ten.« Twentyman-Jones führte Shasa zu der Gittertür am Ende des Korridors. Er schloß auf und versperrte die Tür hinter ihnen wieder, bevor sie die Treppe in den Tresorraum hinuntergin gen. Als er die Zahlenkombination einstellte, stand er so, daß Shasa das Schloß nicht sehen konnte, und dann war noch ein zweiter Schlüssel nötig, bevor die dicke grüne Stahltür auf schwang und sie den Tresorraum betreten konnten. »In diesen Kanistern befinden sich die Industriesteine«, er klärte er im Vorbeigehen. »Die hochkarätigen Steine bewahren wir gesondert auf.« Er schloß eine kleine Stahltür in der hinteren Wand des Tre sorraums auf und nahm fünf numerierte braune Papiersäckchen aus dem Safe. »Das sind unsere besten Steine.« Zum Beweis seines Ver trauens übergab er sie Shasa, dann kehrten sie zurück, wobei jede Tür sorgfältig auf- und wieder zugeschlossen wurde. Centaine erwartete sie in ihrem Büro, und als Shasa die Säckchen vor ihr auf den Schreibtisch legte, öffnete sie das erste und breitete seinen Inhalt vorsichtig auf dem Tintenblatt aus. »Donnerwetter!« Shasa verdrehte die Augen beim Anblick der großen Steine. »Die sind ja gigantisch! Wieviel Karat hat denn dieser hier?« »Achtundvierzig«, erwiderte Centaine nach einem Blick in das Hauptbuch. »Aber du darfst nicht vergessen, daß er beim Schneiden und Schleifen fast die Hälfte seines Gewichtes ein büßen wird.« »Wieviel ist er dann noch wert?« 167
Centaine gab die Frage an Twentyman-Jones weiter. »Eine Menge Geld, Master Shasa.« Wie jedem echten Lieb haber schöner Dinge, ob Juwelen oder Gemälde, Pferde oder Statuen, mißfiel es ihm, den Wert der Steine in Geldsummen auszudrücken. Statt dessen begann er mit einem kleinen Vor trag in Diamantenkunde. Als es draußen dunkel wurde, knipste Centaine die Lampen an, und sie saßen noch eine weitere Stunde über die Diamanten gebeugt und beantworteten Shasas interessierte Fragen, bis Twentyman-Jones die Steine schließlich wieder in ihre Säck chen streifte und sich erhob. »Ich bringe die Steine jetzt zu rück.« »Dr. Twentyman-Jones«, hielt Shasa ihn auf, »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Wieviel sind die Steine wert?« »Sie meinen alle Steine zusammen?« fragte er betreten. »Einschließlich der Industriesteine und aller übrigen, die noch im Tresorraum sind?« »Ja, Sir. Wieviel, Sir?« »Nun, wenn De Beers die ganze Lieferung zum selben Preis nimmt wie unsere letzte Lieferung, dann wird sie weit mehr als eine Million Pfund einbringen«, erwiderte er traurig. »Eine Million Pfund«, wiederholte Shasa, doch Centaine er kannte an seinem Gesichtsausdruck, daß eine solche Geld summe ebenso unvorstellbar für ihn war wie die in Lichtjahren ausgedrückten Entfernungen zwischen den Sternen. »Vergiß nicht Shasa, daß das nicht der Reingewinn ist. Von dieser Summe müssen wir erst die Betriebskosten für die letz ten Monate abziehen, bevor wir den Gewinn ausrechnen kön nen. Und davon sind dann noch die Steuern zu bezahlen.« Sie stand auf, doch dann hielt sie Twentyman-Jones mit einer Handbewegung zurück, weil ihr plötzlich ein Gedanke ge kommen war. »Wie Sie wissen, fahren Shasa und ich kommenden Freitag 168
nach Windhuk zurück. Shasa muß Ende nächster Woche wie der in die Schule. Ich werde die Diamanten selbst zur Bank bringen –« »Mrs. Courtney!« Twentyman-Jones war entsetzt. »Das kann ich nicht zulassen. Beim Allmächtigen, Diamanten im Wert von einer Million Pfund! Es wäre sträflicher Leichtsinn, wenn ich dem zustimmen würde.« Er brach ab, als er ihre veränderte Miene sah. Um ihren Mund erschien dieser vertraute trotzige Zug. Er kannte sie wie seine eigene Tochter, daher begriff er im selben Augenblick, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, sie herauszufordern und ihr etwas zu verbieten. »Ich denke dabei nur an Sie, Mrs. Courtney. Eine Million Pfund in Diamanten würden jede Hyäne und jeden Raubvogel, jeden Wegelagerer und jeden Straßenräuber im Umkreis von tausend Meilen anlocken.« »Ich hatte nicht die Absicht, es lauthals zu verkünden«, erwi derte sie kühl. »Die Versicherung!« fiel es ihm plötzlich ein. »Die Versiche rung wird keine Verluste decken, wenn die Lieferung nicht per bewaffneten Konvoi transportiert worden ist. Können Sie sich dieses Risiko wirklich leisten – den Verlust von einer Million Pfund gegen ein paar eingesparte Tage?« Das war das einzige Argument, das sie vielleicht von ihrem Vorhaben abbringen konnte. Er sah, daß sie darüber nachdach te, und seufzte insgeheim erleichtert auf, als sie die Achseln zuckte. »Na schön, dann eben nicht, Dr. Twentyman-Jones. Lassen wir alles beim alten.« Lothar hatte die Straße zur H’ani-Mine eigenhändig gebaut. Aber das war zwölf Jahre her, so daß er sich nicht mehr an jede Einzelheit erinnern konnte. Trotzdem fielen ihm noch minde stens fünf Stellen ein, die seinen Zwecken dienlich sein konnten. 169
Zwei Tage nach seinem Zusammentreffen mit Gerhard Fou rie erreichte er eine solche Stelle und fand sie ideal. Hier ver lief die Straße parallel zu einem tiefen, felsigen Flußbett und mündete in einer scharfen Biegung in die Engstelle, die Lothar zum Überqueren des Flußbettes in die steile Uferböschung hat te sprengen lassen. Er stieg vom Pferd und ging am Rand der hohen Uferbö schung entlang, um die Stelle genau zu inspizieren. Sie konn ten den Diamantentransport in der Engstelle aufhalten, indem sie mit Felsblöcken eine Straßensperre errichteten. Im Flußbett fand sich bestimmt Grundwasser für die Pferde. Sie mußten für die nachfolgende lange harte Reise in Form sein. Außerdem war das Flußbett ein ideales Versteck für sie. Hinzu kam, daß dies das entlegenste Straßenstück war. Es würde Tage dauern, bis die Polizei alarmiert war und den Ort des Überfalls erreichte. Er durfte damit rechnen, einen großen Vorsprung herauszuholen, falls sie überhaupt das Risiko auf sich nahmen, ihnen in die Wildnis, durch die sie flüchten woll ten, zu folgen. »Hier werden wir es machen«, erklärte er Swart Hendrick. Sie schlugen ihr Lager unterhalb der steilen Uferböschung auf, gerade da, wo die Telegraphenleitung das Flußbett querte. Lothar kletterte den Telegraphenmast hinauf, zapfte den Hauptdraht an und führte das Kabel bis zur Erdhöhle, die Swart Hendrick in die Uferböschung gegraben hatte. Das Warten war eintönig, und Lothar ärgerte sich, daß er an den Kopfhörern bleiben mußte, aber er konnte es nicht riskie ren, die entscheidende Meldung über die Abfahrt des Diaman tentransports von der H’ani-Mine zu versäumen. Daher mußte er alle Zeichen, die im Laufe des Tages zwischen der Mine und Windhuk hin- und hergingen, aufschreiben und in Worte über setzen. Es war eine private Telegraphenleitung, daher machte man sich nicht die Mühe, die Nachrichten zu verschlüsseln. Während des Tages blieb Lothar im Unterstand allein. Swart 170
Hendrick nahm Manfred und die Pferde mit in die Wüste, an geblich um auf die Jagd zu gehen. In Wirklichkeit wollte er sowohl den Jungen als auch die Tiere für die bevorstehende Reise abhärten und sie außer Sichtweite der Straße bringen. Für Lothar waren die langen, eintönigen Tage von Zweifeln und Vorahnungen erfüllt. Es gab so vieles, das schiefgehen konnte. Und es gab ein paar schwache Glieder in der Kette, und Gerhard Fourie war eines der schwächsten von ihnen. Der ganze Plan hing von diesem Mann ab. Und der war offenbar ein Feigling, ein Mann, der leicht zu beeinflussen und leicht zu entmutigen war. Als das Rufzeichen in den Kopfhörern ertönte, griff er hastig nach seinem Notizbuch. Der Telegrafist in der H’ani-Mine be gann zu morsen, und Lothars Bleistift flog über die Seiten. Als die Nachricht übermittelt war, kam von der Telegraphenstation in Windhuk eine kurze Bestätigung, und Lothar legte sich die Kopfhörer um den Hals, um zu übersetzen: Für Winkeladvokat. Stop. Junos Privatwagen am Sonntag zum Ankoppeln an den Nachtexpreß nach Kapstadt vorberei ten. Stop. Ankunft Juno Sonntag mittag. Ende. Vingt. »Winkeladvokat« war Abraham Abrahams. Diesen Codena men mußte Centaine gewählt haben, als sie sich einmal über ihn ärgerte, während »Vingt« – das französische Wort für die Zahl zwanzig – auf den Namen Twentyman-Jones anspielte. Der französische Ausdruck deutete ebenfalls darauf hin, daß der Codename von Centaine stammte. Lothar fragte sich, wer für Centaine Courtney den Codenamen »Juno« gewählt hatte, und grinste, weil er so passend war. Centaine wollte also in ihrem Privatwagen nach Kapstadt fahren. Irgendwie war er erleichtert, daß sie nicht in der Nähe sein würde, wenn es geschah. Um bequem Sonntag mittag in Windhuk zu sein, mußte Centaine Freitagmorgen von der 171
H’ani-Mine abfahren. Demnach würde sie Samstagnachmittag die Engstelle passieren. Er zog noch ein paar Stunden ab, weil er wußte, daß sie wie der Teufel fuhr. Er saß in der heißen, stickigen Erdhöhle und hatte plötzlich das starke Verlangen, sie, wenn auch nur flüchtig, im Vorbei fahren zu sehen. »Lassen wir es als Probe für den Diamanten transport gelten«, rechtfertigte er sich. Lothar sah die Staubwolke, die der Daimler aufwirbelte, schon aus zehn Meilen Entfernung und gab Manfred und Swart Hendrick ein Zeichen. Sie hatten an den Schlüsselstellen flache Gräben ausgehoben und sie mit Ästen von Dornensträuchern so gut abgeschirmt, daß Lothar sicher war, daß sie nur aus wenigen Schritt Entfer nung entdeckt werden konnten. Es war nur eine Probe, daher trug keiner von ihnen Ge sichtsmasken. Lothar prüfte ein letztes Mal seine Vorbereitungen und beo bachtete dann die rasch näherkommende Staubwolke. Mittler weile war sie schon so nahe, daß er vage die Form des Wagens erkennen und das Geräusch des Motors hören konnte. »Sie sollte nicht so schnell fahren«, dachte er ärgerlich. »Sie wird sich noch den Hals brechen.« Er kauerte sich in seinen Graben und beobachtete sie durch die Äste. Der schwere Wagen holperte über die Spurrinnen und schleuderte, als er mit hoher Geschwindigkeit um die Kurve kam. Sie trat im letzten Augenblick auf die Bremse, legte den niedrigsten Gang ein und benutzte die Bremswirkung des tiefen Sandes, um direkt vor dem steil abfallenden Engpaß zum Ste hen zu kommen. Als sie die Wagentür öffnete und ausstieg, stand sie nur zwanzig Schritte von ihm entfernt, und er fühlte, wie sein Herz zu hämmern begann. »Sie ist nicht schön«, sagte er sich, als er ihr Gesicht studier 172
te. Aber sie war viel mehr als das: lebenssprühend, kraftvoll, mit ungeheurer Ausstrahlung. Ihr Codename fiel ihm wieder ein: die Göttin Juno, mächtig und gefährlich, lebhaft und unbe rechenbar, jedoch ungeheuer faszinierend und ungeheuer be gehrenswert. »Wir gehen hinunter, chérie«, rief sie dem jungen Mann zu, der auf der anderen Seite des Daimlers ausstieg, »um nachzu sehen, ob die Überfahrt in Ordnung ist.« Shasa schien in der kurzen Zeit seit ihrer letzten Begegnung um einiges gewachsen zu sein. Sie ließen den Wagen stehen und gingen Seite an Seite die Straße hinunter. Manfred lag in einem Graben am unteren Ende des Engpas ses. Auch er beobachtete das Paar. Die Frau bedeutete ihm nichts. Sie war seine Mutter, aber das wußte er nicht. Sie war eine Fremde für ihn, und er beobachtete sie ohne jede Gefühls regung. Dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit dem Jungen an ihrer Seite zu. Shasas hübsches Gesicht störte ihn, aber es war auch nicht zu übersehen, daß sein Rivale mittlerweile breitere Schultern und kräftige Muskeln an den Armen hatte. »Ich würde gern noch einen Kampf mit dir austragen, mein Freund. Aber das nächste Mal hättest du mit deinen Tänzeleien kein Glück mehr.« Er dachte daran, wie schwer es gewesen war, dieses hübsche Gesicht zu treffen. Als die beiden unten angekommen waren, blieben sie eine Weile plaudernd stehen, dann stapfte Shasa in das breite Fluß bett hinaus. Der Fahrweg durch den tiefen Sand war mit Aka zienästen befestigt worden, aber die Räder der schweren Laster hatten den provisorischen Knüppeldamm aufgebrochen. Shasa legte die Äste zurecht und stampfte die Enden in den Sand. Während er arbeitete, ging Centaine zum Wagen zurück. Am Reserveradträger hing ein Wasserbehälter aus Segeltuch, den sie los machte. Sie hob ihn an die Lippen und nahm einen Schluck. Dann schlüpfte sie aus dem langen weißen Staubman 173
tel, der ihre Kleidung schützte, und knöpfte ihre Bluse auf. Sie tränkte den gelben Schal mit Wasser und wischte sich mit dem feuchten Tuch über Hals und Busen. Lothar wollte sich abwenden, konnte es aber nicht. Er starrte sie an. Sie war nackt unter der hellblauen Baumwollbluse. Sie hatte kleine, makellose Brüste, ihre Brustwarzen waren noch immer so rosig wie die eines jungen Mädchens, nicht wie die einer Frau, die zwei Söhne zur Welt gebracht hatte. »Alles in Ordnung, Mutter«, rief Shasa, während er den Weg heraufgestiegen kam, und Centaine knöpfte rasch ihre Bluse zu. »Wir haben auch genug Zeit verloren«, sagte sie und stieg ein. Als Shasa eingestiegen war, jagte sie den großen Wagen durch den Engpaß und das Flußbett und raste die gegenüberlie gende Uferböschung hinauf. Das Motorengeräusch entfernte sich rasch, und Lothar mußte feststellen, daß er zitterte. Es vergingen einige Minuten, bevor Swart Hendrick als er ster aufstand. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch als er den Ausdruck auf Lothars Gesicht sah, drehte er sich wortlos um und stapfte zum Lager zurück. »Er ist ein Boxer«, sagte Manfred, und es dauerte einen Au genblick, bis Lothar begriff, daß er von Shasa sprach. »Er sieht zwar wie ein Weichling aus, kann aber kämpfen. Man trifft ihn einfach nicht.« Er nahm die Fäuste hoch und boxte gegen einen unsichtbaren Gegner, wobei er Shasas Beinarbeit nachahmte. »Gehen wir zum Lager zurück«, sagte Lothar, und Manfred ließ die Arme sinken und steckte die Hände in die Hosenta schen. Beide schwiegen, bis sie den Unterstand erreicht hatten. »Kannst du boxen, Pa?« fragte Manfred. »Kannst du mir das Boxen beibringen?« Lothar lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich fand es immer bequemer, einen Gegner mit einem gezielten Tritt zwischen die Beine abzulenken und dann mit einer Flasche oder einem Ge wehrkolben niederzuschlagen.« 174
»Ich würde gern boxen lernen«, sagte Manfred. Sein Vater lächelte nachsichtig und klopfte ihm auf die Schulter. »Bring den Mehlsack her«, sagte er, »dann bring ich dir statt dessen bei, wie man Zwieback bäckt.« »Ach, Abe, Sie wissen doch, wie sehr ich diese Abendgesell schaften hasse«, rief Centaine gereizt. »Diese überfüllten, stik kigen Räume und das ewig gleichbleibende alberne Ge schwätz.« »Es könnte von großem Vorteil sein, diesen Mann kennenzu lernen, Centaine. Mehr noch, er könnte sogar Ihr wertvollster Freund in dieser Region werden.« Centaine schnitt eine Grimasse. Abe hatte natürlich recht. Der Administrator war faktisch der Gouverneur dieser Region und hatte daher sehr große Macht. »Vermutlich ist er auch so ein großspuriger alter Langweiler wie sein Vorgänger.« »Ich kenne ihn noch nicht«, gab Abe zu. »Er ist erst vor ein paar Tagen in Windhuk eingetroffen und wird sicher erst An fang nächstes Monat vereidigt. Aber unsere neuen Konzessio nen im Tsumebgebiet liegen bereits auf seinem Schreibtisch und müssen nur noch unterzeichnet werden.« Er bemerkte die Veränderung in ihren Augen und versuchte den Vorteil zu nutzen. »Die exklusiven Schürf rechte über zweitausend Quadratmeilen – ist Ihnen das nicht ein paar Stun den Langeweile wert?« Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. »Wir sollten mit dem Expreßzug heute abend abfahren. Shasa muß am Mittwoch wieder zur Schule.« »Der nächste Zug geht am Dienstag abend. Ich habe bereits angeordnet, daß Ihr Waggon angekoppelt wird. Master Shasa kann mit dem heutigen Abendzug fahren, ich habe ein Abteil 175
für ihn gebucht. Sir Garry und seine Frau sind noch in Welte vreden, sie werden ihn am Bahnhof in Kapstadt abholen. Wir brauchen nur zu telegraphieren.« Abraham lächelte Shasa zu. »Wie ist es, junger Mann, du kannst die Reise doch sicher ohne deine Mutter machen?« Abe war ein hinterlistiger kleiner Teufel. Shasa sprang entrü stet auf, um auf diese Herausforderung einzugehen. »Natürlich kann ich das, Mutter. Du bleibst hier. Es ist wich tig, daß du den neuen Administrator kennenlernst.« Centaine hob resignierend die Hände. »Wenn ich vor Lange weile sterbe, Abe, werden Sie es Ihr Leben lang büßen müssen!« Das Verwaltungsgebäude war ein schweres neugotisches Bauwerk. Als Centaine ihren Blick durch den Ballsaal schwei fen ließ, sah sie, daß die Gesellschaft nicht besser war, als sie erwartet hatte. Sie bestand hauptsächlich aus hohen Beamten, Bezirksvorstehern und ihren Frauen, den Offizieren der hiesi gen Garnison und der Polizei, zusammen mit den wichtigsten Geschäftsleuten der Stadt und den großen Grundbesitzern aus der Umgebung. Nachdem sie ein paar Bekannte begrüßt hatten, nahm Abe ih ren Arm und führte sie zur Empfangsreihe. »Ich konnte einiges über ihn herausfinden. Er heißt Blaine Malcomess, ist Oberstleutnant und befehligte ein Bataillon der Natal-Kavallerie. Er hat den Krieg gut überstanden und wurde hoch dekoriert. Im Privatleben ist er Rechtsanwalt –« Die Polizeikapelle stimmte einen Straußwalzer an, und im Nu füllte sich die Tanzfläche. Centaine stellte befriedigt fest, daß sie dem neuen Administrator als letzte vorgestellt werden würde. Während die Empfangsreihe langsam weiterrückte, überlegte sie bereits, wann sie sich ohne großes Aufsehen wieder verab schieden könnte. Plötzlich merkte sie, daß sie am Ende der Reihe angekommen waren. »Mr. und Mrs. Abraham Abrahams und Mrs. Centaine de 176
Thiry Courtney.« Sie blickte zu dem Mann vor ihr auf und grub unwillkürlich ihre Fingernägel in die weiche Innenseite von Abraham Abra hams Ellbogen. Er war sehr groß und schlank, seine Haltung entspannt und ohne jede militärische Steifheit. Trotzdem wirkte er so voller Elan, als könnte er jeden Augenblick losmarschieren. »Mrs. Courtney«, sagte er und gab ihr die Hand, »es freut mich, daß Sie kommen konnten. Ich wollte Sie schon lange kennenlernen.« Er hatte eine tiefe, klare Stimme und sprach mit einem leichten walisischen Akzent. Als er ihre Hand drückte, konnte sie die verhaltene Kraft sei ner Finger spüren. Sie musterte sein Gesicht. Er hatte kühne Gesichtszüge, Wangenknochen, Stirn und Kinn wirkten schwer und massiv wie Stein. Seine Nase war groß und hatte einen leichten romanischen Einschlag, der Mund war breit und ausdrucksvoll. Er erinnerte stark an einen jüngeren, gutaussehenden Abraham Lincoln. Noch keine Vier zig, schätzte sie, sehr jung für diesen Rang und dieses Amt. Dann wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie noch immer seine Hand hielt und seine Begrüßung nicht erwidert hatte. Er hatte sich leicht vorgebeugt und musterte sie ebenso unverwandt und offen wie sie ihn. Centaine mußte ihre Hand ein wenig drehen, um sie seinem Griff zu entwinden, und zu ihrem Entsetzten spürte sie eine heiße Welle über die Kehle in ihre Wangen steigen. »Ich hatte schon einmal das Vergnügen eines Kontakts mit ihrer Familie«, erklärte Blaine Malcomess. Seine Zähne waren ebenmäßig und sehr weiß. Als er lächelte, wirkte sein Mund noch breiter. Sie gab sein Lächeln ein wenig unsicher zurück. »Tatsächlich?« sagte sie und merkte gleichzeitig, daß dies nicht gerade die Einleitung zu einer von Geist sprühenden Un terhaltung war. Seine Augen hatten einen höchst erstaunlichen Grünton, der sie erregte. »Ich habe unter General Sean Courtney in Frankreich ge 177
dient«, sagte er noch immer lächelnd. An den Schläfen war sein Haar etwas zu kurz geschnitten, wodurch seine großen Ohren leicht abstanden. Das ärgerte sie – doch irgendwie machten ihn die abstehenden Ohren auch liebenswert und verletzlich. »Er war ein feiner Mensch«, fuhr Blaine Malcomess fort. »Ja, das war er«, erwiderte sie und befahl sich insgeheim, doch endlich etwas Witziges, Intelligentes von sich zu geben. »Ich hörte, daß Sie sich 1917 für ein paar Wochen in General Courtneys Hauptquartier in Arras aufhielten. Damals war ich noch an der Front; ich wurde seinem Stab erst Ende des Jahres zugeteilt.« Sie holte tief Atem und hatte sich schließlich wieder in der Gewalt. »Das waren recht turbulente Tage damals, als die Welt um uns herum in Trümmer ging«, sagte sie mit leiser, etwas belegter Stimme, und dachte gleichzeitig: »Was ist das? Was geschieht mit dir, Centaine?« »Es sieht so aus, als hätte ich meine Gastgeberpflichten für den Augenblick erfüllt«, meinte Blaine Malcomess mit einem fragenden Blick auf seinen Adjutanten und wandte sich dann wieder an Centaine: »Darf ich Sie um die Ehre dieses Walzers bitten, Mrs. Courtney?« Er bot ihr seinen Arm, und sie legte ohne zu zögern ihre Finger auf seinen Ellbogen. Die anderen Tänzer machten Platz, als sie Seite an Seite auf die Tanzfläche hinausschritten. Sie wandte sich ihm zu und überließ sich seinen Armen. Er brauchte sich gar nicht zu bewegen, schon an der Art, wie er sie hielt, merkte sie, daß er ein ausgezeichneter Tänzer war. Sie bog ihren Rücken und lehnte sich gegen seinen Arm, wäh rend sein Unterleib mit dem ihren zu verschmelzen schien. Er drehte sie einmal im Kreis, und als sie jeder seiner Bewe gungen federleicht und willig folgte, begann er eine Reihe komplizierter Schritte und Gegen Wendungen. Sie paßte sich ihm ohne Mühe an, ging auf jeden seiner Impulse ein und ließ sich vollkommen von ihm führen. Als der Walzer zu Ende war, 178
hielt Blaine Malcomess sie weiter in den Armen, und sie lach ten sich übermütig zu, als die anderen Tänzer einen Kreis um sie bildeten und applaudierten. »Das scheint leider für den Augenblick alles zu sein«, sagte er und machte noch immer keine Anstalten, sie loszulassen. Seine Worte brachten sie zur Besinnung. Es gab keinen Grund mehr, in seinen Armen zu liegen. Sie trat widerwillig einen Schritt zurück und bedankte sich mit einem kleinen Knicks für den Applaus. »Ich denke, jetzt haben wir ein Glas Champagner verdient.« Blaine winkte einen Kellner herbei, und dann standen sie am Rand der Tanzfläche, nippten an ihren Gläsern, unterhielten sich über belanglose Dinge und schauten sich dabei tief in die Augen. Er liebte Pferde ebenso wie sie und war ein ausgezeichneter Polospieler. »Polo!« rief sie aus. »Mein Sohn wäre begeistert. Er liebt diesen Sport über alles.« »Wie alt ist Ihr Sohn?« »Vierzehn.« »Genau das richtige Alter für Polo. Ich würde ihn gern ein mal spielen sehen.« »Das wäre schön«, stimmte sie zu und hatte das Verlangen, ihm alles über Shasa zu erzählen. Doch da setzte die Musik wieder ein. Nach dem nächsten Tanz zuckte er plötzlich zusammen und nahm den Arm von ihrer Hüfte. Die eigenartig übermütige Stimmung schien mit einem Schlag geschwunden zu sein, et was Dunkles und Aufdringliches schob sich wie ein Schatten zwischen sie. »Ach«, sagte er matt, »wie ich sehe, ist sie doch noch ge kommen. Sie hat sich heute abend gar nicht wohl gefühlt, aber sie war schon immer ein tapferes Geschöpf.« »Von wem sprechen Sie?« fragte Centaine. 179
»Von meiner Frau. Darf ich Sie mit ihr bekannt machen?« Sie nickte nur stumm, und als er ihr seinen Arm reichte, zö gerte sie, bevor sie ihre Fingerspitzen leicht auf seinen Ellbo gen legte. Er führt sie quer durch den Saal zu einer Gruppe am Fuß der Haupttreppe, und Centaine versuchte zu erraten, welche von den Frauen es wohl wäre. Nur zwei waren jung, und keine der beiden war schön. Sie fühlte, wie Selbstvertrauen und Zuver sicht sie erfaßten. Ohne darüber nachzudenken, wußte sie, daß sie den Kampf aufnehmen würde. Sie war erpicht darauf, ihre Gegnerin kennenzulernen und zu taxieren. Als sie die Gruppe erreichten, traten die Damen und Herren respektvoll beiseite, und da saß sie und schaute mit wunder schönen, tragischen Augen zu Centaine auf. Sie war jünger als Centaine und von einer seltenen, besonderen Schönheit. Sie trug ihre Sanftheit und Güte wie einen schimmernden Mantel zur Schau, aber in dem Lächeln, das sie Centaine schenkte, als Blaine Malcomess sie vorstellte, lag eine tiefe Traurigkeit. »Mrs. Courtney, darf ich Sie mit meiner Frau Isabella be kannt machen?« »Sie tanzen vorzüglich, Mrs. Courtney. Es war ein wahres Vergnügen, Ihnen und Blaine beim Tanzen zuzusehen«, sagte sie. »Er tanzt ja so gern.« »Danke, Mrs. Malcomess«, flüsterte Centaine rauh. Isabelle Malcomess saß in einem Rollstuhl, und hinter ihr stand eine Krankenschwester. Die Knöchel ihrer dünnen, ge lähmten Beine lugten unter dem Saum ihres Abendkleides her vor. Sie waren blaß und skelettartig, und die Füße in den be stickten feinen Tanzschuhen wirkten zierlich und zerbrechlich. Er wird sie niemals verlassen. Diese Erkenntnis brach über Centaine herein. Er ist einer von der Sorte Männer. Eine ge lähmte Frau wird er niemals verlassen!
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Centaine erwachte eine Stunde vor Tagesanbruch und wun derte sich einen Augenblick über das eigenartige Gefühl des Wohlbehagens, das sie beherrschte. Dann erinnerte sie sich wieder und schlug voller Tatendrang die Decke zurück. Ihr Blick fiel unwillkürlich auf das Bild von Michael Courtney, das neben ihrem Bett auf dem Nachttisch stand. »Es tut mir leid, Michel«, flüsterte sie. »Ich will ihn haben, ganz für mich allein haben.« Sie nahm das Bild vom Nacht tisch und drückte es für einen Augenblick an ihren Busen. Dann öffnete sie die Schublade, legte die Fotografie verkehrt auf ihre seidene Unterwäsche und machte die Schublade wie der zu. Sie ging quer durch den Salon des Waggons zu ihrem Schreibtisch und setzte sich, um das Telegramm an Sir Garry zu verfassen. Da die Nachricht über die öffentliche Telegra phenleitung gesendet werden würde, übersetzte sie es in ihren Privat-Code. Erbitte dringend Auskunft über Oberstleutnant Blaine Mal comess, neu bestellter Administrator von Südwestafrika. Ant wort verschlüsselt. In Liebe, Juno. Sie läutete nach ihrem Sekretär und wartete nervös. Er er schien schlaftrunken und unrasiert in einem Morgenmantel aus Flanell. »Lassen Sie das sofort abschicken.« Sie gab ihm den Zettel. »Und dann verbinden Sie mich mit Abraham Abrahams.« »Centaine, es ist sechs Uhr früh«, protestierte Abe. »Und wir sind erst um drei Uhr ins Bett gekommen.« »Drei Stunden Schlaf müssen einem guten Anwalt genügen. Abe, ich will, daß Sie Oberst Malcomess und seine Frau heute abend zu mir zum Essen einladen.« Langes, ernstes Schweigen folgte. »Sie und Rachel sind natürlich auch eingeladen«, fügte Cen 181
taine hinzu, um das Schweigen zu brechen. »Das ist viel zu kurzfristig«, sagte er vorsichtig und achtete offensichtlich genau auf die Wahl seiner Worte. »Der Admini strator ist ein vielbeschäftigter Mann. Er wird nicht kommen.« »Er muß die Einladung persönlich in Empfang nehmen.« Centaine ignorierte seinen Einwand. »Schicken Sie Ihren Boten zu seinem Büro. Seine Frau darf die Einladung unter keinen Umständen zuerst in die Hand bekommen.« »Er wird nicht kommen«, wiederholte Abe starrköpfig. »Ich hoffe zumindest, daß er nicht kommt.« »Was wollen Sie damit sagen?« brauste Centaine auf. »Sie spielen mit dem Feuer, Centaine. Nicht mit einer klei nen Flamme, sondern mit einem großen Buschfeuer.« Sie spitzte den Mund. »Kümmern Sie sich um ihre Angele genheiten, und ich kümmere mich um meine –« begann sie, und er unterbrach sie. »– küß du dein Liebchen, und ich küß’ meines«, beendete er den Kinderreim. Centaine kicherte. Er hatte Centaine Courtney noch nie kichern gehört. »Wie passend, lieber Abe.« Sie kicherte abermals, und seine Stimme klang richtig erregt, als er erklärte: »Sie bezahlen mir ein ansehnliches Honorar dafür, daß ich mich um Ihre Angelegenheiten kümmere. Cen taine, Sie haben den Leuten gestern abend schon genug Stoff zum Tratsch gegeben – die ganze Stadt wird heute über Sie reden. Sie sind eine bekannte Persönlichkeit. Sie werden von allen beobachtet. Sie können sich so etwas einfach nicht erlau ben.« »Abe, wir beide wissen doch, daß ich mir, verdammt noch mal, alles erlauben kann. Schicken Sie diese Einladung – bit te!« Am Nachmittag legte sie sich für ein paar Stunden hin. In der vorangegangenen Nacht hatte sie wenig geschlafen, und an diesem Abend wollte sie besonders gut aussehen. Ihr Sekretär 182
weckte sie kurz nach vier Uhr nachmittags. Abe hatte bereits eine Antwort auf ihre Einladung erhalten. Der Administrator und seine Frau nahmen ihre Einladung mit Vergnügen an. Sie lächelte triumphierend und machte sich dann daran, das Tele gramm von Sir Garry zu entschlüsseln, das in der Zwischenzeit ebenfalls angekommen war. Für Juno. Stop. Voller Name des Objektes: Blaine Marsden Malcomess, geboren am 28. Juni 1893 in Johannesburg. »Dann ist er fast 39 Jahre alt«, rief sie aus, »und im Zeichen des Löwen geboren. Mein großer, brüllender Löwe!« Sie las eilig weiter: Zweiter Sohn von James Marsden Malcomess, Rechtsanwalt und Bergwerksbesitzer, Vorsitzender von Consolidated Gold fields und Direktor zahlreicher angegliederter Gesellschaften, 1922 verstorben. Objekt besuchte das St. John’s College in Johannesburg und das Oriel College in Oxford. Zahlreiche akademische Auszeichnungen, unter anderem das RhodesStipendium und das Oriel-Stipendium. Sportliche Auszeich nungen vor allem in Kricket, Leichtathletik und Polo. 1912 in Oxon promoviert. 1913 als Anwalt zugelassen. 1914 Vize leutnant bei der Natal-Kavallerie. Teilnahme am Südwest afrika-Feldzug. Zweimal in Militärberichten erwähnt. 1915 Beförderung zum Rittmeister. Mit den britischen Expediti onsstreitkräften 1915 in Frankreich. Verleihung des Militär verdienstkreuzes im August 1915. 1916 Beförderung zum Major. 1917 Beförderung zum Oberstleutnant und zum kommandierenden Offizier des Dritten Bataillons. 1918 Ge neralstabsoffizier der sechsten Division. Im Stab von General Smuts bei den Friedensverhandlungen in Versailles. Seit 1919 Teilhaber der Kanzlei Stirling & Malcomess. 1924 Par lamentsabgeordneter. Stellvertretender Justizminister von 183
1926 bis 1929. Administrator von Südwestafrika seit 11. Mai 1932. Verheiratet seit 1918 mit Isabella Tara, geb. Harrison. Zwei Töchter: Tara Isabella und Mathilda Janine. Das war ein weiterer Schock für Centaine. Sie hatte nicht daran gedacht, daß er auch Kinder haben könnte. Wenigstens hatte sie ihm keinen Sohn geschenkt. Dieser Ge danke war so grausam, daß sie ihr schlechtes Gewissen da durch zu beruhigen versuchte, daß sie überlegte, wie alt seine Töchter sein mochten. Vermutlich sahen sie ihrer Mutter ähn lich. Gräßliche kleine Engel, die er anbetete. Erkundigungen beim Ou Baas weisen darauf hin, daß Objekt politische Karriere vor sich hat. Stop. Gute Aussichten auf Sitz im Kabinett, wenn Südafrikanische Partei wieder an die Macht kommt. Stop. Die Erwähnung von Ou Baas Jan Christian Smuts entlockte Centaine ein warmes Lächeln. Sie las weiter: 1927 erlitt Frau einen Reitunfall. Schwere Verletzung der Wirbelsäule. Ärztliche Diagnose ungünstig. Stop. Vater Ja mes Marsden hinterließ ein geschätztes Vermögen von sechshundertfünfundfünfzigtausend Pfund zu gleichen Teilen für seine beiden Söhne. Stop. Die gegenwärtige wirtschaftli che Situation des Objekts nicht zu ermitteln, aber vermutlich vermögend. Stop. Ausgezeichneter Polospieler. Führte die Südafrikanische Nationalmannschaft 1929 gegen Argentini en. Stop. Hoffe und erwarte, daß deine Anfrage rein geschäft licher Natur ist. Wenn nicht, bitte ich dringend um Zurück haltung und Vorsicht, weil Folgen für alle Beteiligten äußerst nachteilig. Stop. Shasa gut in der Schule angekommen. Stop. Anna läßt grüßen. Ende. Ovid.
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Warum waren die attraktivsten Männer immer schon verhei ratet? Und warum, verdammt noch mal, konnte diese alberne kleine Person nicht im Sattel bleiben, anstatt auf ihren hüb schen kleinen Hintern zu fallen. Centaine hatte sich allerlei Vorkehrungen für den Empfang von Isabelle Malcomess ausgedacht. Vier Bahnangestellte und ihre Sekretäre waren aufgeboten, um den Rollstuhl vom Bahn steig in den Waggon zu heben. Doch Blaine Malcomess scheuchte sie ungeduldig fort und beugte sich über seine Frau. Sie schlang die Arme um seinen Hals, und er hob sie hoch wie ein kleines Mädchen. Er lächelte ihr zärtlich zu und stieg mühelos die Stufen zur Plattform hin auf. Isabellas Beine baumelten armselig unter ihrem Rock her vor. Centaine empfand ganz plötzlich eine unerwartete und unwillkommene Sympathie für sie, als sie dem Paar in den Salon folgte. Ohne Centaine um Erlaubnis zu fragen, setzte Blaine seine Frau in den Stuhl, der den ganzen Salon beherrschte und daher auch der Mittelpunkt war, jener Stuhl, der immer und aus schließlich für Centaine reserviert war. Blaine kniete vor seiner Frau nieder und stellte ihre Füße sanft nebeneinander auf den Seidenteppich. Dann strich er sorgfältig den Rock über ihren Knien glatt. Offensichtlich hatte er das alles schon unzählige Male getan. Isabella berührte seine Wange leicht mit den Fingerspitzen und lächelte ihn mit so viel Vertrauen und Liebe an, daß sich Centaine gänzlich überflüssig vorkam. Verzweiflung überkam sie. Sie konnte die Harmonie zwischen den beiden einfach nicht stören. Sir Garry und Abe hatten recht. Sie mußte ihn kampflos aufgeben. In diesem Augenblick schaute Isabella Centaine an und lä chelte – das selbstgefällige Lächeln des Besitzers. Und der 185
Ausdruck in ihren goldbraunen Augen veränderte sich. Sie starrte über den Kopf ihres knienden Gatten hinweg Centaine an und forderte sie mit ihrem Blick heraus. Die Herausforde rung war so deutlich, als hätte sie einen ihrer ellbogenlangen Handschuhe ausgezogen und Centaine damit ins Gesicht ge schlagen. Alle edlen Vorsätze waren vergessen. Centaine erwiderte Isabellas Blick und nahm die Herausforderung schweigend an. Das Dinner war ein voller Erfolg. Abe und Blaine waren er leichtert, daß Isabella und Centaine so überaus liebenswürdig und taktvoll zueinander waren. Es war augenscheinlich, daß sie gute Freundinnen werden würden. Centaine bezog die gelähm te junge Frau ganz in das Gespräch ein und zeigte sich besorgt um ihre Bequemlichkeit. Sie brachte ihr eigenhändig Kissen für Rücken und Füße. Rachel Abrahams saß still und ängstlich auf ihrem Stuhl. Außer den beiden Duellanten war sie die einzige, die begriff, was vorging, und ihre Sympathie gehörte voll und ganz Isabel la Malcomess, denn sie konnte sich sehr wohl vorstellen, wie es wäre, wenn ihr eigenes Nest von einem Raubvogel wie Cen taine belauert würde. »Sie haben doch zwei Töchter, Mrs. Malcomess?« fragte Centaine liebenswürdig. »Tara und Mathilda Janine – was für hübsche Namen.« Sie ließ ihre Rivalin damit wissen, daß sie gründliche Nachforschungen angestellt hatte. »Aber es muß doch schwer für Sie sein, mit ihnen fertigzuwerden. Mädchen machen einem doch viel mehr zu schaffen als Jungen?« Rachel Abrahams zuckte zusammen. Mit einem einzigen Streich hatte Centaine auf Isabellas Invalidität hingewiesen und gleichzeitig aufgezeigt, daß es ihr nicht gelungen war, ihrem Mann einen Sohn und Erben zu schenken. »Oh, ich habe viel Zeit, mich meinen häuslichen Pflichten zu widmen«, erwiderte Isabella, »da ich, sozusagen, nicht berufs tätig bin. Und die Mädchen, jede ist ein richtiger Schatz, sie 186
hängen natürlich sehr an ihrem Vater.« Isabella war eine gewandte Gegnerin. »Berufstätig« war ein Wort, das Centaines aristokratisches Blut zum Kochen brachte; außerdem war es ein meisterhafter Schachzug, die Mädchen so fest mit Blaine zu verbinden. Centaine hatte seinen verliebten Blick bei ihrer Erwähnung bemerkt. Sie wandte sich ihm zu und brachte das Gespräch auf die Politik. »Kürzlich war General Smuts zu Gast in Weltevreden, mei nem Haus am Kap. Er ist tief beunruhigt über die Zunahme von geheimen militanten Vereinigungen in den unteren Gesell schaftsschichten. Besonders über die sogenannte Ossewa Brandwag und den Afrikaner Broederbond. Ich halte sie für äußerst gefährlich und unseren nationalen Interessen schädlich. Teilen Sie diese Sorge, Oberst Malcomess?« »Allerdings, Mrs. Courtney. Ich habe dieses Phänomen ein gehend untersucht. Aber ich glaube nicht, daß Sie mit Ihrer Vermutung recht haben, diese Geheimbünde würden sich aus Angehörigen der unteren Schichten zusammensetzen – ganz im Gegenteil. Die Mitgliedschaft ist reinblütigen Afrikaandern vorbehalten, die durch ihre Positionen einen gegenwärtigen oder potentiellen Einfluß in der Politik, in der Regierung, in der Kirche und im Erziehungswesen haben. Was Ihre Schlußfolge rung betrifft, stimme ich jedoch absolut mit Ihnen überein. Sie sind gefährlich, gefährlicher, als die meisten ahnen, denn ihr eigentliches Ziel ist es, Macht über jede Facette unseres Lebens zu gewinnen, von der Gesinnung der Jugend angefangen bis hin zum Justiz- und Regierungsapparat. Diese Bewegung ist gewissermaßen das Gegenstück zur nationalsozialistischen Bewegung Hitlers in Deutschland.« Centaine saß vorgebeugt da und ließ sich keine Nuance und Veränderung im Ton seiner Stimme entgehen. Mit dieser Stimme, dachte sie, könnte er mich und eine Million Wähler gewinnen. Dann wurde ihr bewußt, daß sie sich benahmen, als wären sie allein im Raum, und sie wandte sich rasch wieder an 187
Isabella. »Würden Sie Ihrem Mann darin zustimmen, Mrs. Malco mess?«, fragte sie. Blaine lachte nachsichtig und antwortete an ihrer Stelle: »Meine Frau findet Politik leider absolut langweilig, stimmt’s, meine Liebe? Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob das nicht ausgesprochen scharfsichtig ist.« Er zog seine golde ne Taschenuhr heraus. »Es ist schon nach Mitternacht. Ich habe mich so gut unterhalten, daß wir ungebührlich lange geblieben sind.« »Ohne den Genuß eines Brandy und einer guten Zigarre wer de ich Sie nicht gehen lassen«, wandte Centaine ein. »Aller dings lehne ich die barbarische Sitte ab, wonach diese Genüsse den Männern vorbehalten bleiben, während wir armen Frauen uns damit begnügen müssen, über Haushalt und Kinder zu plaudern. Daher gehen wir jetzt alle zusammen in den Salon.« Doch als sie die Gesellschaft in den Salon führte, trat ihr Se kretär nervös näher. »Ja, was ist denn?« Sie war verärgert. Doch dann sah sie, daß er ein Telegramm in der Hand hielt, als wäre es sein eigenes Todesurteil. »Von Dr. Twentyman-Jones, Madam. Es ist drin gend.« Sie nahm den Zettel entgegen, überzeugte sich aber erst davon, daß ihre Gäste mit Kaffee, Brandy und Zigarren ver sorgt waren, bevor sie sich kurz entschuldigte und sich ins Schlafzimmer zurückzog. Für Juno. Streikkomitee unter Gerhard Fourie hat alle weißen Arbeiter zum Streik aufgerufen. Stop. Minenbetrieb durch Streikposten eingestellt. Stop. Warenlieferung gesperrt. Stop. Streikende verlangen Wiedereinstellung aller entlassenen weißen Arbeiter und garantierte Arbeitsplätze für alle. Stop. Erwarte Anweisungen. Ende. Vingt.
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Centaine ließ sich auf ihr Bett sinken. Der Zettel in ihrer Hand zitterte. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so wü tend gewesen. Das war niederträchtig, ein ungeheurer, unver zeihlicher Verrat. Es war ihre Mine, ihre Diamanten. Sie be zahlte die Löhne und hatte daher das unumschränkte Recht, Leute anzustellen und wieder zu entlassen. Die »Warenliefe rung«, die Twentyman-Jones erwähnte, war das Päckchen Diamanten, von dem ihre Zukunft abhing. Ging sie auf die Forderungen ein, würde die H’ani-Mine unrentabel. Sie fragte sich, wer dieser Gerhard Fourie war, und dann fiel ihr ein, daß er die Transporte führte. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Ihr Sekretär wartete im Vor raum. »Bitten Sie Mr. Abrahams zu mir.« Als Abe eintrat, reichte sie ihm das Telegramm. »Die Leute haben nicht das Recht, mir so etwas anzutun«, sagte sie wütend und wartete ungeduldig, bis er es gelesen hat te. »Leider haben sie das Recht, Centaine. Im Industrieaus gleichsgesetz von 1924 –« »Zitieren Sie mir bloß keine Gesetze, Abe«, unterbrach sie ihn. »Die Leute sind nichts weiter als verdammte Bolschewi ken, die die Hand beißen, die sie ernährt.« »Centaine, tun Sie nichts Unüberlegtes. Wenn wir –« »Abe, lassen Sie unverzüglich den Daimler abladen und schicken Sie Dr. Twentyman-Jones ein Fernschreiben. Teilen Sie ihm mit, daß ich komme und daß er nichts unternehmen soll. Er darf weder Konzessionen noch Versprechungen ma chen, bevor ich da bin.« »Sie brechen natürlich erst morgen früh auf?« »Keineswegs«, fauchte sie. »Ich werde spätestens in einer halben Stunde abfahren, sobald meine Gäste gegangen sind und der Daimler bereitsteht.« »Es ist ein Uhr morgens –« Als er ihr Gesicht sah, unterließ 189
er jeden weiteren Einwand. »Ich werde dem Personal der ersten Raststätte telegraphieren, daß Sie kommen.« »Sagen Sie ihnen bloß, daß sie sich zum Auftanken bereithal ten sollen. Ich fahre durch bis zur Mine.« Sie ging zur Tür, blieb kurz stehen, um sich zu beruhigen, und trat dann lächelnd in den Salon. »Stimmt etwas nicht, Mrs. Courtney?« fragte Blaine Malco mess und stand auf. Ihr Lächeln konnte ihn nicht täuschen. »Ach, nur eine kleine Unannehmlichkeit. Schwierigkeiten draußen in der Mine. Ich muß unverzüglich hinfahren.« »Doch nicht noch heute nacht?« »Doch, noch heute nacht –« »Allein?« Er war besorgt, und das freute sie. »Es ist eine lan ge, beschwerliche Reise.« »Ich reise gern allein.« Dann fügte sie mit Nachdruck hinzu: »Oder suche mir meine Reisebegleitung sehr sorgfältig aus.« Sie machte eine Pause und fuhr fort: »Ein paar meiner Arbeiter streiken. Ich bin sicher, daß ich die Sache bereinigen kann. Doch manchmal geraten solche Dinge außer Kontrolle. Es könnte zu Ausschreitungen oder Gewaltättigkeiten kommen.« »Ich garantiere Ihnen die vollste Unterstützung der Regie rung«, versicherte Blaine sofort. »Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen ein Polizeidetachement, um die Ruhe aufrechtzuer halten.« »Danke. Das würde ich sehr begrüßen. Zu wissen, daß ich Sie um Hilfe bitten kann, ist eine große Beruhigung für mich.« »Ich werde das morgen früh sofort in die Wege leiten«, sagte er. »Aber natürlich wird es ein paar Tage dauern.« Abermals benahmen sie sich so, als wären sie allein. Centaine begleitete sie bis zu ihrem Wagen. Sie ging neben Isabellas Rollstuhl her. »Es hat mich so gefreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Malco mess, und ich würde gerne auch einmal Ihre Töchter sehen. Möchten Sie nicht in Weltevreden vorbeikommen, wenn Sie 190
das nächste Mal in Kapstadt sind?« »Ich weiß nicht, wann das sein wird«, lehnte Isabella höflich ab. »Mein Mann wird durch sein neues Amt sehr beschäftigt sein.« Als sie beim Wagen ankamen, hielt der Chauffeur die hintere Tür auf, und Blaine hob Isabella aus dem Rollstuhl auf den Rücksitz. Er machte vorsichtig die Tür zu und wandte sich an Centaine. Er stand mit dem Rücken zu seiner Frau, und der Chauffeur brachte den Rollstuhl im Kofferraum unter. Somit waren sie für einen Augenblick allein. »Sie ist eine tapfere, wunderbare Frau«, sagte er leise, als er Centaines Hand nahm. »Ich liebe sie und könnte sie nie verlas sen. Aber ich wünschte –« Er brach ab, und seine Hand drückte schmerzhaft ihre Finger. »Ja«, erwiderte Centaine ebenso leise. »Ich wünschte auch –« Dann ließ er sie unvermittelt los und ging um den Wagen herum, während sich Centaine zu der Gelähmten hinter dem geöffneten Fenster hinunterbeugte. »Bitte vergessen Sie meine Einladung nicht«, begann sie. In diesem Augenblick schob Isabella ihr Gesicht näher heran und ließ ihre ruhige, schöne Maske fallen, so daß Angst und Haß zum Vorschein kamen. »Er gehört mir«, sagte sie. »Und ich werde ihn Ihnen nicht überlassen.« Dann lehnte sie sich zurück, und Blaine setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Der Chevrolet fuhr los. Centaine blieb unter der Straßenla terne stehen und schaute ihm nach, bis die Rückleuchten ver schwanden. Lothar De La Rey schlief mit den Kopfhörern des Fern schreibers neben sich, so daß er beim ersten Knacken der Lei tung aufwachte. Er griff nach den Kopfhörern und rief Swart Hendrick zu: »Zünde die Kerze an, Hendrik, sie senden. Mitten in der Nacht! Es muß etwas Wichtiges sein.« 191
Doch wie wichtig es war, begriff er erst, als er die Nachricht in sein Notizbuch kritzelte: »Streikkomitee unter Gerhard Fou rie hat alle weißen Arbeiter –« Lothar war betroffen. »Gerhard Fourie. Was um alles in der Welt hat dieser Hunde sohn vor?« fragte er laut, dann sprang er auf und verließ den Unterstand, um in Ruhe über das Gehörte nachzudenken. Ein Streik – warum rief er ausgerechnet jetzt zum Streik auf? Warenlieferung gesperrt – das mußten die Diamanten sein. Die Streikenden verhinderten den Abtransport der Diamanten. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich an den Kopf. »Das ist es! Er hat zum Streik aufgerufen, um unsere Vereinbarung zu umgehen. Er weiß, daß ich ihn dafür umbringen würde. Und das ist sein Ausweg. Er wird nicht mit uns zusammenarbeiten. Die ganze Sache ist gestorben.« Er stand mitten im Flußbett, und eine ungeheure Wut über kam ihn. »Baas!« rief Hendrick. »Komm schnell! Der Fern schreiber!« Lothar rannte zum Unterstand zurück und schnappte sich den Kopfhörer. Die Nachricht kam von der Courtney Bergwerksund Finanzierungsgesellschaft in Windhuk. Für Vingt. Komme auf dem schnellsten Wege zurück. Stop. Machen Sie weder Konzessionen noch Versprechungen. Stop. Sorgen Sie dafür, daß alle loyalen Arbeiter bewaffnet sind und vor Einschüchterungen geschützt werden. Stop. Si chern Sie Ihnen meine Dankbarkeit und eine materielle An erkennung zu. Stop. Schließen Sie unverzüglich den Laden. Den Streikenden und ihren Familien werden keine Lebens mittel und sonstigen Waren mehr verkauft. Stop. Schalten Sie die Wasser- und Stromversorgung zu den Häusern der Strei kenden ab. Stop. Informieren Sie das Streikkomitee, daß ein Polizeidetachement unterwegs ist. Ende. Juno.
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»Fourie und seine Leute haben keine Ahnung, worauf sie sich da einlassen«, lachte er. »Bei Gott, ich würde lieber eine wütende schwarze Mamba mit einem kurzen Stock reizen, als Centaine Courtney jetzt in die Quere kommen.« Er dachte eine Weile über die Sache nach, dann erklärte er ruhig: »Ich habe das Gefühl, daß diese Diamanten trotzdem nach Windhuk gebracht werden, ob nun gestreikt wird oder nicht. Aber ich glaube nicht, daß Fourie den Laster fahren wird. Ich nehme eher an, daß Fourie überhaupt nichts mehr fahren wird. Mit einer freundlichen, kooperativen Begleitmannschaft dürfen wir jedenfalls nicht mehr rechnen. Aber die Diamanten kom men hier durch, und wir werden zur Stelle sein, wenn es soweit ist.« Der gelbe Daimler passierte die Engstelle am nächsten Abend um elf. Lothar zündete ein Streichholz an und schaute auf die Uhr. »Nehmen wir an, sie hat Windhuk letzte Nacht eine Stunde nach dem Fernschreiben verlassen – das bedeutet, daß sie die Strecke bis hierher in zweiundzwanzig Stunden geschafft hat, und das bei diesen Straßenverhältnissen.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Wenn sie so weiterfährt, ist sie morgen vormittag in der H’ani-Mine. Eine enorme Leistung.« Die blaue Bergkette tauchte vor Centaine aus dem Dunst auf, aber diesmal konnte ihr Zauber sie nicht gefangennehmen. Sie saß seit zweiunddreißig Stunden am Steuer, hatte bei den Rast stätten immer nur kurz angehalten, um aufzutanken, und war nur einmal an den Straßenrand gefahren, um zwei Stunden zu schlafen. Sie war müde. Doch die Wut trieb sie vorwärts, und als sie die Blechdächer der Werksgebäude in der Sonne aufblitzen sah, fiel alle Müdigkeit von ihr ab. An den Straßenecken standen kleine Gruppen von Frauen und Kindern. Sie schauten ihr trotzig und ein wenig ängstlich 193
nach, als sie auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude an ihnen vorbeifuhr. Centaine saß aufrecht hinter dem Lenkrad und blickte unverwandt nach vorn. Als sie sich dem Büro näherte, sah sie, daß die Streikposten, die unter den Bäumen vor dem Tor herumgelungert waren, aufstanden. Es waren mindestens zwanzig, größtenteils kräftige weiße Bergarbeiter aus der Mine. Sie bildeten eine Kette quer über die Straße und hakten sich ein. Ihre Gesichter wirkten böse und drohend. »Nichts geht hinein! Nichts geht heraus!« begannen sie zu singen, als Centaine die Geschwindigkeit verlangsamte. Sie sah, daß sich die meisten mit Prügeln und Spitzhacken bewaff net hatten. Centaine drückte mit dem Handballen auf die Hupe und fuhr mit Vollgas auf die Streikpostenkette zu. Die Männer in der Mitte sahen ihr Gesicht hinter der Windschutzscheibe und er kannten, daß sie sie überfahren würde. Sie sprangen in letzter Sekunde beiseite. »Wir wollen unsere Arbeit wiederhaben!« brüllte einer von ihnen und schwang seine Spitzhacke gegen die Heckscheibe. Das Glas zerbrach klirrend, aber Centaine war durch. Als sie vor der Veranda anhielt, kam Twentyman-Jones aus seinem Büro geeilt. »Wir haben Sie nicht vor morgen früh erwartet.« »Ihre Freunde schon.« Sie deutete auf die kaputte Heck scheibe. »Man hat sie angegriffen? Das ist absolut unverzeihlich.« »Das meine ich auch«, sagte sie. »Und ich denke auch nicht daran, es zu verzeihen.« Twentyman-Jones trug eine riesige Dienstpistole in einem Halfter um seine Hüften. Hinter ihm tauchte Mr. Brantingham auf, der kleine kahlköpfige Buchhalter der Mine. Er trug einen Kneifer mit Goldrahmen und schien den Tränen nahe. Doch in seinen plumpen weißen Händen hielt er eine doppelläufige 194
Flinte. »Sie sind mutig«, erklärte Centaine. »Ich werde Ihnen Ihre Treue nicht vergessen.« Sie ging Twentyman-Jones voraus in ihr Büro und ließ sich dankbar auf ihren Schreibtischsessel sinken. »Wie viele Män ner sind auf unserer Seite?« »Nur das Büropersonal, insgesamt acht. Die Handwerker und Bergleute sind alle draußen, aber ich vermute, daß auf einige von ihnen Druck ausgeübt wurde.« »Was ist mit Rodgers und Maclear?« Das waren ihre ältesten Vorarbeiter. »Sind die auch draußen?« »Leider ja. Sie sind beide im Streikkomitee.« »Zusammen mit Fourie?« »Die drei sind die Anführer.« »Ich werde dafür sorgen, daß sie nie wieder Arbeit finden«, sagte sie erbittert. Er senkte die Augen und murmelte: »Ich glaube, wir müssen berücksichtigen, daß sie das Gesetz nicht gebrochen haben. Sie haben gesetzlich das Recht, die Arbeit niederzulegen und ge meinsam zu verhandeln –« »Nicht, wenn ich mich abmühe, die Mine in Betrieb zu hal ten. Nicht, wenn ich alles daran setze, wenigstens einigen von ihnen den Arbeitsplatz zu erhalten.« »Leider haben sie aber das Recht dazu«, beharrte er. »Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich, Dr. TwentymanJones?« Er sah sie betroffen an. »Diese Frage hätten Sie nicht zu stel len brauchen«, sagte er. »Ich wollte Sie bloß auf die Rechtslage hinweisen.« Centaine bedauerte ihre Bemerkung längst. Sie stand auf und griff nach seinem Arm. »Verzeihen Sie mir. Ich bin müde und nervös.« Das schnelle Aufspringen tat ihrem Blutkreislauf nicht gut. Sie wurde leichenblaß und schwankte. Er griff nach ihrem Arm 195
und stützte sie. »Sie sind ohne Unterbrechung von Windhuk hierhergefah ren.« Er führte sie zum Ledersofa und zwang sie, sich hinzule gen. »Sie werden jetzt schlafen, für mindestens acht Stunden. Inzwischen lasse ich frische Kleider aus dem Bungalow ho len.« »Ich muß mit den Streikführern sprechen.« »Nein.« Er schüttelte den Kopf und zog die Vorhänge zu. »Nicht, bevor Sie ausgeruht und kräftig sind. Sie könnten einen Fehler begehen.« Sie ließ sich zurücksinken. »Sie haben recht – wie immer.« »Ich werde Sie um sechs Uhr wecken und dem Streikkomitee mitteilen, daß Sie sie um acht Uhr empfangen werden. Somit haben wir zwei Stunden Zeit, um uns eine Verhandlungsstrate gie zu überlegen.« Die drei Mitglieder des Streikkomitees traten einer hinter dem anderen in Centaines Büro, und sie starrte sie volle drei Minuten lang wortlos an. Sie hatte mit Absicht alle Stühle au ßer jenen, auf denen sie und Twentyman-Jones saßen, aus dem Raum entfernen lassen. Also mußten die drei Männer wie Schuljungen vor ihr stehen. »Es gibt in diesem Land gegenwärtig über hunderttausend Arbeitslose«, sagte sie sachlich. »Und jeder einzelne von ihnen würde vieles darum geben, eure Posten zu bekommen.« »Das würde Ihnen verdammt wenig nützen«, sagte Maclear. Er war ein unauffälliger Mann von mittlerer Größe und unbe stimmbarem Alter, aber Centaine wußte, daß er eine rasche Auffassungsgabe besaß und zäh und findig war. »Wenn Sie in meiner Gegenwart freche Reden schwingen, Mr. Maclear«, sagte sie, »dann können Sie unverzüglich ge hen.« »Das würde Ihnen auch nichts nützen, Mrs. Courtney.« In 196
Anerkennung ihrer Haltung lächelte er matt. »Sie kennen Ihre Rechte, und wir kennen unsere Rechte.« Centaine wandte sich an Rodgers. »Wie geht es Ihrer Frau, Mr. Rodgers?« Im vorangegangenen Jahr hatte sie der Frau die Reise zum besten Unterleibsspezialisten von Johannesburg bezahlt, weil ein dringender Eingriff nötig gewesen war. Und Rodgers hatte sie begleitet, ohne daß ihm etwas vom Lohn abgezogen wurde. »Es geht ihr gut, Mrs. Courtney«, sagte er verzagt. »Was hält sie von dem Unsinn, in den Sie sich da eingelassen haben?« Er blickte zu Boden. »Sie ist eine vernünftige Frau«, fuhr Centaine fort. »Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich Sorgen um die drei Kleinen macht.« »Wir sitzen alle in einem Boot«, warf Fourie ein. »Wir sind uns einig, und die Frauen stehen hinter uns. Sie können Ihr Gerede getrost lassen –« »Mr. Fourie, bitte unterbrechen Sie mich nicht, wenn ich spreche.« »Hier jetzt die feine Dame zu spielen und herumzumeckern, wird Ihnen gar nichts nützen«, polterte er. »Wir haben Sie und Ihre verdammte Mine und Ihre verdammten Diamanten in der Hand. Sie sind diejenige, die zuhören muß, wenn wir sprechen, so steh’n die Dinge.« Er grinste frech und versuchte damit sei ne Angst zu verbergen. Denn da war Lothar De La Rey und seine Drohung. Wenn er nicht mit einer guten Ausrede für die Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen aufwarten konnte, war er so gut wie tot. Sein einziger Ausweg war, den Streik so lan ge hinauszuziehen, bis ein anderer die Diamanten nach Wind huk brachte. »Sie werden keinen einzigen Ihrer verdammten Diamanten von hier rausbringen, bevor wir es erlauben, Lady. Wir behalten sie als Unterpfand. Wir wissen, daß Sie ein schö nes Riesenpaket da unten im Tresorraum liegen haben, und da wird es auch liegenbleiben, bis Sie sich anhören, was wir zu sagen haben.« 197
Centaine studierte aufmerksam sein Gesicht. Irgend etwas an ihm war nicht echt. Er benahm sich viel zu aggressiv und pro vokant. »Also gut«, sagte sie ruhig. »Ich höre. Sagen Sie mir, was Sie wollen.« Während Fourie die Liste der Forderungen verlas, blieb sie scheinbar gelassen sitzen. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, und die einzigen Anzeichen von Wut waren eine leichte Rö tung ihres Halses und das rhythmische Wippen ihres Fußes. Als Fourie fertig war, gab es wieder ein langes Schweigen. Dann hielt er ihr die Liste hin. »Das ist Ihre Abschrift.« »Legen Sie sie auf meinen Schreibtisch«, befahl Centaine. »Die Leute, die letztes Monat entlassen worden sind, haben drei Monatslöhne ausbezahlt bekommen«, sagte sie, »also dreimal soviel, als ihnen zustand. Und alle haben Empfeh lungsschreiben erhalten.« »Sie sind unsere Arbeitskameraden«, sagte Fourie starrköp fig. »Einige von ihnen unsere Verwandten.« »In Ordnung.« Sie nickte. »Sie haben Ihren Standpunkt dar gelegt. Sie können jetzt gehen.« Centaine erhob sich, und die Männer schauten einander bestürzt an. »Geben Sie uns denn keine Antwort?« fragte Maclear. »Doch«, sagte sie nickend. »Wann wird das sein?« »Wenn ich soweit bin, und keinen Augenblick früher.« Sie gingen zur Tür, aber bevor sie den Raum verließen, dreh te Maclear sich um und schaute sie trotzig an. »Man hat den Kaufladen geschlossen und die Wasser- und Stromzufuhr zu unseren Häusern unterbrochen«, sagte er her ausfordernd. »Auf meine Anordnung«, gab sie zu. »Das können Sie nicht machen.« »So, und warum nicht? Der Laden, der Generator, das Pum 198
penhaus und die Häuser gehören mir.« »Wir haben Frauen und Kinder zu versorgen.« »Das hätten Sie bedenken sollen, bevor Sie diesen Streik an fingen.« »Wir können uns nehmen, was wir wollen, das wissen Sie. Sogar Ihre Diamanten. Daran können Sie uns nicht hindern.« »Damit würden sie mich zu einer glücklichen Frau machen«, erwiderte sie. »Tun sie es doch. Brechen Sie in den Laden ein und stehlen Sie die Waren von den Regalen. Sprengen Sie den Tresorraum auf und rauben Sie meine Diamanten. Greifen Sie meine loyalen Angestellten an. Nichts würde mir mehr Freude bereiten, als Sie drei lebenslänglich im Gefängnis zu sehen – oder am Galgen.« Kaum waren sie wieder allein, wandte sie sich an Twenty man-Jones. »Er hat recht. Das einzig wichtige sind die Diamanten. Ich muß sie unbedingt in Sicherheit bringen.« »Wir können sie unter Polizeischutz nach Windhuk bringen lassen«, stimmte er zu, aber sie schüttelte den Kopf. »Es kann noch fünf Tage dauern, bis die Polizei hier ist. Es gibt allerhand Bürokratismus zu überwinden, bevor das Deta chement ausrücken kann. Nein, ich möchte diese Diamanten noch vor Tagesanbruch von hier fortbringen. Sie wissen ja, daß die Versicherung einen Verlust aufgrund von Unruhen oder Aufruhr nicht deckt. Wenn den Diamanten etwas passiert, bin ich ruiniert, Dr. Twentyman-Jones.« »Was haben Sie vor?« »Ich möchte, daß Sie den Daimler in die rückwärtige Garage fahren. Lassen Sie ihn überprüfen und auftanken. Wir werden die Diamanten durch die Hintertür hinausschmuggeln.« Sie deutete auf die Tapetentür, die sie manchmal benutzte, wenn sie ungesehen kommen oder gehen wollte. »Um Mitternacht, wenn die Streikposten schlafen, schneiden Sie dann den Sta cheldrahtzaun gegenüber dem Garagentor auf.« 199
»Gut.« Er war ihrem Gedankengang gefolgt. »Die Streikpo sten stehen am Haupttor auf der anderen Seite des Lagers. Auf der Rückseite ist niemand postiert. Sobald wir die Seitenstraße hinter uns haben, können wir auf die Hauptstraße nach Wind huk einbiegen und sind in Sekundenschnelle fort.« »Nicht wir, Dr. Twentyman-Jones«, verbesserte sie ihn. »Sie haben doch nicht etwa die Absicht, allein zu fahren?« fragte er. »Ich bin auch allein hergefahren und hatte keinerlei Schwie rigkeiten. Die Rückfahrt dürfte daher kein Problem sein. Ich brauche Sie hier. Brantingham oder einem der Büroangestellten kann ich die Mine doch wohl nicht überlassen. Sie müssen hierbleiben. Ohne sie könnte es geschehen, daß es zu Aus schreitungen oder Sabotageakten kommt.« Twentyman-Jones fuhr sich unentschlossen mit der flachen Hand über das Gesicht. Er konnte sich nicht entscheiden: Hier die Mine, die er aus dem Nichts aufgebaut hatte und die sein ganzer Stolz war, dort die Frau, die er liebte wie seine eigene Tochter. Schließlich seufzte er. »Dann nehmen Sie wenigstens einen der Männer mit«, bat er. »Du meine Güte, etwa Brantingham?« fragte sie und zog die Augenbrauen hoch. Er sah ein, wie absurd diese Idee war. »Ich fahre den Daimler in die Garage«, sagte er. »Dann wer de ich Abe in Windhuk telegraphieren, daß er Ihnen sofort eine Begleitmannschaft entgegenschickt. Das heißt, falls die Strei kenden noch nicht die Drähte durchgeschnitten haben.« »Telegraphieren Sie erst, wenn ich fort bin«, wies Centaine ihn an. »Sie könnten so schlau sein, die Telegraphenleitung abzuhören, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, daß sie die Leitung noch nicht unterbrochen haben.« Twentyman-Jones nickte. »In Ordnung. Wann wollen Sie aufbrechen?« »Um drei Uhr morgens«, erwiderte sie ohne Zögern. Das war die Zeit, wo die menschliche Aktivität ihren Tiefstand erreichte. 200
»Gut, Mrs. Courtney. Ich lasse Ihnen von meiner Köchin ein leichtes Abendessen zubereiten – und dann, schlage ich vor, ruhen Sie sich ein wenig aus. Ich werde alles vorbereiten und Sie um halb drei wecken.« Als er ihre Schulter berührte, war sie im Nu hellwach und setzte sich auf. »Halb drei«, sagte Twentyman-Jones. »Der Daimler ist auf getankt, die Diamanten verladen. Der Stacheldrahtzaun ist durchgeschnitten. Ich habe Ihnen ein Bad eingelassen und fri sche Kleider aus dem Bungalow bereitgelegt.« »Ich bin in fünfzehn Minuten fertig«, sagte sie. Sie standen neben dem Daimler in der dunklen Garage und sprachen im Flüsterton miteinander. Das Garagentor war offen, der Mond beleuchtete den Hof. »Ich hab’ die Öffnung im Zaun markiert«, erklärte Twenty man-Jones. Centaine sah die schmalen weißen Stoffstreifen, die fünfzehn Meter entfernt am Stacheldrahtzaun befestigt wa ren. »Die Kanister mit den Industriediamanten sind im Koffer raum, das Paket mit den Bonbons liegt auf dem Beifahrer sitz.« Er streckte die Hand durch das offene Fenster und klopfte auf den schwarzen Aktenkoffer. Er hatte die Größe und die Form eines ganz gewöhnlichen kleinen Koffers, war aber aus lackier tem Stahl angefertigt und mit einem Messingschloß versehen. »Gut.« Centaine knöpfte ihren Staubmantel zu und zog die weichen Lederhandschuhe über. »Das Gewehr ist mit Vogelschrot geladen, so daß Sie auf jeden, der versucht, Sie aufzuhalten, schießen können, ohne ei nen Mord zu riskieren. Für den Fall, daß es ernst wird, liegt eine Schachtel mit grobem Schrot im Handschuhfach.« Centaine setzte sich ans Steuer. Sie legte das doppelläufige Gewehr auf den Diamantenkoffer und entsicherte es. 201
»Im Kofferraum ist ein Picknickkorb mit Sandwiches und ei ner Thermosflasche voll Kaffee.« Sie blickte durch das Seitenfenster zu ihm hinauf und sagte ernst: »Sie sind ein Schatz.« »Passen Sie auf sich auf«, erwiderte er. »Zum Teufel mit den Diamanten, wir können jederzeit wieder welche ausgraben. Aber Sie gibt es nur einmal.« Plötzlich nahm er seinen Dienst revolver aus dem Halfter, beugte sich in den Wagen und steck te ihn in die Tasche an der Rückseite des Fahrersitzes. »Die einzige Versicherung, die ich Ihnen anbieten kann. Vergessen Sie nicht, daß er geladen ist«, sagte er. »Hoffentlich brauchen Sie ihn nicht.« Er trat einen Schritt zurück und verabschiedete sich mit einem lakonischen »Gute Fahrt!«. Centaine startete den Wagen, und die große Siebenliterma schine brummte leise. Sie löste die Handbremse, schaltete die Scheinwerfer ein und jagte den Daimler mit Vollgas quer über den Hof. Sie zielte mit der Kühlerfigur auf die Stelle zwischen den weißen Markierungen und raste mit sechzig Stundenkilometern durch das Loch im Zaun. Dann trat sie auf die Bremse und riß das Lenkrad herum, so daß der Wagen in Fahrtrichtung auf dem Seitenweg zum Stehen kam. Dann trat sie wieder voll aufs Gaspedal. Trotz des Motorengeräusches hörte sie schwache Rufe und sah die dunklen Gestalten der Streikposten vom Haupttor her unterlaufen. Sie versuchten, ihr den Weg abzuschneiden. Cen taine nahm die Schrotflinte und schob den Lauf durch das Sei tenfenster. Zwei der Männer erreichten die Straßenkreuzung genau in dem Augenblick, als der Daimler heranschoß. Einer der Männer schleuderte seinen Pickel, und er krachte gegen die Kühlerhaube. Centaine senkte das Gewehr, zielte auf die Beine und feuerte beide Läufe ab. Der feine Schrot prasselte gegen ihre Beine, so daß sie vor Schreck und Schmerz aufschrien und sich mit ei 202
nem Satz in Sicherheit brachten. Centaine jagte an ihnen vor bei, bog in die Hauptstraße ein und raste hinaus in die Wüste. An Winkeladvokat. Höchste Dringlichkeitsstufe. Juno ohne Begleitung um drei Uhr morgens mit Ware hier abgefahren. Stop. Unverzüglich bewaffnete Eskorte losschicken, um sie in Empfang zu nehmen. Ende. Vingt. Lothar De La Rey starrte auf die Nachricht, die er beim flak kernden Schein der Kerze in sein Notizbuch gekritzelt hatte. »Ohne Begleitung«, flüsterte er. »Juno ohne Begleitung. Mit der Ware. Beim Allmächtigen, sie kommt allein – mit den Dia manten.« Er rechnete rasch nach. »Sie ist um drei Uhr losgefah ren. Dann wird sie ungefähr eine Stunde nach Mittag hier sein.« Er verließ den Unterstand und kletterte die Uferböschung hinauf. Dort suchte er sich einen bequemen Platz zum Sitzen und zündete sich eine seiner kostbaren Zigarren an. Als die Morgendämmerung den Horizont im Osten färbte, kehrte er ins Lager zurück. »Wir ändern den Plan«, erklärte er. Hendrick stutzte und musterte ihn mit wachsamem Blick. »Warum?« »Die Frau ist allein mit den Diamanten unterwegs. Sie wird sich zur Wehr setzen, und ich möchte nicht, daß sie verletzt wird.« »Ich würde sie nicht –« »Den Teufel würdest du. Wenn du gereizt wirst, schießt du«, unterbrach ihn Lothar barsch. »Aber das ist nicht der einzige Grund. Erstens: Für eine einzelne Frau genügt ein Mann. Ich habe Zeit genug, die Seile durchzuschneiden, um die Felsbrok ken in die Engstelle hinunterzulassen. Zweitens –« Er hielt inne, denn der wirkliche Grund war, daß er noch einmal mit Centaine allein sein wollte. Es würde das letzte Mal sein, weil 203
er nie mehr hierher zurückkehren wollte. »Zweitens machen wir es so, weil ich es sage. Du bleibst mit Manfred und den Pferden hier und hältst dich bereit, so daß wir unverzüglich aufbrechen können, wenn ich die Sache erledigt habe.« Hendrick zuckte die Achseln. »Ich helfe dir bei den Vorbe reitungen«, brummte er. Centaine hielt vor der Engstelle an und ließ den Motor lau fen, während sie ausstieg, um das Flußbett zu inspizieren. Ihre eigenen Reifenspuren waren noch deutlich im weichen gelben Sand zu erkennen. Seit sie vor sechsunddreißig Stunden die Engstelle passiert hatte, war niemand hier vorbeigekom men. Sie stieg wieder in den Wagen, schlug die Tür zu und löste die Handbremse. Sie ließ den Daimler die Uferböschung hinunterrollen und wurde rasch schneller, als ihr plötzlich eine dichte Staubwolke die Sicht nahm. Sie trat hart auf die Bremse. Auf einer Seite war die Böschung eingebrochen, und Sand und Steine verlegten ihr den Weg. »Merde!« fluchte Centaine. Es würde einige Zeit in An spruch nehmen, das Geröll beiseite zu schaffen oder eine ande re Stelle zum Überqueren des Flußbettes zu finden. Sie legte den Rückwärtsgang ein und drehte sich um. Da erschrak sie. Die Böschung war auch hinter dem Daimler eingebrochen und versperrte ihr den Rückweg. Sie saß in der Falle. Hustend lehnte sie sich aus dem offenen Fenster und sah sich ängstlich um. Als sich der Staub gelegt hatte, sah sie, daß die Straße vor ihr nur teilweise blockiert war. Auf der Seite gegenüber dem Ab bruch gab es noch eine Bresche, die zwar zu schmal war, um einfach durchzufahren, aber mit dem Spaten würde sie den Weg in ein paar Stunden freischaufeln können. Sie legte die Hand auf den Türgriff, doch die Ahnung einer drohenden Ge fahr ließ sie innehalten und die Böschung hinaufblicken. 204
Dort stand ein Mann und schaute auf sie herunter. Er war groß und durchtrainiert wie ein Soldat oder ein Jäger. Doch was sie erschreckte, war das Gewehr, mit dem er auf sie zielte, und die Maske, die er trug. Die Maske war ein weißer Mehlsack mit zwei Augenschlit zen. Die Maske und das Gewehr waren eindeutig. Eine ganze Reihe von Gedanken ging ihr durch den Kopf, während sie starr hinter dem Lenkrad sitzenblieb und zu ihm hinaufstarrte. Die Diamanten sind nicht versichert, war ihr erster Gedanke; Die nächste Station ist vierzig Meilen entfernt, ihr nächster. Und dann: Ich hab’ vergessen, das Gewehr nachzuladen. »Motor abstellen!« sagte der Mann mit dumpfer, offenbar verstellter Stimme. »Aussteigen!« Der erste Schreck war vorbei, und Centaine sah sich verzwei felt nach einem Fluchtweg um. »Ich könnte durchbrechen«, dachte sie, »zumindest kann ich es versuchen.« »Halt!« brüllte der Mann, als sie den ersten Gang einlegte. Der Daimler machte einen Satz nach vorn, und Centaine steuerte geradewegs auf den schmalen Durchlaß zwischen der Böschung und dem Geröllhaufen zu. Sie hörte den Mann abermals schreien, dann krachte ein Warnschuß, aber das ignorierte sie und konzentrierte sich dar auf, aus dieser Falle zu entkommen. Sie fuhr mit den rechten Rädern die Böschung hoch, und der Daimler bekam eine so starke Schräglage, daß er fast um schlug. Doch Centaine beschleunigte noch immer. Die Räder auf der linken Seite gruben sich ins Geröll. Der Wagen bäumte sich auf, sie wurde gegen die Windschutzscheibe geschleudert, aber sie hielt sich mit einer Hand fest, während sie mit der an deren das Lenkrad umklammerte. Die Vorderräder des Daimler landeten knirschend wieder auf dem Boden, und Centaine wurde gegen den Ledersitz gepreßt. 205
Sie spürte, wie die Bodenplatte des Wagens auf harten Fels brocken landete und die Hinterräder vom Boden abhoben. Der Motor heulte auf, als die Hinterräder durchdrehten. Dann grif fen sie plötzlich und schleuderten den Wagen nach vorn. Der Daimler holperte die andere Seite des Geröllhaufens hin unter und schlug hart auf der Straße auf. Centaine hörte das metallische Knirschen, als ein Teil des Lenkgestänges brach. Die Steuerung reagierte nicht mehr. Der Daimler hatte das Hindernis zwar überwunden, aber er war tödlich verwundet und außer Kontrolle. Er war nicht mehr steuerbar, und der Gashebel klemmte. Centaine schrie auf und klammerte sich an das hölzerne Ar maturenbrett, als der Wagen mit Höchstgeschwindigkeit durch die Engstelle auf das Flußbett zuraste und von einer Seite auf die andere schleuderte. Sie versuchte verzweifelt, den Zündschlüssel herauszuziehen, aber sie wurde, als der Wagen gegen die Straßenböschung prallte, auf die andere Seite geschleudert. Der Daimler schoß aus der Engstelle auf das Flußbett hinaus, die Fahrertür flog auf und Centaine wurde hinausgeschleudert. Instinktiv krümmte sie sich zusammen und rollte kopfüber in den weichen weißen Sand. Der Daimler raste mit heulendem Motor wild schlingernd quer über das Flußbett und bohrte sich schließlich mit der Küh lerhaube in den weichen Sand der gegenüberliegenden Uferbö schung. Centaine rappelte sich auf und stolperte vorwärts. Sie versank bis zu den Knöcheln im Sand. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Die maskierte Gestalt war ihr bestimmt schon dicht auf den Fersen. Sie erwartete jeden Augenblick den harten Griff seiner Hand oder das Einschlagen einer Kugel in ihrem Rücken, aber sie erreichte den Daimler und fiel neben ihm auf die Knie. Die Fahrertür war aus den Angeln gerissen worden, und sie kroch halb in den Wagen. Die Schrotflinte war zwischen Sitz 206
bank und Armaturenbrett eingekeilt, aber sie bekam sie frei und riß die Klappe des Handschuhfaches auf. Die Pappschachtel mit den Schrotkugeln brach unter ihren ungestümen Fingern auf, und die roten, messingbeschlagenen Patronen fielen in den Sand. Sie drückte mit beiden Daumen das Verschlußstück auf, um das Gewehr zu laden. In diesem Augenblick wurde ihr die Flin te aus der Hand gerissen. Der Maskierte stand hinter ihr. Er mußte sich schnell wie ein Leopard bewegt haben, um so rasch die Uferböschung herunter und über das Flußbett gekommen zu sein. Er schleuderte das ungeladene Gewehr weit von sich. Es landete fünfzehn Meter entfernt im Sand. Centaine sprang auf und warf sich mit aller Kraft gegen seine Brust. Das kam so unerwartet, daß er das Gleichgewicht verlor und Centaine mit sich zu Boden riß. Centaine kam auf ihm zu lie gen und konnte sich seinem Griff entziehen. Sie kroch von ihm fort, sprang auf und taumelte zum Wagen zurück. Die Pistole! Centaine packte den Griff der hinteren Tür und riß mit aller Kraft daran. Durch das Fenster konnte sie den Knauf von Twentyman-Jones’ Dienstrevolver sehen. Aber die Tür klemmte. Sie kniete sich auf den Fahrersitz und versuchte über die Rückenlehne an den Revolver heranzukommen, aber in diesem Augenblick wurde sie mit eisernem Griff an der Schulter ge packt und gewaltsam aus dem Wagen gezerrt. Sie wirbelte her um, und sein Gesicht kam dem ihren sehr nahe. Der dünne weiße Baumwollsack verbarg seinen Kopf, die Sehschlitze waren dunkel wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels. Centaine erhaschte einen flüchtigen Blick von den menschli chen Augen dahinter und ging mit den Fingernägeln auf sein Gesicht los. Er warf den Kopf zurück und griff nach ihren Handgelenken, aber anstatt sich loszureißen, warf sie sich auf ihn und rammte 207
ihm das rechte Knie in die Leistengegend. Er drehte sich heftig herum, so daß sie nur seinen Oberschenkel traf. Sie spürte, wie seine harten Beinmuskeln unter dem wuchtigen Stoß nachga ben, aber seine Hände umspannten ihre Handgelenke wie Stahlklammern. Sie beugte den Kopf vor und schlug ihre Zähne in sein Handgelenk, während sie gleichzeitig mit den Füßen nach sei nen Schienbeinen trat und die Knie in seinen Unterleib stieß. Er stöhnte und versuchte sie fester zu packen. Offenbar hatte er so massiven Widerstand nicht erwartet. Der Schmerz in sei nem Handgelenk mußte unerträglich sein, denn sie spürte, wie die Haut unter ihren Zähnen aufplatzte und das Blut in ihren Mund quoll. Der Maskierte griff mit der anderen Hand in ihr volles locki ges Haar und versuchte ihren Kopf zurückzureißen, aber sie biß nur noch stärker zu, und ihre Zähne trafen schließlich knir schend auf den Knochen. Der Mann riß und zerrte an ihrem Kopf und stöhnte vor Schmerz. Schließlich wurde es ihm zuviel, und er befreite sich mit Gewalt. Er preßte Daumen und Mittelfinger an ihre Kieferge lenke und drückte zu. Der Schmerz schoß ihr in Kiefer und Schläfen, sie öffnete den Mund und warf sich nach hinten, wo durch sie ihn abermals überrumpelte und sich seinem Griff entwinden konnte. Sie stürzte auf den Daimler zu. Diesmal griff sie mit der Hand über die Rückenlehne des Fahrersitzes und packte den Revolverknauf. Während sie mit zitternder Hand versuchte, ihn herauszuziehen, griff der Mas kierte von hinten in ihr Haar und riß sie zurück. Die schwere Pistole entglitt ihren Fingern. Sie wirbelte abermals herum und ging auf seinen Kopf los. Durch seine heftige Abwehrbewegung verrutschte die Maske, und er konnte für einen Augenblick nichts mehr sehen, so daß er stolperte und mit ihr in den Armen zu Boden fiel. Er lag auf ihr und hielt sie fest, während sie verzweifelt strampelte und 208
zappelte – doch plötzlich hielt sie inne und starrte ihn an. Die Maske war aufgerissen, und sie konnte seine Augen sehen – diese wohlbekannten hellen bernsteinfarbenen Augen mit den langen Wimpern. »Lothar!« stieß sie hervor. Er zuckte zusammen, und sie blieben eng umschlungen wie zwei Liebende keuchend liegen und starrten einander wortlos an. Plötzlich ließ er sie los und stand auf. Er zog die Maske vom Kopf und wickelte sie um sein zerbissenes Handgelenk. Er erkannte, daß er ernsthaft verletzt war. Centaine setzte sich auf und sah ihm zu. »Warum tust du das?« flüsterte sie. »Das weißt du genau.« Er verknotete den Verband mit den Zähnen, da stürzte sie plötzlich auf den Daimler zu und tastete verzweifelt nach der Pistole. Sie fand sie, konnte sie aber nicht fassen, weil er sie an den Schultern zurückriß und in den Sand stieß. Er hob die Pistole auf und steckte sie in den Hosenbund. »Wo sind sie?« »Wovon redest du?« Er bückte sich und blickte ins Wageninnere, dann nahm er den schwarzlackierten Stahlkoffer heraus. »Schlüssel?« fragte er. Als sie ihn nur trotzig anstarrte, kniete er nieder und stellte den Stahlkasten in den Sand, dann trat er einen Schritt zurück. Er entsicherte die Pistole und feuerte einen Schuß ab. Die Ku gel traf das Schloß und sprengte es auf. Lothar steckte die Pistole weg, kniete nieder und hob den Deckel hoch. Mit der unverletzten Hand nahm er eines der klei nen Pakete heraus und las vor, was Twentyman-Jones in altmo disch geschwungenen Lettern auf das Papier geschrieben hatte: »156 Steine Gesamtgewicht 382 Karat.«
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Dann riß er das Packpapier mit den Zähnen auf und schüttete die Diamanten in seine Handfläche. »Sehr hübsch«, murmelte er und steckte die Steine in die Ho sentasche. Dann legte er das zerrissene Papier in die Stahlkas sette zurück und schloß den Deckel. »Ich habe gewußt, daß du ein Mörder bist«, sagte Centaine. »Aber ich hätte nie gedacht, daß du zu einem gewöhnlichen Dieb werden könntest.« »Du hast meine Boote und meine Fabrik gestohlen. Rede also bloß nicht von Diebstahl.« Er nahm die Stahlkassette unter den Arm und stand auf. Er ging zum Kofferraum des Daimler und brachte es fertig, ihn einen Spaltbreit zu öffnen. Er untersuchte den Inhalt »Gut«, sagte er. »Du warst so klug, mehr Trinkwas ser mitzunehmen. Mit neunzig Liter kommst du eine Woche aus, aber sie finden dich sicher schon früher. Abrahams schickt dir eine Eskorte entgegen. Ich hab’ die Anweisung von Twen tyman-Jones mitgehört.« »Du Schwein«, flüsterte sie. »Bevor ich aufbreche, schneide ich die Drähte der Telegra phenleitung durch. Sobald das geschieht, wissen sie in Wind huk und in der Mine, daß etwas nicht stimmt. Keine Angst, sie werden dich schon aufstöbern.« »O Gott, wie ich dich hasse.« »Bleib beim Wagen. Das ist die erste Überlebensregel in der Wüste. Geh nicht von hier fort. Sie werden dich in ungefähr zwei Tagen finden – und ich habe zwei Tage Vorsprung.« »Ich glaubte immer, dich zu hassen, aber was Haß wirklich ist, weiß ich erst jetzt.« »Ich hätte es dir schon früher sagen können«, erwiderte er kühl und hob die Schrotflinte auf. »Ich habe es gründlich ge lernt – in den Jahren, als ich deinen Sohn großzog. Und dann noch einmal, als du wieder in mein Leben tratst, nur um alles, wofür ich gelebt und gearbeitet habe, zu zerstören.« Er schwang das Gewehr wie eine Axt gegen einen der Felsblöcke. 210
Der Kolben zerbrach, aber er hörte nicht auf, bevor die Waffe vollkommen verbogen und unbrauchbar war. Dann ließ er sie fallen. Er hängte sein Gewehr um, hob mit der gesunden Hand die Stahlkassette auf und preßte die verletzte Hand mit dem blut durchtränkten Verband gegen die Brust. Er hatte offensichtlich starke Schmerzen. »Ich hab’ versucht, dir nicht weh zu tun – wenn du dich nicht gewehrt hättest –« Er brach ab. »Wir werden uns nie wiederse hen. Leb wohl, Centaine.« »Wir werden uns wiedersehen«, widersprach sie ihm. »Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich nicht ruhen wer de, ehe du für diese Tat bestraft wirst.« Er nickte. »Ich weiß, daß du es versuchen wirst.« Er wandte sich ab. »Lothar!« rief sie gellend und senkte die Stimme, als er sich wieder umdrehte. »Ich mache dir einen Vorschlag – deine Fa brik und deine Boote frei von allen Schulden für meine Dia manten.« »Ein schlechtes Geschäft.« Er lächelte matt. »Mittlerweile sind die Boote und die Fabrik völlig wertlos.« »Plus fünfzigtausend Pfund und mein Versprechen, diese Angelegenheit nicht der Polizei zu melden.« »Das letzte Mal war ich es, der bettelte – erinnerst du dich? Nein, Centaine, selbst wenn ich wollte, könnte ich jetzt nicht mehr zurück. Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen.« »Die Hälfte – laß mir wenigstens die Hälfte der Diamanten, Lothar.« »Warum sollte ich?« »Um der Liebe willen, die wir einst füreinander empfanden.« Er lachte bitter. »Da müßtest du mir schon einen besseren Grund nennen.« »Also gut. Wenn du die Diamanten nimmst, wirst du mich zugrunde richten, Lothar. Ich bin jetzt schon fast am Ende. 211
Dann wäre ich endgültig ruiniert.« »So wie ich, als du mir meine Boote nahmst.« Er drehte sich um und watete mühsam durch den tiefen Sand auf das Ufer zu. »Lothar De La Rey!« rief sie hinter ihm her. »Du hast mein Angebot abgelehnt – nimm dafür meinen Schwur. Ich schwöre bei Gott und allen Heiligen, daß ich nicht eher ruhen werde, bis du am Galgen baumelst.« Er schaute sich nicht um, preßte seinen verletzten Arm gegen die Brust, kletterte die Uferböschung hinauf und war ver schwunden. Centaine sank in den Sand und wurde von einer Woge der Verzweiflung überwältigt. Tränen der Verzweiflung und der Wut liefen über ihre Wangen und verschmolzen mit seinem Blut, das noch an ihren Lippen und ihrem Kinn klebte. Wie durch ein Wunder war die Wasserflasche an der Klam mer des Reserverades hängengeblieben. Sie wischte sich die Tränen und das Blut vom Gesicht und überlegte, ob sie ihm folgen sollte. Er hatte den Revolver mitgenommen und die Schrotflinte zertrümmert. »Noch nicht –« flüsterte sie. »Aber schon sehr bald. Das habe ich dir geschworen, Lothar De la Rey.« Dann ging sie zum Kofferraum des Daimler und schaufelte mit den Händen den Sand fort, um den Kofferraumdeckel auf machen zu können. Sie nahm die beiden Fünfzig-Liter-Kanister mit Wasser und die Kanister mit den Industriediamanten heraus und trug sie zur Uferböschung, wo sie sie im Sand vergrub, um die Diamanten zu verstecken und das Wasser so kühl wie mög lich zu halten. Dann kehrte sie zum Daimler zurück und lud hastig den Rest der Notausrüstung aus, in der plötzlichen Sorge, der Morseap parat könnte vergessen worden sein – doch sie fand ihn an sei nem gewohnten Platz in der Werkzeugkiste. Sie nahm die Drahtrolle und den Morseapparat und folgte Lothars Spuren die Uferböschung hinauf. Sie beschattete ihre 212
Augen und spähte den Fußlauf entlang. »Er hätte wissen müs sen, daß ich einen Morseapparat dabeihabe. Aus den zwei Ta gen Vorsprung wird nichts werden.« Sie sah die Unterbrechung der Telegraphendrähte aus zwei hundert Meter Entfernung. Als sie die Stelle erreichte, wo die Telegraphenleitung den Flußlauf überquerte, entdeckte sie im Flußbett die Überreste von Lothars Lager. Sie ließ die Drahtrolle und den Morseapparat zurück und kletterte die Böschung hinunter. Sie fand die Erdhöhle und erkannte, daß sich mehr als ein Mann über einen längeren Zeit raum hier aufgehalten haben mußte. Sie fand drei Lagerstätten aus abgeschnittenem Gras. »Drei.« Sie dachte einen Augenblick nach und fand die Lö sung. »Er hat seinen Bastard bei sich.« Sie konnte sich noch immer nicht dazu durchringen, Manfred als ihren Sohn zu be trachten. »Und der dritte wird Swart Hendrick sein. Er und Lothar sind unzertrennlich.« Sie kroch aus der Erdhöhle heraus und blieb einen Augen blick unschlüssig stehen. Den Morseapparat an die durchge schnittenen Drähte anzuschließen würde einige Zeit in An spruch nehmen, außerdem war es viel wichtiger, die Richtung herauszufinden, in die Lothar geritten war. Sie kam zu einem Entschluß. »Ich werde den Morseapparat anschließen, sobald ich weiß, wo ich die Verfolger hinschicken muß.« Es war kaum anzunehmen, daß er ostwärts in die Kalahari geritten war. »Er wird Richtung Windhuk aufgebrochen sein«, vermutete sie und versuchte es zuerst in dieser Richtung. Das Gebiet rund um das Lager war mit Spuren übersät. Sie mußten sich minde stens zwei Wochen hier aufgehalten haben, schätzte sie. »In diese Richtung sind sie nicht geritten«, erkannte sie schließlich. »Dann müssen sie sich nach Süden gewandt haben, Richtung Gobabis und Oranjefluß.« 213
Sie suchte in dieser Richtung, und als sie keine frische Spur finden konnte, blickte sie Richtung Norden. »Sicher nicht.« Sie war verwirrt. »Bis zum Okavangofluß und dem portugiesischen Hoheitsgebiet ist dort draußen absolut nichts – die Pferde würden es niemals durch das riesige, öde Buschmannland schaffen.« Trotzdem suchte sie auch in dieser Richtung und fand die Spur fast sofort. »Drei Reiter mit je einem Ersatzpferd, vor knapp einer Stun de. Lothar muß also doch die nördliche Route genommen ha ben.« Sie folgte der frischen Spur eine Weile, um sicherzuge hen, daß er nicht abgebogen war. Doch die Fährte lief direkt und geradeaus in die flimmernde Wüste. »Er muß verrückt sein«, flüsterte sie. »Aber das ist er nicht, das weiß ich. Er will nach Angola. Das Grenzgebiet dort kennt er von früher, als er noch Elfenbein jagte. Wenn er den Fluß erreicht, sehen wir ihn nie wieder. Er hat Freunde dort oben, die portugiesischen Händler, die ihm sein Elfenbein abkauften. Diesmal hat er eine Million Pfund in Diamanten in der Tasche, und die ganze Welt steht ihm offen. Ich muß ihn erwischen, bevor er den Fluß überquert.« Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Planes sank ihr der Mut, und sie fühlte, wie ihre Verzweiflung zurückkehrte. »Er hat alles sorgfältig vorbereitet – es steht sehr günstig für ihn. Wir werden ihn niemals erwischen.« Sie kämpfte gegen ihre Verzweiflung an. »Doch, wir werden. Ich muß ihn an Schlau heit übertreffen und schlagen. Ich muß – einfach schon deswe gen, um zu überleben.« Sie drehte sich um und rannte zum Lagerplatz zurück. Sie verband in fliegender Eile ihren Morseapparat mit den durchschnittenen Telegraphendrähten und schloß den Apparat an die mitgebrachten Batterien an. Einen schrecklichen Augen blick lang glaubte sie, das Morsealphabet vergessen zu haben, doch dann fiel es ihr plötzlich wieder ein, und sie begann hastig 214
zu morsen. »Juno an Vingt. Bestätigen.« Sekundenlang blieb es in ihren Kopfhörern still, doch dann kam die Antwort: »Vingt an Juno. Fortfahren.« Sie versuchte Twentyman-Jones in knappen Worten den Überfall zu schildern, gab ihre Position durch und fuhr dann fort: »Handeln Sie mit Streikenden Vergleich aus, da Wiederer langung der Ware für beide Teile wichtig. Stop. Fahren Sie mit Laster zur Nordspitze von O’chee Pan und suchen Sie Busch mannlager. Stop. Anführer heißt Kwi. Sagen Sie Kwi ›NamKind kaleya‹«. »Kaleya« war der Notruf, der Hilferuf, den kein Mitglied der Sippe ignorieren konnte. »Bringen Sie Kwi mit«, fuhr sie fort und gab weitere Anwei sungen. Nachdem sie geendet hatte, bestätigte TwentymanJones und fügte hinzu: »Sind Sie unverletzt und in Sicherheit. Fragezeichen. Vingt.« »Positiv. Ende. Juno.« Sie wischte sich mit dem gelben Seidenschal den Schweiß vom Gesicht. Dann streckte und lockerte sie ihre Finger und beugte sich abermals über den Morseapparat, um die Telegra phenstation im Büro der Courtney Bergbau- und Finanzie rungsgesellschaft in Windhuk zu rufen. Die Bestätigung kam prompt. Offenbar hatte der Telegrafist ihre Nachricht an Twentyman-Jones mitgeschrieben, trotzdem fragte sie: »Haben Sie vorherige Nachricht verfolgt?« »Positiv«, antwortete er. »Geben Sie die Nachricht an Administrator Oberst Blaine Malcomess weiter. Erbitte Hilfe bei Gefangennahme der Schuldigen und Wiedererlangung der gestohlenen Ware. Ende. Juno.« 215
Der Telegrafist bestätigte und fuhr dann fort: »Winkeladvokat an Juno.« Man hatte offenbar Abe geholt, nachdem ihre erste Nachricht empfangen worden war. »Äußerst besorgt um Ihre Sicherheit. Stop. Bleiben Sie in gegenwärtiger Position. Stop.« Gereizt rief Centaine aus: »Das kannst du dir sparen, Abe.« Aber sie notierte den Rest der Nachricht. »Bewaffnete Eskorte um fünf Uhr früh von Windhuk aufge brochen. Stop. Sollte morgen früh bei Ihnen sein. Stop. Bleiben Sie auf Empfang für Malcomess. Ende. Winkeladvokat.« Einige Fakten waren klar, etwa, daß sie Lothar mit einer Ver folgungsjagd niemals erwischen würden. Er hatte zuviel Vor sprung und bewegte sich in einem Gebiet, das er wie seine Ho sentasche kannte. Er kannte es besser als jeder andere weiße Mann und besser als sie, aber nicht besser als der kleine Kwi. Sie mußten seine Route herausfinden und ihm den Weg ab schneiden. Dazu würden sie Pferde brauchen. Laster waren in diesem Gelände unbrauchbar. Das wußte Lothar und würde es sich zunutze machen. Sie kannte nur zwei Stellen, wo es Grundwasser gab. Beide Wasserstellen waren ein Geheimnis der Buschmänner, die ihr O’wa, ihr Adoptivgroßvater, fünfzehn Jahre zuvor gezeigt hat te. Sie fragte sich, ob sie ein Wasserloch wiederfinden würde, aber sie war sicher, daß Lothar alle kannte und geradewegs auf sie zureiten konnte. Wahrscheinlich kannte er noch andere Wasserstellen, von denen sie keine Ahnung hatte. Der Morseapparat schreckte sie aus ihren Gedanken auf. »Malcomess an Juno. Polizei berichtet über Diebstahl von 26 Pferden aus Militärlager bei Okahandja am Dritten letzten Mo nats. Nur zwei Tiere wiedererlangt. Stop. Ersuche um weitere Anweisungen.« Sie hatte also recht! Lothar hatte Zwischenstationen in der Wüste eingerichtet. Sie versuchte sich das nördliche Territori 216
um vorzustellen, Entfernungen und Zeiten abzuwägen. Schließ lich beugte sie sich wieder über den Morseapparat. »Bin überzeugt, daß Flüchtlinge versuchen, auf direktem Weg Okavangofluß zu erreichen. Stop. Stellen Sie kleinen Trupp wüstenfester Männer und Ersatzpferde zusammen. Stop. Treffpunkt Kalkrand Missionsstation. Baldigst. Stop. Stoße mit Buschmannfährtensuchern dazu.« Twentyman-Jones traf vor der Eskorte aus Windhuk ein. O’chee Pan lag auf dem Weg. Nur ein paar Meilen von der Straße entfernt. Der Laster kam über die Ebene herangebraust, und Centaine lief ihm winkend und lachend entgegen. Sie hatte sich inzwischen umgezogen und trug Reithosen und Stiefel. Twentyman-Jones sprang aus dem Führerhaus und kam in schwerfällig hüpfendem Lauf auf sie zugerannt. Er fing sie auf und drückte sie an seine Brust. »Gott sei Dank«, murmelte er inbrünstig. »Gott sei Dank ist Ihnen nichts geschehen.« Es war das allererste Mal, daß er sie umarmte, und das mach te ihn auch augenblicklich verlegen. Er ließ sie los und trat stirnrunzelnd zurück, um seine Verlegenheit zu verbergen. »Haben Sie Kwi gefunden?« fragte sie. »Hinten im Laster.« Centaine lief zum Laster. Kwi und Fat Kwi kauerten völlig verängstigt auf der Laderampe. Sie sahen aus wie kleine wilde Tiere in einem Käfig. »Nam-Kind!« schrie Kwi, und beide stürzten sich zwit schernd und klickend vor Erleichterung und Freude auf sie. Centaine umarmte sie wie verängstigte kleine Kinder und murmelte Beruhigungen und Koseworte. »Ihr habt nichts zu befürchten. Diese Männer sind gut, und ich werde euch nicht verlassen. Ihr werdet beide berühmt, denn wir verfolgen böse Männer, die mir großes Leid zugefügt ha 217
ben. Ihr werdet ihrer Fährte folgen und mich zu ihnen führen, und dann bekommt ihr Geschenke von mir, und alle Männer werden sagen, daß es keine besseren Jäger und Fährtensucher gibt als Kwi und sein Bruder Fat Kwi.« Sie lief zu Twentyman-Jones zurück, und die beiden kleinen San folgten ihr wie treue Hunde. »De La Rey hat die Industriediamanten zurückgelassen. Ich habe sie im Flußbett vergraben –« Sie hielt überrascht inne, als sie die beiden anderen Männer neben Twentyman-Jones erkannte. Der Fahrer war Gerhard Fourie, und neben ihm saß Maclear. Beide wirkten recht lin kisch, als Maclear sie begrüßte. »Wir sind wirklich froh, daß Ihnen nichts passiert ist, Mrs. Courtney. In der Mine sind alle Männer halb krank vor Sorge um Sie.« »Danke, Mr. Maclear.« »Wir werden für Sie tun, was wir können. Wir sitzen in ei nem Boot, Mrs. Courtney.« »Ganz recht, Mr. Maclear. Keine Diamanten, keine Löhne. Würden Sie mir bitte helfen, die Industriediamanten auszugra ben, die die Diebe zurückgelassen haben. Dann fahren wir nach Kalkrand. Haben Sie genug Treibstoff, um hinzukommen, Mr. Fourie?« »Morgen früh sind wir dort, Mrs. Courtney«, versprach der Fahrer. In Kalkrand endete die Straße. Von dort gab es keinen Fahrweg weiter. Die Straße, die Fourie nahm, um nach Kalkrand zu gelangen, führte in einem weiten Bogen um das Buschmannland herum. Sie verlief erst in nordwestlicher Richtung und dann wieder in östlicher Richtung, so daß sie, wenn sie Kalkrand erreichten, etwa hundertfünfzig Meilen nördlich und siebzig Meilen west lich von der Stelle sein würden, wo Lothar Centaine überfallen hatte. »Hier sind vor kurzem andere Fahrzeuge gefahren«, erklärte 218
Centaine Twentyman-Jones. »Es sieht nach zwei Lastern aus. Glauben Sie, es könnte das Polizeidetachement sein, das Oberst Malcomess schickt?« »Wenn es das Detachement ist, dann hat der Mann unglaub lich schnell gehandelt.« Twentyman-Jones schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wahrscheinlich ein Versorgungstransport für die Missionsstation. Ich wette, daß wir in der Missionsstation eine Zeitlang auf die Polizei und die Pferde warten werden müs sen.« Die Blechdächer der Missionsstation tauchten vor ihnen aus dem morgendlichen Dunst auf. »Deutsche Dominikanermönche«, erklärte TwentymanJones. »Sie helfen den nomadischen Ovahimbastämmen in dieser Gegend.« »Sehen Sie nur!« unterbrach Centaine ihn aufgeregt. »Dort neben der Kirche stehen die Laster, und bei der Windmühle sehe ich Pferde. Und da, sehen Sie doch! Ein uniformierter Soldat. Sie sind es! Oberst Malcomess hält, was er verspricht.« Fourie hielt den Laster neben den beiden sandfarbenen Poli zeitransportern an. Centaine sprang hinaus und rief dem Polizi sten zu: »Hallo, Sergeant, wer ist hier der Kommandant –?« Dann brach sie ab und starrte auf die hochgewachsene Gestalt, die in diesem Augenblick auf die Veranda des kleinen Gebäudes ne ben der Kirche trat. Er trug eine khakifarbene Reithose, glänzende braune Stiefel und den Uniformrock eines Stabsoffiziers, den er hastig zu knöpfte, während er die Stufen herunterschritt und ihr entge genkam. »Oberst Malcomess. Ich hätte nie erwartet, daß Sie persön lich hierherkommen.« »Sie haben um volle Unterstützung gebeten, Mrs. Courtney.« Er gab ihr die Hand. »Sie gehen doch nicht etwa mit uns in die Wüste? Sie haben 219
doch Ihre Pflichten als Administrator.« »Wenn ich nicht gehe, dann gehen Sie auch nicht.« Er lächel te. »Ich habe strikte Anweisung vom Premierminister, General Hertzog, und vom Führer der Opposition, General Smuts, Sie nicht aus den Augen zu lassen. Offenbar stehen Sie in dem Ruf, recht eigenwillig zu handeln, Madame.« »Ich muß aber gehen«, fiel sie ihm ins Wort. »Außer mir kann niemand mit den Buschmannfährtensuchern umgehen. Und ohne sie entwischen die Räuber ganz bestimmt.« Er neigte bejahend den Kopf. »Ich bin sicher, die beiden Her ren würden es lieber sehen, wenn keiner von uns beiden ginge, aber ich ziehe es vor, ihre Befehle dahingehend auszulegen, daß wir beide gehen sollen.« Und plötzlich grinste er. »Ich fürchte, Sie werden es eine Weile mit mir aushalten müssen.« Sie dachte daran, fern von seiner Frau mit ihm draußen in der Wüste zu sein. Für einen Augenblick vergaß sie sogar Lothar De la Rey und die Diamanten. Bis ihr plötzlich bewußt wurde, daß sie einander noch immer an der Hand hielten und von allen beobachtet wurden. Sie ließ seine Hand los und fragte rasch: »Wann können wir aufbrechen?« Anstelle einer Antwort drehte er sich um und brüllte: »Pferde satteln! Pferde satteln! Wir reiten sofort los!« Während die Polizisten zu ihren Pferden liefen, drehte er sich wieder zu ihr um und fragte sachlich und nüchtern: »Und nun, Mrs. Courtney, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, was Sie vorhaben – und wo wir hinreiten.« Sie lachte. »Haben Sie eine Karte?« »Folgen Sie mir bitte.« Er führte sie in das Büro der Missi onsstation und machte sie rasch mit den beiden deutschen Do minikanermönchen bekannt, die die Mission leiteten. Dann beugte er sich über die Landkarte, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet war. »Zeigen Sie mir, was Sie vorhaben«, bat er sie. 220
»Hier fand der Überfall statt.« Sie berührte die Stelle mit dem Zeigefinger. »Die Spuren liefen in diese Richtung. Er will über die Grenze auf portugiesisches Hoheitsgebiet. Aber bis dorthin sind es fast fünfhundert Meilen.« »Deshalb haben Sie ihn also überholt?« meinte er nickend. »Und nun wollen Sie ostwärts in die Wüste reiten und ihm den Weg abschneiden. Aber das in Frage kommende Gebiet ist ganz schön groß. Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, meinen Sie nicht auch?« »Wasser«, sagte sie. »Er hat Ersatzpferde bei den Wasserstel len.« »Die Pferde, die er der Armee gestohlen hat? Ich verstehe. Aber da draußen gibt es kein Wasser.« »Doch«, erklärte sie. »Die Stellen sind auf der Karte nicht eingezeichnet, aber er weiß, wo sie sind. Meine Buschmänner ebenfalls. Wir werden ihn bei einer dieser Wasserstellen ab fangen oder seine Spur finden, wenn er uns zuvorgekommen ist.« Er richtete sich auf und faltete die Karte zusammen. »Halten Sie das für möglich?« »Daß er uns überholt hat?« fragte Centaine. »Vergessen Sie nicht, er ist ein harter Mann, und er kennt die Wüste wie seine Hosentasche. Unterschätzen Sie ihn nicht, Oberst. Das wäre ein schwerer Fehler.« »Ich habe mir seine Akte angesehen. Ein gefährlicher Mann. Auf seinen Kopf waren einmal zehntausend Pfund ausgesetzt.« Ein Polizeisergeant erschien in der Tür. »Alles fertig, Oberst.« »Haben Sie auch Mrs. Courtneys Pferd gesattelt?« »Ja, Sir!« Der Sergeant war schlank, braungebrannt und muskulös. Blaine Malcomess sah ihren prüfenden Blick. »Das ist Ser geant Hansmeyer. Er und ich sind alte Kampfgefährten aus Smuts’ Truppe.« 221
»Ist mir eine Ehre, Mrs. Courtney. Hab’ schon viel von Ihnen gehört«, begrüßte sie der Sergeant. »Sehr erfreut, Sergeant.« Sie verabschiedeten sich rasch von den Dominikanermön chen und traten ins Sonnenlicht hinaus. Centaine ging zu dem großen kräftigen Wallach, den Blaine ihr zugewiesen hatte, und stellte die Steigbügelriemen ein. »Aufsitzen!« befahl Blaine Malcomess, und während sich der Sergeant und seine vier berittenen Polizisten in den Sattel schwangen, wandte sich Centaine an Twentyman-Jones. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen, Mrs. Courtney«, sag te er. Sie lächelte. »Halten Sie uns die Daumen. Wenn wir diese Diamanten nicht zurückholen, werden Sie wahrscheinlich wie der für De Beers arbeiten und ich im Armenhaus Näharbeit verrichten.« »Verfaulen soll der Schweinehund, der Ihnen das angetan hat«, sagte er. Centaine bestieg den Wallach und lenkte ihn neben Blaines Pferd. »Sie können Ihre Jagdhunde von der Leine lassen, Mrs. Courtney«, sagte er lächelnd. »Führe uns zum Wasser Kwi«, rief Centaine, und die beiden kleinen Buschmänner schulterten ihre Bogen und die Köcher mit den Giftpfeilen und wandten sich nach Osten. Sie waren zum Laufen geboren, und die Pferde mußten traben, damit sie in Sichtweite blieben. Centaine und Blaine ritten Seite an Seite an der Spitze, der Sergeant und seine vier Polizisten folgten, und jeder von ihnen führte ein Ersatzpferd am Zügel. Die Meilen blieben hinter ihnen zurück. Nach jeder Stunde ließ Blaine die Kolonne für fünf Minuten anhalten, damit die Pferde verschnaufen konnten. Sie ritten, bis es ganz dunkel war, dann schlugen sie ihr Nachtlager auf. Blaine überwachte 222
die Zuteilung des Wassers und sorgte dafür, daß die Pferde abgerieben und angebunden wurden, bevor er sich zu Centaine ans Feuer setzte. Sie hatte die Buschmänner versorgt und berei tete nun für sich und Blaine das Abendessen zu. Als er sich ihr gegenüber ans Feuer setzte, reichte sie ihm den Blechteller. »Fasan und Kaviar stehen leider nicht auf der Speisekarte, Sir. Doch kann ich Ihnen den Rindfleischeintopf wärmstens empfehlen.« »Komisch, wie gut das schmeckt, wenn man es hier draußen ißt.« Er aß mit gutem Appetit, reinigte den leeren Teller mit trockenem Sand und gab ihn ihr zurück. Dann zündete er sich mit einem glühenden Zweig aus dem Feuer eine Zigarre an. Sie packte alles wieder in die Satteltaschen, um am Morgen rasch aufbrechen zu können, und kam zum Feuer zurück. Er rückte ein wenig zur Seite, um ihr auf der Satteldecke, auf der er saß, Platz zu machen, und sie ließ sich wortlos mit gekreuz ten Beinen neben ihm nieder. »Es ist so schön«, murmelte sie mit einem Blick in den nächtlichen Himmel. »Das ist mein persönlicher Stern.« Sie zeigte auf den Acrux im Großen Bären. Den hatte Michael für sie ausgewählt. »Welcher ist Ihr Stern?« fragte sie. »Sollte ich einen haben?« »Ja, natürlich«, erwiderte sie nickend. »Das ist unbedingt notwendig.« Sie hielt inne und fügte dann fast schüchtern hin zu: »Darf ich einen für Sie auswählen?« »Es wäre mir eine Ehre.« Er machte sich keineswegs lustig über sie, war ebenso ernst wie sie. »Dort.« Sie deutete nach Norden, wo die Tierkreiszeichen am Himmel funkelten. »Dieser Stern da, Regulus im Sternbild des Löwen, Ihrem Sternzeichen. Den wähle ich und schenke ich Ihnen, Blaine.« Sie nannte ihn zum ersten Mal beim Vorna men. »Ich nehme dankbar an. Von nun an werde ich jedesmal, wenn ich ihn sehe, an Sie denken, Centaine.« 223
Sie hatte ihm ein Liebespfand gegeben, und er hatte es ange nommen. »Woher wissen Sie, daß ich im Sternzeichen des Löwen ge boren bin?« fragte er schließlich. »Das habe ich herausgefunden«, antwortete sie aufrichtig. »Ich fand, es wäre nötig, das zu wissen. Sie wurden am 28. Juli 1893 geboren.« »Und Sie«, erwiderte er, »wurden am ersten Tag des neuen Jahrhunderts geboren. Daher auch Ihr ungewöhnlicher Vorna me. Das habe ich herausgefunden. Ich fand ebenfalls, es wäre nötig, das zu wissen.« Sie brachen lange vor Tagesanbruch auf und ritten hinter den Buschmännern weiter in Richtung Osten. Die Sonne stieg höher und brannte so heiß auf sie nieder, daß der Schweiß an den Flanken der Pferde zu weißen Salzkristal len erstarrte. Sie Sonne überschritt den Zenit und neigte sich gegen Westen. Die Schatten wurden länger, und die Wüste gewann wieder an Farbe. Plötzlich blieb Kwi stehen und hob schnuppernd die Nase. Fat-Kwi machte es ihm nach, so daß sie aussahen wie zwei Jagdhunde. »Was tun sie denn da?« fragte Blaine, als sie hinter ihnen an hielten. Bevor Centaine antworten konnte, stieß Kwi einen hel len Schrei aus und rannte los. Fat-Kwi folgte ihm. »Wasser.« Centaine richtete sich in den Steigbügeln auf. »Sie haben Wasser gerochen.« »Meinen Sie das im Ernst?« sagte Blaine und starrte sie an. »Das erste Mal konnte ich es auch nicht glauben«, erwiderte sie lachend. »O’wa roch das Wasser aus fünf Meilen Entfer nung. Kommen Sie, ich werde es Ihnen beweisen.« Vor ihnen tauchte ein flacher Hügel aus rotem Schieferge stein auf. Abgesehen von einem seltsamen vorsintflutlichen 224
Baum auf dem Gipfel, war der Hügel völlig kahl. Bei seinem Anblick spürte Centaine einen schmerzhaften Stich. Sie kannte den Ort. Sie war mit den beiden kleinen gelben Menschen, die sie geliebt hatte, kurz vor Shasas Geburt hier gewesen. Bevor sie den Hügel erreichten, blieben Kwi und Fat-Kwi plötzlich stehen und untersuchten den Boden zu ihren Füßen. Als Centaine zu ihnen stieß, plapperten sie aufgeregt drauflos. Centaine übersetzte, stotternd vor Aufregung, das Gehörte. »Wir haben die Fährte gefunden. Es ist De la Rey, ohne Zweifel. Drei Reiter aus südlicher Richtung, die auf den Brun nen zuhalten. Sie haben die erschöpften Pferde bereits zurück gelassen und treiben ihre Tiere bis zum Äußersten an. Die Pferde gehen nur noch sehr mühsam. De la Rey hat alles be stens überlegt.« Centaine konnte ihre Erleichterung kaum verbergen. Sie hatte richtig geraten. Lothar wollte zur Grenze. »Wie lange ist es her, Kwi?« fragte sie und sprang vom Pferd, um die Fährte selbst zu untersuchen. »Heute morgen, Nam-Kind«, erklärte der kleine Buschmann und deutete in den Himmel, um ihr zu zeigen, wo die Sonne gestanden hatte, als Lothar vorbeikam. »Kurz nach Tagesanbruch. Sie haben also ungefähr acht Stunden Vorsprung«, erklärte Centaine. »Ein ganz schöner Vorsprung«, meinte er ernst. »Von jetzt an zählt jede Minute. Also vorwärts!« Als sie noch etwa eine halbe Meile vom Hügel entfernt wa ren, erklärte Centaine: »Hier haben andere Pferde geweidet. Viele Pferde über mehrere Wochen. Ihre Spuren sind überall. Genau, wie ich es mir gedacht habe. De la Rey hat einen seiner Männer mit den Ersatzpferden hierher vorausgeschickt. Am Wasserloch finden wir sicher noch weitere Beweise dafür.« Sie brach ab und starrte nach vorn. Am Fuße des Hügels lagen drei formlose dunkle Haufen. Erst als sie näher kamen, sahen sie, was es war. 225
»Tote Pferde!« rief Centaine aus. »De la Rey muß seine er schöpften Pferde erschossen haben.« »Nein.« Blaine war abgestiegen, um die Kadaver zu untersu chen. »Keine Schußwunden.« Centaine sah sich um. Sie entdeckte die primitive Koppel, wo die frischen Pferde auf Lothars Ankunft gewartet hatten, und die kleine strohgedeckte Hütte der sie bewachenden Männer. »Kwi«, rief sie dem Buschmann zu, »such die Spur, die von hier wegführt. Fat-Kwi, such das Lager. Achte auf alles, was uns mehr über die bösen Männer sagen kann.« Das Wasserloch lag hinter dem Hügel. Es war ein winziger klarer Tümpel, nicht größer als eine Badewanne, der von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde. An seinem Rand stand eine kleine, von Menschenhand errichtete Struktur. Centaine blieb wie gelähmt im Sattel sitzen und starrte das Gebilde ent setzt an. Es war ein dicker, abgeschälter Ast von einem Kameldorn baum, der in der harten Erde steckte. Am unteren Ende waren Steine aufgehäuft, um ihn zu stützen, und auf seiner Spitze thronte wie ein Helm eine leere Halbliterdose. Unter der Dose war ein Brett an den Pfosten genagelt, auf dem schwarz die Worte eingebrannt waren: DIESES WASSER IST VERGIFTET Die leere Dose war grellrot und trug als Zeichen einen schwarzen Totenschädel und gekreuzte Knochen, unter denen das schreckliche Wort ARSEN stand. Blaine war nachgekommen, und sie blieben beide für einen Augenblick stumm. »Die toten Pferde«, sagte er schließlich. »Das erklärt alles. Dieser dreckige Bastard.« Seine Stimme war heiser vor Wut. Er riß sein Pferd herum und galoppierte den anderen entgegen. Centaine hörte, wie er rief: »Sergeant, sehen Sie nach, wieviel 226
Wasser wir noch haben. Der Brunnen ist vergiftet.« Sergeant Hansmeyer pfiff leise durch die Zähne. »Na, das war’s dann wohl. Wir können von Glück sagen, wenn wir es zurück bis Kalkrand schaffen.« Centaine zitterte vor Wut und Enttäuschung. Blaine kam zurück. »Es tut mir leid, Centaine«, sagte er ru hig. »Wir werden umkehren müssen. Ohne Wasser weiterzurei ten wäre Selbstmord.« »Ich weiß.« »Eine ganz gemeine Taktik.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Wasserstelle zu vergiften, die so viel Leben erhält. Die Folgen werden schrecklich sein. Ich habe einmal gesehen, wie es nachher aussieht. Als wir 1915 von Walvis Bay zurückmar schierten –« Er brach ab, weil Kwi aufgeregt plappernd näher kam. »Was sagt er?« fragte Blaine. »Einer der Männer, die wir verfolgen, ist verwundet«, erklär te Centaine hastig. »Kwi hat diesen Verband gefunden.« Kwi hielt stark fleckige Stoffreste in den Händen und wollte sie Centaine geben. »Laß das fallen, Kwi«, befahl sie scharf. Sie konnte den Ge stank von Eiter und Fäulnis riechen. Gehorsam legte Kwi die Stoffstreifen zu ihren Füßen nieder, und Blaine zog das Bajo nett aus der Scheide und breitete sie im Sand aus. »Die Maske!« rief Centaine aus. Der Stoff war steif von ge trocknetem Blut und gelbem Eiter, ebenso die Stoffstreifen, die von einem Khakihemd stammten. »Der verletzte Mann hat sich ausgeruht, während die anderen die frischen Pferde sattelten. Dann mußten sie ihn stützen und ihm aufs Pferd helfen. – Ich habe ihn gebissen«, fuhr Centaine leise fort, »als wir miteinander kämpften. Ich biß ihn ins Hand gelenk, so tief, daß ich den Knochen spürte.« »Der Biß eines Menschen ist fast so gefährlich wie ein Schlangenbiß«, meinte Blaine nachdenklich. »Wenn eine sol che Wunde nicht behandelt wird, kommt es fast immer zu einer 227
Blutvergiftung. De la Rey ist schwer verwundet, und nach dem hier zu urteilen, muß sein Arm fürchterlich aussehen.« Er be rührte den stinkenden Verband mit der Stiefelspitze. »Wir hät ten ihn erwischt. In seinem Zustand hätten wir ihn sicher ein geholt, bevor er den Okavangofluß erreichte. Wenn wir nur genügend Wasser hätten, um weiterzureiten.« Er wandte sich ab, um ihre Verzweiflung nicht sehen zu müssen, und befahl Sergeant Hansmeyer: »Von jetzt an halbe Wasserration, Serge ant. Wir brechen bei Sonnenuntergang Richtung Missionsstati on auf und reiten die Nacht über.« Centaine konnte es nicht ertragen. Sie drehte sich um und schlenderte zur Wasserstelle zurück. Sie blieb am Teichrand stehen und starrte auf das Schild mit der unheilvollen Bot schaft. Sie dachte an Blaines Bemerkung: »Ich habe einmal gesehen, wie es nachher aussieht. Als wir 1915 von Walvis Bay zu rückmarschierten –« Und plötzlich fiel ihr ein Gespräch mit Lothar De la Rey ein, das sich vor Jahren tief in ihr Gedächtnis eingeprägt hatte. »Wir mußten es tun, jedenfalls war ich damals davon über zeugt. Die Unionstruppen waren uns hart auf den Fersen. Wenn ich die Folgen gekannt hätte –« Er hatte abgebrochen und ins Feuer gestarrt. Centaine war damals seine Geliebte gewesen. Obwohl sie es noch nicht wußte, war sie damals bereits schwanger von ihm gewesen. Sie hatte seine Hand genommen, um ihn zu trösten. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, hatte sie geflüstert. »Doch, Centaine, es ist wichtig«, hatte er darauf erwidert. »Es war das Gemeinste, was ich je getan habe. Ich bin einen Monat später wie ein Mörder zu dem Wasserloch zurückge kehrt. Ich konnte es aus einer Meile Entfernung riechen. Alles war tot, Zebras und Antilopen, Schakale und kleine Wüsten füchse, Vögel und sogar Geier, die sich an die verwesenden Kadaver herangemacht hatten. Überall Tod. Das war etwas, an 228
das ich am Tage meines Todes denken werde, das einzige in meinem Leben, dessen ich mich wirklich schäme, eine Tat, für die ich noch werde büßen müssen.« Centaine richtete sich langsam auf. Wut und Enttäuschung wichen einer wachsenden Erregung. Er hatte es ernst gemeint, sich wirklich geschämt, hätte es nicht noch einmal tun können. Sie zitterte, als ihr bewußt wur de, worauf sie sich einließ, und um sich Mut zu machen, sagte sie mit zitternder Stimme: »Es ist ein Bluff. Das Schild ist ein Bluff –« Sie brach ab, als ihr die drei toten Pferde einfielen. Sie waren am Ende gewesen, und er hatte sie vergiftet, um sie zu täuschen. Wahrscheinlich hatte er ihnen das Gift in einen Ei mer getan. Sie kauerte sich nieder, tauchte den Hut in das klare kühle Wasser und hob ihn mit beiden Händen an die Lippen. »Centaine!« brüllte Blaine hinter ihr, sprang auf sie zu und schlug ihr den Hut aus den Händen. Dann packte er sie an den Armen und riß sie hoch. Er schüttelte sie heftig, und seine Fin ger gruben sich tief in ihre Oberarme. »Blaine, Sie tun mir weh.« »Ich tue Ihnen weh? Ich könnte Sie auf der Stelle versohlen, Sie verrückte –« »Es ist ein Bluff, Blaine, da bin ich ganz sicher.« Sie fürchte te sich vor ihm. Seine Wut war schrecklich anzusehen. »Blai ne! Bitte! Bitte hören Sie mir doch zu.« Sie sah die Veränderung in seinem Blick, als er seine Selbst beherrschung wiederfand. »O Gott«, sagte er, »ich dachte –« »Sie tun mir weh«, wiederholte sie dämlich, und er ließ sie los. »Es tut mir leid.« Er keuchte. »Tun Sie das nie wieder, Ma dame – das nächste Mal weiß ich nicht, was ich tue.« »Blaine! Es ist ein Bluff. Er hat das Wasser nicht vergiftet. Darauf würde ich mein Leben verwetten.« »Das hätten Sie fast schon«, brummte er, hörte ihr aber zu. 229
»Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?« »Ich habe ihn einmal kennengelernt. Ich war gut mit ihm be freundet. Er hat einen Eid geschworen. Das Wasserloch, von dem Sie sprachen, hat er vergiftet, damals im Jahr 1915. Das hat er selbst zugegeben. Aber er schwor auch, daß er nie wie der dazu fähig wäre. Er beschrieb die Leichenszene an der Wasserstelle und schwor einen Eid.« »Und was ist mit den toten Pferden da drüben?« fragte Blai ne. »Ganz einfach. Er hat sie vergiftet. Er hätte sie ohnehin töten müssen. Sie waren am Ende, und er konnte sie nicht lebend zurücklassen.« Blaine trat ans Wasser und starrte hinein. »Sie wollten das Risiko eingehen –« Er brach ab und schau derte, dann drehte er sich um und rief schneidend: »Sergeant Hansmeyer!« »Sir?« Der Sergeant kam eilig angerannt. »Sergeant, bringen Sie die lahmende Stute zu mir.« Hans meyer eilte zu den Pferden und führte das Tier heran. Die Stute lahmte am linken Vorderbein, und sie würden sie ohnehin zu rücklassen müssen. »Lassen Sie sie trinken!« befahl Blaine. »Sir?« Hansmeyer war verwirrt. »Es ist doch vergiftet, Sir.« »Das werden wir feststellen«, erklärte Blaine grimmig. Die schwarze Stute hinkte die Uferböschung hinunter und neigte ihren langen Hals zum Wasser. »Ich dachte nicht daran, eines der Pferde zu nehmen«, flü sterte Centaine. »O Gott, wie schrecklich, wenn meine Vermu tung falsch war.« Hansmeyer ließ die Stute trinken, bis sie genug hatte. Dann befahl Blaine: »Bringen Sie sie zu den anderen.« Er schaute auf seine Uhr »Eine Stunde geben wir ihr«, ent schied er und nahm Centaines Hand. Er führte sie in den Schat ten der überhängenden Uferböschung, und sie ließen sich ge 230
meinsam nieder. »Sie sagen, Sie haben ihn gekannt?« fragte er schließlich. »Wie gut kannten Sie ihn?« »Er hat für mich gearbeitet – vor vielen Jahren. Er hat die er sten Ausbauarbeiten der Mine durchgeführt. Er ist Ingenieur.« »Ja, das weiß ich. Es steht in seiner Akte.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie müssen ihn sehr gut gekannt haben, wenn er Ihnen so etwas eingestand?« Centaine antwortete nicht. Plötzlich begann Blaine zu lachen. »Eifersucht ist wirklich eine der schlimmsten Gefühlsregungen, stimmt’s? Ich ziehe die Frage zurück. Sie war unverschämt. Verzeihen Sie mir.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihm dankbar zu. »Das heißt aber nicht, daß ich Ihnen den Streich von vorhin verziehen habe«, erklärte er halb im Ernst. »Am liebsten würde ich Sie jetzt noch übers Knie legen.« Bei dem Gedanken daran überlief sie ein kurzer perverser Schauer der Erregung. Seine Wut hatte sie erschreckt, und das erregte sie ebenfalls. Er hatte sich nicht mehr rasiert, seit sie die Missionsstation verlassen hatten, und sein Bart war dicht und dunkel wie der Pelz eines Otters. »Warum starren Sie mich so an?« fragte er. »Ich frage mich gerade, ob Ihr Bart kratzen würde – wenn Sie sich entschließen könnten, mich zu küssen, anstatt zu ver prügeln.« Sie sah, wie er mit sich kämpfte. Sie konnte sich die Ängste und Zweifel vorstellen, die mit seinem inneren Verlangen ran gen, und wartete. Das Gesicht zu ihm erhoben, wartete sie re gungslos darauf, daß er die Unvermeidlichkeit des Kommen den einsah. Als er sie dann küßte, geschah es wild und fast grob, so als wäre er wütend über sein eigenes Unvermögen, der Versu chung zu widerstehen, und wütend auf sie, weil sie ihn auf die 231
sen gefährlichen Pfad der Untreue geführt hatte. Schließlich riß er sich von ihr los und sprang auf. Er blieb vor ihr stehen und blickte auf sie hinunter. »Möge Gott sich unser erbarmen«, flüsterte er, wandte sich um und ließ sie al lein. Nach einer Weile kam Sergeant Hansmeyer, um sie zu holen. »Oberst Malcomess wünscht Sie zu sprechen, Missis.« Sie folgte ihm zu den Pferden und fühlte sich eigenartig frei. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, alles wirkte traumhaft und weit entfernt. Blaine stand neben der lahmenden Stute, hielt ihren Kopf und streichelte ihren Hals. Sie schnaubte leise durch die Nüstern und knabberte an seinem Uniformrock. Als Centaine auf der anderen Seite an die Stute herantrat, blickte er auf. Sie starrten einander an. »Wir kehren nicht um«, sagte er leise, und sie verstand den doppelten Sinn seiner Worte. »Wir machen weiter – zusam men.« »Ja, Blaine«, willigte sie demütig ein. »Und zur Hölle mit den Konsequenzen«, fügte er schroff hinzu. Sie ritten die ganze Nacht. Da der Mann, der an der Wasser stelle mit den Ersatzpferden gewartet hatte, hinzugekommen war, verfolgten sie nun vier Reiter, von denen jeder ein Ersatz pferd am Zügel führte. Eine Stunde nach Tagesanbruch fanden sie die Stelle, wo die Flüchtlinge in der vorangegangenen Nacht gelagert hatten. Lo thar hatte zwei seiner Pferde zurückgelassen. Sie waren vom scharfen Ritt unter diesen harten Bedingungen völlig zuschan den gemacht. »Wir haben fünf oder sechs Stunden gutgemacht, während sie schliefen«, murmelte Blaine und schaute Centaine an. Sie 232
war blaß und benommen vor Müdigkeit. »Er macht seine Pferde nacheinander fertig«, sagte sie mit einem Blick auf die beiden Tiere, die Lothar zurückgelassen hatte. Sie standen mit hängenden Köpfen neben dem verglüh ten Lagerfeuer, konnten sich vor Schmerz kaum bewegen, und die Zungen hingen ihnen schwarz und geschwollen aus den Mäulern. »Er hat nicht einmal Wasser für sie vergeudet«, pflichtete Blaine bei. »Die armen Kreaturen.« »Sie werden sie töten müssen«, sagte Centaine. »Deshalb hat er sie ja zurückgelassen, Centaine«, erwiderte er sanft. »Das verstehe ich nicht.« »Die Schüsse«, erklärte er. »Er wird auf die Schüsse warten –« »Oh, Blaine! Was machen wir dann? Wir können sie nicht so zurücklassen.« »Machen Sie Kaffee und Frühstück. Wir sind alle erschöpft. Wir müssen ein paar Stunden ausruhen, bevor wir weiterrei ten.« Er schwang sich aus dem Sattel und nahm seine Sattel decke ab. »Um die armen Tiere kümmere ich mich schon.« Er schüttelte seine Schaffelldecke aus und trat zu den er schöpften Pferden. Er blieb vor der ersten Stute stehen und zog seine Dienstpistole. Dann wickelte er das Schaffell um seine rechte Hand, in der er die Pistole hielt. Die Stute brach unmittelbar nach dem dumpfen Knall der Pi stole zusammen. Centaine wandte sich ab und beschäftigte sich angelegentlich mit dem Kaffeekochen, während Blaine be drückt vor die zweite Stute trat. Es war eigentlich kein Schall, sondern nur eine winzige Luft bewegung, aber Swart Hendrick und Lothar De la Rey hoben gleichzeitig den Kopf und zügelten ihre Pferde. Lothar machte eine gebieterische Handbewegung, und sie warteten mit ange 233
haltenem Atem. Als der zweite gedämpfte ferne Pistolenknall folgte, blickten Lothar und Hendrick einander an. »Der Arsentrick hat nicht funktioniert«, brummte der große schwarze Ovambo. »Du hättest das Wasser wirklich vergiften sollen.« Lothar schüttelte müde den Kopf. »Sie reitet wie der Teufel. Wir haben kaum noch vier Stunden Vorsprung, eher weniger, wenn sie ihre Pferde antreiben. Ich hätte nie gedacht, daß sie so schnell aufholen kann.« »Du weißt doch gar nicht, ob sie es ist«, warf Hendrick ein. »Doch.« Lothar zeigte nicht eine Spur eines Zweifels. »Sie hat geschworen, daß sie mich verfolgen würde.« Seine Stimme war heiser, seine Lippen rissig, seine Augen blutunterlaufen und von dunklen, bläulichen Schatten umrahmt. Sein Arm war bis zum Ellbogen mit einem Verband umwik kelt. Gelber Eiter sickerte durch den Stoff. Um den Hals trug er einen Patronengurt als Schlinge und stützte den Arm zudem noch auf den lackierten schwarzen Aktenkoffer, der am Sattel knopf befestigt war. Er drehte sich um und blickte zurück, aber durch diese kleine Bewegung wurde ihm so schwindlig, daß er schwankte und sich an den Aktenkoffer klammern mußte, um nicht vom Pferd zu fallen. »Pa!« Manfred griff besorgt nach seinem gesunden Arm. »Pa! Ist alles in Ordnung?« Lothar schloß die Augen, bevor er antworten konnte. »Alles in Ordnung«, krächzte er. Er konnte spüren, wie sich die Infek tion in das Fleisch seiner Hand und seines Unterarmes fraß. Die Hitze des Giftes war schon in seinem Blut. Er spürte, wie es in den Drüsen unter den Achseln hämmerte und sich von dort in seinen ganzen Körper ausbreitete. »Weiter«, flüsterte er. »Wir müssen weiter.« Hendrick nahm den Zügel wieder auf, an dem er Lothars 234
Pferd führte. »Warte!« stieß Lothar hervor. »Wie weit bis zur nächsten Wasserstelle?« »Wir sind noch vor morgen mittag dort.« Lothar versuchte sich zu konzentrieren, aber das Fieber um nebelte seinen Verstand. »Die Pferdeeisen. Es ist Zeit für die Pferdeeisen.« Hendrick nickte. Sie hatten die Pferdeeisen aus dem Versteck in den Hügeln mitgenommen. Sie wogen siebzig Pfund – eine schwere Last für eines der Pferde. Es war Zeit, daß sie einen Teil dieser Last loswurden. »Wir legen einen Köder aus, damit die Sache funktioniert«, krächzte Lothar. Die kurze Rast, die hastige Mahlzeit und selbst der starke heiße Kaffee schienen Centaines Müdigkeit nur verstärkt zu haben. Sie betrachtete Blaine von der Seite. Er saß aufrecht und gerade im Sattel, scheinbar unüberwindlich und ohne jede Mü digkeit. Er drehte den Kopf herum, und seine Augen wurden weich, als er sie ansah. »In zehn Minuten machen wir eine kurze Pause«, sagte er sanft. »Mir geht es gut«, protestierte sie. »Wir sind alle müde«, sagte er. Er brach ab, beschattete seine Augen und spähte nach vorn. »Was ist?« fragte sie. »Ich weiß nicht recht.« Er nahm das Fernglas, das um seinen Hals hing, und richtete es auf den dunklen Punkt, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Ich kann noch nicht erkennen, was es ist.« Er reichte Centaines das Fernglas. »Blaine!« rief sie aus. »Die Diamanten! Es ist der Diaman tenkoffer! Sie haben die Diamanten zurückgelassen.« Die Müdigkeit fiel von ihr ab, und bevor er es verhindern 235
konnte, gab sie ihrem Wallach die Fersen und raste im Galopp an den Buschmännern vorbei. Die beiden Ersatzpferde, die sie am Zügel führte, waren gezwungen, ihr zu folgen. »Centaine!« rief Blaine, galoppierte hinter ihr her und ver suchte sie einzuholen. Sergeant Hansmeyer hatte müde im Sattel gehangen, aber als die beiden Anführer davongaloppierten, war er im Nu hell wach. »Die ganze Abteilung, vorwärts!« brüllte er, und der gesamte Trupp stürmte los. Plötzlich bäumte sich Centaines Wallach wiehernd vor Schmerz auf. Sie wäre fast abgeworfen worden, konnte sich aber mit einem Glanzstück der Reitkunst im Sattel halten. Dann begannen auch die Ersatzpferde vor Schmerz zu wiehern und auszuschlagen. Blaine versuchte noch auszuweichen, aber es war bereits zu spät, und sein Pferd brach unter ihm zusam men. »Halt!« schrie er, indem er sich umdrehte und, mit beiden Armen wild gestikulierend, versuchte, Sergeant Hansmeyer und seine Männer aufzuhalten. »Halt! Die ganze Abteilung, halt!« Der Sergeant reagierte prompt, indem er sein Pferd herumriß, um den nachfolgenden Polizisten den Weg zu versperren. Centaine sprang aus dem Sattel und untersuchte die Vorder beine ihres Wallachs. Als sie nichts finden konnte, hob sie ei nen Hinterhuf hoch und konnte nicht fassen, was sie sah. Ein verrostetes Stück Eisen steckte in der Gabel des Pferdehufes, und aus der Wunde tropfte bereits dunkles Blut. Behutsam ergriff Centaine die Metallrosette und versuchte sie herauszuziehen, aber das Eisen war tief eingedrungen, und der Wallach zitterte vor Schmerz. Sie zog und zerrte, bis sie das schreckliche Ding schließlich in der Hand hielt. Dann rich tete sie sich auf und blickte zu Blaine hinüber. Er war ebenfalls mit den Hufen seines Pferdes beschäftigt gewesen und hielt zwei der blutigen Eisenstücke in den Händen. 236
»Pferdeeisen«, erklärte er Centaine. »Ich habe diese ver dammten Dinger seit dem Krieg nicht mehr gesehen.« Es wa ren grob geschmiedete Metallstücke in der Form der allgegen wärtigen Teufelsdornen im afrikanischen Busch – ein Stern mit vier Spitzen, von denen eine stets nach oben ragte, eine drei Zentimeter lange Eisenspitze, die Mensch und Tier schwer verletzte oder die Reifen eines Wagens durchbohrte. Centaine schaute sich um und sah, daß die tückischen Sterne überall herumlagen. Sie machte sich hastig daran, ihre drei Pferde von den Eisen zu befreien. Der Wallach hatte beide Hinterläufe verletzt, bei den Ersatzpferden waren es einmal zwei und einmal drei Hufe. Sergeant Hansmeyer hatte seine Männer absitzen lassen, und sie kamen heran, um Centaine und Blaine zu helfen. Sie mach ten einen schmalen Weg frei, um die Pferde aus dem mit Me tallspitzen übersäten Gebiet hinausführen zu können. »Sechs Pferde«, flüsterte Blaine bitter. »Na warte, wenn ich diesen Bastard erwische.« Er zog sein Gewehr aus dem Sattel schuh und befahl Hansmeyer: »Satteln Sie zwei Ersatzpferde für uns. Teilen Sie das Wasser aus den Flaschen der verwunde ten Pferde auf alle anderen Wasserflaschen auf. Lassen Sie zwei Ihrer Männer das Gebiet nach Pferdeeisen absuchen. Und machen Sie schnell! Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Centaine inspizierte inzwischen den lackierten schwarzen Aktenkoffer, der sie angelockt hatte. Er war leer. Blaines Männer arbeiteten rasch. Ihr Sattel lag nun auf einem schwarzen Wallach, den Sergeant Hansmeyer am Zügel heran führte. Sie wußte, daß sie von nun an sehr vorsichtig reiten mußten, denn wie sie Lothar kannte, hatte er nicht alle Pferde eisen auf einmal ausgelegt. Hansmeyer trat zu ihr. »Wir sind bereit, Madame.« Er reichte ihr die Zügel des Wallachs, und sie stieg auf. Blaine stand, das Gewehr an der Hüfte, mit dem Rücken zu ihnen vor den sechs verstümmelten Pferden, sein Kopf war 237
gesenkt. Dann hob er langsam das Gewehr und legte es an. Er feuerte, ohne abzusetzen. Die Pferde brachen nacheinander zusammen. Als er sich abwandte, konnte Centaine selbst aus dieser Entfer nung seinen bedrückten Gesichtsausdruck sehen. Sie merkte, daß sie weinte. Blaine ritt an ihre Seite. Als er ih re Tränen sah, wandte er sich ab, um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen. »Wir haben fast eine Stunde verloren«, sagte er. »Ganze Ab teilung, vorwärts!« Vor Anbruch der Nacht hielten die Buschmänner die Kolon ne noch zweimal an, und sie mußten ausgelegte Pferdeeisen umgehen. Das kostete jedesmal wertvolle Zeit. »Wir verlieren an Boden«, meinte Blaine. »Sie haben die Gewehrschüsse gehört und sind gewarnt. Sie wissen, daß fri sche Pferde auf sie warten. Sie treiben ihre Tiere an – und das können wir nicht wagen.« Die Landschaft veränderte sich fast übergangslos, als sie aus der Einöde des Buschmannlandes in das leicht bewachsene, etwas menschenfreundlichere Okovangogebiet kamen. Das Wasser lag hier nicht tief unter der Erdoberfläche, und das zeigte sich überall in der Natur. Sie sahen zum ersten Mal, seit sie das Gebiet um Kalkrand hinter sich gelassen hatten, wieder Großwild wie Zebras und Schwarzfersenantilopen. Da diese Tiere täglich trinken mußten, konnte die Wasserstelle, die ihr Ziel war, nur noch ein paar Meilen entfernt sein. Lothar De la Rey war nicht mehr fähig, ohne Hilfe im Sattel zu bleiben. Swart Hendrick ritt auf der einen Seite dicht neben ihm, sein Sohn Klein Boy auf der anderen Seite, so daß sie ihn stützen konnten, wenn er im Fieberwahn tobte und lachte und vom Pferd zu stürzen drohte. Manfred ritt hinter ihnen her und beobachtete seinen Vater besorgt, war aber zu erschöpft und 238
durstig, um ihm zu helfen. Sie kämpften sich mühsam den Hang einer von zahllosen Dünen hinauf, und als sie den Hügelkamm erreichten, richtete sich Swart Hendrick in den Steigbügeln auf und spähte su chend in die sanfte Senke vor ihnen. Dann erwachten seine Lebensgeister, denn die hohen grauen Mopanibäume und die vier großen Schirmakazien waren das, wonach er gesucht hatte. Zwischen ihnen erspähte Hendrick den sanften Schimmer von stehendem Wasser. Die Pferde trotteten mit letzter Kraft den Abhang hinunter und über den kahlen Lehmboden zwischen den Bäumen auf die zusammengeschrumpfte Wasserstelle in der Mitte zu. Das Wasser hatte die Farbe von Milchkaffee, der ganze Tümpel war nicht größer als fünf Meter im Durchmesser und kaum knietief. Hendrick und Klein Boy trieben ihre Pferde hinein und warfen sich mit dem Gesicht nach unten in das lau warme schlammige Wasser. Schnaubend, keuchend und la chend schöpften sie es in den Mund. Manfred half seinem Vater am Teichrand vom Pferd und brachte ihm eilig einen Hut voll Wasser. Lothar trank gierig. Sein Gesicht war hochrot und geschwollen, seine Augen glänz ten fiebrig. Swart Hendrick watete grinsend ans Ufer, doch plötzlich fiel ihm etwas ein, und er blieb stehen. Das Grinsen verschwand von seinen dicken schwarzen Lippen, und er schaute sich um. »Niemand hier«, knurrte er. Er rannte auf die primitive Hütte zu, die im Schatten einer Schirmakazie stand. Die Hütte war leer und verlassen. Die Holzkohle vom Lager feuer lag in weitem Umkreis verstreut, die frischesten Spuren waren schon Tage, nein, Wochen alt. Hendrick durchkämmte den Wald und kam schließlich zu Lothar zurück. »Sie sind desertiert«, sagte Lothar, bevor Hendrick den Mund aufmachen konnte. »Ich hätte es wissen müssen. Zehn Pferde mit einem Wert von jeweils fünfzig Pfund. Die Versuchung 239
war zu groß.« Die Rast und das Wasser schienen ihn gestärkt zu haben. »Sie müssen ein paar Tage, nachdem wir fort waren, ausge rissen sein.« Hendrick ließ sich neben Lothar nieder. »Sicher haben sie die Pferde genommen und an die Portugiesen ver kauft und sind dann zu ihren Weibern zurückgekehrt.« »Versprich mir, daß du sie ganz langsam tötest, wenn du sie wiedersiehst – ganz langsam, Hendrick.« »Ich weiß schon, wie ich das mache«, flüsterte Hendrick. »Zuerst lasse ich sie ihre eigenen Hoden essen. Ich schneide sie ihnen mit einem stumpfen Messer ab und füttere sie ihnen in kleinen Stücken.« Beide schwiegen und starrten auf die vier Pferde, die am Teichrand standen. Ihre Bäuche waren mit Wasser gefüllt, aber sie ließen kläglich die Köpfe hängen, so daß ihre Nüstern fast den Boden berührten. »Noch siebzig Meilen bis zum Fluß, noch mindestens siebzig Meilen«, brach Lothar das Schweigen und begann den schmut zigen Verband von seinem Arm zu schälen. Die Schwellung war grotesk. Seine Hand hatte die Form und die Größe einer reifen Melone. Die Bißwunden waren tiefe, schleimige gelbe Löcher, deren Ränder sich wie Blütenblätter öffneten, und der süßliche, widerliche Gestank der Fäulnis stieg Lothar in die Nase. Oberhalb des Ellbogens war die Schwellung nicht so stark, aber hellrote Linien verliefen in Richtung von Lothars Schul ter. Er hob den Arm und untersuchte behutsam die geschwolle nen Drüsen in der Achselhöhle. Sie waren hart wie Gewehrku geln. »Brand«, dachte er. Der Unterarm hätte schleunigst amputiert werden müssen. Einen Augenblick dachte er sogar daran, die Operation selbst vorzunehmen. »Ich kann es nicht«, sah er ein. »Ich kann nicht einmal daran denken. Ich muß durchhalten, solange es geht – um Manfreds willen.« 240
Er blickte den Jungen an. »Ich brauche etwas zum Verbin den.« Er versuchte, seiner Stimme einen festen und beruhigen den Klang zu geben, aber es wurde nur ein Krächzen. Der Jun ge schreckte hoch und riß seine Augen von dem verstümmelten Arm los. Lothar bestäubte die eiternden Wunden mit Karbolkristallen und verband sie mit Stoff streifen von einer Decke. Ihre Er satzkleidung hatten sie bereits für Verbände verwendet. »Wieviel Vorsprung haben wir, Hendrick?« fragte er, als er den Verband verknotete. »Wir haben Zeit gewonnen«, meinte Hendrick. »Sie müssen ihre Pferde schonen. Aber sieh dir unsre an.« Eines der Tiere hatte sich am Wasserrand hingelegt – das Zeichen der Kapitulation. »Fünf oder sechs Stunden Vorsprung.« Bis zum Fluß waren es noch siebzig Meilen, und sie hatten keine Garantie, daß die Verfolger vor der Grenze haltmachen und sie nicht weiter verfolgen würden. »Manfred«, flüsterte er. »Bring mir die Diamanten.« Der Junge legte den Leinensack neben seinen Vater, und der begann vorsichtig auszupacken. Es waren achtundzwanzig kleine braune Kartonpapierpäck chen mit roten Wachssiegeln. Lothar teilte sie in vier Haufen von jeweils sieben Paketen. »Gleiche Anteile«, sagte er. »Den Wert der einzelnen Pakete können wir nicht schätzen, also teilen wir sie in vier gleiche Teile und lassen den Jüngsten als erstes wählen.« Er blickte Hendrick an. »Einverstanden?« Swart Hendrick begriff, daß das Teilen der Beute zugleich das Eingeständnis war, daß sie nicht alle den Fluß erreichen würden. Hendrick senkte die Augen. Er und dieser goldhaarige weiße Teufel waren seit ihrer frühesten Jugend zusammen. Er hegte eine starke Abneigung und einen tiefen Argwohn gegen alle weißen Männer, außer gegen diesen einen. Sie hatten so 241
vieles gemeinsam gewagt, so vieles gemeinsam gesehen und so vieles geteilt. Er hielt es nicht für Liebe oder Freundschaft. Doch der Gedanke an die Trennung, die unmittelbar vor ihnen lag, erfüllt ihn mit tiefer Verzweiflung, so als würde ein Teil von ihm sterben. »Einverstanden«, sagte er mit seiner tiefen Stimme und schaute zu dem weißen Jungen auf. Für Hendrick waren der Mann und der Junge eine Einheit. Was er für den Vater fühlte, galt auch für den Sohn. »Wähle, Mani«, befahl er. »Ich weiß nicht.« Manfred verschränkte die Hände hinter dem Rücken – es widerstrebte ihm, die Pakete zu berühren. »Mach schon«, fauchte sein Vater, und er streckte gehorsam den Arm aus und berührte den ihm zunächst liegenden Haufen. »Nimm sie dir«, befahl Lothar. Dann blickte er den schwar zen Jungen an. »Wähle du, Klein Boy.« Zwei Haufen lagen noch da, und Lothar grinste. »Wie alt bist du, Hendrick?« »So alt wie der verbrannte Berg und so jung wie die erste Blume des Frühlings«, erwiderte der Ovambo, und beide lach ten. Das Lachen kostete Hendrick Mühe. »Du mußt jünger sein als ich«, sagte er. »Denn ich habe immer wie ein Kindermäd chen auf dich aufpassen müssen. Wähle!« Lothar schob Manfred die von ihm gewählten Pakete zu. »Pack sie in den Hafersack«, befahl er. »Und dann füll die Wasserflaschen nach. Bis zum Fluß sind es nur noch siebzig Meilen.« Eines der Pferde konnte nicht mehr aufstehen, und sie ließen es am Teichrand liegen. Ein zweites brach nach der ersten Mei le zusammen, aber die letzten beiden trotteten tapfer weiter. Das Gewicht eines Mannes konnten sie zwar nicht mehr tragen, aber das eine war mit den Wasserflaschen beladen, das andere diente Lothar als Stütze. Er hatte seinen gesunden Arm um den Hals des Pferdes geschlungen und wankte neben ihm her. 242
Die anderen drei führten abwechselnd die Pferde am Zügel, und so schleppten sie sich entschlossen nordwärts. Centaine zügelte ihr Pferd auf dem Dünenkamm und schaute in die Senke unter ihnen. Sie erkannte die hohen Bäume, von deren Äste sie vor Jahren ihren ersten wilden afrikanischen Elefanten erblickt hatte. Dann sah sie das Wasser, und alles andere war vergessen. »De la Rey hat hier keine Ersatzpferde vorgefunden«, erklär te Centaine, nachdem die Pferde getränkt waren. »Sind Sie ganz sicher?« »Kwi sagt, daß zwei Männer mit vielen Pferden hier gewartet haben, aber schon vor vielen Tagen fortgeritten sind. Mehr als bis zu den zehn Fingern seiner Hände kann Kwi nicht zählen, und es waren mehr Tage. Ich bin ganz sicher, daß Lothar De la Rey keine frischen Pferde vorgefunden hat.« »Dann ist vermutlich etwas schiefgegangen. Er hätte seine Pferde niemals so geschunden, wenn er nicht mit Ersatzpferden gerechnet hätte.« »Kwi sagt, daß sie zu Fuß weitergegangen sind. Sie führen die übriggebliebenen Pferde am Zügel, weil sie offenbar zu schwach sind, einen Mann zu tragen.« Sie brach ab, als Kwi am Waldrand einen schrillen Schrei ausstieß, und beide eilten hin zu ihm. »Sie sind verzweifelt«, sagte Blaine, als sie die zurückgelas sene Ausrüstung unter der Akazie sahen. Er drehte den Haufen mit der Stiefelspitze um. »Sie haben sogar Munition zurückge lassen – und, ja, bei Gott, auch die letzten dieser verdammten Pferdeeisen. Sie haben alles Überflüssige zurückgelassen und versuchen einen letzten verzweifelten Wettlauf, um den Fluß zu erreichen.« »Sehen Sie hier, Blaine«, rief Centaine, und er trat zu ihr und untersuchte den kleinen Haufen verschmutzter Bandagen, der 243
zu ihren Füßen lag. »Sein Zustand verschlechtert sich«, murmelte Centaine. »Ich glaube, er ist ein sterbender Mann, Blaine.« Unerklärlicherweise hatte er das Bedürfnis, ihr sein Mitge fühl auszudrücken, sie zu beruhigen. »Wenn wir ihn zu einem Doktor bringen können –« Er brach ab, als ihm bewußt wurde, wie absurd diese Regung war. Sie verfolgten einen gefährli chen Verbrecher, der, das wußte Blaine, nicht zögern würde, ihn bei der erstbesten Gelegenheit niederzuschießen. »Sergeant Hansmeyer«, rief er schroff. »Kümmern Sie sich darum, daß die Männer etwas zu essen bekommen und die Pferde noch einmal getränkt werden. Wir brechen in einer Stunde auf.« Er wandte sich wieder an Centaine und sah er leichtert, daß sie sich gefaßt hatte. »Eine Stunde ist nicht lang – wir sollten jede Minute nützen.« Sie saßen gemeinsam im Schatten unter einem Baum. Keiner von ihnen hatte viel gegessen, Hitze und Müdigkeit ließen kei nen rechten Appetit aufkommen. Blaine nahm eine Zigarre aus der Büchse und besann sich dann eines anderen. Er legte die Zigarre in die Büchse zurück und steckte sie in die Tasche sei nes Uniformrockes. »Als ich dich das erstemal sah, dachte ich, du wärst so strah lend, so hart und so schön wie einer deiner Diamanten«, sagte er. »Und jetzt?« fragte sie. »Ich habe dich um verletzte Pferde weinen gesehen, ich habe gespürt, daß du eine tiefe Zuneigung empfindest für einen Mann, der dir grausames Unrecht zugefügt hat«, erwiderte er. »Als wir Kalkrand verließen, liebte ich dich. Ich glaube sogar, ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt. Aber jetzt kommt dazu, daß ich dich auch gern habe und achte.« »Ist das etwas anderes als Liebe?« »Es ist etwas ganz anderes, als verliebt zu sein«, versicherte er, und sie schwiegen eine Weile. 244
»Blaine, ich war immer allein – mit einem kleinen Kind, das ich beschützen und versorgen mußte. Als ich als junges Mäd chen in dieses Land kam, machte ich hier in dieser Wüste eine harte, unerbittliche Lehrzeit durch. Ich mußte feststellen, daß es außer mir niemanden gab, auf den ich mich verlassen konn te. Und das hat sich nicht geändert. Ich habe noch immer nie manden, auf den ich mich verlassen kann – außer mich selbst.« »Ich wünschte, es wäre nicht so.« Er versuchte nicht, ihrem Blick auszuweichen, sondern sah sie offen an. »Aber du hast Isabella und die Mädchen.« Er nickte. »Ja, sie können nicht für sich selbst sorgen.« »Aber ich kann – stimmt’s, Blaine?« »Sei bitte nicht so verbittert. Ich habe das nicht gewollt. Ich habe dir nie irgendwelche Versprechungen gemacht.« »Es tut mir leid.« Sie war sofort voll Reue. »Du hast recht. Du hast mir nie etwas versprochen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Unsere Stunde ist vorbei«, sagte sie und sprang leichtfüßig auf. »Ich werde einfach weiterhin stark und hart sein müssen«, sagte sie. »Aber wirf es mir nie wieder vor, Blaine.« Seit dem Wasserloch der Elefanten hatten sie fünf ihrer Pfer de töten müssen, und Blaine war dazu übergegangen, abwech selnd reiten und absitzen zu lassen, um die verbliebenen Tiere zu schonen. Den Buschmännern machte Durst, Müdigkeit und Hitze nichts aus. »Der einzige Trost ist, daß es De la Rey noch viel schlechter geht als uns.« Aus der Fährte konnten sie ersehen, daß die Flüchtigen, denen nur noch ein einziges Pferd geblieben war, immer langsamer wurden. »Und es sind noch über dreißig Mei len bis zum Fluß.« Blaine schaute auf die Uhr. »Zeit zum Mar schieren, tut mir leid.« Centaine stöhnte leise, als sie sich aus dem Sattel schwang. 245
Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte, und die Sehnen ihrer Knie und Waden fühlten sich an wie gespannte Drahtseile. Sie schleppten sich mühsam vorwärts, jeder Schritt kostete Anstrengung. Centaines Zunge war geschwollen und lederartig, die Schleimhäute in ihrem Rachen und ihrer Nase schmerzten, so daß sie kaum atmen konnte. Das leise, schwappende Ge räusch des Wassers in der Wasserflasche wurde zur Qual. Sie blickte immer wieder auf ihre Uhr und redete sich ein, daß sie stehengeblieben war, sie nur vergessen hatte, sie aufzuziehen, und daß Blaine die Abteilung jeden Augenblick halten lassen würde, um sie trinken zu lassen. Niemand sprach freiwillig. Alle Befehle waren kurz und ein silbig, jedes Wort eine Anstrengung. Blaine lächelte ihr zu, aber sie sah, daß ihn das ebenfalls Mühe kostete. »Diese Hügel sind auf der Karte nicht einge zeichnet«, sagte er. Sie hatte die Hügel nicht bemerkt, aber als sie aufblickte, sah sie ihre glatten kahlen Rücken über dem Wald emporragen. Centaine war nie so weit nördlich gewesen. Sie kannte dieses Gebiet nicht. »Ich glaube nicht, daß diese Gegend jemals erforscht worden ist«, flüsterte sie. »Nur der Fluß selbst wurde kartographisch erfaßt.« »Wir werden trinken, wenn wir am Fuß des ersten Hügels sind«, versprach er. Dann verfielen sie wieder in Schweigen. Die Buschmänner führten sie geradewegs auf die Hügel zu. Am Fuß des ersten Granitkegels fanden sie das letzte von Lo thar De la Reys Pferden. Es lag ausgesteckt im Sand, hob aber den Kopf, als sie näher kamen. Die Buschmänner umkreisten das sterbende Tier und berieten sich aufgeregt. Kwi rannte eine kurze Strecke auf den grauen Granitkegel zu und blickte hoch. Die anderen folgten seinem Beispiel und starrten nach oben. Der Granitkegel war achtzig oder neunzig Meter hoch. Seine Oberfläche war nicht so glatt, wie es aus der Entfernung ausge 246
sehen hatte. Es gab tiefe Spalten, die teilweise seitlich, teilwei se lotrecht vom Fuß bis zum Gipfel verliefen. Dadurch entstan den kleine, scharfkantige Stufen, die ein Erklettern ermöglich ten, wenn auch unter sehr schwierigen und gefährlichen Bedin gungen. Auf dem Gipfel gab es mehrere vollkommen runde Granit blöcke von der Größe eines mittleren Hauses, die eine symme trische Krone bildeten. Der Anblick erinnerte Centaine an die Dolmen, die sie als Kind in Frankreich besichtigt hatte, oder an einen der alten Mayatempel im südamerikanischen Dschungel, die sie von Bildern kannte. Blaine lenkte sein Pferd auf den Fuß des Granitkegels zu, als etwas auf dem Hügelrücken Centaines Blick anzog. Es war nur eine winzige Bewegung im Schatten, zwischen den Granit blöcken auf dem Gipfel, und sie stieß unwillkürlich einen Warnruf aus. »Vorsicht, Blaine! Auf dem Gipfel –« Er stand mit den Zügeln in der Hand neben seinem Pferd und starrte nach oben. Aber noch bevor er auf ihre Warnung reagie ren konnte, ertönte ein dumpfer Laut. Erst als Blaines Pferd schwankte und zusammenbrach, erkannte Centaine, daß dieses Geräusch vom Einschlag einer großkalibrigen Kugel in lebendes Fleisch stammte. Für einen Augenblick war Centaine verwirrt. Dann hörte sie den scharfen Knall der Mauser und begriff, daß die Kugel schneller gewesen war als der Schall. Die Polizisten um sie herum riefen durcheinander und hatten mit ihren erschreckten Pferden alle Hände voll zu tun. Centaine wirbelte herum und sprang mit einem Satz in den Sattel. Hastig riß sie das Pferd herum. »Blaine, ich komme!« rief sie. Er stand neben seinem toten Pferd, und sie ritt geradewegs auf ihn zu. »Halte dich am Steigbügel fest«, rief sie, und die Mausergewehre auf dem Hü gelrücken spien ihre Ladungen aus. Centaine sah, wie Sergeant 247
Hansmeyers Pferd unter ihm zusammenbrach und er kopfüber aus dem Sattel geschleudert wurde. Blaine rannte ihr entgegen und griff nach dem Steigbügel. Sie riß das Pferd herum und galoppierte auf den schütteren Mopaniwald zu, der zweihundert Meter hinter ihnen begann. »Bist du verletzt?« rief sie Blaine zu. »Reite weiter!« Blaine hielt keuchend mit dem galoppierenden Pferd Schritt. Centaine blickte zurück. Das Gewehrfeuer dauerte an. Einer der Polizisten kehrte um, um Sergeant Hans meyer zu helfen, aber kaum hatte er ihn erreicht, da brach sein Pferd mit einer Kugel im Kopf unter ihm zusammen. »Sie schießen die Pferde ab!« schrie Centaine, und ihr wurde bewußt, daß ihr Pferd als einziges übriggeblieben war. Alle anderen lagen, jedes mit einem einzigen Kopfschuß getötet, am Boden. Es war eine Meisterleistung der Schießkunst, denn die Männer auf dem Gipfel feuerten aus einer Entfernung von hundertzwanzig Metern oder mehr. Centaine entdeckte vor sich einen flachen Graben, den sie vorher nicht bemerkt hatte. An seinem Rand lag ein Haufen abgestorbener Mopaniäste, die eine natürliche Palisade bilde ten. Sie ritt darauf zu, zwang das erschöpfte Pferd zu einem Sprung in die Senke und riß nach dem Sprung sofort seinen Kopf hoch, um es anzuhalten. Blaine war gestürzt und die Böschung hinuntergerollt, aber er stand sofort auf. »Ich bin wie ein Anfänger in diesen Hinterhalt hineingelaufen«, fauchte er. Er riß das Gewehr aus Centaines Sattelschuh und kroch hastig die Böschung hinauf. Am Fuß des Granitkegels lagen die toten Pferde, und Serge ant Hansmeyer und seine Polizisten rannten hakenschlagend auf die Deckung zu. Die Mausergewehre krachten, und die Kugeln wirbelten gelbe Staubfontänen zu ihren Füßen auf. Die Buschmänner waren schon beim ersten Schuß wie vom Erdboden verschwunden. Centaine wußte, daß sie sie nicht wiedersehen würden. Sie waren längst auf dem Rückweg zu 248
ihrer Sippe. Blaine stellte die Kimme des Lee-Enfield-Gewehres auf vierhundert Meter ein und zielte auf den Hügelrücken. Er feu erte so schnell, wie es der Gewehrbolzen erlaubte, und bestrich den Hügelrücken mit Kugeln, um den fliehenden Polizisten Feuerschutz zu geben. Sergeant Hansmeyer und seine Männer erreichten nachein ander die Senke und stolperten schwitzend und keuchend über die Böschung. Mit Befriedigung sah Blaine, daß alle ihre Ge wehre bei sich hatten und die Munitionsgurten umgeschnallt trugen – das machte fünfundsiebzig Schuß pro Mann. »Sie haben die Pferde mit Kopfschüssen erledigt, aber keinen einzigen Mann verletzt«, keuchte Hansmeyer, nach Atem rin gend. »Auf mich haben sie keinen einzigen Schuß abgefeuert«, stieß Centaine hervor. Sie erkannte schaudernd, daß er ihr mü helos eine Kugel in den Rücken hätte schießen können. Blaine lächelte grimmig. »Der Kerl ist kein Idiot. Er weiß, daß er verspielt hat, und er wird es nicht darauf ankommen lassen, der langen Liste von Anklagepunkten auch noch einen Mord hinzuzufügen.« Er wandte sich an Hansmeyer: »Wie viele Männer sind auf dem Hügel?« fragte er. »Ich weiß es nicht«, antwortete Hansmeyer. »Aber bestimmt mehr als einer. Einer allein kann nicht so schnell feuern.« »Schön, dann wollen wir erst herausfinden, wie viele es sind.« Blaine erklärte Centaine und Hansmeyer seinen Plan. Centaine nahm sein Fernglas und kroch fort bis zu einem dichten Grasbüschel, das am Grabenrand wuchs. Sie benützte das Grasbüschel als Deckung und hob ihren Kopf nur so weit hoch, daß sie den Gipfel des Hügels sehen konnte. Sie stellte das Fernglas ein und rief: »Fertig!« Blaine stülpte seinen Helm über den Lauf seines Gewehres und hob es hoch. Hansmeyer feuerte zwei Schüsse in die Luft, um die Aufmerksamkeit der Schützen auf dem Hügel auf sich 249
zu lenken. Das Gewehrfeuer vom Hügelrücken antwortete fast augen blicklich. Mehrere Schüsse wurden gleichzeitig abgefeuert, und die Kugeln wirbelten nur wenige Zentimeter vor dem Khaki helm den Staub auf. »Zwei oder drei«, rief Hansmeyer. »Drei«, bestätigte Centaine und ließ das Fernglas sinken. »Ich sah drei Köpfe.« »Gut.« Blaine nickte zufrieden. »Dann haben wir sie endlich, es ist nur noch eine Frage der Zeit.« »Blaine«, sagte Centaine, als sie ihre Wasserflasche vom Sat telknopf losmachte, »das ist alles, was wir noch haben.« Sie schüttelte die Flasche, in der sich kaum ein Viertelliter Wasser befand. »Wir werden die anderen Flaschen holen können, sobald es dunkel ist«, versicherte er und fügte barsch hinzu: »Sergeant, nehmen Sie zwei Männer und versuchen Sie, auf die andere Seite des Hügels zu kommen. Sorgen Sie dafür, daß keiner durch die Hintertür entwischt.« Lothar De la Rey saß gegen einen der riesigen runden Gra nitblöcke gelehnt auf dem Gipfel des Hügels. Er saß im Schat ten, das Mausergewehr lag quer über seinen Oberschenkeln. Er blickte nach Süden über die Ebene und den schütteren Mopa niwald, in die Richtung, aus der die Verfolger kommen wür den. Die Kletterei über die steile Granitwand war eine unge heure Anstrengung gewesen, und er hatte sich noch nicht ganz davon erholt. »Laß mir eine Wasserflasche hier«, befahl er. Hendrick stell te die Flasche neben ihn. »Wir haben noch eine volle Flasche«, erklärte er. »Damit schaffen wir es bis zum Fluß.« »Gut.« Lothar nickte und überprüfte die anderen Ausrü stungsgegenstände, die neben ihm auf der Granitplattform aus 250
gebreitet lagen. Da waren einmal vier Handgranaten. Sie hatten fast zwanzig Jahre zusammen mit den Pferdeeisen und den anderen Ausrü stungsgegenständen in dem Versteck gelegen, daher konnte er sich nicht darauf verlassen, daß sie funktionierten. Klein Boy hatte sein Gewehr und seinen Munitionsgurt zu den Granaten gelegt. Lothar besaß also zwei Gewehre und hundertfünfzig Schuß Munition – mehr als genug, wenn die Handgranaten funktionierten. Wenn sie nicht funktionierten, machte es auch nicht viel aus. »In Ordnung«, sagte er gelassen. »Ich habe alles, was ich brauche. Ihr könnt gehen.« Hendrick drehte seinen großen runden Kopf und spähte nach Süden. Dann wandte er sich mit einem Ruck ganz um und kniff die Augen zusammen. »Staub!« sagte er. »Es ist ein blasser Dunstschleier über den Baumwipfeln, noch etwa fünf Meilen entfernt.« »Ja.« Lothar hatte die Staubwolke schon Minuten vorher ent deckt. »Es könnte auch eine Zebraherde sein, oder ein Wirbel sturm, aber darauf würde ich nicht wetten. Macht euch auf den Weg.« Hendrick gehorchte nicht sofort. Er starrte in die bernstein farbenen Augen des weißen Mannes. Hendrick hatte weder widersprochen noch protestiert, als Lo thar erklärte, was zu tun war. Es war richtig, es war notwendig. Sie hatten immer ihre Verwundeten zurückgelassen, oft nur mit einer Pistole bewaffnet, falls der Schmerz unerträglich oder die Hyänen zu frech wurden. Doch diesmal hatte Hendrick das Bedürfnis, etwas zu sagen. Er wußte, daß er einen Teil seines Lebens hier auf diesem kahlen Felsen zurückließ. »Ich werde auf den Jungen aufpassen«, sagte er nur, und Lo thar nickte. »Ich möchte mit Manfred reden.« Er leckte sich über die trockenen, aufgeplatzten Lippen. »Wartet unten auf ihn. Es 251
dauert nur eine Minute.« »Komm«, stieß Hendrick hervor, und Klein Boy trat mit ihm an die Felskante und verschwand. Hendrick blieb stehen und blickte zurück. Dann hob er die rechte Hand. »Friede sei mit dir«, sagte er nur. »Geh in Frieden, alter Freund«, murmelte Lothar. Er hatte ihn noch nie Freund genannt, und Hendrick zuckte unter dem Wort zusammen. Dann wandte er sich ab. Einen Augenblick später war er verschwunden. Lothar starrte sekundenlang hinter ihm her, dann schüttelte er das aufkommende Selbstmitleid ab. »Manfred«, sagte er, und der Junge schreckte auf. Er war die ganze Zeit so nahe wie möglich bei seinem Vater gesessen und hatte ihn angestarrt, hatte bange jedes Wort und jede Geste verfolgt. »Pa«, flüsterte er. »Ich will nicht gehen. Ohne dich kann ich nicht sein.« Lothar machte eine ungeduldige Geste. »Du wirst tun, was ich dir sage.« »Pa –« »Du hast mich noch nie enttäuscht, Mani. Ich war immer stolz auf dich. Mach das jetzt nicht kaputt. Laß mich nicht ent decken, daß mein Sohn ein Feigling ist –« »Ich bin kein Feigling!« »Dann wirst du tun, was du zu tun hast«, sagte Lothar schroff, und bevor Manfred neuerlich protestieren konnte, be fahl er: »Bring mir den Hafersack.« Lothar stellte den Beutel zwischen seine Füße und machte mit seiner gesunden Hand den Riemen auf. Er nahm eines der Pakete heraus und riß mit den Zähnen das dicke braune Papier auf. Er schüttete die Steine auf dem Felsen neben sich aus. Dann wählte er zehn der größten und hellsten Diamanten aus. »Zieh deine Jacke aus«, befahl er. Und nachdem Manfred ihm das Kleidungsstück gegeben hatte, bohrte er mit seinem 252
Taschenmesser ein winziges Loch in den Futterstoff. »Diese Steine sind viele tausend Pfund wert. Das reicht, bis zu erwachsen bist und eine Schulausbildung hast«, erklärte er, während er die Diamanten nacheinander mit dem Zeigefinger in das Futter der Jacke steckte. »Aber diese anderen hier – es sind zu viele, zu schwer und zu auffällig, um sie zu verstecken. Sie wären dein Todesurteil.« Er stand mühsam auf. »Komm!« Er führte Manfred zwischen den Granitblöcken hindurch, in dem er sich an den Felsen abstützte, um nicht zu fallen. »Hier.« Er ließ sich stöhnend auf die Knie sinken, und Man fred kauerte neben ihm nieder. Zu ihren Füßen war die Granit plattform wie von einer Axt gespalten. Die Spalte war oben nur zwei Handspannen breit und so tief, daß sie den Grund nicht sehen konnten. Es mußten zehn Meter oder mehr sein. Nach unten verengte sich der Spalt immer mehr. Lothar ließ den Hafersack mit den Diamanten über der Öff nung baumeln. »Merk dir diese Stelle gut«, flüsterte er. »Schau oft zurück, wenn ihr nach Norden geht, damit du dir diesen Hügel einprägst. Die Steine werden auf dich warten, bis du sie brauchst.« Lothar öffnete die Finger, und der Hafersack fiel in die Spal te. Sie hörten den Leinenstoff im Fallen gegen die Granitwände streifen und den dumpfen Aufprall, als er am Boden landete. Seite an Seite starrten sie hinunter und konnten gerade noch die hellere Farbe des Leinenstoffes ausmachen, aber das würde der Aufmerksamkeit eines jeden entgehen, der nicht genau wußte, wo er suchen mußte. »Das ist mein Vermächtnis an dich, Mani«, flüsterte Lothar und kroch von der Spalte zurück. »Also dann, Hendrick wartet auf dich. Geh jetzt.« Er hätte seinen Sohn gern ein letztes Mal umarmt. »Geh!« befahl er, und Manfred warf sich schluchzend auf seinen Vater. »Ich möchte bei dir bleiben«, heulte er. 253
Lothar packte sein Handgelenk und hielt ihn auf Distanz. »Willst du, daß ich mich deiner schämen muß?« fauchte er. »Willst du, daß ich dich heulend in Erinnerung behalte?« »Pa, schick mich nicht fort, bitte. Laß mich hierbleiben.« Lothar wich zurück, ließ Manfreds Handgelenk los und schlug ihm mit der flachen Hand links und rechts ins Gesicht. Die kräftigen Schläge hinterließen hellrote Flecken auf seinen blassen Wagen. Er starrte Lothar mit großen, ungläubigen Au gen an. »Verschwinde endlich«, zischte Lothar und gab sich alle Mühe, seine Stimme verächtlich klingen zu lassen. »Ich will keine flennende kleine Göre am Hals haben. Verschwinde, bevor ich den Riemen nehme!« Manfred rappelte sich auf und wich zurück. Er starrte seinen Vater noch immer mit erschreckten, entsetzten Augen an. »Los! Hau ab!« Lothars Miene blieb hart, seine Stimme klang wütend. »Verschwinde!« Manfred drehte sich um und stolperte zur Felskante. Dort wandte er sich noch einmal um und hob die Hände. »Pa! Bitte –« »Geh, verdammt noch mal. Geh endlich!« Der Junge kletterte über den Felsrand, die Geräusche seines schwerfälligen Ab stiegs wurden allmählich leiser und verschwanden schließlich ganz. Erst dann ließ Lothar seine Schultern sinken und schluchzte auf. Plötzlich begann er lautlos zu weinen, und sein ganzer Körper bebte. »Verzeih mir, mein Sohn«, flüsterte er mit trä nenerstickter Stimme. »Es gab keinen anderen Weg, dich zu retten. Verzeih mir, bitte.« Lothar mußte das Bewußtsein verloren haben, denn als er aufschreckte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wo er sich befand und wie er hierher gekommen war. Dann stieg ihm der 254
Gestank seines Armes in die Nase, und alles fiel ihm wieder ein. Er kroch zur Felskante und blickte nach Süden. Nun sah er seine Verfolger zum ersten Mal, und selbst aus der Entfernung von über einer Meile erkannte er die beiden elfenhaften Gestal ten, die vor der Reiterkolonne herliefen. »Buschmänner«, flüsterte er. Nun begriff er, warum sie so rasch hatten aufholen können. »Sie hat ihre zahmen Busch männer auf meine Fährte gesetzt.« Er wandte seine Aufmerksamkeit den Reitern zu, die den Buschmännern folgten. »Sieben«, flüsterte er und kniff die Augen zusammen, um eine kleinere weibliche Gestalt unter ihnen zu entdecken. Aber sie waren abgestiegen und führten ihre Pferde am Zügel, und die Mopanibäume nahmen ihm die Sicht. Seine einzige Sorge war, die Verfolger so lange wie möglich aufzuhalten und sie davon zu überzeugen, daß sich die ganze Bande noch hier auf dem Gipfel befände. Mit jeder Stunde, die er gewinnen konnte, stiegen Hendricks und Manis Chancen zu entkommen. Er wandte seine ganze Aufmerksamkeit den Vorbereitungen zu. Mit einer Hand war das eine langsame und mühevolle Ar beit: Er klemmte Klein Boys Gewehr in eine Nische des Gra nitblockes, so daß der Lauf nach unten auf die Ebene gerichtet war. Dann schlang er den Riemen einer Wasserflasche um den Abzug und führte das andere Riemenende zu seiner im Schat ten liegenden Position hinter einem Granitvorsprung. Er mußte für einen Augenblick ausruhen, weil ihm schwarz vor den Augen wurde und die Beine unter ihm nachgaben. Er spähte über die Felskante und sah, daß die Reiter inzwischen viel näher gekommen waren. Diesmal konnte er Centaine aus machen, die in ihrer Reithose sehr schlank und knabenhaft aus sah. Trotz Fieber und Erschöpfung und trotz seiner verzweifelten Lage empfand er noch immer eine bittersüße Bewunderung für 255
sie. »Bei Gott, sie gibt niemals auf«, murmelte er. »Sie würde mich bis in die Hölle verfolgen.« Er kroch zu den leeren Wasserflaschen und legte drei von ih nen getrennt am Rand des Abgrundes nieder. Dann knotete er die Lederriemen zusammen, so daß er alle drei Flaschen mit einem einzigen Zug am Riemen gleichzeitig hochschnellen lassen konnte. »Mehr kann ich nicht tun«, flüsterte er. »Außer gezielt zu schießen.« Aber sein Kopf dröhnte, und das Fieber trübte ihm die Sicht. Seine Kehle schmerzte vor Durst, und sein ganzer Körper glühte. Er schraubte vorsichtig die Wasserflasche auf und trank be herrscht. Sofort fühlte er sich wieder besser, und sein Blick wurde klar. Er schraubte die Flasche zu und stellte sie zusam men mit der übrigen Munition neben sich. Dann legte er sein Jackett zusammengerollt auf die Felskante und bettete die Mauser darauf. Die Verfolger waren am Fuß des Hügels ange kommen und umstanden sein letztes Pferd. Lothar hob die gesunde Hand vor sein Gesicht und streckte die Finger aus. Die Hand zitterte nicht, sie war ebenso ruhig wie der Felsen, auf dem er lag. Er drücke den Gewehrkolben ans Kinn. »Die Pferde«, flüsterte er. »Ohne Pferde können sie Mani nicht verfolgen –« Dann holte er tief Atem und schoß Blaine Malcomess’ Stute mitten in die weiße Blesse an der Stirn. Noch während der Schuß von den Felsen widerhallte, riß Lo thar den Bolzen des Mausergewehres zurück und feuerte aber mals, doch diesmal zog er gleichzeitig an dem Riemen, der am Abzug des zweiten Gewehres befestigt war, und der Widerhall der beiden Schüsse überschnitt sich. Der doppelte Widerhall würde selbst einen erfahrenen Soldaten glauben machen, daß sich mehrere Männer auf dem Gipfel befanden. Eigenartigerweise war das Fieber in diesem Augenblick äu ßerster Anstrengung zurückgegangen. Lothars Blick war klar, 256
seine Hand fest und sicher, als er ein Pferd nach dem anderen anvisierte und niederstreckte. Bald waren alle tot außer einem: Centaines Pferd. Er visierte es an. Sie galoppierte, an den Pferdehals ge schmiegt, auf den Mopaniwald zu, und an ihrem Steigbügel hing ein Mann. Lothar nahm den Zeigefinger wieder vom Ab zug. Es war eine instinktive Reaktion. Er war nicht imstande, einen Schuß auch nur in ihre Richtung abzufeuern. Statt dessen richtete er den Lauf auf die anderen vier, die ei lig auf den Mopaniwald zustrebten. Sie waren ein leichtes Ziel, er hätte jeden von ihnen mit einer einzigen Kugel niederstrek ken können. Statt dessen machte er sich einen Spaß daraus, zu sehen, wie nahe er an ihnen vorbeischießen konnte, ohne einen zu treffen. Er lachte, während er wie rasend den Abzug betätig te. Als der letzte der flüchtenden Männer im Wald verschwun den war, stellte er fest, daß er vor Anstrengung zitterte und schwitzte. Er kroch zum zweiten Gewehr und lud es nach. Dann wälzte er sich in den Schatten des Granitblockes zurück. »Als nächstes werden sie versuchen, mich abzulenken«, überlegte er. »Sie werden mich herausfordern und Ausschau halten.« Er sah den Helm einladend über dem Rand der Senke auftau chen und grinste. Das war ein uralter Trick, geradezu eine Be leidigung, daß sie ihn damit zu übertölpeln versuchten. »Na schön!« spottete er. »Mal sehen, wer hier wen überli stet!« Er feuerte beide Gewehre gleichzeitig ab und zog einen Au genblick später an dem Riemen, der mit den leeren Wasserfla schen verbunden war. Aus der Entfernung würde die Bewe gung der runden, mit Fell überzogenen Wasserflaschen ausse hen wie die Köpfe der Schützen. »Jetzt werden sie Männer aussenden, um den Hügel zu um 257
gehen«, murmelte er und hielt mit schußbereitem Gewehr Aus schau nach einer Bewegung unter den Bäumen am Waldrand. »Noch fünf Stunden, bis es dunkel wird«, dachte er. »Hen drick und Mani werden den Fluß morgen bei Tagesanbruch erreichen. Bis dahin muß ich sie aufhalten.« Er entdeckte eine Bewegung rechts vom Hügel. Männer sprangen in kurzen Sätzen vorwärts, um den Hügel zu umge hen. Lothar schoß auf die Baumstämme über ihren Köpfen. »Köpfe einziehen, myne Heeren!« Wieder lachte Lothar, es war ein hysterisches, irrsinniges Gekicher. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen, und sein Kopf fiel nach vorn. Als er wieder zu sich kam, merkte er, daß das Sonnenlicht milder geworden war und die schreckliche Hitze nachgelassen hatte. Er hob den Kopf und lauschte. Ganz in der Nähe mußten Männer sein, denn er hörte das Knirschen von genagelten Stie feln auf Granit. Lothar griff nach einer Granate, schlang sich das Gewehr um die Schulter und kroch von der Felskante zu rück. Dann zog er sich am Felsen hoch. An den Stein gestützt, wankte er um den Granitblock herum. Auf dem Gipfel war niemand. Die Männer mußten noch beim Aufstieg sein. Er hielt den Atem an und lauschte ange strengt. Dann hörte er es wieder, und zwar sehr nahe – das Kratzen und Schaben von Stoff gegen Granit und heftiges At men. »Sie kommen von hinten«, dachte er. Schon das Denken be reitete ihm Mühe. »Sieben Sekunden Verzögerung nach der Entsicherung der Granate.« Er starrte auf die altmodische Waf fe mit dem Holzgriff. Er hob die Granate und versuchte den Zündbolzen herauszu ziehen. Er war eingerostet und saß fest. Lothar stöhnte und riß mit Gewalt daran. Schließlich hatte er es geschafft. Er hörte das Zündhütchen klicken und begann zu zählen. »Tausendundeins, tausendundzwei –« Nach fünf Sekunden 258
bückte er sich und ließ die Granate über die Felskante rollen. Außer Sichtweite, aber ganz in seiner Nähe stieß jemand einen Warnruf aus. »Himmel! Es ist eine Granate!« Lothar lachte laut auf. »Wohl bekomm’s, ihr englischen Schakale!« Er hörte das Knirschen und Rascheln, als sie aus zuweichen versuchten, und machte sich auf die Explosion ge faßt. Doch statt dessen hörte er nur das Klappen und Poltern, als die Granate den Felshang hinunterrollte. Ein Blindgänger! Das Lachen war ihm vergangen. »Oh, ver dammt!« Dann explodierte die Granate doch, allerdings verspätet. Es krachte und dröhnte, die Granatsplitter jaulten, und ein Mann schrie auf. Lothar ließ sich auf die Knie sinken und kroch zur Felskante vor, um hinunterzublicken. Drei Männer in khakifarbenen Uni formen rutschten und krochen die Felswand hinunter. Er legte das Gewehr an und feuerte. Seine Kugeln pfiffen nahe an den erschrockenen Polizisten vorbei. Sie überwanden die letzten paar Meter mit einem Sprung und rannten eilig auf den Wald rand zu. Einer von ihnen war von einem Granatsplitter getrof fen worden. Seine Kameraden stützten ihn von beiden Seiten und schleppten ihn mit sich fort. Erschöpft blieb Lothar fast eine Stunde lang liegen, bevor er sich zur südlichen Seite des Gipfels zurückschleppte. Er schau te auf die toten Pferde hinunter. Ihre Bäuche begannen bereits in der Sonne anzuschwellen, aber die Wasserflaschen hingen noch immer an den Sätteln. »Das Wasser wirkt wie ein Ma gnet«, flüsterte er. »Als nächstes werden sie versuchen, die Wasserflaschen zu holen.« Als es plötzlich dunkel wurde, dachte er erst, es wäre wieder eine Ohnmacht, aber als er den Kopf nach Westen drehte, sah er den letzten orangefarbenen Schimmer des Sonnenuntergangs am Himmel. Lothar blieb liegen und lauschte den Geräuschen der Nacht. 259
Das leise Klirren eines Steigbügeleisens ließ ihn schließlich hochschrecken. Er holte aus und warf die Granate in weitem Bogen in die Tiefe. Unmittelbar darauf erfolgte der Knall der Explosion, und in dem kurz aufflackernden Feuerschein sah er zwei dunkle Gestalten, die sich über eines der toten Pferde bückten. Da er nicht sicher sein konnte, ob nicht noch andere da waren, warf er die zweite Granate. Im Feuerschein der Explosion sah er die zwei Gestalten zu den Bäumen zurückrennen. Sie rannten so behende, daß sie keine Wasserflaschen bei sich haben konnten. »Schwitzt nur schön«, höhnte er. Nun hatte er nur noch eine Handgranate. Er drückte sie gegen die Brust, als wäre sie ein kostbarer Schatz. »Ich muß bereit sein, wenn sie wiederkom men. Darf sie nicht ans Wasser heranlassen.« Er redete laut vor sich hin und wußte, das war das Zeichen beginnenden Deliri ums. »Ich muß durchhalten«, befahl er sich fest. »Nur bis morgen mittag.« Er versuchte, Zeit und Entfernungen zu berechnen, aber er schaffte es nicht. »Muß acht Stunden her sein, daß Hendrick und Mani gegangen sind. Sie werden die ganze Nacht durchmarschieren. Ich bin nicht mehr mit von der Partie, also kommen sie schneller voran. Sie können vor Tagesanbruch am Fluß sein. Wenn ich die hier nur noch acht Stunden aufhalte, dann sind sie außer Gefahr –« Aber die Erschöpfung und das Fieber übermannten ihn, und er ließ die Stirn auf den Arm sin ken. »Lothar!« Zuerst glaubte er, es wäre eine Fieberphantasie, aber dann hörte er seinen Namen abermals. »Lothar!« Er würde nicht antworten, er wollte sich nicht verraten. Aber er lauschte gespannt auf Centaine Courtneys Stimme. »Lothar, wir haben einen Verwundeten!« Sie mußte am Waldrand stehen. Er sah sie im Geist vor sich – entschlossen und mutig, das kleine feste Kinn tapfer erhoben. 260
»Wir brauchen Wasser für ihn.« Seltsam, wie klar ihre Stimme klang. Er hörte sogar ihren leichten französischen Ak zent, und das rührte ihn irgendwie. Tränen traten ihm in die Augen. »Lothar! Ich komme jetzt, um das Wasser zu holen.« Ihre Stimme wurde lauter – offenbar war sie unter den Bäu men hervorgetreten. »Ich bin allein, Lothar.« Nun mußte sie bereits die Hälfte der Strecke hinter sich haben. Er steckte den Finger durch den Zündring der Granate. »Ich habe das erste Pferd erreicht«, rief sie. »Ich nehme jetzt die Flasche. Nur eine Flasche, Lothar.« Sie war in seiner Gewalt. Sie stand am Fuß des Granithügels. Er brauchte gar nicht weit zu werfen. Er brauchte die Granate nur über die Felskante rollen zu lassen, dann würde sie zu ihren Füßen landen. Er stellte sich vor, wie die Granate explodierte und die schar fen Splitter den süßen Leib, den er einst im Arm gehalten und der ihm einen Sohn geboren hatte, zerfetzten. »Ich gehe jetzt zurück, Lothar. Ich habe eine Flasche«, rief sie. Aus ihrer Stimme war Dankbarkeit herauszuhören und das Eingeständnis, daß es ein Band zwischen ihnen gab, das weder Taten noch der Lauf der Zeit zerreißen konnten. Noch einen letzten Satz sagte sie, sehr leise, so daß es wie ein Flüstern klang: »Möge Gott dir vergeben, Lothar De la Rey.« Dann blieb alles still. Die sanften Worte schmerzten tiefer als alles andere, sie hat ten etwas Endgültiges an sich, das ihm unerträglich schien, und er vergrub sein Gesicht im Ärmel, um das Schluchzen zu un terdrücken. Dunkelheit rauschte in seinem Kopf wie die Schwingen eines schwarzen Geiers, und er fühlte, wie er fiel, fiel, fiel.
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»Der hier ist tot«, sagte Blaine Malcomess, als er sich über die liegende Gestalt beugte. Sie hatten den Granitkegel in der Dunkelheit erklettert und waren bei Tagesanbruch vorgestürmt, nur um den Gipfel unverteidigt vorzufinden. »Wo sind die an deren?« Sergeant Hansmeyer trat zwischen den Granitblöcken hervor. »Sonst ist niemand auf dem Hügel, Sir. Sie müssen entwischt sein.« »Blaine!« rief Centaine drängend. »Wo sind sie? Was ist los?« Er hatte darauf bestanden, daß sie am Fuß des Hügels zurückblieben, bis der Gipfel genommen sei. Er hatte ihr noch kein Zeichen gegeben, aber sie war schon da, nur eine Minute nachdem sie den Gipfel gestürmt hatten. »Hier drüben«, fauchte er. Und als sie auf ihn zulief: »Sie haben meinen Befehl nicht befolgt, Madame.« Sie ignorierte den Vorwurf. »Wo sind sie?« Sie brach ab, als sie die liegende Gestalt sah. »O Gott, es ist Lothar.« Sie kniete neben ihm nieder. »Das ist also De la Rey. Nun, leider ist er tot«, sagte Blaine. »Wo sind die anderen?« Centaine blickte sich ängstlich um. Sie hatte sich einerseits davor gefürchtet, andererseits darauf gefreut, Lothars Kind hier vorzufinden. »Nicht hier.« Blaine schüttelte den Kopf. »Sind uns ent wischt. De la Rey hat uns zum Narren gehalten, um ihnen ei nen Vorsprung zu verschaffen. Sie sind längst über alle Berge und haben den Fluß bestimmt schon überquert.« Lothar lag, das Gesicht im Ellbogen vergraben, ausgestreckt auf der Erde. Centaine tastete nach der Halsschlagader und stieß unwillkürlich einen Schrei aus, als sie die fiebrige Hitze seiner Haut spürte. »Er lebt noch.« »Sind Sie sicher?« Blaine kniete neben ihr nieder. Gemein sam drehten sie Lothar auf den Rücken, und dabei kam die Granate zum Vorschein, die unter ihm gelegen hatte. »Du hattest recht«, sagte Blaine leise. »Er besaß noch eine 262
Granate. Er hätte dich letzte Nacht leicht töten können.« Centaine musterte schaudernd Lothars Gesicht. Das Fieber hatte ihn zerstört, das Gesicht war eingefallen, die Haut lei chenhaft grau und runzelig. »Er hat viel Flüssigkeit verloren«, sagte sie. »Ist in dieser Flasche noch Wasser?« Während Blaine Wasser in Lothars Mund träufelte, entfernte Centaine den stinkenden Verband. »Blutvergiftung.« Sie kannte die hellroten Linien unter der Haut und den Gestank von verfaulendem Fleisch. »Den Arm wird er verlieren.« Obwohl ihre Stimme ruhig und sachlich klang, war sie insgeheim entsetzt über das, was sie angerichtet hatte. Der Arm sah aus, als wäre er von einem Aasfresser oder einem Leoparden angefallen worden. »Am Fluß bei Cuangar gibt es eine katholische Missionssta tion«, sagte Blaine. »Aber er kann von Glück sagen, wenn wir ihn lebend dorthin bringen können. Mit nur einem Pferd ist es fraglich, ob wir es überhaupt bis zum Fluß schaffen.« Er stand auf. »Sergeant, schicken Sie einen ihrer Männer um den Ver bandskasten und lassen Sie die anderen jeden Zentimeter dieses Hügels absuchen. Es geht um Diamanten im Wert von einer Million Pfund.« Hansmeyer salutierte und eilte fort. Blaine kauerte sich neben Centaine nieder. »Während wir auf das Verbandszeug warten, sollten wir vielleicht seine Kleidung und seine Ausrüstung untersuchen. Es besteht die entfernte Möglichkeit, daß er einen Teil der Diamanten noch bei sich hat.« »Eine sehr entfernte Möglichkeit«, pflichtete Centaine in bit terer Resignation bei. »Die Diamanten hat ganz sicher sein Sohn und dieser große schwarze Ovamboschurke. Ohne unsere Buschmänner als Fährtensucher –« Blaine breitete Lothars Uniformrock auf dem Felsen aus und begann die Nähte zu untersuchen, während Centaine Lothars verletzten Arm reinigte und dann einen sauberen weißen Ver 263
band anlegte. »Nichts, Sir«, berichtete Hansmeyer. »Wir haben jeden Zen timeter des Felsens untersucht.« »Gut, Sergeant. Jetzt müssen wir den Kerl hier hinunterschaf fen, ohne daß er abstürzt und sich den Hals bricht.« »Genau das hätte er aber verdient.« Blaine grinste. »Das hätte er, aber wir wollen den Henker doch nicht um seine fünf Guineen bringen, oder, Sergeant?« Binnen einer Stunde waren sie zum Aufbruch bereit. Lothar De la Rey lag auf einer Schleppbahre aus Mopaniästen, die das Pferd hinter sich herzog, und der verwundete Soldat saß im Sattel. Centaine blieb zögernd am Fuß des Granitkegels stehen, als sich die Kolonne nach Norden in Bewegung setzte. »Oh, Blai ne, für mich hat hier in dieser gottverlassenen Wüste so vieles geendet.« »Ich glaube, ich kann verstehen, was der Verlust der Dia manten für dich bedeutet.« »Wirklich, Blaine? Ich bin nicht einmal davon überzeugt, daß ich es schon begreifen kann. Alles hat sich verändert – sogar mein Haß gegen Lothar –« »Es besteht noch immer die Möglichkeit, daß wir die Steine finden.« »Nein, Blaine. Wir wissen beide, daß das nicht stimmt. Die Diamanten sind verloren.« Er versuchte nicht, diese Tatsache weiter zu leugnen. »Ich habe alles verloren, alles, was ich mir erarbeitet habe – für mich und meinen Sohn. Es ist alles verloren.« »Ich wußte nicht –« Er brach ab und schaute mitfühlend und mit tiefer Sorge auf sie hinunter. »Ich dachte, daß es ein harter Schlag sein würde. Aber alles? Ist es wirklich so schlimm?« »Ja, Blaine«, sagte sie nur. »Alles. Nicht alles auf einmal, na türlich, aber jetzt wird das ganze Gefüge zu bröckeln anfangen, und ich werde Mühe haben, es vor dem Einsturz zu bewahren. 264
Ich werde Kredite aufnehmen, werde betteln, um Zeitaufschub flehen, aber das Fundament ist dahin. Eine Million Pfund, Blaine, ist eine gewaltige Summe. Ich werde das Unvermeidli che ein paar Monate lang, vielleicht sogar ein Jahr lang auf schieben können, aber am Ende wird alles um mich herum ein stürzen.« »Centaine, ich bin kein armer Mann –« begann er. Sie hob den Arm und legte den Zeigefinger auf seine Lippen. »Ich möchte dich nur um eines bitten«, flüsterte sie. »Nicht um Geld – aber in nächster Zeit werde ich manchmal Trost brau chen.« »Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst, Centai ne.« »Oh, Blaine.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Wenn es nur so wäre!« Er nahm sie in die Arme. Sie empfand weder Gewissensbisse noch Furcht, selbst die schreckliche Aussicht auf geschäftli chen Ruin und Armut schien einiges von ihrem Schrecken ein zubüßen, als sie in seinen Armen lag. »Wieder arm zu sein würde mir nicht das geringste ausma chen, wenn ich dich nur für immer an meiner Seite hätte«, flü sterte sie. Er wußte keine Antwort. In seiner Verzweiflung beugte er den Kopf nieder und verschloß ihre Lippen mit einem Kuß … Der portugiesische Arzt in der Cuangar-Mission amputierte Lothar De la Reys Arm zwei Zentimeter unterhalb des Ellbo gens. Er operierte beim fahlen weißen Licht einer Petroleum lampe, und Centaine assistierte ihm. Als es vorüber war, ging sie auf die primitive Toilette und übergab sich. Später, als sie allein unter dem bauschigen Moskitonetz in ihrer Hütte lag, betete sie zu Gott, daß sie nie wieder miterleben müßte, wie ein Mann, den sie einst geliebt hatte, vor ihren Augen zum Krüppel 265
gemacht wurde. Ihr Gebet wurde nicht erhört, denn um die Mittagszeit des folgendes Tages kam der Doktor und murmelte bedauernd: »Tut mir leid, aber ich habe den Infektionsherd nicht ganz erwischt. Ich muß noch einmal operieren.« Sie drückte ihre Fingernägel in die Handballen, als der Dok tor die Silbersäge nahm und den freigelegten Knochen von Lothars Oberarm ein paar Zentimeter unterhalb des Schulterge lenks durchsägte. Dann lag Lothar drei Tage lang im Koma und schien die Grenze zwischen Leben und Tod bereits über schritten zu haben. »Ich kann nichts sagen«, antwortete der Arzt auf ihre Fragen. »Alles liegt nun in Gottes Hand.« Als sie am Abend des dritten Tages seine Hütte betrat, blick ten seine saphirgelben Augen sie kurz an, und sie sah das Er kennen in ihnen aufflackern, bevor die Lider sich wieder schlossen. Erst zwei Tage später erlaubte der Arzt Blaine Malcomess, die Hütte zu betreten. Blaine nahm Lothar offiziell in Haft. »Mein Sergeant wird Sie bewachen, bis Sie reisefähig sind. Dann werden Sie unter strenger Bewachung per Boot flußab wärts zum Grenzposten bei Rantu gebracht und von dort auf dem Landweg nach Windhuk, wo Sie sich Ihrem Richter stel len werden.« Lothar lag blaß und skelettartig mager auf dem Kopfpolster. Ausdruckslos starrte er Blaine an. »Nun, De la Rey, ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, daß Sie von Glück sagen können, wenn Sie dem Galgen entge hen. Aber Sie hätten eine gute Chance auf mildernde Umstän de, wenn Sie uns sagen, wo die Diamanten versteckt sind oder was Sie damit gemacht haben.« Er wartete fast eine volle Minute, und es war schwer, unter dem ausdruckslosen Blick, mit dem Lothar ihn musterte, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Verstehen Sie, was ich Ihnen klarzumachen versuche, De la 266
Rey?« brach Blaine schließlich das Schweigen, worauf Lothar den Kopf abwandte und aus dem Fenster starrte. »Ich glaube, Sie wissen, daß ich Administrator dieses Terri toriums bin. Ich habe die Macht, Ihr Urteil anzufechten. Meiner Empfehlung würde der Justizminister ganz bestimmt zustim men. Seien Sie kein Narr, Mann. Geben Sie die Diamanten auf. Wo Sie hinkommen, nützen Ihnen die Steine nichts, und ich garantiere Ihnen, daß Sie nicht gehängt werden.« Lothar schloß die Augen. »Na schön, ganz wie Sie wollen.« Er rief Sergeant Hansmey er in die Hütte. »Sergeant, der Gefangene hat keinerlei Vergün stigungen. Er wird rund um die Uhr Tag und Nacht bewacht. Ich will, daß der Mann vor Gericht kommt.« Blaine verließ die Hütte und ging zu Centaine, die allein un ter einem Sonnendach am Flußufer saß. Er ließ sich neben ihr in den Klappstuhl fallen und zündete sich eine Zigarre an. »Der Mann ist unnachgiebig«, sagte er wütend. »Ich habe ihm meine persönliche Garantie auf ein mildes Urteil gegen deine Diamanten angeboten. Er fand es nicht einmal der Mühe wert, zu antworten. Ich habe nicht die Befugnis, ihm einen Straferlaß anzubieten, aber wenn ich es könnte, glaub mir, ich würde nicht zögern.« Er zog an der Zigarre und starrte auf den breiten grünen Fluß hinaus. »Ich schwöre dir, er wird für das bezahlen, was er dir angetan hat – und zwar in vollem Aus maß.« »Blaine«, sagte sie und legte ihre Hand sanft auf seinen Un terarm. »Gehässigkeit ist eine Gefühlsregung, die zu einem Mann von deinem Format nicht paßt.« Er schaute sie an und mußte trotz seiner Erbitterung lächeln. »Schreiben Sie mir nicht allzuviel Edelmut zu, Madame. Ich bin vieles, nur kein Heiliger.« Wenn er so grinste, wirkte er wie ein kleiner Junge. »Oh là là, Sir, es wäre gewiß amüsant, die Grenzen Ihres Edelmuts und Ihrer Heiligkeit auszuprobieren.« 267
»Ein schamloser, aber interessanter Vorschlag.« Dann wurde er wieder ernst. »Centaine, du weißt, daß ich mich eigentlich an dieser Expedition nicht hätte beteiligen sollen. Ich habe meine Amtsgeschäfte schrecklich vernachlässigt und mir gewiß den berechtigten Groll meiner Vorgesetzten in Pretoria zuge zogen. Ich muß so schnell wie möglich zurück. Ich habe Peter Paulus gebeten, uns ein Kanu und Paddler zu besorgen, die uns flußabwärts zum Grenzposten bei Rantu bringen. Ich hoffe, wir haben dort die Möglichkeit, einen Polizeilaster anzufordern. Hansmeyer und seine Männer bleiben zu De la Reys Bewa chung hier und bringen ihn nach Windhuk, sobald er reisefähig ist.« Centaine nickte. »Ja, ich muß auch zurück.« »Wir können morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen.« »Blaine, ich möchte noch einmal mit Lothar – mit De la Rey sprechen, bevor wir fahren.« Als er zögerte, fuhr sie drängend fort: »Nur ein paar Minuten unter vier Augen. Bitte. Es ist wichtig für mich.« Centaine blieb auf der Türschwelle stehen, um ihre Augen an die Dunkelheit in der Hütte zu gewöhnen. Lothar saß mit entblößtem Oberkörper aufrecht auf dem Feldbett. Über seine Beine war eine billige Wolldecke gebrei tet. Sein Körper war blaß und mager. »Sergeant Hansmeyer, würden Sie uns bitte eine Minute al lein lassen?« sagte Centaine und trat beiseite. Als Hansmeyer an ihr vorbeiging, sagte er leise: »Ich bleibe in Rufweite, Missis Courtney.« Centaine und Lothar starrten einander schweigend an, bis sie schließlich aufgab und das Wort ergriff. »Wenn du dir vorgenommen hast, mich zu ruinieren, dann gratuliere ich dir zu deinem Erfolg«, sagte sie, und er zuckte mit dem Armstummel, eine Geste, die gleichzeitig widerlich 268
und erschütternd war. »Wer hat wen ruiniert, Centaine?« fragte er, und sie senkte die Augen. »Möchtest du mir nicht wenigstens einen Teil von dem zu rückgeben, was du mir gestohlen hast?« fragte sie. »Um des sentwillen, was einst zwischen uns war?« Anstelle einer Antwort hob er die Hand und berührte die alte Narbe an seiner Brust, die von dem Schuß aus ihrer Pistole stammte. »Der Junge hat die Diamanten, nicht wahr?« fragte sie wei ter. Als Lothar schwieg, fügte sie impulsiv hinzu: »Manfred, un ser Sohn.« »Ich hätte nicht gedacht, dich das jemals sagen zu hören.« Er konnte die Freude in seiner Stimme nicht verbergen. »Wirst du auch daran denken, daß er unser Sohn ist, wenn es dich treibt, ihn zu vernichten?« »Wie kommst du darauf, daß ich so etwas tun könnte?« »Ich kenne dich, Centaine«, erwiderte er. »Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du kennst mich nicht.« »Wenn er dir im Wege steht, wirst du ihn vernichten«, sagte er ruhig. »Glaubst du das wirklich?« Sie starrte ihn an. »Glaubst du wirklich, daß ich so grausam, so skrupellos sein könnte, mich an meinem eigenen Sohn zu rächen?« »Du hast ihn nie als deinen Sohn anerkannt.« »Jetzt habe ich. Das hast du in den letzten paar Minuten mehrmals gehört.« »Versprichst du mir, daß du ihm nicht schaden wirst?« »Das brauche ich dir nicht zu versprechen, Lothar De la Rey. Es genügt, wenn ich es sage.« »Und natürlich erwartest du nun etwas von mir dafür?« frag te er und beugte sich vor. 269
»Würdest du mir etwas dafür anbieten?« fragte sie gelassen. »Nein«, entgegnete er. »Nichts!« Dann ließ er sich in den Polster zurücksinken, erschöpft, aber ungebrochen. »Und nun laß mich hören, wie du dein Versprechen zurückziehst.« »Ich habe kein Versprechen gegeben«, erwiderte sie ruhig. »Aber ich wiederhole: Manfred, unser Sohn, ist vor mir sicher. Ich werde nie absichtlich etwas tun, um ihm zu schaden. Diese Zusicherung gilt allerdings nicht für dich.« Sie drehte sich um und rief: »Danke, Sergeant, die Sache ist erledigt.« Dann wandte sie sich zur Tür. »Centaine –« rief er schwach, wollte sagen: Deine Diaman ten sind in der Felsspalte am Gipfel des Granitkegels. Aber als sie sich umdrehte, sagte er nur: »Leb wohl, Centaine. Endlich ist es vorbei.« Der Okavango ist einer der schönsten Flüsse Afrikas. Er ent springt auf dem angolanischen Hochplateau in einer Höhe von tausendzweihundert Metern und fließt als breiter, tiefer grüner Strom nach Süden und Osten. Doch bereits in den fälschlich so benannten Okavangosümpfen, einem riesigen Gebiet mit kla ren Lagunen, papyrusgesäumten Ufern und zahlreichen Insel chen, auf denen anmutige Elfenbeinpalmen und hohe wilde Feigenbäume gedeihen, verliert der Fluß viel von seiner Kraft. Jenseits dieses Gebietes taucht er zwar noch einmal auf, doch nur, um sich geschwächt und geschrumpft in der unendlichen Weite der Kalahariwüste im Sand zu verlieren. Die Cuangar-Mission, wo Centaine und Blaine ihre Fahrt be gannen, lag oberhalb der Okavangosümpfe am breiten, tiefen Oberlauf des Flusses. Das Boot, das sie bestiegen, war ein ein heimischer »Mukoro« – ein rundseitiges, nicht ganz gerades Kanu, das aus einem einzigen, über sechs Meter langen Baum stamm geschnitzt war. Blaine und Centaine saßen in der Mitte des Bootes auf rohle 270
dernen Kissen, die mit den flauschigen Köpfen der Papyrusgrä ser gefüllt waren. Der schmale Einbaum zwang sie, hinterein ander zu sitzen, und Blaine, der den vorderen Platz innehatte, hielt sein Gewehr schußbereit auf dem Schoß, um das Näher kommen der zahlreichen Nilpferde, die den Fluß bevölkerten, verhindern zu können. »Das Nilpferd ist bei weitem das gefähr lichste Tier in Afrika«, erklärte er Centaine. »Gefährlicher als Löwen, Elefanten oder Giftschlangen?« fragte Centaine. »Allerdings. Nilpferde haben schon doppelt soviel Menschen getötet wie alle anderen Tierarten zusammen.« Centaine war zum ersten Mal in dieser Gegend. Als Ge schöpf der Wüste waren ihr Flüsse und Sümpfe kaum vertraut, und über die Tierwelt in dieser Gegend wußte sie wenig. Blai ne hingegen kannte den Fluß gut. Er hatte die Gegend 1915, als er bei den Expeditionsstreitkräften unter General Smuts diente, kennengelernt und war seither oft hergekommen. Er erzählte hunderte kleine Geschichten, teilweise wahr, teilweise bezwei felbar, um Centaine zu unterhalten. Später verstummte ihr Gespräch dann allmählich, und sie ge nossen die ständig wechselnde Uferlandschaft. Sie berührten einander nur einmal, als Centaine ihre Hand flach an seinen Hals legte und er seine Hand für einen Augenblick darüber legte – eine flüchtige zärtliche Geste. Dann sprach Blaine kurz mit dem vorderen der beiden Rude rer. »Was ist los, Blaine?« fragte Centaine. »Ich hab’ ihm befohlen, einen guten Lagerplatz für die Nacht zu suchen.« »Ist es nicht noch zu früh?« Sie warf einen Blick auf die Sonne. »Doch«, gab er zu und drehte sich lächelnd um. »Aber im merhin versuche ich, bei der Reise von Cuangar nach Rantu einen Rekord aufzustellen.« 271
»Einen Rekord?« »Ja, die längste Reise aller Zeiten.« Blaine wählte eine der größeren Inseln. Der geschwungene weiße Sandstrand umschloß eine verborgene Lagune mit kla rem grünem Wasser, die durch hohe, wogende Papyrusbäume abgeschirmt war. Während die beiden Paddler Holz für das Lagerfeuer sammelten und Papyrusgräser für die Nachtunter künfte abschnitten, griff Blaine nach seinem Gewehr. »Wo willst du hin?« fragte Centaine. »Ich versuche, uns ein Abendessen zu schießen.« »Oh, Blaine, bitte nichts töten, nicht heute. Nicht an diesem besonderen Tag.« »Hängt dir das Dosenrindfleisch nicht schon zum Hals her aus?« »Bitte«, bat sie eindringlich, und er legte mit einem Lächeln das Gewehr wieder beiseite. Dann kümmerte er sich darum, daß die Hütten fertig wurden und die Moskitonetze richtig an gebracht waren. Zufrieden entließ er die Paddler schließlich, die in den Mukoro kletterten und wegruderten. »Wohin fahren sie?« fragte Centaine. »Ich hab’ ihnen befohlen, ihr Lager auf dem anderen Ufer aufzuschlagen«, antwortete Blaine. Verlegen und befangen schaute Centaine dem davonfahren den Kanu nach. Schließlich drehte sie sich um und ging ins Lager zurück. Sie kniete neben den Satteltaschen nieder, die ihr ganzes Gepäck darstellten, und sagte, ohne aufzublicken: »Ich habe mich seit gestern abend nicht mehr gewaschen. Ich möch te in der Lagune baden.« Sie hielt ein Stück Seife in der Hand. »Hast du noch eine letzte Nachricht für die Hinterbliebenen zu Hause?« »Wie meinst du das?« »Das ist der Okavangofluß, Centaine. Die Krokodile hier verschlingen kleine Mädchen als Vorspeise.« »Du könntest mit dem Gewehr Wache halten –« 272
»Ist mir ein Vergnügen.« »– aber mit geschlossenen Augen!« »Damit wird meine Funktion wohl sinnlos, oder?« Er erkundete das Ufer und fand eine seichte Stelle unter ei nem schwarzen, überhängenden Felsen, wo der Grund aus wei ßem Sand war und ein näherkommendes Krokodil deutlich zu sehen sein würde. Er setzte sich mit dem geladenen und entsi cherten Gewehr auf den höchsten Punkt des Felsens. »Du bist moralisch dazu verpflichtet, nicht zu blinzeln«, rief sie ihm von unten zu. Er konzentrierte sich auf eine Sporngän seschar, die mit schwerfälligem Flügelschlag auf die unterge hende Sonne zuflog. Dann plätscherte das Wasser, und Centaine rief: »Okay, jetzt kannst du nach deinen Krokodilen Ausschau halten.« Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf dem sandigen Grund, so daß nur der Kopf aus dem Wasser schaute. »Es ist himmlisch, so kühl und erfrischend.« Sie lächelte ihm über die Schulter zu, und er konnte ihre weiße Haut durch das grüne Wasser schimmern sehen. Er wußte, daß sie ihn absicht lich provozierte, aber er konnte sich weder gegen sie noch ge gen ihre Listen wehren. Isabella Malcomess’ Reitunfall lag fast fünf Jahre zurück. Es hatte ihn viel Kraft und Entschlossenheit gekostet, sich zu ei nem unnatürlichen mönchischen Leben zu zwingen. Aber es war ihm schließlich gelungen, und daher stand er dem Auf flammen seines unterdrückten Verlangens völlig fassungslos gegenüber. »Augen wieder zumachen«, rief sie fröhlich. »Ich möchte aufstehen und mich einseifen.« Er starrte unverwandt auf das Gewehr in seinem Schoß. Plötzlich schrie Centaine angstvoll auf. »Blaine!« Er sprang wie elektrisiert auf. Centaine stand hüfttief im Wasser, die grünen Fluten umspielten die nackten Rundungen ihrer Hüften, die sich unmittelbar über der Wasseroberfläche 273
zur schmalen Taille verengten. Das Krokodil kam mit klatschenden Schlägen seines langen gezackten Schwanzes vom tiefen Wasser herein. Es war fast so lang wie der Mukoro – etwa sechs Meter vom Maul bis zur Schwanzspitze. »Lauf, Centaine, lauf!« brüllte Blaine, und Centaine wirbelte herum und kam stolpernd auf ihn zugewatet. Aber das Kroko dil bewegte sich schnell wie ein Pferd in vollem Galopp, und Blaine konnte nicht schießen, weil Centaine sich genau in der Schußlinie bewegte. Blaine sprang vom Felsen hinunter und rannte mit angeleg tem Gewehr knietief ins Wasser. »Runter!« rief er ihr zu. »Laß dich fallen!« Sie reagierte au genblicklich. Blaine feuerte über sie hinweg einen ungezielten Schuß ab, da das riesige Tier schon fast bei ihr war. Die Kugel klatschte gegen die harten Schuppen des häßlichen Schädels. Das Tier bäumte sich auf, stand, das lange, dreiecki ge Maul zum Himmel gerichtet, für einen Augenblick auf sei nem kräftigen Schwanz und fiel schließlich mit einem bellen den Laut rückwärts. Blaine zog Centaine hoch und wich, einen Arm um ihre Schulter gelegt, rückwärts gehend zum Strand zurück, während er mit der freien Hand das Gewehr wie eine Pistole in An schlag hielt. Das Krokodil, dem die Kugel ins Gehirn gedrun gen war, wand sich in wilden Zuckungen. Blaine schob Centaine hinter sich und nahm das Gewehr in beide Hände. Die Kugeln prasselten gegen den schuppigen Kopf und rissen Fleisch und Knochenstücke weg. Der Schwanz des Reptils zuckte und peitschte nur noch schwach. Dann tauchte es am Rand der seichten Sandbank ins dunkelgrüne Wasser, kam noch ein letztes Mal an die Wasseroberfläche und verschwand. Centaine zitterte, ihre Zähne schlugen so sehr aufeinander, daß sie nicht sprechen konnte. Dann warf sie sich an seine 274
Brust und klammerte sich an ihn. »Oh, Blaine, ich hatte solche Angst.« »Ist ja gut«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ruhig, mein Liebling, ist ja alles gutgegangen.« Er lehnte das Gewehr ge gen den Felsen und zog sie in seine Arme. Er tröstete und streichelte sie, erst ohne jede Leidenschaft, doch dann spürte er die seidige Glätte ihrer feuchten nackten Haut. Er konnte nicht verhindern, daß seine Fingerspitzen an ihrer Wirbelsäule entlang hinunterglitten. Centaine zitterte nicht mehr, nur ihr Atem ging noch etwas schnell. Unter seiner Berührung bog sie den Oberkörper zurück und drückte ihr Becken gegen ihn. »Blaine«, sagte sie und hob das Gesicht. Er küßte sie mit der Wildheit und dem Zorn des Ehrenman nes, der weiß, daß er seinen Treueschwur nicht mehr halten kann. Schließlich riß sie sich los. »Komm«, stammelte sie. Und er hob sie hoch wie ein Kind und lief mit ihr durch den tiefen weißen Sand zu einer der strohgedeckten Hütten. Neben der Matratze aus Papyrusgras kniete er nieder und ließ sie sanft auf die Decke gleiten. »Ich möchte dich sehen«, stieß er hervor. Doch sie richtete sich auf und streckte die Arme nach ihm aus. »Später – ich kann nicht mehr warten – bitte, Blaine. O Gott, tu es doch.« Sie zerrte mit ungeschickten, fahrigen Händen an den Knöpfen seines Hemdes. Endlich war er nackt wie sie. Sie packte mit einer Hand seine Schulter und ließ sich zurückfallen, spreizte die Beine, zog ihn an sich. Nachher preßte sie ihr Gesicht gegen seine nackte Brust und weinte stumm, und er war bestürzt und besorgt. »Ich war zu stürmisch – verzeih mir! Ich wollte dir nicht weh tun.« 275
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du hast mir nicht weh getan, es war der schönste –« »Warum weinst du dann?« »Weil alles Schöne so flüchtig ist – je schöner, desto schnel ler ist es vorbei.« »Denk doch nicht so, mein Kleines.« »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich weiterleben kann. Es war schon vorher die Hölle, aber dadurch wird es noch tausendmal schlimmer.« »Ich weiß auch nicht, woher ich die Kraft nehmen soll, dich gehen zu lassen«, flüsterte er. »Wieviel Zeit haben wir noch?« »Noch einen Tag – dann sind wir in Rantu.« Vom Augenblick an, da sie den Grenzposten bei Rantu er reichten und an Land gingen, um den diensthabenden Offizier aufzusuchen, waren sie keine Sekunde mehr allein. Ständig war jemand bei ihnen, wie um sie zu bewachen, und jeder Blick, jedes Wort, jede verstohlene Zärtlichkeit machte ihnen nur noch mehr bewußt, daß die Trennung unmittelbar bevorstand. Erst als der staubige Polizeilaster über die letzten Hügel vor Windhuk rollte, hatte die Qual ein Ende. Die Welt erwartete sie: Isabella, schön und rührend hilfsbe dürftig in ihrem Rollstuhl; ihre übermütig lachenden Töchter, anmutig und schelmisch wie kleine Elfen; der Polizeichef, der Verwaltungssekretär und eine Menge kleiner Beamten, Repor ter und Fotografen; Twentyman-Jones und Abraham Abra hams; Sir Garry und Lady Courtney, die sofort angereist wa ren, als sie von dem Überfall hörten. Dazu ein ganzer Haufen von besorgten Nachfragen und Glückwunschkarten, Tele grammen vom Premierminister, vom Ou Baas und von hunder ten Freunden und Geschäftspartnern. Centaine ließ der ganze Aufruhr gleichgültig. Sie sah alles 276
wie durch einen dünnen Schleier, der die Geräusche dämpfte, die Formen verwischte. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie nur zur Hälfte anwesend und ihre andere Hälfte triebe in einem Boot auf einem wunderschönen grünen Fluß dahin oder läge im warmen weichen Sand in den Armen des Mannes, den sie liebte. Später telefonierte sie von ihrem Privatwaggon aus mit Shasa und versuchte Begeisterung zu heucheln, als er ihr erzählte, daß er Kapitän seiner Cricketmannschaft geworden sei und sich seine Mathematiknoten seit kurzem deutlich verbessert hätten. »Ich weiß noch nicht, wann ich wieder in Weltevreden sein werde, chérie. Ich hab’ so viel zu erledigen. Die Diamanten konnten wir leider nicht zurückholen. Es wird Verhandlungen mit der Bank geben, und ich muß neue Dispositionen treffen. Nein, natürlich nicht, Dummerchen. Natürlich sind wir nicht arm, noch nicht, aber eine Million Pfund sind ein hoher Ver lust, und dann ist da ja auch noch die Gerichtsverhandlung. Ja, er ist ein schrecklicher Mensch, Shasa – aber ich weiß nicht, ob sie ihn hängen werden. Himmel, nein! Sicher lassen sie uns nicht dabei zusehen –« Zweimal rief sie an diesem Tag an, in der Hoffnung, Blaine würde ans Telefon kommen, aber es war jedesmal seine Frau am Apparat, und sie hängte auf, ohne etwas zu sagen. Sie sahen sich am nächsten Tag im Büro des Administrators wieder. Blaine hatte eine Pressekonferenz einberufen, und im Vorzimmer drängte sich eine Menge Journalisten und Fotogra fen. Wieder war Isabella in ihrem Rollstuhl mit dabei, und Centaine mußte ihre ganzen schauspielerischen Fähigkeiten aufbieten, um ihr freundschaftlich die Hand zu geben und dann ungezwungen mit den Presseleuten zu scherzen. Es gab keine Gelegenheit, auch nur einen einzigen verstohlenen Blick mit Blaine zu tauschen. Abe wartete bereits auf sie. »Wo bleiben Sie, Centaine? Man erwartet sie schon seit fast einer Stunde im Sitzungssaal. Und 277
ich könnte nicht sagen, daß man besondere Geduld an den Tag legt.« »Lassen Sie sie ruhig warten!« erklärte sie mit gespielter Ge lassenheit. »Sie werden sich ohnehin daran gewöhnen müs sen.« Die Bank war ihr einziger Gläubiger. »Der Verlust der Diamanten hat ihnen ordentlich heiß unterm Hintern gemacht.« Kaum war den Bankdirektoren zu Ohren gekommen, daß Centaine wieder in der Stadt war, als sie auch schon um diese Unterredung ersucht hatten. »Wo ist Dr. Twentyman-Jones?« »Er ist bei ihnen und versucht die Wogen ein wenig zu glät ten.« Abe legte einen dicken Ordner vor sie hin. »Hier ist die Aufstellung über die Zinsrückzahlungen.« Centaine warf einen Blick auf die Liste. Sie kannte sie längst auswendig, und sie hatte sich ihre Verhandlungsstrategie be reits bis ins kleinste zurechtgelegt. »Gibt es etwas Neues, das ich wissen sollte, bevor wir in die Höhle des Löwen gehen?« fragte sie. »Ein langes Fernschreiben von Lloyd’s aus London. Sie ha ben unsere Forderung abgelehnt. Diamantentransport ohne bewaffnete Eskorte.« Centaine nickte. »War nicht anders zu erwarten. Sollen wir vor Gericht gehen? Was raten Sie?« »Ich werde den Kronanwalt um seine Meinung fragen, aber nach meinem Gefühl wäre es lediglich Zeit- und Geldver schwendung.« »Sonst noch was?« »De Beers«, sagte er. »Eine Nachricht von Sir Ernest Oppen heimer persönlich.« »Er schnüffelt wohl schon herum, wie?« Sie seufzte und ver suchte Haltung zu bewahren, aber statt dessen sah sie Blaine vor sich, wie er sich über den Rollstuhl beugte. Sie verdrängte das Bild aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf das, 278
was Abe berichtete. »Sir Ernest reist von Kimberley an. Er wird am Donnerstag in Windhuk ankommen.« »Ganz zufällig, wie ich annehme«, meinte sie mit einem zy nischen Lächeln. »Er ersucht Sie um eine baldige Unterredung.« »Er hat die Nase einer Hyäne und den Blick eines Geiers«, erwiderte Centaine. »Er wittert Blut und erkennt ein sterbendes Tier aus hundert Meilen Entfernung.« »Er will die H’ani-Mine, Centaine. Er ist schon seit dreizehn Jahren hinter der Mine her.« »Alle sind hinter der H’ani-Mine her, Abe. Die Bank, Sir Er nest und all die anderen Raubvögel. Aber um die Mine werden sie mit mir kämpfen müssen.« Sie stand auf, und Abe fragte: »Sind Sie bereit?« Centaine warf einen Blick in den Spiegel über dem Kamin, ordnete ihr Haar, befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lip pen. Ihre Gedanken ordneten sich, ihre Sinne waren geschärft. »Gehen wir!« sagte sie und betrat mit erhobenem Kopf den langen Sitzungssaal. »Verzeihen Sie mir, meine Herren«, bat sie, indem sie ihren ganzen Charme und ihre erotische Ausstrahlung einsetzte, »aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen nun voll und ganz zur Verfügung stehe.« Äußerlich wirkte sie wieder unerschütterlich, und als sie sich in dem Ledersessel am oberen Ende des langen Konferenzti sches niederließ, nahm sie sich insgeheim vor: Die H’ani-Mine gehört mir, und niemand wird sie mir nehmen. Manfred De La Rey marschierte in der Dunkelheit hinter den beiden erwachsenen Männern nach Norden. Der demütigende und schmerzliche Abschied von seinem Vater hatte neuen Trotz und eiserne Entschlossenheit in ihm geweckt. Sein Vater 279
hatte ihn eine flennende kleine Göre genannt. Doch der Gedanke an seinen Vater, der sterbend allein auf dem Granithügel zurückgeblieben war, ließ ihn nicht los, und sein Schmerz wurde unerträglich. Ungeachtet seiner Entschlos senheit traten ihm die Tränen in die Augen, und es erforderte seine ganze Willenskraft, nicht loszuheulen. Er marschierte, ohne zu klagen oder seinen Schritt zu ver langsamen, die ganze Nacht durch, und als die Sonne über den Baumwipfeln auftauchte, erreichten sie den Fluß. Sobald sie getrunken hatten, brachen sie wieder auf und wanderten weiter nach Norden. Während des Tages hielten sie sich vom Fluß fern und versteckten sich in den Mopaniwäl dern, sobald es dunkel wurde, kehrten sie zum Fluß zurück, stillten ihren Durst und folgten in der Dunkelheit dem Flußufer. Zwölf Nächte waren sie schon marschiert, bevor Hendrick davon überzeugt war, daß sie die Verfolger hinter sich gelassen hatten. »Wann überqueren wir den Fluß, Hendrick?« fragte Manfred. »Überhaupt nicht«, erklärte Swart Hendrick. »Aber es war doch der Plan meines Vaters, den Fluß zu überqueren, den Elfenbeinhändler Alves De Santos aufzusu chen und dann nach Luanda weiterzureisen.« »Das war der Plan deines Vaters«, gab Hendrick zu. »Aber dein Vater ist nicht mehr bei uns. Für einen auswärtigen Schwarzen ist im Norden kein Platz. Die Portugiesen sind da noch härter als die Deutschen oder die Engländer oder die Bu ren. Sie würden uns um unsere Diamanten betrügen, uns wie Hunde verprügeln und uns dann in ihre Arbeitslager schicken. Nein, Mani, wir gehen zurück – zurück zu unseren Stammes brüdern in Ovamboland, wo alle unsere Freunde sind.« »Dort wird uns die Polizei finden«, hielt ihm Mani entgegen. »Uns hat kein Mensch gesehen. Dafür hat dein Vater ge sorgt.« »Aber sie wissen, daß du der Freund meines Vaters warst. 280
Sie werden dich holen kommen.« Hendrick grinste. »In Ovamboland heiße ich nicht Hendrick, und tausend Zeugen werden beschwören, daß ich meinen Kral nie verlassen habe und nie etwas mit einem weißen Räuber zu tun hatte. Für die weißen Polizisten sehen alle schwarzen Män ner gleich aus, und ich habe einen Bruder, einen klugen Bru der, der weiß, wie und wo wir unsere Diamanten verkaufen können. Mit diesen Steinen kann ich mir zweihundert gute Rinder und zehn fette Frauen kaufen. Nein, Mani, wir gehen nach Hause zurück.« »Und was wird aus mir, Hendrick? Ich kann doch nicht mit euch nach Ovamboland gehen.« »Für dich habe ich mir auch schon was ausgedacht.« Hen drick legte dem Jungen väterlich seinen Arm um die Schulter. »Dein Vater hat dich mir anvertraut. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich in Sicherheit bringen, bevor ich dich verlasse.« »Wenn du mich verläßt, Hendrick, bin ich ganz allein. Dann habe ich niemanden mehr.« Und der schwarze Mann konnte ihm nicht antworten. Er ließ seinen Arm sinken und sagte barsch: »Zeit zum Aufbrechen, vor uns liegt noch ein langer harter Weg.« In dieser Nacht kehrten sie dem Fluß den Rücken und wand ten sich nach Südwesten, um die schreckliche Einöde des Buschmannlands zu umgehen. Sie verlangsamten zwar das Marschtempo, vermieden aber weiterhin jede Siedlung und jeden Kontakt mit anderen Menschen. Am zwanzigsten Tag kamen sie schließlich durch üppiges Weideland, überwanden eine bewaldete Hügelkette und schauten in der Abenddämme rung auf ein weitläufiges Ovambodorf hinunter. Die kegelförmigen Hütten aus Stroh standen in Gruppen zu vieren oder fünfen zusammen und waren mit einem Zaun aus geflochtenen Grasmatten umgeben. In der Mitte des Dorfes lag der große Viehkral mit seiner Palisade aus Holzpfählen. Kin 281
derlachen und Frauenstimmen schallten zu ihnen herauf. Doch sie machten keine Anstalten, sich dem Dorf zu nähern. Statt dessen lagen sie verborgen auf dem Hügelkamm, und Hendrick und Klein Boy hielten nach Fremden oder einem anderen Gefahrenzeichen Ausschau. Jede Bewegung, die sie ausmachen konnten, jedes Geräusch, das vom Dorf herauf schallte, wurde ausführlich im Flüsterton besprochen, bis Man fred schließlich die Geduld verlor. »Worauf warten wir noch, Hendrick?« »Nur der dumme junge Springbock stürmt leichtfertig in die Falle«, knurrte Hendrick. »Wir gehen erst hinunter, wenn wir sicher sind.« Am folgenden Nachmittag trieb ein kleiner schwarzer Wicht eine Ziegenherde den Hang herauf. Bis auf eine Steinschleuder, die um seinen Hals hing, war er vollkommen nackt. Hendrick pfiff leise. Das Kind stutzte und starrte ängstlich zu ihrem Versteck. Als Hendrick abermals pfiff, kam der Kleine vorsichtig näher. Dann begann er plötzlich zu grinsen und stürzte auf Hendrick zu. »Das ist mein Sohn«, erklärte Hendrick, dann begann er das Kind auszufragen und hörte sich aufmerksam seine Antworten an. »Es sind keine Fremden mehr im Dorf«, brummte er. »Die Polizei war hier und hat nach mir gefragt, aber sie sind wieder fort.« Das Kind auf dem Arm, führte er sie den Hang hinunter und strebte auf die größere Hüttengruppe zu. Er trat gebückt durch die Öffnung im Mattenzaun in den Innenhof. Dort saßen vier Frauen, die nur Lendentücher aus bedruckter Baumwolle tru gen, im Kreis an der Arbeit. Sie sangen leise im Chor, während sie in großen hölzernen Mörsern den rohen getrockneten Mais zerstampften. Eine der Frauen stieß, als sie Hendrick erblickte, einen Schrei aus und stürzte auf ihn zu. Sie war ein altes Weib, verrunzelt, zahnlos und mit schneeweißem Haar. 282
»Meine Mutter«, sagte Hendrick und hob sie hoch. Im Nu waren sie von einer Schar fröhlich schwatzender Frauen umge ben. Nach ein paar Minuten gebot Hendrick ihnen Ruhe und scheuchte sie fort. »Du hast Glück, Mani«, brummte er mit einem verschmitzten Augenzwinkern. »Du wirst einmal nur eine Frau haben dürfen.« Am Eingang der hintersten Hütte saß auf einem niedrigen ge schnitzten Hocker ein Mann. Er hatte die Begrüßungsszene regungslos von weitem beobachtet, und Hendrick ging zu ihm. Der Mann war viel jünger als Hendrick und hatte eine hellere, fast honigfarbene Haut. Doch seine Muskeln waren von harter körperlicher Arbeit gestählt. Er hatte eine edle Haltung und schöne, kluge Gesichtszüge. Im Schoß hielt er ein abgenutztes Buch – es war eine Ausgabe von Macaulays »History of Eng land«. Er begrüßte Hendrick mit ruhiger Zurückhaltung, doch ihre gegenseitige Zuneigung blieb Manfred nicht verborgen. »Das ist mein kluger Bruder; wir haben denselben Vater, aber verschiedene Mütter. Er spricht Afrikaans und viel besser Englisch als ich. Und er liest Bücher. Die Engländer nennen ihn Moses.« »Ich grüße dich, Moses.« Manfred wurde unbehaglich unter dem prüfenden Blick dieser dunklen Augen. »Ich grüße dich, kleiner weißer Junge.« »Ich bin kein Junge mehr«, brauste Mani auf. Die Männer tauschten einen Blick und lächelten. »Moses ist Vorarbeiter in der H’ani-Diamantenmine«, erklärte Hendrick beschwichtigend. Aber der große Ovambo schüttelte den Kopf und erwiderte in der Stammessprache: »Das ist vorbei, großer Bruder. Ich bin vor mehr als einem Monat entlassen worden.« Er lächelte. »Daher sitze ich jetzt hier in der Sonne, trinke Bier, lese und erfülle all die beschwerlichen Aufgaben, die eines Mannes Pflicht sind.« 283
Für Hendrick war es eine Erleichterung, sich der europäi schen Kleidung entledigen und wieder das bequeme Lenden tuch tragen zu können. Er genoß das friedliche Dorfleben, den herben Geschmack des schäumenden Hirsebieres und die un gezwungene Unterhaltung über Rinder und Wild, Ernten und Regen, Bekannte, Freunde und Verwandte, Todesfälle, Gebur ten und Vermählungen. Es verging viel Zeit, bevor sie um ständlich auf das Wesentliche zu sprechen kamen. »Ja«, meinte Moses nickend. »Die Polizei war hier. Zwei farbige Polizeispitzel aus Windhuk, die sich dafür schämen sollten, daß sie ihren Stamm verraten haben. Sie trugen keine Uniform, aber sie stanken nach Polizei. Sie blieben einige Tage hier und fragten immer wieder nach einem Mann namens Swart Hendrick – anfangs freundlich, dann drohend. Sie haben ein paar von den Frauen geschlagen, auch deine Mutter –« Er sah, wie Hendrick erstarrte, und fuhr rasch fort: »Sie ist zwar alt, aber zäh. Sie wurde schon öfter geschlagen, unser Vater war ein strenger Mann. Trotz der Schläge hat sie keinen Swart Hendrick gekannt. Niemand kannte Swart Hendrick, und die Polizeischnüffler sind wieder gegangen.« »Sie werden wiederkommen«, sagte Hendrick, und sein Halbbruder nickte. »Die Weißen vergessen nie. Fünf Jahre, zehn Jahre können vergehen. In Pretoria haben sie einen Mann gehängt, der vor fünfundzwanzig Jahren einen umgebracht hatte. Sie werden wiederkommen.« Sie tranken abwechselnd genüßlich aus dem Bierkrug. »Es wurde von einem großen Diamantenraub auf der Straße zur H’ani-Mine gesprochen, und sie erwähnten den Namen des weißen Teufels, an dessen Seite du immer gekämpft hast und mit dem du auf das grüne Wasser hinausgefahren bist, um Fisch zu fangen. Sie sagen, daß du mit ihm an dem Diamanten raub beteiligt warst und daß sie dich hängen werden, wenn sie dich finden.« 284
Hendrick lachte und ging zum Gegenangriff über. »Ich habe auch einige Geschichten gehört – über einen Kerl, den ich gut kenne und der sogar mit mir verwandt ist. Ich habe gehört, daß er im Umgang mit gestohlenen Diamanten sehr erfahren ist und daß alle Steine, die in der H’ani-Mine gestohlen werden, durch seine Hände gehen.« »Wer könnte dir wohl solche gemeinen Lügen erzählt ha ben?« Moses lächelte leise, und Hendrick gab Klein Boy einen Wink. Dieser holte einen Lederbeutel hervor und reichte ihn seinem Vater. Hendrick öffnete die Lasche und nahm nachein ander vierzehn kleine Pakete aus braunem Karton heraus. Sein Bruder hob das erste Paket auf und zerschnitt mit sei nem Messer das Wachssiegel. »Das ist das Zeichen der H’aniMine«, bemerkte er und faltete behutsam das Papier auseinan der. Er verzog keine Miene, als er den Inhalt des Pakets begut achtete. Dann legte er das Paket auf die Seite und öffnete das nächste. Schweigend brach er ein Paket nach dem anderen auf, und nachdem er alle geöffnet und begutachtet hatte, sagte er leise: »Tod. Das bedeutet Tod.« »Kannst du die Steine für uns verkaufen?« fragte Hendrick. Moses schüttelte den Kopf. »Solche Steine habe ich noch nie gesehen, nicht so viele auf einmal. Der Versuch, alle diese Steine auf einmal zu verkaufen, würde Unglück und Tod über uns bringen. Ich muß erst darüber nachdenken, aber in der Zwischenzeit dürfen wir diese tödlichen Steine auf keinen Fall hier im Kral lassen.« Am nächsten Morgen in der Dämmerung verließen Hendrick, Moses und Klein Boy zusammen das Dorf und kletterten auf den Hügel. Hendrick erinnerte sich an einen Bleibaum, in des sen Stamm zehn Meter über dem Boden eine Höhlung war. Während die anderen Wache hielten, kletterte Klein Boy mit dem Lederbeutel zu der Höhlung hinauf.
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Es dauerte einige Tage, bevor Moses seine Entscheidung be kanntgab. »Du und ich, Bruder, wir gehören nicht mehr hierher. Ich ha be bereits die ersten Anzeichen von Rastlosigkeit an dir ent deckt. Ich habe gesehen, wie du in die Ferne blickst – mit der Miene des Mannes, der sich danach sehnt, die Ferne zu erkun den. Das Leben verliert rasch seinen Reiz, und ein Mann denkt an die kühnen Dinge, die er getan hat, und an die noch kühne ren Taten, die draußen auf ihn warten.« Hendrick lächelte. »Du bist ein Mann mit vielen Fähigkeiten, Bruder, du kannst sogar in den Kopf eines anderen Mannes sehen und seine geheimen Gedanken lesen.« »Wir können nicht hierbleiben. Es ist zu gefährlich, die Totensteine hierzubehalten, und zu gefährlich, sie zu verkaufen.« Hendrick nickte. »Ich höre«, sagte er. »Es gibt Dinge, die ich tun muß. Dinge, zu denen ich mich berufen fühle und über die ich nie gesprochen habe, nicht ein mal mit dir.« »Sprich jetzt davon.« »Ich spreche von der Kunst, die die Weißen Politik nennen und von der wir Schwarzen ausgeschlossen sind.« Hendrick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du liest zu viele Bücher. Dieses Geschäft bringt nichts ein. Über laß das den Weißen.« »Du irrst dich, Bruder. Diese Kunst birgt Schätze, die deine kleinen durchsichtigen Steine wertlos erscheinen lassen. Nein, spotte nicht.« Hendrick öffnete den Mund und machte ihn langsam wieder zu. Der junge Mann ihm gegenüber besaß eine Ausstrahlung, die ihn verwirrte und erregte. »Ich habe entschieden, Bruder. Wir werden von hier fortge hen. Hier ist es zu eng für uns.« Hendrick nickte. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht. Er war sein Leben lang ein Nomade gewesen und ohne weiteres bereit, 286
wieder weiterzuziehen. »Nicht nur diesen Kral, Bruder. Wir werden dieses Land ver lassen.« »Das Land verlassen!« Hendrick sprang auf und sank dann auf seinen Hocker zurück. »Das müssen wir. Dieses Land ist zu klein für uns und die Steine.« »Wo werden wir hingehen?« Sein Bruder hob die Hand. »Darüber sprechen wir später, aber erst mußt du dieses weiße Kind loswerden, das du mitge bracht hast. Der Junge ist noch gefährlicher als die Steine. Durch ihn haben wir in kürzester Zeit die weiße Polizei auf dem Hals. Wenn du das erledigt hast, Bruder, werden wir tun können, was wir tun müssen.« »Wir werden tun, was du sagst, Bruder«, stimmte Hendrick zu. Instinktiv erkannte er, daß er jemanden gefunden hatte, der den Mann ersetzen konnte, den er sterbend auf dem Granitfel sen in der Wüste zurückgelassen hatte. »Ich werde bis Sonnenaufgang hier warten«, erklärte Swart Hendrick dem weißen Jungen. »Bist du bis dahin nicht zurück, weiß ich, daß du in Sicherheit bist.« »Werde ich dich wiedersehen, Hendrick?« fragte Manfred. Hendrick brachte es nicht übers Herz, ihm leere Verspre chungen zu machen. »Ich glaube, von nun an trennen sich un sere Wege, Mani.« Er legte die Hand auf Manfreds Schulter. »Aber ich werde oft an dich denken – und, wer weiß, vielleicht kreuzen sich unsere Wege eines Tages wieder. Geh in Frieden und sei ein Mann, wie dein Vater einer war.« Sanft schob er Manfred von sich fort, aber der Junge zögerte. »Geh«, sagte Hendrick. »Was du sagen willst, wissen wir beide. Es ist nicht nötig, darüber zu sprechen. Geh, Mani.« Manfred nahm seinen Packen auf und trat aus dem Dickicht 287
auf die staubige Straße. Er schritt direkt auf den Kirchturm zu, der ihm wie das Symbol eines neuen Lebens erschien, das ihn gleichzeitig anlockte und abstieß. An der Straßenbiegung blickte er zurück. Der große Ovambo war nirgends zu sehen, und er drehte sich wieder um und ging weiter. Gedankenlos bog er, wie beim ersten Besuch mit seinem Va ter, in eine Seitenstraße ein. Am hinteren Gatter des Pfarrhau ses zögerte er, doch dann hob er den Schnappriegel und näherte sich langsam dem Haus. Auf halbem Weg ließ ihn ein lautes Brüllen zusammenfah ren, und er schaute sich ängstlich um. Abermals erschallte das Gebrüll. Eine laute Stimme stieß Ermahnungen oder bittere Vorwürfe aus. Die Laute kamen aus einem großen Schuppen am Ende des Hofes. Manfred schlich sich näher und spähte um den Türpfosten. Im Inneren war es dunkel, aber als sich Man freds Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er er kennen, daß es ein Geräteschuppen war. Bis auf ein paar Werkzeuge und Gartengeräte war der Raum leer, und in der Mitte kniete Tromp Bierman, die Trompete Gottes. Er trug eine dunkle Anzughose und ein weißes Hemd mit Stehkragen. Sein Rock hing über einer Schmiedezange an der Wand. Tromp Biermans buschiger Bart war nach oben gerich tet und seine Augen geschlossen. Er hatte die Arme in einer flehenden oder ergebenen Geste erhoben; aber seine Stimme klang keinesfalls unterwürfig. »Oh, allmächtiger Gott, ich beschwöre Dich dringend, die Gebete Deines Dieners zu erhören und ihn in dieser Angele genheit zu führen. Wie kann ich Deinen Willen ausführen, wenn ich nicht weiß, was es ist? Ich bin nur ein gehorsames Werkzeug, ich wage es nicht, diese Entscheidung allein zu tref fen. Sieh hernieder, o Allmächtiger, erbarme Dich meiner Un wissenheit und Dummheit und laß mich Deine Absichten wis sen –« 288
Plötzlich brach Tromp ab und öffnete die Augen. Das große zottige Löwenhaupt drehte sich um, und die Augen brannten sich wie die eines alttestamentarischen Propheten in Manfreds Seele. »Ich bin zurückgekommen, Ohm«, stammelte er. »So wie du es gesagt hast.« Tromp starrte ihn grimmig an. »Komm her«, befahl er, und Manfred legte seinen Packen nieder und ging zu ihm. Tromp ergriff seine Hand und zog ihn zu Boden. »Knie nieder, Jong, knie nieder und danke deinem Schöpfer. Preise den allmächtigen Gott dafür, daß er mein Flehen erhört hat.« Gehorsam faltete Manfred die Hände und schloß die Augen. »O Herr, vergib Deinem Diener sein maßloses Tun, sich Dir mit so nichtigen Dingen zu nähern, während Du doch mit Hö herem beschäftigt warst. Wir danken Dir dafür, daß Du diesen jungen Menschen unserer Obhut anvertraut hast, um ihn zu Deiner Waffe zu machen, zu einem Schwert, das zu deinem Ruhm geschwungen wird für die gerechte Sache Deines auser wählten Volkes – dem Afrikaandervolk.« Er stieß Manfred mit dem Zeigefinger an. »Amen!« sagte Manfred folgsam. Das Gebet dauerte so lange, daß Manfreds Knie schmerzten und ihm vor Hunger und Müdigkeit schwindelig wurde. Schließlich zog ihn Tromp hoch und schob ihn vor sich her zur Küchentür. »Mevrou«, tönte die Trompete Gottes. »Wo bist du, Frau?« Trudi Bierman kam atemlos in die Küche gestürzt und blieb dann wie versteinert stehen. »Meine Küche«, jammerte sie. »Meine schöne saubere Kü che. Ich habe gerade den Boden eingewachst.« »Gott der Allmächtige hat uns den Jungen geschickt«, ver kündete Tromp. »Wir werden ihn bei uns aufnehmen. Er wird 289
an unserem Tisch essen und wie einer von uns sein.« »Aber er ist schmutzig wie ein Kaffer.« »Dann wasch ihn, Frau, wasch ihn.« In diesem Augenblick schlüpfte hinter der massigen Gestalt von Trudi Bierman schüchtern ein Mädchen in die Küche und erstarrte wie ein verängstigtes Reh, als sie Manfred erblickte. Manfred hätte Sarah fast nicht wiedererkannt. Sie hatte zuge nommen, ihre einstmals blassen Wangen waren rosig, und ihre vormals glanzlosen Augen strahlten. Ihr glänzendes blondes Haar war zu Zöpfen geflochten und hochgesteckt, und sie trug einen schlichten, aber fleckenlosen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie stieß einen Schrei aus und stürzte mit ausgebreiteten Ar men auf Manfred zu, aber Trudi Bierman packte sie von hinten und schüttele sie kräftig. »Du schlimmes, faules Ding. Ich hab’ gesagt, du sollst deine Rechenaufgaben fertig machen. Du gehst sofort wieder an die Arbeit.« Sie schob das Mädchen unbarmherzig aus dem Zimmer und wandte sich dann mit verschränkten Armen und gespitztem Mund wieder an Manfred. »Du siehst abscheulich aus«, erklärte sie. »Dein Haar ist so lang wie das eines Mädchens. Und diese Kleider –« Ihre Miene wurde noch ein wenig ablehnender. »In diesem Haus leben Christenmenschen. Für das gottlose, wilde Treiben deines Va ters ist hier kein Platz, hast du mich verstanden?« »Ich habe Hunger, Tante Trudi.« »Du wirst essen, wenn alle anderen essen, und nicht bevor du gewaschen bist.« Sie wandte sich an ihren Mann: »Menheer, würdest du dem Jungen zeigen, wie man den Heißwasserkessel anheizt?« Das Pfarrhaus platzte mit Sarah und den Bierman-Töchtern bereits aus allen Nähten. Für Manfred war kein Platz mehr, daher richtete man ihm eine Ecke des Geräteschuppens im Hof 290
als Schlafplatz aus. Tante Trudi hatte eine Packkiste aufge stellt, die als Schrank für seine wenigen Kleider diente, und in der Ecke stand ein Eisenbett mit einer harten Matratze und ei nem alten verwaschenen Vorhang. »Geh sparsam mit der Kerze um«, warnte Tante Trudi. »Du bekommst nur am ersten Tag jedes Monats eine neue. Wir sind sparsame Leute. Hier gibt’s nichts von den Extravaganzen dei nes Vaters!« Manfred zog die dünne graue Decke über den Kopf, um sein Haupt, das glattgeschoren worden war, vor der Kälte zu schützen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er einen eigenen Raum besaß, und mit diesem schönen neuen Gefühl schlief er ein. Er erwachte durch eine leichte Berührung an der Wange und schrie auf. Er hatte geträumt, die nach Fäulnis riechende Hand seines Vaters griffe aus dem Jenseits nach ihm. Entsetzt richte te er sich auf. »Mani, Mani. Ich bin’s.« Mager und zitternd stand Sarah in ihrem weißen Nachthemd vor seinem Bett, und ihr ausgebür stetes offenes Haar fiel wie eine silbrige Wolke auf ihre Schul tern herab. »Was tust du hier?« stammelte er. »Du darfst nicht herkom men. Du mußt gehen. Wenn sie dich hier finden, werden sie –« Er brach ab. Er war nicht sicher, was geschehen würde, aber er wußte instinktiv, daß es ernste Folgen haben konnte. »Ich bin so unglücklich gewesen.« An ihrer Stimme konnte er erkennen, daß sie weinte. »Die ganze Zeit, seit du fortge gangen bist. Die Mädchen sind so gemein – sie nennen mich ›Vuilgoed‹, Gesindel. Sie verspotten mich, weil ich nicht lesen und rechnen kann und weil ich anders rede als sie. Ich habe jede Nacht geweint.« Mitleid regte sich in Manfreds Herz, und trotz seiner Angst vor Entdeckung streckte er die Hand aus und zog Sarah aufs Bett. »Jetzt bin ich ja wieder da. Ich werde mich um dich kümmern, Sarie«, flüsterte er. »Ich werde nicht zulassen, daß 291
sie dich verspotten.« Sie schluchzte an seiner Schulter, und er sagte streng: »Ich will keine Tränen mehr sehen, Sarie. Du bist kein Kind mehr. Du mußt tapfer sein.« »Ich hab’ ja nur geweint, weil ich so glücklich bin«, schluchzte sie. »Jetzt wird nicht mehr geweint – auch nicht, wenn du glücklich bist«, befahl er. »Hast du verstanden?« Sie nickte eifrig und schluckte mit einem leisen, erstickten Laut ihre Tränen hinunter. »Ich habe jeden Tag an dich gedacht«, flüsterte sie. »Ich habe zu Gott gebetet, daß du zurückkommst. Kann ich zu dir ins Bett kommen, Mani? Mir ist kalt.« »Nein«, erwiderte er bestimmt. »Du mußt ins Haus zurück, bevor sie dich hier finden.« »Nur für einen Augenblick«, bat sie und schlüpfte unter die Decke, bevor er protestieren konnte. Sie schmiegte sich an ihn. Ihr Körper bebte, so daß er es nicht übers Herz brachte, sie fortzuschicken. »Fünf Minuten«, murmelte er. »Dann mußt du aber gehen.« Ihr kleiner Körper erwärmte sich rasch, ihr duftendes Haar umspielte weich sein Gesicht. Sie gab ihm das Gefühl, erwach sen und wichtig zu sein, und er streichelte mit einer väterlichen Geste über ihr Haar. »Glaubst du, daß Gott unsere Gebete erhört?« fragte sie leise. »Ich habe viel gebetet, und nun bist du hier.« »Bei Gebeten kenne ich mich nicht aus«, gab er zu. »Mein Pa hat nie viel gebetet. Er hat mir nie beigebracht, wie man betet.« »Dann solltest du dich bald daran gewöhnen«, warnte sie ihn. »In diesem Haus beten alle dauernd.« Als sie schließlich zum großen Haus zurückschlich, hinter ließ sie eine warme Stelle auf der Matratze und eine noch wärmere Stelle in seinem Herzen.
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Es war noch dunkel, als Manfred durch das Schmettern der Trompete Gottes geweckt wurde. »Zehn Sekunden, dann komme ich mit einem Eimer voll kal tem Wasser, Jong.« Zitternd folgte er Onkel Tromp zum Was sertrog neben den Ställen. »Kaltes Wasser ist die beste Kur gegen die Laster von jun gem Fleisch, Jong«, erklärte Onkel Tromp genüßlich. »Vor dem Frühstück wirst du die Ställe ausmisten und das Pony striegeln, hörst du?« Der erste Tag war eine schwindelerregende Aufeinanderfolge von Arbeit und Gebet. Doch bis zum Ende der ersten Woche hatte Manfred die Rangordnung unter den jüngeren Mitglie dern des Haushalts unmerklich, aber nachhaltig umgewandelt. Er begegnete den verschlagenen gemeinsamen Versuchen der Bierman-Mädchen, sich über ihn lustig zu machen, mit eiskal ten Blicken aus seinen gelben Augen, und sie zogen sich em pört zurück. Beim Unterricht war es anders. Seine Kusinen hatten ihr Le ben lang viel lernen müssen und waren daher ausgezeichnete Schülerinnen. Als sich Manfred entschlossen an den Band der Deutschen Grammatik und an Melckes »Mathematik für Höhe re Schulen« heranwagte, genügten ihre selbstgefälligen Gesich ter angesichts seiner stockenden Antworten auf Tante Trudis Fragen, daß er sich insgeheim vornahm, es ihnen zu zeigen. Die Bemühungen, seine Kusinen einzuholen, nahmen ihn so sehr in Anspruch, daß er erst nach Tagen bemerkte, wie die Bierman-Mädchen die arme kleine Sarah schikanierten. Ihre Grausamkeiten waren raffiniert und hinterhältig, hier und da eine Stichelei, ein Wort, ein spöttisches Gesicht, ein bewußtes Ausschließen von ihren Spielen, Sabotageakte an ihren Haus arbeiten, ein Rußfleck auf einem Kleidungsstück, das Sarah gerade gebügelt hatte, zerknitterte Leintücher in einem Bett, das Sarah soeben gemacht hatte, fettige Fingerabdrücke auf Tellern, die sie gespült hatte, und dann das boshafte Grinsen, 293
wenn Sarah für ihre Schlampigkeit und Faulheit von Tante Trudi bestraft wurde. Manfred nahm sich die Bierman-Töchter einzeln vor. Er hielt sie an ihren Zöpfen fest und blickte ihnen aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern starr in die Augen, während er mit leiser, bestimmter Stimme sprach und mit dem Satz schloß: »– und lauf ja nicht zu deiner Mutter und erzähl ihr Märchen.«Ihre Schikanen hörten in der Folge ganz plötzlich auf, und unter Manfreds Schutz hatte Sarah ihre Ruhe. Am Ende dieser ersten Woche erschien am Sonntag nach der fünften Messe eine von Manfreds Kusinen auf der Schwelle des Geräteschuppens, wo Manfred, in sein Grammatikbuch vertieft, auf dem Bett lag. »Mein Vater erwartet dich in seinem Arbeitszimmer.« Manfred hatte die vorderen Räume des Pfarrhauses noch nie betreten. Sie galten alle als heilig, und von ihnen wiederum stellte das Arbeitszimmer des Pastors das Allerheiligste dar. Er wußte aus Erzählungen, daß ein Ruf in dieses Zimmer stets mit Strafe und Schmerz verbunden war. In dem Glauben, Sarahs nächtliche Besuche im Geräteschuppen wären entdeckt wor den, blieb er zögernd vor der Tür stehen und schreckte unter der lauten Antwort auf sein schüchternes Klopfen zusammen. Onkel Tromp stand, mit geballten Fäusten auf die Tischplatte gestützt, hinter dem dunklen Schreibtisch. »Komm herein, Jong, und mach die Tür zu!« dröhnte er und ließ sich in den Sessel fallen. Manfred trat vor ihn hin und versuchte Worte der Entschul digung und Reue zu finden, aber bevor er noch etwas sagen konnte, erhob Onkel Tromp wieder seine Stimme. »Nun, Jong, deine Tante hat mir Bericht erstattet. Sie sagt, deine Schulbildung sei schrecklich vernachlässigt worden, aber du seist willig und würdest dir Mühe geben. Wir sind die Ge tretenen, Jong. Wir sind die Opfer von Unterdrückung und Milnerismus.« Von Lord Milner hatte Manfred bereits durch 294
seinen Vater gehört. Lord Milner war jener berüchtigte engli sche Gouverneur und Gegner des Afrikanertums, auf dessen Anordnung alle Kinder, die in der Schule Afrikaans sprachen, eine Narrenkappe mit der Aufschrift »Ich bin ein Esel – ich spreche holländisch« tragen mußten. »Es gibt nur eine Mög lichkeit, unsere Feinde zu besiegen, Jong. Wir müssen noch klüger, stärker und rücksichtsloser werden als sie.« Die Trompete Gottes war von ihren eigenen Worten so be rauscht, daß sie ihren Blick zur Decke erhob, was Manfred Gelegenheit gab, sich verstohlen in dem überladenen Zimmer umzusehen. An drei Wänden standen Bücherregale mit vorwiegend reli giösen und philosophischen Werken. An der vierten, direkt hinter Onkel Tromps Schreibtisch, hing eine Reihe von Foto grafien, die Onkel Tromps ernstblickende Vorgänger im Sonn tagsstaat zeigten. Doch darunter prangte, völlig unpassend und überraschend, die Fotografie eines jungen Mannes mit nacktem Oberkörper, der eine enge Trikothose anhatte und einen präch tigen Gürtel mit silbernen Schnallen und Medaillen um die Mitte trug. Der Mann auf der Fotografie war kein anderer als Tromp Bierman im Alter von fünfundzwanzig. In klassischer Boxer haltung, die geballten Fäuste erhoben, glattrasiert, das Haar in der Mitte gescheitelt und mit Brillantine angeklebt, stellte er seinen kräftigen, muskulösen Körper zur Schau. »Du bist ein Boxer!« platzte er, unfähig, seine Überraschung im Zaum zu halten, heraus. Die Trompete Gottes brach mitten im Satz ab. Das mächtige zottige Löwenhaupt senkte sich, er blinzelte, als müßte er sich erst auf die Wirklichkeit besinnen. Dann folgte er Manfreds Blick. »Nicht bloß ein Boxer«, sagte Onkel Tromp. »Ich war ein Champion. Mittelgewichtschampion der Südafrikanischen Union.« »Und alle diese Pokale auf dem Bild hast du selbst gewonnen 295
– auch diesen Gürtel?« »Aber sicher, Jong. Ich habe die Philister erbarmungslos ver nichtet. Ich hab’ sie zu Dutzenden zu Boden gestreckt.« »Hast du denn nur gegen Philister gekämpft, Onkel Tromp?« »Alle waren sie Philister, Jong. Sobald sie mit mir in den Ring stiegen, wurden sie zu Philistern, und ich fiel gnadenlos über sie her – wie der Hammer und das Schwert des Allmäch tigen.« Tromp Bierman hob die geballten Fäuste und schoß ein Trommelfeuer von Schlägen ab, indem er jeden Schlag nur wenige Zentimeter vor Manfreds Nase abbremste. »Ich habe mir mit diesen Fäusten meinen Lebensunterhalt verdient, Jong. Jede Herausforderung kostete zehn Pfund. Ich habe auch gegen Mike Williams gekämpft und ihn in der sech sten Runde k. o. geschlagen. Den großen Mike Williams per sönlich.« Er lachte dröhnend. »Ha, ha! Links! Rechts! Links! Ich habe sogar den schwarzen Jephta geschlagen, und 1916 nahm ich Jack Lalor den Titel ab –« »Wunderbar, mein Junge, so wunderbar –« Er brach ab, nahm die Fäuste herunter, und seine Miene wurde wieder ernst und würdevoll. »Dann haben mich deine Tante Trudi und Gott, der Herr, zu Höherem berufen.« Die Kampflust verschwand langsam aus Onkel Tromps Augen. »Boxen und ein Champion werden – das wäre für mich das Höchste«, flüsterte Manfred, und Tromp betrachtete ihn nach denklich. »Du möchtest wirklich boxen lernen?« Er senkte die Stimme und warf einen verstohlenen Blick zur Tür. Manfred brachte kein Wort heraus, seine Kehle war vor Auf regung wie zugeschnürt, aber er nickte eifrig, und Onkel Tromp fuhr in seinem durchdringenden Tonfall fort: »Deine Tante Trudi billigt das nicht. Und da hat sie auch recht! Boxen ist etwas für Straßenjungen. Schlag dir den Ge danken aus dem Kopf, Jong. Denk an Höheres.« Er schüttelte so heftig den Kopf, daß sein Bart in Unordnung geriet. Offen 296
bar hatte er Mühe, die Idee fallenzulassen. »Um auf das zurückzukommen, was ich gesagt habe: Deine Tante und ich halten es für das beste, daß du den Namen De La Rey für eine Weile ablegst. Du wirst den Namen Bierman an nehmen, bis Gras über die Sache mit deinem Vater gewachsen ist. Dieser Name wurde schon viel zu oft in den Zeitungen er wähnt. Deine Tante hat ganz recht, wenn sie in diesem Haus keine Zeitung zuläßt. Es wird ein großes Tam-tam geben, wenn die Gerichtsverhandlung gegen deinen Vater nächsten Monat in Windhuk beginnt.« »Die Gerichtsverhandlung gegen meinen Vater?« Manfred starrte ihn verständnislos an. »Aber mein Vater ist doch tot.« »Tot? Du hast geglaubt, er ist tot?« Tromp stand auf und kam um den Schreibtisch herum. »Verzeih mir Jong.« Er legte seine riesigen Hände auf Manfreds Schultern. »Ich habe dir unnöti ges Leid bereitet, indem ich nicht früher darüber sprach. Dein Vater ist nicht tot. Er wurde von der Polizei verhaftet und wird am Zwanzigsten des nächsten Monats in Windhuk vor Gericht stehen.« Er stützte Manfred, als der Junge unter dem Eindruck dieser Worte leicht schwankte, und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Nun verstehst du wohl, warum wir möchten, daß du deinen Namen änderst, Jong.« Sarah hatte eilig ihre Bügelarbeit erledigt und sich heimlich aus dem Haus geschlichen. Nun kauerte sie mit angezogenen Knien auf dem Holzstoß und schaute Manfred bei der Arbeit zu. Sie liebte es, ihm beim Holzhacken zuzusehen. Manfred legte einen Holzklotz auf den Hackstock und trat einen Schritt zurück. Er spuckte sich in die Hände und hob die lange Axt. »Das Ein-mal-eins von fünf«, befahl er, und holte mit der Axt aus. 297
Das glänzende Blatt grub sich knirschend in den Holzklotz, und gleichzeitig ließ Mani vor Anstrengung heftig den Atem entweichen. »Einmal fünf ist fünf«, sagte Sarah zugleich mit dem Axt hieb. »Zweimal fünf ist zehn.« Mani stöhnte, und ein weißer Holzsplitter flog dicht an seinem Kopf vorbei. »Dreimal fünf ist fünfzehn.« Der Holzklotz fiel genau in dem Augenblick in zwei Stücke vom Hackstock, als Sarah bei »Zehnmal fünf ist fünfzig« an gekommen war. Mani trat zurück, stützte sich auf die Axt und grinste ihr zu. »Sehr gut, Sarie, nicht ein einziger Fehler.« Sie strahlte vor Freude – doch dann blickte sie über seine Schulter und fuhr erschrocken und schuldbewußt zusammen. Sie sprang vom Holzstoß und rannte mit fliegenden Röcken zum Haus zurück. Manfred wirbelte herum. Onkel Tromp lehnte am Türstock des Geräteschuppens und starrte ihn an. »Tut mir leid, Onkel Tromp.« Er senkte den Kopf. Onkel Tromp stieß sich vom Türstock ab und kam langsam auf Manfred zu. Er umkreiste den Jungen und musterte ihn mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln. Manfred wand sich vor Verlegenheit, und Onkel Tromp stieß ihm schmerzhaft seinen langen Zeigefinger in den Magen. »Wie alt bist du, Jong?« Manfred sagte es ihm, und Onkel Tromp nickte. »In drei Jah ren voll ausgewachsen. Du wirst ein Halbschwergewicht, wür de ich sagen, außer du legst am Ende noch kräftig zu und wirst ein richtiges Schwergewicht.« Manfred spürte, wie seine Haut bei diesen ungewohnten, aber irgendwie aufregenden Worten zu kribbeln begann. Onkel Tromp ließ ihn stehen und trat zum Holzstoß. Gemächlich zog er seinen dunklen Rock aus und faltete ihn fein säuberlich zu sammen. Er legte ihn auf den Holzstoß, nahm seinen weißen 298
Priesterkragen ab und legte ihn sorgsam oben auf den Rock. Dann wandte er sich wieder um und rollte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. »Du willst also Boxer werden?« fragte er, und Manfred nick te stumm. »Leg die Axt weg.« Manfred stieß das Axtblatt in den Hack stock und sah seinen Onkel an. Onkel Tromp hielt ihm die Handfläche seiner rechten Hand hin. »Schlag zu!« sagte er. Manfred ballte die Faust und holte zaghaft aus. »Du sollst keine Socken stricken, Jong, oder Brot kneten. Was bist du eigentlich, ein Mann oder eine Küchenmagd? Schlag zu, Mann. Schlag zu! Schon besser, hol nicht so weit aus, schieß die Faust vor! Härter! Härter! Schon viel besser. Jetzt die Linke, ja, genau so! Links! Rechts! Links!« Onkel Tromp hielt nun beide Hände hoch und tänzelte vor Manfred hin und her. Manfred folgte ihm begierig und stieß seine Fäuste abwechselnd in die großen offenen Handflächen. »Schön«, sagte Tromp und ließ die Hände sinken, »und jetzt schlag mir ins Gesicht. Na los, so hart du kannst. Direkt auf den Punkt. Mal sehen, ob du mich k. o. schlagen kannst.« Manfred ließ die Hände sinken und trat zurück. »Das kann ich nicht, Onkel Tromp.« »Was kannst du nicht, Jong? Was kannst du nicht?« »Ich könne dich nicht schlagen. Das wäre respektlos.« »Ach, jetzt geht’s auf einmal um Respekt? Wir reden wohl plötzlich von Puderquasten und Damenhandschuhen, wie?« brüllte Onkel Tromp. »Ich dachte, du willst boxen. Ich dachte, du möchtest ein Mann sein, und was finde ich? Ein greinendes, rotznasiges Baby!« Er schraubte die Stimme zum rauhen Fal sett hoch. »Es wäre respektlos, Onkel Tromp«, äffte er Man fred nach. Plötzlich schoß seine Rechte vor und landete klatschend auf Manfreds Wange. 299
»Du bist nicht respektvoll, Jong, du bist feige. Ein kleiner, wimmernder, feiger Junge, das bist du! Du wirst nie ein Boxer werden!« Er holte mit der anderen Pranke aus, und der Schlag kam so schnell und unerwartet, daß Manfred nicht darauf gefaßt war. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. »Wir werden ein Röckchen für dich finden müssen, Mädel chen, ein feines hübsches Röckchen.« Onkel Tromp beobachtete ihn genau. Er blickte ihm unver wandt in die Augen und betete insgeheim, daß es endlich ge schah. »Komm schon!« ermunterte er ihn im stillen, während er ihm eine Flut von Beleidigungen an den Kopf warf. Dann sah er, daß es geschah. Manfred senkte das Kinn, sein Blick veränderte sich. In seinen Augen glühte plötzlich ein kaltes gelbes Feuer, unerbittlich wie der starre Blick eines Lö wen unmittelbar vor dem Angriff, und dann griff der Junge an. Obwohl er darauf gewartet, es erwartet und darum gebetet hatte, warfen das Tempo und die Wildheit des Angriffs Onkel Tromp fast aus dem Gleichgewicht. Nur der Instinkt des alten Boxers rettete ihn, und er konnte diesen ersten mörderischen Angriff abwehren. Gleichzeitig spürte er die Kraft in den Fäu sten, die seine Schläfen und seinen Bart streiften. In den ersten Sekunden blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken. Es erforderte seine ganze Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit, auf den Beinen zu bleiben und dieses wilde, erbarmungslose Tier in Schach zu halten. Dann stellten sich Kampferfahrung und boxerisches Können wieder ein, und er wich den wilden Schlägen des Jungen tän zelnd aus. Er beobachtete ihn wie von einem Zuschauerplatz außerhalb des Ringes und sah mit wachsender Freude, daß der untrainierte Junge beide Fäuste mit gleicher Kraft und Ge wandtheit gebrauchte. »Von Natur aus beidhändig! Er bevorzugt nicht die Rechte 300
und legt in jeden Schlag den Schwung der Schulter, ohne es je gelernt zu haben«, jubelte er insgeheim. Dann blickte er wieder in diese gelben Augen, und mit der Erkenntnis, was er da auf die Menschheit loslassen wollte, überlief ihn ein kalter Schauer der Furcht. »Er ist ein Totschläger«, erkannte er. »Er hat den Instinkt des Leoparden, der aus reiner Freude am Töten und um des Blutge schmacks willen tötet. Er sieht mich gar nicht mehr. Er sieht nur noch die Beute vor sich.« Diese Erkenntnis hatte ihn abgelenkt. Ein rechter Schwinger traf ihn am Oberarm, und der Schmerz durchlief seinen ganzen Körper. Seine Beine wurden zu Blei, und er spürte, wie sein Herz gegen die Rippen pochte. Zweiundzwanzig Jahre war es her, daß er im Ring gestanden hatte, zweiundzwanzig Jahre bei Trudis guter Küche und ohne jedes Training. Onkel Tromp sammelte sich, wartete, bis Manfred beim nächsten rechten Schwinger seine Deckung öffnete, und schlug mit der Linken zurück – es war derselbe Schlag, mit dem er den schwarzen Jephta in der dritten Runde k. o. geschlagen hatte. Manfred sank halb betäubt auf die Knie, das tödliche gelbe Funkeln in seinen Augen wich einem stumpfen, verwirrten Blick, so als würde er aus der Hypnose erwachen. »Das war’s, Jong.« Die dröhnende Stimme der Trompete Gottes war auf ein atemloses Keuchen reduziert. »Knie nieder und danke deinem Schöpfer.« Onkel Tromp ließ seinen schwe ren Leib neben Manfred niederplumpsen und legte den Arm um seine Schulter. Er hob das Gesicht zum Himmel und betete mit unsicherer Stimme: »Allmächtiger Gott, wir danken Dir für den starken Körper, mit dem Du Deinen jungen Diener ausgestattet hast. Außerdem danken wir Dir für seine starke Linke – mit der wir allerdings noch hart arbeiten müssen – und bitten Dich demütig, ein wohlwollendes Auge auf unsere Bemühungen zu werfen, ihm 301
erst einmal die Grundlagen der Beinarbeit beizubringen. Seine Rechte ist ein wahres Geschenk von Dir, für das wir Dir ewig dankbar sein werden, wenn er auch erst lernen muß, mit der Rechten nicht fünf Tage vor dem Schlag auszuholen.« Manfred war noch immer benommen, doch er reagierte auf den Zeigefingerstoß in seine Rippen mit einem inbrünstigen »Amen«. »Wir werden sofort mit dem Lauftraining beginnen, o Herr, und außerdem im Geräteschuppen Seile spannen, damit er den Ring kennenlernt, und wir bitten demütig um Deinen Segen für dieses Unternehmen und um Deine Hilfe – auf daß Deines ge horsamen Dieners Gefährtin im heiligen Stand der Ehe, Trudi Bierman, nichts davon merkt.« Unter dem Vorwand, eines seiner Pfarrkinder zu besuchen, spannte Onkel Tromp von da an fast jeden Nachmittag das Po ny vor den Zweisitzer und fuhr mit großer Geste zum Tor hin aus. Manfred wartete, barfuß und in einer kurzen Khakihose, hinter einem Kameldornstrauch neben der Hauptstraße nach Windhuk und trabte neben der Kutsche her, sobald Tromp das schwerfällige Pony zum leichten Galopp antrieb. »Fünf Meilen heute, Jong – bis zur Brücke und zurück, und ein bißchen schneller als gestern.« Die Boxhandschuhe, die Onkel Tromp heimlich vom Spei cher geholt hatte, waren alt und rissig, aber sie flickten sie mit Holzleim, und Onkel Tromp sah zu, als Manfred die Hand schuhe das erste Mal überstreifte und daran roch. »Der Geruch von Leder und Schweiß und Blut, Jong. Merk ihn dir gut. Von jetzt an wirst du mit diesem Geruch leben.« »Fühlen sich gut an«, sagte Manfred grinsend. »Nichts fühlt sich besser an«, stimmte Onkel Tromp zu. Sie bauten auch den Ring gemeinsam, allerdings nur halb so groß wie in Wirklichkeit, weil der Geräteschuppen zu klein 302
war. Sarah, die den feierlichsten und schrecklichsten Eid auf absolute Geheimhaltung hatte schwören müssen, durfte beim Training zusehen, wenn sie auch eine höchst parteiische Zu schauerin war und schrill und schamlos stets nur den jüngeren Boxer anfeuerte. Nach dem zweiten Training, das Onkel Tromp vollkommen außer Atem brachten, schüttelte er wehmütig den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Jong, entweder wir müssen einen anderen Spar ringpartner für dich suchen, oder ich muß selbst wieder zu trai nieren beginnen.« Von da an blieb das Pony beim Kameldornstrauch zurück, und Onkel Tromp lief stöhnend und keuchend neben Manfred her. Und wie durch ein Wunder schrumpfte allmählich sein vorstehender Bauch, zeichneten sich unter der weichen Fett schicht an Schultern und Brustkorb bald kräftige Muskeln ab. Nach und nach verlängerten sie die Zeiten der Sparringrunden von zwei auf vier Minuten, wobei Sarah, mit Onkel Tromps billiger silberner Taschenuhr in der Hand, als offizieller Zeit nehmer fungierte. Es verging fast ein Monat, bevor sich Onkel Tromp im stillen sagen konnte: »Nun sieht er allmählich aus wie ein Boxer.« Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, das auch Manfred zu sagen, statt dessen meinte er nur: »Jetzt will ich Tempo sehen.« Eines Tages führte Onkel Tromp Manfred zu der großen Holzkiste an der hinteren Wand des Geräteschuppens und öff nete den Deckel. »Das ist für dich. Ich habe es per Post in Kap stadt bestellt. Es ist gestern mit dem Zug angekommen.« Er legte ein wirres Knäuel aus Leder und Gummi in Man freds Arme. »Was ist das, Onkel Tromp?« »Komm, ich zeig’ es dir.« In wenigen Minuten hatte Onkel Tromp das komplizierte Ding montiert. »Na, was sagst du nun, Jong?« Er trat einen Schritt zurück 303
und strahlte. »Das ist das schönste Geschenk, das ich je erhalten habe, Onkel Tromp. Aber was ist es?« »Du willst ein Boxer sein und erkennst nicht einmal einen Sandsack, wenn du einen siehst!« »Ein Sandsack! Der muß doch eine Menge Geld gekostet ha ben.« »Das hat er auch, Jong, aber sag es ja nicht deiner Tante Tru di.« »Was macht man damit?« »Das macht man damit!« rief Onkel Tromp aus und bearbei tete den Sandsack mit beiden Fäusten, bis er schließlich völlig außer Atem zurücktrat. »Tempo, Jong!« Angesichts von Onkel Tromps Großzügigkeit und Begeiste rung mußte Manfred all seinen Mut zusammennehmen, um die Worte auszusprechen, die ihm in all diesen Wochen auf der Zunge gelegen hatten. Er wartete bis zur allerletzten Gelegenheit am allerletzten Tag, bevor er damit herausplatzte: »Ich muß fort, Onkel Tromp«, sagte er. »Fort? Du willst mein Haus verlassen?« Onkel Tromp blieb mitten auf der Hauptstraße stehen und wischte sich mit einem schäbigen Handtuch den Schweiß vom Gesicht. »Warum nur, Jong?« »Mein Pa«, antwortete Manfred. »In drei Tagen beginnt die Gerichtsverhandlung. Ich muß dort sein, Onkel Tromp. Ich muß, aber ich komme zurück. Ich schwöre dir, ich komme so bald wie möglich zurück.« Onkel Tromp wandte sich von ihm ab und begann wieder zu laufen. Manfred rannte neben ihm her. Beide schwiegen, bis sie den Kameldornstrauch erreichten. Onkel Tromp kletterte auf den Fahrersitz des Ponywagens und nahm die Zügel in die Hand. Dann blickte er nachdenklich 304
auf Manfred hinunter, der abwartend neben dem Vorderrad stand. »Ich wünschte, Jong, ich hätte einen Sohn, der mir soviel Treue entgegenbringt«, brummte er leise und ließ das Pony antraben. Am folgenden Abend, lange nach dem Abendessen und den Gebeten, lag Manfred auf seinem Bett und las beim Schein der Kerze, die auf einem Regal oberhalb seines Kopfes stand, in einem Goethe-Band. Es war nicht leicht, obwohl sich sein Deutsch inzwischen sehr verbessert hatte. An zwei Tagen in der Woche bestand Tante Trudi darauf, daß im Haus nur Deutsch gesprochen wurde. Manfred war so sehr in seine Lek türe vertieft, daß er Onkel Tromp erst bemerkte, als sein Schat ten über das Bett fiel. »Du wirst dir die Augen verderben, Jong.« Manfred setzte sich auf und schwang seine Beine aus dem Bett, während Onkel Tromp neben ihm Platz nahm. Ein paar Augenblicke blätterte der alte Mann schweigend in dem Buch, dann sagte er, ohne aufzublicken: »Rautenbach fährt morgen mit seinem Ford nach Windhuk. Er muß hundert Puter zum Markt bringen. Aber für dich ist auf der Ladefläche noch Platz.« »Danke, Onkel Tromp.« »In der Stadt lebt eine alte Witwe, fromm und ehrbar – au ßerdem eine sehr gute Köchin. Sie wird dich aufnehmen. Ich habe ihr geschrieben.« Er zog einen Brief aus der Tasche und legte ihn auf Manfreds Schoß. »Danke, Onkel Tromp.« Weiter wußte Manfred nichts zu sagen. Am liebsten hätte er seine Arme um den steifen, bärenähnlichen Hals geschlungen und seine Wange an den rauhen, grau durchwachsenen Bart gedrückt. »Möglicherweise hast du noch andere Ausgaben«, knurrte Onkel Tromp. »Ich weiß nicht, wie du wieder hierher zurück 305
kommst. Jedenfalls –« Er griff in die Tasche, nahm mit der anderen Hand Manfreds Handgelenk und drückte ihm etwas in die Hand. Manfred schaute auf die beiden glänzenden Münzen in seiner Hand und schüttelte langsam den Kopf. »Onkel Tromp –« »Sag nichts, Jong – vor allem nicht zu deiner Tante Trudi.« Onkel Tromp wollte aufstehen, aber Manfred hielt ihn am Är mel zurück. »Onkel Tromp. Ich kann es zurückzahlen – das und alles an dere.« »Ich weiß, das wirst du, Jong. Du wirst es mir eines Tages tausendmal zurückzahlen.« »Nein, nein, nicht eines Tages. Ich kann es dir jetzt gleich zu rückzahlen.« Manfred sprang auf und lief zu der Packkiste, die ihm als Garderobe diente. Er kniete nieder, schob den Arm unter die Kiste und holte einen gelben Tabaksbeutel hervor. Dann lief er zu Onkel Tromp zurück und zog mit vor Aufregung und Eifer zitternden Fingern die Bänder des Beutels auf. Nachsichtig lächelnd streckte Onkel Tromp seine riesige Pranke aus. »Was hast du denn da, Jong?« fragte er heiter, aber sein Lächeln erstarrte, als Manfred eine Kaskade farbloser Steine in seine Hand rieseln ließ. »Diamanten, Onkel Tromp«, flüsterte der Junge. »Genug, um einen reichen Mann aus dir zu machen. Genug, um dir alles zu kaufen, was du brauchst.« »Wo hast du die Steine her, Jong?« Onkel Tromps Stimme klang ruhig and gelassen. »Wie bist du zu diesen Steinen ge kommen?« »Mein Pa. Er hat sie in mein Jackenfutter gesteckt. Er sagte, sie gehörten mir, um für meine Ausbildung und Erziehung zu bezahlen, und für all die Dinge, die er mir geben wollte, aber nie geben konnte.« 306
»So, so«, sagte Onkel Tromp leise. »Dann ist also alles wahr, was die Zeitungen schreiben. Dann sind es keine Lügen der Engländer. Dein Vater ist ein Bandit und Straßenräuber.« Er ballte die Hand mit den glitzernden Diamanten zur Faust. »Und du warst bei ihm, Jong. Du mußt dabeigewesen sein, als er diese schrecklichen Dinge tat, die sie ihm vorwerfen und für die sie ihn verurteilen wollen. Warst du bei ihm, Jong? Ant worte mir!« Seine Stimme dröhnte wie Donnergrollen. »Hast du diese üble Tat mit ihm zusammen begangen, Jong?« Die andere Hand schoß vor und packte Manfred am Kragen. Er zog des Jungen Gesicht nahe zu sich heran. »Gestehe es, Jong. Warst du dabei, als dein Vater diese Engländerin überfiel und ausraubte?« »Nein! Nein!« Manfred schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nicht wahr. So etwas würde mein Vater nicht tun. Es waren unsere Diamanten. Er hat es mir erklärt. Er hat sich nur unser rechtmäßiges Eigentum zurückgeholt.« »Warst du bei ihm, als er es tat, Jong? Sag mir die Wahr heit«, unterbrach ihn Onkel Tromp wütend. »Sag mir, ob du bei ihm warst?« »Nein, Onkel Tromp. Er ging allein. Und als er zurückkam, war er verletzt. Seine Hand –« »Ich danke dir, o Herr!« Onkel Tromp hob erleichtert den Blick. »Vergib ihm, denn er wußte nicht, was er tat, Herr. Er wurde von einem schlechten Menschen zur Sünde verleitet.« »Mein Vater ist nicht schlecht«, protestierte Manfred. »Er wurde um sein rechtmäßiges Eigentum betrogen.« »Schweig, Jong!« Onkel Tromp erhob sich zu seiner vollen Größe – würdevoll und ehrfurchtgebietend wie ein biblischer Prophet. »Deine Worte sind eine Beleidigung im Angesicht Gottes. Du wirst hier und jetzt dafür Buße tun.« Er zerrte Manfred quer durch den Raum und stieß ihn zu dem schwarzen Eisenamboß. »Du sollst nicht stehlen. So lautet das Wort Gottes.« Er legte 307
einen der Diamanten in die Mitte des Ambosses. »Diese Steine sind die unheilvollen Früchte einer schrecklichen Tat.« Er nahm einen schweren Vorschlaghammer vom Regal. »Sie müs sen zerstört werden.« Er drückte Manfred den Hammer in die Hand. »Bete um Vergebung, Jong. Flehe den Herrn um Vergebung und Gnade an – und schlag zu!« Manfred stand mit dem Hammer in den Händen vor dem Amboß und starrte auf die Diamanten. »Schlag zu, Jong! Zerschmettere diesen verfluchten Stein, oder du wirst durch ihn für immer mit einem Fluch beladen sein«, dröhnte Onkel Tromp. Langsam hob Manfred den Hammer und hielt inne. Er drehte sich um und starrte den wütenden alten Mann an. »Schlag endlich zu«, brüllte Onkel Tromp. »Jetzt!« Und Manfred holte aus und ließ den Hammer mit voller Wucht auf den Amboß niedersausen. Als Manfred den Hammer langsam hob, war von dem Dia manten nichts übrig als ein weißes Pulver, feiner als Zucker. Onkel Tromp fegte den Diamantenstaub vom Amboß und legte den nächsten Stein darauf. »Schlag zu!« stieß er hervor, und der Amboß tönte wie eine Glocke unter dem kräftigen Hammerschlag. Der kostbare Staub wurde fortgewischt, und dann war der nächste Stein an der Reihe. Bis Onkel Tromp schließlich ausrief: »Gelobt sei der Name des Herrn. Es ist vollbracht!« Und er fiel auf die Knie, zog Manfred mit sich zu Boden und begann zu beten: »Oh, Herr Jesus, betrachte diese Bußetat mit Gnade. Du, der du dein Leben für unsere Erlösung hingegeben hast, vergib deinem jungen Diener, dessen kindliche Unschuld und Unwis senheit ihn zu schwerer Sünde verleitet hat.« Es war schon nach Mitternacht, als sich Onkel Tromp endlich erhob. »Geh jetzt zu Bett, Jong. Wir haben alles getan, was wir im 308
Augenblick tun konnten, um deine Seele zu retten.« Er schaute zu, als Manfred sich entkleidete und unter die graue Decke schlüpfte. Dann fragte er ruhig: »Wenn ich dir verbieten würde, morgen nach Windhuk zu fahren, würdest du gehorchen?« »Mein Pa«, flüsterte Manfred. »Antworte mir, Jong, würdest du mir gehorchen?« »Ich weiß nicht, Onkel Tromp, aber ich glaube nicht, daß ich es könnte.« »Du hast schon so viel zu bereuen. Es wäre nicht richtig, dir auch noch die Sünde des Ungehorsams aufzuladen. Deshalb werde ich dir keine solche Einschränkung auferlegen. Du mußt tun, was dir die Treue und dein Gewissen gebieten. Aber wenn du nach Windhuk gehst, dann gebrauche um deinetwillen – und meinetwillen – den Namen Bierman, nicht den Namen De La Rey, hörst du, Jong?« »Heute ist Urteilsverkündung! Ich habe es mir zur Regel ge macht, niemals das Ergebnis eines Prozesses vorherzusagen«, erklärte Abe Abrahams. »Doch heute breche ich diese Regel. Ich kann jetzt schon sagen, daß der Mann hängen wird. Dar über besteht kein Zweifel.« »Was macht Sie so sicher, Abe?« fragte Centaine gelassen. »Erstens der Beweis seiner Schuld. Niemand, nicht einmal die Verteidigung, hat den ernsthaften Versuch gewagt, seine Schuld zu leugnen. Schuldig in Vorsatz und Ausführung, schuldig, es bis ins kleinste geplant und planmäßig ausgeführt zu haben, unter allen die Tat verschärfenden Umständen, ein schließlich des Angriffs und der Plünderung eines Militärstütz punkts, des Angriffs auf die Polizei und der Verwundung eines Polizisten mit einer Granate.« Centaine seufzte. Sie hatte zwei Tage im Zeugenstand ver bracht. Wenn sie während des harten und unerbittlichen 309
Kreuzverhörs äußerlich auch ruhig und unerschütterlich ge blieben war, so hatten diese Tage sie doch erschöpft. Außer dem quälte sie ein Schuldgefühl, das Gefühl, Lothar zu dieser Verzweiflungstat getrieben zu haben. »Zweitens«, erklärte Abe, indem er seine Zigarre schwenkte, »sein Strafregister. Während des Krieges galt er als Verräter und Rebell, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt war.« »Für diese Kriegsverbrechen wurde er begnadigt«, warf Cen taine ein. »Eine Begnadigung, die sowohl vom Premierminister als auch vom Justizminister unterzeichnet wurde.« »Trotzdem sprechen sie gegen ihn.« Abe schüttelte wissend den Kopf. »Und die Begnadigung macht es nur noch schlim mer: Die gnädige Hand zu beißen heißt das Gesetz verhöhnen. Das wird dem Richter gar nicht einfallen, glauben Sie mir.« Abe betrachtete das Ende seiner Zigarre. »Drittens«, fuhr er fort, »zeigt der Mann keinerlei Reue. Er hat sich standhaft ge weigert, zu erzählen, was er mit der verdammten Beute ange fangen hat.« Er brach ab, als er sah, welche Qual Centaine bei der Erwäh nung der verlorenen Diamanten litt, und fuhr hastig fort: »Vier tens der emotionelle Aspekt des Verbrechens. Eine Dame aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft anzugreifen.« Er grinste plötzlich. »Eine hilflose Frau, so unfähig, sich selbst zu vertei digen, daß sie ihm den Arm abbeißen mußte.« Sie runzelte die Stirn, und er wurde wieder ernst. »Ihr Mut und Ihre Integrität werden gegen ihn sprechen, ebenso Ihre Würde im Zeu genstand. Sie haben die Zeitungen ja gelesen: Jeanne d’Arc und Florence Nightingale in einer Person. Der Richter wird Sie mit seinem Kopf auf dem silberen Tablett dafür belohnen.« Centaine blickte auf die Uhr. »Das Gericht tritt in vierzig Minuten wieder zusammen. Wir sollten aufbrechen.« Sie fuhren in Abes Ford den Hügel hinauf. Vor dem Ge richtsgebäude wartete die Presse, und die Reporter schoben ihre Kameras durch das offene Fenster in den Wagen und blen 310
deten Centaine mit ihren Blitzlichtern. Kaum war sie aus dem Wagen gestiegen, umdrängten die Reporter sie und bombar dierten sie mit ihren Fragen. »Was werden Sie empfinden, wenn man ihn hängt?« »Was ist mit den Diamanten? Kann Ihre Gesellschaft den Verlust verkraften, Mrs. Courtney?« »Glauben Sie, daß man um den Preis der Diamanten einen Kompromiß eingeht?« »Wie fühlen Sie sich?« Abe griff ein und bahnte sich gewaltsam einen Weg durch die Menge. Er zog sie am Handgelenk hinter sich her in das beträchtlich ruhigere Gerichtsgebäude. »Warten Sie hier auf mich, Abe«, befahl sie und eilte durch die Menge, die vor dem Gerichtssaal wartete, den Gang hinun ter. Sie bog um die Ecke und strebte auf die Damentoilette zu. Das Büro, das der Verteidigung zur Verfügung gestellt wurde, lag direkt gegenüber der Damentoilette. Centaine blickte sich kurz um, um sicherzugehen, daß sie nicht beobachtet wurde, dann trat sie auf die Tür zu, klopfte kurz an, stieß die Tür auf und trat ein. Sie schloß die Tür hinter sich, und als der Vertei diger aufblickte, sagte sie rasch: »Verzeihen Sie mein Eindrin gen, meine Herren, aber ich muß mit Ihnen sprechen.« Abe wartete noch immer dort, wo sie ihn stehengelassen hat te, als Centaine ein paar Minuten später zurückkehrte. »Oberst Malcomess ist hier«, erklärte er, und für einen Au genblick vergaß sie alles andere. »Wo ist er?« fragte sie aufgeregt. Sie hatte Blaine nicht mehr gesehen, seit er am zweiten Prozeßtag seine Zeugenaussage gemacht hatte. »Wo ist er?« wiederholte sie. »Er ist schon im Saal«, erwiderte Abe, und Centaine sah, daß die Türen zum Gerichtssaal während ihrer Abwesenheit geöff net worden waren. Centaine hielt heimlich Ausschau nach Blaines großer Ge 311
stalt und zuckte zusammen, als sie ihn jenseits des Mittelgan ges entdeckte. Er erblickte sie einen Augenblick später. Seine Reaktion war genau so deutlich wie ihre. Keiner von ihnen lächelte, als sie einander sekundenlang in die Augen blickten. Dann drängte die Menge wieder durch den Mittelgang, und sie verlor ihn aus den Augen. Sie sank auf den Platz neben Abe und kramte eine Weile in ihrer Handtasche, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Da ist er«, rief Abe aus, und Centaine dachte für einen Au genblick, er meine Blaine. Dann sah sie, daß die Wärter De La Rey hereinbrachten. Obwohl sie ihn in letzter Zeit jeden Tag gesehen hatte, mach te ihr die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, noch immer zu schaffen. An diesem Tag trug er ein verwaschenes blaues Arbeitshemd und dunkle Hosen. Die Kleidung schien ihm viel zu groß zu sein, sein Gang war schleppend wie der eines alten Mannes. Sein Haar war inzwischen schneeweiß geworden, seine Haut hatte ein graues, leichenhaftes Aussehen. Nachdem er sich auf der Anklagebank niedergelassen hatte, hob er den Kopf und suchte die Galerie ab. In seinen Augen stand eine ergreifende Angst. Dann sah Centaine, wie seine Augen kurz aufleuchteten und ein Lächeln um seine Lippen spielte, als er fand, wonach er gesucht hatte. Diese Szene hatte sie nun an jedem Morgen der vergangenen fünf Tage beobach tet, und sie drehte sich um, um zur Galerie hinaufzublicken. Aber von ihrem Platz aus konnte sie nicht sehen, wem Lothars Aufmerksamkeit gegolten hatte. »Ruhe im Gerichtssaal«, rief der Gerichtsdiener. Richter Hawthorne schritt seinen beiden Beisitzern voran zu den Rich terstühlen. Der Richter war ein kleiner Mann mit silbernem Haar, einem gütigen Gesicht und lebhaft funkelnden Augen hinter dem Kneifer. Richter Hawthorne blickte auf, eröffnete in der vorgeschrie 312
benen Form den Prozeß, und dann wurde die Anklageschrift noch einmal verlesen. Eine erwartungsvolle Stille breitete sich im Gerichtssaal aus. Die Reporter zückten Bleistift und Notizblöcke und beugten sich vor. Selbst die Rechtsanwälte in der ersten Bankreihe ver stummten. Lothars Gesicht war ausdruckslos, aber leichenhaft blaß, als er den Richter anblickte. Richter Hawthorne konzentrierte sich auf seine Aufzeich nungen, dadurch die Spannung noch unerträglicher machend. Dann blickte er auf und begann ohne lange Vorreden mit der Verkündung seines Resümees und des Urteils. Zuerst führte er jeden Anklagepunkt einzeln an, beginnend mit den schwersten: drei Anklagepunkte wegen versuchten Mordes, zwei wegen tätlichen Angriffs mit dem Vorsatz, ernst haften körperlichen Schaden zuzufügen, einer wegen bewaff neten Überfalls. Insgesamt waren es sechsundzwanzig Ankla gepunkte, und der Richter brauchte fast zwanzig Minuten, um sie alle einzeln aufzuzählen. Während der Richter sprach, wandte Lothar De La Rey den Kopf und blickte Centaine an. Diese hellen, anklagenden Au gen irritierten sie dermaßen, daß sie den Blick auf die Handta sche in ihrem Schoß senkte, um ihnen auszuweichen. »Das Gericht hat alle Fakten geprüft, die vorgelegten Bewei se und Zeugenaussagen überdacht und ist einstimmig zu einem Urteil gekommen. Das Gericht befindet Lothar De La Rey in allen sechsundzwanzig Anklagepunkten für schuldig im Sinne der Anklage.« Lothar zuckte mit keiner Wimper, aber in der Zuschauer menge wurde Gemurmel laut. Drei Reporter sprangen auf und eilten aus dem Saal. Abe nickte selbstgefällig. »Wie ich’s vo rausgesehen habe – der Galgen«, murmelte er. »Er wird hän gen, ganz sicher.« Die Gerichtsdiener versuchten die Ruhe wieder herzustellen. Es wurde still im Saal. 313
»Doch möge die Verteidigung mildernde Umstände vorbrin gen.« Richter Hawthorne nickte dem jungen Verteidiger zu, worauf sich dieser augenblicklich erhob. Lothar De La Rey war mittellos und konnte sich keinen eige nen Verteidiger leisten. Reginald Osmond war vom Gericht zu seiner Verteidigung bestellt worden. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit – es war seine erste Verteidigung in einem Ka pitalverbrechen – hatte Osmond seine Sache unerwartet gut gemacht, besonders angesichts der hoffnungslosen Sachlage dieses Falles. Sein Kreuzverhör war gewandt und energisch gewesen, wenn auch unwirksam, und er hatte dem Vertreter der Anklage keine unverdienten Vorteile überlassen. »Wenn Sie erlauben, Euer Ehren, dann möchte ich einen Zeugen aufrufen, der mildernde Umstände vorbringen kann.« »Mr. Osmond, Sie haben doch nicht etwa die Absicht, jetzt noch einen Zeugen aufzurufen? Haben Sie dafür Präzedenzfäl le anzuführen?« Der Richter runzelte die Stirn. »Ich möchte Euer Ehren mit allem Respekt auf zwei Fälle hinweisen: Krone gegen Van der Spuy 1923 und Krone gegen Alexander 1914.« Der Richter beriet sich einen Augenblick mit seinen Beisit zern und blickte mit einem theatralischen Seufzer der Erbitte rung wieder auf. »Also gut, Mr. Osmond.« »Danke, Euer Ehren.« Osmond war von seinem Erfolg so überwältigt, daß er ein wenig stotterte, als er mit lauter Stimme sagte: »Ich rufe Mrs. Centaine de Thiry Courtney in den Zeu genstand.« Eine verblüffte Stille trat ein. Selbst Richter Hawthorne fiel in die Lehne seines hohen geschnitzten Stuhles zurück, bevor ein überraschtes, erregtes und erwartungsvolles Gemurmel im Saal einsetzte. Die Presseleute sprangen auf, um Centaine sehen zu können, und von der Galerie rief eine Stimme: »Leg dem Kerl die Schlinge um den Hals, Süße!« 314
Richter Hawthorne hatte sich rasch wieder erholt, und die Augen hinter seinem Kneifer funkelten, als er einen Blick über die Galerie schweifen ließ, um den Spaßvogel zu finden. »Ich werde keine weiteren Ausbrüche dieser Art zulassen. Auf Mißachtung des Gerichts stehen hohe Strafen«, fauchte er. Der Gerichtsdiener half Centaine in den Zeugenstand und nahm ihr den Eid ab, während alle Männer im Saal, einschließ lich des hohen Gerichts, sie durchwegs mit offener Bewunde rung betrachteten, nur ein paar, darunter auch Blaine und Abraham Abrahams, mit Bestürzung und Sorge. Mr. Osmond erhob sich, um das Verhör zu eröffnen, und sei ne Stimme war respektvoll gedämpft. »Mrs. Courtney, würden Sie dem Gericht bitte erzählen, wie lange Sie den Angeklagten –« Er korrigierte sich rasch, weil Lothar De La Rey nun nicht mehr angeklagt, sondern bereits verurteilt war. »– wie lange Sie den Gefangenen bereits ken nen.« »Ich kenne Lothar De La Rey seit nahezu vierzehn Jahren.« Centaine blickte durch den Saal zu der gebeugten grauen Ge stalt auf der Anklagebank. »Würden Sie so freundlich sein, zu schildern, wie Sie ihn kennengelernt haben.« »Es war im Jahr 1919. Ich irrte durch die Wüste. Ich war nach dem Sinken der Protea Castle als Schiffbrüchige an der Skelettküste an Land gespült worden. Eineinhalb Jahre lang wanderte ich mit einer kleinen Gruppe von Buschmännern durch die Kalahari.« Jedermann kannte die Geschichte. Zu je ner Zeit war sie eine Sensation gewesen. Sie beschwor ihre damalige Verzweiflung, Not und Einsam keit herauf, und im Gerichtssaal wurde es totenstill. Selbst Richter Hawthorne saß zusammengesunken in seinem Stuhl, hatte das Kinn auf die geballte Faust gestützt und hörte auf merksam zu. Als sie in ihrem Bericht an dem Punkt anlangte, als der an 315
greifende Löwe, der sie bis ins Geäst eines Mopani-Baumes verfolgte, seine Pranken in ihre Beine schlug, versagte ihr die Stimme, und Mr. Osmond kam ihr sanft zu Hilfe: »War das der Zeitpunkt, als Lothar De La Rey eingriff?« Centaine nahm sich zusammen. »Entschuldigen Sie, bitte.« »Bitte, Mrs. Courtney, überanstrengen Sie sich nicht«, kam ihr auch Richter Hawthorne zu Hilfe. »Ich werde das Gericht vertagen, wenn Sie Zeit brauchen –« »Nein, nein, Euer Ehren. Sehr freundlich von Ihnen, aber das wird nicht nötig sein.« Sie straffte ihre Schultern und wandte sich wieder an das Ge richt. »Ja, das war der Augenblick, als Lothar De La Rey ein griff. Er hatte in der Nähe sein Lager aufgeschlagen und war durch das Gebrüll des Löwen alarmiert worden. Er erschoß den Löwen, bevor dieser mich zerreißen konnte.« »Er hat Ihnen damals das Leben gerettet, Mrs. Courntey?« »Ja, und er rettete außerdem mein Kind.« Mr. Osmond senkte schweigend den Kopf, um dem Gericht Gelegenheit zu geben, die ganze Dramatik dieses Augenblicks zu erfassen, dann fragte er leise: »Was geschah dann, Ma dam?« »Beim Sturz von dem Baum zog ich mir eine Gehirnerschüt terung zu. Die Bißwunde an meinem Bein wurde brandig. Ich war tagelang bewußtlos und unfähig, für mich und meinen Sohn zu sorgen.« »Was hat der Gefangene in dieser Situation getan?« »Er hat mich gepflegt. Er verband meine Wunden und hat in jeder Hinsicht für mich und mein Kind gesorgt.« »Er hat Ihnen ein zweites Mal das Leben gerettet?« »Ja.« Sie nickte. »Er rettete mich abermals.« »Nun, Mrs. Courtney, und dann vergingen einige Jahre. Sie wurden eine wohlhabende Frau.« Centaine schwieg, und Osmond fuhr fort: »Vor drei Jahren trat der Gefangene um eine finanzielle Unterstützung für sein 316
Fischfang- und Konservenunternehmen an Sie heran. Ist das richtig?« »Er trat an meine Gesellschaft heran, an die Courtney Berg bau- und Finanzierungsgesellschaft, und bat um einen Kredit«, erwiderte sie, und Osmond befragte sie über alle Ereignisse bis zu dem Zeitpunkt, als sie Lothars Konservenfabrik schließen ließ. »Mrs. Courtney, würden Sie sagen, daß Lothar De La Rey Grund hatte zu glauben, er sei ungerecht behandelt, wenn nicht sogar vorsätzlich ruiniert worden?« Centaine zögerte. »Meine Handlungen stützten sich immer auf klare Geschäftsprinzipien. Allerdings muß ich zugeben, daß es von Lothar De La Reys Standpunkt aus den Anschein erwecken konnte, als wären meine Handlungen beabsichtigt gewesen.« »Hat er Ihnen damals vorgeworfen, Sie würden versuchen, ihn zu ruinieren?« Sie blickte auf ihre Hände hinunter und flüsterte etwas. »Verzeihen Sie, Mrs. Courtney, ich muß Sie bitten, das zu wiederholen.« »Er sagte, daß ich es nur tue, um ihn zu vernichten.« Blaine Malcomess lächelte ihr aus der dritten Reihe ermuti gend zu, und sie wußte, daß jeder im Gerichtssaal ihre Gefühle erkennen würde, wenn sie sich nicht von ihm abwandte. Sie zwang sich, die Augen von ihm loszureißen, und ließ ihren Blick über die Galerie schweifen. Es war reiner Zufall, aber ihre Augen streiften plötzlich das äußerste Ende der Galerie, und ihr Blick wurde unwidersteh lich von einem Augenpaar angezogen, das sie finster anstarrte: Lothars Augen, wie sie einst gewesen waren, gelb wie Topas, hell und wild, mit dunklen, geschwungenen Augenbrauen – junge Augen, unvergeßbare, unvergeßlich gebliebene Augen. Aber diese Augen gehörten nicht zu Lothars Gesicht, denn Lo thar saß im Gerichtssaal wenige Meter von ihr entfernt – ge 317
beugt, gebrochen und grau. Dieses Gesicht war jung, stark und voller Haß, und plötzlich wußte sie, wer das war, wußte es mit dem sicheren Instinkt der Mutter. Sie hatte ihren jüngeren Sohn nie gesehen – auf ihr Verlangen hatte man ihn sofort nach der Niederkunft von ihr fortgenommen. Aber nun erkannte sie ihn, und es war, als würde ihr Innerstes, ihr ganzer Leib bei seinem Anblick erschüttert, und sie mußte die Hand gegen den Mund pressen, um nicht laut aufzuschreien. »Mrs. Courtney! Mrs. Courtney!« rief der Richter in besorg tem Ton. »Ist alles in Ordnung, Mrs. Courtney? Glauben Sie, daß Sie fortfahren können?« »Danke, Euer Ehren, mir geht es gut.« Ihre Stimme schien von weither zu kommen, und es erforderte ihre ganze Willens kraft, um nicht zu dem Jungen auf der Galerie hinaufzublicken – zu ihrem Sohn Manfred. »Also gut, Mr. Osmond, fahren Sie fort.« Centaine hatte Mühe, sich auf Osmonds Fragen zu konzen trieren, der sie ein zweites Mal über den Raub und den Kampf in dem ausgetrockneten Flußbett befragte. »Er hat Sie also nicht berührt, bis Sie versuchten, nach dem Gewehr zu greifen, Mrs. Courtney?« »Nein, bis dahin hat er mich nicht angerührt.« »Sie haben uns bereits erzählt, daß Sie das Gewehr in der Hand hielten und versuchten, die Waffe nachzuladen.« »Das ist richtig.« »Hätten Sie abgedrückt, wenn Sie es geschafft hätten, die Waffe nachzuladen?« »Ja.« »Können Sie uns sagen, Mrs. Courtney, ob Sie in der Absicht geschossen hätten, ihn zu töten?« »Einspruch, Euer Ehren!« Der Staatsanwalt sprang wütend auf. »Diese Frage ist rein hypothetisch.« »Mrs. Courtney, Sie brauchen die Frage nicht zu beantwor ten, wenn Sie nicht wollen«, erklärte Richter Hawthorne. 318
»Ich will antworten«, sagte Centaine mit klarer Stimme. »Ja, ich hätte ihn getötet.« »Glauben Sie, daß der Gefangene das wußte?« »Einspruch, Euer Ehren. Das kann die Zeugin gar nicht wis sen.« Bevor der Richter etwas sagen konnte, erklärte Centaine deutlich: »Er kannte mich, er kannte mich gut. Er wußte, daß ich ihn töten würde, wenn ich Gelegenheit dazu hatte.« Die aufgestaute Spannung im Gerichtssaal explodierte mit lauten Ausrufen, und es dauerte fast eine Minute, bis die Ruhe wiederhergestellt werden konnte. In der allgemeinen Verwir rung blickte Centaine wieder zur Galerie hinauf. Es hatte sie ihre ganze Selbstbeherrschung gekostet, nicht die ganze Zeit hinaufzustarren. Der Eckplatz war leer. Manfred war verschwunden, und sei ne Flucht verwirrte sie. Osmond hatte ihr eine neue Frage ge stellt, und sie wandte sich ihm zerstreut zu. »Verzeihen Sie. Würden Sie bitte die Frage wiederholen?« »Ich fragte, Mrs. Courtney, ob der Gefangene, als Sie mit dem Gewehr in der Hand und der Absicht, ihn zu töten –« »Ich erhebe Einspruch, Euer Ehren. Die Zeugin hatte ledig lich die Absicht, sich und ihr Eigentum zu verteidigen«, brüllte der Staatsanwalt. »Sie werden diese Frage anders formulieren müssen, Mr. Osmond.« »Nun gut, Euer Ehren. Mrs. Courtney, war die Gewalt, die der Gefangene Ihnen gegenüber anwandte, um Sie zu entwaff nen, größer als nötig?« »Nein. Er hat mir einfach das Gewehr entrissen.« »Und später, als Sie ihn ins Handgelenk bissen? Als Sie ihm eine Wunde beibrachten, die nachher zur Amputation seines Armes führte, hat er Sie da geschlagen oder Ihnen auf irgend eine andere Weise weh getan?« »Nein.« 319
»Der Schmerz muß doch unerträglich gewesen sein, und trotzdem hat er keine unnötige Gewalt angewandt?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Und bevor der Gefangene Sie verließ, überzeugte er sich davon, daß Sie genügend Wasser hatten, um zu überleben? Und hat er Ihnen noch Ratschläge betreffend Ihr Wohlergehen gegeben?« »Er überprüfte, ob ich genügend Wasser hatte, und riet mir, bei meinem Wagen zu bleiben.« »Nun, Mrs. Courtney«, Osmond zögerte ein wenig, »in der Presse wurden Spekulationen laut, daß der Gefangene Sie in einer ganz bestimmten unanständigen Form angegriffen hätte –« Centaine unterbrach ihn. »Diese Vermutung ist widerlich und völlig falsch.« »Danke, Madam. Ich habe nur noch eine Frage. Sie kannten den Gefangenen gut. Sie begleiteten ihn zu jener Zeit, als er Sie gerettet hatte, auch mehrmals auf die Jagd. Sahen Sie ihn schießen?« »Jawohl.« »Wenn der Gefangene Sie oder Oberst Malcomess oder einen der Polizisten hätte töten wollen, wäre er dazu imstande gewe sen?« »Lothar De La Rey ist einer der besten Schützen, die ich je kennengelernt habe. Er hätte einige Male die Gelegenheit ge habt, uns alle zu töten.« »Ich habe keine weiteren Fragen, Euer Ehren.« Richter Hawthorne schrieb etwas auf seinen Notizblock und klopfte eine Weile nachdenklich mit seinem Bleistift auf den Richtertisch, bevor er aufblickte und sich an den Staatsanwalt wandte. »Wünschen Sie die Zeugin ins Kreuzverhör zu neh men?« Der Anklagevertreter erhob sich mit mürrischem Gesicht. »Ich habe keine weiteren Fragen an Mrs. Courtney.« Er setzte sich wieder, verschränkte die Arme und starrte wütend auf den 320
rotierenden Ventilator an der Decke. »Mrs. Courtney, das Gericht dankt Ihnen für Ihre Aussage. Sie können auf Ihren Platz zurückkehren.« Centaine war so damit beschäftigt, mit den Augen die Galerie nach ihrem Sohn abzusuchen, daß sie über die Stufen vor den Bankreihen stolperte, worauf Blaine und Abe gleichzeitig auf sprangen, um ihr zu helfen. Abe war schneller, und Blaine ließ sich auf seinen Platz zurücksinken, während Centaine von Abe zu ihrem Platz zurückgeleitet wurde. »Abe«, flüsterte sie drängend. »Als ich meine Aussage mach te, sah ich einen Jungen auf der Galerie. Blond, ungefähr drei zehn Jahre alt, obwohl er eher wie siebzehn aussieht. Sein Na me ist Manfred – Manfred De La Rey. Suchen Sie ihn. Ich möchte mit ihm sprechen.« »Jetzt?« Abe sah sie erstaunt an. »Gehen Sie!« fauchte Centaine. Abe sprang auf, verbeugte sich kurz und eilte aus dem Ge richtssaal, gerade als sich Reginald Osmond erhob. Osmond sprach mit Leidenschaft und großem Ernst. Sein be redter Vortrag dauerte fast eine halbe Stunde, aber Centaine dachte mehr an Manfred als an seinen Vater. Der Blick, den ihr der Junge von der Galerie aus zugeworfen hatte, beunruhigte sie tief. Der Haß in seinen Augen war fast greifbar gewesen und ließ ihr Schuldgefühl, das sie vor vielen Jahren begraben zu haben glaubte, wieder emporsteigen. »Er ist jetzt ganz allein. Er wird Hilfe brauchen«, dachte sie. »Ich muß ihn finden. Ich muß versuchen, alles an ihm wieder gutzumachen.« Reginald Osmond war inzwischen zum Schlußsatz gekom men: »Lothar De La Rey glaubte, daß ihm ein schweres Un recht zugefügt worden sei. In der Folge begann er eine Reihe von Straftaten, die verabscheuungswürdig und unentschuldbar sind. Doch viele seiner Handlungen beweisen, Euer Ehren, daß er ein anständiger und mitfühlender Mann ist, der stürmischen 321
Gefühlen und Ereignissen ausgesetzt gewesen ist, deren Gewalt er nicht standhalten konnte. Er muß streng bestraft werden, das verlangt unsere Gesellschaft. Aber ich appelliere an Sie, Euer Ehren, ein wenig von der christlichen Nächstenliebe walten zu lassen, die Mrs. Courtney heute hier an den Tag gelegt hat, und davon abzusehen, diesem unglücklichen Mann, der bereits ei nes seiner Glieder verloren hat, die Höchststrafe aufzuerlegen.« Er setzte sich, und es blieb eine Weile völlig still. Schließlich blickte Richter Hawthorne auf. »Danke, Mr. Osmond. Das Ge richt wird sich zur Beratung zurückziehen und heute nachmit tag um zwei Uhr wieder versammeln, um das Urteil zu verkün den.« Centaine eilte aus dem Gerichtssaal und suchte nach Abe. Sie fand ihn in angeregtem Gespräch mit einer der Polizeiwachen auf der Eingangstreppe. Er brach das Gespräch sofort ab und trat auf sie zu. »Haben Sie ihn gefunden?« fragte sie ungeduldig. »Tut mir leid, Centaine. Keine Spur von einem Jungen dieser Beschreibung.« »Ich will, daß Sie den Jungen finden und zu mir bringen, Abe. Nehmen Sie so viele Männer, wie Sie brauchen. Egal, was es kostet. Suchen Sie die ganze Stadt ab. Tun Sie alles, um ihn zu finden. Er muß ja irgendwo wohnen.« »In Ordnung, Centaine. Ich werde mich sofort darum küm mern. Sie sagen, sein Name ist Manfred De La Rey – dann ist er mit dem Gefangenen irgendwie verwandt?« »Er ist sein Sohn«, sagte sie. »Ich verstehe.« Abe betrachtete sie nachdenklich. »Darf ich fragen, warum Sie ihn unbedingt finden wollen, Centaine? Und was Sie tun werden, wenn Sie ihn gefunden haben?« »Nein, Sie dürfen nicht. Finden Sie ihn nur.« Und wenn sie ihn wirklich fand? Er war gegen sie einge nommen. Er haßte sie. Das war deutlich an seinen Augen zu sehen gewesen. Er wußte nicht, wer sie wirklich war. Was also, 322
wenn sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand? Und die Antwort war ebenso einfach: »Ich weiß es nicht, ich weiß es ganz einfach nicht.« »Die Höchststrafe, die das Gesetz für die ersten drei Ankla gepunkte vorsieht, ist Tod durch den Strang«, sagte Richter Hawthorne. »Der Gefangene ist in allen Anklagepunkten im Sinne der Anklage für schuldig befunden worden. Unter nor malen Umständen hätte dieses Gericht nicht gezögert, die Höchststrafe über ihn zu verhängen. Doch die außergewöhnli che Aussage einer außergewöhnlichen Dame ließ uns zögern. Das freiwillige Plädoyer von Mrs. Centaine de Thiry Courtney ist um so bemerkenswerter, da sie durch den Gefangenen am schwersten gelitten hat – sowohl physisch als auch emotionell und materiell –, außerdem aufgrund der Tatsache, daß ihre Eingeständnisse von engstirnigen Personen gehässigerweise auch gegen Mrs. Courtney selbst ausgelegt werden könnten. In dreiundzwanzig Dienstjahren als Richter hatte ich noch nie die Ehre, in einem Gerichtssaal Zeuge einer solch großmütigen und edlen Haltung zu werden, und unsere Überlegungen paßten sich notwendigerweise Mrs. Courtneys Beispiel an.« Richter Hawthorne verbeugte sich leicht in Centaines Rich tung, dann nahm er den Kneifer von der Nase und wandte sich an Lothar De La Rey. »Der Gefangene möge sich erheben«, sagte er. »Lothar De La Rey, das Gericht hat Sie in allen Anklage punkten für schuldig befunden. Das Urteil lautet: Lebenslange Gefängnisstrafe bei harter Arbeit.« Zum ersten Mal seit Beginn des Prozesses zeigte Lothar De La Rey eine Gefühlsregung. Sein Gesicht begann zu arbeiten, seine Lippen zitterten, ein Augenlid begann unkontrollierbar zu zucken, und er hob in einer flehenden Geste die Hand. »Hängt mich lieber auf!« Es war ein wilder, erschütternder 323
Aufschrei. »Hängt mich lieber auf, als mich wie ein Tier einzu sperren –« Die Gefängniswärter eilten zu ihm, ergriffen ihn und führten ihn aus dem Saal, während sich eine mitleidige Stille über die Zuschauerbänke senkte. Selbst der Richter war ergriffen, was in seiner Miene deutlich zum Ausdruck kam, als er sich erhob und mit seinen Beisitzern den Saal verließ. Centaine blieb sit zen und starrte auf die leere Anklagebank, während die Menge gedämpft durch die Flügeltüren hinausdrängte. »Hängt mich lieber auf!« Sie wußte, daß sie dieser flehentli che Aufschrei den Rest ihres Lebens verfolgen würde. Sie senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Im Geiste sah sie Lothar wieder vor sich, wie er gewesen war – ein Ge schöpf der Wüste. Und sie stellte sich vor, wie ihm nun zumute sein würde – eingesperrt in eine winzige Zelle, für den Rest seines Lebens der Sonne und des Wüstenwindes beraubt. Sie hatten sich gegenseitig ruiniert und auch das Kind zugrunde gerichtet, das in jener wunderbaren Zeit ihrer Liebe gezeugt worden war. Sie öffnete die Augen. Der Saal hatte sich geleert. Sie dachte schon, sie wäre allein, aber als sie sich umdrehte, sah sie sich Blaine Malcomess gegenüber. »Jetzt weiß ich, wie richtig es war, dich zu lieben«, sagte er leise. Er stand hinter ihr, und als sie zu ihm aufblickte, spürte sie, wie Schmerz und Traurigkeit allmählich verschwanden. Blaine nahm mit beiden Händen ihre Hand und hielt sie fest. »In den Tagen seit unserer Trennung habe ich versucht, die Kraft zu finden, dich nicht wiederzusehen. Fast wäre es mir gelungen. Aber mit dem, was du heute tatest, hast du alles um geworfen.« »Blaine, in meinem kurzen Leben habe ich anderen schon so viel Schaden zugefügt, schon so viel Schmerz und Leid berei tet. Nicht schon wieder. Ich kann nicht ohne dich leben, aber durch unsere Liebe darf nichts zerstört werden. Ich will dich 324
ganz, aber ich akzeptiere auch weniger – um deine Familie zu schützen.« »Es wird schwer sein, vielleicht sogar unmöglich«, meinte er leise. »Aber ich akzeptiere deine Bedingung. Wir dürfen ande ren keinen Schmerz zufügen. Ich sehne mich so nach dir –« »Ich weiß«, flüsterte sie und stand auf, um ihn ansehen zu können. »Halt mich fest, Blaine. Nur für einen Augenblick.« Abe Abrahams suchte im leeren Gang des Gerichtsgebäudes nach Centaine. Er kam zur Saaltür und öffnete sie leise. Centaine und Blaine Malcomess standen im Mittelgang zwi schen den Bankreihen. Blind für alles, was um sie herum vor ging, hielten sie einander in den Armen. Abraham starrte sie für einen Augenblick verständnislos an, dann schloß er leise die Tür und hielt, schwankend zwischen Furcht und Freude, vor der Tür Wache. »Du verdienst Liebe«, flüsterte er. »Ich bete zu Gott, daß die ser Mann sie dir geben kann.« Seit jenen wenigen Augenblicken im leeren Gerichtssaal wa ren sie kein einziges Mal allein zusammen gewesen. Die meiste Zeit hatten sie hunderte Meilen voneinander entfernt verbracht – Blaine durch seine Pflichten an Windhuk gebunden, Centaine auf Weltevreden, wo sie Tag und Nacht verzweifelt um das Weiterbestehen ihres Finanzimperiums gekämpft hatte. Ohne Erfolg, denn ihr durch den Verlust der Diamanten schwer an geschlagenes Unternehmen lag mittlerweile in den letzten Zü gen. All die Monate hatte sie unter Einsatz ihrer ganzen Kraft und Ausdauer gekämpft, doch nun war sie körperlich und seelisch erschöpft. Sie schaute in den Rückspiegel und erkannte ihr ei genes Spiegelbild kaum wieder – müde Augen mit dunklen Ringen starrten sie an, ihre Wangenknochen schienen durch die blasse Haut zu schimmern, um ihre Mundwinkel zeigten sich 325
tiefe Linien. Sie hatte Weltevreden im Morgengrauen verlassen und fuhr nun etwa hundertzwanzig Meilen nördlich von Kapstadt durch die öde, baumlose Ebene von Namaqualand auf die Küste zu, wo der grüne Benguelastrom den afrikanischen Kontinent streichelte. Die großen Regenfälle waren in diesem Jahr erst spät ge kommen und hatten alles frühlingshaft erblühen lassen, so daß sich die Landschaft, obwohl es kurz vor Weihnachten war, in leuchtenden Farben vor ihr ausbreitete. Centaine fuhr langsam eine Anhöhe hinauf und hielt den Wagen auf dem Hügelkamm an. Unter ihr lag der Ozean – seine unermeßliche grüne Weite stieß übergangslos an ein Meer von blühenden Blumen. Sie beschattete die Augen und suchte das Ufer ab. »Es ist nur eine Hütte«, hatte Blaine sie in seinem letzten Brief gewarnt. »Zwei Zimmer ohne fließendes Wasser, eine Latrine und ein offenes Feuer. Aber ich habe dort schon als Kind meine Ferien verbracht und liebe den Ort. Seit dem Tod meines Vaters ist außer mir niemand mehr dort gewesen. Ich habe mich, so oft ich konnte, allein dorthin zurückgezogen. Du bist die erste, die diesen geheimen Zufluchtsort kennenlernt.« Sie entdeckte die Hütte sofort. Das strohgedeckte Dach war schwarz, aber die dicken Lehmwände leuchteten, von Sonne und Wind gebleicht, im selben strahlenden Weiß wie die Gischt auf dem grünen Wasser darunter. Eine dünne Rauch fahne kräuselte sich aus dem Kamin. Centaine entdeckte hinter dem Gebäude eine Bewegung und konnte auf den Klippen am Wasser eine menschliche Gestalt ausmachen. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Der Motor wollte nicht anspringen. »Merde! Double Merde!« Der Wagen war ein alter Ford, den einer der stellvertretenden Gutsverwalter gefahren hatte, bis sie ihn anstelle des ruinierten Daimlers übernahm. Sein Versagen erinnerte sie schmerzlich daran, daß sie es sich nun nicht mehr leisten konnte, jedes Jahr 326
einen neuen narzissengelben Daimler anzuschaffen. Sie löste die Handbremse und ließ den Ford den Abhang hin unterrollen, dann legte sie den zweiten Gang ein, und der Mo tor sprang aufheulend an. Sie raste den Hügel hinunter und parkte den Wagen hinter der weißen Hütte. Dann rannte sie winkend und rufend zwischen den schwarzen Felsen auf das Meer zu. Wind und Brandung übertönten ihre Stimme, aber Blaine blickte auf, sah sie und kam ihr in langen Sprüngen über die nassen, schlüpfrigen Klippen entgegenge laufen. Er hatte nur kurze Hosen an und hielt ein Bündel Langusten in der Hand. Sein Haar war länger als bei ihrer letzten Begeg nung, und er hatte sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Sie wußte nicht recht, ob ihr der Bart gefiel, aber der Gedanke ging im Aufruhr ihrer eigenen Gefühle unter. Sie lief ihm entgegen und warf sich an seine nackte Brust. »Oh, Blaine«, schluchzte sie. »O Gott, wie habe ich mich nach dir gesehnt.« Dann überließ sie ihm ihren Mund. Sein Gesicht war naß von der Gischt, seine Lippen schmeckten salzig. Ihr erster Gedanke war richtig gewesen – sie mochte den Schnurrbart nicht. Doch er hob sie hoch und eilte mit ihr auf den Armen auf die Hütte zu. Sie schlang die Arme um seinen Hals und lachte. Blaine saß auf einem Hocker vor dem offenen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Centaine stand vor ihm und schlug mit sei nem Rasierpinsel in einer Porzellanschüssel Seifenschaum. »Ich habe fünf Monate gebraucht, um ihn wachsen zu las sen«, jammerte er, »und ich war so stolz auf ihn.« Er drehte ein letztes Mal an den Enden seines Schnurrbarts. »Er sieht doch so flott aus, findest du nicht?« »Nein«, erwiderte Centaine bestimmt. »Das finde ich nicht. Ich könnte mich ebensogut von einem Stachelschwein küssen 327
lassen.« Sie beugte sich vor und seifte seine Oberlippe ein, dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk mit kritischem Blick. Sie nahm das Rasiermesser, das auf dem Tisch bereitlag, und zog es mit schnellen, geübten Bewegungen am Leder ab. »Wo hast du das gelernt? Ich werde langsam eifersüchtig.« »Von meinem Papa«, erklärte sie. »Ich habe immer seinen Schnurrbart gestutzt. Und jetzt halte still!« Sie nahm die Spitze seiner langen Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie hoch. Blaine schloß die Augen und zuckte zusammen, als die Klinge über seine Oberlippe strich. Ein paar Augenblicke später trat Centaine zurück, wischte den Schaum und die Haare von der Klinge, legte das Rasiermesser beiseite und kam zurück, um seine Oberlippe abzutrocknen. Dann strich sie mit der Fingerspitze über seine glatte Haut. »Es sieht besser aus und fühlt sich besser an«, erklärte sie. »Aber der letzte Test ist noch ausständig.« Sie küßte ihn. Blaine stand mit ihr in den Armen auf. »Ich denke, es wird Zeit, Madam, daß Sie lernen, daß Sie nicht alles so einfach loswerden können, und außerdem muß sich zeigen, wer hier der Boß ist.« Er trug sie zu der Schlafstelle an der gegenüber liegenden Wand. Viel später saßen sie Seite an Seite im Schneidersitz auf dem Bett, sie mit einer bunten Basutodecke um ihre nackten Schul tern, hielten jeder einen dampfenden Becher mit Fischsuppe in der Hand, lauschten dem Wind und der Brandung und betrach teten die flackernden Schatten, die das Feuer im Kamin auf die grob verputzten Wände warf. »Hast du diesen jungen Burschen, nach dem du damals such test, ausfindig machen können?« fragte Blaine träge. »Abe Abrahams bat mich in der Suche um Hilfe.« Er bemerkte nicht, wie sehr diese Frage sie berührte, denn sie beherrschte sich glänzend und schüttelte lediglich den Kopf. 328
»Nein, er ist verschwunden.« »Ich nehme an, er ist Lothar De La Reys Sohn?« »Ja«, gab sie zu. »Ich hab’ mir Sorgen um ihn gemacht. Nach der Verurteilung seines Vaters muß er völlig allein und verlas sen gewesen sein.« »Ich werde weiter nach ihm suchen«, versprach Blaine. »Und lasse dich wissen, wenn ich etwas herausfinde.« Er strich ihr übers Haar. »Du bist ein guter Mensch«, murmelte er. »Es gibt keinen Grund, warum du dich mit dem Jungen belasten soll test.« Sie schwiegen wieder, aber die Erwähnung dieser Angele genheit hatte den Zauber gebrochen. »Wie geht es Isabella?« fragte sie und spürte, wie sich die Muskeln an seiner Brust spannten. Nach einem tiefen Zug aus seiner Zigarre antwortete er: »Ihr Zustand verschlechtert sich ständig. Nervenschwund im Unter leib. Geschwürbildung. Sie liegt seit Montag in der GrooteSchuur-Klinik. Die Geschwüre am unteren Teil ihrer Wirbel säule wollen sich nicht zurückbilden.« »Das tut mir leid, Blaine.« »Deshalb konnte ich mich für die paar Tage freimachen. Die Mädchen sind bei ihrer Großmutter.« »Ich fühle mich ganz scheußlich dabei.« »Ich würde mich noch viel schlechter fühlen, wenn ich dich nicht sehen könnte«, erwiderte er. »Blaine, wir müssen unserem Vorsatz treu bleiben. Wir dür fen ihr oder den Mädchen niemals weh tun.« Er schwieg eine Weile, dann schnippte er den Zigarrenstum mel durch den Raum ins Feuer. »Es sieht so aus, als müßte sie nach England. Im Guy’s-Krankenhaus gibt es einen Chirurgen, der wahre Wunder vollbringt.« »Wann?« Ihr Herz fühlte sich wie eine Kanonenkugel, die sie mit ihrem Gewicht zu ersticken drohte. »Noch vor Weihnachten. Das hängt von den Untersuchungen 329
ab, die jetzt gemacht werden.« »Du wirst sie natürlich begleiten müssen.« »Das würde bedeuten, daß ich als Administrator zurücktreten und meine Aussichten –« Er brach ab. Seine beruflichen Pro bleme hatte er noch nie mit ihr besprochen. »Deine Aussichten auf einen Sitz im zukünftigen Kabinett und eines Tages möglicherweise das Amt des Premierministers aufgeben müßtest«, beendete sie den Satz für ihn. Er wandte sich ihr zu, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hän de und drehte es so, daß er ihr in die Augen sehen konnte. »Das wußtest du?« fragte er, und Centaine nickte. »Findest du es grausam«, fragte er, »daß ich Isabella meiner selbstsüchtigen Ambitionen wegen allein fahren lasse?« »Nein«, erwiderte sie ernst. »Ehrgeiz ist mir nichts Neues.« »Ich habe es ihr angeboten«, sagte er, und ein Schatten trübte seine grünen Augen. »Isabella wollte nichts davon wissen. Sie bestand darauf, daß ich hierbleibe.« Er drückte ihren Kopf ge gen seine Brust und strich ihr übers Haar. »Sie ist ein außerge wöhnlicher Mensch. Diese Tapferkeit. Die Schmerzen sind nun fast dauernd da. Ohne Laudanum kann sie überhaupt nicht mehr schlafen.« »Es verursacht mir Schuldgefühle, Blaine, aber trotzdem bin ich froh über die Gelegenheit, mit dir zusammenzusein. Ich nehme ihr ja nichts weg.« Aber das war nicht die Wahrheit, und sie wußte das. Am nächsten Vormittag lag Blaine flach auf dem Rücken im Bett, während sich Centaine, auf ihren Ellbogen gestützt, über ihn beugte und ihn mit einer Feder an Lippen und Lidern kit zelte. »Blaine«, sagte sie leise. »Ich bin dabei, Weltevreden zu ver kaufen.« Er öffnete die Augen, ergriff ihr Handgelenk und setzte sich auf. »Verkaufen?« fragte er. »Warum?« »Ich muß«, erklärte sie einfach. »Das Gut, das Haus und das 330
gesamte Inventar.« »Aber warum, Liebling? Ich weiß, wieviel es dir bedeutet. Warum verkaufen?« »Ja, Weltevreden bedeutet mir viel«, gab sie zu. »Aber die H’ani-Mine bedeutet mir mehr. Wenn ich das Gut verkaufe, besteht eine Möglichkeit, eine winzige Möglichkeit, daß ich die Mine halten kann.« »Das wußte ich nicht«, sagte er leise. »Ich hatte keine Ah nung, daß die Dinge so schlecht stehen.« »Wie solltest du auch, mein Liebling?« Sie streichelte über sein Gesicht. »Niemand weiß etwas davon.« »Aber ich verstehe das nicht. Die H’ani-Mine – sie wirft doch bestimmt genügend Gewinn ab –« »Nein, Blaine. Heutzutage kauft niemand mehr Diamanten. Es wird überhaupt nichts mehr gekauft. Diese Depression, die se schreckliche Depression! Unser Kontingent ist drastisch gekürzt worden. Die Preise, die man für unsere Steine bezahlt, sind kaum noch die Hälfte dessen, was vor fünf Jahren bezahlt wurde. Die H’ani-Mine arbeitet nicht einmal kostendeckend. Sie macht jeden Monat einen kleinen Verlust. Aber wenn ich durchhalten kann, bis in der Wirtschaft eine Wende eintritt –« Sie brach ab. »Die einzige Möglichkeit, so lange durchzuhal ten, ist der Verkauf von Weltevreden. Das einzige, was ich noch verkaufen kann. Auf diese Weise könnte ich bis Mitte nächsten Jahres durchhalten, und bis dahin muß diese schreck liche Depression doch vorbei sein!« »Ja, natürlich wird sie das!« stimmte er rasch zu. Und nach einer Pause: »Ich habe etwas Geld, Centaine –« »Denk an unsere Abmachung, Blaine«, erinnerte sie ihn. »Wir dürfen anderen nicht weh tun. Dieses Geld gehört Isabel la und den Mädchen.« »Es gehört mir«, erwiderte er. »Und wenn ich meine –« »Blaine! Blaine!« unterbrach sie ihn. »Nur eine Million Pfund könnten mir jetzt noch helfen – eine Million Pfund! Hast 331
du soviel? Jeder kleinere Betrag wäre vergeudet, wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein.« Er schüttelte langsam den Kopf. »So viel?« Dann gab er wehmütig zu: »Nein. Ich habe nicht einmal ein Drittel dieser Summe, Centaine.« »Dann reden wir nicht mehr darüber«, erklärte sie bestimmt. »Zeig mir lieber, wie man Krebse für das Mittagessen fängt. In der Zeit, die uns noch bleibt, möchte ich über nichts Unerfreu liches mehr reden. Für Widerwärtigkeiten ist Zeit genug, wenn ich wieder zu Hause bin.« An ihrem letzten gemeinsamen Nachmittag spazierten sie Hand in Hand durch die buntblühende Wiese hinter der Hütte den Abhang hinauf. »Ich werde ihnen Gesprächsstoff liefern«, erklärte sie un vermittelt. »In einem Jahr werden sie vielleicht sagen: ›Centai ne Courtney ist aus dem Rennen!‹ Doch sie werden hinzufügen müssen: ›Aber ihr Abgang hatte Stil!‹« »Was hast du vor?« »Ich werde anstelle der üblichen Weihnachtsvergnügungen etwas organisieren, das alles bisher Dagewesene in den Schat ten stellt. Ein Fest auf Weltevreden, das eine Woche lang dau ert, mit Champagner und Tanz jeden Abend.« »Das wird auch die Gläubiger eine Weile von der Fährte ab lenken«, meinte er mit einem anerkennenden Grinsen. »Aber ich nehme an, ein solcher Gedanke lag dir fern, nicht wahr? Du schlaue kleine Füchsin.« »Das ist nicht der einzige Grund. Ich brauche einen Vor wand, um ganz öffentlich mit dir Zusammensein zu können. Du wirst doch kommen, oder?« »Hängt ganz davon ab«, erwiderte er ernst, und beide wuß ten, auch ohne daß er es aussprach, daß es von Isabella abhing. »Da müßte ich schon eine gute Ausrede finden.« »Ich liefere dir eine Ausrede«, sagte sie aufgeregt. »Ich ver anstalte eine Polowoche. Ich lade Mannschaften aus dem gan 332
zen Land ein, alles Spitzenspieler. Du bist Kapitän der Natio nalmannschaft. Als solcher kannst du kaum ablehnen, oder?« »Kaum«, stimmte er zu. »Wirklich schlau eingefädelt!« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Das gibt dir dann auch Gelegenheit, Shasa kennenzulernen. Ich hab’ dir doch erzählt, daß er mir zusetzt, seit er gehört hat, daß ich dich kenne.« »Darauf freue ich mich ganz besonders.« »Mit etwas Heldenverehrung wirst du dich aber abfinden müssen.« »Du könntest ein paar Juniorenteams einladen. Veranstalte für sie ein eigenes Turnier. Ich würde deinen Sohn gern reiten sehen.« »Oh, Blaine! Was für eine wundervolle Idee!« Sie klatschte entzückt in die Hände. »Mein armer Liebling. Für Shasa wird es wahrscheinlich die letzte Gelegenheit sein, seine eigenen Ponys zu reiten. Wenn ich Weltevreden verkaufe, werde ich natürlich auch sie verkaufen müssen.« Für einen Augenblick traten wieder Schatten in ihre Augen. Aber dann fügte sie mit funkelndem Blick hinzu: »Aber wie gesagt, es wird ein Abgang mit Stil.« Shasas Polomannschaft, das Weltevreden-Team, war beim Juniorenturnier bis ins Finale gekommen und hatte nun gegen die Natal-Junioren anzutreten. Dieser Mannschaft gehörten vier der besten Spieler des Landes an, und ihr Kapitän, Max Theu nissen, war in seiner Altersklasse der beste Polospieler in ganz Afrika. Shasa wurde als Zweitbester im Land eingeschätzt. Blaine hatte ihn während der letzten vier Tage aufmerksam beobachtet. Er hatte gesehen, daß Shasa mit natürlicher Kraft und Anmut im Sattel saß, ein scharfes Auge besaß und einen kraftvollen, fließenden Schlag führte. Er war furchtlos und vol ler Elan, was häufig dazu führte, daß er für Schneiden des Ge 333
gners und andere Arten gefährlichen Spiels mit einer Strafe belegt wurde. Aber Blaine wußte, daß er mit zunehmender Er fahrung lernen würde, seine harte Spielweise so zu tarnen, daß es den Schiedsrichtern nicht mehr auffiel. Die anderen Voraussetzungen für einen internationalen Klas sespieler waren Widerstandskraft und Ausdauer, hingebungs voller Fleiß und Erfahrung, wovon einiges mit zunehmendem Alter ganz von selbst kommen würde. Shasa Courtney hatte die besten Aussichten, und Blaine machte es Freude, ihm vor dem Finalspiel etliche gute Ratschläge zu geben. Centaines Einladungen waren nicht nur an die besten Polo spieler des Landes ergangen, sondern auch an die einflußreich sten und wichtigsten Persönlichkeiten aus anderen Bereichen. Politiker, Wissenschaftler, Großgrundbesitzer und Bergwerks magnaten, Geschäftsleute und Zeitungsverleger und sogar ein paar Künstler und Schriftsteller waren vertreten. Das Herrenhaus von Weltevreden konnte unmöglich alle Gä ste beherbergen, daher hatte sie außerdem die Zimmer im nahe befindlichen Alphen-Hotel gemietet, um den Rest der Gäste unterzubringen. Zusammen mit den Freunden aus der Umge bung waren es weit über zweihundert. Sie hatte einen Sonder zug gemietet, um die Mannschaften und ihre Ponys aus dem ganzen Land nach Weltevreden zu bringen, und das Fest dauer te nun schon fünf Tage. Juniorenwettkämpfe am Vormittag, ein Mittagessen im Frei en, Seniorenpolo am Nachmittag, gefolgt von einem erlesenen Büffet am Abend, und Tanz die ganze Nacht. Ein halbes Dutzend Kapellen spielte abwechselnd und sorgte Tag und Nacht für ununterbrochene musikalische Unterma lung. Dazwischen gab es Kabarettvorstellungen und Moden schauen, einen Wohltätigkeitsbasar, einen Pferdemarkt mit Vollblutjährlingen, einen Wettbewerb für Autos und weibliche Fahrer, eine Schatzsuche, ein Schauspringen, eine Stuntman vorführung und Kasperltheater für die Kinder. 334
»Und ich bin der einzige, der weiß, was es damit auf sich hat«, dachte Blaine und blickte die Tribüne hinauf zu Centaine. »Es ist verrückt und irgendwie unmoralisch. Das Geld, das sie dafür ausgibt, gehört ihr nicht mehr. Aber ich liebe sie für ihren Mut in dieser Notlage.« Centaine spürte, daß er sie beobachtete, und blickte sich rasch nach ihm um. Für einen Augenblick schauten sie einan der an, dann wandte sie sich wieder General Smuts zu und lachte über etwas, das er gesagt hatte. Blaine sehnte sich danach, zu ihr hinzugehen, nur um in ihrer Nähe zu sein und ihre tiefe Stimme mit dem leichten französi schen Akzent zu hören, doch statt dessen schritt er die Tribüne entlang zu Isabella. Isabella hatte sich zum ersten Mal kräftig genug gefühlt, um das Turnier zu besuchen. Isabellas weißhaarige Mutter saß an ihrer Seite, und sie wa ren umgeben von vier ihrer engsten Freundinnen und deren Ehemännern. Ihre beiden Töchter kamen die Tribüne herunter gerannt, sobald sie Blaine erblickten. Sie begrüßten ihn mit übermütigem Geplapper, umklammerten seine Hände und zerr ten ihn zu seinem Platz neben Isabella. Pflichtschuldigst küßte Blaine seine Frau auf die dargebotene blasse Wange. Ihre Haut war kühl, er nahm den leichten Lau danumgeruch in ihrem Atem wahr. Durch die starken Drogen waren die Pupillen ihrer Augen geweitet, was ihr ein rührend verwundbares Aussehen gab. »Ich habe dich vermißt, Liebling«, flüsterte sie. Als Blaine sich vorhin entfernt hatte, hatte sie sich sofort nach Centaine Courtney umgesehen und war nur leicht beru higt gewesen, als sie diese inmitten von Bewunderern auf der Tribüne entdeckte. »Ich hatte etwas mit dem Jungen zu besprechen«, entschul digte sich Blaine. »Fühlst du dich besser?« »Danke. Das Laudanum tut allmählich seine Wirkung.« Sie blickte mit einem so tapferen, rührenden Lächeln zu ihm auf, 335
daß er sich noch einmal bückte, um sie auf die Stirn zu küssen. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er schuldbewußt in Cen taines Richtung und hoffte, daß sie diese spontane zärtliche Geste nicht bemerkt habe. Aber sie hatte ihn beobachtet und wandte sich rasch ab. »Papa, die Mannschaften treten an.« Tara zog ihn auf seinen Platz. »Vorwärts, Weltevreden«, feuerte sie die Heimmann schaft an, und Blaine vergaß über dem Spiel sein privates Di lemma. Shasa befolgte Blaines Ratschläge und spielte, wenn auch nicht ganz einwandfrei, sein sehr hartes Spiel. Auf diese Weise konnte er fast in letzter Sekunde das entscheidende Tor zum Sieg erzielen. Blaine war erregt aufgesprungen und stand noch immer, als die Mannschaften das Feld verließen. Strahlend blickte Shasa zu ihm herauf, und Blaine belohnte ihn zwar nur mit einem leichten Wink und einem freundlichen Lächeln, tri umphierte innerlich aber fast ebenso wie Shasa. »Mein Gott, der Junge hat wirklich Talent«, dachte er. »Er hat es tatsächlich geschafft.« Er setzte sich wieder auf seinen Platz neben Isabella. Sie sah seinen Gesichtsausdruck. Sie kannte ihn gut, sie wußte, wie sehr er sich einen Sohn ge wünscht hatte – und was der Grund für sein Interesse an dem Jungen war. Sie fühlte sich nutzlos, überflüssig und ohnmäch tig. »Dieser Junge ist rücksichts- und verantwortungslos.« Sie konnte nicht an sich halten, obgleich sie wußte, daß ihre Kritik die gegenteilige Wirkung auf Blaine haben würde. »Der küm mert sich keinen Deut um andere, aber die Courtneys waren ja schon immer so.« »Manche Leute nennen das Mumm«, murmelte Blaine. »Ein häßliches Wort für einen häßlichen Charakterzug.« Sie wußte, sie war boshaft, wußte, seine Geduld hatte Grenzen, aber sie konnte nicht anders, sie mußte ihrem selbstzerstöreri schen Drang, ihm irgendwie weh zu tun, einfach nachgeben. 336
»Er ist genau wie seine Mutter.« Und sie sah die Wut in Blai nes Augen, als er aufstand und ihr das Wort abschnitt. »Ich besorge dir etwas zu essen, meine Liebe.« Er eilte fort. Unentschlossen stand er dann vor dem kunstvoll aufgebauten kalten Buffet und merkte erst, daß Centaine hinter ihm stand, als sie ihn ansprach. »Was haben Sie bloß zu meinem Sohn gesagt, Oberst, daß er zu einem Wilden geworden ist?« Er drehte sich rasch um und versuchte die Freude über ihre Nähe zu verbergen. »Ja, ja, ich habe Sie vor diesem letzten Spielachtel mit ihm sprechen se hen«, rügte sie hinzu. »Ein Gespräch von Mann zu Mann, leider nichts für zarte Ohren.« Sie lachte leise. »Was es auch war, es hat gewirkt. Danke, Blaine.« »Nicht nötig – der Junge hat es allein geschafft. Dieses letzte Tor war eine hervorragende Leistung, wie ich schon lange kei ne mehr gesehen habe. Er hat das Zeug zu einem guten Polo spieler – zu einem sehr guten sogar.« »Wissen Sie, woran ich während des Spiels dachte?« fragte sie leise, und er schüttelte den Kopf und beugte sich zu ihr hin unter. »Ich dachte an Berlin«, erklärte sie leise, und für einen Au genblick wußte er nicht, was sie meinte. Doch dann wurde es ihm klar. BERLIN 1936. Die Olympischen Spiele. Er lachte. Das konn te nicht ihr Ernst sein. Zwischen der Juniorenliga und den Se nioren lagen Welten. Doch dann sah er ihren Gesichtsausdruck und lachte nicht mehr. »Das ist tatsächlich Ihr Ernst!« Er starrte sie an. »Es wird mir natürlich nicht möglich sein, die Ponys zu be halten. Aber sein Großvater sieht ihn gern spielen. Er wird mir sicher helfen, und wenn er dann noch von einem wirklichen Spitzenspieler beraten und ermutigt würde –« Sie zuckte leicht 337
die Achseln, und Blaine brauchte einen Augenblick, um seine Verblüffung zu überwinden und eine Antwort zu finden. »Es gelingt Ihnen immer wieder, mich in Erstaunen zu ver setzen. Gibt es eigentlich überhaupt nichts, wonach Sie nicht greifen würden?« Dann sah er das kurze lüsterne Funkeln in ihren Augen und beeilte sich hinzuzufügen: »Ich ziehe die Fra ge zurück. Madame.« Für einen Augenblick legten sie die Maske beiseite und schauten einander tief in die Augen, ein Blick, der jedem Unbeteiligten ihre Gefühle offenbart hätte. Dann riß Centaine ihre Augen von ihm los. »General Smuts hat nach Ihnen gefragt. Wir sitzen unter den Eichen hinter der Tribüne. Es würde mich freuen, wenn Sie sich zusammen mit Ihrer Frau zu uns gesellten.« Sie wandte sich von ihm ab und schritt durch das Gedränge der Gäste da von. Blaine schob Isabella langsam über den weichen Rasen auf die Gruppe unter den Eichen zu. Als Centaine Blaine kommen sah, winkte sie den Kellner beiseite und schenkte eigenhändig Champagner ein, um Isabella ein Glas zu bringen. »Danke, nein«, wies Isabelle sie honigsüß zurück, und Cen taine, mit dem geschliffenen Kristallglas in der Hand vor dem Rollstuhl stehend, geriet für einen Augenblick in Verlegenheit. Blaine rettete sie schließlich. »Ich bin so frei, Mrs. Court ney.« Er nahm ihr das Glas aus der Hand, und sie lächelte ihn dankbar an. Die anderen machten Platz für den Rollstuhl, und der Präsident der Standard Bank, der neben Centaine saß, nahm seinen Monolog dort wieder auf, wo er unterbrochen worden war. »Dieser Hoover mit seiner verdammten Interventionspolitik, damit hat er nicht nur die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ruiniert, sondern in der Folge auch uns. Wenn er die Finger davon gelassen hätte, wären wir schon längst aus dieser De pression heraus, und was haben wir statt dessen – mehr als fünftausend amerikanische Banken sind in diesem Jahr bank 338
rott gegangen, wir haben mittlerweile etwa achtundzwanzig Millionen Arbeitslose, der Handel mit Europa ist zum Still stand gekommen, und es ist weltweit zu Geldabwertungen ge kommen. Er hat ein Land nach dem anderen gezwungen, vom Goldstandard abzugehen, selbst Großbritannien hat schließlich nachgegeben. Wir sind eines unter den wenigen Ländern, die imstande waren, den Goldstandard zu halten – und glauben Sie mir, das beginnt allmählich zu schmerzen. Es macht das süd afrikanische Pfund teuer, macht unsere Exporte teuer und ver teuert die Goldförderung – weiß der Himmel, wie lange wir noch durchhalten können.« Er wandte sich an General Smuts. »Was glauben Sie, Ou Baas, wie lange können wir den Gold standard noch halten?« Der Ou Baas lachte stillvergnügt in sich hinein, und seine blauen Augen funkelten. »Mich dürfen Sie nicht fragen, mein lieber Alfred. Ich bin Botaniker, kein Wirtschaftsfachmann.« Sein Lachen wirkte ansteckend, weil alle wußten, daß er sich auf allen Gebieten auskannte, daß er Hertzog gedrängt hatte, Großbritanniens Beispiel zu folgen und vom Goldstandard ab zugehen, daß er während seines letzten Besuches in Oxford mit John Maynard Keynes, dem Wirtschaftsfachmann des Jahr hunderts, diniert hatte und daß die beiden eine lebhafte Korre spondenz führten. »Dann müssen Sie sich meine Rosen ansehen, Ou Baas, das ist besser, als über Wirtschaftsfragen zu diskutieren«, warf Centaine ein. Sie hatte die Stimmung ihrer Gäste richtig abge schätzt und gespürt, daß ihnen ein so ernstes Gespräch Unbe hagen verursachte. Die Unterhaltung wurde leicht und ungezwungen, dabei aber sprudelnd und lebhaft wie der Champagner in den langstieligen Kristallflöten. Centaine scherzte und lachte, doch dahinter verbarg sich das leere Gefühl von drohendem Unheil, das schmerzliche Wissen, daß bald alles vorbei sein würde, daß alles so unwirklich war wie ein Traum und daß sie in eine be 339
drohliche und ungewisse Zukunft ging, eine Zukunft, über die sie keine Macht mehr haben würde. Blaine begann leicht zu klatschen, worauf auch die anderen Gäste in einen leutseligen Beifall ausbrachen. »Heil dem siegreichen Helden –« sagte jemand, und Centaine drehte sich um. Shasa stand hinter ihr. Er trug einen Blazer und Flanellhosen, und sein Haar war noch feucht von der Dusche. Er lächelte, zeigte angemessene Bescheidenheit. »Oh, chérie, ich bin so stolz auf dich.« Centaine sprang auf und küßte ihn impulsiv, und Shasa wurde rot vor Verlegenheit. »Ich muß schon sagen, Mutter, wir wollen doch nicht ganz französisch werden«, protestierte er und war in diesem Augen blick so hübsch, daß sie ihn am liebsten in die Arme genom men hätte. Aber sie hielt sich zurück und bedeutete dem Kell ner, Shasa ein Glas Champagner zu bringen. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Gewöhnlich erlaubte sie ihm nur Lager bier, und davon auch nicht mehr als einen halben Liter. »Das ist ein besonderer Anlaß.« Sie drückte seinen Arm, und Blaine erhob sein Glas. »Meine Herren, ich trinke auf den famosen Sieg der Welte vreden-Mannschaft.« »Oh, ich bitte Sie«, protestierte Shasa. »Wir hatten neun Tore Vorsprung.« Aber alle tranken, und Sir Garry rückte mit seinem Stuhl bei seite, um für Shasa Platz zu machen. »Komm her und setz dich, mein Junge, und erzähl uns, wie man sich als Champion fühlt.« »Entschuldige mich bitte, Großvater, aber ich muß zu den Jungs zurück. Wir planen eine Überraschung für später.« »Eine Überraschung?« Centaine schreckte hoch. Sie hatte be reits einige von Shasas Überraschungen miterlebt. Das Feuer werk, in dessen Verlauf der alte Schuppen in höchst eindrucks voller, wenn auch unbeabsichtigter Weise in Flammen aufge gangen war, stellte darunter nur eine seiner besonders denk 340
würdigen Überraschungen dar. »Was für eine Überraschung, chérie?« »Wenn ich dir das sage, wäre es keine Überraschung mehr, Mutter. Aber wir werden rechtzeitig vor der Preisverteilung zur Stelle sein.« Er trank den Rest Champagner aus. »Ich muß los, Mutter. Bis später.« Sie streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten, aber er lief bereits auf die Haupttribüne zu, wo ihn die anderen Mitglieder des siegreichen Weltevreden-Teams ungeduldig erwarteten. Sie zwängten sich in Shasas alten Ford und rasten mit heulendem Motor die lange Auffahrt zum Herrenhaus hinauf. Centaine blickte ihnen mit Bangen nach, und als sie sich wieder umdreh te, hatten sich Blaine und General Smuts ebenfalls entfernt und schritten, in ein ernstes Gespräch vertieft, unter den Eichen auf und ab. »Wann fahren Sie nach Windhuk zurück, Blaine?« »Meine Frau reist in zwei Wochen nach Southampton. Ich fahre unmittelbar nach dem Ablegen des Postschiffes zurück.« »Können Sie etwas länger bleiben?« fragte General Smuts. »Sagen wir bis Neujahr? Ich erwarte eine neue Entwicklung.« »Dürfte ich Sie um einen kleinen Hinweis bitten?« fragte Blaine. »Ich will Sie in der Kammer haben«, wich Smuts der direk ten Frage aus. »Ich weiß, daß das mit Opfern verbunden ist, Blaine. Sie leisten hervorragende Arbeit in Windhuk und ge nießen dort persönliches Ansehen und Macht. Ich bitte Sie, darauf zu verzichten, indem Sie das Amt des Administrators zurücklegen und bei der Nachwahl um den Garten-Sitz für die Südafrikanische Partei kandidieren.« Blaine antwortete nicht. Das Opfer, das der Ou Baas verlang te, war groß. Der »Gartensitz« war ein Randsitz im Parlament. Das Risiko, diesen Sitz an die Hertzog-Partei zu verlieren, war groß, und selbst wenn man ihn gewann, würde er nur ein Sitz in den Rei 341
hen der Opposition sein – der Verlust der Administration war ein sehr hoher Preis dafür. »Wir sind in der Opposition, Ou Baas«, sagte er nur. General Smuts strich mit seinem Stock über das Kikuyugras, während er sich seine Antwort gut überlegte. »Was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich, Blaine. Ich muß mich auf Sie verlassen können.« »Natürlich.« »Wenn Sie mir jetzt vertrauen, werden Sie innerhalb von sechs Monaten ein Ministeramt haben.« Blaines Miene war skeptisch, und Smuts blieb vor ihm stehen. »Ich sehe schon, ich werde Ihnen mehr verraten müssen.« Er holte tief Atem. »Koalition, Blaine. Hertzog und ich sind dabei, ein Koalitions kabinett auszuarbeiten. Es ist so gut wie fertig, und in drei Mo naten, im März nächsten Jahres, werden wir es verlautbaren. Ich übernehme das Justizministerium, und es sieht so aus, als könnte ich es schaffen, vier eigene Minister zu bestellen. Sie sind einer davon.« »Ach.« Blaine versuchte, das Gehörte in seiner vollen Trag weite zu erfassen. Smuts bot ihm das an, wonach er immer gestrebt hatte – einen Sitz im Kabinett. »Das verstehe ich nicht, Ou Baas. Warum sollte Hertzog plötzlich bereit sein, mit uns zu verhandeln?« »Er weiß, daß er das Vertrauen der Nation verloren hat und daß seine eigene Partei allmählich unkontrollierbar wird. Sein Kabinett ist arrogant geworden, es trifft willkürliche Entschei dungen.« »Ja, Ou Baas, aber das ist doch unsere Chance! Denken Sie nur an den vergangenen Monat, denken Sie nur an die Ergeb nisse der Provinzwahlen in Transvaal. Wir haben beide Male eindeutig gewonnen. Könnten wir jetzt eine allgemeine Wahl durchsetzen, dann würden wir gewinnen. Wir brauchten keine Koalition mit den Nationalisten zu bilden.« Der alte General schwieg für eine Weile. Er hielt den Kopf 342
gesenkt, und seine Miene war ernst. »Sie mögen recht haben, Blaine. Wir könnten gewinnen, aber nicht aufgrund unserer eigenen Leistung. Es wäre eine Wahl gegen Hertzog und keine Wahl für uns. Ein Sieg der Partei wäre derzeit wertlos und un fruchtbar. Wir könnten das Verlangen nach vorgezogenen Neuwahlen nicht mit der Sorge um das nationale Wohl recht fertigen. Es wäre reines parteipolitisches Machtstreben, und an so etwas möchte ich mich nicht beteiligen.« Blaine konnte nicht antworten. Er fühlte sich plötzlich nicht wert, das Vertrauen eines solchen Mannes zu genießen. Eines Mannes, dessen Größe und Wahrhaftigkeit so weit ging, daß er die Gelegenheit, Nutzen aus der schweren Krise seines Landes zu ziehen, mit Bestimmtheit zurückwies. »Wir erleben schlimme Zeiten, Blaine«, sagte Smuts leise. »Überall um uns herum ziehen Gewitterwolken auf. Wir brau chen ein eigenes Volk. Wir brauchen eine starke Koalition, nicht ein Parlament, das durch Parteikonflikte gespalten ist. Unsere Wirtschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch, die Goldindustrie ist in Gefahr. Bei den derzeitigen Kosten müssen viele der älteren Minen bereits schließen. Andere werden fol gen, und wenn das geschieht, bedeutet das das Ende von dem Südafrika, das wir kennen und lieben. Hinzu kommt, daß der Preis für Wolle und Diamanten, unserer anderen Hauptexport güter, seinen Tiefpunkt erreicht hat.« Blaine nickte ernsthaft. All diese Umstände waren Anlaß zu landesweiter Besorgnis. »Ich brauche wohl nicht näher auf die Erkenntnisse der Lohnkommission einzugehen«, fuhr Smuts fort. »Ein Fünftel unserer weißen Bevölkerung ist durch Dürre und durch veralte te landwirtschaftliche Methoden in tiefste Armut gestürzt wor den, zwanzig Prozent unseres bebaubaren Landes sind durch Bodenerosionen und durch Fehlbehandlung unbrauchbar, wahrscheinlich für immer.« »Die armen Teufel«, murmelte Blaine, »ein Haufen umher 343
ziehender Bettler und Hungerleider, arbeitslos und ungeschult, ohne Fähigkeiten und ohne Hoffnung.« »Und dann haben wir noch unsere Schwarzen. In zwanzig verschiedene Stammesgruppen geteilt, strömen sie auf der Su che nach dem guten Leben vom Land in die Stadt und vergrö ßern die Zahl der Arbeitslosen. Sie finden anstelle von gutem Leben Hunger, Verbrechen, verbotenen Alkohol und Prostitu tion, alles Dinge, die andauernde Unzufriedenheit auslösen, zur Mißachtung unserer Gesetze führen und ihnen zum ersten Mal die süßen Reize politischer Macht offenbaren.« »Das ist ein Problem, dem wir uns noch nicht einmal gestellt haben, geschweige denn, den Versuch gemacht haben, es zu verstehen«, pflichtete Blaine bei. »Wir können nur beten, daß unsere Kinder und Enkel uns nicht eines Tages für unsere Nachlässigkeit verfluchen.« »Wir können wirklich nur beten«, echote Smuts. »Und in Amerika ist das Kreditsystem zusammengebrochen, der Handel mit Europa und dem Rest der Welt steht still. In Deutschland bricht nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft die Weimarer Republik auseinander. Aus den Trümmern wird eine neue Dik tatur hervorgehen, die auf Blut und Gewalt basiert und schon jetzt einen üblen Gestank verbreitet. In Rußland läßt ein blut rünstiges Ungeheuer Millionen seiner eigenen Landsleute ab schlachten. Japan kämpft gegen die Anarchie. Die Militärs ha ben einen Aufruhr angezettelt, die gewählte Regierung ge stürzt, die Mandschurei besetzt und die unglückliche Bevölke rung zu Tausenden niedergemetzelt – und das alles unter der Androhung, aus dem Völkerbund auszutreten, falls die übrige Welt protestiert. Es hat einen Run auf die Bank von England gegeben, Großbritannien hat sich gezwungen gesehen, vom Goldstandard abzugehen, und aus der Gruft der Geschichte erhebt sich wieder einmal der verfluchte alte Geist des Antise mitismus und geht in der zivilisierten Welt um.« Smuts blieb stehen und schaute Blaine direkt an. »Wo wir auch hinsehen, 344
überall lauern Unheil und tödliche Gefahr. Ich will nicht versu chen, daraus Nutzen zu ziehen und dadurch dieses leidende Land noch einmal aufspalten. Nein, Blaine, Koalition und Ko operation, nicht Konflikt.« »Wie konnte sich das alles so schnell entwickeln, Ou Baas?«, fragte Blaine leise. »Es scheint, als wären wir noch gestern wohlhabend und glücklich gewesen.« Smuts schwieg einen Augenblick, dann raffte er sich wieder auf. »Ich brauche Sie, Blaine. Wollen Sie Zeit haben, um dar über nachzudenken?« Blaine schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Sie können auf mich zählen, Ou Baas.« »Das wußte ich.« Blaine blickte über die Schulter zu Centaine und versuchte, seinen Jubel zu verbergen und das Gefühl der Scham zu unter drücken, das sich in seine Freude mischte, Scham darüber, daß er, anders als dieser kleine uneigennützige Mann vor ihm, von der Not seines Landes profitieren würde und einzig durch diese außergewöhnlichen Umstände sein ehrgeiziges Streben nach einem Platz im Kabinett verwirklichen konnte. Darüber hinaus würde er auf das Kap zurückkehren, aus einem Land der Wü sten in seine üppige und schöne Heimat, dorthin, wo auch Cen taine Courtney war. Dann streifte sein Blick die magere blasse Frau im Rollstuhl, deren Schönheit unter dem Einfluß von Schmerzen und Drogen dahinschwand, und Schuldgefühle und Scham überwogen die Freude. Aber da ergriff Smuts wieder das Wort. »Ich werde noch vier Tage hier auf Weltevreden sein, Blaine. Sir Garry hat mich so lange bearbeitet, bis ich ihm die Erlaub nis gab, meine Biographie zu schreiben, und in den nächsten Tagen wollen wir den ersten Entwurf ausarbeiten. Gleichzeitig führe ich eine Reihe von Geheimbesprechungen mit Barry Hertzog, und ich hoffe, daß wir uns über die letzten Einzelhei 345
ten der Koalition einigen können. Hier ist der ideale Ort für solche Besprechungen, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich zur Verfügung halten könnten. Ich werde Sie fast si cher hinzuziehen.« »Natürlich.« Blaine konnte seine eigenen Gefühle nur mit Mühe unterdrücken. »Ich bleibe hier, solange Sie mich brau chen. Möchten Sie, daß ich der Administration meinen Rück tritt bekanntgebe?« »Schreiben Sie den Brief«, erwiderte Smuts. »Ich erkläre Hertzog Ihre Gründe, und Sie können ihm das Rücktrittsgesuch persönlich überreichen.« Blaine schaute auf die Uhr, und der alte General reagierte so fort: »Ja, richtig, Sie werden sich auf das Spiel vorbereiten müssen. Diese frivolen Vergnügungen inmitten unheilvoller Ereignisse kommen mir vor wie Fiedeln während des Brandes von Rom, aber man muß den Schein wahren. Ich habe sogar zugestimmt, die Preisverteilung vorzunehmen. Ich hoffe also, wir sehen uns später – bei der Preisverteilung, wenn ich Ihnen den Pokal überreiche.« Es war ein sehr schweres Spiel, aber das Kap-A-Team, ange führt von Blaine Malcomess, konnte gegen das Transvaal-ATeam das Finalspiel des Turniers gewinnen. Unmittelbar da nach versammelten sich alle Mannschaften am Fuß der Haupt tribüne, wo auf einem Tisch die stattliche Reihe silberner Poka le aufgestellt war. Doch es kam zu einer peinlichen Verzöge rung. Ein Team fehlte: die Siegermannschaft des Juniorenbe werbs. »Wo ist Shasa?« wollte Centaine von Cyril Slaine wissen, der Organisator des Turniers war. Er hob hilflos die Hände. »Er hat mir versprochen, rechtzei tig hier zu sein.« »Wenn das seine Überraschung ist –« Nur mit Mühe verbarg Centaine ihren Ärger hinter einem freundlichen Lächeln. »Nun, auch gut. Wir fangen ohne sie an.« Sie nahm ihren Platz neben 346
dem General ein und hob beide Hände, um die Aufmerksam keit des Publikums auf sich zu lenken. »General Smuts, meine Damen und Herren, verehrte Gäste und liebe Freunde.« Sie brach ab und blickte sich unsicher um, da ein Dröhnen aus der Luft hörbar wurde. Der Laut wurde immer stärker, und alle Gesichter wandten sich suchend dem Himmel zu. Und plötzlich tauchte über den Eichen am unteren Ende des Polofeldes ein tieffliegendes Flugzeug auf. Centaine erkannte, daß es eine kleine einmotorige Maschine war, eine Puss-Moth. Sie schoß steil herunter und kam, nun knapp über dem Boden des Polofeldes hinwegrasend, direkt auf die Haupt tribüne zu. Als es schon aussah, als würde das Ding gerade wegs in die dichtgedrängte Zuschauermenge rasen, zog es scharf nach oben und raste aufheulend über ihre Köpfe hinweg. Als das Flugzeug über Centaine hinwegraste, sah sie Shasas lachendes Gesicht hinter dem Seitenfenster und fand sich au genblicklich über Zeit und Raum hinweg in die Vergangenheit versetzt. Das Gesicht gehörte nicht mehr Shasa, sondern Michael Courtney, seinem Vater. Und die Maschine war nicht mehr blau und stromlinienförmig, sondern war ein Doppeldecker mit offenem Cockpit im schmutzigen Gelb eines Aufklärers aus dem Ersten Weltkrieg. Die Maschine flog einen weiten Bogen und tauchte abermals über den Eichen auf. Centaine war vor Schreck starr, ein stummer Schmerzensschrei löste sich in ihr, als sie im Geist noch einmal mit ansah, wie der gelbe Aufklärer mit stotterndem Triebwerk versuchte, über die großen Buchen hinter dem Herrenhaus von Mort Homme hinwegzukommen. Sie sah wieder vor sich, wie die stark beschädigte Maschine den Wipfel der hohen Rotbuche streifte, sich überschlagend aus dem Himmel fiel, wie die Flammen emporloderten und den Körper des Mannes im offenen Cockpit erfaßten. Dann verschwand das Bild plötzlich, und sie sah die kleine 347
blaue Maschine sauber auf dem grünen Rasen des Polofeldes aufsetzen. Am Ende der Wiese schwang die Maschine herum und hol perte vorsichtig auf die Tribüne zu. Vor der Tribüne blieb sie stehen, und der Motor starb mit einem letzten Verpuffen blauen Rauches aus den Auspuffröhren ab. Auf beiden Seiten der Kabine wurden die Luken auf gesto ßen, und grinsend sprangen Shasa Courtney und seine drei Teamkollegen heraus. Centaine war überrascht, daß sie alle in dem winzigen Cockpit Platz gefunden hatten. »Überraschung für alle!« brüllten sie. »Überraschung! Über raschung!« Und auf der Tribüne wurde gelacht, applaudiert, gepfiffen und gebrüllt. Ein Flugzeug war noch immer etwas so Ungewöhnliches, daß es selbst die Aufmerksamkeit einer so welterfahrenen Gesellschaft wie dieser auf sich zog. Kaum ein Fünftel der Zuschauer war jemals in einem Flugzeug geflogen, und angesichts dieser unerwarteten und geräuschvollen Lan dung wurde laut und anhaltend applaudiert, als Shasa mit sei nem Team zur Tribüne schritt, um den silbernen Pokal von General Smuts entgegenzunehmen. Der Pilot der blauen Maschine kletterte aus der linken Luke. Centaine warf ihm einen giftigen Blick zu. Sie hatte nicht ge wußt, daß auch Jock Murphy das Fliegen zu zahllosen Fähig keiten zählte, aber sie nahm sich augenblicklich vor, ihn diesen Streich noch fühlen zu lassen. Sie hatte immer alles getan, um Shasas Interesse an Flugzeugen und am Fliegen zu unterdrük ken, was nicht leicht gewesen war, denn auf Shasas Nachttisch stand eine Fotografie seines Vaters in Fliegermontur, und von der Decke seines Zimmers hing ein Modell des SE5a Kampffliegers. Doch sie wäre nie auf den Gedanken gekom men, daß er ohne ihre Einwilligung fliegen lernen würde. Rückblickend erkannte sie, daß sie diese Möglichkeit bewußt verdrängt hatte, es bewußt vermieden hatte, darüber nachzu denken. Um so schmerzlicher war nun der Schock. 348
Mit dem silbernen Pokal in den Händen beendete Shasa seine kurze Dankesrede mit den Sätzen: »Meine Damen und Herren, Sie haben wahrscheinlich ange nommen, daß Jock Murphy die Puss-Moth geflogen hat. Das hat er nicht! Er hat die Instrumente nicht einmal berührt – stimmt’s?« Er schaute seinen kahlköpfigen Lehrer an, der be jahend nickte. »Sehen Sie!« Shasa strahlte. »Ich möchte hiermit bekanntge ben, daß ich mich entschlossen habe, Flieger zu werden, genau wie mein Vater.« Centaine stimmte nicht in den stürmischen Beifall ein. So plötzlich, wie sie gekommen waren und das Leben auf Weltevreden verändert hatten, verschwanden die Gäste auch wieder und hinterließen nichts als den zertrampelten Rasen des Polofeldes, Berge von Abfall und schmutziger Wäsche sowie eine Menge leerer Champagnerflaschen. Centaine blieb mit dem schmerzlichen Gefühl endgültigen Abstiegs zurück. Ihr letzter Auftritt war vorüber, der letzte Schuß Munition abge feuert, und am Samstag legte das Postschiff in Table Bay an und brachte ihnen einen geladenen, aber unwillkommenen Be sucher. »Der verdammte Kerl erinnert mich an einen Leichenbestat ter, der für einen Steuereinnehmer eingesprungen ist«, schnaubte Sir Garry und ging mit General Smuts in den Ge wehrraum, den dieser immer als Arbeitszimmer benutzte, wenn er auf Weltevreden zu Besuch war. Die beiden Männer waren mit der ersten Besprechung über die geplante Biographie be schäftigt und erschienen erst wieder zum Mittagessen. Der Besucher kam zum Frühstück herunter, als Centaine und Shasa rotwangig und hungrig von ihrem Morgenritt zurück kehrten. Er begutachtete gerade die Prägung auf dem Silber besteck, als sie Arm in Arm lachend das Eßzimmer betraten. 349
Doch Centaines ausgelassene Stimmung war schlagartig vor bei, als sie ihn sah. »Darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen – Michael Shasa Courtney. Shasa, das ist Mr. Davenport aus London.« »Guten Tag, Sir. Willkommen auf Weltevreden.« Davenport musterte Shasa mit demselben abschätzenden Blick, mit dem er das Silber betrachtet hatte. »Mr. Davenport ist von Sotheby’s, Shasa«, brach Centaine das verlegene Schweigen. »Er ist gekommen, um mich bei ei nigen unserer Gemälde und Möbel zu beraten.« »Oh, sehr gut«, meinte Shasa begeistert. »Haben Sie das hier schon gesehen, Sir?« Shasa deutete auf die in sanften Ölfarben gemalte Landschaft über der Anrichte. »Das ist das Lieblings gemälde meiner Mutter. Auf dem Gut entstanden, wo sie gebo ren wurde. Mort Homme in der Nähe von Arras.« Davenport rückte seine Goldbrille zurecht und beugte sich über die Anrichte, um das Bild aus der Nähe zu betrachten. »Signiert 1875«, sagte er trübe. »Seine beste Periode.« »Es ist von einem Maler namens Sisley«, erklärte Shasa hilfsbereit, »Alfred Sisley. Ein sehr bekannter Künstler, nicht wahr, Mutter?« »Ich glaube, chéri, Mr. Davenport weiß, wer Alfred Sisley ist.« Aber Davenport hatte überhaupt nicht zugehört. »Wir könnten fünfhundert Pfund dafür bekommen«, murmel te er und zog ein Notizbuch aus seiner Innentasche, um eine Eintragung zu machen »Fünfhundert?« fragte Centaine traurig. »Ich habe beträchtlich mehr dafür bezahlt.« Sie goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich ans obere Ende der Tafel. »Und das auch nur möglicherweise, Mrs. Courtney. Wir hat ten erst letzten Monat ein bedeutenderes von seinen Werken zur Versteigerung, ›L’Ecluse de Marly‹, und es erreichte nicht einmal den sehr bescheidenen Ausrufungspreis, den wir ange setzt hatten. Ein vom Käufer beherrschter Markt, leider, durchwegs ein vom Käufer beherrschter Markt.« 350
»Oh, machen Sie sich keine Sorgen, Sir.« Shasa häufte Eier auf seinen Teller und krönte sie mit einer knusprigen Speck scheibe. »Es ist unverkäuflich. Meine Mutter würde es niemals verkaufen, nicht wahr, Mutter?« Davenport ignorierte das und trug seinen Teller zu dem frei en Platz neben Centaine. »Nun, da ist der Van Gogh in der Halle schon etwas ande res«, erklärte er ihr. »Grünes und violettes Weizenfeld. In Amerika ist Van Gogh derzeit sehr in Mode, sogar auf diesem unsicheren Markt. Ich kann nicht sagen, wie lange das noch anhält, natürlich, und ich selbst kann ihn nicht nehmen, aber ich lasse das Bild fotografieren und schicke Abzüge davon an ein paar unserer wichtigsten Kunden in den Vereinigten Staa ten. Ich denke, wir könnten vier- bis fünftausend Pfund erzie len.« Shasa hatte Messer und Gabel beiseite gelegt und blickte mit verständnisloser Miene zu seiner Mutter. »Ich glaube, wir sollten später darüber reden, Mr. Daven port«, warf Centaine rasch ein. »Ich habe den ganzen Tag für Sie reserviert. Aber lassen Sie uns erst unser Frühstück genie ßen.« Den Rest der Mahlzeit wurde nichts gesprochen, aber als Shasa seinen halbvollen Teller zurückschob, stand Centaine ebenfalls auf. »Wo gehst du hin, chéri?« »Zu den Ställen. Der Hufschmied beschlägt zwei meiner Po nys.« »Ich begleite dich.« Sie nahmen den Weg entlang der Mauer des Weingartens, wo Centaines beste Reben wuchsen. Beide schwiegen, Shasa in der Erwartung, daß sie das Gespräch einleiten würde, und Centai ne, weil sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. Natürlich gab es keine schonende Art, es ihm beizubringen. Ihr Zögern machte es ihr nun nur noch schwerer. Am Tor zum Hof der Stallungen nahm sie seinen Arm und 351
führte ihn in die Plantage. »Dieser Mann«, begann sie, brach dann ab und nahm einen neuen Anlauf. »Sotheby’s ist das vor nehmste Auktionshaus der Welt. Sie sind auf Kunstwerke spe zialisiert.« »Ich weiß«, meinte er mit einem herablassenden Lächeln. »Ich bin kein Dummkopf, Mutter.« Sie zog ihn auf die Eichenbank, die neben dem Brunnen stand. »Shasa, chéri, er ist gekommen, um Weltevreden für uns zu verkaufen.« Sie sagte es laut und deutlich, und augenblicklich überfiel sie die Ungeheuerlichkeit der Tatsache mit der erdrük kenden Gewalt einer fallenden Eiche. Betäubt und gebrochen saß sie neben ihm und hatte das Gefühl, langsam zu schrump fen. »Du meinst die Bilder?« fragte Shasa vorsichtig. »Nicht nur die Bilder, auch die Möbel, die Teppiche und das Silber.« Sie mußte abbrechen, um das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken. »Das Herrenhaus, deine Ponys, das ganze Gut, alles.« Er starrte sie an. Er hatte seit seinem vierten Lebensjahr, so weit er zurückdenken konnte, auf Weltevreden gelebt. »Shasa, wir haben alles verloren. Ich habe seit dem Raub versucht, es zusammenzuhalten. Ich habe es nicht geschafft. Es ist verloren, Shasa. Wir verkaufen Weltevreden, um unsere Schulden zu bezahlen. Und danach wird nichts mehr übrig sein.« Ihre Stimme brach abermals, und sie berührte ihre zit ternden Lippen, bevor sie fortfuhr: »Wir sind nicht mehr reich, Shasa. Es ist alles verloren. Wir sind ruiniert, komplett rui niert.« Sie starrte ihn an, erwartete, daß er sie beschimpfen würde, erwartete einen Zusammenbruch, statt dessen streckte er den Arm nach ihr aus, und nach einem Augenblick wich ihre Starr heit, und sie sank gegen seine Brust und klammerte sich trost suchend an ihn. 352
»Wir sind arm, Shasa –« Sie spürte, wie er innerlich kämpfte, es zu begreifen. »Weißt du, Mutter«, sagte er schließlich, »ich kenne ein paar arme Leute. Ein paar Jungs in der Schule – ihre Eltern haben es gar nicht leicht, aber das scheint ihnen nicht allzuviel auszuma chen. Die meisten von ihnen sind ganz feine Kerle. Es ist be stimmt halb so schlimm, wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, arm zu sein.« »Ich werde mich niemals daran gewöhnen«, flüsterte sie lei denschaftlich. »Ich werde es hassen, jeden Augenblick has sen.« »Ich auch«, sagte er ebenso heftig. »Wenn ich nur schon alt genug wäre – und dir helfen könnte.« Sie trennte sich von Shasa beim Hufschmied und ging lang sam zurück zum Haus. An der Ecke des Weingartens kletterte sie über die Steinmauer und ging zwischen den langen Reihen von Weinreben hindurch. Solange Shasa bei ihr gewesen war, hatte sie ihre Tränen zurückhalten können, aber nun, da sie allein war, übermannten sie Kummer und Verzweiflung, und sie blieb stehen und weinte. Sie hatte so hart gearbeitet, war so lange allein gewesen, und jetzt, angesichts ihres endgültigen Versagens, war sie müde, wußte, daß sie nicht die Kraft haben würde, noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Sie war am Ende, und ihr Leben würde von nun an eine traurige und armselige Sache sein, ein zermür bender täglicher Kampf um die Bewahrung eines letzten Restes Stolz. Sosehr sie Garry Courtney liebte, sie war künftig auf seine Barmherzigkeit angewiesen, und ihr ganzes Inneres sträubte sich gegen diese Aussicht. Zum allerersten Mal in ih rem Leben hatte sie weder den Willen noch den Mut weiterzu machen. Eine Sehnsucht nach Frieden überkam sie, nahm so von ihr Besitz, daß sie eilig den Weingarten verließ und mit schnellen Schritten die Auffahrt hinaufeilte. »Es wird wie Schlaf sein – 353
traumloser Schlaf.« Sie sah sich mit geschlossenen Lidern auf einem Seidenkissen liegen, ruhig und friedlich. Als sie den Rasen überquerte, begann sie zu rennen, riß die Glastür zu ihrem Arbeitszimmer auf und stürzte außer Atem an ihren Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf. Die Pistolen waren ein Geschenk von Sir Garry gewesen. Sie lagen in einer Kassette aus königsblauem Schweinsleder, auf deren Deckel ein Messingschildchen ihren Namen trug. Es handelte sich um zwei Damenpistolen, von Beretta in Italien speziell angefertigt, mit kostbarer goldener Einlegearbeit und Griffen aus Perlmutt, besetzt mit kleinen Diamanten aus der H’ani-Mine. Sie wählte eine der Waffen und kontrollierte das Magazin. Alle Kammern waren geladen, also ließ sie das Schloß zu schnappen und zog den Hahn zurück. Ihre Hände waren ruhig, ihr Atem ging gleichmäßig. Sie fühlte sich gelöst und frei, als sie die Pistole hob und den Lauf gegen ihre Schläfe drückte. »Arme Centaine«, dachte sie. »Was für ein schreckliches En de.« Ihr Blick fiel auf den goldgerahmten Spiegel an der Wand gegenüber. Zu beiden Seiten des Glases standen hohe Vasen mit frischen langstieligen gelben Rosen aus dem Garten, so daß ihr Spiegelbild eingefaßt war von Blüten, so, als läge sie bereits in ihrem Sarg. »Ich sehe aus wie eine Leiche«, sagte sie laut, und bei diesen Worten verwandelte sich ihr Wunsch nach Vergessen augen blicklich in tiefe Selbstverachtung. Sie senkte die Pistole und starrte ihr Spiegelbild an. »Merde, nein!« schrie sie ihr Spiegelbild an. »So einfach kommst du nicht weg.« Sie öffnete das Magazin, streute die Patronen auf den Teppich, warf die Waffe auf den Schreibtisch und schritt aus dem Zimmer. »Eines warst du nie, Centaine Courtney – ein Feigling«, sagte sie laut. Sie nahm ein Bad, und als sie in ihr Ankleidezimmer zurück kehrte, wählte sie ein Kleid in bunten sommerlichen Farben 354
und lächelte, als sie die Treppe herunterkam. Davenport und Cyril Slaine erwarteten sie bereits. »Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, meine Herren. Lassen Sie uns also gleich beginnen.« Jeder einzelne Gegenstand in dem riesigen Haus mußte nu meriert, beschrieben, geschätzt, manches sogar fotografiert und alles mühsam in einen Katalog eingetragen werden. In zehn Tagen mußten sie fertig sein, da Davenport das Postschiff nach England erreichen wollte. In drei Monaten würde er wieder zurückkehren, um den Verkauf durchzuführen. Als die Zeit für Davenports Abreise gekommen war, über raschte Centaine alle mit der Ankündigung, ihn persönlich um den Berg herum zum Hafen zu begleiten, eine Aufgabe, die normalerweise Cyril zugefallen wäre. Die Abfahrt des Postschiffes war stets ein großes gesell schaftliches Ereignis in Kapstadt. Auf dem Schiff drängten sich die Passagiere und die unzähligen Angehörigen, die gekommen waren, um sich von ihnen zu verabschieden. An der Eingangspforte der Ersten Klasse ging Centaine die Passagierliste durch und fand die Eintragung unter »M«: MALCOMESS, MRS. I. KABINE A 16 MALCOMESS, MISS T. KABINE A 17 MALCOMESS, MISS M. KABINE A 17 Blaines Familie fuhr also wie geplant ab. Gemäß ihrer Über einkunft hatte sie ihn seit dem letzten Tag des Poloturniers nicht mehr gesehen und suchte nun verstohlen nach ihm in den Salons und Gesellschaftsräumen der ersten Klasse. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Wahrscheinlich war er in Isabellas Kabine. Die Vorstellung, daß die beiden dort für sich allein waren, quälte sie, und sie wäre am liebsten unter dem Vorwand, sich von Isabella zu verabschieden, zu Kabine A 16 gegangen. Statt dessen blieb sie im großen Salon sitzen, sah zu, wie sich Mr. Davenport einen Gin nach dem anderen geneh migte, lächelte gelassen ihren zahlreichen Bekannten zu und 355
tauschte Banalitäten mit jenen Freunden aus, die in der Ab sicht, zu sehen und gesehen zu werden, durch die Räume des Schiffes schlenderten. Mit grimmiger Befriedigung nahm sie von der Herzlichkeit und Hochachtung Notiz, die man ihr entgegenbrachte. Es war eindeutig, daß die ungeheure Extravaganz des Poloturniers ihren Zweck erfüllt und jeden Verdacht, sie könnte in finanziel len Schwierigkeiten sein, zerstreut hatte. Bisher waren noch keine Gerüchte in Umlauf, die ihre Stellung und ihren Ruf ge fährdet hätten. Sie wußte, daß sich das bald ändern würde, und schon der Gedanke daran machte sie wütend. Die Schiffssirene heulte den letzten Aufruf, und die Offiziere in ihren schneeweißen Tropenanzügen gingen durch die Räume und forderten alle höflich zum Verlassen des Schiffes auf. Centaine schüttelte Mr. Davenport die Hand und schloß sich der Prozession an, die sich die steile Gangway zum Pier hinun terbewegte. Dort blieb sie in der Menge stehen, starrte zum Deck hinauf und versuchte Isabella oder ihre Töchter unter den Passagieren, die an der Reling standen, zu entdecken. Buntfarbene Papierschlangen flatterten von den Decks, und plötzlich sah Centaine Blaines ältere Tochter. Aus dieser Ent fernung wirkte Tara in ihrem dunklen Kleid und mit dem mo disch aufgesteckten Haar sehr erwachsen. Ihre Schwester stand neben ihr, hatte den Kopf durch die Stäbe der Reling gesteckt und winkte jemandem auf dem Pier heftig mit einem rosafar benen Taschentuch. Centaine beschattete ihre Augen und entdeckte hinter den beiden Mädchen die Gestalt im Rollstuhl. Isabellas Gesicht lag im Schatten, und sie erschien Centaine plötzlich wie der letzte Vorbote drohenden Unheils. »O Gott, ich wünschte, ich könnte sie hassen«, dachte sie, und ihre Augen folgten der Richtung, in die die beiden Kinder winkten. Dann sah sie ihn. Er war auf das Fahrwerk eines der riesigen 356
Ladekräne geklettert. Er trug einen cremefarbenen Tropenan zug, seine grün-blaue Regimentskrawatte und einen breitkrem pigen weißen Panamahut, den er abgenommen hatte, um seinen Töchtern damit zuzuwinken. Centaine drängte sich durch die Menge bis zu einer Stelle, von der aus sie ihn heimlich beobachten konnte. Zweifel überfielen sie. »Liebt er mich, oder liebt er das, was ich bin? Wird er mich noch lieben, wenn ich nur noch eine ganz normale Frau bin, ohne Reichtum, ohne gesellschaftliche Stellung und mit nichts als dem Kind eines anderen Mannes?« Als Blaine die Finger an die Lippen hob und einen Kuß zu der blassen Gestalt im Rollstuhl hinaufschickte, überfiel ihre Eifer sucht sie erneut mit aller Heftigkeit, der Ausdruck der Sorge und Zuneigung in seinem Gesicht war quälend für sie, und sie fühlte sich völlig ausgeschlossen und überflüssig. Der Abstand zwischen dem Schiff und dem Pier wurde lang sam größer, die Schiffssirenen heulten zum Abschied, und die Schleppdampfer zogen das große Schiff vorsichtig durch die schmale Hafeneinfahrt. Einmal unter Dampf, entfernte sich der riesige weiße Schiffsrumpf rasch. Die Menschenmenge rund um Centaine löste sich auf, und innerhalb von wenigen Minuten stand sie allein auf dem Pier. Blaine stand noch immer auf dem Fahrwerk des Ladekrans und starrte, die Augen mit dem Panamahut beschattend, dem ent schwindenden Schiff nach. Sein Gesicht war ernst, kein Lä cheln umspielte den breiten Mund. Dann ließ er den Hut plötz lich sinken, drehte sich um und blickte zu ihr hinunter. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihn in diesem unbewachten Augenblick beobachtet hatte, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Doch der Augen blick ging vorüber. Er sprang vom Fahrwerk und ging langsam zu der Stelle, wo sie wartete. Er hatte den Hut aufgesetzt, hinter der breiten Krempe lagen seine Augen im Schatten, so daß sie nicht genau erkennen konnte, was für ein Ausdruck in ihnen 357
lag. Als er schließlich vor ihr stand, hatte sie Angst wie noch nie in ihrem Leben. »Wann können wir uns treffen?« fragte er ruhig. »Ich kann keine Minute länger darauf warten, endlich wieder mit dir zu sammenzusein.« All ihre Ängste und Zweifel verflogen, sie war erregt und aufgewühlt wie ein junges Mädchen, fast schwindlig vor Glück. »Er liebt mich noch«, jubelte ihr Herz. »Er wird mich immer lieben.« General James Barry Munnick Hertzog kam in einem unauf fälligen geschlossenen Wagen nach Weltevreden. Er war ein alter Waffengefährte von Jan Christian Smuts. Beide hatten während des Burenkrieges mit großer Entschlossenheit gegen die Engländer gekämpft und an den Friedensverhandlungen in Vereeniging teilgenommen, die diesen Krieg beendeten. Da nach waren sie beide in der Nationalversammlung vertreten gewesen, die die Verfassung der Südafrikanischen Union aus arbeitete, und beide hatten sie einen Sitz im ersten Kabinett von Louis Botha innegehabt. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, weil Hertzog dem en gen Grundsatz »Südafrika an erster Stelle« huldigte, während Jan Smuts zum internationalen Staatsmann wurde, der bei der Entstehung des Britischen Commonwealth Pate stand und eine führende Rolle bei der Gründung des Völkerbundes spielte. Hertzog war überzeugter Afrikaner und hatte Afrikaans als gleichberechtigte Amtssprache neben Englisch durchgesetzt. Er war eine große, hagere Erscheinung und machte Eindruck, wo immer er auftrat, so auch jetzt, als er die Bibliothek von Welte vreden betrat. Jan Smuts erhob sich von seinem Platz an dem langen, mit grünem Boi überzogenen Tisch und kam ihm ent gegen. 358
»Nun«, schnaubte Hertzog, als sie einander die Hand schüt telten, »wir haben wahrscheinlich nicht so viel Zeit für Diskus sionen und taktische Manöver, wie wir gehofft haben.« General Smuts warf Blaine Malcomess und Deneys Reitz, seinen Vertrauten und Kandidaten für das neue Kabinett, einen flüchtigen Blick zu, aber keiner von ihnen sagte etwas, wäh rend Hertzog und Nicolaas Havenga, der Finanzminister von der Nationalen Partei, ihre Plätze auf der anderen Seite der lan gen Tafel einnahmen. Schon mit siebzehn Jahren war Havenga als Hertzogs Sekretär mit diesem gegen die Briten geritten. Seither waren sie unzertrennlich. Havenga hatte seinen Kabi nettssitz inne, seit Hertzogs Nationalisten 1924 an die Macht gekommen waren. »Sind wir hier sicher?« fragte er und warf einen argwöhni schen Blick auf die messingbeschlagene Mahagonitür am ande ren Ende der Bibliothek. »Völlig sicher«, versicherte Smuts. »Wir können offen reden, ohne die mindeste Befürchtung, belauscht zu werden. Darauf gebe ich Ihnen persönlich mein Wort.« Havenga warf Hertzog einen fragenden Blick zu, und als der Premierminister nickte, begann er mit augenscheinlichem Wi derwillen zu sprechen. »Tielman Roos hat sein Amt am Appellationsgericht zurück gelegt«, verkündete er und ließ sich in seinem Sessel zurück sinken. Weitere Einzelheiten waren nicht nötig. Tielman Roos war eine der bekanntesten und schillerndsten Persönlichkeiten des Landes. Man hatte ihm den Spitznamen »Löwe des Nordens« gegeben, und er war einer von Hertzogs loyalsten Anhängern gewesen. Als die Nationalisten an die Macht kamen, war er Justizminister und stellvertretender Premierminister geworden. Es hatte lange Zeit so ausgesehen, als wäre er sicherer Nach folger von Hertzog, sozusagen dessen rechtmäßiger Erbe, aber dann waren seine schwache Gesundheit und Meinungsver 359
schiedenheiten über die Frage des Festhaltens am Goldstandard als Hindernisse aufgetreten. Tielman Roos hatte sich aus der Politik zurückgezogen und eine Berufung an das Appellations gericht des Obersten Gerichtshofes angenommen. »Aus gesundheitlichen Gründen?« fragte Jan Smuts. »Nein, der Goldstandard«, erwiderte Havenga ernst. »Er be absichtigt, sich offen gegen unser Festhalten am Goldstandard auszusprechen.« »Sein Einfluß ist gewaltig«, meinte Blaine. »Wir können nicht zulassen, daß er unsere Politik in Zweifel zieht«, stimmte Hertzog zu. »Zum jetzigen Zeitpunkt könnte eine Erklärung von Roos verhängnisvoll sein. Es ist von größ ter Dringlichkeit, daß wir uns in Sachen Gold auf eine gemein same Politik einigen. Wir müssen in der Lage sein, seine Hal tung entweder zu bekämpfen oder im voraus einzunehmen. Es ist lebenswichtig, daß wir eine einige Front präsentieren.« Er sah Smuts an. »Dem stimme ich zu«, antwortete Smuts. »Wir dürfen nicht zulassen, daß unsere neue Koalition unglaubwürdig wird, be vor sie überhaupt existiert.« »Das ist eine Krise«, warf Havenga ein. »Wir müssen sie als solche behandeln. Dürften wir Ihre Meinung dazu hören, Ou Baas?« »Sie kennen meine Meinung«, erwiderte Smuts. »Sie werden sich daran erinnern, daß ich Sie gedrängt habe, Großbritanniens Beispiel zu folgen, als es vom Goldstandard abging. Ich möch te Ihnen das jetzt nicht vorwerfen, aber meine Meinung hat sich seither nicht geändert.« »Würden Sie uns bitte noch einmal Ihre Gründe darlegen, Ou Baas?« »Ich habe damals prophezeit, daß es zu einem Absinken des südafrikanischen Goldpfundes bis zum Wert des Pfund Sterling kommen werde. Schlechtes Geld vertreibt gutes Geld immer. Und ich hatte recht, genau das ist geschehen«, stellte Smuts 360
einfach fest, und die Männer ihm gegenüber wirkten verlegen. »Der daraus resultierende Verlust an Kapital hat unsere Indu strie geschwächt und Zehntausende arbeitslos gemacht.« »Aber in Großbritannien gibt es doch auch Millionen von Arbeitslosen«, warf Havenga gereizt ein. »Unser Festhalten am Goldstandard verschlimmert die Ar beitslosigkeit. Es hat unsere Goldindustrie in Gefahr gebracht. Es hat zum ständigen Absinken der Preise für Diamanten und Wolle geführt. Es ist die Ursache für die tiefe wirtschaftliche Depression, in der wir uns jetzt befinden.« »Wenn wir jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt, vom Goldstan dard abgingen, welche Vorteile würde das dem Land bringen?« »Der erste und bei weitem wichtigste Vorteil wäre der, daß sich unsere Bergwerksindustrie wieder erholen könnte. Wenn das südafrikanische Pfund auf den Wert des Pfund Sterling abgewertet würde – und das sollte sofort geschehen –, bedeutet das, daß die Minen für eine Unze Gold sieben Pfund anstelle der derzeitigen vier Pfund erzielen könnten. Das ist nahezu das Doppelte. Die Bergwerke, die schließen mußten, würden wie der arbeiten. Und die anderen würden expandieren. Und dann käme endlich wieder Kapital ins Land. Es wäre die große Wende.« Die Argumente dafür und dagegen wurden lang und breit diskutiert, wobei Blaine und Reitz den alten General unterstützten. Die beiden Männer auf der Gegenseite ließen sich durch die Logik ihrer Argumente allmählich überzeugen, bis Barry Hertzog kurz nach Mittag plötzlich sagte: »Auf den Zeitpunkt kommt es an. An der Börse wird die Höl le los sein. Bis Weihnachten sind es nur noch drei Handelstage. Wir müssen die Verlautbarung bis dahin verschieben und unse ren Beschluß erst verkünden, wenn die Börse geschlossen ist.« Die Atmosphäre in der Bibliothek schien sich fühlbar zu ent spannen. Hertzogs Bemerkung signalisierte, daß Smuts die Auseinandersetzung gewonnen hatte. Südafrika würde vom 361
Goldstandard abgehen, bevor die Börse im neuen Jahr wieder aufmachte. Ein herrliches Gefühl des Stolzes erfüllte ihn. Das erste Werk dieser neuen Koalition war es, dem langen wirt schaftlichen Todeskampf des Landes ein Ende zu setzen, was gleichzeitig die Aussicht auf neuen Wohlstand und Hoffnung bedeutete. »Ich habe noch immer genügend Einfluß auf Tielman, um ihn dazu bewegen zu können, seine Erklärung bis nach dem Börsenschluß aufzuschieben«, fuhr Hertzog fort. Aber nun waren es nur noch die Einzelheiten, über die sie sich zu einigen hatten, und am Abend, als Blaine den anderen vor den weißen Giebeln von Weltevreden die Hand schüttelte und zu seinem Ford schritt, war er von dem Gefühl durchdrungen, an einer schicksalhaften Entscheidung mitgewirkt zu haben. Das war es ja, was ihn so stark zur Politik hinzog: daß er hel fen konnte, die Welt zu verändern. »Ich bin ein Teil der Ge schichte geworden«, dachte er, und seine gehobene Stimmung hielt an, während er als letzter das Tor von Weltevreden pas sierte. Blaine ließ sich absichtlich zurückfallen, bis die anderen Wagen in der ersten scharfen Kurve verschwanden. Erst dann fuhr er den Wagen an den Straßenrand und blieb für ein paar Minuten mit laufendem Motor stehen. Er blickte in den Rück spiegel, um sicherzugehen, daß er nicht beobachtet wurde. Dann setzte er den Ford wieder in Bewegung und drehte auf der Straße um. Kurz vor dem Tor bog er von der Straße auf einen Weg ein, der am Rand des Grundstückes von Weltevre den entlanglief. Nach wenigen Minuten befand er sich wieder auf Centaines Land, in einem Gebiet, das durch eine Pinien plantage vom Herrenhaus und von den Verwaltungsgebäuden abgeschirmt war. Er parkte den Ford unter den Bäumen und machte sich zu Fuß auf den Weg. Als er vor sich in den Strahlen der unterge henden Sonne die weißgekalkten Mauern des Cottages auf 362
leuchten sah, begann er zu laufen. Es war genau so, wie sie es ihm beschrieben hatte. Unter der Tür blieb er stehen. Centaine hatte ihn nicht gehört. Sie kniete vor dem offenen Kamin und blies in die rauchenden Flämmchen, um ein Feuer zu entfachen. Er beobachtete sie eine Weile, ohne daß sie ihn bemerkte. Sie hatte die Schuhe ausgezogen. Die Fußknöchel waren zart, ihre Waden fest und stark. In den Kniekehlen hatte sie Grübchen. Diese Grübchen hatte er noch nie bemerkt, und sie rührten ihn. Er war von einer tiefen Zärtlichkeit erfüllt, die er bis dahin nur für seine Töchter gefühlt hatte. Centaine drehte sich um und sprang auf, als sie ihn sah. »Ich dachte schon, du kämest nicht.« Sie warf sich in seine Arme, überließ ihm mit leuchtenden Augen ihre Lippen und löste sich erst nach einem langen Kuß von ihm, um sein Gesicht zu be trachten. »Du bist müde«, sagte sie. »Es war ein langer Tag.« »Komm.« Sie ergriff seine Hand und führte ihn zu dem Stuhl neben dem Kamin. Bevor er sich setzte, streifte sie ihm das Jak kett von den Schultern und löste den Knoten seiner Krawatte. »Das habe ich schon immer für dich tun wollen«, murmelte sie und hängte das Jackett in den kleinen Schrank, bevor sie zum Tisch ging, Whisky in ein Glas goß, mit Soda aufspritzte und ihm das Glas brachte. »Ist er richtig so?« fragte sie besorgt. »Perfekt.« Er sah sich in dem Cottage um und bemerkte die frischen Blumen in den Vasen, den frisch gewachsten Boden und die einfachen, soliden Möbel. »Sehr nett hier«, sagte er. »Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, um es für dich bereit zu haben. Anna hat hier gelebt, bis sie Sir Garry heiratete. Seither hat es niemand mehr bewohnt. Es ist jetzt unser Nest, Blaine.« Sie holte eines der Lederkissen und setzte sich zu seinen Füßen 363
nieder, stützte die verschränkten Arme auf seine Knie und be trachtete im Schein der Flammen sein Gesicht. »Wie lange kannst du bleiben?« »Nun –« er sah sie nachdenklich an. »Wie lange möchtest du mich haben? Eine Stunde? Oder zwei? Oder länger?« Und Centaine umklammerte seine Knie und jubelte: »Die ganze Nacht, die ganze wunderbare Nacht!« Sie hatte einen Picknickkorb mit Köstlichkeiten aus der Kü che von Weltevreden gefüllt. Sie aßen kaltes Roastbeef und Huhn und tranken dazu Wein aus eigener Erzeugung. Danach machte Centaine Kaffee auf dem offenen Herd, und sie tranken ihn, auf dem Teppich vor dem Kamin ausgestreckt, und beo bachteten die Flammen. Keiner von beiden sprach, aber Blaine streichelte mit seinen Fingerspitzen das feine dunkle Haar an ihren Schläfen und in ihrem Nacken, bis die friedliche Stim mung mehr und mehr die Oberhand gewann und seine Finger ihre Wirbelsäule entlang hinunterglitten. Sie erbebte und stand auf. »Wo gehst du hin?« fragte er. »Rauche deine Zigarre zu Ende«, erklärte sie, »und dann komm und schau nach.« Als er ihr in das kleine Schlafzimmer folgte, saß sie in der Mitte des niedrigen Betts. Er hatte sie nie zuvor in einem Nachthemd gesehen. Es war aus blaßgelber Seide, und die Spitzen am Hals und an den Är meln hatten die Farbe von altem Elfenbein. »Du bist schön«, sagte er. »Du gibst mir das Gefühl, schön zu sein«, sagte sie ernst und streckte ihm beide Arme entgegen. Blaine wachte vor Centaine auf. Langsam, ganz langsam, um sie nicht zu stören, drehte er den Kopf und betrachtete ihr Ge sicht. Sie hatte das Kissen beiseite geschoben und lag mit der 364
Wange auf dem Leintuch, ihre Lippen berührten fast seine Schulter, ein Arm lag auf seiner Brust. Ihre Augen waren geschlossen, die zarten Linien der blauen Venen schimmerten durch die weiße, durchsichtige Haut ihrer Lider. Winzige Linien hatten sich in den letzten Monaten um Mund und Augen gebildet. »Mein armer Liebling.« Seine Lippen formten die Worte lautlos, und allmählich verschwand die wunderbare Stimmung der letzten Nacht. »Mein armer tapferer Liebling.« Seit er ne ben dem offenen Grab seines Vaters gestanden hatte, war er nicht mehr so traurig gewesen. Während sein Mund diese Worte formte, fiel ihm etwas ein, und er fuhr so heftig hoch, daß Centaine es im Schlaf spürte und sich umdrehte. Blaine blieb starr neben ihr liegen, jeder Muskel seines Kör pers war angespannt, er hatte die Fäuste geballt und biß die Zähne aufeinander, entsetzt über sich selbst, wütend und er schrocken darüber, daß er diesen Gedanken auch nur denken konnte. Seine Augen standen weit offen. Er starrte auf den breiten Sonnenstrahl an der gegenüberliegenden Wand, nahm ihn aber nicht wahr. »Ehre –« ging es ihm durch den Kopf. »Ehre und Pflicht.« Er stöhnte leise, als ein anderes Wort sich meldete: »Liebe«. Die Frau, die da neben ihm lag, hatte keinen Preis für ihre Liebe angesetzt. Sie hatte weder Forderungen noch Bedingun gen gestellt, sondern einfach nur gegeben. Anstatt zu fordern, hatte sie ihm Freiheit gegeben; sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, daß kein anderer Mensch durch ihr Glück ver letzt werden sollte. Großzügig hatte sie ihm die ganze Süße ihrer Liebe geschenkt, ohne auch nur die kleinste Gegenlei stung dafür zu verlangen, weder einen Ehering noch Verspre chungen oder Versicherungen, und er hatte ihr nichts anzubie ten gehabt. Bisher hatte er es ihr mit nichts vergelten können. Andererseits war er von einem bedeutenden, großartigen 365
Mann auserwählt worden, der voll auf ihn vertraute. Hier Ehre und Pflicht – da Liebe. Wen würde er verraten: den Mann, den er verehrte, oder die Frau, die er liebte? Er konnte nicht mehr länger still liegen und hob vorsichtig die Bettdecke. Centaines Lider zuckten, sie gab einen leisen, wimmernden Laut von sich und sank wieder in tiefen Schlaf. Am Abend zuvor hatte sie noch eine neue Zahnbürste und ein Rasiermesser auf dem Waschtisch im Badezimmer für ihn be reitgelegt, und diese kleine Aufmerksamkeit quälte ihn, wäh rend er sich rasierte und ankleidete. Er schlich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer zurück und blieb neben dem Bett stehen. »Ich könnte einfach gehen«, dachte er. »Dann würde sie nie etwas von meinem Verrat erfahren.« Im selben Augenblick wunderte er sich über die Wahl seiner Worte. War es denn Ver rat, wenn er zu seiner Ehre stand und seiner Pflicht treu blieb? Er schob den Gedanken beiseite und traf seine Entscheidung. Er bückte sich und berührte ihre Lider. Sie öffnete die Augen und schaute zu ihm auf. Dann lächelte sie, ein schläfriges, zu friedenes Lächeln. »Liebling«, murmelte sie, »wie spät ist es?« »Centaine, bist du wach?« Rasch setzte sie sich auf und rief bestürzt: »Oh, Blaine, du bist ja schon angezogen!« »Hör mir zu, Centaine! Es ist sehr wichtig. Hörst du zu?« Sie nickte, blinzelte den letzten Rest von Schlaf aus den Au gen und sah ihn feierlich an. »Centaine, wir gehen vom Goldstandard ab«, sagte er, und seine Stimme klang rauh und heiser vor Selbstverachtung und Scham. »Sie haben es gestern beschlossen, Ou Baas und Barry Hertzog. Wenn die Börse im neuen Jahr aufmacht, sind wir bereits vom Goldstandard abgegangen.« Sie starrte ihn volle fünf Sekunden lang verständnislos an, dann ging ihr plötzlich ein Licht auf, und ihre Augen begannen 366
zu leuchten. Aber das Leuchten verschwand sofort wieder. »O Gott, mein Liebling, was muß es dich gekostet haben, mir das zu sagen«, sagte sie. Er starrte sie bloß an. Sie hatte noch nie einen solchen Aus druck auf seinem Gesicht gesehen. Fast schien es, als haßte er sie für das, was er getan hatte. Sie konnte diesen Blick nicht ertragen, erhob sich in der Mitte des zerwühlten Bettes auf die Knie und streckte flehend die Arme nach ihm aus. »Blaine, ich werde keinen Gebrauch von dem machen, was du mir gesagt hast –« Doch er fauchte sie an: »In diesem Fall hätte ich dieses Opfer umsonst gebracht.« »Hasse mich nicht dafür, Blaine«, flehte sie. »Dich hassen?« fragte er traurig. »Nein, Centaine, das könnte ich nie.« Er drehte sich um und eilte aus dem Zimmer. Sie wäre ihm am liebsten nachgelaufen, aber sie wußte, daß hier selbst die Macht ihrer übergroßen Liebe nichts ausrichten konnte. Sie spürte, daß er allein sein mußte, und lauschte sei nen schweren Schritten, die sich allmählich entfernten. Centaine saß an ihrem Schreibtisch in Weltevreden. Sie war allein, und in der Mitte des Schreibtisches stand das Telefon. Sie hatte Angst. Was sie zu tun vorhatte, lag außerhalb der Legalität. Sie stand am Beginn einer Reise in unbekanntes, verbotenes Gebiet, eine einsame, gefährliche Reise, die mit Schande und Gefängnis für sie enden konnte. Das Telefon klingelte, sie schreckte hoch und starrte den Ap parat ängstlich an. Als es ein zweites Mal klingelte, holte sie tief Atem und hob den Hörer ab. »Ihr Gespräch mit Rabkin und Swales, Mrs. Courtney«, mel dete ihr Sekretär. »Ich habe Mr. Swales am Apparat.« »Danke, Nigel.« Sie hörte den rauhen Klang ihrer Stimme 367
und räusperte sich. »Mrs. Courtney«, sie erkannte Swales Stimme. Er war der Seniorpartner in dem Börsenmaklerunternehmen, und sie hatte schon früher mit ihm zu tun gehabt. »Darf ich Ihnen frohe Fei ertage wünschen.« »Danke, Mr. Swales.« Ihre Stimme klang ruhig und ge schäftsmäßig. »Ich habe einen Kaufauftrag für Sie, Mr. Swales. Ich möchte, daß er ausgeführt wird, bevor die Börse heute schließt.« »Selbstverständlich«, versicherte ihr Swales. »Ihr Auftrag wird sofort erledigt« »Bitte kaufen Sie bis zu 500 000 Aktien von East Rand Pro prietary Mines«, sagte sie, und im Hörer blieb es eine Weile still. »Fünfhunderttausend, Mrs. Courtney«, wiederholte Swales schließlich. »Die ERPM stehen bei zweiundzwanzig Shilling sechs Pence. Das sind über fünfhundertsechzigtausend Pfund.« »Exakt«, bestätigte Centaine. »Mrs. Courtney –« Swales brach ab. »Gibt es ein Problem, Mr. Swales?« »Nein, natürlich nicht. Überhaupt nicht. Ich bin überrascht, das ist alles. Über die Größe ihres Auftrags. Ich werde ihn so fort durchführen lassen.« »Ich schicke Ihnen meinen Scheck über die volle Summe, sobald ich Ihre Kaufbestätigung erhalten habe.« Sie hielt inne und fuhr dann kühl fort: »Außer, natürlich, Sie wollen, daß ich Ihnen sofort eine Anzahlung schicke.« Sie hielt den Atem an. Die Anzahlung, die Swales berechtigterweise verlangen konn te, hätte sie nicht auftreiben können. »Aber nein, Mrs. Courtney! Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht – Ich muß mich vielmals dafür entschuldigen, den Eindruck erweckt zu haben, ich könnte Ihre Zahlungsfähigkeit anzwei feln. Das hat absolut keine Eile. Wir werden ihnen die Rech nung wie gewöhnlich schicken. Bei Rabkin und Swales haben 368
Sie immer Kredit. Ich hoffe, den Kauf bis spätestens morgen früh bestätigen zu können. Wie Sie zweifellos wissen, ist mor gen der letzte Börsentag vor den Weihnachtsfeiertagen.« Ihre Hände zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, den Hörer auf die Gabel zu legen. »Was habe ich getan?« flüsterte sie, und sie kannte die Ant wort. Sie hatte ein Betrugsverbrechen begangen, auf das eine Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis stand. Sie war soeben eine Schuldverpflichtung eingegangen, die sie in ihrer augen blicklichen Lage nie würde einlösen können. Sie war bankrott, sie wußte, daß sie bankrott war, und war eben eine Verpflich tung von einer weiteren halben Million Pfund eingegangen. Angst und Gewissensbisse überkamen sie, und sie griff nach dem Hörer, um den Auftrag zu stornieren, aber noch bevor sie ihn berührte, klingelte das Telefon abermals. »Mrs. Courtney, ich habe Mr. Anderson von Hawkes und Gi les in der Leitung.« »Stellen Sie ihn bitte durch, Nigel«, befahl sie und war er staunt, daß ihre Stimme nicht zitterte, als sie gelassen sagte: »Mr. Anderson, ich habe einen Kaufauftrag für Sie.« Bis Mittag hatte sie mit sieben verschiedenen Börsenmaklern in Johannesburg telefoniert und Kaufaufträge für Goldberg werksaktien im Wert von fünfeinhalb Millionen Pfund verge ben. Schließlich ließen ihre Nerven sie im Stich. »Nigel, sagen Sie die anderen beiden Telefonate bitte ab«, befahl sie ruhig und rannte dann, die Hände auf den Mund ge preßt, zu ihrem Badezimmer am Ende des Ganges. Gerade noch rechtzeitig fiel sie vor der weißen Porzellantoi lette auf die Knie und übergab sich. Weihnachten war seit Shasas Kindheit immer ein ganz be sonderer Tag für sie gewesen, aber an diesem Morgen erwachte Centaine in düsterer Stimmung. 369
Noch in Nachthemd und Morgenmantel tauschten sie und Shasa in ihrem Zimmer ihre Geschenke aus. Er hatte eine Weihnachtskarte für sie gemalt und mit gepreßten wilden Blu men geschmückt. Sein Geschenk war Francois Mauriacs neuer Roman »Noeud de Vipères«, und auf die Umschlagsseite hatte er geschrieben: »Was auch geschieht, wir haben noch immer uns beide. Shasa.« Ihr Geschenk für ihn war ein lederner Fliegerhelm mit Schutzbrille, und er sah sie erstaunt an. Sie hatte immer sehr deutlich ihre Abneigung gegen das Fliegen gezeigt. »Ja, chéri, wenn du fliegen lernen willst, werde ich dich nicht davon abhalten.« »Können wir uns das leisten, Mutter, Ich meine, du weißt ja –« »Das laß nur meine Sorge sein.« »Nein, Mutter.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin kein Kind mehr. Von nun an werde ich dir helfen. Ich möchte nichts tun, was es noch schwieriger macht für dich – für uns.« Sie lief zu ihm, umarmte ihn rasch und drückte ihre Wange an sein Gesicht, damit er den feuchten Glanz in ihren Augen nicht sehen konnte. »Wir sind Geschöpfe der Wüste. Wir werden überleben, mein Liebling.« Aber Centaines Stimmung blieb den ganzen Tag schwan kend, während sie als Herrin von Weltevreden aufzutreten hat te, die zahlreichen Besucher begrüßte, Sherry und Kekse ser vieren ließ, Geschenke empfing und überreichte und charmant Konversation betrieb. Nur manchmal flüchtete sie unter dem Vorwand, nach den Dienstboten sehen zu müssen, in ihr Ar beitszimmer, schloß sich ein und zog die Vorhänge zu, um ihre düstere Stimmung, ihre Zweifel und ihre lähmenden Vorah nungen niederzukämpfen. 370
Kurz vor Mittag brachte einer ihrer Gäste Neuigkeiten, die sie ihre Sorgen für kurze Zeit vergessen ließen. Kanonikus Birt, der Direktor von Shasas Schule, nahm Centaine und Sha sa beiseite. »Mrs. Courtney, wie Sie wissen, hat sich Shasa an unserer Schule einen Namen gemacht. Leider wird das nächste Jahr schon sein letztes bei uns sein. Er wird uns fehlen. Doch ich bin sicher, daß Sie nicht überrascht sind, zu hören, daß ich ihn für das nächste Schuljahr als Schulsprecher vorgeschlagen ha be und daß die Schulbehörde meine Wahl gebilligt hat.« »Doch nicht vor dem Direktor«, flüsterte Shasa, als Centaine ihn freudig umarmte. »Das ist noch nicht alles, Mrs. Courtney.« Kanonikus Birt strahlte angesichts dieser Zurschaustellung mütterlichen Stol zes. »Die Schulbehörde hat mich ersucht, Sie einzuladen, der Kommission als Mitglied beizutreten. Sie wären die erste Frau – äh, die erste Dame, die in der Kommission sitzt.« Centaine war nahe daran, das Angebot sofort anzunehmen, aber dann senkte sich der drohende finanzielle Bankrott wie der Schatten eines Henkerbeiles auf ihre Überlegungen, und sie zögerte. »Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind –« versuchte er sie zu drängen. »Ich fühle mich geehrt, Direktor«, erklärte sie. »Aber es gibt persönliche Gründe, warum ich darüber nachdenken muß. Darf ich Ihnen meine Entscheidung im neuen Jahr bekanntgeben?« »Sofern es keine abschlägige Antwort ist –« »Nein, ich versichere Ihnen, wenn ich kann, werde ich die Berufung in die Kommission annehmen.« Nachdem der letzte Gast gegangen war, konnte Centaine die Familie, einschließlich Sir Garry und Anna, und die engsten Freunde zum nächsten Punkt im traditionellen Ablauf des Weihnachtsfestes auf Weltevreden zum Polofeld hinunterfüh ren, um die dort versammelten schwarzen Arbeiter und Dienst 371
boten zu beschenken. Das anschließende Familienessen war ebenfalls Tradition. Bevor sie aßen, las Shasa aus dem Neuen Testament vor. Dann verteilten er und Centaine unter dem Weihnachtsbaum im Sa lon die Geschenk. Es gab gebratenen Truthahn und Rindslende, gefolgt von ei ner riesigen Weihnachtstorte. Shasa fand wie jedes Jahr in sei ner Portion die Glücksmünze, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß Centaine dem Zufall während des Servierens ein wenig nachgeholfen hatte. Nach dem Essen, als sich alle zu frieden und müde in ihre Schlafzimmer zurückgezogen hatten, schlüpfte Centaine durch die Terrassentür nach draußen und rannte den ganzen Weg durch das Pinienwäldchen bis zum Cottage. Blaine wartete schon auf sie, und sie stürzte sich in seine Arme. Er verschloß ihren Mund mit einem Kuß, und sie schalt sich ob ihrer Gedankenlosigkeit. Als sie sich schließlich von ihm löste, lächelte sie strahlend. »Ich konnte dein Weihnachts geschenk nicht einpacken. Es ist so unhandlich, und das Band wollte nicht halten. Du wirst es ohne Verpackung nehmen müssen.« »Wo ist es?« »Folgen Sie mir, Sir, dann werde ich es Ihnen überreichen.« »Nun«, sagte er ein wenig später im Schlafzimmer, »das ist bei weitem das hübscheste Geschenk, das ich je bekommen habe, und dabei so ungeheuer zweckdienlich!« Am Neujahrstag gab es keine Zeitungen, aber Centaine lauschte den stündlichen Nachrichten im Radio. Weder der Goldstandard noch irgendein anderes politisches Thema wurde in diesen Sendungen erwähnt. Blaine war in Kapstadt den gan zen Tag mit Versammlungen und Diskussionen wegen seiner Kandidatur bei den bevorstehenden Parlamentswahlen beschäf 372
tigt. Shasa weilte als Gast auf einem der benachbarten Güter. Also war Centaine mit ihren Ängsten und Zweifeln allein. Sie las bis weit nach Mitternacht und lag dann in der Dun kelheit, ohne richtig Schlaf zu finden. Lange vor Tagesanbruch gab sie es schließlich auf, stand auf und zog ihre Reitkleidung an. Sie sattelte ihren Lieblingshengst und ritt in der Dunkelheit die fünf Meilen zum Bahnhof von Claremont, um die Ankunft des Frühzuges aus Kapstadt zu erwarten. Sie stand auf dem Bahnsteig, als die Zeitungsbündel aus dem Güterwaggon geworfen wurden und die kleinen schwarzen Zeitungsjungen auf die Stapel losstürzten, um sie lachend und plappernd zum Ausliefern unter sich aufzuteilen. Centaine warf einem von ihnen einen silbernen Shilling zu, und er johlte vor Freude, als sie auf das Wechselgeld verzichtete und ungeduldig die Zeitung aufschlug. Die Schlagzeile nahm fast die Hälfte der ersten Seite ein. SÜDAFRIKA VOM GOLDSTANDARD ABGEGANGEN UNGEHEURER AUFSCHWUNG FÜR DIE GOLDMINEN Sie überflog den Artikel darunter, kaum fähig, mehr als das Wesentliche zu erfassen. Dann ritt sie zurück nach Weltevre den, und erst als sie das Tor erreichte, kam ihr das volle Aus maß dieses Ereignisses zu Bewußtsein. Weltevreden gehörte ihr noch, würde ihr immer gehören. Sie erhob sich in den Steigbügeln und jubelte laut vor Freude. Dann zwang sie den Hengst in einen rasenden Galopp, übersprang die Steinmauer und galoppierte zwischen den Weinreben hindurch. Sie fand Sir Garry im Eßzimmer; er kam immer als erster zum Frühstück. »Weißt du schon das Neueste, meine Liebe?« rief er aufge regt, als sie eintrat. »Ich habe es in den Sechs-Uhr-Nachrichten im Radio gehört. Wir sind vom Goldstandard abgegangen. Hertzog hat es endlich getan! Mein Gott, heute werden einige 373
ein Vermögen machen oder verlieren! Jeder, der Goldaktien besitzt, wird sein Vermögen verdoppeln und verdreifachen. Oh, meine Liebe, stimmt etwas nicht?« Centaine hatte sich in ihren Sessel am Ende der Tafel sinken lassen. »Nein, nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es ist alles in Ordnung, jetzt ist alles in Ordnung. Alles ist wunderbar, herr lich, fabelhaft in Ordnung.« Um die Mittagszeit rief Blaine auf Weltevreden an. Das hatte er noch nie getan. Seine Stimme klang dumpf und fremd. Er meldete sich nicht mit seinem Namen, sondern sagte nur: »Um fünf Uhr im Cottage.« »Ja, ich werde da sein.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber die Verbindung war schon unterbrochen. Eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt ging sie mit fri schen Blumen, frischer Bettwäsche und einer Flasche Cham pagner zu der Hütte. »Es gibt keine Worte, die meine Dankbarkeit angemessen ausdrücken könnten«, sagte sie. »Genau das, was ich wünsche, Centaine«, erwiderte er ernst. »Keine Worte! Wir werden nie wieder darüber reden. Ich wer de mir einzureden versuchen, daß es nie geschehen ist. Bitte, versprich mir, es nie wieder zu erwähnen, nie wieder – solange wir leben und einander lieben.« Sie küßte ihn lachend. »Würdest du bitte den Champagner öffnen?« Sie hob das gefüllte Glas und brachte mit seinen Wor ten einen Toast aus: »Solange wir leben und einander lieben, mein Liebling.« Die Börse in Johannesburg öffnete am zweiten Januar wieder ihre Pforten, und in der ersten Stunde konnten nur wenige Ge 374
schäfte abgeschlossen werden. Der Saal glich einem Schlacht feld, weil die Börsenmakler einander buchstäblich nie derschrien, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber schon bald hatte sich das Chaos gelegt und der Markt sich auf seinen neuen Stand eingependelt. Mr. Swales von Rabkin und Swales war der erste von Centa ines Börsenmaklern, der sie anrief. Sein Tonfall war heiter und überschäumend. »Meine liebe Mrs. Courtney«, begann er. Unter diesen Um ständen war Centaine bereit, diese ungebührliche Vertraulich keit zu überhören. »Meine liebe Mrs. Courtney, Ihr rechtzeiti ges Handeln grenzt an ein Wunder. Wie Sie wissen, ist es uns leider nicht gelungen, Ihren Kaufauftrag zur Gänze zu erfüllen. Wir konnten lediglich vierhundertvierzigtausend ERPM-Aktien zum Durchschnittspreis von fünfundzwanzig Shilling erwer ben. Der Umfang Ihres Auftrages hat den Preis um zwei und sechs hinaufgetrieben. Doch« – sie konnte hören, wie er vor seiner Ankündigung tief Atem holte – »doch habe ich die große Freude, Ihnen sagen zu können, daß ERPM-Aktien heute mor gen um fünfundfünfzig Shilling gehandelt werden und weiter steigen. Bis Ende dieser Woche erwarte ich ein Ansteigen auf sechzig Shilling –« »Verkaufen Sie«, sagte Centaine ruhig und hörte ihren Ge sprächspartner am anderen Ende der Leitung schlucken. »Wenn ich mir erlauben darf, Ihnen einen Rat zu geben –« »Verkaufen Sie«, wiederholte Centaine. »Alle Aktien.« Sie legte auf und starrte aus dem Fenster, während sie ver suchte, ihren Gewinn zu errechnen. Doch bevor sie zu einem Ergebnis kam, klingelte das Telefon abermals. Nacheinander riefen alle ihre Börsenmakler an und berichteten stolz von den Käufen, die sie getätigt hatten. Dann kam ein Anruf aus Wind huk. »Oh, Dr. Twentyman-Jones, es tut so gut, Ihre Stimme zu hö ren.« Centaine hatte ihn sofort erkannt. 375
»Nun ja, Mrs. Courtney, ich habe aber auch eine gute Nach richt«, erklärte Twentyman-Jones mürrisch. »Die H’ani-Mine ist jetzt wieder in der Gewinnzone, selbst bei der armseligen Quote, die De Beers uns erlaubt.« »Wir sind übern Berg«, jubelte Centaine. »Zwischen Lipp’ und Kelches Rand schwebt der dunklen Mächte Hand«, ergänzte Twentyman-Jones düster ihre Phrasen durch eine weitere und fügte noch ein Klischee hinzu: »Wir sollten das Fell des Bären nicht verkaufen, ehe wir ihn haben, Mrs. Courtney.« »Dr. Twentyman-Jones, ich liebe Sie.« Centaine lachte fröh lich, als ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung schockiert verstummte. »Ich komme, sobald ich mich hier freimachen kann. Es wird eine Menge zu tun sein.« Sie legte auf und machte sich auf die Suche nach Shasa. Er war unten bei den Ställen und plauderte mit den schwarzen Pferdeknechten, die in der Sonne saßen und sein Sattelzeug ausbesserten. »Chéri, ich fahre nach Kapstadt. Kommst du mit?« »Was ist der Grund für die weite Fahrt, Mutter?« »Das ist eine Überraschung.« Das war die einzig sichere Methode, Shasas Neugierde zu wecken. Er warf Abel das Zaumzeug zu, an dem er gearbeitet hatte, und sprang auf. Sie waren in überschwenglicher Stimmung, als sie Porters Autoschauraum in der Strand Street betraten. Der Verkaufslei ter kam aus seiner Glasbox. »Mrs. Courtney, wir haben Sie schon lange nicht mehr bei uns begrüßen dürfen. Darf ich Ihnen ein glückliches und er folgreiches neues Jahr wünschen.« »Es hat in jeder Hinsicht gut angefangen«, erwiderte sie lä chelnd. »Und wenn wir schon von glücklich reden, Mr. Tims, wie schnell können Sie mir meinen neuen Daimler liefern?« »Wie immer mit gelber Lackierung?« 376
»Und mit schwarzen Ledersitzen, wie immer!« »Und die übliche Ausstattung – Kosmetikbox und integrierte Bar?« »Alles wie üblich, Mr. Tims.« »Ich werde sofort an unser Büro in London telegraphieren. Sagen wir vier Monate, Mrs. Courtney?« »Sagen wir lieber drei Monate, Mr. Tims.« Shasa konnte sich kaum zurückhalten, bis sie wieder auf dem Gehsteig standen. »Mutter, bist du verrückt geworden? Wir sind bettelarm!« »Nun, chéri, dann sind wir eben bettelarm mit Klasse und Stil.« »Wohin gehen wir jetzt?« »Zum Postamt.« Am Telegraphenschalter gab Centaine ein Fernschreiben an Sotheby’s in London auf: »Verkauf nicht mehr aktuell. Stop. Bitte alle Vorbereitungen rückgängig machen.« Dann gingen sie zum Mittagessen ins Mount Nelson Hotel. Blaine hatte versprochen, sich mit ihr zu treffen, sobald er die Sitzung des geplanten neuen Koalitionskabinetts verlassen könnte. Er hielt Wort und erwartete sie bereits im Pinienwäld chen. Aber als sie sein Gesicht sah, schwand ihre gute Laune. »Was ist geschehen, Blaine?« »Gehen wir spazieren, Centaine. Ich bin den ganzen Tag nicht nach draußen gekommen.« Sie wanderten hinter dem Gut den Karbonkelberg hinauf. Oben angekommen, setzten sie sich auf einen Baumstamm und betrachteten den herrlichen Sonnenuntergang. »Sag mir, was geschehen ist, Blaine.« Sie nahm seinen Arm und zwang ihn, sie anzusehen. »Isabella«, sagte er dumpf. »Du hast Nachricht von ihr?« Ihre Stimmung sank. 377
»Die Ärzte können nichts für sie tun. Sie wird mit dem näch sten Postschiff aus Southampton zurückkehren.« Still versank die Sonne im silbrig schillernden Ozean, und es wurde im Nu dunkel. Ebenso dunkel war es in Centaines Seele. »Welch eine Ironie«, flüsterte sie. »Durch dich kann ich alles auf dieser Welt haben, ausgenommen das, was ich mir am mei sten wünsche – dich, mein Geliebter.« Die Frauen mahlten die frische Hirse in den hölzernen Mör sern zu grobem weißem Mehl und füllten dieses in einen der Lederbeutel. Als der Mond aufging, verließen Swart Hendrick und sein Bruder Moses mit dem Mehlsack den Kral und wanderten schweigend den Hügelrücken hinauf. Während Hendrick Wa che hielt, kletterte Moses zu dem alten Eulennest im Bleibaum hinauf und holte die braunen Packpapierpakete herunter. Sie gingen auf der anderen Hügelseite hinunter, bis sie sicher waren, daß sie vom Dorf aus nicht beobachtet werden konnten. Dann schirmten sie das kleine Feuer, das sie zwischen den Felsblöcken entfacht hatten, noch sorgsam ab. Hendrick öffne te die Pakete und ließ die glitzernden Steine in ein kleines Kür bisgefäß rieseln, während Moses in einem anderen Gefäß einen weißen Brei aus Hirsemehl und Wasser herstellte. Sorgsam verbrannte Hendrick das braune Packpapier im Feuer und zerstieß mit einem Stock die Asche. Als das getan war, nickte er seinem jüngeren Bruder zu, und Moses goß den Teig über die glühenden Kohlen. Als sich Blasen auf dem Teig bildeten, schüttete Hendrick die Diamanten darauf. Während die ungesäuerten Hirsebrote buken, murmelte Mo ses mit finsterer Miene, und es klang fast wie eine Zauberfor mel: »Das sind Totensteine. Wir werden keine Freude an ihnen haben. Die weißen Männer lieben sie zu sehr: es sind die Steine des Todes und des Wahnsinns.« 378
Hendrick beachtete ihn nicht und formte, verstohlen lä chelnd, mit zusammengekniffenen Augen kleine Brotlaibe. Nachdem die Laibe auf der Unterseite knusprig braun gebak ken waren, drehte er sie um und ließ sie durchbacken, bis sie steinhart waren. Dann nahm er sie vom Feuer und legte sie beiseite, um sie auskühlen zu lassen. Als das der Fall war, packte er die harten Brotlaibe in den Lederbeutel, und die bei den Männer kehrten leise in das schlafende Dorf zurück. Am nächsten Morgen brachen sie schon früh auf, und die Frauen begleiteten sie mit leisen Klagelauten und Abschieds gesängen auf der ersten Meile der Reise. Keiner der beiden Männer drehte sich um, als die Frauen allmählich zurückblie ben. Schweigend marschierten sie auf den fernen braunen Ho rizont zu. Einige Tage später erreichten die beiden Männer zu Fuß die Auffangstelle. Dabei handelte es sich um einen Gemischtwa renladen, der einsam und verlassen an einer abgelegenen Stra ßenkreuzung am Rand der Wüste lag. Der weiße Ladeninhaber besserte seine unsicheren Einkünfte auf, indem er Rinderhäute von den Nomadenstämmen aus der Umgebung kaufte und schwarze Arbeiter für »Wenela« anwarb. »Wenela« war das Kurzwort für Witwatersrand Native La bour Assotiation, eines allgegenwärtigen Arbeitervermittlungs unternehmens, das seine Fangarme bis in die entlegensten Ge genden der afrikanischen Wildnis ausstreckte. Von den Gipfeln der Drachenberge in Basutoland bis zu den Sümpfen des Sam besi und Chobe, von den Einöden der Kalahari bis zu den Re genwäldern im Hochland von Nyasaland war das Unternehmen anzutreffen und eifrig dabei, die schwarzen Männer aufzu sammeln und anfangs zu einem Strom, später zu einem mäch tigen Fluß zusammenzufassen, der unaufhörlich zu den legen dären Goldfeldern von Witwatersrand in Transvaal strömte. Flüchtig musterte der Händler die beiden neuen Arbeiter, die stumm vor ihm standen. Ihre Gesichter waren bewußt aus 379
druckslos und ihre Augen leer – der einzige wirkliche Schutz des schwarzen Afrikaners in Gegenwart eines weißen Mannes. »Name?« fragte der Händler. »Henry Tabaka.« Hendrick hatte diesen neuen Namen ge wählt, um seine Verwandtschaft mit Moses zu verbergen und jede Verbindung zu Lothar De La Rey und dem Diamanten raub von vornherein auszuschalten. »Name?« Der Händler wandte sich an Moses. »Moses Gama.« Er sprach den Namen mit einem gutturalen G aus. »Habt ihr schon einmal in den Minen gearbeitet? Sprecht ihr Englisch?« »Ja, Basie«, antworteten sie unterwürfig, und der Händler grinste. »Gut! Sehr gut! Ihr werdet reiche Männer sein, wenn ihr von Goldi zurückkommt. Viele Frauen. Viel Jig-jig, hä?« Er grinste lüstern und gab jedem von ihnen eine grüne Wenelakarte und einen Busfahrschein. »Der Bus wird bald kommen. Wartet draußen«, befahl er und verlor augenblicklich jedes Interesse an ihnen. Er hatte sich seine Rekrutierungsgebühr verdient – pro Kopf eine Guinee, leicht verdientes Geld –, und seine Ver pflichtungen gegenüber den Angeworbenen waren damit erle digt. Sie warteten achtundvierzig Stunden lang unter dem zerzau sten Dornenbaum neben der Wellblechbaracke, bis der Bus ratternd und dröhnend auf der staubigen Straße herankroch. Er blieb kurz stehen, und sie befestigten ihr dürftiges Gepäck auf dem Dachträger, der bereits mit Bündeln, Schachteln und Kalabassen vollgepackt war. Dann stiegen sie in das überladene Gefährt und zwängten sich auf eine der harten Holzbänke. Zwei Tage später hielt der Bus vor dem Stacheldrahtzaun der Wenela-Sammelstelle am Stadtrand von Windhuk. Die meisten Passagiere, größtenteils junge Männer, stiegen aus und blieben, unsicher um sich blickend, stehen, bis sie von einem riesigen 380
schwarzen Aufseher mit einer Messingplakette am Arm und einer langen Nilpferdpeitsche in der Hand in Reih und Glied aufgestellt und durch das Tor hineingeführt wurden. Der weiße Verwalter der Sammelstelle saß, die Stiefel auf die niedere Verandamauer gestützt und eine schwarze Flasche mit deutschem Lagerbier neben sich, auf der Veranda seines Büros und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu. Der schwarze Aufse her schob die neu Rekrutierten nacheinander zur Begutachtung vor ihn hin. Er wies nur einen von ihnen ab – einen hageren kleinen Zwerg von einem Mann, der kaum die Kraft hatte, die Verandastufen hinaufzusteigen. »Dieser Bastard hat Tuberkulose.« Der Verwalter nahm ei nen Schluck Bier. »Sieh zu, daß du ihn loswirst. Schick ihn dahin zurück, woher er gekommen ist.« Als Hendrick vortrat, richtete er sich in seinem Stuhl auf und stellte das Bierglas nieder. »Wie heißt du, Junge?« fragte er. »Tabaka.« »Ach, du sprichst Englisch.« Der Verwalter kniff die Augen zusammen. Er konnte Unruhestifter auf einen Blick erkennen; das war seine Aufgabe. Er erkannte sie an ihren Augen, an dem Funken von Intelligenz und Aggressivität in ihrem Blick. Er erkannte sie an ihrer Haltung und an der Art, wie sie gingen. Dieser große, stolze, finstere Schwarze versprach Schwierig keiten. »Du Schwierigkeiten mit Polizei, Junge?« fragte er weiter. »Du stehlen Rinder? Du vielleicht töten deinen Bruder – oder Jig-jig mit seiner Frau?« Hendrick stierte ihn ausdruckslos an. »Antworte mir, Junge.« »Nein.« »Du nennst mich Baas, wenn du mit mir sprichst, verstan den?« »Ja, Baas«, sagte Hendrick vorsichtig, und der Verwalter 381
schlug den Polizeiakt auf, der neben ihm auf dem Tisch lag. Er blätterte den Akt langsam durch und hob unvermittelt den Blick, um irgendein Anzeichen von Schuld oder Angst auf Hendricks Gesicht zu entdecken. Aber der trug wieder die afri kanische Maske – ausdruckslos, leer, ergeben und unergründ lich. »Himmel, die Kerle stinken.« Er warf den Polizeiakt auf den Tisch. »Bring sie fort«, befahl er dem schwarzen Aufseher, nahm Bierflasche und Glas und ging zurück in sein Büro. »Eines mußt du dir merken, mein Bruder«, flüsterte Moses, als sie auf die strohgedeckten Hütten zugetrieben wurden. »Triffst du auf eine hungrige weiße Hyäne, dann lege nie deine Hand in ihr Maul«, belehrte er ihn, und Hendrick gab keine Antwort. Sie hatten Glück. Der Trupp war fast vollständig, dreihundert schwarze Männer warteten bereits in den Hütten hinter dem Stacheldrahtzaun. Einige von ihnen waren schon seit zehn Ta gen hier, und es wurde Zeit, die nächste Etappe der Reise anzu treten. So entgingen Hendrick und Moses einer weiteren War tezeit. Während der Nacht wurden drei Eisenbahnwaggons auf die Schienen neben dem Lager geschoben, und die schwarzen Aufseher weckten sie bei Tagesanbruch. »Packt eure Sachen zusammen. Shayile! Es ist soweit.« Sie stellten sich in einer Reihe auf und meldeten sich, als ihre Namen aufgerufen wurden. Dann marschierten sie zu den war tenden Waggons. Hier war ein anderer weißer Mann zuständig. Er war groß und sonnenverbrannt, trug die Ärmel seines Khakihemdes bis zu den Oberarmen aufgekrempelt und seinen formlosen schwarzen Hut, unter dem lange blonde Haare hervorlugten, tief in die Stirn gedrückt. Er hatte breite slawische Gesichtszü ge, krumme, von Kautabak geschwärzte Zähne und helle, bläu liche Augen. Auf seinem Gesicht lag ein mildes, dümmliches Lächeln, und er saugte ständig an einem Loch in seinen Zäh 382
nen. An einem Riemen um die Taille hing eine Nilpferdpeit sche, deren spitzes Ende er hin und wieder ohne ersichtlichen Grund auf die nackten Beine eines der Männer, die an ihm vor beikamen, niedersausen ließ. Das geschah eher zufällig und mehr aus Langeweile und Abscheu als aus bewußter Grausam keit, und obwohl die Hiebe federleicht waren, schmerzten sie wie Nadelstiche, so daß die Opfer jedesmal zusammenzuckten und eiligst die Leiter in den Eisenbahnwaggon hinaufstiegen. Als Hendrick an ihm vorbeikam, wurde das Lächeln des Auf sehers breiter. Der Lagerverwalter hatte ihn auf den großen Ovambo aufmerksam gemacht. »Ein Unruhestifter«, hatte er ihn gewarnt. »Beobachten Sie ihn. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.« Und der Aufseher legte etwas mehr Kraft in den Hieb. »Che-cha!« befahl der Aufseher. »Schneller!« Es klatschte, als sich die Peitsche um Hendricks Bein wickelte. Der Aufse her war ein Experte – die Peitsche riß die Haut nicht auf, hin terließ aber einen dunklen roten Streifen. Das andere Bein auf der ersten Stufe der Leiter, die freie Hand am Geländer und in der anderen sein Bündel, blieb Hen drick stehen und drehte langsam den Kopf so weit herum, bis er dem Aufseher in die blaßblauen Augen blickte. »Ja!« forderte ihn der Aufseher leise auf, und in seinen Au gen erwachte ein Funken Interesse. Er änderte fast unmerklich seine Haltung, indem er sich auf die Fußballen stellte. »Ja!« wiederholte er. Er würde sich diesen großen schwarzen Bastard vornehmen, hier, vor allen anderen. Sie würden fünf Tage in diesen Waggons zusammengepfercht sein, fünf heiße durstige Tage, in denen Nerven und Gemüter auf eine harte Probe gestellt wurden. Er tat es immer gern gleich zu Beginn der Reise. Dazu brauchte er nur einen, und es würde ihm später eine Menge Schwierigkeiten ersparen, wenn er gleich hier auf dem Nebengleis ein Exempel statuierte. »Na los, Nigger.« Er senkte seine Stimme noch ein wenig 383
mehr, wodurch die Beleidigung persönlicher klang. Er genoß diesen Teil seiner Arbeit, und er beherrschte ihn sehr gut. Die ser freche Bastard würde nicht mehr reisefähig sein, wenn er mit ihm fertig war. Mit vier oder fünf gebrochenen Rippen und einem gebrochenen Unterkiefer würde er kaum noch jeman dem nützen. Hendrick war zu schnell für ihn. Er schwang sich mit einem einzigen Satz in den Waggon und ließ den Aufseher mit seinem Verlangen nach einem Opfer auf dem Rangiergleis zurück. Hendricks blitzschnelle Reaktion kam so unerwartet, daß der Peitschenhieb, mit dem er eine volle halbe Sekunde zu spät auf Hendricks Beine zielte, ohne zu treffen durch die Luft zischte. Moses, der seinem Bruder mit derselben Geschwindigkeit folgte, sah flüchtig den mörderischen Ausdruck auf dem Ge sicht des weißen Aufsehers. »Es ist noch nicht überstanden«, warnte er Hendrick, als sie ihre Bündel auf das Gepäcknetz legten und sich auf der harten Holzbank niederließen. »Er wird wieder auf dich losgehen.« Am späten Vormittag wurden die drei Waggons vom Neben gleis abgeholt und an einen langen Güterzug angekoppelt. Nach einigen weiteren Stunden des Wartens setzte sich der Zug schließlich ruckend in Bewegung, kroch langsam die Hügel hinauf und nahm seine Fahrt Richtung Süden auf. Die Waggonfenster waren vergittert, die Türen an den Wag gonenden von außen versperrt und verriegelt. Der Aufseher trug den Schlüsselbund am Gürtel und schloß die Türen jedes mal sorgsam hinter sich ab. Aus Erfahrung wußte er, daß viele der Angeworbenen von Zweifeln heimgesucht wurden, sobald die Reise begann, und von Heimweh, wachsender Furcht vor dem Unbekannten und der verwirrenden Fremdheit ihrer neuen Umgebung getrieben, nacheinander desertieren würden – wenn es nicht anders ging, sogar indem sie aus dem fahrenden Zug sprangen. Daher machte der Aufseher alle paar Stunden seine Runde, um die Köpfe zu zählen – sogar mitten in der Nacht. 384
Und jedesmal blieb er vor Hendrick stehen und leuchtete ihm absichtlich mit der Laterne ins Gesicht, um ihn zu wecken. Der Aufseher ließ keine Gelegenheit aus, Hendrick zu provo zieren. Es war zu einer Herausforderung, zu einem Wettkampf zwischen ihnen geworden. Er wußte, es war da. Er hatte es in Hendricks Augen gesehen, ein flüchtiges Aufblitzen von Ge walt, Drohung und Kraft, und er war entschlossen, ihn so lange zu provozieren, bis es in Erscheinung trat. Um es dann nieder zuschlagen und zu vernichten. »Geduld, mein Bruder«, flüsterte Moses Hendrick zu. »Halte deine Wut zurück. Pflege sie, lasse sie wachsen, bis sie reif ist, bis sie groß genug ist, um für dich zu arbeiten.« Hendrick hörte jeden Tag mehr auf die Meinungen und Ratschläge seines Bruders. Moses war intelligent und überzeu gend und brachte auch die anderen Männer dazu, daß sie ihm zuhörten. Hendrick sah diese besonderen Gaben seines Bruders in den folgenden Tagen immer deutlicher hervortreten. Anfangs sprach er nur zu den Männern, die in dem stickigen überfüllten Waggon in seiner Nähe saßen. Er erzählte ihnen, wie es dort, wo sie hinfuhren, aussah, wie sie von den weißen Männer be handelt werden würden, was man von ihnen erwartete und was die Folgen waren, wenn sie ihre neuen Arbeitgeber enttäuschen würden. Die schwarzen Gesichter um ihn herum waren gespannt, als sie ihm zuhörten, und bald wandten sich ihm auch die Köpfe der Männer zu, die weiter entfernt saßen, und sie baten leise: »Sprich lauter, Gama. Sprich so, daß wir alle deine Worte hö ren können.« Und Moses Gama hob seine klare, bezwingende Stimme, und sie lauschten andächtig. »In Goldi werden viele schwarze Männer sein. Mehr, als ihr je für möglich halten würdet, Zulus und Xhosas, N’debeles, Swazis und Nyasas, Männer von fünf zig verschiedenen Stämmen, die ebenso viele verschiedene 385
Sprachen sprechen, die ihr nie vorher gehört habt. Stämme, die sich so sehr von euch unterscheiden, wie ihr euch vom weißen Mann unterscheidet. Manche von ihnen sind alte Todfeinde unseres Stammes und warten wie Hyänen nur auf eine Gele genheit, sich auf euch zu stürzen und euch zu zerreißen. Es wird vorkommen, daß ihr, wenn ihr tief unter der Erde seid, der Gnade solcher Männer ausgeliefert seid. Um euch zu schützen, müßt ihr euch mit Männern umgeben, denen ihr trauen könnt. Ihr müßt euch unter den Schutz eines starken Führers stellen. Und zum Dank für diesen Schutz müßt ihr eurem Anführer Treue und Gehorsam schenken.« Schon sehr bald erkannten sie, daß Moses Gama dieser starke Führer war. Innerhalb von wenigen Tagen war er der unbestrit tene Anführer der Männer in Waggon Nummer drei, und wäh rend er zu ihnen sprach, ihre Fragen beantwortete und ihre Zweifel und Ängste zerstreute, taxierte Moses den Wert jedes einzelnen, beobachtete und prüfte sie, beurteilte, wählte und schied aus. Er begann, die Sitzordnung im Waggon zu verän dern, indem er die Auserwählten näher zu seinem Platz in der Mitte heranholte und die Besten unter den Angeworbenen um sich versammelte. Die Männer, die er ausgesucht hatte, gewan nen sofort an Ansehen; sie bildeten die Elitetruppe um den neuen Häuptling. Hendrick sah zu, wie Moses die Männer um sich herum der Macht seines Willens und seiner Persönlichkeit unterwarf, und er war erfüllt von Bewunderung und Stolz für seinen jüngeren Bruder, gab seine letzten Vorbehalte auf und schenkte ihm be reitwillig seinen ganzen Gehorsam, seine Treue und seine Lie be. Durch seine Verbindung zu Moses gewann auch Hendrick die Ehrfurcht und Achtung der anderen Männer im Waggon. Er war Moses’ Adjutant und Vertrauter, und ganz allmählich wur de Hendrick klar, daß sich Moses Gama in diesen wenigen Tagen ein Impi herangebildet hatte, eine Gruppe von Kriegern, 386
auf die er sich blind verlassen konnte. Inmitten des überfüllten Waggons, der bereits wie ein Tierkä fig stank, und fasziniert von den messianischen Augen und Worten seines Bruders, dachte Hendrick an die großen schwar zen Häuptlinge, die aus den Nebeln der afrikanischen Ge schichte aufgetaucht waren, um anfangs eine kleine Gruppe anzuführen, später einen ganzen Stamm, um schließlich mit einer riesigen Horde von Kriegern plündernd, mordend und zerstörend über den Kontinent zu ziehen. »Ich erlebe den Beginn von etwas, das ich noch nicht verste he«, dachte er. »Alles was ich bisher getan habe, war nur eine Einführung, all das Kämpfen und Töten nur eine Schulung. Jetzt bin ich bereit für den Ernstfall, und Moses Gama wird mich führen. Es ist nicht nötig, daß ich weiß, was es ist. Es genügt, dem eingeschlagenen Weg zu folgen.« Er hörte aufmerksam zu, als Moses Namen nannte, die er noch nie gehört hatte, und Ideen erläuterte, die neu und seltsam erregend waren. »Lenin«, sagte Moses, »nicht ein Mensch, sondern ein Gott, der auf die Erde gekommen ist.« Und sie lauschten gespannt der Erzählung von einem Land im Norden, wo sich die Stäm me unter diesem Gottmenschen Lenin vereinigt hatten und ei nen König stürzten, um damit selbst Teil der Gottheit zu wer den. Sie waren begeistert und erregt, als er ihnen von einem Krieg erzählte, wie ihn die Erde noch nie gesehen hatte, und ihre ata vistische Kampflust brodelte in ihren Adern und ließ ihre Her zen höher schlagen. Moses nannte diesen Krieg »Revolution«, und als er ihnen davon erzählte, erkannten sie, daß sie Teil die ses ruhmreichen Kampfes sein, daß sie ebenfalls Könige stür zen und Teil der Gottheit werden konnten. Krachend flog die Tür am Waggonende auf, und der weiße Aufseher trat ein, stemmte die Hände in die Hüften und grinste kalt auf sie herab. Sie senkten die Köpfe und starrten zu Boden, 387
um ihre Augen und Blicke zu verbergen. Aber jene, die in Mo ses’ Nähe saßen, die Auserwählten, die Elite, begannen in die sem Augenblick zu begreifen, wo der Kampf stattfinden würde und wer die Könige waren, die es zu stürzen galt. Der weiße Aufseher spürte die gespannte Atmosphäre im Waggon. Die Spannung war so deutlich wie der Gestank der ungewaschenen schwarzen Leiber. Er warf einen durchdringe nen Blick auf Hendrick, der in der Mitte des Waggons saß. »Eine einzige faule Kartoffel«, dachte er bitter, »und der ganze Sack ist verdorben.« Er griff nach dem Knüppel an sei nem Gürtel. Mit diesem Knüppel konnte er Knochen brechen, Schädel einschlagen, einen Mann, wenn nötig, augenblicklich töten oder ihn, durch eine leichte Abschwächung der Schlag stärke, bloß betäuben. Er beherrschte den Knüppel ebenso mei sterhaft wie die Nilpferdpeitsche. Aber alles zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Und nun war es Zeit für den Knüppel. Er schlenderte gemächlich durch den Waggon, tat so, als würde er Hendrick übersehen, und musterte im Vorbeigehen die Gesichter der anderen Männer. Er sah den neuen Trotz in ihren ausdruckslosen Gesichtern, und seine Wut auf den Mann, der seine Arbeit erschwerte, wuchs noch. Er warf Hendrick im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick zu und sah aus dem Augenwinkel, daß sich der große Ovambo ein wenig entspannte, als er im Mittelgang zwischen den Sitzrei hen weiterging. »Du bist darauf gefaßt, mein Junge. Du weißt, daß es ge schehen muß, und ich werde nicht nicht enttäuschen.« Vor der Tür am anderen Ende des Waggons blieb er stehen, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, dann kam er langsam, vor sich hingrinsend, wieder zurück. Diesmal blieb er direkt vor Hendrick stehen und saugte geräuschvoll an seiner Zahn lücke. »Sieh mich an, Nigger«, ersuchte er ihn freundlich, und Hen drick hob den Kopf und starrte ihn an. 388
»Welches ist dein M’Pahle?« fragte er. »Welches ist dein Bündel?« Darauf war Hendrick nicht gefaßt. Er dachte an den Diaman tenschatz im Gepäcknetz über seinem Kopf und warf instinktiv einen Blick auf den ledernen Sack. »Gut.« Der Aufseher nahm den Sack vom Gepäcknetz und ließ ihn vor Hendrick zu Boden fallen. »Aufmachen«, befahl er, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere am Griff des Knüppels. »Vorwärts.« Sein Grinsen wurde kalt und wolfsartig, als Hendrick regungslos sitzenblieb. »Aufmachen, Nigger. Mal sehen, was du versteckst.« Diese Taktik hatte ihren Zweck noch nie verfehlt. Selbst der fügsamste Mann würde etwas tun, um sein Eigentum zu schüt zen, egal wie wertlos und unbedeutend es auch war. Hendrick beugte sich langsam vor und machte den Riemen des Lederbeutels auf. Dann richtete er sich wieder auf und blieb teilnahmslos sitzen. Der weiße Aufseher bückte sich, ergriff den Boden des Beu tels und richtete sich wieder auf, ohne Hendricks Gesicht aus den Augen zu lassen. Er schüttete den Beutel aus, so daß der gesamte Inhalt zu Boden fiel. Als erstes kam die Deckenrolle zum Vorschein, und der Auf seher rollte sie mit der Stiefelspitze auf. Eine Schaffellweste und andere Kleidungsstücke sowie ein neun Zentimeter langes Messer in einer ledernen Scheide kam zum Vorschein. »Eine gefährliche Waffe«, sagte der Aufseher. »Du weißt doch, daß in den Waggons keine gefährlichen Waffen erlaubt sind.« Er hob das Messer auf, steckte die Klinge in die Fenster spalte und brach sie ab, dann warf er die Stücke durch die Git terstäbe aus dem Fenster. Hendrick rührte sich nicht, obwohl der Aufseher fast eine volle Minute lang wartete und ihn provokant anstarrte. Keiner der anderen schwarzen Passagiere schien das kleine Drama, 389
das sich neben ihnen abspielte, zu beachten. Sie starrten mit ausdruckslosen Gesichtern und leeren Blicken vor sich hin. »Was ist das für ein Zeug?« fragte der Aufseher und tippte mit der Stiefelspitze an eines der harten flachen Hirsebrote; obwohl Hendrick mit keiner Wimper zuckte, entdeckte der weiße Mann den ersten Funken in diesen schwarzen, undurch dringlichen Augen. »Na endlich«, dachte er zufrieden. »Das ist es. Jetzt wird er aufwachen.« Er hob einen der Laibe auf und roch daran. »Niggerbrot«, murmelte er. »Nicht erlaubt. Eine feste Regel: Im Zug sind Lebensmittel nicht erlaubt.« Und er drehte das flache Brot so, daß es durch die Gitterstäbe paßte, und warf es durch das offene Fenster hinaus. Der Aufseher lachte leise vor sich hin und bückte sich nach dem nächsten Brotlaib. In Hendricks Kopf brannte eine Sicherung durch. Er hatte seine Wut schon zu lange zurückgehalten. Er schnellte hoch und stürzte sich auf den weißen Aufseher. Aber darauf hatte dieser nur gewartet. Er streckte den rechten Arm aus und hieb mit der Spitze des Knüppels gegen Hendricks Kehle. Und als Hendrick würgend und hustend zurücksank und mit beiden Händen seinen Hals umklammerte, schlug er ihm den Knüppel über den Schädel, und zwar so, daß der Schlag ihn nicht tötete, sondern nur betäubte. Hendricks Hände sanken herab, er fiel nach vorn, aber der Aufseher fing ihn auf und drückte ihn mit der linken Hand gegen den Sitz, während er mit der rechten zuschlug. Es klang wie Axthiebe auf Holz, als der Knüppel auf Hen dricks Schädelknochen niedersauste. Die Kopfhaut platzte auf, und das Blut spritzte in dünnen, hellroten Fontänen hervor. Der Aufseher schlug Hendrick dreimal mit genau bemessener Wucht auf den Kopf und trieb ihm dann die Spitze des Knüp pels mit aller Kraft in den offenstehenden Mund, so daß seine Schneidezähne am Zahnfleisch abbrachen. Sie mußten immer gezeichnet werden. Das war einer seiner 390
Grundsätze. Als Gezeichnete vergaßen sie es nie wieder. Erst dann ließ er den bewußtlosen Mann los, und Hendrick fiel vornüber in den Mittelgang. Der Aufseher wirbelte augenblicklich herum und duckte sich wie eine Puffotter, die sich vor dem Angriff zu einem drohen den ›S‹ zusammengekrümmt. Den Knüppel schlagbereit in der rechten Hand, starrte er in die schockierten Augen der schwar zen Männer um ihn herum. Unwillkürlich senkten sie den Blick, und die einzige Bewegung war die Bewegung ihrer Oberkörper im Rhythmus des schaukelnden Waggons. Hendricks Blut sammelte sich unter seinem Kopf und lief in kleinen dunkelroten Bächen über den Mittelgang. Der Aufseher lächelte wieder und blickte mit fast väterlicher Miene auf die liegende Gestalt. Das war eine schöne Vorführung gewesen, schnell und perfekt, genau wie er es geplant hatte. Er nahm die anderen Hirsebrote aus der Blutlache und warf eines nach dem anderen durch die Gitterstäbe hindurch aus dem Fenster. Schließlich beugte er sich über den Mann zu sei nen Füßen und wischte an dessen Hemd sorgfältig die letzten Spuren Blut von seinem Knüppel. Dann richtete er sich auf, steckte den Knüppel in den Gürtel und ging langsam den Gang hinunter. Nun war alles in Ordnung. Die Stimmung hatte umgeschla gen, die Atmosphäre war entschärft. Nun würde es keine Pro bleme mehr geben. Er hatte seine Arbeit getan, und zwar gründlich. Er trat auf die Plattform hinaus und sperrte, milde vor sich hinlächelnd, die Tür hinter sich zu. Kaum war die Tür geschlossen, als wieder Leben in die Männer im Waggoninneren kam. Moses gab ein paar kurze Befehle, und zwei Männer hoben Hendrick hoch und setzten ihn auf seinen Platz. Ein anderer ging zum Wassertank neben der Latrinentür, während Moses seinen Lederbeutel öffnete und ein verschlossenes Hirschhorn hervorholte. 391
Während die anderen Hendricks Kopf hielten, streute Moses ein braunes Pulver aus dem Hirschhorn in die Wunden auf der Kopfhaut. Es war eine Mischung aus Asche und feingemahle nen Kräutern, die er mit dem Finger in die offenen Wunden rieb. Das Bluten hörte augenblicklich auf. Mit einem feuchten Tuch reinigte er den zerschundenen Mund, dann bettete er den Kopf auf seine Arme und wartete. Moses hatte den Konflikt zwischen seinem Bruder und dem weißen Mann mit nahezu wissenschaftlichem Interesse verfolgt und Hendricks Reaktionen bewußt gesteuert, bis das Drama diesen explosiven Höhepunkt erreichte. Die Verbundenheit zu seinem Bruder hielt sich in Grenzen. Ihr Vater war ein wohlha bender und gesunder Mann gewesen, der jede seiner fünfzehn Frauen regelmäßig schwängerte. Moses hatte daher über drei ßig Geschwister. Nur mit sehr wenigen von ihnen verband ihn mehr als ein unbestimmtes Gefühl der Sippen- und Familien pflicht. Hendrick war viel älter als er und hatte den Kral verlas sen, als Moses noch ein Kind gewesen war. Seither waren nur die Erzählungen von seinen Taten zu ihm gelangt, und Hen dricks Ruf war entsprechend diesen Legenden gewachsen. Aber Legenden bleiben Legenden, bis sie bewiesen sind, und der Ruf eines Mannes kann auf Worten statt auf Taten beruhen. Nun war die Zeit der Probe bekommen. Moses würde ihre Ergebnisse genau durchleuchten, und danach würde sich ihre künftige Beziehung richten. Als Adjutanten brauchte er einen harten Mann, einen von der stählernen Sorte. Lenin hatte Jo seph Stalin gewählt. Und er würde ebenfalls einen Mann aus Stahl wählen, einen Mann wie eine Axt. Falls Hendrick die Probe nicht bestand, würde Moses ihn ebenso gleichgültig wegwerfen wie eine Axt, deren Blatt beim ersten Schlag gegen den Baumstamm brach. Hendrick schlug die Augen auf und sah seinen Bruder mit geweiteten Pupillen an. Er stöhnte und betastete die offenen Wunden an seinem Kopf. Wut trat in seinen Blick, als er sich 392
aufrichtete. »Die Diamanten?« Seine Stimme klang leise und giftig wie das Zischen einer jener tödlichen kleinen Vipern der Wüste. »Fort«, erklärte Moses gelassen. »Wir müssen zurück – sie suchen.« Aber Moses schüttelte den Kopf. »Sie sind so weit verstreut wie die Samen des Grases. Es gibt keine Möglichkeit, sie wie derzufinden. Nein, mein Bruder, wir sind Gefangene in diesem Waggon. Wir können nicht zurück. Die Diamanten sind für immer verloren.« Hendrick blieb still sitzen, fuhr sich mit der Zunge über seine abgebrochenen Schneidezähne. Moses wartete ruhig. Diesmal würde er weder Befehle geben noch die Richtung weisen, nicht einmal andeutungsweise. »Du hast recht, mein Bruder«, sagte Hendrick schließlich. »Die Diamanten sind verloren. Aber ich werde den Mann tö ten, der uns das angetan hat.« Moses zeigte keine Regung. Er bot keinerlei Ermutigung an. Er wartete nur. »Ich werde einen Weg finden, ihn zu töten, ohne daß es au ßer ihm und uns jemals ein Mensch erfährt.« Moses wartete noch immer. Bisher hatte Hendrick den Weg beschritten, den er für ihn ausgelegt hatte. Es gab jedoch noch etwas, was er tun mußte. Moses wartete darauf, und es kam, wie er es gehofft hatte. »Bist du damit einverstanden, daß ich diesen weißen Hund töte, mein Bruder?« Er hatte Moses Gama um Genehmigung gebeten. Er hatte seinen Herrn erkannt, sich in seines Bruders Hände begeben. Moses lächelte und berührte den Arm seines Bruders, wie um ihm ein sichtbares Zeichen, ein Brandmal des Einverständnis ses aufzubrennen. »Tu es, mein Bruder«, befahl er. Mißlang es ihm, würden die weißen Männer ihn hängen, ge 393
lang es ihm jedoch, dann hatte er sich als Axt bewiesen. Eine volle Stunde lang blieb Hendrick dumpf vor sich hin brütend auf seinem Platz sitzen. Dann stand er auf, ging lang sam durch den Waggon und untersuchte jedes der vergitterten Fenster. Schließlich schüttelte er den Kopf, kehrte zu seinem Platz zurück und blieb abermals eine Weile nachdenklich sit zen. Dann erhob er sich wieder und ging zur Latrinentür. Er schloß sich in dem winzigen Raum ein. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem kleinen unverglasten Fenster zu. Über die Öffnung spannte sich ein Drahtgitter, das mit acht Schrauben am hölzernen Rahmen befestigt war. Hendrick kehrte zu seinem Platz im Waggon zurück und flü sterte Moses zu: »Der weiße Pavian hat mir mein Messer ge nommen. Ich brauche ein anderes.« Moses stellte keine Fragen. Das war Teil der Probe. Hendrick mußte es allein hin und, wenn er versagte, die vollen Konse quenzen tragen, ohne von Moses zu erwarten, daß dieser ihm beistand. Moses sprach leise mit den Männern, und innerhalb von wenigen Minuten wurde ein Messer weitergereicht und landete in Hendricks Hand. Er verschwand wieder in der Latrine und bearbeitete die Schrauben am Stahlrahmen, sorgsam darauf achtend, daß er die Farbe am Rahmen nicht zerkratzte oder irgendeine andere Spur hinterließ, die ihn verraten hätte. Er entfernte alle acht Schrauben, hob den Rahmen aus seiner Verankerung und stellte ihn beiseite. Dann wartete er, bis die Schienen eine Rechtskurve beschrie ben, so daß die vorderen Waggons nicht mehr zu sehen waren. Er beugte sich aus dem Fenster und blickte nach oben. Längs des Waggondachrandes lief eine Leiste. Er griff hinauf und betastete die Leiste, um festzustellen, ob sie genügend Halt bot. Dann zog er sich mit beiden Armen an der Leiste hoch, bis nur noch seine Füße im Inneren der Latrine baumelten. Er brachte seine Augen in Dachhöhe und prägte sich Neigung und Form des Waggondaches genau ein. Dann glitt er in den Latri 394
nenraum zurück. Er setzte das Drahtgitter wieder ein, zog aber die Schrauben nicht ganz fest an und kehrte zu seinem Platz im Waggon zurück. Am späten Nachmittag kamen der weiße Aufseher und seine beiden schwarzen Gehilfen mit dem Essen. Als er bei Hendrick anlangte, lächelte er freundlich. »Hübsch bist du jetzt, Nigger. Die schwarzen Mädchen wer den sich darum reißen, diesen Mund zu küssen.« Er drehte sich um und wandte sich an die stummen Reihen schwarzer Män ner. »Wenn einer von euch auch so hübsch sein möchte, dann laßt es mich wissen. Ich mache es umsonst.« Kur vor Einbruch der Dunkelheit kamen die schwarzen Ge hilfen zurück, um die leeren Eßgefäße einzusammeln. »Morgen abend bist du in Goldi«, sagte einer der beiden zu Hendrick. »Dort gibt es einen weißen Doktor, der deine Wunden behandeln wird.« In seinem teilnahmslosen schwarzen Gesicht zeigte sich eine Spur von Mitgefühl. »Es war nicht klug von dir, Tschayela, den Schläger, zu reizen. Vergeßt es nicht, ihr alle.« Er verschloß die Tür, als er den Waggon verließ. Hendrick wartete, bis der weiße Aufseher seine erste Runde durch die Waggons machte, und als dieser ihm mit der Laterne ins Gesicht leuchtete, versuchte er erst gar nicht, sich schlafend zu stellen, sondern blinzelte ihn verschlafen an. Der Aufseher ging weiter und verschloß die Tür hinter sich. Hendrick richtete sich lautlos auf. Moses, auf dem Platz ge genüber, regte sich in der Dunkelheit, sagte aber nichts, und Hendrick erhob sich und ging zum Latrinenraum. Rasch löste er die acht Schrauben und nahm den Gitterrah men aus seiner Befestigung. Die kalte Nachtluft strich über seinen Kopf, und er kniff die Augen zusammen, als ihn der stinkende Qualm der kohlenbetriebenen Lokomotive traf. Er griff nach oben, hielt sich an der Leiste am Dachrand fest und zog sich langsam hoch. Dann stieß er sich mit den Füßen ab, warf sich mit dem Oberkörper über den Dachrand und tastete 395
mit einer Hand nach einem Griff. Am Ventilator in der Mitte des gewölbten Daches fand er schließlich Halt und zog, auf dem Bauch liegend, den unteren Teil seines Körpers nach. Eine Weile blieb er keuchend und mit geschlossenen Augen liegen. Dann richtete er sich auf und kroch auf den Knien zum vorderen Dachrand. Dort angekommen, legte er sich ausgestreckt auf den Bauch und spähte vorsichtig über den Dachrand. Direkt unter ihm lagen die Plattformen der aneinandergekoppelten Waggons. Der Zwischenraum zwischen den Waggondächern war unge fähr so groß wie die Spanne seines ausgestreckten Armes. In den Kurven stießen die Stahlplattformen unter ihm gegenein ander. Jeder, der von einem Waggon in den anderen ging, muß te unter Hendrick vorbeikommen. Er brummte befriedigt und schaute zurück. Unmittelbar hinter seinen ausgestreckten Füßen befand sich eines der Ventilatorengehäuse. Er kroch zurück, zog seinen schweren Ledergürtel aus den Schlaufen an seinem Hosenbund und legte ihn so um den Ventilator, daß eine Schlinge entstand, in die er seinen rechten Fuß steckte. Dann streckte er sich, den Fuß sicher in der Schlinge veran kert, wieder aus und griff mit beiden Armen in den freien Raum zwischen den Waggons. Er konnte das Geländer der Schutzgitter auf der Plattform gerade noch berühren. Am Dachvorsprung über den Plattformen waren elektrische Lampen angebracht, so daß die Fläche unter ihm gut beleuchtet war. Er schob sich zurück und blieb flach auf dem Dach liegen, so daß von unten nur Stirn und Augen zu sehen waren. Aber er wußte, daß die Lampen jeden blenden würden, der nach oben blickte. Er machte es sich so bequem wie möglich und wartete wie ein Leopard auf einem Baum über der Wasserstelle. Zwei Stunden vergingen. Hendrick war steif und durchfro ren, aber er nahm es gelassen hin, ohne daß seine Konzentrati on auch nur für einen Augenblick nachließ. Warten war stets 396
Hauptteil der Jagd, dieses Spiel mit dem Tod, und er hatte die ses Spiel schon hunderte Male gespielt. Plötzlich hörte er trotz dem Rattern der Räder und dem Rau schen des Windes das Klicken von Stahl auf Stahl und das Ge räusch, als der Schlüssel im Türschloß umgedreht wurde. Er machte sich bereit. Er hörte die Schiebetür gegen den Türpfosten knallen und das Schloß wieder einrasten. Einen Augenblick später tauchte der Hut des weißen Aufsehers unter ihm auf. Blitzschnell warf sich Hendrick mit dem Oberkörper in den Zwischenraum zwischen den Waggons. Nur der Ledergürtel um seinen Knöchel hielt ihn fest. Er schlang einen Arm um den Hals des weißen Mannes und umklammerte mit der anderen Hand seinen eigenen Ellbogen, so daß der Kopf des Mannes wie in einer Stahlklammer steckte. Dann riß er ihn hoch. Der Aufseher gab einen erstickten Laut von sich, und winzi ge Speicheltropfen flogen von seinen Lippen, als Hendrick ihn wie an einem Galgen nach oben zog. Der Hut des Aufsehers fiel und verschwand wie eine schwar ze Fledermaus im Dunkel der Nacht. Er wand sich und stram pelte heftig, umklammerte die dicken muskulösen Arme, die seinen Hals umschlossen, und sein langes blondes Haar flatter te im Nachtwind. Hendrick zog ihn hoch, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren, und grinste ihn an. Dabei entblößte er die blutverschmierten Stumpen seiner eingeschlagenen Vorderzäh ne. Hendrick sah das Erkennen in den geweiteten hellen Augen aufblitzen. »Ja, mein Freund«, flüsterte er. »Ich bin es, der Nigger.« Er zog den Mann noch einige Zentimeter höher und drückte seinen Nacken gegen die Dachkante. Dann verstärkte er ganz langsam den Druck auf sein Genick, indem er mit dem Unterarm das Kinn anhob und den Kopf zurückbog. Der Aufseher zappelte und zuckte wie ein Fisch am Haken der Harpune, aber Hendrick starrte ihm unverwandt in die Augen und ließ nicht los. 397
Schließlich spürte er, wie sich die Wirbelsäule unter dem Druck spannte und keinen Millimeter mehr nachgeben konnte. Eine Sekunde hielt er ihn an der Bruchgrenze, dann stieß er das Kinn des Mannes mit einem Ruck nach oben, und die Wirbel säule zerbrach wie ein trockener Ast. Die Beine des weißen Aufsehers baumelten in der Luft, ein kurzes Zucken und Beben durchlief seinen Körper, und Hendrick sah, wie die hellen blauen Augen glasig wurden und brachen. Er schwang den leblosen Körper wie ein Pendel, und als er neben dem Plattformgeländer hinabhing, ließ er ihn fallen, di rekt vor die fahrenden Räder. Er wußte, daß die Teile der zer stückelten Leiche über eine halbe Meile auf den Eisenbahn schienen verteilt sein würden. Einen Augenblick blieb er liegen, um Atem zu schöpfen, dann löste er den Gürtel vom Ventilator und schnallte ihn wie der um. Er kroch auf dem Waggondach zurück, bis er sich un mittelbar über dem Latrinenfenster befand, ließ sich mit den Füßen voran auf den Fensterbalken und von dort in den Latri nenvorraum fallen. Dann setzte er das Drahtgitter wieder ein, zog die Schrauben an und ging zu seinem Platz im Waggon zurück. Moses Gama beobachtete, wie er die Decke um seine Schul tern schlang. Er nickte seinem Bruder zu, zog sich die Decke über den Kopf und schlief augenblicklich ein. Die Rufe der schwarzen Aufsehergehilfen weckten ihn, als der Zug quietschend und ruckend zum Stehen kam. Er las den Namen des kleinen Dorfes, wo sie angehalten hatten, auf einer weißen Tafel auf dem Bahnsteig: Vyrburg. Der Name sagte ihm nichts. Bald darauf tauchten die blauen Uniformen der Eisenbahnpo lizei auf, und die Angeworbenen wurden auf den Bahnsteig hinausbeordert. Schlaftrunken und zitternd vor Kälte stellten sie sich in einer Reihe im Scheinwerferlicht auf und meldeten sich auf den Namensaufruf. Keiner fehlte. 398
Hendrick stieß seinen Bruder an und deutete mit dem Kinn auf die Räder und das Fahrgestell unter ihrem Waggon. Die Achsen und Radnaben waren mit Blut, Gewebestücken und winzigen roten Streifen von rohem Fleisch bedeckt. Den ganzen Tag standen die Waggons auf dem Nebengleis, während die Polizei jeden einzeln zu einem scharfen Verhör ins Büro des Stationsvorstehers holte. Am späten Nachmittag lag es auf der Hand, daß sie zu der Überzeugung gelangt wa ren, der weiße Aufseher wäre verunglückt, und allmählich das Interesse an weiteren Verhören verloren. An der Tatsache, daß die Türen verschlossen und die Fenster verriegelt waren, war nicht zu rütteln, und die Aussage der schwarzen Gehilfen deck te sich mit der Aussage jedes einzelnen der Verhörten. Am Abend wurden sie schließlich in die Waggons verladen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Fahrt zum sagenhaften Witwatersrand ging weiter. Hendrick erwachte durch das aufgeregte Geschwatze der Männer um ihn herum, und das erste, was er sah, als er sich zum Fenster drängte, war ein hoher Berg, so groß, daß er die Sicht auf den Himmel im Norden verstellte. Es war ein merk würdiger und wunderschöner Berg, ein Berg mit einem voll kommen flachen Gipfel und gleichmäßig steilen Hängen, der perlenartig gelb in der Morgensonne leuchtete. »Was ist das für ein Berg?« wollte Hendrick wissen. »Ein Berg, der aus dem Bauch der Erde stammt«, erklärte Moses. »Ein Berg, den die Menschen aus dem Gestein erbaut haben, das sie aus der Erde holen.« Wo Hendrick auch hinschaute, überall in dem hügeligen Steppenland lagen diese flachrückigen leuchtenden Halden, und in der Nähe jeder Halde standen hohe Giraffen aus Stahl, langhalsig und skelettartig, mit riesigen Rädern am oberen En de, die sich ständig drehten. 399
»Das sind Fördertürme«, erklärte Moses. »Unter jedem von ihnen ist ein Loch, das ins Innere der Erde reicht, bis hinunter in die Steinhöhlen, die das gelbe Gold enthalten, für das die weißen Männer schwitzen und lügen und betrügen – und oft auch töten.« Als der Zug weiterfuhr, entdeckten sie ein Wunder nach dem anderen, Gebäude, die höher waren, als sie es je für möglich gehalten hatten, Straßen, auf denen so viele Fahrzeuge fuhren, daß sie Flüssen aus Stahl ähnelten, riesige Schlote, die den Himmel mit schwarzen Gewitterwolken füllten, und eine Un menge von Menschen, Scharen von schwarzen Männern mit silbernen Helmen und kniehohen Gummistiefeln, weiße Män ner auf Straßen und Bahnsteigen, buntgekleidete weiße Frauen mit verächtlichen, hochmütigen Mienen, und Menschen überall in den Fenstern der Gebäude, die Mauer an Mauer unmittelbar neben den Eisenbahnschienen standen. Das alles war zu viel, zu groß und zu unbegreiflich, um auf einmal aufgenommen werden zu können. Sie drängten sich an die Fenster, gafften mit offenem Mund und redeten aufgeregt durcheinander. »Wo sind die Frauen?« fragte Hendrick plötzlich. Moses lächelte. »Welche Frauen, Bruder?« »Die schwarzen Frauen, die Frauen unseres Stammes?« »Es gibt hier keine Frauen, jedenfalls nicht die Art von Frauen, die du kennst. Hier gibt es nur die Isifebi, und die tun es für Gold. Hier tut man alles nur für Gold.« Ihre drei Waggons wurden in ein umzäuntes Areal gescho ben, in dem unzählige Reihen von langen weißen Baracken standen. Auf der Tafel über dem Tor stand zu lesen: VEREINIGUNG FÜR EINGEBORENENARBEIT
WITWATERSRAND
AUFFANGZENTRUM MITTE
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Ein paar grinsende schwarze Aufseher führten sie von den Waggons zu einem langen Schuppen und wiesen sie an, sich bis auf die Haut zu entkleiden. Unter den väterlichen Blicken der schwarzen Aufseher, die sie sehr freundlich behandelten, marschierten die Reihen nack ter schwarzer Männer los. »Manche von euch haben ihr Vieh mitgebracht«, scherzten die Aufseher. »Ziegen auf euren Köpfen und Rinder in euren Schamhaaren.« Sie tauchten Malerpinsel in Eimer mit grauer Quecksil bersalbe und bestrichen damit die Köpfe und Schamhaare der Neulinge. »Einreihen«, befahlen sie. »Wir wollen eure Läuse und Flöhe und Krabbeltiere nicht.« Und die Neulinge ließen sich von der heiteren Stimmung an stecken und brüllten vor Lachen, als sie sich gegenseitig mit der klebrigen Salbe beschmierten. Am Ende des Schuppens erhielt jeder von ihnen ein kleines Stück blaugesprenkelter Karbolseife. »Eure Mütter mögen vielleicht denken, Ihr riecht wie blü hende Mimosen, aber selbst für die Nasen von Ziegen stinkt ihr noch gegen den Wind.« Die Aufseher lachten und schoben sie unter die heißen Duschen. Als sie sauber und noch immer nackt wieder auftauchten, warteten bereits die Ärzte, und sie wurden gründlich unter sucht. »Was ist mit deinem Mund und deinem Kopf passiert?« frag te einer der Ärzte Hendrick. »Nein, erzähl es mir nicht. Ich will es nicht wissen.« Solche Verletzungen hatte er schon öfter ge sehen. »Diese verdammten Bestien in den Zügen. Nun, wir werden dich zum Zahnarzt schicken, damit er diese Stumpen entfernt. Am Kopf ist es zum Nähen leider zu spät, du wirst ein paar hübsche Narben behalten! Davon abgesehen, bist du aber eine Schönheit.« Er klopfte Hendrick auf die harten, glänzen 401
den schwarzen Muskeln. »Wir werden dich unter Tag arbeiten lassen, dann erhältst du einen Bonus.« Sie erhielten graue Overalls und genagelte Stiefel, und an schließend gab es zu essen, soviel sie essen konnten. »Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe«, sagte Hen drick mit vollem Mund. »Gutes Essen, weiße Männer, die lä cheln, keine Prügel – ganz anders als im Zug.« »Nur ein Narr schlägt seine Ochsen und läßt sie hungern.« Einer von den Ovambo nahm Moses’ leeren Teller mit in die Küche und brachte ihn gefüllt zurück. Moses hatte es nicht mehr nötig, solche niedrigen Dienste anzuschaffen. Die Män ner um ihn herum achteten auf seine Bedürfnisse, als hätte er von jeher ein Anrecht darauf gehabt. Der Tod des weißen Auf sehers, genannt der Schläger, war durch wiederholte Erzählun gen bereits so ausgeschmückt worden, daß er einer Legende glich und die Größe und Autorität von Moses Gama und sei nem Adjutanten verstärkte. Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch wurden sie geweckt, und nach einem üppigen Frühstück mit Maiskuchen und Maas, der eingedickten sauren Milch, führte man sie in die lange Wellblechbaracke, die als Klassenzimmer diente. »Männer von vierzig verschiedenen Stämmen kommen aus allen Gegenden Afrikas nach Goldi, von Zulu bis Tswana, von Herero bis Basuto, und nur einer unter Tausenden versteht ein Wort Englisch oder Afrikaans«, erklärte Moses seinem Bruder leise, während die anderen Männer ehrerbietig auf einer der Schulbänke für sie Platz machten. »Jetzt bringen sie uns die Spezialsprache von Goldi bei, die Sprache, in der sich alle Männer hier verständigen, ob Schwarz oder Weiß, und egal von welchem Stamm.« Ein ehrwürdiger alter Zulu mit dichtem, silbrigweißem Kraushaar war ihr Lehrer. Er sollte ihnen Fanakalo, die Hilfs sprache der Goldminen, beibringen. Der Zululehrer stand auf einem erhöhten Podium und war 402
umgeben von Ausrüstungsgegenständen des Grubenwesens, die so aufgestellt waren, daß er mit seinem Zeigestab jeden Gegenstand berühren konnte, wenn die Neulinge im Chor die Namen hersagen mußten. Helme und Grubenlampen, Hammer und Pickel, Bohrmeißel und Schrapper, Schutzschienen und Sicherheitsvorrichtungen – sie würden jeden Gegenstand be nennen können, bevor sie ihre erste Schicht antraten. Aber nun berührte der alte Zulu seine eigene Brust und sagte: »Mina!« Dann zeigte er auf seine Klasse und sagte: »Wena!« Und Moses sprach ihnen vor: »Ich! Du!« »Kopf!« sagte der Lehrer, und »Arm!« und »Bein!« Dabei berührte er die entsprechenden Teile seines Körpers, und seine Schüler ahmten ihn begeistert nach. Der Vormittag war mit Sprachunterricht ausgefüllt, und nach dem Mittagessen wurden sie in Gruppen zu je zwanzig Mann eingeteilt. Die Gruppe, der Moses und Hendrick angehörten, kam in ein Wellblechgebäude, dessen Inneres dem Sprachraum ähnelte. Nur die Einrichtung war anders. Lange Zeichentische liefen von Wand zu Wand, und die Person, die sie begrüßte, war ein weißer Mann mit eigenartig hellem, rötlichgelbem Haar, einem Schnurrbart und grünen Augen. Er trug einen lan gen weißen Mantel, wie ihn die Ärzte getragen hatten, und lä chelte ebenso freundlich wie diese. Er sprach Englisch, was nur Moses und Hendrick verstanden, wenn sie auch sorgfältig dar auf bedacht waren, das nicht zu zeigen. »Also, ihr Burschen. Ich heiße Dr. Marcus Archer und bin Psychologe. Was wir jetzt machen werden, ist eine Eignungs prüfung.« Der weiße Mann lächelte und nickte dann den schwarzen Vorarbeitern zu, die übersetzten: »Ihr tut, was Bomvu, der Rote, euch sagt. Auf diese Weise können wir herausfinden, wie dumm ihr seid.« Der erste Test war eine Übung mit Bauklötzen, die Marcus Archer selbst entwickelt hatte, um Geschicklichkeit und Sinn für technische Formen zu testen. Die bunten, verschiedenför 403
migen Holzklötze mußten in der Art eines einfachen Puzzle spiels von jedem einzelnen in einen Rahmen eingeordnet wer den, und dazu hatte jeder sechs Minuten Zeit. Die schwarzen Assistenten erklärten den Vorgang und führten es kurz vor, dann nahmen die Neulinge an den Tischen Platz, und Marcus Archer rief: »Enza! Los!« und drückte den Knopf seiner Stoppuhr. Moses vollendete sein Puzzle in einer Minute und sechs Se kunden. Gemäß Dr. Archers genauen Aufzeichnungen hatten bis dahin 116 816 Neuankömmlinge diesen Test gemacht, und keiner von ihnen war unter zweieinhalb Minuten geblieben. Er verließ das Podium und trat an Moses’ Tisch. Es war richtig ausgeführt. Dr. Archer nickte und musterte nachdenklich Mo ses’ ausdrucksloses Gesicht. Natürlich war ihm Moses bereits aufgefallen. Er hatte in sei nem ganzen Leben noch nie einen so schönen Mann gesehen, weder einen Schwarzen noch einen Weißen. Und Dr. Archer hatte eine starke Vorliebe für schwarze Haut, einer der Haupt gründe, daß er vor fünf Jahren nach Afrika gegangen war. Dr. Marcus Archer war homosexuell. Er war das dritte Jahr auf dem Magdalena College gewesen, als er sich diese Tatsache eingestand, und der Mann, der ihn mit den bittersüßen Sinnesfreuden bekanntmachte, Lytton Stra chey, hatte gleichzeitig seinen Geist den erstaunlichen neuen Lehren von Karl Marx geöffnet. Sein Liebhaber hatte ihn heim lich in die kommunistische Partei Großbritanniens aufgenom men und ihn nach seinem Abgang von Cambridge den Genos sen in Bloomsbury vorgestellt. Doch Marcus hatte sich als jun ger Mann im intellektuellen London nie ganz zu Hause gefühlt. Ihm fehlten die spitze Zunge, der schlagfertige, giftige Witz und die katzenhafte Grausamkeit. Nach einer kurzen und äu ßerst unbefriedigenden Affaire mit Lytton war ihm dessen all gemein bekannte Behandlung zuteil geworden, und er wurde aus der Gruppe ausgestoßen. 404
Daraufhin hatte er sich selbst ins Abseits verbannt und an der Universität von Manchester die noch junge Wissenschaft der Industriepsychologie studiert. Hier begann er eine lange und glückliche Liaison mit einem jamaikanischen Posaunisten und brach alle Verbindungen zur Partei ab. Doch er sollte noch er fahren, daß die Partei ihre Auserwählten niemals vergaß, und im Alter von einunddreißig Jahren, als er sich auf seinem Ge biet bereits einen guten Namen gemacht und sein Verhältnis mit dem Jamaikaner gerade ein bitteres Ende gefunden hatte, streckte die Partei ihre Fangarme aus und nahm ihn sanft wie der unter ihre Fittiche. Man sagte ihm, daß bei der südafrikanischen Bergwerks kammer eine Möglichkeit bestehe, in seinem Beruf mit afrika nischen Grubenarbeitern zu arbeiten; wenn er wolle, könne er sofort damit beginnen. Man gab ihm zwar zu verstehen, daß er sich in dieser Angelegenheit frei entscheiden dürfe, aber über das Resultat dieser Entscheidung bestand nie ein Zweifel, und binnen einem Monat befand er sich auf dem Weg nach Kap stadt. In den folgenden fünf Jahren hatte er bei der Bergwerks kammer wichtige Pionierarbeit geleistet, was ihm sowohl An erkennung als auch tiefe Befriedigung verschaffte. Seine Ver bindungen zur Partei blieben geheim, um so wertvoller war die Arbeit, die er auf diesem Gebiet leistete. Je älter er wurde, de sto stärker fühlte er sich den Idealen des Marxismus verbun den. Hier sah er die Unmenschlichkeit der Klassen- und Rassendiskriminierung aus unmittelbarer Nähe, den schreckli chen Abgrund, der das arme und besitzlose schwarze Proletari at von dem ungeheuren Reichtum und den Vorrechten der wei ßen Bourgeoisie trennte. Marcus Archer betrachtete den edlen jungen Mann mit dem Gesicht eines ägyptischen Gottes und einer Haut wie dunklem Honig, und die Sehnsucht überkam ihn. »Sie sprechen Englisch, nicht wahr?« fragte er, und Moses 405
nickte. Marcus Archer mußte sich abwenden und zum Podium zu rückkehren, da er seine Leidenschaft kaum noch verbergen konnte. Mit zitternden Fingern nahm er ein Stück Kreide und schrieb etwas an die Tafel, um sich Gelegenheit zu geben, sei ne Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Tests dauerten den ganzen Nachmittag, und die Ver suchspersonen wurden je nach ihrem Geschick und ihren Fer tigkeiten aussortiert. Am Ende blieb nur einer übrig. Moses Gama hatte die schwierigeren Tests mit derselben Sicherheit bestanden wie den ersten, und Dr. Archer erkannte, daß er eine Sonderbegabung entdeckt hatte. Um fünf Uhr endete der Unterricht, und die Neulinge stürm ten dankbar aus dem Klassenzimmer. Moses war als einziger gelassen geblieben. Als er am Pult vorbeikam, hielt ihn Dr. Archer zurück. »Gama!« Er hatte den Namen aus der Liste herausgesucht. »Es gibt noch eine Aufgabe, die ich Ihnen gerne stellen wür de.« Er führte Moses über die Veranda in sein Büro. »Können Sie lesen und schreiben, Gama?« »Ja, Doktor.« »Es ist eine Theorie von mir, daß man in der Handschrift ei nes Menschen den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit finden kann«, erklärte Archer. »Ich würde Sie bitten, etwas für mich zu schreiben.« Dr. Archer legte Schreibzeug vor Moses hin, während er un gezwungen fortfuhr: »Das ist ein Standardtext, den ich immer nehme.« Auf der Karte, die er Moses gab, war der Kinderreim »Die Katze und die Fiedel« abgedruckt. Moses tauchte die Feder ein, und Archer beugte sich vor, um ihm zuzusehen. Die Schrift war groß und flüssig, die Buchsta ben hatte scharfe Spitzen, waren leicht geneigt und energisch. 406
Alle Anzeichen für geistige Entschlossenheit und rücksichtslo se Energie waren vorhanden. Ohne den Blick von der Schrift zu wenden, legte Archer zwanglos seine Hand auf Moses’ Oberschenkel und spürte die harten, elastischen Muskeln unter der samtenen Haut. Die Fe derspitze kratzte, als Moses zusammenzuckte. Dann nahm er sich zusammen und schrieb weiter. Als er fertig war, legte er die Feder sorgsam beiseite und blickte zum ersten Mal direkt in Marcus Archers grüne Augen. »Gama.« Marcus Archers Stimme bebte, und der Druck sei ner Finger verstärkte sich. »Sie sind viel zu intelligent, um Ihre Zeit mit Goldschaufeln zu vergeuden.« Er hielt inne und schob seine Hand langsam höher. Moses schaute ihm unverwandt in die Augen, und Marcus Archers Herz begann wild zu klopfen. »Ich möchte, daß Sie als persönlicher Assistent für mich ar beiten, Gama«, flüsterte er, und Moses überdachte die Bedeu tung dieses Angebots. Er würde Zugang zu den Akten aller Arbeiter im Goldbergbau haben. Er würde Schutz und Privile gien genießen, würde frei ein- und ausgehen können, wo ande re keinen Zutritt hatten. Für den Mann, der ihm dieses Angebot machte, fühlte er kaum etwas, weder Abscheu noch Verlangen, aber er hatte auch keine Bedenken, ihm den verlangten Preis zu bezahlen. Wenn der weiße Mann wünschte, wie eine Frau be handelt zu werden, dann würde Moses ihm diesen Gefallen tun. »Ja, Doktor, ich würde gern für Sie arbeiten«, sagte er. Am letzten Abend im Auffangzentrum rief Moses alle von ihm auserwählten Stellvertreter in der Baracke zu sich. Sie drängten sich um seine Schlafstelle. »Sehr bald kommt ihr von hier nach Goldi. Ihr werdet nicht alle zusammen bleiben, denn es gibt dort viele Minen. Ein paar von euch werden unter Tag arbeiten, andere oben in den Müh 407
len und Schmelzanlagen. Wir werden für eine Weile getrennt sein, aber vergeßt nicht, daß wir Brüder sind. Ich habe wichtige Aufgaben für euch. Ich werde euch finden, wo ihr auch seid, und ihr werdet für mich bereit sein, wenn ich euch rufe.« »Eh he!« murmelten sie zustimmend und gehorsam. »Vergeßt niemals, daß ihr unter meinem Schutz steht, daß al le Ungerechtigkeiten gegen euch gerächt werden. Ihr habt ge sehen, was mit denen geschieht, die unserer Bruderschaft Un recht zufügen.« »Wir haben es gesehen«, murmelten sie. »Ich habe ein Zeichen für unsere Bruderschaft gewählt«, fuhr Moses fort. »Ich habe den Büffel zu unserem Zeichen gewählt, denn er ist schwarz und stark, und alle Menschen fürchten ihn. Wir sind die Büffel.« »Wir sind die Büffel, und alle Menschen werden uns fürchten lernen.« »Das ist das Zeichen, das geheime Zeichen, an dem wir ein ander erkennen werden.« Er machte das Zeichen und gab dann jedem einzelnen in der Art des weißen Mannes die rechte Hand, aber der Handschlag war anders, es war eine Art Doppelgriff mit umgelegtem zwei ten Finger. »Auf diese Weise werdet ihr eure Brüder erkennen, wenn sie zu euch kommen.« Sie verabschiedeten sich in der dunklen Baracke voneinan der, indem jeder in der neuen Weise die Hand des anderen schüttelte. »Ihr werdet schon bald von mir hören. Bis ich euch rufe, müßt ihr tun, was der weiße Mann von euch verlangt. Ihr müßt hart arbeiten und lernen.« Moses schickte sie zu ihren Schlaf kojen, und er und Hendrick blieben allein zurück. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen im Flüsterton miteinander. »Du hast die kleinen weißen Steine verloren«, sagte Moses. »Inzwischen haben die Vögel und die kleinen Tiere das Hirse brot längst aufgepickt. Die Steine sind weit verstreut und verlo 408
ren, Staub wird sie bedecken, Gras wird über sie wachsen. Sie sind verloren, mein Bruder.« »Ja. Sie sind verloren«, jammerte Hendrick. »Nach soviel Blut und Mühe, nach all den Anstrengungen, die wir hinter uns haben, sind sie verstreut wie Samenkörner im Wind.« »Sie waren verflucht«, tröstete ihn Moses. »Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß sie nur Unglück und Tod bringen würden. Sie sind das Spielzeug des weißen Mannes. Was hät test du mit dem Reichtum des weißen Mannes anfangen kön nen? Wenn du versucht hättest, es auszugeben, wärest du sofort von der weißen Polizei entdeckt worden. Sie hätten dich ge holt, und der Strick oder eine Gefängniszelle wären dir sicher gewesen.« Hendrick schwieg. Moses hatte recht. Was hätte er mit den Steinen kaufen können? Schwarze durften kein Land besitzen. Mehr als hundert Stück Vieh weckten den Neid des Häuptlings. Frauen besaß er bereits mehr als genug, und in Autos fuhren Schwarze nicht. Schwarze lenkten so wenig wie möglich die Aufmerksamkeit auf sich, jedenfalls wenn sie klug waren. »Nein, mein Bruder«, fuhr Moses fort. »Sie waren nicht für dich bestimmt. Danke den Geistern deiner Vorfahren, daß sie dir entrissen worden sind und jetzt wieder auf der Erde liegen, wo sie hingehören.« »Trotzdem wäre es gut gewesen, diesen Schatz zu besitzen«, brummte Hendrick leise. »Es gibt andere Schätze, die viel wichtiger sind als die Dia manten oder das Gold des weißen Mannes, mein Bruder.« »Was sind das für Schätze?« fragte Hendrick. »Folge mir und ich werde dich zu ihnen führen.« »Aber sag mir doch wenigstens, was es ist«, drängte Hen drick beharrlich. »Du wirst sie rechtzeitig entdecken.« Moses lächelte. »Aber jetzt, mein Bruder, müssen wir über andere Dinge reden. Hör mir zu. Bomvu, der Rote, mein kleiner Doktor, der wie eine 409
Frau behandelt werden will, hat dich einer Mine namens Cen tral Rand Consolidated zugeteilt. Sie ist eine der reichsten von Goldi, mit vielen tiefen Schächten. Du wirst unter Tag arbeiten, und es ist am besten, wenn du dir dort einen Namen machst. Ich habe Bomvu dazu überredet, zehn unserer besten Männer von den Büffeln zusammen mit dir zur CRC zu schicken. Sie werden deine auserwählten Krieger sein. Du mußt mit ihnen beginnen und die schnellsten und stärksten und furchtlosesten Männer um dich versammeln.« »Was tue ich denn mit diesen Männern?« »Halte sie bereit. Du wirst bald von mir hören. Sehr bald.« »Was ist mit den anderen Büffeln?« »Auf meinen Rat schickt Bomvu sie in Gruppen zu jeweils zehn in die anderen Minen von Goldi. Überall kleine Gruppen unserer Männer. Die Gruppen werden wachsen, und bald wer den wir eine große schwarze Herde von Büffeln sein, die nicht einmal der kühnste Löwe anzugreifen wagt.« Swart Hendricks erste Einfahrt in die Grube war gleichzeitig das erste Mal in seinem Leben, daß er vor Angst und Schrek ken wie gelähmt war. Der Alptraum begann, als er sich in die lange Reihe der schwarzen Grubenarbeiter in ihren schwarzen Gummistiefeln und grauen Overalls, mit Helmen und Stirnlampen am Kopf, stellte. Plötzlich fand er sich an der Spitze der Reihe vor dem Stahlgittertor stehen, das den Schachteingang sicherte. Hinter dem Gitter konnte er die Stahlkabel erkennen, die wie Pythonschlangen in den Schacht hingen, und über ihm ragte das Stahlskelett des Förderturms empor. Plötzlich öffnete sich das Stahlgitter rasselnd, und Hendrick wurde durch den Druck der schwarzen Leiber hinter ihm in den Aufzugkäfig gedrängt. Sie standen Schulter an Schulter, sieb zig Männer. Die Türen schlossen sich und der Boden unter 410
seinen Füßen sank. Der Förderkorb beschleunigte so schnell, daß Hendricks Körper zu schweben schien. Sein Magen hob sich, und seine Angst war unaussprechlich. Er hatte das Gefühl, zu ersticken, erdrückt zu werden bei dem Gedanken an die un geheure Felsmasse über ihm. Es ging eine Meile nach unten in die Erde, und dann noch eine Meile. Der Förderkorb blieb so abrupt stehen, daß seine Knie ein knickten. Die Gittertore öffneten sich krachend, und er wurde in den Hauptschacht hinausgedrängt, eine Höhle mit feucht glänzenden Felswänden, in der es von Männern wie von Ratten in einem Abwasserkanal wimmelte, die jetzt in den endlosen Tunneln verschwanden, die sich durch die Eingeweide der Er de zogen. Überall war Wasser. Es glitzerte und glänzte im dumpfen Schein des elektrischen Lichtes, floß in Kanälen zu beiden Sei ten des Hauptschachtes, quatschte unter seinen Füßen und tropfte vom rissigen Gestein der Höhlendecke. Auch die Luft war feucht, zudem heiß und erstickend. Hendricks Angst wich nicht während des langen Marsches bis zu den Strossen. Hier verteilten sich die Männer auf ihre Arbeitstrupps und ver schwanden in der Dunkelheit. Die Strossen waren die riesigen offenen Erzkammern, aus denen das goldhaltige Erz bereits abgetragen worden war. Die Kammerdecke war mit Holzbalken und Pfeilern abgestützt, und der Boden stieg im selben Winkel an wie der goldführende Quarzgang. Die Männer von Hendricks Trupp, die vor ihm marschierten, führten ihn zu seiner Station, wo der weiße Schichtführer, ein stämmiger Afrikaner, flankiert von seinen beiden schwarzen Vorarbeitern, sie bereits erwartete. Die Station war eine dreiseitige Kammer im Felsen, deren Nummer über dem Eingang stand. An der Rückwand der Stati on war eine lange Bank angebracht, und es gab eine Latrine, deren Eimer mit grobem Sackleinen abgedeckt waren. 411
Der Trupp setzte sich auf die Bank, während die Vorarbeiter nacheinander ihre Namen aufriefen. Dann fragte der weiße Schichtführer in Fanakalo: »Wo ist der neue Hammermann?« Hendrick stand auf. Cronje, der Schichtführer, trat vor ihn hin. Sie waren beide gleich groß, so daß sich ihre Augen auf glei cher Höhe befanden. Der Schichtführer hatte eine schiefe Nase, die vor lange Zeit bei einer Prügelei gebrochen worden war. Er musterte Hendrick eingehend. Er sah seine abgebrochenen Schneidezähne und die Narben auf seinem Kopf, und das nötigte ihm widerwilligen Respekt ab. Beide waren sie harte, zähe Männer, und beide erkannten das auch. Oben unter freiem Himmel waren sie ein Schwarzer und ein Weißer. Hier unter der Erde waren sie einfach nur Männer. »Du kennst den Hammer?« fragte Cronje in Fanalko. »Ja, ich kenne ihn«, erwiderte Hendrick in Afrikaans. Er hat te die Arbeit mit dem Hammer zwei Wochen lang oben in den Übungsgruben gelernt. Cronje kniff die Augen halb zu und grinste, dankbar für den Gebrauch seiner eigenen Sprache. »Ich führe den besten Trupp von Steinbrechern in der CRC«, sagte er, noch immer grinsend. »Du wirst das Steinbrechen lernen, mein Freund, sonst breche ich dir das Genick und Rückgrat. Hast du verstanden?« »Ich hab’ verstanden.« Hendrick grinste zurück, und Cronje hob seine Stimme: »Al le Hammermänner zu mir!« Sie standen von der Bank auf – fünf Männer, alle so groß wie Hendrick. Es gehörte eine ungeheure Körperkraft dazu, den Preßlufthammer zu bedienen. Sie waren die Elite unter den Steinbrechertrupps, verdienten fast doppelt soviel und erhielten einen Bonus je Fuß gebrochenen Gesteins. Außerdem genossen sie großes Ansehen unter den anderen Arbeitern. Cronje schrieb ihre Namen auf die Tafel unter der Glühbirne: Henry Tabaka am Ende der Liste und Zama, der große Zulu, an erster Stelle. Als Zama seine Jacke auszog und sie seinem Hel 412
fer zuwarf, schimmerten seine gewaltigen schwarzen Muskeln im grellen Licht der Lampe. »Aha!« sagte er mit einem Blick auf Hendrick. »Wir haben also jetzt einen kleinen Ovamboschakal hier, der von der Wü ste hereingestolpert ist.« Die Männer um ihn herum lachten pflichtschuldig. Zama war der erste Hammermann in diesem Abschnitt. Jeder lachte, wenn er einen Scherz machte. »Ich habe gedacht, daß der Zulupavian seine Flöhe nur auf den Gipfeln der Drakensberge kratzt, damit seine Stimme weithin hörbar ist«, sagte Hendrick gelassen, und für einen Augenblick trat betretene Stille ein. Dann brachen die anderen ungläubig in schallendes Gelächter aus. »Na los, ihr beiden großen Sprecher«, mischt sich Cronje ein, »wie wäre es, wenn ihr an die Arbeit geht.« Er führte sie von der Station die Strosse hinauf zu dem Abschnitt, wo die Gold ader als schmales graues Band im rissigen Felsen sichtbar wur de. Die Decke war so niedrig, daß sich ein Mann bücken mußte, um an den Felsen zu kommen, aber die Strosse war breit, reich te auf beiden Seiten hunderte Meter in die Dunkelheit hinein, und man konnte die anderen Trupps entlang der Goldader ar beiten hören. »Tabaka!« brüllte Cronje. »Hierher!« Er hatte die Bohrlöcher mit weißer Farbe markiert und die Neigung und Tiefe jedes Loches angezeichnet. »Stoß zu!« Dann blieb er noch eine Se kunde, um zu sehen, wie Hendrick den Preßlufthammer anfaß te. Er lag vor Ort auf dem Boden, ein plumpes Gerät in der Form eines schweren Maschinengewehrs, mit langen Preßluft schläuchen, die hinunter zur Preßluftanlage im Hauptschacht führten. Rasch befestigte Hendrick den sechs Meter langen Steinboh rer aus Stahl am Anschlußstück und trug das Gerät zusammen mit seinem Helfer zum Streb. Die beiden mußten all ihre Kraft 413
aufwenden, um den Preßlufthammer anzuheben und die Spitze des Bohrers zum Anbohren an der weiß markierten Stelle an zusetzen. Hendrick stellte sich hinter den Preßlufthammer, nahm das ganze Gewicht des Gerätes auf die rechte Schulter und öffnete das Preßluftventil. Der Lärm war betäubend, Hendricks Körper bebte und zitter te im Bohrrhythmus des schweren Hammers an seiner Schulter. Augenblicklich brach ihm der Schweiß aus und lief über sein Gesicht, als stünde er in einem Gewitterregen. Innerhalb weni ger Minuten begann seine Haut zu jucken und zu brennen. Sein Körper wurde durch das Beben des Hammers tausendmal in der Minute hin- und hergeschleudert, und mit jeder Minute wuchs der Schmerz. Hendrick versuchte ihn zu ignorieren, aber es fühlte sich an, als würde man mit einer Lötlampe über sei nen Körper streichen. Der lange Stahlbohrer senkte sich langsam in den Felsen, bis er die angezeichnete Tiefe erreicht hatte, dann schloß Hendrick das Preßluftventil. Es wurde nicht still, denn obwohl sein Ge hör stumpf war, als hätte er Watte in den Ohren, hallte das Dröhnen des Preßlufthammers noch immer in seinem Schädel wider. Sein Gehilfe lief heran, ergriff das Anschlußstück des Boh rers und half ihm, es aus dem ersten Bohrloch zu ziehen und auf der zweiten weißen Markierung anzusetzen. Wieder öffnete Hendrick das Ventil, Lärm und Schmerz begannen von neuem. Allmählich verwandelte sich das juckende Brennen seines Körpers in Taubheit, und Hendrick fühlte sich körperlos, so als hätte man Kokain unter seine Haut gespritzt. Die ganze Schicht hindurch stemmte er sich gegen den Preß lufthammer, sechs Stunden lang, ohne aufzuhören oder auch nur nachzulassen. Als die Schicht vorbei war und sie von der Strosse zurückkrochen, wankte sogar Zama, der große schwar ze Zulu, und seine Augen blickten ausdruckslos. In der Station schrieb Cronje das, was jeder einzelne von ih 414
nen geleistet hatte, neben ihre Namen auf die Tafel. Zama hatte sechzehn Sprengmuster gebohrt, Hendrick zwölf, der nächstbe ste Mann zehn. »Haw!« murmelte Zama, als sie im überfüllten Förderkorb nach oben fuhren. »Nach seiner allerersten Schicht ist der Schakal schon zweitbester Hammermann.« Und Hendrick hatte gerade noch die Kraft zu erwidern: »Und nach seiner zweiten Schicht wird der Schakal erster Hammer mann sein.« Doch das geschah nie. Er schaffte es nicht ein einziges Mal, mehr Fels zu brechen als der Zulu. Aber am Ende des ersten Monats, als Hendrick mit den anderen Ovambos von der Bru derschaft in der öffentlichen Bierhalle saß, kam der Zulu mit zwei Halbliterkrügen des schäumenden Hirsebieres, das die Gesellschaft ihren Männern verkaufte, an Hendricks Tisch. Zama stellte einen Krug vor Hendrick hin und meinte: »Wir haben dieses Monat viel Stein zusammen gebrochen, was, Schakal?« »Und nächstes Monat werden wir noch viel mehr zusammen brechen, was, Pavian?« Beide brachen in schallendes Gelächter aus und hoben die Bierkrüge, um sie unisono in einem Zug zu leeren. Zama war der erste Zulu, der in die Bruderschaft der Büffel aufgenommen wurde, und das war gar nicht so selbstverständ lich, denn Stammesbarrieren waren schwerer zu überwinden als Gebirgsketten. Drei Monate vergingen, bevor Hendrick seinen Bruder wie dersah, aber bis dahin hatte er seinen Einfluß auf das ganze Arbeiterlager der CRC ausdehnen können. Zama war sein Ad jutant, und Männer von den verschiedensten Stämmen, Zulus, Shangaans, Matabele, gehörten jetzt zu den Büffeln. Einzige Bedingung für eine Neuaufnahme war, daß die Männer zuver 415
lässig und hart waren und womöglich wenigstens auf eine Gruppe innerhalb der achttausend schwarzen Grubenarbeiter Einfluß hatten oder einen Vertrauensposten in der Minenver waltung bekleideten: Schreiber oder Vorarbeiter oder Gruben polizei. Ein paar der Männer schlugen das Angebot der Bruderschaft ab. Einer von ihnen, ein alter Zuluvorarbeiter mit dreißig Dienstjahren und einem unangebrachten Pflichtgefühl gegen über seinem Stamm und dem Unternehmen fiel einen Tag nach seiner Weigerung in eine der Goldrutschbahnen auf der sech zigsten Ebene des Hauptschachtes. Sein Körper wurde von dem tonnenschweren Gestein, das über ihn hinwegrollte zu Brei zerquetscht. Anscheinend hatte den Unfall niemand beo bachtet. Einer der höheren mineneigenen Polizisten, der den Schmei cheleien der Bruderschaft ebenfalls widerstand, wurde ersto chen in seinem Wächterhäuschen am Haupttor gefunden, wäh rend ein anderer in der Küche verbrannte. Drei Büffel waren Zeugen des letzteren unglücklichen Vorfalls, der einzig durch die Ungeschicklichkeit und Unaufmerksamkeit des Opfers ver ursacht worden war, und von da an gab es keine Weigerungen mehr. Als der Bote von Moses schließlich kam, sich durch das Ge heimzeichen und den Handschlag zu erkennen gegeben hatte und Hendrick die Aufforderung zu einem Treffen brachte, konnte Hendrick das Minengelände ohne jede Kontrolle verlas sen. Durch eine Verordnung der Regierung durften die schwarzen Minenarbeiter sich nur innerhalb des mit Stacheldraht umzäun ten Areals der Lager frei bewegen. Die Bergwerkskammer und die Stadtväter von Johannesburg waren einhellig der Meinung, daß es nur Unheil heraufbeschwören würde, wenn man Zehn tausende von Schwarzen auf den Goldfeldern umherstreifen ließ. Hendrick aber passierte die Tore des CRC-Lagers, als 416
wäre er unsichtbar. Er überquerte beim Schein der Sterne das offene Grasland, suchte den zugewachsenen Pfad und folgte ihm bis zu dem alten aufgelassenen Grubenschacht. Hinter dem verrosteten Wellblechschuppen parkte ein schwarzer Ford Se dan. Als Hendrick sich vorsichtig näherte, flammten die Scheinwerfer auf, und Hendrick blieb geblendet stehen. Dann verloschen die Lichter wieder, und Moses’ Stimme ertönte aus der Dunkelheit. »Ich grüße dich, mein Bruder.« Sie umarmten einander impulsiv, und Hendrick meinte la chend: »Aha! Du fährst also jetzt ein Auto, ganz wie ein weißer Mann.« »Der Wagen gehört Bomvu.« Moses führte ihn zu dem Auto, und Hendrick ließ sich auf den Ledersitz fallen und seufzte behaglich. »Das ist besser als gehen.« Moses hörte kommentarlos zu, bis Hendrick seinen langen Bericht beendet hatte. Dann nickte er. »Du hast verstanden, was ich will. Die Bruderschaft muß Männer aus allen Stämmen aufnehmen, nicht nur Ovambos. Wir müssen jeden Stamm und jede Ecke des Goldfeldes errei chen können.« »Das hast du alles schon einmal gesagt«, brummte Hendrick. »Aber du hast mir nie erklärt, warum, mein Bruder. Ich ver traue dir, aber die Männer, die ich um mich versammelt habe, sehen mich an und stellen eine einzige Frage. Sie fragen mich: Was haben wir davon? Was gibt uns diese Bruderschaft?« »Und was antwortest du ihnen, mein Bruder?« »Ich sage ihnen, daß sie Geduld haben müssen.« Hendrick runzelte die Stirn. »Ich weiß die Antwort nicht, aber ich tue so, als wüßte ich sie. Und wenn sie zu bohren anfangen wie Kinder – nun, dann schlage ich sie wie Kinder.« Moses lachte begei stert, aber Hendrick schüttelte den Kopf. »Lach nicht, mein Bruder, lange kann ich sie nicht mehr schlagen.« 417
Moses klopfte ihm auf die Schulter. »Das wirst du auch nicht mehr lange müssen. Aber sag mir jetzt, Hendrick, was hast du in den Monaten, seit du bei CRC arbeitest, am meisten ver mißt?« »Eine Frau unter mir«, antwortete Hendrick. »Das sollst du haben, noch bevor die Nacht um ist. Und was noch, mein Bruder?« »Das Feuer von gutem Schnaps im Bauch, nicht die dünne Brühe aus der Bierhalle im Lager.« »Damit, mein Bruder«, erklärte Moses ernst, »hast du deine Frage selbst beantwortet. Das sind die Dinge, die deine Männer durch die Bruderschaft erhalten. Das sind die Reste der Beute, die wir unseren Jagdhunden vorwerfen werden: Frauen und Schnaps und natürlich Geld. Aber für die von uns, die an der Spitze der Büffel stehen, wird es mehr geben, viel mehr.« Er ließ den Motor des Wagens an. Die Goldadern von Witwatersrand bilden einen weiten, etwa hundert Kilometer langen Bogen. Die älteren Minen wie Hast Daggafontein liegen im östlichen Teil des Bogens, dort wo die Goldader ursprünglich zutage trat, die neueren Minen im We sten, wo die Ader abrupt steil in große Tiefe hinunterführt. Aber diese tiefgelegenen Minen, wie Blyvooruitzicht, sind un geheuer reich. Moses fuhr den schwarzen Ford nach Süden, fort von den Minen und den Straßen und Gebäuden des weißen Mannes. Die Straße, der sie folgten, wurde allmählich schmäler und holpri ger. Schließlich änderte sie die Richtung und verlor sich in einem Labyrinth von Pfaden und Feldwegen. Die Lichter der Stadt blieben hinter ihnen zurück, aber vor ihnen tauchte eine andere Beleuchtung auf: das Licht hunderter Lagerfeuer. Diese Lagerfeuer brannten vor Hüten aus Teerpap pe und altem Wellblech, die so dicht nebeneinander standen, daß nur schmale Pfade zwischen ihnen hindurchführten. »Wo sind wir?« fragte Hendrick. 418
»Wir sind in einer Stadt, die kein Mensch kennt, mit Men schen, die nicht existieren.« Hendrick erblickte flüchtig ihre dunklen Gestalten, als der Ford zwischen den Baracken und Hütten hindurchholperte und die Scheinwerfer hin und wieder einzelne Szenen beleuchteten: eine Gruppe schwarzer Kinder, die mit Steinen nach einem herrenlosen Hund warfen; ein Körper, der betrunken oder tot neben dem Weg lag; eine Familie an einem der Lagerfeuer, die von Blechtellern aß und mit großen, glänzenden Augen er schrocken in die Scheinwerfer blinzelte. Hunderte waren zu sehen, die Gegenwart von Tausenden zu spüren. »Das ist Drake’s Farm«, erklärte Moses. »Eine der Siedler gemeinden, die das Goldi des weißen Mannes umgeben.« »Wie viele Menschen leben hier?« »Fünftausend, zehntausend. Niemand weiß es, niemand fragt danach.« Moses hielt den Ford an und schaltete die Scheinwer fer und den Motor ab. Moses stieg aus und rief einen Befehl in die Dunkelheit. Ein halbes Dutzend dunkler Gestalten kam aus den Hütten herange laufen. Hendrick erkannte, daß es Kinder waren, wenn ihr Ge schlecht und ihr Alter auch nicht eindeutig festzustellen war. »Bewacht meinen Wagen«, befahl Moses und warf ein klei nes Geldstück hoch, das im Feuerschein kurz aufblitzte, bevor eines der Kinder es auffing. »Eh he Babal« quiekten sie, und Moses führte seinen Bruder etwa hundert Meter weit zwischen den Hütten hindurch. Sie erreichten ein langes niedriges Gebäude, einen primiti ven, aus verschiedensten Materialien zusammengeflickten Schuppen. Moses klopfte an die Tür. Der Lichtstrahl einer Lampe traf sein Gesicht, bevor die Tür aufgemacht wurde. »So, mein Bruder.« Moses ergriff Hendrick am Arm und zog ihn über die Schwelle. »Jetzt lernst du deine erste Kneipe ken nen. Hier bekommst du alles, was ich dir versprochen habe: Frauen und Schnaps im Überfluß.« 419
Der Schuppen war bis zum Bersten mit Menschen gefüllt, die so dicht standen und saßen, daß die hintere Wand durch den Nebel aus blauem Zigarettenrauch nicht zu erkennen war. Man mußte schreien, um sich verständlich machen zu können. Die schwarzen Gesichter glänzten vor Schweiß und Erregung. Die Männer waren Minenarbeiter, die tranken, sangen, lachten und die Frauen begrapschten. Einige von ihnen waren schon ziem lich betrunken, ein paar lagen auf dem Boden in ihrem eigenen Erbrochenen. Die Frauen stammten von verschiedenen Stäm men, hatten ihre Gesichter in der Art weißer Frauen angemalt und trugen dünne, buntgemusterte Kleider. Sie sangen, tanzten und wackelten mit den Hüften, suchten sich die Männer mit Geld und zogen sie durch die Türen im Hintergrund des Schuppens hinaus. Moses brauchte sich nicht mit Gewalt durch die Menschen menge zu drängen. Fast wie durch ein Wunder öffnete sie sich von selbst vor ihm, und viele der Frauen begrüßten ihn ehrer bietig. Hendrick blieb dicht hinter seinem Bruder und war voll der Bewunderung, daß Moses nach den drei kurzen Monaten seit ihrer Ankunft in Witwatersrand bereits eine allgemein be kannte Persönlichkeit war. Vor der Tür am anderen Ende der Kneipe stand ein häßlicher, narbengesichtiger Kerl Wache. Auch dieser erkannte Moses und klatschte zur Begrüßung in die Hände, bevor er die Zelt plane beiseite schob, um sie in den hinteren Raum zu lassen. Dieser Raum war nicht so überfüllt, und es gab Tische und Bänke für die Kunden. Die Mädchen standen alle noch in der Blüte der Jugend, hatten leuchtende Augen und frische Gesich ter. Eine dicke schwarze Frau saß an einem Tisch in der Ecke. Die Züge ihres runden Mondgesichts verschwanden unter einer dicken Fettschicht. Dunkle, bernsteinfarbene Haut spannte sich über eine riesige Leibesfülle. Auch um ihre Handgelenke lagen Fettwülste. Auf dem Tisch vor ihr lagen in geordneten Stößen Gold- und Silbermünzen und Stapel vielfarbiger Banknoten. 420
Als sie Moses sah, blitzten ihre schneeweißen Zähne. Sie er hob sich schwerfällig und watschelte breitbeinig auf ihn zu. Sie begrüßte ihn wie einen Stammeshäuptling, indem sie ihre Stirn mit der Hand berührte und respektvoll in die Hände klatschte. »Das ist Mama Nginga«, erklärte Moses Hendrick. »Sie ist die größte Kneipenwirtin und Bordellherrin in Drake’s Farm. Bald wird sie auch die einzige hier sein.« Erst jetzt fiel Hendrick auf, daß er die meisten Männer an den Tischen kannte. Sie waren alle Büffel, die mit ihm im WenelaZug den Bruderschaftseid geschworen hatten. Sie begrüßten ihn mit aufrichtiger Freude und stellten ihn den Fremden in ihrer Mitte vor. »Das ist Henry Tabaka. Der Mann, der Tschayela, den wei ßen Aufseher, erschlagen hat.« Hendrick sah den augenblicklichen Respekt in den Augen der neuen Büffel. Es waren Männer aus den anderen Minen entlang der Goldader, die von den Büffeln angeworben worden waren. »Mein Bruder hat seit drei Monaten keine Frau und keinen guten Schnaps mehr gehabt«, erklärte Moses, als er sich am oberen Ende des mittleren Tisches niederließ. »Mama Nginga, wir möchten nichts von deinem Skokiaan. Sie macht ihn selbst«, erklärte er Hendrick laut, »und gibt Karbid, Methylal kohol, tote Schlangen und Fehlgeburten hinein, um ihm Schär fe und Geschmack zu geben.« Mama Nginga kreischte vor Lachen. »Mein Skokiaan ist von Fordsburg bis Bapsfontein berühmt. Sogar ein paar weiße Männer – die Mabuni – kaufen ihn.« »Für die ist er gut genug«, stimmte Moses zu, »aber nicht für meinen Bruder.« Mama Nginga schickte eines der Mädchen mit einer Flasche Kapbrandy zu ihnen, und Moses legte dem jungen Mädchen den Arm um die Hüften. Er öffnete ihre bunte Bluse, so daß ihre großen runden Brüste zum Vorschein kamen und im Schein der Lampen glänzten wie nasse Kohlen. 421
»Das ist es, womit wir anfangen, meine Büffel: ein Mädchen und eine Flasche«, erklärte er ihnen. »Es gibt fünfzigtausend einsame Männer in Goldi, fern von ihren Frauen und hungrig nach süßem jungen Fleisch. Es gibt fünfzigtausend Männer, die von ihrer Arbeit unter Tage durstig sind, und die weißen Män ner verbieten ihnen, ihren Durst mit dem hier zu stillen.« Er schüttelte die Flasche mit der goldfarbenen Flüssigkeit. »Es gibt fünfzigtausend geile und durstige Männer in Goldi, und alle haben Geld in den Taschen. Die Büffel werden ihnen ge ben, was sie sich wünschen.« Er schubste das Mädchen auf Hendricks Schoß, und sie wand sich mit gekonnt gespielter Lust in seinen Armen und drückte ihre glänzenden schwarzen Brüste an sein Gesicht. Als der Morgen über der weitläufigen Barackenstadt von Drake’s Farm heraufdämmerte, gingen Moses und Hendrick auf dem stinkenden Pfad zwischen den Hütten zu ihrem Wagen zurück. Die Kinder bewachten ihn noch immer wie Schakale die Beute eines Löwen. Die Brüder hatten die ganze Nacht im Hinterzimmer von Mama Ngingas Kneipe gesessen und die vorbereitenden Maßnahmen besprochen. Jedem ihrer Adjutan ten waren ein Gebiet und bestimmte Aufgaben zugeteilt wor den. »Aber es gibt noch viel Arbeit zu tun, mein Bruder«, erklärte Moses, als er den Ford in Bewegung setzte. »Wir müssen den Schnaps und die Frauen auftreiben. Wir werden alle kleinen Kneipen und Bordelle wie Ziegen in unseren Kral treiben müs sen, und es gibt nur eine Möglichkeit, das zu schaffen.« »Ich weiß, wie das gemacht wird«, nickte Hendrick. »Und wir haben ein Impi, um es zu schaffen.« »Und einen Induna, einen General, der das Impi komman diert.« Moses blickte Hendrick bedeutsam an. »Nun ist es an der Zeit, daß du CRC verläßt, mein Bruder. Du wirst deine Kraft nicht mehr darauf vergeuden, für die Almosen des wei ßen Mannes unter Tag Stein zu brechen. Von nun an wirst du 422
Köpfe brechen, und zwar für Macht und großen Reichtum.« Er lächelte dünn. »Du wirst deinen kleinen weißen Steinen nie wieder nachtrauern müssen. Ich gebe dir mehr, viel mehr.« Marcus Archer sorgte dafür, daß Hendricks Arbeitsvertrag mit CRC annulliert wurde und er Reisepapiere für einen der Sonderzüge erhielt, mit denen die zurückkehrenden Minenar beiter in ihre Heimatdörfer zurückgebracht wurden. Aber Hen drick bestieg diesen Zug nie. Statt dessen tauchte er in der schattenhaften Halbwelt der Barackenstädte unter. Mama Nginga stellte ihm eine der Hütten hinter ihrer Kneipe zur Verfügung, und eines ihrer Mädchen war immer zur Stelle, seine Wäsche zu waschen, sein Essen zu kochen und sein Bett zu wärmen. Sechs Tage nach seiner Ankunft in Drake’s Farm begann die Büffeltruppe ihren Feldzug. Das Ziel war genau besprochen, so daß es keinerlei Unklarheiten gab. Drake’s Farm sollte zu ihrer Zitadelle werden. In der ersten Nacht brannten zwölf der gegnerischen Kneipen nieder. Ihre Besitzer verbrannten mit ihnen, ebenso jene Kun den, die zu betrunken waren, um aus den brennenden Hütten zu kriechen. Drake’s Farm lag weit außerhalb des Gebiets, wo die Feuerwehren des weißen Mannes im Einsatz waren, daher wurde kein Versuch unternommen, die Flammen zu bekämp fen. Fast alle Mädchen konnten den Flammen entkommen. Jene, die gerade bei der Arbeit waren, als das Feuer ausbrach, liefen, die Kleider in der Hand, nackt nach draußen und klagten laut über den Verlust all ihrer irdischen Besitztümer und Ersparnis se. Doch freundliche, besorgte Männer waren zur Stelle, sie zu trösten und zu Mama Ngingas Kneipe zu bringen. Innerhalb von achtundvierzig Stunden waren die Kneipen über der Asche der niedergebrannten wieder aufgebaut, und die Mädchen kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Ihr Los hatte sich bedeutend verbessert. Sie waren gut genährt und gekleidet 423
und hatten ihre eigenen Büffel, die sie vor ihren Kunden be schützten, damit diese sie nicht betrogen oder mißhandelten. Wenn sie sich allerdings vor der Arbeit drückten oder selbst zu betrügen versuchten, wurden sie tüchtig verprügelt. Aber das erwarteten sie, es gab ihnen das Gefühl, Teil der Bruderschaft zu sein, und ersetzte ihnen die Väter und Brüder, die sie in ih ren Reservaten zurückgelassen hatten. Hendrick erlaubte ihnen, eine festgesetzte Summe von dem Geld, das sie verdienten, zu behalten, und sorgte dafür, daß seine Männer dies respektierten. »Großzügigkeit bringt Treue und Beständigkeit«, erklärte er seinen Büffeln und weitete seine »Freudenhauspolizei« aus, um auch seine Kunden und alle Bewohner in Drake’s Farm zu schützen. Innerhalb kürzester Zeit gab es keine Straßenräuber, Taschendiebe, Wegelagerer und andere Schmalspurgauner mehr. Die Schnapsqualität wurde ebenfalls besser. Das Schnapsbrennen erfolgte nur noch unter Mama Ngingas per sönlicher Aufsicht. Hendricks Männer waren stets dabei, wenn ein Bus oder Zug aus den Landbezirken ankam, und brachten die jungen schwar zen Mädchen, die aus ihren Dörfern davongelaufen waren, nach Drake’s Farm. Als die Nachfrage stieg und der Nach schub nicht mehr Schritt halten konnte, schickte Hendrick sei ne Männer in die Landbezirke und Dörfer, um Mädchen mit süßen Worten und Versprechungen anzuwerben. »Nun, mein Bruder, vermißt du noch immer deine kleinen weißen Steine?« fragte Moses nach den ersten zwei Jahren ih rer Tätigkeit in Drake’s Farm. »Es ist alles, wie du es versprochen hast«, erwiderte Hen drick grinsend. »Wir haben alles, was sich ein Mann nur wün schen kann.« »Du bist viel zu leicht zufriedenzustellen«, tadelte ihn Moses. »Gibt es denn noch mehr?« fragte Hendrick mit erwachendem Interesse. 424
»Wir haben gerade erst angefangen«, erklärte Moses. »Was kommt als nächstes, mein Bruder?« »Hast du je von einer Gewerkschaft gehört?« fragte Moses. »Weißt du, was das ist?« Hendrick dachte stirnrunzelnd nach. »Ich weiß, daß die wei ßen Männer in der Mine Gewerkschaften haben, und die wei ßen Männer bei der Eisenbahn ebenfalls. Diese Gewerkschaf ten sind Sache der weißen Männer, das geht uns nichts an.« »Du irrst, mein Bruder«, widersprach Moses ruhig. »Die Afrikanische Grubenarbeitergewerkschaft geht uns sehr wohl etwas an. Sie ist der Grund, warum du und ich nach Goldi ge kommen sind.« »Ich dachte, wir wären des Geldes wegen gekommen.« »Fünftausend Gewerkschaftsmitglieder, die jede Woche ei nen Schilling Gewerkschaftsbeitrag zahlen – ist das etwa kein Geld?« fragte Moses und lächelte, als er seinen Bruder rechnen sah. »Das ist tatsächlich eine Menge Geld!« Moses hatte aus seinen erfolglosen Versuchen, in der H’aniMine eine Grubenarbeitergewerkschaft zu gründen, gelernt. Die schwarzen Grubenarbeiter waren einfältige Seelen ohne eine Spur von politischem Bewußtsein. Stammestreue spaltete sie. Sie sahen sich nicht als Teil einer einzigen Nation. »Das Stammesgefühl ist das größte Hindernis auf unserem Weg«, erklärte Moses. »Wären wir ein einiges Volk, dann wä ren wir wie ein schwarzer Ozean – grenzenlos in unserer Macht.« »Aber wir sind kein einiges Volk«, warf Hendrick ein. »Ebensowenig wie die weißen Männer ein einiges Volk sind. Ein Zulu ist so verschieden von einem Ovambo wie ein Schotte von einem russischen Kosaken oder ein Afrikaner von einem Engländer.« »Ah!« Moses lächelte. »Ich sehe, du hast die Bücher gelesen, die ich dir gegeben habe.« 425
»Nun sag mir, wie du einen Zulu dazu bringen willst, einen Ovambo Bruder zu nennen«, wollte Hendrick wissen. »Es ist möglich. Das russische Volk war genau so uneinig wie die schwarzen Völker in Afrika. Aber unter einem großen Führer wurde es zu einer einzigen Nation und stürzte eine Dik tatur, die noch viel schlimmer war als die, unter der wir leiden. Das schwarze Volk braucht einen Führer, der weiß, was gut für es ist und es auf diesem Weg leitet, selbst wenn Zehntausende oder eine Million dabei sterben müssen.« »Ein Führer wie du, mein Bruder?« fragte Hendrick, und Moses lächelte sein entrücktes, rätselhaftes Lächeln. »Zuerst die Grubenarbeitergewerkschaft«, sagte er. »Ein Schritt nach dem anderen, wie bei einem Kind, das Gehen lernt. Das Volk muß zu dem gezwungen werden, was auf lange Sicht gut ist.« Hendrick schüttelte seinen großen runden Kahlkopf. »Was ist es, wonach wir streben, mein Bruder? Ist es Reichtum oder Macht?« »Wir haben Glück«, antwortete Moses. »Du willst Reichtum, und ich will Macht. Auf dem Weg, den ich gewählt habe, wird jeder von uns bekommen, was er sich wünscht.« Trotz der rücksichtslos vorgehenden Büffel in den einzelnen Minen ging der Prozeß gewerkschaftlicher Organisation ent täuschend schleppend voran. Gezwungenermaßen mußte vieles heimlich unternommen werden. Außerdem gab es starken Wi derstand unter den Arbeitern selbst, die natürlich den neuen Gewerkschaftsfunktionären, die allesamt Büffel waren und nicht gewählt, sondern ernannt, Mißtrauen und Argwohn ent gegenbrachten. Ein Arbeiter opferte zudem nicht gern einen Teil seines hartverdienten Lohnes für etwas, das er nicht verstand. Doch mit Dr. Marcus Archer, der sie unterstützte und beriet, und Hendricks Büffeln, die die Sache vorantrieben, wurden die Arbeiter aller Minen allmählich gewerkschaftlich organisiert. 426
Es gab natürlich Zwischenfälle, und einige Männer starben, aber am Ende gehörten der Afrikanischen Minenarbeiterge werkschaft über zwanzigtausend zahlende Mitglieder an. Die Bergwerkskammer, die die Interessen der Bergwerksbe sitzer vertrat, wurde schließlich vor vollendete Tatsachen ge stellt. Anfangs war die Kammer alarmiert; ihr erster Impuls war, dieses Geschwür augenblicklich auszurotten. Doch die Kammermitglieder waren in erster Linie Geschäftsleute und hauptsächlich daran interessiert, das gelbe Metall so einfach wie möglich an die Erdoberfläche zu schaffen und regelmäßig Dividenden an ihre Aktionäre auszuschütten. Sie erkannten, wie sehr ein Arbeitskampf ihren Interessen zuwiderliefe, daher leiteten sie vorsichtig erste inoffizielle Gespräche mit der nichtexistierenden Gewerkschaft ein und waren äußerst dank bar, einen selbsternannten Generalsekretär vorzufinden, der ein intelligent artikulierender und vernünftiger Mensch zu sein schien. In seinen Ausführungen war keine Spur von bolschewisti scher Denkweise, und anstatt sich radikal und angriffslustig zu geben, war er kooperativ und ehrerbietig. »Das ist ein Mann, mit dem wir zusammenarbeiten können«, erklärten sie einander. »Er scheint Einfluß zu haben. Wir hätten ohnehin einen Arbeitersprecher gebraucht, und er scheint recht anständig zu sein. Wir hätten es schlechter treffen können. Mit diesem Mann können wir fertigwerden.« Und wirklich erzielten sie schon auf den allerersten Tagun gen ausgezeichnete Ergebnisse und konnten ein paar kleine, lästige Probleme zur Zufriedenheit der Gewerkschaft und zu gunsten der Minenbesitzer lösen. Von da an hatte die inoffizielle, nicht anerkannte Gewerk schaft die stillschweigende Billigung der Bergwerkskammer, und wenn ein Problem mit den Arbeitern auftauchte, ließ die Kammer Moses Gama rufen, und das Problem wurde rasch be reinigt. Sooft das geschah, wurde Moses’ Stellung gefestigter. 427
Und natürlich gab es niemals auch nur das leiseste Anzeichen für einen Streik oder eine andere Form des Arbeitskampfes auf Seiten der Gewerkschaft. »Begreift ihr, meine Brüder?« erklärte Moses auf der ersten Versammlung des Zentralkomitees der Afrikanischen Minen arbeitergewerkschaft, die in Mama Ngingas Kneipe stattfand. »Wenn sie uns jetzt, solange wir noch schwach sind, angreifen, sind wir für alle Zeiten vernichtet. Dieser Smuts ist ein Teufel, und er ist der wahre Stahl im Speer der Regierung. Er hat nicht gezögert, seine Truppen 1922 mit Maschinengewehren gegen die streikenden weißen Gewerkschafter einzusetzen. Was wür de er erst mit schwarzen Streikenden machen, meine Brüder? Er würde die Erde mit unserem Blut tränken. Nein, wir müssen sie in Sicherheit wiegen. Geduld war schon immer die größte Stärke unseres Volkes. Wir haben hundert Jahre Zeit, während der weiße Mann nur dem Tag lebt. Mit der Zeit bauen die schwarzen Ameisen im Busch ihre Hügel und verschlingen den Kadaver eines Elefanten. Die Zeit ist unsere Waffe und der Feind des weißen Mannes. Geduld, meine Brüder, und der weiße Mann wird eines Tages entdecken, daß wir keine Ochsen sind, die sich vor sein Fuhrwerk spannen lassen. Er wird ent decken, daß wir schwarzmähnige Löwen sind, Raubtiere, die mit Vorliebe weißes Fleisch essen.« »Wie rasch die Jahre vergangen sind, seit wir in Tschayelas Zug aus der Wüste im Westen zu den glänzenden Bergen von Goldi gekommen sind.« Hendrick betrachtete die Halden am Horizont, während Moses den alten Ford durch den spärlichen Sonntagvormittagverkehr steuerte. Die Straße führte an dem welligen Grundstück des Country Clubs von Johannesburg vorbei. Weiter hinten zwischen den Bäumen leuchteten die weißen Mauern des Clubhauses, und Moses verlangsamte die Geschwindigkeit, bog auf das Grund 428
stück ein und folgte der Straße über den kleinen ausgetrockne ten Sand Spruit, wo ein Hinweisschild mit der Aufschrift »Ri vonia Farm« stand. Die Straße führte zu einer Gruppe von Kleinlandbesitzungen von jeweils fünf bis zehn Morgen Größe. Dr. Marcus Archers Gut lag ganz am Ende der Straße. Er unternahm gar nicht den Versuch, das Land zu bewirtschaften. Er hatte keine Hühner, Pferde oder Gemüsegärten wie die anderen Kleinlandbesitzer. Das Haus war viereckig und schlicht, mit einem löchrigen Strohdach und einer breiten Veranda an jeder der vier Seiten. Eine schüttere Reihe von australischen Gummibäumen schirm te das Gebäude gegen die Straße zu ab. Unter den Gummibäumen parkten vier andere Autos. Moses bog von der Straße ab und hielt an. »Ja, mein Bruder, die Jahre sind rasch vergangen«, pflichtete er bei. »Seit der Revolution in Rußland sind neunzehn Jahre vergangen, und Trotzki ist verbannt worden. Hitler hat das Rheinland besetzt, und in Eu ropa wird von Krieg gesprochen – einem Krieg, der den Fluch des Kapitalismus für immer auslöschen wird und aus dem sieg reich die Revolution hervorgehen wird.« Hendrick lachte. »Diese Dinge gehen uns doch nichts an.« »Du irrst wieder einmal, mein Bruder. Sie gehen uns sehr wohl etwas an.« »Das verstehe ich nicht.« »Dann werde ich dir helfen.« Moses berührte seinen Arm. »Komm, mein Bruder. Ich führe dich nun zur nächsten Stufe in deinem Weltverständnis.« Er öffnete die Wagentür, Hendrick stieg auf seiner Seite aus und folgte ihm zum Haus. »Es wird das beste sein, mein Bruder, wenn du Augen und Ohren offenhältst und den Mund geschlossen«, meinte Moses, als sie die Verandastufen erreichten. »Auf diese Weise wirst du viel erfahren.« Als sie die Stufen hinaufstiegen, kam Marcus Archer aus dem Haus geeilt, um sie zu begrüßen. Sein Gesicht strahlte vor 429
Freude, als er Moses sah, er kam ihm entgegen und umarmte ihn liebevoll, bevor er sich, den Arm um Moses Taille gelegt, an Hendrick wandte. »Sie müssen Hendrick sein. Wir haben oft von Ihnen gespro chen.« »Wir sind uns schon einmal begegnet, Dr. Archer, damals im Auffangzentrum.« »Das ist schon so lange her.« Marcus Archer schüttelte ihm die Hand. »Und nennen Sie mich einfach Marcus. Sie sind ein Mitglied unserer Familie.« Er sah Moses an, und seine innige Liebe war augenscheinlich. Hendrick wußte, daß Moses hier in Rivonia Farm mit Marcus zusammenlebte, und dieses Verhältnis flößte ihm keinerlei Ab scheu ein. Er begriff, wie lebenswichtig Marcus Archers Unter stützung und Beratung für ihre Erfolge in den vergangenen Jahren gewesen war, und er billigte den Preis, den Moses dafür bezahlte. Hendrick hatte selbst schon Männer in dieser Weise behandelt, allerdings als eine Art der Folter eines gefangenen Feinds. Seiner Ansicht nach gab es keine größere Demütigung und Schande für einen Mann, doch er wußte, daß er an seines Bruders Stelle nicht zögern würde, diesen seltsamen kleinen rothaarigen weißen Mann so zu behandeln, wie er behandelt werden wollte. »Es war sehr böse von Moses, daß er Sie nicht schon früher mitgebracht hat.« Marcus schlug Moses spielerisch auf den Arm. »Es sind so viele interessante und wichtige Leute hier, die Sie schon vor einer Ewigkeit kennenlernen hätten müssen. Nun denn, lassen Sie sie mich Ihnen vorstellen.« Er nahm Hendricks Arm und führte ihn in die Küche. Es war eine herkömmliche Bauernküche mit Steinboden, ei nem schwarzen Holzofen in der Ecke und Bündeln von Zwie beln, geräuchertem Schinken und Würsten, die an Haken von den Balken an der Decke hingen. Elf Männer saßen an dem langen Gelbholztisch. Fünf von ih 430
nen waren Weiße, die übrigen Schwarze, deren Alter von ganz jung bis sehr alt reichte. Marcus machte Hendrick nacheinan der mit jedem einzelnen bekannt, indem er mit dem Mann am oberen Ende des Tisches begann. »Das ist Reverend John Dube, besser bekannt unter dem Namen Mafukuzela.« Hendrick empfand eine ungewohnte Ehr furcht. »Hau, Baba!« begrüßte er den stattlichen alten Zulu respekt voll. Er wußte, daß er der politische Führer des Zuluvolkes war und gleichzeitig Gründer und Herausgeber der Zeitung »Ilanga Lase Natal« – »Die Sonne von Natal« –, aber was noch viel mehr bedeutete, war sein Amt als Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses, der einzigen politischen Organisation, die versuchte, Sprecher für alle schwarzen Nationen des südlichen afrikanischen Kontinents zu sein. »Ich kenne Sie«, sagte Dube ruhig. »Sie haben wertvolle Ar beit für die neue Gewerkschaft geleistet. Seien Sie uns will kommen, mein Sohn.« Die anderen Männer im Raum waren kaum von Interesse für Hendrick, abgesehen von einem jungen Schwarzen, der kaum älter als zwanzig sein konnte und Hendrick trotzdem durch seine Würde und seine starke persönliche Ausstrahlung beeindruckte. »Das ist unser junger Rechtsanwalt –« »Noch nicht! Noch nicht!« protestierte der junge Mann. »Unser Rechtsanwalt in spe«, verbesserte sich Marcus Ar cher, »Nelson Mandela, der Sohn von Häuptling Henry Mande la aus der Transkei.« Als sie sich in der Art des weißen Mannes die Hand schüttel ten, was für Hendrick noch immer ungewohnt war, schaute er dem jungen Jurastudenten in die Augen und dachte: Das ist ein junger Löwe. Die weißen Männer am Tisch machten nur wenig Eindruck auf Hendrick. Sie waren Rechtsanwälte, einer ein Journalist und einer ein Mann, der Bücher und Gedichte schrieb, von denen 431
Hendrick noch nie gehört hatte. Aber die anderen hielten sehr viel von seinen Ansichten. Das einzige, was Hendrick an diesen weißen Männern be merkenswert fand, war die Höflichkeit, mit der sie ihn behan delten. In einer Gesellschaft, in der ein weißer Mann die Exi stenz eines Schwarzen nur wahrnahm, um ihm Befehle zu erteilen, war es ungewöhnlich, auf so viel Rücksicht und Interesse zu stoßen. Das Gespräch bei Tisch interessierte Hendrick wenig, aber er heuchelte Aufmerksamkeit, als die anderen erregt über die Si tuation in Spanien diskutierten. Die Volksfrontregierung, eine Koalition aus Trotzkisten, Sozialisten, linken Republikanern und Kommunisten, war von einer Militärrevolte unter General Francisco Franco bedroht, und die Gesellschaft an Marcus Ar chers Eßtisch wetterte wutentbrannt gegen diesen faschisti schen Verrat. Es schien wahrscheinlich, daß das Spanien in einen Bürgerkrieg stürzen würde. Es gab viele Anspielungen auf »die Partei« im Laufe dieses langen Sonntagnachmittags, und ganz allmählich wandte die Gesellschaft ihre ganze Aufmerksamkeit Hendrick zu, so als wäre das vorher abgesprochen worden. Hendrick war froh, daß Moses darauf bestanden hatte, daß er Teile aus »Das Kapital« und aus einigen Werken Lenins las. Hendrick hatte diese Wer ke zwar ungeheuer schwierig gefunden und nur teilweise ver standen, aber Moses hatte für ihn Auszüge aus diesen Werken angefertigt und ihm das Wesentliche von Marx und Lenins Ideen erklärt. Nun sprachen ihn die Männer der Reihe nach direkt an, und er erkannte, daß er einer Art von Test unterzogen wurde. Er warf Moses einen Blick zu, und obwohl sich seines Bruders Miene nicht veränderte, spürte er, daß er ihm etwas mitteilen wollte. Versuchte er Hendrick nahezulegen, weiter zu schwei gen? Er war nicht sicher, und in diesem Augenblick sagte Mar cus Archer auffallend laut: 432
»Natürlich ist die Bildung einer Gewerkschaft unter den schwarzen Minenarbeitern an sich ausreichend, um den schließlichen Triumph der Revolution zu sichern –« Sein Ton fall beinhaltete eine Frage, und er musterte Hendrick for schend. Hendrick wußte nicht bestimmt, woher ihm die Einge bung schließlich kam. »Da bin ich anderer Meinung«, brummte er, und alle schwie gen erwartungsvoll. »Die Geschichte des Klassenkampfes zeigt, daß die Arbeiter ohne Unterstützung nur zu einer Ge werkschaftsbewegung kommen, um ihre Kräfte zu vereinen und sie im Kampf gegen die Arbeitgeber und die kapitalisti sche Regierung einzusetzen. Aber es braucht geschulte, ihren Idealen durch absolute Loyalität und militärische Disziplin verbundene Revolutionäre, um den Kampf zu einem siegrei chen Abschluß zu führen.« Das war ein fast wörtliches Zitat aus Lenins »Was tun?«. Selbst Moses war erstaunt über diese Leistung, während die anderen begeisterte Blicke wechselten. Es genügte. Er mußte nicht noch einmal etwas sagen. Als der Abend anbrach, bedankten sich die anderen, verabschiedeten sich und tappten in der Dunkelheit zu ihren Autos. Moses hatte erreicht, was er bezweckte, indem er seinen Bruder zur Rivonia Farm mitnahm. Hendrick war nun als Vollmitglied in die Kommunistische Partei Südafrikas und in den Afrikanischen Nationalkongreß aufgenommen worden. Marcus Archer hatte Hendrick im Gästezimmer unterge bracht. Er lag in der Dunkelheit in dem schmalen Rollbett und hatte plötzlich die innere Gewißheit, daß an diesem Tag der Same zu seinem Schicksal gelegt worden war. Als er ein schlief, wurde er von einer Welle des Triumphes und des Grauens fortgetragen. 433
Moses weckte ihn, als es noch dunkel war, und Marcus be gleitete sie zum Wagen. Dort gab er Hendrick die Hand. »Vor an, Genosse«, sagte er. »Die Zukunft gehört uns.« Moses fuhr nicht auf direktem Wege zurück in die Stadt. Er stellte den Ford am Fuß einer der hohen flachrückigen Halden ab, und sie kletterten gemeinsam den steilen Abhang hinauf und erreichten den Gipfel, als die Sonne am Horizont aufging und die Landschaft in ein fahles goldenes Licht tauchte. »Verstehst du es jetzt?« fragte Moses, als sie Seite an Seite am Rand der Halde standen. Und so plötzlich wie die aufge hende Sonne sah Hendrick nun auch das ungeheure Endziel seines Bruders vor sich. »Du willst nicht nur einen Teil davon«, sagte er leise. Er breitete die Arme aus, um mit einer einzigen Geste alles, von Horizont zu Horizont, zu umschließen, was unter ihnen lag. »Du willst alles. Das ganze Land und alles in und auf ihm.« Moses lächelte. Sein Bruder hatte endlich verstanden. Sie stiegen wieder hinunter und gingen schweigend zu ihrem Wagen. Schweigend fuhren sie nach Drake’s Farm, denn es gab keine Worte, zu beschreiben, was geschehen war, so wie es kei ne passenden Worte gab, Geburt oder Tod zu beschreiben. Erst als sie den Stadtrand erreichten und vor einem Bahnübergang anhalten mußten, meldete die Realität dieser Welt sich wieder. Ein verwahrloster schwarzer Bengel, der vor Kälte zitterte, stürzte ans Seitenfenster des Wagens und wedelte mit einer Zeitung. Moses kurbelte das Fenster hinunter, warf dem Jungen eine Kupfermünze zu und legte die Zeitung auf den Sitz zwi schen ihnen. Hendrick faltete die Zeitung auseinander und hielt sie so, daß sie beide die Titelseite lesen konnten. Die Schlagzeile lief über die ganze Seite:
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DAS SÜDAFRIKANISCHE TEAM, DAS ZU DEN OLYM
PISCHEN SPIELEN NACH BERLIN
FÄHRT, STEHT FEST.
DIE NATION WÜNSCHT IHNEN VIEL GLÜCK.
»Diesen weißen Jungen kenne ich«, rief Hendrick und grin ste, als er Manfred auf einem der Bilder neben dem Text er kannte. »Ich auch«, sagte Moses. Aber sie meinten jeder ein anderes weißes Gesicht in der lan gen Reihe von Foto-Porträts. Manfred wußte natürlich, daß Onkel Tromp zu den unge wöhnlichsten Zeiten schlafenging. Immer wenn ihn seine Blase nach Mitternacht weckte und er aus dem Schuppen zum Klo sett an der Gartenhecke stolperte, sah er Licht in Onkel Tromps Arbeitszimmer. Manfred hatte stets angenommen, daß er an einer seiner Predigten arbeite, und es war ihm nie eigenartig erschienen, daß er das seit fast zwei Jahren Nacht für Nacht machte. Dann kam eines Morgens der farbige Postbote mit einem rie sigen Paket, das in braunes Packpapier gehüllt und mit Marken, Aufklebern und rotem Siegelwachs versehen war. Tante Trudi stellte das geheimnisvolle Paket auf den kleinen Vorzimmer tisch, und alle Kinder fanden einen Vorwand, um in die Halle zu schleichen und es ehrfürchtig anzustarren. Um fünf Uhr, als Onkel Tromp nach Hause kam, stürmten ihm die Mädchen entgegen und überbrachten ihm mit schrillen Stimmen die Neu igkeit, bevor er noch vom Kutschbock steigen konnte. »Da ist ein Paket für dich, Papa.« Alle umdrängten ihn, als er das Paket gemächlich begutachtete und laut die Aufkleber vorlas. Dann nahm er sein Federmesser aus der Tasche, fuhr mit dem Daumen absichtlich langsam prüfend über die Schneide der Klinge, durchschnitt 435
sam prüfend über die Schneide der Klinge, durchschnitt die Schnüre und wickelte vorsichtig das braune Packpapier auf. »Bücher!« seufzte Sarah, und die Mädchen verloren mit deutlich sichtbarer Enttäuschung jedes Interesse und machten sich davon. Nur Manfred blieb noch. Es waren sechs dicke Exemplare ein und desselben Buches, alle im gleichen roten Umschlag, auf dem in unechten Gold buchstaben der Titel prangte. Etwas an Onkel Tromps Beneh men und der ernsthafte Ausdruck, mit dem er Manfred anblick te, sagten ihm, daß es mit diesen Büchern eine besondere Be wandtnis habe. Manfred las den Titel und fand ihn lang und umständlich: »Der Afrikaner. Sein Platz in der Geschichte und in Afrika.« Das war in Afrikaans geschrieben, jener jungen Sprache, die noch immer um Anerkennung rang. Manfred fand das unge wöhnlich – alle bedeutenden wissenschaftlichen Werke waren in holländischer Sprache abgefaßt, selbst wenn ihr Autor ein Afrikaander war. Manfred wollte gerade eine Bemerkung dar über machen, als sein Blick auf den Namen des Autors fiel. »Onkel Tromp!« stieß er hervor. »Du hast das geschrieben!« »Ja, Jong – auch ein alter Hund kann noch neue Tricks ler nen.« Onkel Tromp nahm den Stoß Bücher auf den Arm und ging damit in sein Arbeitszimmer. Er stellte die Bücher in die Mitte seines Schreibtisches und blickte sich erstaunt um, als er merkte, daß Manfred ihm gefolgt war. »Tut mir leid, Onkel Tromp.« Manfred wurde sich seines Vergehens erst jetzt bewußt. Er war erst einmal in seinem Le ben in diesem Raum gewesen, und da nur auf besondere Einla dung. »Ich habe nicht gefragt. Darf ich bitte hereinkommen, Ohm?« »Sieht so aus, als wärst du schon drinnen.« Onkel Tromp versuchte streng zu blicken. »Dann kannst du ebensogut blei ben.« Manfred näherte sich, die Hände hinter dem Rücken ver 436
schränkt, dem Schreibtisch. In diesem Haus hatte man ihm einen tiefen Respekt vor dem geschriebenen Wort eingeflößt. Er hatte gelernt, daß Bücher der kostbarste Schatz des Men schen waren, die Gefäße seiner gottgegebenen Schöpferkraft. »Darf ich eines von ihnen berühren?« fragte er, und als On kel Tromp nickte, streckte er kühn die Hand aus, nahm das zuoberst liegende Buch in die Hand und erwartete jeden Au genblick, daß ihn der alte Mann ärgerlich anbrülle. Als das nicht geschah, schlug er das Buch auf und betrachtete die klei nen dunklen Buchstaben auf dem billigen gelben Papier. »Darf ich es bitte lesen, Onkel Tromp?« bettelte er schließ lich und war auf eine abschlägige Antwort gefaßt. Aber auf Onkel Tromps Gesicht zeigte sich nur Verwirrung. »Du möchtest es lesen?« sagte er, kniff überrascht die Augen zusammen und begann plötzlich zu kichern. »Nun ja, dafür habe ich es wohl geschrieben – damit die Leute es lesen.« Er grinste plötzlich wie ein übermütiger kleiner Junge und nahm Manfred das Buch aus der Hand. Er ließ sich an seinem Schreibtisch nieder, setzte die Brille auf, tauchte die Feder ins Tintenfaß und kritzelte etwas auf die erste Seite des Buches, las das Geschriebene noch einmal durch und reichte Manfred das Buch mit einer ausholenden Geste. »Für Manfred De La Rey, einen jungen Afrikaner, der seinen Teil dazu beitragen wird, daß der Platz unseres Volkes in der Geschichte und in Afrika auf ewig gesichert ist. In Liebe Dein Onkel Tromp Bierman« Das Buch an seine Brust drückend, ging Manfred rückwärts zur Tür, so als hätte er Angst, daß ihm das Buch wieder ge nommen werde. »Es gehört mir – es ist wirklich für mich?« flüsterte er. Und Onkel Tromp nickte. »Ja, Jong, es gehört dir«, sagte er, 437
drehte sich um und floh aus dem Zimmer, in der Eile sogar auf jeden Dank vergessend. Manfred las das Buch beim flackernden Schein der Kerze in drei Nächten aus. Immerhin waren es fünfhundert engbedruck te Seiten, mit Zitaten aus der Heiligen Schrift ausgeschmückt, aber der eigentliche Text war in einer einfachen, ernsten Spra che abgefaßt und traf Manfred direkt ins Herz. Als er fertig war, erfüllte ihn ein tiefer Stolz über den Mut, die Seelenstärke und die Frömmigkeit seines Volkes, und er kochte vor Wut über die grausame Art, in der sein Volk von seinen Feinden verfolgt und vertrieben worden war. So als habe die Wut des Jungen ihn erreicht und herbeigeru fen, kam Onkel Tromp in diesem Augenblick den Pfad heran geschritten und trat in den Schuppen. Er blieb auf der Schwelle stehen, um seine Augen an das Kerzenlicht zu gewöhnen, dann trat er an Manfreds Bett. Die Matratze bog sich quietschend durch, als er sich setzte. Sie blieben volle fünf Minuten schweigend sitzen, bevor On kel Tromp fragte: »Du hast es also geschafft, das Buch zu le sen?« Manfred hatte Mühe, wieder in die Wirklichkeit zurückzu finden. »Ich glaube, es ist das wichtigste Buch, das je geschrie ben worden ist«, flüsterte er. »Ebenso wichtig wie die Bibel.« »Das ist Blasphemie, Jong.« Onkel Tromp versuchte ein strenges Gesicht zu machen. Manfred fuhr eifrig fort: »Zum allerersten Mal weiß ich, wer ich bin – und warum ich hier bin.« »Dann war meine Mühe nicht ganz umsonst«, murmelte On kel Tromp, und sie schwiegen abermals, bis der alte Mann seufzte: »Ein Buch zu schreiben ist eine einsame Angelegen heit. Es ist, wie wenn du aus vollem Hals in die Nacht hinaus rufst, obwohl dort draußen in der Dunkelheit niemand ist, kei ner, der deinen Ruf hört, keiner der dir antwortet.« »Ich habe deinen Ruf gehört, Onkel Tromp.« 438
»Ja, Jong, das hast du – aber leider nur du.« Doch Onkel Tromp irrte sich. Es gab noch andere Horcher draußen in der Dunkelheit. Die Ankunft eines Fremden war ein Ereignis im Dorf. Die Ankunft von drei Fremden auf einmal war noch nie dagewesen und löste einen Sturm von Vermutungen und Gerüchten aus, die die ganze Bevölkerung in fieberhafte Neugierde stürzte. Die Fremden trafen mit dem wöchentlichen Postzug aus dem Süden ein. In feinen dunklen Wollstoff gekleidet und ihre Rei setaschen in der Hand, überquerten sie schweigend und mit steinernen Gesichtern die Straße zwischen dem Bahnhof und dem winzigen Gasthaus, das die Witwe Vorster betrieb. Man sah sie erst am Sonntagmorgen wieder, als sie in ihren schwar zen Anzügen und mit den weißen Kragen von Diakonen der Reformierten Holländischen Kirche Seite an Seite ernst und andächtig den ausgetretenen Weg zur Kirche hinuntergingen. Sie schritten durch die Kirche und nahmen wie selbstver ständlich auf der vordersten Bank unter der Kanzel Platz, und die Familien, die seit Generationen auf dieser Bank saßen, er hoben keinerlei Einwände, sondern suchten sich schweigend einen freien Platz in den hinteren Reihen. Das Gerücht von der Ankunft der Fremden – man nannte sie bereits »die drei Weisen« – war bis zu den entlegensten Höfen gedrungen, und auch jene Pfarrkinder, die seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen waren, hatte die Neugier herge lockt, so daß die Kirche zum Bersten voll war und einige sogar stehen mußten. Der Gesang war beeindruckend. Manfred stand neben Sarah und war so gerührt von der kristallklaren Reinheit ihrer süßen Stimme, daß er sich veranlaßt sah, sie mit seinem ungeschul ten, aber klingenden Tenor zu unterstützen. Selbst unter der tiefen Haube ihres Voortrekkerhutes sah sie aus wie ein Engel, 439
goldblond und lieblich, das Gesicht in religiöser Verzückung verklärt. Sie war jetzt vierzehn Jahre, und allmählich erblühte nun ihre Fraulichkeit, so daß Manfred jedesmal an einer eigen artigen Atemnot litt, wenn er sie über das Gesangbuch hinweg ansah. Onkel Tromps Predigten waren in ganz Südwestafrika be kannt und nach dem neuen Kino in Windhuk, das nur wenige von ihnen zu betreten gewagt hatten, die beste Unterhaltung in der ganzen Gegend. Und an diesem Tag war Onkel Tromp in Hochform, verärgert über die drei ernsten, geheimnisvollen Herren in der vordersten Reihe, die nicht einmal soviel An stand gezeigt hatten, dem Pfarrhaus einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Er stützte seine großen knochigen Fäuste auf die Kanzelbrüstung und beugte sich wie ein Preisboxer in An griffshaltung vor, dann blickte er mit grimmiger Verachtung auf seine Gemeinde hinab, und sie erbebten in genüßlichem Schaudern, weil sie genau wußten, was dieser Gesichtsaus druck zu bedeuten hatte. »Sünder!« brüllte Onkel Tromp mit einer Stimme, die im Gewölbe widerhallte, und die drei dunkel gekleideten Fremden fuhren von ihren Plätzen hoch, als wäre eine Kanone unter ih nen abgefeuert worden. »Das Haus Gottes ist mit reuelosen Sündern gefüllt –« Und schon war Onkel Tromp in Fahrt. Nach dieser Predigt strömten seine Schäfchen mit nervöser Erleichte rung aus der Kirche, ungewöhnlich geschwätzig und munter, so als hätten sie gerade eine tödliche Naturerscheinung, etwa ein Erdbeben oder einen Sturm auf hoher See, überlebt. Die drei Fremden verließen die Kirche als letzte, und an der Tür, wo Onkel Tromp wartete, um sie zu begrüßen, schüttelten sie ihm die Hand und sagten nacheinander ein paar leise und ernste Worte zu ihm. Onkel Tromp hörte ihnen aufmerksam zu, dann drehte er sich um, um sich kurz mit Tante Trudi zu beraten, bevor er sich ihnen wieder zuwandte. 440
»Es wäre eine Ehre für mich, wenn Sie mein Haus betreten und an meinem Tisch Platz nehmen würden.« Die vier Männer schritten in würdevoller Reihe zum Pfarr haus, und Tante Trudi folgte in respektvollem Abstand mit den Kindern. Sie erteilte den Mädchen im Gehen knappe Befehle, und kaum waren sie im Haus, liefen sie ins Eßzimmer, das nur zu besonderem Anlaß benutzt wurde, um die Vorhänge beiseite zu ziehen und das Eßgedeck aus der Küche auf dem aus dem Holz des Stinkbaums gefertigten Tisch aufzulegen, den Trudi von ihrer Mutter geerbt hatte. Die drei Fremden ließen nicht zu, daß ihr tiefschürfendes, ge lehrtes Gespräch durch eine angemessene Würdigung von Tan te Trudis Kochkünsten unterbrochen werde, und die Kinder am Ende der Tafel aßen in respektvoller, aber aufmerksamer Stille. Nach dem Essen tranken die Männer Kaffee und rauchten eine Pfeife auf der Veranda. Dann war es Zeit für den nächsten Got tesdienst. Der Text, den Onkel Tromp für seine zweite Predigt gewählt hatte, war »Der Herr hat einen geraden Pfad für euch in die Wildnis geschlagen«. Er trug ihn mit seiner ganzen Redekunst und Stimmgewaltigkeit vor, aber diesmal flocht er Passagen aus seinem Buch mit ein und versicherte seiner Gemeinde, daß der Herr sie zu seinem auserwählten Volk erkoren und ihnen einen eigenen Platz reserviert habe. Es läge nur an ihnen, die sen Platz in jenem Land, das ihr Erbe sei, zurückzufordern. Mehr als einmal sah Manfred, daß die drei strenggesichtigen Fremden in der vordersten Bank bedeutsame Blicke wechsel ten, während Onkel Tromp sprach. Die Fremden reisten mit dem Postzug am Montagmorgen ab, und in den Tagen und Wochen, die folgten, herrschte im Pfarr haus erwartungsvolle Stimmung. Onkel Tromp pflegte ganz gegen seine sonstige Gewohnheit jeden Morgen am Gartentor zu warten, um den Postboten zu begrüßen. Dann ging er rasch die Post durch, und jeden Tag wurde seine Enttäuschung deut 441
licher. Drei Wochen vergingen, bevor er das Warten auf den Postbo ten aufgab. Daher war er, als der Brief schließlich eintraf, ge rade mit Manfred im Schuppen, um ihm die FitzsimmonsSchlagkombination beizubringen, die Manfreds Linke mehr ins Spiel bringen sollte. Der Brief lag auf dem Vorzimmertisch, als Onkel Tromp ins Haus kam, um sich zum Mittagessen umzuziehen, und Man fred, der mit ihm das Haus betreten hatte, sah, wie er erbleich te, als er das Siegel des Moderators der Kirche auf dem Brief umschlag erkannte. Er griff nach dem Umschlag, eilte in sein Arbeitszimmer und schlug Manfred die Tür vor der Nase zu. Knarrend wurde der Schlüssel umgedreht. Tante Trudi mußte fast zwanzig Minuten mit dem Essen warten, bevor er wieder auftauchte. Sein Tischgebet, voll des Dankes und des Lobes, war doppelt so lang wie gewöhnlich. Sarah rollte mit den Au gen und schielte in komischer Verzweiflung über den Tisch zu Manfred, bis er sie mit einem strengen Blick warnte. Schließ lich dröhnte Onkel Tromp sein »Amen«. Doch er nahm seinen Suppenlöffel noch immer nicht zur Hand, sondern strahlte Tan te Trudi über die ganze Länge des Tisches an. »Meine liebe Frau«, sagte er, »du warst in all diesen Jahren geduldig und ergeben.« Tante Trudi wurde dunkelrot. »Nicht vor den Kindern, Men heer«, flüsterte sie, aber Onkel Tromps Lächeln wurde nur noch breiter. »Sie haben mir Stellenbosch gegeben«, erklärte er, und es wurde mucksmäuschenstill. Alle starrten ihn ungläubig an. Jeder von ihnen begriff, was das bedeutete. »Stellenbosch«, wiederholte Onkel Tromp und ließ das Wort wie den ersten Schluck eines edlen und seltenen Weines auf der Zunge zergehen. Stellenbosch war eine Kleinstadt, dreißig Meilen von Kap stadt entfernt. Die Häuser hatten holländische Giebel, Ziegel 442
dächer und schneeweiße Wände. Die Straßen waren breit und gesäumt mit den Eichen, die Gouverneur Van Stel im 17. Jahr hundert von seinen Bürgern hatte pflanzen lassen. Rund um die Stadt dehnten sich die Weingärten des großen Chateaux, dahin ter erhoben sich die steilen Felsen der Berge. Stellenbosch war eine hübsche und malerische Kleinstadt, gleichzeitig aber auch die allerletzte Festung des Afrikaander tums, verkörpert vor allem durch die Universität, deren Fakul tätsgebäude im Schutz der Berge zwischen den grünen Eichen standen. Die Stadt war das geistige Zentrum der Afrikaander. Hier war ihre Sprache geformt worden, wurde noch immer geformt. Hier dachten und diskutierten ihre Theologen. Tromp Bierman selbst hatte unter Stellenboschs verträumten Eichen studiert. All die großen Männer waren hier ausgebildet worden: Louis Botha, Hertzog, Jan Christian Smuts. Keiner, der je die Führung der Regierung der Südafrikanischen Union innegehabt hatte und nicht in Stellenbosch gewesen war. Und auch im Ka binett gab es nur sehr wenige, die nicht in Stellenbosch studiert hatten. Stellenbosch war das Oxford und Cambridge von Süd afrika. Und diese Pfarrei hatten sie Tromp Bierman gegeben! Er würde im Zentrum sitzen, er würde Macht ausüben und noch größere Macht in Aussicht haben. Er würde einer von den bewegenden Kräften werden, einer von den Neuerern. In Zu kunft war alles möglich: der Kirchenrat und sogar die Modera torenschaft selbst. Nichts lag nun außerhalb seiner Reichweite. Alles war möglich. »Es war das Buch«, hauchte Tante Trudi. »Das hätte ich nie gedacht. Ich habe nie verstanden –« »Ja, es war das Buch«, lachte Onkel Tromp. »Und dreißig Jahre harter Arbeit. Wir werden in das große Pfarrhaus in der Eikeboom Straat einziehen, mit einem Einkommen von tausend im Jahr. Jedes der Kinder hat ein eigenes Zimmer und einen Platz an der Universität, den die Kirche bezahlt. Ich werde vor den mächtigsten Männern des Landes und den hellsten Köpfen 443
unserer Jugend predigen. Ich werde im Universitätsrat sitzen. Und du, meine liebe Frau, wirst Professoren und Kabinettsmi nister zu Tisch laden, und ihre Frauen werden deine Freundin nen sein –« Er brach schuldbewußt ab. »Und nun wollen wir gemeinsam beten. Bitten wir Gott um Bescheidenheit, bitten wir ihn, uns vor der Todsünde des Stolzes und der Habsucht zu schützen. Nieder mit euch!« brüllte er. »Nieder auf die Knie.« Die Suppe war kalt geworden, als sie wieder aufstehen durf ten. Zwei Monate später reisten sie ab, nachdem Onkel Tromp seine Pflichten in die Hände des jungen Pastors gelegt hatte, der frisch von der Theologischen Fakultät jener Universität kam, an der der alte Mann von nun an lehren würde. Es schien, als wären alle Männer, Frauen und Kinder aus ei nem Umkreis von hundert Meilen zum Bahnhof gekommen, um sie zu verabschieden. Manfred hatte bis zu diesem Augen blick keine Ahnung davon gehabt, wie sehr Onkel Tromp von seiner Gemeinde geachtet und geschätzt wurde. Vier Tage später stieg die Familie am Zentralbahnhof in Kapstadt in einen anderen Zug um. Die Diakone der Kirche und die halbe Pfarrgemeinde waren auf dem Bahnsteig in Stel lenbosch versammelt, um sie zu begrüßen, und die Familie stellte sehr rasch fest, daß sich die Gangart ihres Lebens dra stisch änderte. Fast vom allerersten Tag an war Manfred ausschließlich da mit beschäftigt, sich auf die Aufnahmeprüfung an der Universi tät vorzubereiten. Er büffelte zwei Monate lang jeden Tag vom frühen Morgen bis spät in die Nacht und absolvierte dann eine qualvolle Woche lang die Prüfungen. Noch qualvoller war al lerdings die folgende Woche, in der er auf die Ergebnisse war ten mußte. Er bestand mit Auszeichnung in Deutsch, wurde Dritter in Mathematik und Achter in allen anderen Fächern. 444
Das gewohnheitsmäßige Studium, das er all die Jahre hindurch im Hause Bierman betrieben hatte, trug nun seine Früchte, und er wurde für das kommende Semester, das Ende Januar be gann, in die Juridische Fakultät aufgenommen. Tante Trudi war absolut dagegen, daß er das Pfarrhaus ver ließe, um in eines der Universitätshäuser für Männer zu ziehen. Sie erklärte, er habe nun ein schönes eigenes Zimmer, außer dem würden ihn die Mädchen sehr vermissen – ganz zu schweigen von ihr selbst, die ebenfalls sehr leiden würde. Und selbst bei dem fürstlichen Gehalt, das Onkel Tromp nunmehr beziehe, werde die Wohngebühr eine hohe Belastung für die Familienkasse darstellen. Onkel Tromp suchte den Universitätsregistrator auf und traf ein finanzielles Übereinkommen, das nie in der Familie be sprochen wurde, und stellte sich dann voll auf Manfreds Seite. »In einem Haus voller Frauen zu leben würde den Jungen mit der Zeit zum Wahnsinn treiben. Er soll dort leben, wo er von der Gesellschaft junger Männer und vom Universitätsleben profitieren kann.« So fand sich Manfred am fünfundzwanzigsten Januar im im posanten Haus mit dem Namen Rust en Vrede ein. Übersetzt hieß das »Ruhe und Frieden«, doch schon nach den ersten paar Minuten in diesem Haus erkannte er, welch Ironie das war, wurde er doch umgehend dem barbarischen Initiationsritual für Neulinge unterzogen. Man nahm ihm seinen Namen, und er erhielt statt dessen den Spitznamen Poep, den er mit den neunzehn anderen Neulingen des Hauses teilte. Frei übersetzt hieß das »Furz«. Die Neulinge durften nicht »ich« oder »mir« oder »mich« sagen, sondern nur »dieser Furz«, und er mußte bei allem, was er tat, vorher nicht nur die Höhersemestrigen um Erlaubnis fragen, sondern auch alle unbelebten Dinge, denen er im Haus begegnete. So war er gezwungen, endlose Albernheiten von sich zu geben, etwa: »Ehrenwerte Tür, dieser Furz möchte gerne durchgehen.« 445
Oder: »Ehrenwerte Toilette, dieser Furz möchte sich gerne auf dich setzen.« Innerhalb des Hauses durften sich die Neulinge nicht normal fortbewegen, sondern mußten rückwärts gehen, sogar die Treppe hinunter. Jeder Kontakt mit ihren Freunden oder Fami lien war ihnen untersagt, und besonders streng verboten war jeder Kontakt zum anderen Geschlecht. Wurde man auch nur dabei erwischt, flüchtig in die Richtung eines hübschen Mäd chens zu blicken, hängte man einem ein Warnschild um den Hals, das nicht einmal im Bad abgenommen werden konnte und auf dem stand: »Achtung! Sexbesessener auf freiem Fuß.« Manfred konnte seine Wut unterdrücken und seine Zunge im Zaum halten, obwohl ihn seine Größe, seine Statur und sein gutes Aussehen zu einer natürlichen Zielscheibe machten. Er nahm selbst die schlimmsten Provokationen gelassen hin, bis in der zweiten Woche dieser Folter eine Notiz an der Anschlagta fel im Gemeinschaftsraum hing: »Alle Fürze haben sich am Samstag nachmittag um vier Uhr in der Turnhalle der Universität zu melden, um für die Box mannschaft getestet zu werden. Unterzeichnet: Roelf Stander, Mannschaftskapitän der Bo xer.« Jedes Wohnheim der Universität war auf eine Sportart spe zialisiert: eines war das Rugby-Haus, ein anderes das Leicht athletik-Haus, und »Rust en Vrede« war eben das Boxer-Haus. Das ebenso wie die Tatsache, daß auch Onkel Tromp hier ge wohnt hatte, war der Grund gewesen, warum Manfred unbe dingt in dieses Haus aufgenommen werden wollte. Es war auch der Grund, warum das Interesse an der Anfän gerauswahl viel größer war, als Manfred erwartet hatte. Minde stens dreihundert Zuschauer waren gekommen und drängten sich bereits auf den Sitzen rund um den Ring, als Manfred und 446
seine Kameraden in der Turnhalle eintrafen. Einer der Höher semestrigen stellte sie in einer Reihe auf und führte sie im Gänsemarsch zu den Umkleidekabinen, wo sie genau fünf Mi nuten Zeit hatten, um ihre Turnschuhe, kurzen Hosen und Leibchen anzuziehen und sich der Größe nach vor den Spinden aufzustellen. Roelf Stander, Kapitän der Boxmannschaft und Anführer der Höhersemestrigen im Haus »Rust en Vrede«, teilte mit der Li ste in der Hand die Boxpartner ein. Offenbar hatte er die Neu linge in den vorangegangenen Wochen genau beobachtet, um ihr Können zu beurteilen. Manfred, der größte und kräftigste von allen Neulingen, stand am Ende der Reihe, und vor ihm blieb Roelf Stander schließlich stehen. »Kein anderer von den Fürzen ist so laut und übelriechend wie dieser hier«, verkündete er und musterte Manfred schwei gend. »Wie schwer bist du, Furz?« »Dieser Furz ist Halbschwergewichtler, Sir«, erwiderte Man fred, und Roelf kniff beim Hören dieses Box-Fachausdrucks die Augen zusammen. Er hatte in Manfred bereits einen der aussichtsreichsten Boxkandidaten gesehen. »Hast du schon einmal geboxt, Furz?« fragte er und schnitt eine Grimasse, als er die enttäuschende Antwort vernahm. »Dieser Furz hat noch nie einen Boxkampf bestritten, Sir, aber dieser Furz hat ein wenig geübt.« »Oh, na dann ist es ja gut! Ich bin Schwergewichtler. Aber da niemand hier ist, der mit dir boxen könnte, werde ich ein paar Runden mit dir probieren, wenn du versprichst, mich schonend zu behandeln, Furz.« Roelf Stander war Kapitän der Universitätsboxmannschaft, Provinzmeister der Amateurboxer und einer von Südafrikas aussichtsreichsten Kandidaten für das Team, das 1936 zu den Olympischen Spielen nach Berlin fahren würde. Daher war es wirklich ein guter Witz, und alle lachten unterwürfig. Selbst Roelf konnte sich ein Grinsen über seine absurde Bitte nicht 447
verkneifen. »Also gut, fangen wir mit den Fliegengewichtlern an«, ver kündete er dann und führte sie in den Turnsaal. Die Neulinge saßen auf einer langen Bank im hinteren Teil der Turnhalle und warteten, während Roelf und seine Assisten ten, alles Mitglieder der Boxmannschaft, den Prüflingen nach einander die Boxhandschuhe überzogen und sie durch den Mit telgang zum Ring führten. Während das geschah, bemerkte Manfred, daß in der ersten Zuschauerreihe Sarah aufgestanden war und zu ihnen herschaute. Er warf rasch einen Blick auf die sie beaufsichtigenden Höhersemestrigen, doch deren Aufmerksamkeit galt dem Ring, so daß er es wagen konnte, sie direkt Ihre anzusehen. Augen strahlten, und ihre Wangen war vor Aufregung gerötet, als sie ihm mit einem Spitzentaschentuch zuwinkte. Er behielt seine ausdruckslose Miene bei, zwinkerte ihr aber kurz mit einem Auge zu, und sie warf ihm eine Kußhand zu und ließ sich auf ihren Platz neben der massigen Gestalt von Onkel Tromp zurückfallen. Sie waren beide gekommen! Onkel Tromp drehte den Kopf herum und lächelte ihm kurz zu, bevor er sich wieder dem Ring zuwandte. Die erste Runde begann. Zwei mutige kleine Fliegengewicht ler traktierten einander mit wilden Hieben. Aber der eine von ihnen war dem anderen weit überlegen, und bald floß Blut. Roelf Stander brach den Kampf in der zweiten Runde ab und klopfte dem Verlierer auf die Schulter. »Gut gemacht! Verlieren ist keine Schande.« Die anderen Kämpfe folgten, und alle Kandidaten gaben au genscheinlich ihr Bestes. Doch bis auf einen vielversprechen den Mittelgewichtler boxten alle ziemlich roh und ungeschickt. Schließlich blieb Manfred als letzter übrig. »Na denn los, Furz!« Einer der Höhersemestrigen band ihm die Boxhandschuhe und meinte: »Mal sehen, was du kannst.« 448
Manfred nahm das Handtuch von den Schultern und stand auf, als Roelf Stander aus der Umkleidekabine zurückkam und in den Ring kletterte. Roelf trug das braune Leibchen und die braun-gelb gestreifte Hose der Universitätsmannschaft und teure Boxschuhe aus feinem Leder, die bis über die Knöchel geschnürt waren. Er hielt die behandschuhten Hände hoch, um die Pfiffe und Rufe aus dem Publikum zu stoppen. »Sehr verehrte Damen und Herren, für unseren letzten Kan didaten haben wir leider keinen Gegner; kein anderer Neuling ist in seiner Gewichtsklasse. Wenn Sie also mit mir vorlieb nehmen wollen, dann werde ich ihn selbst auf Herz und Nieren prüfen.« Der Beifall erschallte von neuem, aber diesmal mischten sich Rufe wie »Geh sanft mit ihm um, Roelf« und »Bring den ar men Teufel nicht um!« in den Applaus. Roelf winkte beruhi gend ab und wandte sich dabei vor allem jener Seite zu, wo die Mädchen aus den Wohnheimen für weibliche Studenten saßen. Von dort ertönte unterdrücktes Gekicher und Gekreische, denn Roelf war einen Meter achtzig groß, hatte ein festes Kinn, blit zend weiße Zähne und funkelnde dunkle Augen. Sein Haar war dicht und wellig, sein Backenbart gelockt und sein Schnurrbart flott wie der eines Kavaliers. Als Manfred an der ersten Sitzreihe vorbeikam, konnte er nicht umhin, Sarah und Onkel Tromp einen kurzen Blick zu zuwerfen. Sarah hüpfte auf ihrem Platz auf und ab und drückte die geballten Fäuste gegen die vor Aufregung leicht geröteten Wangen. »Zeig’s ihm, Mani«, rief sie. »Vat hom!« Und Onkel Tromp nickte ihm zu. »Schnell wie eine Mamba, Jong, und mutig wie ein Dachs!« brummte er so leise, daß nur Manfred es hören konnte. Und Manfred reckte das Kinn und sprang leichtfüßig in den Ring. Einer der anderen Höhersemestrigen hatte das Amt des Ring richters übernommen. Der Zeitnehmer schlug den Gong, und 449
Roelf kam tänzelnd aus seiner Ecke. Auf seinen Lippen lag ein dünnes Lächeln, als sie einander zu umkreisen begannen. Beide blieben knapp außerhalb der Schlagreichweite des anderen, und das Lächeln auf Roelfs Lippen verschwand. Seine Haltung veränderte sich; das hatte er nicht erwartet. Der Mann ihm gegenüber deckte perfekt. Er hatte den Kopf mit den kurz geschnittenen blonden Haaren eingezogen und bewegte sich wie eine Feder. Er ist ein Boxer! Roelf wurde wütend. Er hat gelogen – er weiß genau, was er tut. Obwohl noch keiner von den beiden einen Schlag versucht hatte, verstummten die Rufe der Zu schauer allmählich. Alle spürten, daß etwas Ungewöhnliches vorging. Sie sahen die Veränderung in Roelfs Haltung, die aufmerksame Gespanntheit, mit der er sich bewegte. Und die ihn genauer kannten, entdeckten die feinen Linien der Sorge und Unruhe in seinen Mund- und Augenwinkeln. Roelf ließ zur Probe seine Linke vorschnellen, und sein Geg ner machte sich nicht einmal die Mühe, den Schlag abzuduk ken. Er wehrte ihn verächtlich mit der Faust ab, und Roelfs Haut begann zu jucken, als er die Kraft spürte, die hinter dieser flüchtigen Berührung lag. Er blickte Manfred tief in die Augen. Das war ein Trick von ihm, um den Gegner zu irritieren. Die Augen dieses Gegners waren von einer eigenartig hellen Farbe, wie Topas oder gelber Saphir, Roelf fielen die Augen des kälberreißenden Leoparden ein, den sein Vater einmal in einer Stahlfalle gefangen hatte. Das hier waren dieselben Au gen, und nun veränderten sie sich auch noch. Ein kaltes, gna denloses, nicht mehr menschliches Glitzern trat in sie. Es war nicht Furcht, was sich beklemmend auf Roelf Stan ders Brust legte, sondern eher die Vorahnung einer schreckli chen Gefahr. Er war mit einem Tier in den Ring gestiegen. Er konnte den Hunger in den Augen des anderen sehen, den gro ßen, tödlichen Hunger, und instinktiv schlug er nach diesen Augen. 450
Er gebrauchte seine Linke, seine starke Linke, zielte auf die mitleidlosen gelben Augen. Der Schlag ging ins Leere, und er versuchte verzweifelt, seine Deckung wieder zu schließen, aber da er den linken Ellbogen angehoben hatte, war seine Flanke für eine Hundertstelsekunde ungedeckt, und genau in diesem Augenblick traf ihn der Schlag. Er sah die Faust nicht kommen, fühlte es nicht als Boxhieb, denn er war noch nie so getroffen worden. Es war, als würde die Faust durch seine Rippen in seinen Körper eindringen, seine Eingeweide durchbohren und in seiner Lunge explodieren. Die Seile fingen ihn auf und warfen ihn zurück. Die Zeit schien stehenzubleiben. Seine Pupillen weiteten sich, als hätte er eine Droge im Blut, und diesmal sah er die Faust. Er hatte flüchtig die sonderbare Vision, daß in diesem Boxhandschuh keine menschliche Faust, sondern schwarzer Stahl steckte, und sein Mut sank. Aber er war dem Schlag hilflos ausgeliefert, und diesmal traf er mit doppelter Wucht. Unglaublich, unvor stellbar. Er fühlte, wie etwas in ihm zerriß, und seine Knie wurden weich wie heißes Kerzenwachs. Er hätte am liebsten vor Schmerz aufgeschrien, beherrschte sich aber selbst in dieser extremen Situation. Er wollte zu Bo den gehen, sich auf das Segeltuch legen, bevor die Faust erneut zuschlug, aber die Seile hielten ihn, und sein Körper schien wie Kristall zu zerspringen, als die Fäuste auf ihn eintrommelten und die Seile ihn immer wieder zurückschleuderten. Seine Hände sanken herab, und er sah die Faust wieder kommen. Der Boxhandschuh schien sich vor seinen Augen aufzublähen, doch sein Auftreffen spürte er nicht mehr. Roelf fiel richtiggehend in den Schlag, sein Kopf wurde mit einem Ruck zurückgeworfen. Dann fiel er nach vorn und schlug mit dem Gesicht voran auf dem Boden auf, wo er re gungslos liegenblieb. Das alles war in Sekundenschnelle geschehen. Die Zuschauer saßen stumm und wie betäubt auf ihren Plätzen. Dann schrie 451
eine Frau auf, und die Bestürzung machte sich in Lärm und Aufruhr Luft. Die Männer sprangen auf, Stühle fielen um, dann kletterten die ersten in den Ring, umringten Manfred und klopften ihm auf die Schultern, während sich andere um die Gestalt kümmerten, die noch immer reglos auf dem Segeltuch lag. Die Frauen waren blaß vor Schreck und schnatterten aufge regt durcheinander, als Roelf Standers schlaffer Körper über die Seile gehoben und hinausgetragen wurde. Dann wandten sie sich Manfred zu, der eilig von einer Gruppe Höhersemestri ger zu den Umkleidekabinen geschoben wurde. Onkel Tromp nahm Sarahs Arm, um sie zu beruhigen. Schließlich führte er sie aus der Turnhalle ins Freie. »Er war wunderbar – so flink, so schön. Oh, Onkel Tromp, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gese hen. Ist er nicht wundervoll?« Onkel Tromp brummte, gab aber keinen Kommentar ab. Erst als sie die Stufen der Eingangstreppe zum Pfarrhaus hinauf stiegen, blieb er stehen und blickte zurück wie zu einem Ort oder einem Menschen, von dem er sich nur mit tiefem Bedau ern trennte. »Sein Leben hat sich verändert, und unseres wird sich mit ihm verändern«, murmelte er ernst. »Ich bete zum Allmächti gen, daß keiner von uns jemals bedauert, was heute geschehen ist, denn ich bin derjenige, der es ins Rollen gebracht hat.« Das Einführungsritual der Neulinge dauerte noch weitere drei Tage, und Manfred durfte mit niemandem außer den anderen Erstsemestrigen Kontakt haben. Doch für sie war er zu einer Art Abgott geworden, ihrer einzigen Hoffnung auf Rettung, und während der letzten Demütigungen und Erniedrigungen drängten sie sich mit rührender Anhänglichkeit an ihn, um von seiner Kraft und Entschlossenheit zu profitieren. 452
Die letzte Nacht war die schlimmste. Man verband ihnen die Augen, zwang sie, unbeweglich auf einem schmalen Balken zu sitzen, und stülpte ihnen verzinkte Eisenkübel über den Kopf, die ein Höhersemestriger von Zeit zu Zeit unerwartet mit ei nem Knüppel bearbeitete, damit sie nicht einschliefen. Diese Nacht schien nie enden zu wollen. Doch bei Tagesanbruch wurden die Eimer und die Augenbinden entfernt, und Roelf Stander hielt eine Ansprache. »Männer!« begann er, und sie blinzelten erschrocken ange sichts dieser ungewohnten Anrede. »Männer!« wiederholte Stander. »Wir sind stolz auf euch – ihr seid die beste Gruppe von Neulingen, die wir seit meiner eigenen Einführung in die sem Haus hatten. Ihr habt alles hingenommen, ohne ein einzi ges Mal zu winseln oder davonzulaufen. Willkommen in ›Rust en Vrede‹. Das ist jetzt euer Haus, und wir sind eure Brüder.« Dann umringten sie die Höhersemestrigen, klopften ihnen la chend auf die Schultern und umarmten sie. »Los, Männer! Auf in die Kneipe. Wir spendieren das Bier!« brüllte Roelf Stander, und dann marschierten sie, das Hauslied singend, Arm in Arm zum alten Drosdy-Hotel und trommelten gegen die verschlossene Tür, bis der Wirt schließlich nachgab und ihnen öffnete. Schwindlig von der schlaflosen Nacht und mit einem halben Liter Bier im Magen lehnte Manfred eulenhaft grinsend an der Bartheke, als er das merkwürdige Gefühl hatte, daß etwas in der Luft lag. Rasch drehte er sich um. Die Menge um ihn herum hatte sich geöffnet, um Roelf Stander Platz zu machen, der bedrohlich und mit grimmiger Miene auf ihn zuschritt. Manfreds Puls begann zu rasen, denn ihm wurde bewußt, daß dies ihre erste Konfrontation seit dem Boxkampf vor drei Tagen war. Es würde bestimmt nicht ange nehm werden. Er stellte seinen leeren Bierkrug nieder und wandte sich dem anderen zu. Sie starrten einander finster an. Roelf trat vor ihn hin, und die anderen drängten heran, um 453
sich kein Wort entgehen zu lassen. Die Spannung wuchs, alle hielten den Atem an. »Zwei Dinge möchte ich mit dir machen«, knurrte Roelf Stander. Dann, als Manfred sich aufrichtete, lächelte er breit und herzlich und streckte ihm die Hand hin. »Erstens möchte ich dich auf ein Bier einladen. Bei Gott, Mani, du hast einen Schlag wie keiner, mit dem ich je gekämpft habe.« Da brach schallendes Gelächter aus, und der Tag löste sich in Bierdunst und Kameradschaft auf. Damit hätte es eigentlich sein Bewenden haben können, denn auch wenn die offizielle Einführung vorbei war und Manfred die Aufnahme in die »Rust en Vrede«-Gemeinschaft geschafft hatte, so bestand doch eine ungeheure soziale Kluft zwischen einem Studenten im achten Semester, der gleichzeitig Kapitän der Boxmannschaft war, und einem Erstsemestrigen. Doch am folgenden Abend, eine Stunde vor dem Abendessen, klopfte es an Manfreds Tür und Roelf trat ein. Er ließ sich in den einzigen Sessel fallen, legte die Füße auf Manis Schreibtisch und plau derte ungezwungen über Boxen, Studium und die Geographie von Südwestafrika. Schließlich ertönte der Gong, und er stand auf. »Ich wecke dich morgen früh um fünf Uhr zum Lauftraining. Wir haben in zwei Wochen einen wichtigen Kampf gegen die Ikeys«, verkündete er und grinste über Manis verdatterte Mie ne. »Ja, Mani, du bist in die Mannschaft aufgenommen.« Von da an kam Roelf jeden Abend vor dem Essen vorbei, nicht selten mit einer Flasche Bier unterm Arm, die sie dann zusammen leerten. Das war den Bewohnern des Hauses nicht entgangen, und Manfreds Ansehen wuchs zusehends. Zwei Wochen darauf fand der Kampf gegen die Ikey-Mannschaft statt, und Manfred trug zum ersten Mal die Farben der Universität. »Ikeys« war der Spitzname der Studenten der Universität in Kapstadt, der englischsprachigen Universität am Kap der Guten Hoffnung. 454
Diese war aus Tradition Rivalin der Universität Stellenbosch, wo Afrikaans gesprochen wurde und deren Studenten den Spitznamen »Maries« trugen. Die Rivalität war so groß, daß die Ikey-Anhänger in mehreren Bussen die dreißig Meilen nach Stellenbosch fuhren, um eine Hälfte des Turnsaales zu besetzen und die Maries-Anhänger auf der anderen Seite mit ihrem Ge gröle zu übertönen. Manis Gegner hieß Laurie King, ein erfahrener Halbschwer gewichtler mit guter Schlagtechnik und einem Unterkiefer wie Beton, der in vierzig Amateurkämpfen siegreich geblieben war. Fast keiner hatte je von Manfred De La Rey gehört, und die wenigen, die von seinem einzigen Sieg wußten, hielten das für einen Glückstreffer bei einem Gegner, der den Kampf nicht ernst genommen hatte. Laurie King hatte die Geschichte jedoch gehört und nahm sie sehr ernst. Er hielt sich fast die ganze erste Runde hindurch auf Distanz, bis das Publikum schließlich ungeduldig zu pfeifen begann. Doch inzwischen hatte er Manfred studiert und war zu dem Schluß gekommen, daß er, auch wenn er gute Beinarbeit zeigte, nicht halb so gefährlich war, wie man ihm erzählt hatte, und daß er mit einem linken Haken zu schaffen war. Er griff an, um seine Theorie zu testen. Das letzte, was er sah, waren zwei wilde gelbe Augen, dann spürte er das rauhe Segeltuch an seiner Wange, als er mit dem Gesicht voran zu Boden ging. Er konnte sich nicht erinnern, den Schlag gesehen zu haben. Ob wohl der Gong ertönte, bevor er ausgezählt war, konnte Laurie King nicht zur zweiten Runde antreten. Seine Betreuer mußten ihn stützen, als er zu den Umkleidekabinen zurückwankte. Onkel Tromp, der in der ersten Reihe saß, brüllte wie ein verwundeter Büffelbulle, während sich neben ihm Sarah die Kehle aus dem Leib schrie. Am nächsten Morgen stand im Sportteil der Afrikaanderzei tung »Die Bürger«, daß Manfred nicht nur der Großneffe des Volkshelden General Jacobus Hercules De La Rey sei, sondern 455
außerdem verwandt mit Reverend Tromp Bierman, dem Box champion, Buchautor und neuen Pastor von Stellenbosch. Der Sportreporter nannte Manfred den »Löwen der Kalahari«. Roelf Stander und die gesamte Boxmannschaft warteten auf dem Hof, als Manfred aus der Soziologievorlesung kam. »Du hast uns hinters Licht geführt, Mani«, beschuldigte Roelf ihn wütend. »Du hast uns nie erzählt, daß dein Onkel der Tromp Bierman ist. Mann, er war fünf Jahre lang Staatsmei ster. Er hat Slater und Black Jephta k. o. geschlagen!« »Hab’ ich das nicht erzählt?« Manfred runzelte nachdenklich die Stirn. »Dann muß ich es wohl vergessen haben.« »Mani, du mußt uns unbedingt mit ihm bekannt machen«, bat der Vizekapitän. »Wir möchten ihn alle kennenlernen. Bitte, Mani, bitte!« »Glaubst du, er würde die Mannschaft trainieren, Mani? Himmel, wenn wir Tromp Bierman zum Trainer hätten –« Roelf brach ab. Allein der Gedanke ließ ihn verstummen. »Hör zu«, sagte Mani. »Wenn du es schaffst, die ganze Boxmannschaft am Sonntag in die Kirche zu bringen, dann bin ich sicher, daß Tante Trudi uns alle zum Sonntagsmahl einla den wird. Ich kann euch sagen, meine Herren, ihr wißt nicht, was himmlisch ist, bevor ihr nicht die koeksisters meiner Tante Trudi probiert habt.« Also pilgerte die gesamte Boxmannschaft der Universität am Sonntag gebadet und frisch rasiert im Sonntagsstaat in die Kir che, wo die Schar eine ganze Bankreihe besetzte und mit ihrem Gesang die Deckenbalken erbeben ließen. Tante Trudi betrachtete die Angelegenheit als eine Heraus forderung an ihre Kochkünste und hatte zusammen mit den Mädchen eine ganze Woche darauf verwendet, das Mahl vor zubereiten. Die Gäste, alles kräftige junge Männer in ausge zeichneter körperlicher Verfassung, hatten wochenlang von der Mensakost gelebt und bestaunten mit hungrigen Augen das Festessen, um sodann ihre Aufmerksamkeit heldenhaft zwi 456
schen Onkel Tromp, der in Hochform am oberen Ende der Ta fel saß und über seine rühmlichsten Kämpfe erzählte, den ki chernden, errötenden Töchtern des Hauses, die sie bedienten, sowie den Platten, die sich unter dem Gewicht der Braten, Pa steten und des Eingemachten bogen, zu teilen. Am Ende der Mahlzeit stand Roelf Stander auf, um im Na men der ganzen Mannschaft eine Dankesrede zu halten, aus der dann ein feuriger Appell an Onkel Tromp wurde, die Pflichten eines ehrenamtlichen Teamtrainers zu übernehmen. Onkel Tromp wies die Bitte mit einem heiteren Lächeln zu rück, als wäre so etwas völlig undenkbar, aber als jeder einzelne, einschließlich Manfred, eine flehende Rede hielt, worauf er eine Reihe von Ausreden vorbrachte, die immer lahmer wurden und von der Mannschaft einstimmig und laut entkräftet werden konnten, gab er sich schließlich geschlagen. Als sie ihm dann in überschäumender Dankbarkeit und Begeisterung nacheinan der die Hand schüttelten, war er schließlich besiegt und strahlte selbst vor Freude. »Ich sage euch, Jungs, ihr wißt gar nicht, worauf ihr euch da eingelassen habt. Es gibt viele Sätze, die ich überhaupt nicht verstehe. ›Ich bin müde‹, und ›Ich hab’ genug‹ sind nur zwei davon«, warnte er sie. Nach dem Abendgottesdienst spazierten Mani und Roelf ge meinsam unter den dunklen rauschenden Eichen nach »Rust en Vrede« zurück. Roelf war ungewöhnlich still, bis sie das Haupttor erreichten. Dann sagte er nachdenklich: »Sag mal, Mani, deine Cousine – wie alt ist sie?« »Welche?« fragte Mani uninteressiert. »Die dicke heißt Ger trude und die mit den Pickeln Renata.« »Nein! Nein, Mani. Sei nicht albern!« unterbrach ihn Roelf. »Die hübsche mit den blauen Augen und dem seidigen blonden Haar. Die, die ich heiraten werde.« Manfred blieb abrupt stehen und wirbelte herum. »Sag das nie wieder!« Seine Stimme zitterte. »Sag nie wieder 457
so etwas. Ich warne dich. Wenn du noch einmal so gemein über Sarah redest, bringe ich dich um.« Manfreds Gesicht war nur wenige Zentimeter von Roelfs Ge sicht entfernt, und in seinen Augen stand wieder dieses schreckliche gelbe Glitzern. »He, Mani«, flüsterte Roelf heiser. »Was ist denn mit dir los? Ich hab’ doch nichts Gemeines gesagt. Ich würde Sarah nie beleidigen.« Das gelbe Funkeln verschwand allmählich aus Manfreds Au gen. Seine Stimme klang zerstreut, als er murmelte: »Sie ist noch ein Kind. Du solltest nicht so reden, Mann. Sie ist noch ein kleines Mädchen.« »Ein Kind?« Roelf lachte unsicher und strich sein Jackett glatt. »Bist du blind, Mani? Sie ist kein Kind. Sie ist das hüb scheste Wesen –« Aber Manfred wandte sich wütend ab und stürmte durch das Tor ins Haus. »So ist das also, mein Freund«, flüsterte Roelf. Er seufzte und schob die Hände in die Taschen. »Es gibt tausend hübsche Mädchen da draußen«, murmelte er, um seine schlechte Laune zu verscheuchen, »und alle schwärmen sie für Roelf Stander.« Er zuckte die Achseln, grinste ein wenig schief und folgte Manfred ins Haus. Manfred gewann auch die folgenden zwölf Kämpfe, alle durch k. o. Mittlerweile gebrauchten alle Sportreporter den Namen »Löwe der Kalahari«. »Schön und gut, Jong, gewinn’, solang du kannst«, mahnte Onkel Tromp. »Aber vergiß nicht, daß du nicht immer jung bleibst. Auf lange Sicht sind es nicht die Muskeln und Fäuste eines Mannes, die ihn nach oben bringen. Nach oben bringt dich nur das, was du im Kopf hast, Jong, vergiß das nie!« Und Manfred stürzte sich mit ebensoviel Enthusiasmus in sein Stu 458
dium wie in das tägliche Training. Seine Boxerfolge hatten ihn an der Universität Stellenbosch im Nu zur Berühmtheit gemacht. Ein paar seiner Professoren waren ihm gegenüber deshalb besonders wohlwollend und nachsichtig, während andere ihn anfangs wie einen Dummkopf behandelten, bis er ihnen das Gegenteil bewies. »Vielleicht kann uns unser wohlbekannter Faustkämpfer mit seinem überragenden Verstand helfen und den Begriff Natio nal-Bolschewismus näher erläutern«, sagte eines Tages der Professor für Soziologie und Politikwissenschaft, ein großge wachsener, abweisend strenger Intellektueller mit den stechenden Augen des Mystikers. Er war in Holland geboren, und sei ne Eltern waren schon in seiner frühesten Kindheit nach Afrika ausgewandert. Mittlerweile war Dr. Hendrick French Verwoerd einer der führenden Gelehrten der Afrikaander und zugleich leidenschaftlicher Verfechter der nationalistischen Bewegung seines Volkes. Für erstsemestrige Politikwissenschaftsstuden ten hielt er nur einmal pro Semester eine Vorlesung und wid mete sich ansonsten vorwiegend seinen Dissertanten. Er lächel te überlegen, als Manfred langsam aufstand und seine Gedan ken sammelte. Dr. Verwoerd wartete ein paar Sekunden lang und wollte schon abwinken, da er den Jungen für eine Null hielt, als Man fred mit sorgsam gewählten Worten auf die Frage antwortete. »Im Gegensatz zur revolutionären Ideologie des konventio nellen Bolschewismus, der unter Lenins Führung entstand, war der National-Bolschewismus ursprünglich ein Begriff, der in Deutschland Verwendung fand, um die Politik des Widerstandes gegen den Friedensvertrag von Versailles zu bezeichnen –« Dr. Verwoerd blinzelte und hörte auf zu lächeln. Der Junge hatte die Falle augenblicklich erkannt und die beiden Begriffe deutlich gegeneinander abgegrenzt. »Können Sie uns sagen, wer den Begriff eingeführt hat?« fragte Dr. Verwoerd, und seine sonst so kühle Stimme klang 459
ein wenig gereizt. »Ich glaube, die Idee wurde zum ersten Mal im Jahr 1919 von Karl Radek geäußert.« Der Professor beugte sich vor wie ein Falke, bevor er auf sein Opfer niederstößt. »Hat diese oder eine ähnliche Doktrin Ihrer Meinung nach Gültigkeit in der gegenwärtigen Politik von Südafrika, Sir?« Für den Rest dieser Vorlesung galt beider Aufmerksamkeit nur noch ihrem Gespräch, während Manfreds Kommilitonen, erleichtert darüber, nicht mitdenken zu müssen, entweder ver blüfft oder gelangweilt zuhörten. Am folgenden Samstagabend, als Manfred den Halbschwerge wichtstitel der Universität gewann, saß Dr. Verwoerd in der zwei ten Reihe. Es war das erste Mal, daß man ihn auf einer Sportver anstaltung der Universität sah, abgesehen, natürlich, von den Rugbyspielen, die kein echter Afrikaander je versäumt hätte. Ein paar Tage später ließ der Professor Manfred zu sich ru fen, angeblich um eine Arbeit über die Geschichte des Libera lismus, die von ihm vorlag, zu besprechen, aber ihr Gespräch dauerte mehr als eine Stunde und streifte alle möglichen The men. Als Manfred schließlich ging, rief ihn Dr. Verwoerd an der Tür noch einmal zurück. »Hier ist ein Buch, das Sie viel leicht noch nicht kennen.« Er reichte es ihm über den Schreib tisch. »Behalten Sie es, solange Sie wollen, und lassen Sie mich Ihre Meinung wissen, wenn Sie es gelesen haben.« Manfred mußte sich beeilen, um pünktlich zur nächsten Vorle sung zu kommen, daher kam er nicht einmal dazu, den Titel des Buches zu lesen, bevor er es auf seinen Schreibtisch legte. Am Abend erwartete ihn Roelf zum Lauftraining, und so kam er erst zu später Stunde dazu, einen Blick in das Buch zu werfen. Er nahm es vom Schreibtisch und stellte fest, daß er schon einmal davon gehört hatte und daß es ein Original in deutscher Sprache war: »Mein Kampf« von Adolf Hitler. Er begann zu lesen und legte es erst beiseite, als die Morgendämmerung 460
durch den Spalt zwischen den Vorhängen schimmerte und die Tauben draußen auf dem Fensterbrett zu gurren begannen. Er verbrachte den Tag in einer Art Trance, und zog sich mit tags in sein Zimmer zurück, um weiterzulesen. Die Worte Hit lers sprachen das deutsche und arische Blut in ihm direkt an. Er hatte das Gefühl, als wäre das Buch ausschließlich für ihn ge schrieben worden. Warum wohl hätte Herr Hitler so wunderba re Passagen wie die folgenden geschrieben? »Daß der junge Mensch fechten lernt und sich dann herum paukt, gilt als selbstverständlich und ehrenwert, daß er aber boxt, das soll roh sein! Warum? Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist im gleichen Maße fördert, blitz schnelle Entschlußkraft verlangt, den Körper zu stählerner Geschmeidigkeit erzielt … Vor allem aber, der junge, gesun de Knabe soll auch Schläge ertragen lernen – der völkische Staat hat eben nicht die Aufgabe, eine Kolonie friedsamer Ästheten und körperlicher Degeneraten aufzuzüchten … Würde unsere gesamte geistige Oberschicht einst nicht so ausschließlich in vornehmen Anstandslehren erzogen worden sein, hätte sie anstelle dessen durchgehend boxen gelernt, so wäre eine deutsche Revolution von Zuhältern, Deserteuren und ähnlichem Gesindel niemals möglich gewesen …« Manfred erbebte, als er schon bisher Gedachtes, Geahntes so deutlich erläutert fand. An einer anderen Stelle entdeckte er eine andere Wahrheit, mit der er nur einmal in Berührung ge kommen war. Er sah sich wieder in dem Landstreicherlager außerhalb von Windhuk, dachte an das zerrissene Stück Zei tung mit der Karikatur von Hoggenheimer, der das Volk in die Sklaverei trieb. »Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satani sche Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mäd 461
chen, das er mit seinem Blute schändete und damit seinem, des Mädchens Volke raubt.« Er stellte sich vor, wie Sarahs süßer weißer Leib ausgestreckt unter dem scheußlichen, behaarten Körper von Hoggenheimer lag, und war augenblicklich bereit zu töten. Mit dem folgenden Satz traf der Autor ihn mitten in sein Afrikaanderherz: »Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein brin gen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardi sierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören …« Er schauderte. »Swartgevaar! Schwarze Gefahr!« war schon vor Jahrhunderten die Parole seines Volkes gewesen! Er las das Buch zu Ende, war zutiefst erschüttert und er schöpfter als nach einem Boxkampf. Obwohl es schon ziemlich spät war, ging er zu dem Mann, der ihm das Buch geliehen hatte, und sie unterhielten sich ernsthaft und eifrig bis weit nach Mitternacht. Am nächsten Tag ließ der Professor gegenüber einem Mann in hoher Stellung ein lobendes Wort fallen: »Ich habe einen gefunden, den ich für einen wertvollen Rekruten halte, einen mit einem aufnahmefähigen Geist, der bald großen Einfluß und großes Ansehen unter unserer Jugend genießen wird.« Manfreds Name wurde dem Hohen Rat eines Geheimbundes bei einer von dessen nächsten Sitzungen vorgelegt: »Einer unserer besten jungen Leute an der Universität, der rangälteste Student im ›Rust en Vrede‹, hat enge Beziehungen zu ihm«. »Lassen Sie ihn rekrutieren«, befahl der Vorsitzende der Ratsversammlung.
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An fünf Tagen in der Woche liefen Roelf und Manfred ge meinsam eine Trainingsstrecke durch die Berge, eine schwieri ge Strecke mit starken Steigungen und hindernisreichen Pfa den. Fünf Meilen außerhalb der Stadt hielten sie an einem Wasserfall an, um sich zu erfrischen. Roelf beobachtete Man fred, als er sich bückte, um mit beiden Händen Wasser aus dem Bach zu schöpfen. Er ist eine gute Wahl, stimmte er innerlich der Entscheidung seiner Vorgesetzten zu. Die leichte Laufkleidung, die Manfred trug, zeigte deutlich seinen kraftvollen, aber anmutigen Körper. Den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit bildeten aber seine to pasfarbenen Augen. Selbst Roelf fühlte sich von der wachsen den Selbstsicherheit und Kühnheit des Jüngeren in den Schat ten gestellt. Er wird ein starker Führer, die Sorte Mann, die wir so nötig brauchen. Manfred richtete sich auf und wischte mit dem Handrücken über seinen Mund. »Vorwärts, Lahmarsch«, meinte er lachend. »Wer als letzter zu Hause ankommt, ist ein Bolschewist.« Aber Roelf hielt ihn zurück. »Ich möchte heute mit dir re den«, sagte er. »Himmel, Mann, wir tun ohnehin nichts anderes. Warum ausgerechnet hier?« »Weil uns hier niemand belauschen kann. Außerdem tun ein paar von uns mehr, als bloß reden. Wir bereiten uns auf eine Aktion vor, ein harte Sache von der Art, die du so gern hast.« Manfred wandte sich, neugierig geworden, wieder um und ließ sich vor Roelf nieder. »Wer? Was für eine Aktion?« fragte er. »Eine geheime Elitetruppe von ausgewählten Afrikaandern, Führer aus unserem Volk, Männer in höchsten Positionen in der Regierung, in der Wirtschaft und im Bildungswesen. Und nicht nur die Führer von heute, sondern auch die Führer von morgen, Männer wie du und ich. Das sind die Beteiligten.« 463
»Ein Geheimbund?« Manfred ließ sich zurücksinken. »Nein, Mani, mehr als das, eine geheime Armee, die bereit ist, für unser armes unterdrücktes Volk zu kämpfen. Die bereit ist, zu sterben, um die Größe unserer Nation wiederherzustel len.« Manfred spürte, wie sich die feinen Härchen an seinen Un terarmen und im Nacken sträubten, als ihm die Bedeutung die ser Worte zu Bewußtsein kam. »Soldaten, Mani, die Sturmtruppen unserer Nation«, fuhr Roelf fort. »Bist du einer von ihnen, Roelf?« fragte Mani. »Ja, Mani, ich bin einer von ihnen. Und du auch. Unser Ho her Rat ist auf dich aufmerksam geworden. Ich bin beauftragt, dich einzuladen, an unserem Schicksalsmarsch teilzunehmen, dich unserem Kampf um die Verwirklichung der Bestimmung unseres Volkes anzuschließen.« »Wer sind unsere Führer? Wie heißt diese geheime Armee?« »Das wirst du erfahren. Du wirst alles erfahren, nachdem du den Treueid geschworen hast«, versprach Roelf und streckte die Hand aus, um Manfreds Arm zu ergreifen. »Willst du dich uns anschließen, Manfred De La Rey? Willst du unsere Uni form tragen und in unseren Reihen kämpfen?« Manfreds holländisches Blut war empfänglich für die Aus sicht auf geheime Machenschaften, während es sein deutsches Bluterbe nach Ordnung innerhalb einer Gemeinschaft mutiger Kämpfer verlangte. Er legte die Hand auf Roelfs Schulter, und sie schauten ein ander tief in die Augen. »Mit ganzem Herzen«, sagte Manfred leise. »Ich will mich euch mit ganzem Herzen anschließen.« Der Vollmond stand hoch über dem Stellenboschgebirge. Weiter südlich schimmerten die Sterne im Kreuz des Südens, 464
aber ihr Glanz verblaßte zur Bedeutungslosigkeit neben dem riesigen feurigen Kreuz, das am oberen Ende der Waldlichtung brannte. Die Lichtung war ein von der Natur geschaffenes Am phitheater, das durch dichte Tannen vor neugierigen oder feindlichen Augen verborgen war und den idealen Ort für ge heime Versammlungen abgab. Unter dem Feuerkreuz stand die Sturmtruppe, polierte Schnallen und Munitionsgürtel blitzten im Schein von Fackeln. Es waren nur etwa dreihundert Männer anwesend, die Elite, und sie sahen mit stolzen und feierlichen Gesichtern zu, wie der kleine Trupp neuer Rekruten aus dem Wald auf die Lich tung marschierte, wo der General sie erwartete. Manfred De La Rey war der erste, der vor die Führer hintrat. Er trug das schwarze Hemd, die Reithosen und die auf Hoch glanz polierten Reitstiefel dieses geheimen Ritterbundes. Der Oberbefehlshaber trat vor und blieb dicht vor Manfred stehen. Er war eine imposante Gestalt, ein großer Mann mit einem verwitterten Gesicht und einem festen, vorspringenden Unterkiefer. Manfred erkannte ihn sofort, denn sein Gesicht war häufig auf den politischen Seiten der nationalen Zeitungen zu finden. Er bekleidete einen hohen Posten in der Regierung, war Admi nistrator einer Provinz des Landes, und sein Einfluß war groß und weitreichend. »Manfred De La Rey«, fragte der Kommandant laut, »bist du bereit, den Blutsschwur zu leisten ?« »Ich bin bereit«, antwortete Manfred mit klarer Stimme und zog den silbernen Dolch aus dem Gürtel. Roelf Stander, in voller Uniform und mit dem Hakenkreuz am rechten Arm, trat aus den Reihen und zog die Pistole aus dem Halfter. Er entsicherte die Waffe und richtete den Lauf auf Manfreds Herz. Roelf war sein Schirmherr; die Pistole bedeutete, daß er ihn auch hinrichten würde, falls Manfred den Blutsschwur, den er leistete, jemals brach. 465
Der Kommandant überreichte Manfred feierlich ein Stück Pergament. Auf diesem standen die Worte des Schwures, und Manfred nahm das Pergamentpapier in die eine Hand und rich tete mit der andern Hand den Dolch auf sein Herz, um seine Bereitschaft zu zeigen, für die Ideale der Bruderschaft sein Leben zu lassen. »Vor dem allmächtigen Gott und im Angesicht meiner Ka meraden«, las er vor, »unterwerfe ich mich ganz den Geboten der gottgewollten heiligen Bestimmung meines Volkes. Ich schwöre, gewissenhaft die Gebote der Ossewa Brandwag, der Wächter des Wagenzuges der Afrikaander, einzuhalten und den Befehlen meiner Vorgesetzten zu gehorchen. Bei meinem Le ben schwöre ich den tödlichen Eid der Verschwiegenheit, daß ich die Angelegenheiten und die Tätigkeit der Ossewa Brand wag billigen und in Ehren halten werde. Ich rufe meine Kame raden auf, meine Bitte zu erhören: Wenn ich vorrücke, folgt mir.
Wenn ich zurückweiche, schießt mich nieder.
Wenn ich sterbe, rächt mich.
Der allmächtige Gott möge mir helfen!«
Manfred ritzte sich mit der silbernen Messerklinge am Hand gelenk, so daß das Blut im Licht der Fackeln rubinrot hervor quoll, und bespritzte das Pergament damit. Der Oberbefehlshaber trat einen Schritt vor, um ihn zu um armen, und hinter ihm brachen die schwarzen Sturmtruppen in ein Kampfgeschrei aus. Roelf Stander schob die geladene Pi stole in den Halfter zurück, und in seinen Augen standen Trä nen des Stolzes. Als der Kommandant zurücktrat, stürzte Roelf vor und ergriff Manfreds rechte Hand. »Mein Bruder«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Nun sind wir wirklich Brüder.«
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Mitte November machte Manfred seine Jahresabschlußprü fung und bestand als Drittbester in einer Klasse von hundert dreiundfünfzig Studenten. Drei Tage nach Verlautbarung der Ergebnisse reiste die Boxmannschaft der Universität Stellenbosch mit ihrem Trainer zu den interuniversitären Boxmeisterschaften. In diesem Jahr war der Austragungsort die Universität von Witwatersrand in Johannesburg. Die Universitätsmeisterschaft sollte zehn Tage dauern, und in jeder Gewichtsklasse würde es fünf Durchgänge geben, so daß jeder Boxer jeden zweiten Tag anzutreten haben würde. Manfred war in seiner Gewichtsklasse als Nummer zwei ge setzt, was bedeutete, daß er wahrscheinlich in der Endrunde auf den Inhaber des Meistertitels treffen würde. Der regierende Boxchampion war ein Techniker, der erst kürzlich sein Studi um an der Universität Witwatersrand abgeschlossen hatte. Er war in seiner ganzen Boxerlaufbahn noch nie besiegt worden und hatte die Absicht geäußert, unmittelbar nach den Olympi schen Spielen, an denen er mit ziemlicher Sicherheit teilneh men würde, Berufsboxer zu werden. »Dem Löwen der Kalahari steht die bisher härteste Prüfung in seiner kometenhaften Laufbahn bevor. Kann er die Sorte von Schlägen, die er austeilt, auch einstecken? Das ist die Frage, die sich derzeit jeder stellt«, schrieb der Reporter der »Rand Daily Mail«. »Es scheint keinen in dieser Gewichtsklasse zu geben, der verhindern könnte, daß De La Rey und Rushmore am Samstagabend im Finale aufeinandertreffen. Dann wird es darum gehen, ob Rushmores granitene Rechte oder De La Reys beidhändiges Dauerfeuer stärker sind.« Manfred gewann seine ersten zwei Kämpfe mit nahezu belei digender Leichtigkeit. Seine Gegner, durch seinen Ruf von vornherein demoralisiert, gingen beide in der zweiten Runde k. o., und am Mittwoch hatte Manfred seinen kampffreien Tag. Er verließ seine Unterkunft auf dem Universitätsgelände, be 467
vor einer von den anderen wach war, und ließ das Frühstück ausfallen, um den Frühzug zu erreichen. Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde. In einem Büffet auf dem Bahnhof von Pretoria nahm er eine Kleinigkeit zu sich und machte sich dann zu Fuß auf den Weg. Das Staatsgefängnis von Pretoria war ein häßlicher Würfel, dessen Inneres ebenfalls deprimierend und abstoßend wirkte. Alle Hinrichtungen wurden hier vollstreckt, alle lebenslangen Gefängnisstrafen hier abgesessen. Manfred trat durch den Besuchereingang, sprach mit dem Wachbeamten am Schalter und füllte ein Antragsformular aus. Bei der Rubrik »Verwandtschaftsverhältnis zum Gefange nen« zögerte er kurz und schrieb dann trotzig »Sohn« hin. Der Wachbeamte las das Formular gemächlich durch und blickte dann auf, um ihn streng und eindringlich zu mustern. »Er hatte in all den Jahren keinen einzigen Besucher«, sagte er. »Ich konnte nicht früher kommen«, versuchte Manfred sich zu rechtfertigen. »Aus mehreren Gründen.« »Das sagen alle.« Dann veränderte sich die Miene des Wach beamten fast unmerklich. »Sie sind der Boxer, nicht wahr?« »Richtig«, nickte Manfred. Dann gab er dem Wärter, einer plötzlichen Eingebung folgend, das geheime Erkennungszei chen der Ossewa Brandwag, und die Augen des Mannes leuch teten überrascht auf und senkten sich auf das Formular. »Nun gut. Nehmen Sie bitte Platz. Ich werde Sie rufen, wenn er soweit ist«, sagte er und gab Manfred unter dem Tisch das Antwortsignal der Ossewa Brandwag. »Mach den Engländer-Bastard am Samstag fertig«, flüsterte er und wandte sich ab. Manfred war erstaunt, aber auch stolz, wie weit sich die Bruderschaft schon ausgebreitet hatte. Zehn Minuten später führte ihn der Wachbeamte in eine grüngestrichene Zelle mit hohen vergitterten Fenstern, in der nur ein leerer Holztisch und drei unbequeme Stühle standen. Auf einem der Stühle saß ein alter Mann, aber Manfred kannte 468
ihn nicht und blickte sich erwartungsvoll um. Der Fremde stand schwerfällig auf. Er hatte eine faltige Haut, ging gebückt, und sein Haar war so dünn und weiß wie rohe Baumwolle. Seine Augen waren rot umrändert, trübe und farb los. Tränen liefen ihm über die Wangen und hingen wie Tau an seinen Wimpern. »Papa?« fragte Manfred ungläubig, als er sah, daß dem Mann ein Arm fehlte. Der Alte begann stumm zu weinen. »Papa!« sagte Manfred, und seine Wut drohte ihn zu erstik ken. »Was haben sie mit dir gemacht?« Er machte einige rasche Schritte, um seinen Vater zu umar men. »Papa! Papa!« wiederholte er hilflos und streichelte die mageren Schultern unter der groben Uniform. Dann drehte er den Kopf herum und warf dem Wächter einen flehenden Blick zu. »Ich darf Sie nicht allein lassen.« Der Mann hatte verstanden, aber er schüttelte den Kopf. »Das ist Vorschrift, ich muß es befolgen, wenn mir mein Job lieb ist.« »Bitte«, flüsterte Manfred. »Gibst du mir dein Wort als Bruder, daß du nicht versuchen wirst, ihm zur Flucht zu verhelfen?« »Mein Wort als Bruder!« antwortete Manfred. »Zehn Minuten«, sagte der Wärter. »Mehr kann ich dir nicht gestatten.« Er drehte sich um, verließ den Raum und schloß die grüne Stahltür hinter sich zu. »Papa.« Manfred führte den zitternden alten Mann zu seinem Stuhl zurück und kniete neben ihm nieder. Lothar De La Rey wischte sich mit dem Handrücken die Trä nen von den Wangen und versuchte zu lächeln. Aber es gelang nicht ganz. Seine Stimme zitterte, als er sprach. »Sieh mich nur an, ich flenne wie ein altes Weib. Aber das war nur der Schock des Wiedersehens. Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Es geht mir gut. Laß dich ansehen, laß mich dich nur für einen Augen blick ansehen.« 469
Er lehnte sich zurück und betrachtete forschend Manfreds Gesicht. »Was für ein Mann du geworden bist, stark und gut aussehend, genau wie ich in deinem Alter.« Er strich mit den Fingerspitzen über Manfreds Wange. Seine Hand war kalt, die Haut rauh wie Haifischleder. »Ich habe viel über dich gelesen, mein Sohn. Zeitungen dür fen wir nämlich haben. Ich habe jeden Artikel über dich ausge schnitten und verwahre sie unter der Matratze. Ich bin stolz auf dich. Alle hier sind stolz, sogar die Spitzel.« »Papa! Wie behandeln sie dich?« unterbrach ihn Manfred. »Gut, Mani, ganz gut.« Lothar senkte die Augen. »Es ist nur – für immer ist eine so lange Zeit. So unheimlich lang, Mani. Und manchmal denke ich an die Wüste, an den Horizont, der in der Ferne verschwimmt, und an den weiten blauen Himmel.« Er brach ab und versuchte zu lächeln. »Und ich denke an dich, jeden Tag. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht für dich zu Gott gebetet habe.« »Nicht, Papa – bitte«, flehte Manfred. »Bitte nicht! Sonst muß ich auch weinen.« Er zog sich einen Stuhl heran. »Ich habe auch an dich gedacht, Papa, jeden Tag. Ich wollte dir schreiben. Ich hab mit Onkel Tromp oft darüber gesprochen, aber er meinte, es wäre das beste, wenn –« Lothar nahm seine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ja, Mani, es war auch das beste. Tromp Bierman ist ein kluger Mann.« Er lächelte, nun gelang es ihm besser. »Wie groß du geworden bist. Und die Farbe deiner Haare – genau wie meine früher. Du wirst es schaffen, das weiß ich. Was willst du aus deinem Le ben machen? Erzähle mir darüber, schnell. Wir haben so wenig Zeit.« »Ich studiere Rechtswissenschaft in Stellenbosch. Das erste Jahr habe ich als Drittbester abgeschlossen.« »Das ist wunderbar, mein Sohn. Und nachher?« »Ich weiß noch nicht, Papa, aber ich glaube, ich muß für un sere Nation kämpfen. Ich glaube, ich bin dazu berufen, Gerech 470
tigkeit für unser Volk zu erkämpfen.« »Politik?« fragte Lothar. Und als Manfred nickte: »Ein harter Weg, verschlungen und voller Hindernisse. Ich habe es immer vorgezogen, den direkten Weg zu gehen, mit einem Pferd unter mir und einem Gewehr in der Hand.« Plötzlich lachte er bitter auf. »Und du siehst, wohin mich dieser Weg geführt hat.« »Und ich werde auch kämpfen, Papa. Sobald die Zeit reif ist – und auf dem Schlachtfeld meiner Wahl.« »Ach, mein Sohn. Die Geschichte war so grausam zu unse rem Volk. Manchmal glaube ich, daß wir dazu verdammt sind, immer die Unterlegenen zu bleiben.« »Das stimmt nicht! Unser Tag wird kommen, und zwar schon bald!« Er hätte seinem Vater gern mehr erzählt, aber er dachte an seinen Blutsschwur und schwieg. »Mani«, flüsterte sein Vater, beugte sich vor und blickte sich verstohlen in der Zelle um. »Die Diamanten – hast du deine Diamanten noch?« fragte er und konnte die Antwort schon von Manfreds Gesicht ablesen. »Was ist mit ihnen geschehen?« Seine Enttäuschung war für Manfred wie ein schwer zu ertragender Vorwurf. »Die Dia manten waren mein Vermächtnis an dich, sie waren alles, was ich dir hinterlassen konnte. Wo sind sie?« »Onkel Tromp – er hat sie schon vor Jahren gefunden. Er sagte, sie wären verflucht, Steine des Teufels, und er zwang mich, sie zu zerstören.« »Sie zu zerstören?« Lothar starrte ihn an. »Ich mußte sie mit einem Vorschlaghammer auf einem Am boß zerschmettern. Zu Pulver zermalmen, alle.« Manfred sah, wie der alte ungestüme Geist seines Vaters wieder aufflackerte. Lothar sprang auf und rannte wütend in der Zelle auf und ab. »Tromp Bierman, wenn ich dich zu fas sen bekäme! Du warst schon immer ein verstockter, scheinhei liger Heuchler –« Er brach ab und wandte sich wieder an sei nen Sohn. 471
»Mani, die anderen sind noch da. Erinnerst du dich – der Hü gel, der Granitkegel in der Wüste? Ich habe sie dort für dich versteckt. Du mußt dorthin zurück.« Manfred wandte sich ab. Er hatte all die Jahre versucht, die Erinnerung zu verdrängen. Es war lange her, und er hatte es fast geschafft, aber bei den Worten seines Vaters glaubte er, jenen Geruch der Fäulnis wieder zu riechen, sah das Paket mit den Diamanten in der Spalte zwischen den Granitfelsen ver schwinden. »Ich habe den Weg vergessen, Papa.« Lothar zog an seinem Ärmel. »Hendrick«, stieß er hervor. »Swart Hendrick! Er weiß den Weg – er kann dich führen.« »Hendrick.« Ein Name, schon halb vergessen. Dann sah er plötzlich deutlich das Bild eines großen kahlen Kopfes vor sich. »Hendrick«, wiederholte er. »Aber der ist fort. Und ich weiß nicht, wohin. Zurück in den Busch. Den finde ich nie.« »Nein! Nein! Hendrick ist hier, Mani, irgendwo hier am Witwatersrand. Er ist jetzt ein großer Mann, ein Anführer bei seinem Volk.« »Woher weißt du das, Papa?« »Wir erfahren hier drinnen alles. Sie kommen von draußen und bringen Neuigkeiten mit. Hendrick hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Er hat mich nicht vergessen. Wir waren Kameraden. Wir sind zehntausende Meilen zusammen geritten, haben in hunderten Schlachten gemeinsam gekämpft. Er hat mir sagen lassen, wo er zu finden ist, falls ich je aus diesen verdammten Mauern fliehen kann.« Lothar beugte sich vor und brachte seinen Mund nahe an Manfreds Ohr, um ihm den Ort zuzuflüstern. Dann lehnte er sich zurück. »Du mußt ihn suchen. Er wird dich zu dem Granithügel am Okavangofluß führen – Allmächtger, wie sehr wünschte ich mir, ich könnte mit dir in die Wüste reiten.« In diesem Augenblick wurde der Schlüssel im Schloß umge dreht, und Lothar drückte verzweifelt den Arm seines Sohnes. 472
»Versprich mir, daß du hingehen wirst, Mani.« »Papa, die Steine bedeuten Unheil.« »Versprich es mir, mein Sohn, versprich es mir, damit ich diese Kerkerjahre nicht umsonst auf mich genommen habe. Versprich mir, daß du die Steine holen wirst.« »Ich verspreche es, Papa«, flüsterte Manfred, als der Wärter die Zelle betrat. »Die Zeit ist um. Tut mir leid.« »Kann ich morgen wiederkommen, um meinen Vater noch einmal zu sehen?« Der Wärter schüttelte den Kopf. »Monatlich ist nur ein Be such gestattet.« »Ich werde dir schreiben, Papa.« Lothar nickte ausdruckslos. Sein Gesicht war wieder ver schlossen und seine Augen hatten sich getrübt. »Ja«, sagte er und nickte. »Schreib mir einmal«, fügte er hinzu und schlurfte aus der Zelle. Manfred starrte auf die grüne Stahltür, hinter der er ver schwunden war, bis ihm der Wärter auf die Schulter klopfte. »Kommen Sie.« Manfred folgte ihm in einem Aufruhr der Ge fühle. Erst als er durch das Tor in den Sonnenschein hinaustrat und in den hohen blauen afrikanischen Himmel blickte, von dem sein Vater so sehnsuchtsvoll gesprochen hatte, gewann ein Gefühl die Oberhand und spülte alle anderen hinweg. Es war Wut, eine blinde, verzweifelte Wut, die sich in den folgenden Tagen noch steigerte und ihren Höhepunkt zu errei chen schien, als er zwischen den Zuschauerreihen hindurch auf den Boxring zuschritt. Centaine erwachte lange vor Blaine. Es tat ihr um jede Se kunde leid, die sie mit Schlafen vergeudeten. Draußen war es noch dunkel, da das Cottage im Schatten des hohen Tafelber ges lag. Sie hatte Monate gebraucht, um dieses Cottage zu fin 473
den. Es mußte an einer verborgenen Stelle liegen und eine Ga rage für ihren Daimler und für Blaines neuen Bentley haben, beides Fahrzeuge, die sofort jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es durfte nicht weiter als zehn Minuten Gehzeit vom Parlament und von Blaines Büro im Flügel des imposan ten Herbert-Baker-Gebäudes, der den Kabinettministern vorbe halten war, entfernt sein. Und es mußte eine Aussicht auf den Berg haben und in einer kleinen Straße in der uneleganten Vor stadt liegen, wohin sich keiner ihrer Freunde oder Geschäfts partner, keiner von Blaines Parlamentskollegen oder Gegnern und kein Mitglied der Presse jemals verirrte. Doch trotz all ihrer liebevollen Bemühungen, das Cottage zum perfekten Liebesnest zu machen, gelang es ihnen oft nur einmal im Monat, dort eine ganze Nacht zusammen zu verbrin gen. Dazu kamen Abendessen zu zweit in einer Sitzungspause, mitternächtliche Interludien, wenn das Parlament bis in die Nachtstunden getagt hatte, und gelegentliche Nachmittage, wenn ihn seine Frau Isabella beim Polotraining oder auf einer Kabinettssitzung vermutete. Centaine drehte den Kopf auf dem Kissen und schaute ihn an. Das erste Tageslicht schimmerte silbern durch die Fenster läden, und seine Gesichtszüge wirkten wie aus Elfenbein. Vorsichtig, um ihn nicht zu stören, stand sie auf, nahm ihren Morgenrock von der Couch und huschte ins Bad. Rasch bürste te sie ihr Haar, putzte sich die Zähne und behandelte Augen und Gesicht mit Creme und Lotion. Dann schlich sie ins abge dunkelte Schlafzimmer zurück. Sie blieb neben dem Bett stehen und betrachtete seine Ge sichtszüge. Er übte nach all den Jahren noch immer dieselbe Wirkung auf sie aus. Plötzlich schoß sein Arm vor, und sie schrie vor Schreck auf. Er zog sie zu sich ins Bett und warf die Decke über sie. »Du warst die ganze Zeit wach«, jammerte sie. »Oh, du schrecklicher Kerl, nie kann ich dir trauen.« 474
Sie ließen sich gelegentlich noch immer in einen wilden Sin nestaumel treiben, der mit einer gewaltigen Explosion aus Licht und Farbe endete. Aber viel häufiger glich ihre Liebe, wie an diesem Morgen, einer sicheren, uneinnehmbaren Fe stung der Zärtlichkeit. Sie lösten sich widerstrebend voneinan der und blieben noch eine Weile liegen, als der Tag das Zim mer mit seinen goldenen Strahlen erfüllte und der malaiische Diener Hadschi auf der Terrasse vor den Fensterläden mit dem Frühstücksgeschirr klapperte. Centaine brachte Blaine seinen Morgenrock, und dann traten sie Hand in Hand auf die Terrasse hinaus. Hadschi und Miriam strahlten über das ganze Gesicht und verbeugten sich, als sie am Frühstückstisch Platz nahmen. Mit einem raschen prüfenden Blick überzeugte sich Centaine davon, daß nichts fehlte, dann schlug sie die Morgenzeitung auf und begann vorzulesen. Das geschah immer in derselben Reihenfolge: zuerst die Schlagzeilen, dann die Parlamentsberichte, zu denen er meist seinen Kommentar abgab und sie ihre Meinung äußerte, dann die Wirtschaftsseiten und die Börsenberichte und am Ende den Sportteil unter besonderer Berücksichtigung der Artikel über Polo. »Oh! Wie ich sehe, hast du gestern geredet. ›Eine kraftvolle Erwiderung von Seiten des Ministers ohne Portefeuille‹, schreibt er hier.« Und Blaine nahm sich lächelnd eine Lachsscheibe. »Als kraftvoll kann man das kaum bezeichnen«, murrte er. »Lau warm wäre treffender gewesen.« »Es ging um Geheimbünde?« »Ein bißchen zuviel Aufhebens um diese militanten Organi sationen, die sich, wie mir scheint, von diesem entzückenden Herrn Hitler und seiner Bande von politischen Schurken die Ideen leihen.« »Ist etwas dran?« Centaine nahm einen Schluck Kaffee. »Du 475
scheinst die ganze Angelegenheit eher auf die leichte Schulter zu nehmen.« Dann blickte sie auf und kniff halb die Augen zusammen. »Du versuchst mir etwas zu verbergen, nicht wahr?« Sie kannte ihn zu gut, und er grinste sie schuldbewußt an. »Dir entgeht wohl überhaupt nichts?« »Kannst du darüber sprechen?« »Ich darf eigentlich nicht.« Er runzelte die Stirn, aber sie hat te sein Vertrauen noch nie mißbraucht. »Wir sind wirklich sehr in Sorge«, gab er zu. »Der Ou Baas hält diese Organisationen für die schlimmste Gefahr seit der Rebellion von 1914, als De Wet seine Kommandos zum Kampf für den Kaiser aufrief.« Er hielt inne. Sie wußte, da war noch mehr, aber sie wartete, bis er sich von selbst dazu entschloß, es ihr zu erzählen. »Na schön«, entschied er schließlich. »Der Ou Baas hat mir die Leitung einer Untersuchungskommission übertragen, die geheim und auf höchster Ebene die Ossewa Brandwag untersu chen soll, den extremsten und radikalsten Geheimbund von allen. Die Ossewa Brandwag ist sogar schlimmer als der Bru derbund.« »Warum ausgerechnet du, Blaine? Es ist doch recht unerfreu lich, oder?« »Ja, es ist unangenehm, und er hat mich ausgewählt, weil ich kein Afrikaander bin. Sozusagen als unparteiischen Richter.« »Natürlich habe ich schon von der Ossewa Brandwag gehört. Es kursieren schon seit Jahren Gerüchte, aber niemand scheint viel über die Organisation zu wissen.« »Es handelt sich um extrem rechtsgerichtete Nationalisten, Antisemiten und Schwarzenhasser, die den hinterlistigen Briten die Schuld an jedem Übel der Welt in die Schuhe schieben, einen geheimen Bluteid schwören und mitternächtliche Ver sammlungen abhalten, eine Art primitiver Pfadfinderbewe gung, die ›Mein Kampf‹ als Quelle höchster Inspiration an 476
sieht.« »Ich habe das Buch noch nicht gelesen. Aber es ist überall Gesprächsthema.« »Das Buch ist ein buntes Durcheinander von Alpträumen und Obszönitäten, ein Leitfaden für nackte Gewalt und Fanatismus. Ich kann dir meine Ausgabe gern leihen, aber es ist eine ent setzliche Lektüre.« »Er mag vielleicht kein großer Schriftsteller sein«, räumte Centaine ein. »Aber was er auch angestellt haben mag, Blaine, immerhin war er es, der Deutschland nach dem Sturz der Wei marer Republik wieder auf die Beine gestellt hat. Deutschland ist das einzig Land der Welt, in dem es keine Arbeitslosigkeit gibt und wo die Wirtschaft blüht. Meine Anteile an Krupp und an I. G. Farben sind in den letzten neun Monaten aufs Doppelte gestiegen.« Sie hielt inne, als sie sein Gesicht sah. »Stimmt etwas nicht, Blaine?« Er legte Messer und Gabel beiseite und starrte sie an. »Du besitzt Anteile an der deutschen Rüstungsindustrie?« fragte er leise. Sie nickte. »Die beste Investition, seit der Goldstandard –« Sie brach ab. Sie hatten nie mehr darüber gesprochen. »Ich habe dich noch nie um einen Gefallen gebeten, oder?« fragte er. Centaine zögerte. »Nein, das hast du nicht – nicht ein einzi ges Mal.« »Schön, dann bitte ich dich jetzt um einen. Verkaufe deine Anteile an der deutschen Rüstungsindustrie.« Sie schaute ihn verblüfft an. »Warum, Blaine?« »Weil es dasselbe ist, als würdest du in die Vermehrung ei nes Krebsgeschwürs investieren oder Dschingis Khans Feldzü ge finanzieren.« Sie antwortete nicht gleich, aber ihr Gesicht wurde aus druckslos, und ihr Blick ging ins Leere. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ihm klargeworden war, daß sie im Geiste rechne 477
te, wenn sie so ein Gesicht machte. Und es faszinierte ihn im mer wieder, wie schnell sie mit ihren Berechnungen zu einem Ende kam. Ihr Blick kehrte zurück, sie lächelte zustimmend. »Verkaufe ich zum gestrigen Preis, mache ich einen Gewinn von hundert sechsundzwanzigtausend Pfund. Es war ohnehin Zeit, zu ver kaufen. Ich telegraphiere meinem Börsenmakler in London, sobald das Postamt öffnet.« »Danke, mein Liebling.« Blaine schüttelte bekümmert den Kopf. »Aber ich wünschte, du hättest deinen Gewinn woanders gemacht.« »Vielleicht schätzt du die Lage falsch ein, chéri«, sagte sie vorsichtig. »Vielleicht ist Hitler gar nicht so schlimm, wie du denkst.« »Er braucht nicht so schlimm zu sein, wie ich denke, Centai ne. Er braucht nur so schlimm zu sein, wie er in ›Mein Kampf‹ zugibt, um sich für das Horrorkabinett zu qualifizieren.« Blaine nahm ein Stück Lachs in den Mund, schloß genüßlich die Au gen, schluckte den Bissen, öffnete die Augen und erklärte das Thema für beendet: »Genug des Schreckens an diesem wun derschönen Morgen.« Er lächelte ihr zu. »Lies mir den Sport teil vor, Frau!« Centaine blätterte geräuschvoll um und setzte zum Lesen an, als plötzlich die Farbe aus ihrem Gesicht wich und sie auf ih rem Stuhl schwankte. Blaine legte Messer und Gabel nieder und sprang auf. »Was ist los, Liebling?« Er trat hinter sie und warf über ihre Schulter einen Blick auf das Zeitungsblatt. Er fand einen Artikel über ein Pferderennen, das am vergangenen Wochenende in Kenil worth stattgefunden hatte. Centaines Pferd, ein guter Hengst namens Bonheur, hatte das Hauptrennen um eine Kopflänge verloren, aber das konnte nicht der Grund für ihre Bestürzung sein. Dann sah er, daß sie den Blick auf den unteren Teil der Seite 478
geheftet hatte, auf die Fotografie eines Boxers, der in Leibchen und kurzer Hose mit erhobenen Fäusten und grimmigem Aus druck auf dem hübschen Gesicht vor der Kamera posierte. Cen taine hatte nie das geringste Interesse am Boxen bekundet, und Blaine war verwirrt. Er las die Überschrift des Artikels, der neben dem Bild stand. FEST DES FAUSTKAMPFES
ERSTKLASSIGE BESETZUNG
BEI DEN INTERUNIVERSITÄREN BOXMEISTER
SCHAFTEN
Das sagte Blaine noch immer nichts. Dann las er die Legende unter dem Bild: »Der Löwe der Kalahari, Manfred De La Rey, ist Herausforderer des regierenden Halbschwergewichtsmei sters.« »Manfred De La Rey«, sagte Blaine leise und versuchte sich zu erinnern, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Dann hellte sich seine Miene auf, und er drückte Centaines Schulter. »Manfred De La Rey! Der Junge, den du damals in Windhuk suchen ließest. Ist er das?« Centaine nickte, ohne sich umzudrehen. »Was bedeutet er dir, Centaine?« Sie war zutiefst aufgewühlt, die Worte entschlüpften ihr, be vor sie darüber nachdenken konnte. »Er ist mein Sohn. Mein unehelicher Sohn.« Blaine nahm die Hände von ihren Schultern, und sie hörte, wie er tief Atem holte. Ich muß total verrückt sein! war ihr erster Gedanke. Blaine wird das niemals verstehen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Doch dann berührten seine Hände sie wieder. Er hob sie aus dem Stuhl und drehte sie zu sich um. »Ich liebe dich«, sagte er 479
schlicht. Sie würgte an ihren Tränen, warf sich an seine Brust und um schlang ihn mit den Armen. »Wenn du es mir erzählen möchtest, bleibe ich hier. Wenn du nicht darüber sprechen willst, dann verstehe ich das. Nur eines noch – was auch war, es ändert nichts an meinen Gefühlen zu dir.« »Ich möchte es dir erzählen.« Sie unterdrückte die Tränen und schaute zu ihm auf. »Ich wollte niemals Geheimnisse vor dir haben. Ich wollte es dir schon lange erzählen, aber ich bin ein Feigling.« »Du bist manches, mein Liebling, aber kein Feigling.« Er zog sich seinen Stuhl so nahe heran, daß er ihre Hand halten konn te. »Also los«, befahl er. »Es ist eine lange Geschichte, Blaine – und du hast um neun die Kabinettssitzung.« »Staatsangelegenheiten können warten«, sagte er. »Dein Glück liegt mir mehr am Herzen.« Sie erzählte ihm alles – von der Zeit, als Lothar De La Rey sie rettete, bis zur Entdeckung der H’ani-Diamantenmine und Manfreds Geburt in der Wüste. Sie verschwieg ihm nichts, auch nicht ihre Liebe zu Lothar, die Liebe eines einsamen verlassenen Mädchens zu ihrem Ret ter. Sie erzählte, wie sich diese Liebe in bitteren Haß verwan delte, als sie entdeckte, daß Lothar die alte Buschmannfrau, die ihre Pflegemutter gewesen war, ermordet hatte, und wie sie diesen Haß auf Lothars Kind übertrug, das sie damals zur Welt brachte. Sie erzählte ihm auch, daß sie es ablehnte, das Neuge borene auch nur anzuschauen, und den Vater zwang, das Kind unmittelbar nach der Niederkunft fortzubringen. »Es war gemein«, flüsterte sie. »Aber ich hatte Angst, von der Courtney-Familie verstoßen zu werden, wenn ich ihnen ein uneheliches Kind brachte. Oh, Blaine, ich habe es hunderttau sendmal bereut – und ich haßte mich selbst ebensosehr, wie ich 480
Lothar De La Rey haßte.« »Möchtest du nach Johannesburg fahren, um ihn wiederzuse hen?« fragte Blaine. »Wir könnten hinfliegen und uns die Boxmeisterschaften ansehen.« Die Idee erschreckte Centaine. »Wir?« fragte sie. »Wir, Blai ne?« »Allein kann ich dich nicht fahren lassen. Nicht in dieser heiklen Angelegenheit.« »Aber kannst du denn weg? Was ist mit Isabella?« »Dein Problem ist im Augenblick viel wichtiger«, erwiderte er nur. »Möchtest du fahren?« »O ja, Blaine. O ja, bitte.« Sie wischte sich die letzten Tränen mit ihrer Serviette von den Wangen, und er sah, wie ihre Stimmung umschlug. Im Nu war sie wieder heiter und voller Tatendrang. »Ich er warte Shasa noch heute von Südwestafrika zurück. Ich werde Abe in Windhuk anrufen, um zu hören, wann sie abgeflogen sind. Wenn alles gutgeht, können wir schon morgen nach Jo hannesburg fliegen. Um welche Zeit, Blaine?« »Wann du willst«, erklärte Blaine. »Ich werde heute nachmit tag noch einiges aufarbeiten und mit dem Ou Baas reden.« Sie nahm sein Handgelenk und drehte es so, daß sie auf seine Armbanduhr schauen konnte. »Wenn du dich beeilst, chéri, kommst du noch rechtzeitig zur Kabinettssitzung.« Sie begleitete ihn zu seinem Wagen und küßte ihn durch das offene Fenster des Bentley. »Ich rufe bei dir im Büro an, sobald Shasa gelandet ist«, flü sterte sie ihm ins Ohr. »Solltest du noch bei der Sitzung sein, hinterlasse ich bei Doris eine Nachricht für dich.« Doris war Blaines Sekretärin und einer der wenigen Menschen, die über sie Bescheid wußten. Sobald er gefahren war, eilte Centaine zurück ins Schlaf zimmer und telefonierte mit Windhuk. »Sie sind bei Tagesanbruch gestartet, also vor knapp fünf 481
Stunden«, erklärte Abe Abrahams. »David ist natürlich bei ihm.« »Wie steht der Wind, Abe?« »Eigentlich müßten sie den Wind im Rücken haben. Ich wür de sagen, die Windgeschwindigkeit beträgt zwanzig bis dreißig Meilen in der Stunde.« »Danke. Ich werde auf dem Flugplatz auf sie warten.« »Das könnte peinlich werden«, sagte Abe zögernd. »Ich glaube, sie sind in Begleitung – wenn du mir diese Beschöni gung verzeihst.« Unwillkürlich runzelte Centaine die Stirn, obwohl sie es ei gentlich nicht fertigbrachte, Shasas häufige Flirts zu verurtei len. Sie entschuldigte es immer mit dem De-Thiry-Blut und war insgeheim sogar ein wenig stolz auf seine mühelosen Er folge beim anderen Geschlecht. Rasch wechselte sie das The ma. »Danke, Abe. Ich habe übrigens die neuen Pachtverträge für Namaqualand unterzeichnet, du kannst also weitermachen und die Verträge ausarbeiten.« Danach führte Centaine drei weitere Telefongespräche, rief zuletzt ihren Sekretär in Weltevreden an und diktierte ihm vier Briefe und das Fernschreiben an ihren Börsenmakler in Lon don: »Alle Krupp- und I. G. Farben-Aktien zum Höchstpreis verkaufen.« Dann rechnete sie rasch. Die »Dragon Rapide«, das schöne silberblaue zweimotorige Flugzeug, das sie auf Shasas Drängen gekauft hatte, erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von hun dertfünfzig Knoten – mit Rückenwind konnten sie also noch vor Mittag in Youngsfield ankommen. Mal sehen, ob Master Shasas Geschmack in bezug auf Frauen in letzter Zeit besser geworden war. Sie nahm den Daimler und fuhr gemächlich los, vorbei an dem bunten Malaienviertel, dem Groote-Schuur-Krankenhaus und der Universität und hinaus zum Flugplatz. Beim Anblick 482
der Universität mußte sie wieder an Shasa denken. Er hatte kürzlich sein erstes Jahr mit gutem Erfolg abgeschlossen. »Mir sind diejenigen, die alles mit Auszeichnung abschlie ßen, immer ein wenig suspekt«, hatte Blaine bemerkt, als er von Shasas Ergebnissen hörte. »Die meisten von ihnen sind klüger, als ihnen oder ihrer Umgebung guttut. Mir sind die Leute lieber, die sich für eine vorzügliche Leistung anstrengen müssen.« »Du hältst mir vor, daß ich ihn verwöhne«, hatte sie lächelnd erwidert. »Aber du selbst findest auch immer Entschuldigun gen für Shasa.« »Dein Sohn zu sein, mein Liebling, ist gar nicht so einfach für einen jungen Mann«, hatte er zu bedenken gegeben. »Willst du damit sagen, daß ich nicht gut zu ihm bin?« »Du bist sehr gut zu ihm. Wie ich schon sagte, vielleicht so gar eine Spur zu gut. Du läßt ihm nur nicht allzuviel Freiraum. Du bist so erfolgreich, so dominant. Du hast alles fest in der Hand. Was bleibt ihm da noch, um sich zu beweisen?« »Ich bin doch nicht despotisch, Blaine!« »Ich sagte dominant, Centaine, nicht despotisch. Das sind zwei grundverschiedene Dinge. Ich liebe dich, weil du so do minant bist. Aber ich würde dich verachten, wenn du despo tisch wärest.« »Manchmal verstehe ich eure Sprache immer noch nicht rich tig.« »Frag doch Shasa – in Englisch hat er am besten abgeschnit ten.« Blaine lachte und legte den Arm um ihre Schultern. »Du mußt die Zügel ein bißchen locker lassen, Centaine. Gib ihm etwas mehr Freiraum, damit er Fehler machen kann und eigene Triumphe zu verzeichnen hat. Zum Beispiel, wenn er zur Jagd gehen will – und wenn du es nicht billigst, Tiere zu töten, die man nicht essen kann. Die Courtneys waren seit jeher Groß wildjäger. Der alte General Courtney erlegte hunderte Elefan ten, und Shasas Vater jagte ebenfalls. Jagen und Polo sind die 483
einzigen Dinge, in denen du ihm nicht überlegen bist.« »Und was ist mit der Fliegerei?« hatte sie eingeworfen. »Ich bitte um Entschuldigung – auch die Fliegerei.« »Na schön, ich werde ihn also Tiere töten lassen. Aber sag mir, Blaine, wird er mit der Polomannschaft zur Olympiade fahren?« »Offen gestanden, mein Liebling, ich glaube nicht.« »Aber er ist doch gut genug! Das hast du selbst gesagt.« »Ja«, gab Blaine zu. »Er ist vermutlich gut genug. Er hat den Schwung und das Feuer, ein scharfes Auge und einen starken Schlag. Aber es mangelt ihm an Erfahrung. Wenn er ausge wählt werden würde, wäre er international der jüngste Olym piateilnehmer aller Zeiten. Ich glaube allerdings nicht, daß er ausgewählt wird. Ich denke, Clive Ramsay wird als Nummer zwei mitfahren.« Sie starrte ihn an, und er hielt ihrem Blick gelassen stand. Er wußte, was sie dachte. Als Mannschaftskapitän war Blaine Mitglied der Kommission für die Olympiaqualifikation. »David fährt nach Berlin«, hielt sie ihm vor. »David Abrahams ist die menschliche Version einer Gazel le«, war Blaines Antwort. »Er läuft die hundert Meter in einer Zeit, die weltweit nur drei andere Läufer schlagen können, und die vierhundert Meter als Drittbester. Shasa muß sich gegen mindestens zehn der weltbesten Polospieler um einen Platz bewerben.« »Ich würde alles dafür geben, wenn Shasa in Berlin mit dabei sein könnte.« »Das glaube ich dir«, sagte Blaine. Als entschieden war, daß Shasa nicht nach Oxford, sondern auf die Universität von Kap stadt gehen würde, hatte sie dort für die technischen Fachberei che einen Flügel anbauen lassen, das Courtney-Gebäude. Er wußte, daß ihr kein Preis zu hoch war. »Ich versichere dir, mein Liebling, daß ich –« Er hielt inne, und sie richtete sich erwartungsvoll auf, »– daß ich den Raum 484
auf jeden Fall verlassen werde, wenn und falls Shasas Name je von der Auswahlkommission diskutiert werden sollte.« Jetzt, da sie sich wieder an seine Worte erinnerte, wurde sie wütend. »Er ist so verdammt tugendhaft!« stieß sie hervor und hieb mit der geballten Faust auf das Lenkrad ihres Wagens. Und plötzlich fiel ihr das breite Bett im Cottage ein, und sie grinste. Nun, vielleicht war tugendhaft nicht ganz das richtige Wort. Das Flugfeld war menschenleer. Sie parkte den Daimler ne ben dem Hangar, wo Shasa ihn aus der Luft nicht sehen konn te. Dann holte sie die Reisedecke aus dem Kofferraum, breitete sie unter einem Baum am Rand der Landebahn aus und machte es sich bequem. David Abrahams war ein ebenso begeisterter Flieger wie Läufer. Das war das einzige, was ihn und Shasa von Anfang an verbunden hatte. Obwohl Abe Abrahams, seit David denken konnte, für Centaine arbeitete und einer ihrer engsten persönli chen Freunde war, hatten die beiden Jungen einander erst rich tig kennengelernt, als sie im selben Jahr ihr Studium an der Universität begannen. Seither waren sie unzertrennlich. Zu sammen mit anderen hatten sie den Universitätsfliegerclub gegründet, dem Centaine eine Tiger Moth als Übungsmaschine stiftete. David studierte Rechtswissenschaft, und es verstand sich von selbst, daß er nach dem Abschluß in die Kanzlei seines Vaters in Windhuk eintreten würde. Was natürlich bedeutete, daß er einer von Centaines Leuten sein würde. Sie hatte den Jungen in all den Jahren sorgfältig beobachtet und keine Fehler an ihm entdecken können. Daher billigte sie seine Freundschaft zu Shasa. David war größer als Abe, hatte den schlanken Körper des Läufers, ein gewinnend häßliches, lustiges Gesicht, dichtes 485
lockiges Haar und die große Hakennase seines Vaters. Das schönste an ihm waren seine dunklen semitischen Augen und die langen, feinnervigen Hände, die nun am Steuerknüppel der »Dragon Rapide« lagen. Er flog mit einer fast religiösen Hin gabe, behandelte das Flugzeug so, als wäre es ein Lebewesen. Shasa hingegen reizte am Fliegen das technische Element, er flog mit Verstand und viel Geschick, aber ohne Davids mysti sche Leidenschaft. David brachte die Leidenschaft auch für das Laufen und für viele andere Dinge in seinem Leben auf, einer der Gründe, warum ihn Shasa so mochte. Ohne David wären die letzten Wochen wahrscheinlich langweilig und enttäuschend verlau fen. Mit Centaines Erlaubnis, die sie fast ein Jahr lang energisch verweigert und dann im letzten Augenblick wie durch ein Wunder doch gegeben hatte, waren die beiden jungen Männer mit der »Dragon Rapide« einen Tag nach der Abschlußprüfung zur H’ani-Mine geflogen. Dort hatte ihnen Dr. Twentyman-Jones zwei Viertonner zur Verfügung gestellt, die nebst einer kompletten Campingausrü stung, Lagerpersonal, Fährtensuchern und einem Koch für sie bereitstanden. Einer der Minen-Prospektoren, ein Mann, der mit dem Busch, der Wildnis und der Jagd auf gefährliches Großwild bestens vertraut war, begleitete die Expedition. Ihr Ziel war der Caprivizipfel, jener abgelegene Streifen Wildnis zwischen Angola und Betschuanaland. Unter der ruhi gen und bestimmten Führung des grauhaarigen alten Prospek tors fanden die beiden jungen Männer zu einem tieferen Ver ständnis für die Natur und deren faszinierender Vielfalt an Le ben und begriffen die Grundsätze einer ethisch einwandfreien Jagd. Sie verbrachten herrliche Tage im Busch, verließen das Lager jeden Tag vor Sonnenaufgang zu Fuß und kehrten nach Sonnenuntergang hundemüde zurück. Die Frauen waren ziem lich überflüssig, genau wie David es vorhergesehen hatte. Doch 486
Shasa hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen, eine für sich und eine für David. Shasas Auserwählte war fast dreißig Jahre alt. »Einer alten Geige entlockt man die schönsten Töne«, versicherte er David. Außerdem war sie geschieden. »Ich reite nie meine eigenen Ponys zuschanden.« Sie hatte große blaue Augen, einen breiten roten Mund, eine rundliche Figur und war nicht mit unnötig viel Gehirn ausgestattet. Shasa hatte ihr den Spitznamen »Jum bo« gegeben, »weil«, wie er erklärte, »sie so dick ist, daß zwei Elefanten Seite an Seite über ihren Leib spazieren könnten«. Shasa hatte Jumbo überredet, eine Freundin für David mitzu bringen, und sie hatte eine große dunkle Dame mit langen Lok ken gewählt, die ebenfalls geschieden war. An ihren dünnen Armen baumelten eine Menge Armreifen, und um ihren langen Hals hingen fast ebenso viele Ketten. Sie rauchte mit einer Zi garettenspitze aus Elfenbein und hatte einen glühenden, tiefen Blick, aber sie sprach wenig, und wenn, dann gewöhnlich nur, um den nächsten Gin zu bestellen. Ihres unersättlichen Durstes wegen nannte David sie »das Kamel«. Doch bald stellte sich heraus, daß die beiden ideale Begleite rinnen waren, denn während sie erfahren und mit viel Geschick taten, was man im Bett von ihnen erwartete, gaben sie sich im übrigen damit zufrieden, die Tage im Lager zu verbringen. Am Abend stellten sie wenig Ansprüche und machten keinen Ver such, die Unterhaltung am Lagerfeuer zu stören, indem sie sich daran beteiligten. »Das waren die schönsten Ferien, die ich je genossen habe.« Shasa lehnte sich auf dem Pilotensitz zurück und starrte ver träumt aus dem Fenster, froh, daß David, der auf dem Platz des Kopiloten saß, die Steuerung übernommen hatte. »Aber noch sind sie nicht vorüber.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Noch eine Stunde bis Kapstadt. Halte sie auf diesem Kurs«, sagte er und schnallte seinen Sicherheitsgurt ab. »Wo gehst du hin?« fragte David. 487
»Ich möchte dich nicht in Verlegenheit bringen, indem ich dir auf diese Frage antworte, aber sei nicht überrascht, wenn das Kamel zu dir ins Cockpit kommt.« »Ich mache mir wirklich Sorgen um dich«, sagte David in gespieltem Ernst. »Hab’ mich noch nie kräftiger gefühlt«, versicherte Shasa, als er sich aus dem Sitz herauswand und in die hintere Kabine ging. Das Kamel schaute mit den dunklen, glühenden Augen zu ihm auf und verschüttete etwas vom Gin-Tonic, während Jum bo kicherte und mit dem kleinen dicken Hintern beiseite rückte, um Platz für Shasa zu machen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und Jumbo starrte ihn verblüfft an, was durchaus nicht selten bei ihr vorkam. »Der ›Mile High Club‹ – was, um Himmels willen, ist denn das?« Shasa flüsterte ihr wieder etwas ins Ohr, und sie spähte aus dem Seitenfenster. »Du meine Güte! Ich hab gar nicht bemerkt, daß wir so hoch fliegen.« »Du bekommst eine eigene Brosche, wenn du Mitglied wirst«, erklärte Shasa. »Oh, prima! Was für eine Brosche?« »Ein fliegendes Muschikätzchen mit goldenen Flügeln und diamantenen Augen.« »Ein Muschikätzchen? Warum ein Muschi –« Sie brach ab, als sie allmählich begriff. »Shasa Courtney, du bist schreck lich!« Sie senkte die Augen und zwinkerte geziert, und Shasa gab dem Kamel einen Wink. »Ich glaube, Davie möchte mit dir reden.« Das Kamel stand gehorsam auf und verzog sich mit dem Glas in der Hand ins Cockpit. Eine Stunde später steuerte Shasa von der Hangseite her auf das Flugfeld zu und landete die »Rapide« so sanft auf dem Grasstrei fen, als würde er Butter auf eine Scheibe Toastbrot streichen. Er 488
schwenkte die Maschine herum, bevor sie zum Stehen kam, und ließ sie auf den Hangar zurollen. Mit ein bißchen Gas lenkte er sie auf den Betonplatz und stellte die Motoren ab. Dann erst entdeckte er im Schatten des Hangars den gelben Daimler und Centaine. »Ach du lieber Himmel, Mutter ist hier. Bring schnell unsere beiden Hübschen in Deckung!« »Zu spät«, ächzte David. »Jumbo, die Süße, winkt deiner Mutter gerade durchs Seitenfenster zu.« Shasa machte sich auf einen Wutanfall seiner Mutter gefaßt, während Jumbo kichernd die Bordleiter hinunterkletterte und das Kamel beim Hinuntersteigen stützen mußte, weil sie nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Centaine sagte kein Wort, aber neben dem Daimler stand ein wartendes Taxi. Woher sie von den Mädchen wußte, erfuhr Shasa nie. Sie winkte das Taxi heran und schob das seltsame Paar auf den Rücksitz. »Verstaue ihr Gepäck im Kofferraum«, befahl sie Shasa, und als alles verladen war, nickte sie dem Taxifahrer zu. »Bringen Sie sie hin, wohin sie wollen.« Das Kamel sank mit starrem Blick in den Sitz zurück, aber Jumbo lehnte sich aus dem Fenster und winkte Shasa, bis das Taxi das Tor des Flugplatzes passiert hatte. Shasa senkte den Kopf und wartete auf eine sarkastische Bemerkung seiner Mutter. »Hattet ihr einen gute Reise, Liebling?« fragte Centaine freundlich und hielt ihm die Wange zum Kuß hin. Die beiden Mädchen wurden nicht wieder erwähnt. »Es war wunderbar!« sagte er dankbar. Dann begann er zu erzählen, aber sie unterbrach ihn. »Später«, sagte sie. »Erst möchte ich, daß du die ›Rapide‹ auftanken und überprüfen läßt. Wir fliegen morgen nach Jo hannesburg.«
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In Johannesburg wohnten sie im ›Carlton‹. Centaine gehörten dreißig Prozent der Gesellschaftsanteile, und immer wenn sie in der Stadt weilte, stand ihr die Fürstensuite zur Verfügung. Blaine und sie nahmen das Risiko in Kauf, Gerüchte in Um lauf zu setzen, und tanzten bis zwei Uhr morgens im Nachtclub in der obersten Etage des Hotels. Am nächsten Tag hatte Blaine ein paar Sitzungen im Uni onsgebäude von Pretoria, die Isabella gegenüber als Vorwand gedient hatten, um Kapstadt zu verlassen, und so konnte Cen taine den ganzen Tag mit Shasa verbringen. Als sie am Abend ins ›Carlton‹ zurückkehrten, hatten sie noch genügend Zeit, sich für den Boxkampf umzuziehen. Blai ne saß mit einem Whisky-Soda in einem der Lehnsessel und sah Centaine dabei zu, wie sie ihre Toilette vervollständigte. Centaine liebte das. Es gab ihr das Gefühl, mit ihm verheiratet zu sein. »Ich war noch nie bei einem Boxkampf, Blaine. Sind wir nicht viel zu gut angezogen.« »Ich versichere dir, daß Abendgarderobe Pflicht ist.« »O Gott, ich bin so nervös. Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll, falls ich überhaupt Gelegenheit dazu habe –« Sie brach ab. »Du hast doch Karten besorgt, oder?« Er zeigte sie ihr und lächelte. »In der ersten Reihe, und au ßerdem steht ein Wagen mit Chauffeur bereit.« Shasa betrat die Suite im Dinnerjacket, über dem er lässig ei nen weißen Seidenschal trug. Er gab ihr einen Kuß, bevor er an die Bar trat, um ihr das allabendliche Glas Champagner einzu schenken. »Möchten Sie noch einen Whisky, Sir?« fragte er Blaine. »Danke, einer ist genug, Shasa«, erwiderte Blaine, und Shasa goß für sich selbst ein Glas Ginger-ale ein. Etwas, was mir nie Sorgen bereiten wird, dachte Centaine. Alkohol war keine von Shasas Schwächen. »Also, Mutter«, Shasa hob sein Glas, »dann trinken wir auf 490
dein plötzliches Interesse an der überaus männlichen Kunst des Boxens. Sind dir die Grundregeln bekannt?« »Ich denke, zwei junge Männer steigen in einen Ring und versuchen einander umzubringen. Richtig?« »Das, Centaine, ist völlig richtig«, meinte Blaine lachend. Vor Shasa gebrauchte er nie ein Kosewort, und Centaine fragte sich nicht zum ersten Mal, was Shasa über sie und Blaine den ke. Gewiß vermutete er etwas. Sie trank ihren Champagner aus und schritt dann am Arm der beiden wichtigsten Männer in ihrem Leben zu der wartenden Limousine. Die Menschen in der Sporthalle der Universität von Witwa tersrand waren voll gespannter Erwartung. Centaine stellte er leichtert fest, daß in den ersten drei Reihen jeder Abendgarde robe trug und daß fast ebenso viele Damen wie Herren unter den Zuschauern waren. Sie hatte befürchtet, die einzige weibli che Person in der Halle zu sein. Die Vorkämpfe verfolgte sie mit ziemlicher Gleichgültigkeit und versuchte, Interesse an den Erklärungen zu zeigen, die sie abwechselnd von Blaine und Shasa erhielt. Als dann wieder zwei Boxer angeschlagen und schwitzend aus dem Ring klet terten, legte sich erwartungsvolle Stille über die Halle. Viele Köpfe drehten sich in die Richtung der Umkleidekabinen. Blaine warf einen Blick auf das Programm und murmelte: »Es ist soweit!« Dann brach die Zuschauermenge in tosenden Beifall aus. »Da kommt er.« Blaine drückte ihren Arm, aber sie war nicht fähig, sich umzudrehen. Der Herausforderer im Halbschwergewicht, Manfred De La Rey, trat als erster in den Ring, begleitet von seinem Trainer und seinen zwei Betreuern. Die Stellenbosch-Studenten bra chen in ein Gebrüll aus und schwenkten die Farbenbanner, während sie gleichzeitig den Kampfruf der Universität an stimmten. Ihr Gebrüll wurde von den Witwatersrand-Studenten auf der gegenüberliegenden Seite sofort mit Pfiffen und Fußge 491
trampel beantwortet. Manfred trug das Haar etwas länger und ohne die übliche Pomade. Er hatte ein kräftiges Kinn, deutlich hervortretende Stirn- und Backenknochen und scharfe Gesichtszüge. Doch die Augen waren das Auffälligste an ihm. Sie waren hell und uner bittlich wie die einer großen Raubkatze, was durch seine dunk len Augenbrauen noch hervorgehoben wurde. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange, kräftige Beine. An seinem Körper war kein überflüssiges Gramm Fett. Shasa wurde merklich steif, als er ihn wiedererkannte. Er biß wütend die Zähne zusammen, als er sich an die Schläge dieser Fäuste erinnerte und den erstickenden Schleim der toten Fische wieder im Rachen schmeckte. »Ich kenne ihn, Mutter«, stieß er zwischen den Zähnen her vor. »Das ist der, mit dem ich auf der Mole in Walvis Bay ge kämpft habe.« Centaine legte die Hand auf seinen Arm, um ihn zu beruhi gen, sah ihn aber nicht an und sagte auch nichts. Aber sie fühlte plötzlich, wie etwas in ihr schmolz und seine Gestalt veränder te. Fleisch von meinem Fleisch, dachte sie, Blut von meinem Blut. Und sein Geburtsschrei gellte wieder in ihren Ohren. Der Boxer im Ring drehte den Kopf in ihre Richtung und sah sie. Er ließ die Hände sinken, hob das Kinn und starrte sie mit Haß in den gelben Augen an. Der Blick traf sie wie ein Peit schenhieb. Dann drehte ihr Manfred De La Rey den Rücken zu und schritt in seine Ecke. Blaine, Shasa und Centaine saßen unbeweglich und stumm inmitten der brüllenden, singenden und stampfenden Menge. Sie schauten einander nicht an. Dann kletterte der Champion in den Ring. Ian Rushmore war etwas kleiner als Manfred, dafür aber breiter in Brust und Schultern. Er hatte muskelbepackte, affenartige lange Arme, und sein Hals war so kurz und dick, daß sein Kopf direkt auf den Schultern zu sitzen schien. Dichte schwarze Brusthaare 492
kräuselten sich unter seinem Leibchen, und er wirkte stark und gefährlich wie ein wilder Eber. Die erste Runde wurde eingeläutet, und die beiden Boxer tra fen unter dem tosenden Gebrüll der Menge in der Mitte des Ringes zusammen. Centaine zuckte unwillkürlich zusammen, als die behandschuhten Fäuste dumpf auf Fleisch und Knochen trafen. Verglichen mit den sanften Schlägen der leichteren Ge wichtsklassen in den Vorkämpfen, war das ein Kampf der Gla diatoren. Centaine konnte nicht unterscheiden, welcher der beiden Bo xer im Vorteil war. Die Zuschauer um sie herum tobten, wäh rend die beiden abwechselnd aufeinander einschlugen und tän zelnd umkreisten. Die erste Runde endete so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Die Boxer zogen sich in ihre Ecken zurück, wo sie von ihren weißgekleideten Betreuern umsorgt wurden. Manfred nahm einen Schluck aus der Flasche, die ihm der große bärtige Trainer an den Mund hielt. Er gurgelte, drehte sich um und schaute wieder zu Centaine. Er starrte sie mit sei nen gelben Augen an und spuckte das Wasser gezielt in den Eimer zu seinen Füßen, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Sie wußte, daß das ihr galt, daß er ihr damit seinen Haß ins Gesicht spucken wollte. Sie erbebte und überhörte fast, was Blaine neben ihr murmelte. »Die erste Runde war ein Unentschieden. De La Rey hat nichts verschenkt, und Rushmore ist vorsichtig.« Dann ertonte der Gong, die Boxer sprangen auf, und die zweite Runde begann. Erneut hieben sie aufeinander ein, und Centaine verspürte angesichts der primitiven Roheit dieses Sports Übelkeit. »Die wird an Rushmore gehen«, sagte Blaine gelassen, und Centaine haßte ihn in diesem Augenblick für seine Ruhe. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach, die Übelkeit drohte sie zu ersticken. Blaine fuhr fort: »De La Rey wird Schluß machen 493
müssen. Tut er das nicht, macht Rushmore ihn fertig. Er wird zusehends sicherer.« Am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus der Halle geflohen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Dann ertönte der Gong zur dritten Runde, und die beiden Män ner trafen abermals im grellen Licht der Scheinwerfer aufein ander. Centaine versuchte sich abzuwenden, aber sie konnte nicht – sie sah dem Kampf mit angeekelter Faszination zu. Und dann geschah es. Sie verfolgte jede Einzelheit und wuß te, daß sie den Anblick nie wieder vergessen würde. Sie sah den roten Lederhandschuh vorschießen und den Kopf des Ge gners hochschnellen. Sie sah die einzelnen Schweißtropfen von seinem feuchten Haar fliegen, sah, wie sich seine Gesichtszüge unter dem Schlag zu einer grotesken Maske des Schmerzes verzerrten. Sie schrie, aber ihr Schrei ging unter in dem wilden Gebrüll, das aus den tausend Kehlen um sie herum hervorbrach. Sie preßte die Faust in den Mund, als unaufhörlich die Hiebe den Kopf trafen und sich das Gesicht in eine blutige Masse ver wandelte. Sie schrie weiter, als sie diese entsetzliche, mörderi sche Wut in den gelben Augen ihres Sohnes sah, mit ansehen mußte, wie er sich in eine blutrünstige reißende Bestie verwan delte. Der Mann vor ihm erschlaffte und zerbrach, begann zu taumeln und sank zu Boden. Er rollte auf den Rücken und starrte mit leeren Augen in die Scheinwerfer. Manfred De La Rey stand noch immer von dieser Todeswut ergriffen über ihm, und Centaine erwartete jeden Augenblick, daß er sich auf den Niedergebrochenen stürzen und ihm den Skalp vom Schädel reißen werde. »Bring mich weg, Blaine«, schluchzte sie. »Bring mich weg von hier.« Und seine Arme hoben sie hoch und trugen sie hin aus in die Nacht. Das Gebrüll blieb hinter ihnen zurück, und Centaine atmete so gierig die kalte frische Nachtluft ein, als wäre sie soeben vor dem Ertrinken gerettet worden. 494
»Der Löwe der Kalahari hat sich selbst sein Ticket nach Ber lin eingelöst«, lautete die Schlagzeile, und Centaine schauderte in der Erinnerung an den Boxkampf. Sie ließ die Zeitung zu Boden fallen und griff nach dem Telefonhörer. »Shasa, wann können wir nach Hause fliegen?« fragte sie, als sich Shasa mit verschlafener Stimme meldete. Blaine kam mit Rasierschaum auf den Wangen aus dem Ba dezimmer. »Du hast dich also entschieden?« fragte er, als sie aufgelegt hatte. »Es hat keinen Sinn, auch nur einen Versuch zu machen, mit ihm zu reden«, erwiderte sie. »Du hast ja gesehen, wie er mich angeschaut hat.« »Vielleicht ein anderes Mal –« versuchte er sie zu trösten. Aber als er die Verzweiflung in ihren Augen sah, ging er zu ihr und nahm sie zärtlich in die Arme. Am ersten Tag der Ausscheidungskämpfe verbesserte David Abrahams seine persönliche Bestzeit im 200-Meter-Lauf um fast eine Sekunde. Doch am zweiten Tag blieb er hinter den Erwartungen zurück und gewann das Entscheidungsrennen über 400 Meter nur mit knappem Vorsprung. Aber sein Name stand trotzdem weit oben auf der Liste, die im Rahmen des Abschlußballs der fünftägigen Leichtathletikmeisterschaften verlesen wurde. Shasa, der neben ihm saß, war der erste, der ihm gratulierte. David würde nach Berlin fahren. Zwei Wochen später fanden im Inanda Club in Johannesburg die Poloausscheidungskämpfe statt. Shasa bestritt als Mitglied der B-Mannschaft am letzten Tag das Finalspiel gegen Blaines A-Mannschaft. Centaine saß weit oben auf der Tribüne und sah zu, wie Sha 495
sa eines der besten Spiele seiner ganzen Laufbahn lieferte, aber gleichzeitig wurde ihr schmerzlich bewußt, daß er noch nicht gut genug war. Clive Ramsay, Shasas Rivale um einen Platz in der Mannschaft, die nach Berlin fahren würde, hatte die ganze Woche gut gespielt. Er war zweiundvierzig Jahre alt, konnte auf eine lange Liste von Erfolgen verweisen und hatte Blaine Malcomess in über dreißig internationalen Spielen als Mann schaftskollege beigestanden. Als Polospieler stand er gerade am Höhepunkt seiner Laufbahn, und Centaine wußte, daß es sich die Auswahlkommission nicht erlauben konnte, ihn zu gunsten des jüngeren, kühneren, wahrscheinlich auch begabte ren, dafür aber unerfahreneren Reiters zurückzustellen. Dann passierte es. Shasa war Gott sei Dank weit vom Schuß. Er galoppierte an der Seitenlinie entlang, als einer seiner Mannschaftskollegen, ein ehrgeiziger junger Spieler, Clive Ramsay in der Mitte des Feldes angriff. Es geschah wahrscheinlich nicht mit Absicht, sondern eher als Folge eines kühnen Versuches zu glänzen, aber Shasas Teamkollege foulte Clive Ramsay so schwer, daß Clive kopf über aus dem Sattel flog und auf dem steinharten Boden auf schlug. Am späten Nachmittag bestätigte die Röntgenuntersu chung, daß Ramsays Oberschenkelknochen mehrfach gebro chen war und operiert werden müsse. »Polo ist für mindestens ein Jahr gestrichen«, stellte der Arzt fest, als Clive Ramsay aus der Narkose erwachte. Also wartete Centaine mit neuer Hoffnung auf das Ergebnis der Auswahlkommission. Wie angekündigt, verließ Blaine Malcomess das Beratungszimmer, als Shasa zum Vorschlag kam. Aber als man ihn zurückrief, verkündete der Vorsitzende: »Wir haben entschieden, daß der junge Courtney an Clives Stelle mitfährt.« Sobald er Gelegenheit dazu hatte, rief Blaine Centaine an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. »Es wird erst am Freitag be kanntgegeben, aber Shasa hat sein Ticket nach Berlin in der 496
Tasche.« Centaine war außer sich vor Freude. »Oh, Blaine, Liebling, wie kann ich mich nur bis Freitag zurückhalten?« rief sie aus. »Oh, wäre es nicht wundervoll, wenn wir zusammen nach Ber lin fahren könnten, nur wir drei! Wir könnten den Daimler nehmen und quer durch Europa reisen. Shasa war noch nie in Mort Homme. Wir könnten ein paar Tage in Paris bleiben. Aber das können wir besprechen, wenn du am Samstag kommst.« »Samstag?« Er hatte es vergessen, das war deutlich zu hören. »Sir Garrys Geburtstag – das Picknick auf dem Tafelberg! Oh, Blaine, das ist eine der wenigen Gelegenheiten im Jahr, wo wir ganz offiziell zusammensein können!« »Ist Sir Garrys Geburtstag wirklich schon nächsten Samstag? Wo ist nur das letzte Jahr geblieben?« lenkte er ab. »Oh, Blaine, du hast es vergessen«, klagte sie. »Du kannst mich nicht im Stich lassen. Diesmal wird es ein doppeltes Fest – der Geburtstag und Shasas Berufung zu den Olympischen Spielen.« Er zögerte nur einen Augenblick. Er hatte Isabella bereits versprochen, sie und die Mädchen am Wochenende zu ihrer Mutter nach Franschoek zu begleiten. »Ich verspreche es, mein Liebes, ich werde kommen.« Sie würde nie wissen, was ihn dieses Versprechen kostete. Isabella würde es ihm bestimmt mit besonders gemeinen Grau samkeiten heimzahlen. Er redete sich ein, daß es die Drogen waren, die diese We sensveränderung bei Isabella bewirkt hatten. Im Grunde war sie noch immer derselbe sanfte und liebenswerte Mensch wie bei ihrer Heirat. Es waren die unaufhörlichen Schmerzen und die Drogen, die sie so entstellten. Manchmal versuchte er, sich ihre einstige Schönheit ins Gedächtnis zu rufen, aber diese Schönheit war schon lange verwelkt. Der widerlich süße Ge 497
ruch der Drogen stieg aus jeder Pore ihrer Haut, und den tiefen, nie verheilenden Geschwüren entströmte ein schwacher, aber durchdringender Geruch, den er allmählich verabscheute. Die ser Geruch machte es ihm schwer, sich länger in ihrer Nähe aufzuhalten. Sie war zum Skelett abgemagert. Ihr Anblick und der Geruch erfüllten ihn mit tiefem Mitleid, seine Untreue nährte ein stetig nagendes Schuldgefühl. »Wie kannst du nur, Blaine?« fragte sie in dem klagenden, schrillen Tonfall, den er nun schon gewohnt war. »Du hast es mir versprochen, Blaine. Ich sehe dich, weiß Gott, schon selten genug. Ich habe mich so auf dieses Wochenende gefreut –« Und in dem Ton ging es weiter. »Dann geh doch zu deinem Picknick«, schrie sie schließlich. »Ich weiß, was für eine Last ich für dich bin. Ich weiß, daß du meine Gegenwart höchstens ein paar Minuten ertragen kannst –« Er hielt es nicht mehr aus und hob die Hand, um sie zu beru higen. »Du hast recht, meine Liebe. Es war egoistisch von mir, es überhaupt zu erwähnen. Wir wollen nicht mehr darüber re den. Natürlich fahre ich mit dir zu deiner Mutter.« Er sah das verschlagene Funkeln des Triumphs in ihren Augen, und plötz lich haßte er sie. Doch augenblicklich war er über sich selbst entsetzt, trat rasch zu ihr, beugte sich über ihren Rollstuhl und küßte ihre kalte knöcherne Hand. »Oh, es wird wundervoll, wieder einmal eine Weile zusam menzusein.« Sie ließ seine Hand nicht los. »Wir haben so we nig Gelegenheit, miteinander zu reden. Du verbringst so viel Zeit im Parlament, und wenn dich deine Amtsgeschäfte einmal loslassen, dann bist du auf dem Polofeld.« »Wir sehen uns doch jeden Tag morgens und abends.« »Ja, ich weiß, aber wir reden nie miteinander! Wir haben noch nicht einmal über Berlin gesprochen, und die Zeit wird allmählich knapp.« »Gibt es da etwas zu besprechen, meine Liebe?« fragte er 498
vorsichtig und zog seine Hand zurück. »Aber natürlich, Blaine.« Sie lächelte ihm zu und entblößte dabei das fahle Zahnfleisch hinter den welken Lippen. »Es müssen noch so viele Vorbereitungen getroffen werden. Wann reist die Mannschaft ab?« »Ich werde wahrscheinlich nicht mit der Mannschaft fahren«, sagte er bedachtsam. »Ich werde voraussichtlich ein paar Wo chen früher abreisen und in London und Paris Zwischenstation machen, um Gespräche mit der britischen und der französi schen Regierung zu führen, bevor ich nach Berlin fahre.« »Oh, Blaine, trotzdem gibt es einiges vorzubereiten, wenn ich dich begleiten soll«, sagte sie, und er hatte Mühe, seine ausdruckslose Miene beizubehalten, um sich ihrem forschen den Blick nicht zu verraten. »Ja«, sagte er. »Das muß sorgfältig geplant werden.« Schon der Gedanke war unerträglich. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, mit Centaine zu reisen und einmal für längere Zeit mit ihr Zusammensein zu können, ohne Angst vor Entdek kung haben zu müssen. »Wir werden uns vor allem erst Ge wißheit verschaffen müssen, meine Liebe, daß diese Reise dei ner Gesundheit nicht noch mehr schadet.« »Du willst mich nicht dabeihaben, nicht wahr?« sagte sie scharf. »Aber natürlich –« »Es ist eine herrliche Gelegenheit, von mir wegzukommen, mich eine Weile los zu sein.« »Isabella, bitte beruhige dich. Du wirst dich –« »Tu nicht so, als würdest du dir Sorgen um mich machen. Ich bin seit neun Jahren nur noch eine Last für dich. Ich bin sicher, du sähest mich am liebsten tot.« »Isabella –« Es bestürzte ihn, wie recht sie mit ihre Anklage hatte. »Ach, spiel mir bloß nicht den Heiligen vor, Blaine Malco mess. Ich mag zwar an diesen Rollstuhl gefesselt sein, aber ich 499
kann sehen und ich kann hören.« »Auf diese Art will ich kein Gespräch führen.« Er stand auf. »Wir reden weiter, wenn du dich wieder –« »Setz dich!« schrie sie ihn an. »Ich werde nicht zulassen, daß du wie üblich zu deiner französischen Hure rennst!« Er zuckte zusammen, und sie fuhr hämisch fort: »So, endlich ist es aus gesprochen. O Gott, du hast keine Ahnung, wie oft ich es schon sagen wollte. Du hast keine Ahnung, wie gut es tut, es zu sa gen: Diese Hure! Dieses Flittchen!« »Wenn du nicht aufhörst, gehe ich«, warnte er sie. »Diese Dirne«, sagte sie genüßlich. »Nutte! Schlampe!« Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinun ter. »Blaine«, schrie sie hinter ihm her. »Komm zurück!« Als er unbeirrt weiterging, änderte sie den Tonfall. »Blaine, es tut mir leid. Verzeih mir. Bitte komm zurück. Bit te!« Er konnte es ihr nicht abschlagen. Widerwillig kehrte er um und merkte, daß seine Hände vor Wut zitterten. Er steckte sie in die Taschen und blieb an der Treppe stehen. »Na schön«, sagte er leise. »Es ist wahr, ich liebe Centaine Courtney, aber was du nicht weißt, ist, daß wir alles getan ha ben, was in unserer Macht stand, um zu verhindern, daß du gekränkt oder gedemütigt wirst. Sprich also nie wieder so von ihr. Wenn sie es zugelassen hätte, wäre ich schon vor Jahren zu ihr gegangen – und hätte dich verlassen. Nur durch sie bin ich noch hier.« Sie war ebenso erschüttert und gedemütigt wie er – jedenfalls glaubte er das, bis sie den Blick wieder hob. Da erkannte er, daß sie ihm ihre Reue nur vorgemacht hatte, um ihn zurückzu locken. »Ich weiß, daß ich nicht mit dir nach Berlin reisen kann, Blaine. Ich habe bereits mit Dr. Joseph gesprochen, und er hat es ausdrücklich verboten. Er sagt, die Reise würde mich umbringen. Doch ich weiß, was ihr im Sinn habt, du und diese 500
Frau. Ich weiß, daß du deinen ganzen Einfluß geltend gemacht hast, um Shasa Courtney in die Mannschaft zu bekommen, bloß damit sie einen Vorwand hat, mit dir nach Berlin zu fah ren. Ich weiß, daß du eine hübsche kleine Reise zu zweit planst, und ich kann dich nicht daran hindern –« Er hob resignierend die Hände. Es war sinnlos, darauf zu antworten, und ihre Stimme nahm wieder den üblichen schril len Klang an. »Aber das eine sage ich dir – es werden keine Flitterwochen, wie ihr gedacht habt. Ich habe Tara und Mathilda Janine ge sagt, daß sie mitfahren dürfen. Ich habe es ihnen bereits ver sprochen, und sie sind außer sich vor Freude. Nun liegt es an dir. Entweder du bist herzlos genug, deine eigenen Töchter zu enttäuschen, oder du wirst in Berlin nicht Romeo, sondern Ba bysitter spielen.« Ihre Stimme wurde noch ein wenig schriller, und ihre Augen funkelten hämisch. »Und ich warne dich! Wenn du dich weigerst, sie mitzunehmen, Blaine Malcomess, dann erzähle ich ihnen, warum. Gott ist mein Zeuge, ich werde ihnen sagen, daß ihr geliebter Vater ein Lügner und ein Huren bock ist!« Obwohl keiner, vom erfahrensten Sportreporter bis zum letz ten Boxfan, daran gezweifelt hatte, daß Manfred De La Rey mit der Boxerriege nach Berlin fahren würde, jubelte die ganze Stadt und die Universität von Stellenbosch, als die ausgewählte Mannschaft offiziell bekanntgemacht wurde. Manfred war tat sächlich im Halbschwergewicht nominiert worden, aber dar über hinaus hatte man Roelf Stander im Schwergewicht ins Olympiateam gestellt und Reverend Tromp Bierman zum offi ziellen Teamtrainer ernannt. Die Stadtväter gaben einen Empfang mit einer Parade durch die Straßen der Stadt, während der kommandierende General auf einer Massenversammlung der Ossewa Brandwag sie als 501
Musterbeispiel der Männlichkeit hinstellte. »Es sind junge Männer wie diese, die unserer Nation den rechtmäßigen Platz in diesem Land erkämpfen werden«, erklär te er. Und während die uniformierten Sturmtruppen salutierten, erhielten Manfred und Roelf die Rangabzeichen von Offizieren an ihre Uniformröcke geheftet. Manfred war noch nie in seinem Leben so stolz gewesen und so fest entschlossen, das Vertrauen, daß man in ihn setzte, zu rechtfertigen. Sarah hatte es freiwillig übernommen, bei Manfreds und Roelfs allabendlichem Lauftraining als Zeitnehmer zu fungie ren. Barfuß lief sie auf Abkürzungen durch den Wald den Hang hinauf, um sie mit der Stoppuhr in der Hand, einem feuchten Tuch und einer Flasche mit kaltem, frisch gepreßtem Orangen saft an vorher vereinbarten Stellen zu erwarten. Zwei Wochen vor dem Abreisetag nahm Roelf einmal an dem Lauftraining nicht teil, weil er auf einer außerordentlichen Versammlung des Studentenrates den Vorsitz führen mußte, und Manfred trainierte allein. Er nahm den steilen Abhang des Hartenboschberges in vol lem Lauf, setzte seine ganze Kraft ein und lief mit langen, ela stischen Schritten den Hang hinauf. Sarah wartete auf dem Hü gelkamm auf ihn. Unwillkürlich blieb er stehen und starrte mit klopfendem Herz zu ihr empor. Sie war wunderschön. Er war überrascht, daß er das noch nie bemerkt hatte. Ohne den Blick von ihr ab zuwenden, ging er langsam die letzten Meter den Hang hinauf, verwirrt durch die jähe Erkenntnis und das heftige Verlangen, das ihn plötzlich überfiel. Sie kam ihm ein paar Schritte entgegen. Barfuß war sie noch viel kleiner als er. Sie hielt ihm das Handtuch hin, aber als er keine Anstalten machte, es ihr abzunehmen, trat sie einen Schritt näher und streckte sich, um ihm Hals und Schultern abzureiben. 502
»Ich habe letzte Nacht geträumt, daß wir wieder in dem La ger waren«, flüsterte sie, während sie mit dem Handtuch seine Oberarme trockenrieb. »Erinnerst du dich noch an das Lager neben den Eisenbahnschienen, Mani?« Er nickte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er brachte keinen Ton heraus. »Ich sah meine Ma in dem Grab liegen. Es war schrecklich. Dann hat sich das Bild verändert, Mani. In dem Grab lagst du, und du warst so blaß und so schön, aber ich wußte, daß ich dich verloren hatte – und ich war so traurig, daß ich auch ster ben wollte, um für immer bei dir zu sein.« Er streckte die Arme aus und zog sie an sich, und sie sank schluchzend an seine Brust. Ihre Stimme bebte. »Oh, Mani. Ich will dich nicht verlieren. Bitte, komm bald zu mir zurück – ohne dich kann ich nicht weiterleben.« »Ich liebe dich, Sarie«, murmelte er mit erstickter Stimme. »Ich habe es erst heute erkannt.« »Ich habe es schon immer gewußt. Ich habe dich vom alle rersten Augenblick an geliebt und werde dich immer lieben«, flüsterte sie und hielt ihm den Mund hin. »Küß mich, Mani, küß mich oder ich sterbe.« Die Berührung ihrer Lippen entzündete etwas in ihm. Plötz lich lagen sie auf einem weichen Nadelbett unter den Föhren neben dem Weg, und die milde Herbstluft strich weich wie Seide über seinen nackten Rücken, war aber nicht so weich wie ihr Körper unter dem seinen. Er begriff nicht, was geschehen war, bis sie plötzlich vor Schmerz und Wonne aufschrie, aber da war es schon zu spät, und er hörte sich selbst schreien, außerstande, sich rechtzeitig von ihr zu lösen. Eine wilde Welle trug ihn mit sich fort in ei nen Himmel, den er noch nie betreten hatte – von dessen Exi stenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Vernunft und Realität kehrten allmählich wieder zurück, und er starrte sie erschrocken an. 503
»Was wir getan haben, ist sündhaft und unverzeihlich –« »Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf und streckte, noch immer nackt, den Arm nach ihm aus. »Nein, Mani, wenn zwei Menschen sich lieben, ist es keine Sünde. Es ist ein Geschenk Gottes, schön und heilig.« In der Nacht, bevor Manfred mit Onkel Tromp und der Box mannschaft nach Europa abreiste, schlief er in seinem alten Zimmer im Pfarrhaus. Als es im ganzen Haus still war, schlich Sarah durch den Gang zu seinem Zimmer. Er hatte die Tür of fengelassen. Er erhob auch keine Einwände, als sie ihr Nacht hemd auszog und neben ihm unter die Bettdecke schlüpfte. Sie blieb bei ihm, bis die Tauben in den Eichen vor der Ve randa zu gurren begannen. Dann küßte sie ihn ein letztes Mal und flüsterte: »Jetzt gehören wir einander – für immer und ewig.« Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Ablegen des Schiffes, und in Centaines Kabine drängten sich so viele Men schen, daß es kein kleines Unternehmen war, von einer Kabi nenseite zur anderen zu gelangen. Blaine Malcomess war der einzige von Centaines Freunden, der nicht anwesend war. Sie hatten beschlossen, nicht jedermann wissen zu lassen, daß sie mit demselben Postschiff reisten, und vereinbart, sich erst zu treffen, wenn der Hafen hinter ihnen lag. Sogar Abe Abrahams, der freudestrahlend und stolz neben David stand, und Dr. Twentyman-Jones waren hier. Sie hatten die weite Reise von Windhuk nur gemacht, um ihr Lebewohl zu sagen. Selbstverständlich waren auch Sir Garry und Anna da, ebenso wie der Ou Baas General Smuts und seine kleine weißhaarige Frau. Shasa stand, von einer Schar junger Damen umringt, in einer Ecke und erzählte gerade eine Geschichte, als er plötzlich den Faden verlor und den Blick nicht vom Bullauge wenden konn 504
te. Was ihn so aus dem Konzept gebracht hatte, war der flüch tige Blick auf den Kopf eines Mädchens, das draußen auf dem Deck vorbeiging. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, nur die Flut von kastanien braunen Locken, unter denen ein langer schlanker Hals und ein entzückendes kleines Ohr zum Vorschein kamen. Etwas an der Neigung und Haltung dieses Kopfes ließen ihn augenblicklich jedes Interesse an den jungen Damen um ihn herum verlieren. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und steckte den Kopf durch das Bullauge, aber das Mädchen war schon vorbei, und er sah sie nur noch von hinten. Sie hatte eine unglaublich schmale Taille und ein kesses kleines Hinterteil, das beim Ge hen hin und her wackelte. Ihre Waden waren makellos geformt, ihre Knöchel zart und schmal. Sie bog um die Ecke, und für Shasa stand fest, daß er unbedingt einen Blick auf ihr Gesicht werfen mußte. »Entschuldigen Sie mich, meine Damen.« Seine Zuhörerin nen gaben sich enttäuscht, aber er drängte sich sanft durch ih ren Kreis und arbeitete sich zur Tür vor. Doch bevor er diese erreichen konnte, begannen die Schiffssirenen zu heulen, und überall erschallte die Mitteilung: »Letzter Aufruf, meine Da men und Herren – bitte gehen Sie von Bord.« Da wußte er, daß es zu spät war. »Sie wäre sicherlich eine Enttäuschung – von hinten himm lisch, von vorne höllisch –, und wahrscheinlich reist sie über haupt nicht mit«, tröstete er sich. Dann schüttelte Dr. Twenty man-Jones ihm die Hand und wünschte ihm viel Glück für die Olympischen Spiele. Er versuchte den kastanienbraunen Lok kenkopf zu vergessen und sich auf seine gesellschaftlichen Verpflichtungen zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach. Draußen an Deck und unter der Menge am Kai suchte er sie zu entdecken, aber kaum hatte das Schiff abgelegt, als Centaine an seinem Arm zerrte. 505
»Komm, chéri, sehen wir uns die Tischordnung im Speise saal an.« »Aber du bist doch zum Tisch des Kapitäns geladen«, sagte er. »Die Einladung lag –« »Ja, aber nicht du und David«, erwiderte sie. »Wir wollen sehen, wo sie euch beide hingesetzt haben, und wenn es nicht paßt, lassen wir es ändern.« Shasa begriff, daß sie etwas im Schilde führte. Normalerwei se hielt sie es für selbstverständlich, daß sie die besten Plätze erhielt, in der absoluten Gewißheit, daß ihr Name genügte, ihr jede Vergünstigung zu sichern. Aber diesmal wollte sie sich persönlich davon überzeugen, und in ihren Augen lag jener Ausdruck, den er bei sich ihr »machiavellisches Funkeln« nannte. »Na schön«, stimmte er schließlich zu, und sie gingen zu dritt die Stiege zum Speisesaal der ersten Klasse hinunter. Am Fuß der Treppe umdrängten ein paar Reisende den Oberkellner. Fünfpfundnoten verschwanden wie durch Zaube rei in den Taschen dieses weltgewandten Gentlemans, und auf dem Sitzplan wurden ein paar Namen ausgetauscht. Etwas abseits von dieser Gruppe stand eine große, vertraute Gestalt, die Shasa augenblicklich erkannte. »Himmel, Mutter!« rief Shasa. »Ich hatte keine Ahnung, daß Blaine mitreist. Ich dachte, er würde später mit den anderen –« Er brach ab. »Sie haben es geplant!« begriff er verwundert. Deshalb ihre Aufregung. Und endlich wurde ihm alles klar. »Man sollte es nicht für möglich halten. Die beiden sind ein Liebespaar! Schon all die Jahre hindurch, und ich habe nichts bemerkt.« Viele kleine Dinge, bis dahin bedeutungslos und nun höchst bedeutsam, fielen ihm plötzlich wieder ein. Recht widersprüch liche Gefühle bemächtigten sich seiner: Blaine Malcomess, der bereits eine Art Vaterstelle für ihn einnahm. Aber diesem Ge danken folgte augenblicklich eine Anwandlung von Eifersucht 506
und moralischer Entrüstung. »Blaine Malcomess, Stütze der Gesellschaft und der Regierung, und Mutter, die dauernd ta delnd den Kopf schüttelt und ein böses Gesicht macht – diese liederlichen kleinen Teufel, sind schon jahrelang zusammen, ohne daß irgend jemand Verdacht geschöpft hat!« Blaine trat auf sie zu. »Centaine, das ist aber eine Überra schung!« Centaine lachte und streckte ihm die Hand hin. »Lieber Himmel, Blaine Malcomess, ich hatte keine Ahnung, daß Sie auch an Bord sind.« Und Shasa dachte amüsiert: »Welch gekonnte Vorstellung! Ihr habt mich und alle anderen jahrelang zum Narren gehalten. Clark Gable und Ingrid Bergman sind Dilettanten dagegen!« Doch plötzlich war das nicht mehr wichtig. Das einzige, was Shasa wahrnahm, waren die beiden Mädchen, die hinter Blaine auftauchten. »Centaine, Sie erinnern sich doch noch an meine beiden Töchter. Das ist Tara und das Mathilda Janine –« »Tara«, klang es in Shasas Ohren. Tara – was für ein schöner Name. Sie war das Mädchen, das er durch das Bullauge gese hen hatte, und sie war noch um vieles bezaubernder. Sie war groß, hatte das Gesicht einer Madonna, und ihr Teint war eine Mischung aus Sahne und Blütenblättern – fast schon zu makellos. Duftiges kastanienbraunes Haar, der breite sinnli che Mund ihres Vaters, stahlgraue Augen, aus denen Intelli genz und Entschlossenheit einen anblickten. Sie begrüßte Centaine angemessen artig und wandte sich dann direkt Shasa zu. »Shasa, du mußt dich noch an Tara erinnern«, sagte Blaine. »Sie war vor vier Jahren auf Weltevreden zu Besuch.« War sie wirklich dieser kleine laute Quälgeist? Shasa starrte sie an – die Kleine im kurzen Röckchen, die ihm mit ihren wil den, kindischen Streichen auf die Nerven gegangen war? Kaum zu glauben. 507
»Wie schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen, Tara.« Sei beherrscht und zurückhaltend, ermahnte sie sich. Sie zit terte fast vor Scham, wenn sie daran dachte, daß sie damals um ihn herumgetanzt war wie ein Hündchen, das gestreichelt wer den wollte. Aber sie hatte sich auf den allerersten Blick in ihn verliebt, und dieses Gefühl hielt immer noch an. Doch sie brachte es fertig, das richtige Maß an Gleichgültig keit zu zeigen. »O, wir kennen uns schon? Das muß ich verges sen haben, tut mir leid.« Sie gab ihm die Hand. »Nun, jeden falls ist es nett, dich wiederzusehen – Shasa?« »Ja, Shasa«, bestätigte er und nahm ihre Hand, als wäre sie ein kostbarer Talismann. »Habt ihr schon einen Tisch reserviert?« fragte er, ohne ihre Hand loszulassen. »Daddy sitzt am Kapitänstisch«, antwortete Tara mit einem Blick zu ihrem Vater. »Wir vier könnten uns doch zusammen einen Tisch neh men«, schlug Shasa rasch vor. »Kommt, reden wir mit dem Maître.« Blaine und Centaine wechselten einen erleichterten Blick – es lief alles genau so, wie sie es geplant hatten. Mathilda Janine errötete, als sie David Abrahams die Hand reichte. Sie war nicht so hübsch wie ihre Schwester, denn sie hatte nicht nur den breiten Mund ihres Vaters geerbt, sondern auch seine große Nase und seine abstehenden Ohren. Und ihr Haar war nicht kastanienbraun, sondern feuerrot. Aber er hat auch eine große Nase, dachte sie trotzig, als sie Davids Gesicht betrachtete. Während der vierzehntägigen Überfahrt nach Le Havre sahen Blaine und Centaine nur sehr wenig von den vier jungen Leu ten, die sich meistens auf dem Touristendeck herumtrieben, wo es viel lustiger war als auf den Decks der ersten Klasse. Mathilda Janine und David entdeckten ihren Sinn für Humor und brachten sich die meiste Zeit gegenseitig zum Lachen. Ab 508
gesehen von einem verstohlenen, flüchtigen Kuß vor der Tür der Kabine – den auch Tara mit David tauschte –, dachten die beiden gar nicht daran, mehr daraus zu machen. Obwohl David Gefallen an der kurzen Beziehung zu dem Kamel gefunden hatte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, sich derlei Akrobatik mit einem außergewöhnlichen Mädchen wie Matty zu erlauben. Shasa hatte keine Hemmungen dieser Art. Er war viel erfah rener als David, und als er die erste Scheu vor Taras Schönheit überwunden hatte, startete er einen hinterhältigen, aber um so entschlosseneren Angriff gegen die Festung ihrer Jungfräulich keit. Doch seine Erfolge waren um nichts großartiger als die von David. Er brauchte fast eine Woche, um zumindest so viel Vertraut heit zu schaffen, daß Tara ihm erlaubte, ihr Schultern und Rük ken mit Sonnenöl einzureihen. Und wenn er versuchte, sie vor der Kabinentür zu küssen, dann wehrte sie ihn ab, indem sie beide Hände gegen seine Brust stemmte und dieses aufreizend tiefe Lachen hören ließ. »Die alberne kleine Hexe ist total frigide«, erklärte Shasa seinem Spiegelbild im Rasierspiegel. »Vermutlich hat sie einen Eisberg im Schlüpfer.« Aber eine Stunde später spielte er mit ihr Tennis, rieb ihren glatten Rücken mit Sonnenöl ein oder versuchte, sich in einer Diskussion gegen sie zu behaupten, in der es um die Vor- und Nachteile der geplanten Regierungsmaßnahme ging, den farbi gen Wählern der Kapprovinz das Wahlrecht zu entziehen. Er hatte mit einiger Bestürzung festgestellt, daß Tara Mal comess ein hochentwickeltes Politikbewußtsein hatte. Außer dem vertrat sie Ansichten, die fast ebenso beunruhigend waren wie ihre körperlichen Reize. »Ich glaube ebenso wie Daddy, daß es weitaus besser wäre, wenn wir allen Schwarzen das Wahlrecht geben würden, an statt es den wenigen, die es haben, auch noch zu entziehen.« 509
»Allen das Wahlrecht geben!« Shasa war entsetzt. »Du meinst das doch nicht etwa im Ernst?« »Natürlich. Selbstverständlich nicht allen auf einmal, sondern nach den Regeln der zivilisierten Welt. Regieren sollen die, die bewiesen haben, daß sie dazu imstande sind. Also geben wir zum Beispiel allen das Wahlrecht, die ein entsprechendes Maß an Schulbildung und Verantwortungsbewußtsein haben. Auf diese Weise könnte jeder Mann und jede Frau, ob Schwarz oder Weiß, innerhalb von zwei Generationen auf der Liste ste hen.« Shasa schauderte bei dem Gedanken – dabei war das vermut lich noch eine von ihren harmloseren Ansichten. »Woher nehmen wir das Recht, den Leuten zu verbieten, in ihrem eigenen Land Grundbesitz zu erwerben, ihre Arbeit dem Meistbietenden zu verkaufen oder ganz allgemein Handel zu treiben?« Sie ist eine Kommunistin – aber eine verdammt hübsche, dachte er. »Er ist ein einfältiger Faschist«, dachte sie wütend. Aber immer wenn sie sah, daß ihn andere Frauen mit den Blicken verschlangen, hätte sie ihnen am liebsten die Augen ausge kratzt. Und nachts in ihrer Koje, wenn sie an die Berührung seiner Hände dachte oder an die Nähe seines Körpers beim Tanzen, errötete sie über die Gedanken, die in ihrem Kopf krei sten. »Wenn ich es zulasse – wenn ich auch nur ein bißchen nach gebe, bin ich nicht mehr imstande, ihn zu stoppen, das weiß ich. Und würde ihn auch gar nicht mehr stoppen wollen.« Und sie wappnete sich gegen ihn. »Sei beherrscht und zurückhal tend«, sagte sie sich vor, als wäre das ein Zauberspruch gegen die tückischen Fallen, die ihr eigener Körper ihr stellte.
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Ein eigenartiger Zufall hatte es gefügt, daß im Laderaum des Schiffes Blaines Bentley direkt neben Centaines Daimler stand. »Wir könnten doch im Konvoi nach Berlin fahren!« rief Cen taine plötzlich aus, so als wäre ihr diese Idee gerade gekom men. Die vier jungen Leute waren begeistert, und augenblick lich begann ein eifriges Schäkern und Handeln um die Sitzplät ze in den beiden Fahrzeugen. Schließlich einigte man sich dar auf, daß Centaine und Blaine den Bentley nehmen würden, wogegen Centaine nur matt protestierte, während die anderen mit dem Daimler und Shasa am Steuer folgen würden. Sie fuhren von Le Havre auf staubigen Straßen durch Nord westfrankreich, vorbei an den Städten Amiens und Arras, deren Namen immer noch Schreckensbilder des großen Krieges he raufbeschworen. Mittlerweile bedeckte grünes Gras die schlammigen Schlachtfelder, auf denen Blaine gekämpft hatte, aber die langen Reihen weißer Kreuze schimmerten wie Gän seblümchen im Sonnenschein. »Möge Gott verhüten, daß die Menschheit noch einmal so etwas erleben muß«, murmelte Blaine, und Centaine ergriff seine Hand. In dem kleinen Dorf Mort Homme hielten sie vor der Auber ge in der Hauptstraße an. Als Centaine den Gastraum betrat, erkannte Madame sie sofort und rief aufgeregt: »Henri, viens vite! C’est Mademoiselle de Thiry du château –« Dann stürzte sie auf Centaine zu und umarmte sie. Ein reisender Geschäftsmann wurde ausquartiert, und sie er hielten die besten Zimmer im Haus. Centaine genoß die wohl bekannten Speisen, die sie zum Abendessen serviert bekamen, während Madame neben dem Tisch stand und Centaine alle Ereignisse der letzten neunzehn Jahre aufzählte – Todesfälle und Geburten, Hochzeiten, Verlobungen und Skandale. Am nächsten Morgen ließen Centaine und Shasa die anderen schlafen und fuhren zum Château. Es war eine Ruine mit schwarzverkohlten, von Granaten durchlöcherten Mauern und 511
leeren Fensteröffnungen, verfallen und verwahrlost. Centaine stand zwischen den Mauerresten und weinte um ihren Vater, der lieber mit dem großen Haus verbrannt war, als daß er es den vorrückenden Deutschen überlassen hätte. Nach dem Krieg war das Gut verkauft worden, um die Schulden zu bezahlen, die der alte Mann durch sein luxuriöses Leben und sein übermäßiges Trinken gemacht hatte. Es gehörte nun der großen Cognacfirma Hennessy. Dem alten Mann hätte diese kleine Ironie des Schicksals bestimmt gefallen, dachte Centaine lächelnd. Sie erkletterten gemeinsam den kleinen Hügel hinter dem verfallenen Gut, und Centaine zeigte ihrem Sohn den Obstgar ten, der während des Krieges als Flugfeld gedient hatte. »Dort war die Staffel deines Vaters stationiert. Ich habe jeden Morgen hier auf dem Hügel gewartet, um ihnen nach dem Ab flug zuzuwinken.« »Sie flogen SE5as, nicht wahr?« »Erst später. Anfangs waren es die alten Sopwiths.« Centaine blickte zum Himmel auf. »Die Maschine deines Vaters war hellgelb gestrichen. Ich nannte ihn le petit jaune, den kleinen Gelben. Oh, Shasa, wie stattlich und lebenslustig und jung er war!« Sie kehrten zum Wagen zurück und fuhren langsam zwischen den Weingärten zurück. Am Ende der Nordweide bat Centaine ihren Sohn, neben einer kleinen Scheune mit Mauern aus Na turstein anzuhalten. Er sah verwundert zu, wie sie ein paar Mi nuten unter der Tür der Scheune stehenblieb und dann mit ei nem feinen Lächeln auf den Lippen und einem warmen Glanz in den Augen zum Wagen zurückkehrte. Sie bemerkte seinen fragenden Blick und erklärte: »Hier ha ben dein Vater und ich uns immer getroffen.« Shasa wurde blitzartig klar, daß er hier in der kleinen alten Scheune in diesem fremden Land gezeugt worden war. Vor der kleinen Kirche am Dorfeingang hielten sie abermals 512
an und gingen auf den Friedhof. Michael Courtneys Grab lag unter einer Eibe am anderen Ende. Sie blieben Seite an Seite vor dem Grab stehen und lasen die Inschrift auf dem Grabstein: IN SELIGEM ANDENKEN AN
CAPTAIN MICHAEL COURTNEY RFC,
GEFALLEN AM 19. APRIL 1917.
KEIN MANN BESASS MEHR LIEBE.
Sie knieten nieder und säuberten das Grab von Unkraut. Dann blieben sie noch ein paar Minuten mit gesenkten Köpfen davor stehen, bevor sie zu ihrem Gasthaus zurückkehrten. Am nächsten Tag fuhren sie alle nach Paris weiter. Centaine hatte im »Ritz« an der Place Vendôme Zimmer bestellt. Blaine und Centaine hatten einen vollen Terminkalender – Besprechungen, Empfänge, Abendessen mit verschiedenen Mitgliedern der französischen Regierung –, während die vier jungen Leute sich selbst überlassen blieben und den Tag in Paris bis zur letzten Minute auskosteten. Sie verließen Paris mit Bedauern und erreichten in bester Stimmung die deutsche Grenze. Der französische Zöllner winkte sie mit gallischer Nonchalance durch. Sie stellten den Bentley und den Daimler vor dem Schlagbaum ab und betraten die deutsche Zollstation. Die Uniform des deutschen Zollbeamten war peinlich sauber. An der Wand hinter dem Schalterpult hing ein Porträt des Füh rers. Blaine legte mit einem freundlichen »Guten Tag, mein Herr« die Pässe auf das Pult und plauderte mit Centaine, während der Grenzbeamte einen Paß nach dem anderen genau überprüfte und jeden mit einem Hakenkreuzstempel versah. Davids Paß war der letzte. Ihn überprüfte der Beamte beson ders genau, er las jede einzelne Seite langsam durch und blick te immer wieder auf, um David anzustarren. Nach ein paar Mi 513
nuten fiel das auch den anderen auf, und sie verstummten und sahen einander verwundert an. »Ich glaube, da stimmt etwas nicht, Blaine«, sagte Centaine leise. »Gibt es ein Problem?« fragte Blaine, und der Beamte ant wortete ihm in steifem, aber korrektem Englisch. »Abrahams ist ein jüdischer Name, nicht wahr?« Blaine wurde rot vor Ärger, aber bevor er etwas sagen konn te, war David neben ihn getreten. »Ja, es ist ein jüdischer Na me«, sagte er ruhig, worauf der Beamte nachdenklich nickte und mit dem Zeigefinger auf den Paß tippte. »Sie geben zu, daß Sie Jude sind?« »Ja, ich bin Jude«, erwiderte David im selben sachlichen Tonfall. »Es steht nicht in Ihrem Paß, daß Sie Jude sind«, sagte der Beamte. »Sollte es das?« fragte David. Der Beamte zuckte die Achseln und fragte: »Sie möchten nach Deutschland einreisen – und Sie sind Jude?« »Ich möchte nach Deutschland einreisen, um an den Olympi schen Spielen teilzunehmen, zu welchen ich von der Regierung eingeladen worden bin.« »Ach! Sie sind ein Olympiateilnehmer – ein jüdischer Olym piateilnehmer?« »Nein, ich bin ein südafrikanischer Olympiateilnehmer. Ist mit meinem Visum etwas nicht in Ordnung?« Der Beamte beantwortete die Frage nicht. »Warten Sie bitte hier.« Er verschwand mit Davids Paß durch eine Tür im Hin tergrund. Sie hörten ihn im hinteren Büro sprechen und blickten Tara fragend an. Tara war die einzige, die ein wenig Deutsch verstand. »Was sagt er?« fragte Blaine. »Sie reden viel zu schnell – es fallen immer wieder die Worte 514
›Juden‹ und ›Olympische Spiele‹«, antwortete Tara. Dann öffnete sich die Tür und der Grenzbeamte kam mit ei nem dicken rotgesichtigen Mann zurück, der offensichtlich sein Vorgesetzter war. »Wer ist Abrahams?« fragte er. »Ich.« »Sie sind Jude? Sie geben zu, daß Sie Jude sind?« »Ja, ich bin Jude. Das habe ich jetzt schon ein paarmal ge sagt. Stimmt etwas mit meinem Visum nicht?« »Warten Sie bitte.« Die beiden Beamten verschwanden abermals mit Davids Paß im hinteren Büro. Dann hörten sie das Klingeln einer Telefonwählscheibe und die Stimme des Beamten – laut und unterwürfig. »Was geht da vor?« fragte Blaine Tara. »Er telefoniert mit jemandem in Berlin«, erklärte Tara. »Es geht um David.« Das Gespräch im benachbarten Zimmer endete mit einem »Jawohl, Herr Hauptmann« und einem lauten »Heil Hitler!«. Die beiden Grenzbeamten kamen zurück. Der Rotgesichtige stempelte Davids Paß und überreichte ihn mit einer theatrali schen Geste. »Willkommen im Dritten Reich!« verkündete er, streckte den rechten Arm nach oben und rief: »Heil Hitler!« Mathilda Janine begann nervös zu kichern. »Ist er nicht süß!« Blaine ergriff ihren Arm und schob sie eilig aus dem Büro. Still und in gedämpfter Stimmung fuhren sie ab. Zwei Tage später fuhren sie auf der breiten Autobahn durch die Vororte der Reichshauptstadt. »So viel Wasser, so viele Kanäle und so viele Bäume!« »Die Stadt wurde an einer Reihe von Flußläufen erbaut«, er klärte Tara. »Flüsse, die zwischen den eiszeitlichen Moränen im Osten und Westen hindurchfließen –« 515
»Wie kommt es, daß du immer alles weißt?« unterbrach sie Shasa, trotz seinem neckenden Tonfall doch etwas gereizt. »Im Gegensatz zu anderen, deren Namen ich nennen könnte, bin ich tatsächlich gebildet, weißt du«, gab sie zurück, und David stöhnte theatralisch. »Aua, das hat weh getan, und dabei war es nicht einmal ge gen mich gerichtet.« »Na schön, Miss Siebengescheit«, forderte Shasa Tara her aus. »Wenn du schon so klug bist, dann sag mir doch, was auf dem Schild dort steht?« Er deutete auf eine große weiße Tafel neben der Autobahn. Die Schrift war schwarz, und Tara las laut vor: »Dort steht: ›Juden! Haltet euch immer geradeaus. Diese Straße bringt euch zurück nach Jerusalem, wo ihr hingehört!‹« Als ihr bewußt wurde, was sie gesagt hatte, wurde sie rot vor Verlegenheit und beugte sich vor, um Davids Schultern zu be rühren. »Oh, David, es tut mir so leid. Ich hätte diesen Unsinn nie vorlesen dürfen!« David saß sehr aufrecht auf dem Beifahrersitz und starrte durch die Windschutzscheibe nach vorn. Nach ein paar Sekun den begann er matt zu lächeln. »Willkommen in Berlin«, flüsterte er. »Dem Zentrum der ari schen Zivilisation.« »Willkommen in Berlin! Willkommen in Berlin!« Der Zug, der sie durch halb Europa befördert hatte, fuhr in den Bahnhof ein, und die Willkommensrufe gingen in den zackigen Marsch klängen der Militärkapelle fast unter. Als der Zug zum Stillstand kam, stürmte die wartende Menge los, so daß Manfred De La Rey und seine Kameraden im Nu von freudestrahlenden Gesichtern und lachenden Mädchen umgeben waren, die ihnen die Hände schüttelten, sie mit Blu 516
mengirlanden bekränzten und mit Fragen bestürmten. Es dauerte ein paar Minuten, bevor sich eine laute Stimme in dem Lärm durchsetzen konnte: »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten! Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!« Die Kapelle verstummte mit einem Trommelwirbel und ein großer Mann in dunkler Uniform trat vor. »Zuerst darf ich Sie im Namen des Führers und des deut schen Volkes herzlich zu den elften Olympischen Spielen will kommen heißen. Wir wissen, daß Sie den Geist und den Mut der Südafrikanischen Nation bestens vertreten werden, und wünschen Ihnen großen Erfolg und viele Medaillen.« Der Sprecher hob die Hände, um den stürmischen Applaus zu be enden. »Vor dem Bahnhof warten Fahrzeuge auf Sie, die Sie in ihr Quartier im olympischen Dorf bringen werden, wo alles vorbereitet ist, um Ihren Aufenthalt bei uns zu einer bleibenden und schönen Erinnerung zu machen. Und nun habe ich die Eh re, Ihnen die junge Dame vorzustellen, die Ihnen in den näch sten Wochen als Führerin und Dolmetscherin zur Verfügung stehen wird.« Er winkte, worauf eine junge Frau aus der Menge trat und sich neben ihn stellte. In den Reihen der Sportler wur de anerkennendes Gemurmel laut. »Das ist Heidi Kramer.« Sie war groß und kräftig, aber unverkennbar weiblich, mit Kurven wie ein Stundenglas, der Anmut einer Ballerina und der Haltung einer Sportlerin. Ihr Haar hat die Farbe der Mor gendämmerung in der Kalahari, dachte Manfred. Ihre Zähne waren ebenmäßig, ihre Augen schlichtweg unbeschreiblich – blauer und klarer als der afrikanische Himmel. Manfred mußte sich eingestehen, daß sie die herrlichste Frau war, die er je ge sehen hatte. »Heidi wird sich als erstes darum kümmern, daß Ihr Gepäck verstaut wird und Sie in den Wagen Platz finden. Wenn Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an Heidi! Sie 517
ist von nun an Ihre große Schwester und Pflegemutter in ei nem.« Sie lachten, pfiffen und scherzten, und Heidi übernahm lä chelnd und mit reizender Geste, aber tüchtig und prompt die Führung. In wenigen Minuten war ihr Gepäck eingesammelt und von einer Gruppe uniformierter Träger fortgebracht wor den, und sie führte die Mannschaft durch die glasgedeckte Bahnhofshalle zum prächtigen Eingangsportal, vor dem eine lange Reihe schwarzer Mercedes-Limousinen auf sie wartete. Manfred, Onkel Tromp und Roelf Stander stiegen gemein sam in einen der Wagen, und der Fahrer wollte gerade losfah ren, als Heidi ihm zuwinkte und auf dem Gehsteig zu ihnen zurückeilte. Sie öffnete die Beifahrertür und steckte den Kopf herein. »Haben die Herren etwas dagegen, wenn ich mit ihnen fahre?« fragte sie mit ihrem strahlenden Lächeln, worauf alle heftig protestierten. »Nein! Nein! Steigen Sie bitte ein.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, schlug die Tür zu und drehte sich gleichzeitig zu ihnen um. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte sie. Sie sprach Englisch mit leichtem Akzent. »Ich habe so viel über Afrika gelesen – über die Tiere und die Zulu –, und eines Ta ges werde ich bestimmt hinfahren. Sie müssen versprechen, mir alles über Ihr schönes Land zu erzählen, und ich erzähle Ihnen alles über mein schönes Deutschland.« Sie stimmten begeistert zu, und Heidi wandte sich an Onkel Tromp. »Lassen Sie mich raten. Sie müssen Reverend Tromp Bierman sein, der Trainer der Boxmannschaft?« fragte sie, und On kel Tromp strahlte. »Erraten.« »Ich habe Ihr Bild gesehen«, gab sie zu. »Wie könnte ich ei nen so prachtvollen Bart je vergessen?« Onkel Tromp war ent zückt. »Aber Sie müssen mir sagen, wer die beiden anderen 518
Herren sind.« »Das ist Roelf Stander, unser Schwergewicht«, stellte Onkel Tromp vor. »Und das ist Manfred De La Rey, Halbschwerge wicht.« Manfred war sicher, daß sie bei der Nennung seines Namens leicht die Augen zusammenkniff und den Mundwinkel hoch zog. Doch dann lächelte sie wieder. »Wir werden gute Freunde werden«, sagte sie. Manfred antwortete auf deutsch: »Mein Volk, die Afrikaander, waren immer loyale Freunde des deut schen Volkes.« »Oh, Sie sprechen ja perfekt Deutsch«, rief sie erfreut in ihrer Muttersprache. »Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?« »Meine Großmutter väterlicherseits und meine Mutter waren reinblütige Deutsche.« »Dann wird unser Land Sie ganz besonders interessieren.« Sie wechselte wieder ins Englische und begann sie auf Se henswürdigkeiten und Besonderheiten von Berlin hinzuweisen. Als sie schließlich zu ihrem Wohnblock im Olympischen Dorf kamen, erwartete sie eine Ehrengarde der Hitlerjugend mit brennenden Fackeln und eine Kapelle, die die National hymne von Südafrika spielte. »Hier im Haus haben Sie einen eigenen Küchenchef und ei nen eigenen Speisesaal. Das Essen wird ganz nach Ihren Wün schen zubereitet, unter gebührender Berücksichtigung jeder Spezialität und jedes Geschmacks. Es gibt einen Arzt und einen Zahnarzt, die Ihnen Tag und Nacht zur Verfügung stehen. Eine Wäscherei und eine Reinigung, Radios und Telefone, ein eige ner Masseur für die Mannschaft, ein Sekretär mit Schreibma schine –« Es war für alles gesorgt, und die präzise Planung erstaunte sie. »Bitte suchen Sie jetzt Ihre Zimmer auf, Ihr Gepäck wurde bereits verteilt. Packen Sie aus und entspannen Sie sich. Mor gen früh fahren wir mit dem Bus zu den olympischen Sportstät 519
ten. Es sind fünfzehn Kilometer bis dorthin, daher fahren wir unmittelbar nach dem Frühstück um acht Uhr dreißig ab. Bis morgen dann«, rief sie fröhlich und ging in die Küche, um mit dem Chefkoch zu sprechen. »Na, das nenne ich eine Frau!« brummte Onkel Tromp. »Gott sei Dank bin ich ein Mann der Kirche, alt und glücklich verheiratet und jenseits aller weiblichen Versuchungen.« Und dann wurde er plötzlich streng. »Los, ihr faulen jungen Hunde. Turnschuhe anziehen und vor dem Abendessen noch schnell fünfzehn Kilometer laufen, wenn ich bitten darf!« Heidi erwartete sie, als sie zum Frühstück hinunterkamen. Sie war heiter, frisch und strahlend, beantwortete ihre Fragen, verteilte Post von Zuhause, löste rasch und ohne viel Aufhe bens ein paar kleine Probleme und führte sie, nachdem sie ge frühstückt hatten, zur Bushaltestelle. Als sie das Stadion sahen, erfüllte dessen Größe sie mit tiefer Ehrfurcht. Ein riesiger ovaler Komplex mit Hallen, Turnhallen und Schwimmbecken, die die Aschenbahn und das Spielfeld umgaben. Sie brauchten den ganzen Vormittag, um alles kennenzuler nen, und stellten Hunderte von Fragen. Heidi beantwortete sie alle, aber mehr als einmal kam sie an Manfreds Seite, und wenn sie deutsch miteinander sprachen, empfanden sie ein Ge fühl der Vertrautheit. Es war nicht nur Einbildung, Roelf hatte die besondere Aufmerksamkeit, die sie Manfred widmete, ebenfalls bemerkt. »Wie gefallen dir deine Deutschstunden?« fragte er ganz un schuldig beim Mittagessen, und als Manfred ihn anknurrte, grinste er respektlos. Sie wurden von den heimischen Boxklubs mit Sparringpart nern versorgt, und Onkel Tromp ließ sie in den folgenden Ta gen hart trainieren. 520
Manfred drosch auf seine Gegner ein und verteilte so wuch tige Schläge, daß trotz Kopfschutz keiner von ihnen mehr als eine oder zwei Runden durchhielt. Jedesmal, wenn Manfred in seine Ecke zurückkehrte und sich umsah, entdeckte er Heidi Kramer, die irgendwo in der Nähe stand und ihn mit diesen unwahrscheinlich blauen Augen merkwürdig gespannt beo bachtete. Doch erst nach vier Tagen Training geschah es, daß er ein mal mit ihr allein war. Er hatte ein hartes Training in der Turn halle hinter sich und war nach dem Duschen durch den Haupt eingang des Stadions zur Bushaltestelle gegangen. Kurz bevor er die Bushaltestelle erreichte, hörte er sie seinen Namen rufen, und sie kam hinter ihm hergerannt. »Ich fahre auch ins olympische Dorf zurück. Ich muß mit dem Küchenchef sprechen – darf ich mich Ihnen anschließen?« Sie mußte auf ihn gewartet haben, und er fühlte sich ge schmeichelt und auch ein wenig nervös. »Ich habe die Boxer aus den anderen Ländern beobachtet«, sagte sie. »Besonders die Halbschwergewichtler. Und ich habe auch Sie beobachtet.« »Ja.« Er runzelte die Stirn, um seine Verlegenheit zu verber gen. »Ich hab’ es bemerkt.« »Mit Ausnahme des Amerikaners brauchen Sie keinen zu fürchten.« »Cyrus Lomax«,,sagte er und nickte. »Das ›Ringmagazin‹ hält ihn für den besten Amateurhalbschwergewichtler der Welt. Onkel Tromp hat ihn auch beobachtet. Er meint ebenfalls, daß er sehr gut ist. Vor allem sehr stark. Und als Nigger hat er ei nen Schädel, hart wie Elfenbein.« »Er ist der einzige, der Ihnen die Goldmedaille streitig ma chen könnte.« Sie bestiegen den Bus, und als Manfred bemerkte, daß die anderen Männer Heidi bewundernde Blicke zuwarfen, war er stolz, sie an seiner Seite zu haben. 521
»Mein Onkel ist ein großer Boxfan. Er meint auch, daß Sie gute Chancen haben, den schwarzen Amerikaner zu schlagen. Er würde Sie gern kennenlernen.« »Das ist sehr freundlich von Ihrem Onkel.« »Er gibt heute abend in seinem Haus einen kleinen Empfang. Er hat mich gebeten, Sie dazu einzuladen.« »Sie wissen doch, daß das nicht möglich ist.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Trainingsplan –« »Mein Onkel ist ein wichtiger und einflußreicher Mann«, drängte sie ihn, indem sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte und bittend zu ihm auflächelte. »Es fängt schon früh an. Ich verspreche Ihnen, daß Sie noch vor neun Uhr zurück sein wer den.« Sie sah, daß er noch zögerte. »Es würde meinen Onkel – und mich – sehr freuen.« »Ich habe auch einen Onkel, Onkel Tromp –« »Versprechen Sie, mitzukommen, wenn ich von Ihrem Onkel Tromp die Erlaubnis erhalte?« Heidi erwartete ihn um sieben Uhr mit dem Mercedes vor seiner Unterkunft. Der Fahrer hielt ihm die hintere Wagentür auf, und Manfred setzte sich neben sie auf den Ledersitz. Sie lächelte ihm zu. »Sie sehen sehr gut aus, Manfred.« Sie trug das blonde Haar in zwei dicke Zöpfe geflochten und hochgesteckt. Ihre Schultern und die Ansätze ihres Busens wa ren nackt, schneeweiß und makellos, das blaue Taftkleid paßte genau zur Farbe ihrer Augen. »Sie sehen sehr gut aus«, sagte er. Er hatte noch nie einer Frau ein derartiges Kompliment gemacht, doch war es schließ lich die bloße Feststellung einer Tatsache. Sie senkte den Blick – eine rührend bescheidene Geste für eine Frau, die männliche Schmeicheleien gewohnt sein mußte. »Zur Rupertstraße«, befahl sie dem Fahrer. Sie fuhren langsam den Kurfürstendamm hinunter, und der Mercedes beschleunigte, als sie die ruhigeren Straßen im We sten des Grunewaldviertels erreichten. Das hier war die Millio 522
närsgegend am Westrand der großen Stadt. Manfred entspannte sich, lehnte sich bequem zurück und wandte sich der schönen Frau neben sich zu. Sie stellte ihm Fragen über sich, seine Fa milie und sein Land. Bald erkannte er, daß sie viel mehr über Südafrika wußte, als er angenommen hatte, und er fragte sich, wie sie zu diesem Wissen käme. Sie wußte alles über den Krieg, die Kämpfe und die Revolu tion, den anhaltenden Kampf seines Volkes gegen die barbari schen Negerstämme sowie über die Unterwerfung der Afri kaander durch die Briten. »Die Engländer«, sagte sie, und in ihrem Ton lag messer scharfe Bitterkeit, »sind überall und bringen überallhin nur Krieg und Leid. Auch wir wurden von ihnen unterdrückt und verfolgt. Wenn unser geliebter Führer nicht wäre, würden wir noch immer unter dem Joch der Juden und Engländer stöhnen.« »Ja, er ist ein großer Mann, euer Führer«, stimmte Manfred zu und zitierte: »Für was wir zu kämpfen haben, ist die Siche rung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, die Freiheit und die Unabhängigkeit des Vaterlan des, auf daß unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag.« »Mein Kampf!« rief sie aus. »Sie können die Worte des Füh rers zitieren!« Manfred erkannte, daß sie einen großen Schritt in ihrer Be ziehung zueinander weitergekommen waren. Das Haus in der Rupertstraße lag etwas zurückversetzt in ei nem großen Park am Ufer eines der wunderschönen Havelseen. In der Auffahrt standen mindestens zehn große Limousinen mit Hakenkreuzwimpeln auf den Motorhauben und uniformierten Fahrern, die neben den Wagen warteten. Alle Fenster des gro ßen Hauses waren erleuchtet, und sie hörten Stimmen, Musik und Lachen, als sie vor dem Portikus aus dem Mercedes stie 523
gen. Manfred reichte Heidi seinen Arm, und dann traten sie Seite an Seite durch die offenen Eingangstüren in eine Halle mit schwarzweiß gesprenkelten Marmorfliesen und holzgetäfelten Wänden, die mit einer Menge Jagdtrophäen geschmückt waren. Auf der Schwelle zum großen Empfangssaal blieben sie stehen. Im Saal drängten sich bereits viele Gäste. Die meisten Männer trugen prachtvolle Uniformen mit glitzernden Rangabzeichen, während die Frauen in elegante Abendroben aus Seide und Samt gehüllt waren und die Haare nach der letzten Mode hoch gesteckt hatten. »Da ist Onkel Sigmund«, rief Heidi und zog Manfred zu ei nem großen Mann in Uniform, der ihnen entgegenkam. »Heidi, meine Liebe.« Er beugte sich über Heidis Hand und küßte sie. »Du wirst mit jedem Mal schöner.« »Manfred, das ist mein Onkel, SS-Obersturmbannführer Sigmund Boldt. Onkel Sigmund, darf ich dir Herrn Manfred De La Rey vorstellen, den Boxer aus Südafrika.« Boldt schüttelte Manfred die Hand. Er hatte schneeweißes, streng zurückgekämmtes Haar, das sein hageres, kluges Ge sicht, die feinen Gesichtszüge und die schmale aristokratische Nase unterstrich. »Heidi hat mir erzählt, daß Sie deutscher Abstammung sind.« Er trug eine schwarze Uniform mit silbernen Totenkopfabzei chen an den Rockaufschlägen. Eines seiner Augenlider war halb geschlossen, und das Auge tränte unaufhaltsam. Er tupfte die Tränenflüssigkeit mit einem feinen Leinentaschentuch ab, das er in der rechten Hand hielt. »Das stimmt. Mich verbindet einiges mit Ihrem Land«, erwi derte Manfred. »Oh, Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch.« Der Obersturm bannführer nahm seinen Arm. »Viele von den Leuten, die heu te abend hier sind, möchten Sie gern kennenlernen, aber sagen Sie mir erst: Was halten Sie von Cyrus Lomax, dem schwarzen 524
amerikanischen Boxer? Welche Taktik werden Sie gegen ihn einsetzen?« Den ganzen Abend waren Heidi oder Boldt darum bemüht, ihn von einer Gruppe von Gästen zur nächsten zu schleusen, und der Kellner brachte ihm ein Glas Mineralwasser, als er den angebotenen Champagner ablehnte. Nur bei einem der Gäste, den Heidi als General Söller vor stellte, ließen sie ihn länger. Es war ein großgewachsener Mann in feldgrauer Uniform, mit dem Eisernen Kreuz an der Brust. Er hatte zwar ein Allerweltsgesicht mit blassen, kränkli chen Zügen, verfügte aber offensichtlich über einen scharfen, wachen Verstand. Er befragte Manfred eingehend über die Po litik und die Lage in Südafrika und interessierte sich besonders für die Meinung des Durchschnittsafrikaanders hinsichtlich der Beziehungen zu Großbritannien und dem Deutschen Reich. Während sie sich unterhielten, rauchte General Söller andau ernd dünne gelbe Zigaretten, die einen starken, würzigen Duft verbreiteten, und hin und wieder hustete er asthmatisch. Man fred fand ihn bald sympathisch und stellte fest, daß er sehr ge nau über alle afrikanischen Belange Bescheid wußte. Die Zeit war wie im Flug vergangen, als Heidi schließlich zu ihnen trat und Manfreds Arm berührte. »Verzeihen Sie, General, aber ich habe dem Teamtrainer ver sprochen, daß ich seinen Star noch vor neun Uhr zurückbringen werde.« »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, junger Mann.« Der General schüttelte Manfred die Hand. »Unsere Länder sollten Freunde werden.« »Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um das zu errei chen«, versicherte ihm Manfred. »Viel Erfolg für die Olympischen Spiele, Herr De La Rey.« Als sie wieder im Mercedes saßen, sagte Heidi: »Mein Onkel ist sehr angetan von Ihnen, ebenso wie viele seiner Freunde – General Söller zum Beispiel.« 525
»Ich habe den Abend genossen.« »Mögen Sie Musik, Manfred?« Die Frage kam ein wenig überraschend. »Ich mag Musik, bin aber kein Fachmann.« »Wagner?« »Ja, Wagner höre ich sehr gern.« »Onkel Sigmund hat mir zwei Karten für ein Konzert der Berliner Philharmoniker am nächsten Freitag gegeben. Das Orchester spielt unter der Leitung des jungen Dirigenten Her bert von Karajan Werke von Wagner. Ich weiß, daß Sie am Nachmittag Ihren ersten Kampf haben, aber danach könnten wir feiern.« Sie zögerte und fügte dann rasch hinzu: »Verzei hen Sie, Sie müssen mich für recht aufdringlich halten, aber ich versichere Ihnen –« »Nein, nein, es ist mir eine Ehre, Sie zu begleiten – ob ich nun gewinne oder verliere.« »Sie werden gewinnen«, sagte sie. »Das weiß ich.« Sie ließ ihn vor der Mannschaftsunterkunft aussteigen und wartete, bis er im Haus verschwunden war, bevor sie dem Fah rer befahl: »Zurück in die Rupertstraße.« Als sie vor dem Haus des Obersturmbannführers ausstieg, verabschiedeten sich bereits die meisten Gäste. Sie wartete geduldig, bis der Hausherr die Gäste hinausbegleitet hatte. Er bedeutete ihr mit einem kurzen Kopfnicken, ihm zu folgen. Sein Verhalten war vollkommen verändert, er behandelte sie dienstlich knapp. Er ging zu einer unauffälligen Eichentür am Ende des Emp fangssaals und betrat den Raum dahinter. Heidi folgte ihm und machte leise die Tür hinter sich zu. Dann nahm sie Haltung an und blieb abwartend stehen. Obersturmbannführer Boldt ließ sie stehen, schenkte zwei Cognakgläser ein und brachte eines zu General Söller, der in einem Armsessel neben dem offenen Kamin saß und in einem Akt blätterte. »Also, Fräulein.« Boldt ließ sich in einen Ledersessel sinken 526
und winkte Heidi näher. »Setzen Sie sich. Im Hause Ihres On kels dürfen Sie sich entspannen.« Sie lächelte höflich und setzte sich steif auf die Kante des So fas, während Boldt sich an den General wandte. »Darf ich fragen, was Sie über das Objekt denken, General?« General Söller blickte von dem Akt auf. »Es scheint Unge reimtheiten bei der Mutter zu geben. Konnte bestätigt werden, daß seine Mutter eine Deutsche war, wie er behauptet?« »Leider konnten wir in diesem Punkt keine Bestätigung er halten. Es gibt keinen einzigen Hinweis auf die Nationalität seiner Mutter, obwohl unsere Leute in Südwestafrika ausge dehnte Nachforschungen angestellt haben. Man nimmt allge mein an, daß sie bei seiner Geburt im afrikanischen Busch um kam. Väterlicherseits ist jedoch eindeutig erwiesen, daß seine Großmutter Deutsche war und sein Vater äußerst heldenhaft für die kaiserliche Armee in Afrika kämpfte.« »Ja, das sehe ich«, sagte der General gereizt und wandte sich an Heidi. »Welche Gefühle hat er Ihnen gegenüber geäußert, Fräulein?« »Er ist sehr stolz auf seine deutsche Abstammung und be trachtet sich als natürlicher Bundesgenosse des deutschen Vol kes. Er ist ein großer Bewunderer des Führers und kann ganze Absätze aus ›Mein Kampf‹ wörtlich zitieren.« Der General hustete und zündete sich die nächste Zigarette an, um seine ganze Aufmerksamkeit dann wieder dem roten Akt auf seinen Knien zuzuwenden. Die anderen beiden warte ten schweigend, bis er wieder aufblickte. »Was für eine Beziehung haben Sie zu unserem Objekt her gestellt, Fräulein?« »Auf Anweisung von Obersturmbannführer Boldt habe ich mich freundlich und liebenswürdig gezeigt. Ich habe ihm nach und nach mein Interesse als Frau bekundet. Ich habe ihm ge zeigt, daß ich Interesse am Boxsport habe und eine Menge über die Probleme seines Vaterlandes weiß.« 527
»Fräulein Kramer ist eine meiner besten Agentinnen«, erklär te Boldt. »Unsere Ausbildungsabteilung hat sie gründlich in die Geschichte von Südafrika und in den Boxsport eingeführt.« Der General nickte. »Fahren Sie fort, Fräulein«, befahl er, und Heidi berichtete weiter: »Ich habe ihm das Gefühl vermittelt, Anteil an den politi schen Bestrebungen seines Volkes zu nehmen, und ihm deut lich gemacht, daß ich seine Freundin bin und vielleicht auch mehr.« »Es gab keine sexuellen Intimitäten zwischen ihnen?« »Nein, General. Ich vermute, daß das Objekt Anstoß nehmen würde, wenn ich zu rasch vorginge. Wie wir aus seinem Akt wissen, wurde er streng calvinistisch erzogen.« »Gut.« Der General nickte. »Das hier ist eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Der Südteil von Afrika ist von enor mer taktischer und strategischer Bedeutung für unsere weltwei ten Expansionspläne. Südafrika beherrscht die Schiffahrtsrou ten nach Indien und dem Osten, und falls unseren Schiffen die Durchfahrt durch den Suezkanal verweigert wird, ist das die einzige zugängliche Route. Überdies verfügt Südafrika über kostbare Bodenschätze, die lebenswichtig für unsere Rüstungs industrie sind. Mithin hat die Operation nun die volle ministe rielle Genehmigung und absoluten Vorrang.« »Jawohl, General.« »Der Codename der Operation ist ›Weißes Schwert‹.« »Jawohl, General.« »Fräulein Kramer, Sie sind von nun an ausschließlich für die se Operation zuständig. Sie werden bei erster Gelegenheit mit dem Objekt sexuell intim werden, und zwar so, daß er weder beunruhigt noch gewarnt wird, sondern stärker unter unseren Einfluß gerät.« »Jawohl, General.« »In der Folge könnte es notwendig werden, daß Sie mit dem Objekt eine Art Ehe eingehen. Gibt es irgendeinen Grund, 528
warum Sie das nicht tun könnten, wenn es erforderlich wird?« Heidi zögerte keinen Augenblick. »Nein, General. Sie kön nen sich ganz auf mich verlassen. Ich werde tun, was von mir verlangt wird.« »Sehr schön, Fräulein.« General Söller hustete und holte ge räuschvoll Luft, dann fuhr er mit heiserer Stimme fort: »Nun zu Ihnen, Obersturmbannführer. Es würde unseren Zwecken sehr dienlich sein, wenn das Objekt bei den Olympischen Spie len eine Goldmedaille gewänne. Das steigert sein Ansehen in seinem Heimatland, ganz abgesehen von der ideologischen Seite, wenn ein weißer Arier über ein Mitglied der minderwer tigen schwarzen Rasse triumphiert.« »Ich verstehe, General.« »Es gibt doch keinen ernstzunehmenden deutschen Anwärter auf den Halbschwergewichtstitel, oder?« »Nein, General, das Objekt ist der einzige ernstzunehmende weiße Titelanwärter. Natürlich können wir die Entscheidung der Ringrichter nicht beeinflussen, schon gar nicht, wenn es zu einem k. o. kommt, aber –« »Natürlich, Boldt, aber Sie werden alles tun, was in Ihrer Macht steht. Und Fräulein Kramer wird Ihnen täglich über ihre Fortschritte Bericht erstatten.« Sowohl die Familie Courtney als auch die Familie Malco mess bewohnte Zimmer im Hotel Bristol. Nur David Abrahams hatte sich dem Befehl seines Trainers gebeugt und wohnte im olympischen Dorf, so daß ihn Shasa in den Tagen vor der Er öffnung der Olympischen Spiele kaum zu Gesicht bekam. Mathilda Janine überredete Tara, sie während der Trainings stunden ins Stadion zu begleiten, dafür ging sie mit ihrer Schwester auf das Polofeld. So verbrachten die beiden Mäd chen die meiste Zeit damit, mit Höchstgeschwindigkeit im grü nen Bentley ihres Vaters vom Olympiastadion quer durch Ber 529
lin zur Reitbahn zu rasen. Die kurze Trainingsunterbrechung, verbunden mit der Aus sicht auf die bevorstehenden Wettkämpfe, schienen Davids Kondition verbessert zu haben. Er lief in diesen fünf Tagen einige Male hervorragende Zeiten und lehnte Mathilda Janines Vorschlag, abends für ein oder zwei Stunden auszugehen, hel denhaft ab. »Du hast eine realistische Chance, Davie«, erklärte sein Trai ner, als er nach dem letzten Trainingslauf auf seine Stoppuhr schaute. »Du mußt dich jetzt nur konzentrieren, dann könntest du im Spitzenfeld landen.« Blaine und Shasa waren zufrieden mit den Trainingsbedin gungen, die ihre deutschen Gastgeber ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Wie alles andere im Reitzentrum waren auch die Stallburschen, die Ställe und die Ausrüstung tadellos, und unter Blaines eiserner Führung konzentrierte sich die Mann schaft auf das Training und bildete als Team bald wieder eine geschlossene Einheit. Zwischen den langen Trainingsstunden auf dem Spielfeld beobachteten sie die anderen Mannschaften, vor allem die Amerikaner und die Argentinier. »Diese beiden Teams gilt es zu schlagen«, erklärte Blaine. »Aber auch die Deutschen sind erstaunlich gut – und die Briten werden wie immer einen harten Kampf liefern.« »Mit etwas Glück können wir sie alle schlagen«, erklärte Shasa im Brustton der Überzeugung. Tara war die einzige, die diese Prahlerei ernst nahm. Sie schaute von der Tribüne aus zu, wie er, schön wie ein junger Zentaur, hochaufgerichtet im Sattel saß und an der Seitenlinie entlangpreschte. »Er ist so eingebildet und selbstsicher«, seufzte sie. »Wenn ich ihn nur ignorieren könnte. Wenn das Leben nur nicht so langweilig wäre, wenn er nicht in der Nähe ist.« Am 1. August 1936 strömten über hunderttausend Zuschauer 530
in das Olympiastadion, und mit ungeheurem zeremoniellem Aufwand wurden die 11. Olympischen Spiele offiziell eröffnet. Am Abend dieses Tages aßen Blaine und Centaine zu zweit in ihrer Suite im Hotel Bristol, beide sehr erschöpft nach den aufregenden Ereignissen des Tages. »Was für ein großartiges Schauspiel sie der Welt geboten ha ben!« bemerkte Centaine. »Ich glaube nicht, daß das auch nur einer von uns erwartet hat.« »Es war aber nicht anders zu erwarten«, erwiderte Blaine. »Die Nazis sind große Meister im Entfalten von Pomp und Prunk. Nicht einmal die alten Römer haben den verlockenden Reiz des öffentlichen Schauspiels bis zu dieser Vollkommen heit entwickelt.« »Mir hat es gefallen«, warf Centaine ein. »Es war blasphemisch, eine marktschreierische Propaganda – Herr Hitler verkauft der Welt sein Nazideutschland und seine neue Rasse von Supermännern. Aber ich muß dir recht geben, es war leider eine ausgesprochen gute Vorstellung.« »Blaine, du bist ein unverbesserlicher alter Zyniker.« »Meine einzige echte Tugend«, gab er zu, dann wechselte er das Thema. »Die erste Spielrunde ist ausgelost worden. Wir haben Glück, weder die Argentinier noch die Yankees sind in der ersten Runde unsere Gegner.« Sie hatten die Australier gezogen, aber ihre Hoffnungen auf einen leichten Sieg wurden fast augenblicklich zerstört, als die Australier vom Anpfiff weg wie eine Kavallerietruppe vor preschten und die Südafrikaner hoffnungslos in die Defensive drängten. Drei Runden lang griffen sie unentwegt an und gaben Blaines Mannschaft keine einzige Gelegenheit, sich zu sam meln. Shasa zügelte seinen Trieb, allein zu glänzen, und begab sich ganz unter die Führung seines Kapitäns, reagierte auf jeden 531
Zuruf von Blaine und holte sich von ihm das einzige, woran es ihm selbst mangelte, nämlich taktische Erfahrung. In diesen verzweifelten Minuten wurde das Band des Vertrauens, das so lange zwischen ihnen gewachsen war, fast bis aufs äußerste belastet, aber es hielt, und nach der ersten Hälfte des vierten Spielachtels brummte Blaine seinem jungen zweiten Mann zu: »Jetzt haben sie ihre Munition verschossen, Shasa. Mal sehen, ob sie ebensogut im Einstecken sind.« Shasa holte Blaines nächsten Paß, aufrecht in den Steigbügel stehend, hoch aus der Luft, preschte quer über das Feld und ließ die Australier hinter sich, bevor er den Ball mit einem ge zielten Schuß wieder an Blaine abgab. Das war die entschei dende Wende, und am Ende ritten sie auf schweißnassen Ponys als Sieger vom Spielfeld, sprangen aus den Sätteln und klopf ten sich lachend auf die Schultern. Ihr Triumph wurde augenblicklich gedämpft, als sie hörten, daß sie in der zweiten Runde auf die argentinische Mannschaft treffen würden. David Abrahams lief ein enttäuschendes Rennen über vier hundert Meter, ging nur als Vierter durchs Ziel und verfehlte damit den Aufstieg. Mathilda Janine verweigerte das Mittages sen und ging an diesem Abend früh zu Bett. Doch zwei Tage später war sie halb närrisch vor Freude, als David sein Aus scheidungsrennen über zweihundert Meter gewann und ins Halbfinale aufstieg. Manfred De La Reys erster Gegner war der Franzose Mau rice Artois. »Schnell wie eine Mamba – mutig wie ein Dachs«, flüsterte Onkel Tromp, als der Gong ertönte. Heidi Kramer saß neben Obersturmbannführer Boldt in der 532
vierten Reihe und zitterte vor Aufregung, als Manfred seine Ecke verließ und in die Ringmitte trat. Manfred De La Rey, dieser ernste, ruhige junge Mann, der so linkisch wirkte und sich in gebildeter Gesellschaft nicht wohl fühlte, verwandelte sich im Ring in ein herrliches wildes Tier. Die urtümliche Grausamkeit, die er ausstrahlte, das Feuer in seinen gelben Augen, als er mit seinen Fäusten das Gesicht des Franzosen mit furchtbaren Treffern eindeckte und seinen Geg ner schließlich in der Mitte des Rings in die Knie zwang, ver setzten sie in höchste Erregung. Diese Erregung hielt noch an, als sie am Abend neben Manfred im Parkett saß und Wagners Musik lauschte. Sie rückte ein wenig näher, so daß ihr nackter Oberarm Manfreds Schulter berührte. Sie spürte, wie er zu sammenzuckte und wegrücken wollte, dann aber doch sitzen blieb. Die Berührung war leicht und zart, aber beide waren sich ihrer stark bewußt. Boldt hatte ihr auch an diesem Abend den Mercedes zur Ver fügung gestellt. Der Fahrer erwartete sie bereits draußen vor der Eingangstreppe. Als sie auf dem Rücksitz Platz nahmen, sah Heidi, wie Manfred leicht zusammenzuckte. »Was ist mit Ihnen?« fragte sie rasch. »Es ist nichts weiter.« Sie berührte mit ruhigen, kräftigen Fingern seine Schulter. »Hier? Tut das weh?« »Eine Verspannung des Muskels – das ist morgen wieder vorbei.« »Hans, bringen Sie uns zu meiner Wohnung in der Hansa straße«, befahl sie dem Fahrer, und Manfred sah sie er schrocken an. »Mutti hat mir eines ihrer Spezialrezepte vermacht. Es ist ein Einreibemittel aus wilden Farnkräutern und wirkt wahre Wun der.« »Das ist doch nicht nötig –« wehrte er ab. »Meine Wohnung liegt auf dem Weg zum olympischen Dorf. 533
Es dauert nicht lange, und danach kann Hans Sie nach Hause fahren.« Sie hatte nicht recht gewußt, wie sie es anstellen sollte, ihn zu sich mitzunehmen, ohne ihn zu erschrecken, aber er nahm ihren Vorschlag ohne weiteren Kommentar an. Er schwieg für den Rest der Fahrt, und sie spürte, wie angespannt er war, ob wohl sie keinen weiteren Versuch machte, ihn zu berühren. Manfred dachte an Sarah und versuchte sich ihr Bild in Erin nerung zu rufen. Aber es blieb verschwommen. Er hätte Hans am liebsten befohlen, direkt zum olympischen Dorf zu fahren, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er wußte, daß es un gehörig war, mit einer jungen attraktiven Frau in ihre Wohnung zu gehen – und er versuchte sich einzureden, daß es nichts zu bedeuten habe. Es war immer äußerst schwierig nach jedem Kampf. Noch viele Stunden nachher war er erregt und höchst sensibel, und in solchen Augenblicken spielte ihm sein Körper die teuflischsten Streiche. Er spürte, daß es auch jetzt geschah, und die Scham trieb ihm die Röte ins Gesicht. Was würde diese reine, anstän dige deutsche Jungfrau von ihm denken, wenn sie etwas von dieser obszönen und schamlosen Erektion ahnte? Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, daß er nicht mitgehen würde, aber in diesem Augenblick beugte sie sich zum Fahrer vor. »Danke, Hans. Lassen Sie uns hier an der Ecke aussteigen und warten Sie am Ende der Straße.« Dann war sie schon aus gestiegen und überquerte den Gehsteig, und er hatte keine an dere Wahl, als ihr zu folgen. Im Stiegenhaus des Gebäudes herrschte düsteres Halbdunkel. »Tut mir leid, Manfred, aber ich wohne im obersten Stock, und es gibt keinen Lift.« Das Stiegensteigen gab ihm Gelegenheit, seine Selbstbeherr schung wiederzufinden, und sie führte ihn in eine kleine EinZimmer-Wohnung. »Das ist meine Burg«, meinte sie mit einem entschuldigen 534
den Lächeln. »Heutzutage ist es schwierig, in Berlin eine Wohnung zu finden.« Sie wies auf das Bett. »Setzen Sie sich, Manfred.« Sie schlüpfte aus der Jacke, die sie über der weißen Bluse trug, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie in den Schrank zu hängen. Als sie die glatten weißen Arme hob, schwangen ihre Brüste schwer nach vorn. Manfred schaute weg. An der Wand über dem Bett hing ein Bücherregal. Er sah eine Gesamtausgabe von Goethes Werken und erinnerte sich daran, daß Goethe der Lieblingsautor seines Vaters war. Denk, woran du willst, befahl er sich, denk an al les, nur nicht an diese großen, wohlgeformten Brüste unter der dünnen weißen Bluse. Sie war im Badezimmer verschwunden, und er hörte das Klirren von Glas. Dann kam sie mit einer kleinen grünen Fla sche in der Hand zurück und trat lächelnd vor ihn hin. »Sie müssen den Rock und das Hemd ausziehen«, sagte sie, und ihm stockte der Atem. Daran hatte er nicht gedacht. »Das schickt sich nicht, Heidi.« Sie lachte leise, es war ein kehliger, gurrender Laut, und murmelte dabei: »Seien Sie nicht so schüchtern, Manfred. Denken Sie einfach, ich wäre eine Krankenschwester.« Sanft half sie ihm aus dem Mantel. Ihre Brüste schwangen abermals nach vorn, streiften fast sein Gesicht, bevor sie zu rücktrat und seinen Rock über die Lehne des einzigen Stuhles hängte. Ein paar Sekunden später legte sie sein Hemd zusam mengefaltet oben darauf. Sie hatte die Flasche im Waschbek ken angewärmt und massierte ihm die Flüssigkeit mit geschick ten und kräftigen Fingern in die Haut. »Entspannen Sie sich«, flüsterte sie, »damit der Schmerz sich lösen kann.« Sanft drückte sie seinen Kopf nach unten. »Leh nen Sie sich an mich, Manfred. Ja, so.« Sie stand vor ihm und schob ihre Hüften vor, so daß seine Stirn gegen ihren Unterleib gedrückt wurde. Ihr Körper war 535
weich und warm, und er spürte, wie eine Welle der Lust von ihren knetenden Fingern ausging. »Du bist so stark; Manfred, so stärk und schön –« Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, was sie sagte, aber ihre Finger streichelten weiter, und jeder vernünftige Ge danke schwand aus seinem Kopf. Er nahm nur ihre Hände und ihre leisen zärtlichen Worte wahr. Dann gewahrte er noch et was anderes, nämlich einen warmen, moschusartigen Duft, der von ihrem Unterleib ausging. Obwohl er nicht wußte, daß es der Geruch einer sexuell erregten, gesunden jungen Frau war, kam seine Reaktion instinktiv und war nicht mehr zu verber gen. »Heidi«, flüsterte er mit bebender Stimme. »Ich liebe dich. Gott möge mir verzeihen, aber ich liebe dich.« »Ja, mein Schatz, ich weiß«, flüsterte sie. »Und ich liebe dich auch.« Sie drückte ihn sanft auf das Bett und begann langsam ihre weiße Bluse aufzuknöpfen. Als sie sich über ihn beugte, er schienen ihm ihre großen, seidigen, weißen Brüste mit den dunkelroten Brustwarzen als das Schönste, was er je gesehen hatte. »Ich liebe dich«, stieß er in dieser Nacht noch einige Male hervor, als sie Dinge mit ihm machte, die alle seine Vorstellun gen übertrafen. Am ersten Tag der Finalläufe hatte Shasa ermäßigte Ein trittskarten für die Mädchen besorgen können, aber die Plätze befanden sich weit oben auf der Nordtribüne. Mathilda Janine hatte sich Shasas Fernglas ausgeliehen und suchte unruhig die große Arena ab. »Ich sehe ihn nicht«, jammerte sie. »Er ist noch nicht draußen«, beruhigte sie Shasa. »Erst kommt der 100-Meter-Lauf –« Aber im Grunde war er ebenso 536
gespannt wie sie. Im Halbfinale war David Abrahams als zwei ter hinter dem großen Amerikaner Jesse Owens ins Ziel ge kommen und hatte sich damit seinen Platz im Finallauf gesi chert. »Ich bin so nervös, ich glaube, ich werde gleich hysterisch«, hauchte Mathilda Janine, ohne das Fernglas herunterzunehmen. Tara, die auf der anderen Seite neben Shasa saß, war genauso aufgeregt, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. »Das ist unerhört«, stieß sie so heftig hervor, daß Shasa sie erstaunt ansah. »Was ist denn?« »Hast du das denn nicht gehört?« »Tut mir leid, aber du weißt ja, daß David jeden Augenblick –« »Da!« Tara zog an Shasas Arm. »Hör dir das an!« Ganz in ihrer Nähe rief jemand: »Im 100-Meter-Lauf hat wieder ein amerikanischer Nigger gewonnen.« Und noch näher jemand anders: »Die Amerikaner sollten sich schämen, die schwarzen Tiere ihre Farbe tragen zu lassen.« »Diese Fanatiker sind widerlich.« Tara blickte sich um und versuchte, die Sprecher in dem Meer von Gesichtern zu ent decken, und als ihr das nicht gelang, wandte sie sich wieder an Shasa: »Die Deutschen drohen, alle Medaillen, die von Schwarzen und Juden – von minderwertigen Rassen, wie sie es nennen – gewonnen worden sind, nicht anzuerkennen«, sagte sie mit lauter Stimme. »Sie sind ganz einfach widerlich.« »Reg dich ab«, flüsterte Shasa. »Ist dir das etwa egal?« forderte Tara ihn heraus. »David ist doch Jude.« »Natürlich ist mir das nicht egal«, sagte er leise und blickte sich unbehaglich um. »Aber halt jetzt bitte den Mund, Tara, sonst wird es peinlich.« »Ich glaube –« Taras Stimme wurde trotz Shasas Bitte noch um eine Spur lauter, aber Mathilda Janine übertönte sie mit 537
ihrem schrillen Aufschrei. »Da ist er – da ist David!« Erleichtert sprang Shasa auf. »Da ist er – Los, Junge, lauf wie ein Springbock.« Die Finalisten des 200-Meter-Laufes hatten sich auf der ge genüberliegenden Seite der Arena versammelt und machten ihre Aufwärmübungen. »Ist David nicht unbeschreiblich?« fragte Mathilda Janine. »Ich denke, das beschreibt ihn vortrefflich«, stimmte Shasa zu, und sie boxte ihn in die Rippen. »Du weißt genau, was ich meine.« Dann nahmen die Läufer an den Startklötzen Aufstellung, und der Starter trat vor. Stille senkte sich über das riesige Sta dion, als die Läufer die Startpositionen einnahmen. Der Startschuß knallte und die Läufer stürmten los. Ein schwarzer schlanker Panther von einem Mann war allen ande ren voran, und das Gebrüll der Menge formte sich zu verständ lichen Silben. »Jes-se Ow-ens!« erschallte es rhythmisch, als der schwarze Mann als erster über die Ziellinie flog. »Wie ist es ausgegangen?« schrie Mathilda Janine. »Jesse Owens hat gewonnen«, schrie Shasa in den Lärm. »Das weiß ich – aber David, was ist mit David?« »Ich weiß nicht. Ich konnte es nicht erkennen. Es ging alles so schnell.« Sie warteten aufgeregt, bis die metallische Stimme im Laut sprecher das Ergebnis verkündete. »Jesse Owens, Carter Brown –« Und dann, überwältigend: »David Abrahams.« Mathilda Janine schrie gellend auf: »Halt mich, ich werde ohnmächtig. David hat die Bronzemedaille gewonnen!« Die vier begannen ihre Feier am Abend im Salon von Centa ines Hotelsuite im Bristol. Blaine hielt eine kurze Gratulations rede, und David stand schüchtern und befangen in der Mitte 538
des Zimmers, als sie ihm mit Champagner zuprosteten. Da es um David ging, trank Shasa das ganze Glas Champagner in einem Zug leer. Er trank noch ein ganzes Glas Sekt in einem Café am Kurfür stendamm, und dann marschierten die vier jungen Leute einge hängt Berlins berühmte Prachtstraße hinunter. Sie setzten sich in ein anderes Café, und diesmal bestellte Shasa einen Schnaps. »Langsam«, flüsterte David ihm zu, denn er wußte, daß Sha sa nur selten Alkohol trank, und wenn, dann nie mehr als ein Glas Wein oder Bier. »Davie, mein Junge, es geschieht nicht jeden Tag, daß ein al ter Freund von mir eine Olympiamedaille gewinnt.« Sein Ge sicht war leicht gerötet, seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. »Schön, aber ich trage dich nicht nach Hause«, warnte ihn David. »Wie wär’s, wenn wir uns noch ein kleines Gläschen Cham pagner genehmigten?« »Keinen Champagner mehr, Shasa«, protestierte David. »Mein lieber Junge, du erwartest doch nicht etwa, daß ich mit Bier auf dein langes Leben anstoße, oder?« Shasa winkte die Kellnerin herbei, und sie schenkte vier Champagnertulpen voll. Sie lachten und schwatzten, so daß eine Weile keiner von ih nen bemerkte, wie still es plötzlich in dem vollen Lokal ge worden war. »O Gott«, murmelte Tara. »Da kommt die Kavallerie.« Sechs SA-Männer in brauner Uniform hatten das Lokal be treten. Sie kamen offensichtlich von irgendeiner Feier oder Fest lichkeit, denn zwei von ihnen trugen aufgerollte Fahnen. Eben so augenscheinlich war, daß sie schon etwas getrunken hatten. Sie benahmen sich großspurig und streitlustig, und ein paar der anderen Gäste griffen eilig nach Hut und Mantel, bezahlten die 539
Rechnung und verließen das Lokal. Die sechs SA-Männer setzten sich an einen freien Tisch in der Nähe der vier jungen Leute und bestellten Bier. Der Eigen tümer des Kaffeehauses kam, um Unannehmlichkeiten zu ver meiden, an ihren Tisch und begrüßte sie unterwürfig. Sie un terhielten sich eine Weile. Dann verabschiedete sich der Wirt. Mathilda Janine, die mindestens ein Glas Champagner ge trunken hatte, begann plötzlich hilflos zu kichern, worauf sich die Aufmerksamkeit der sechs SA-Männer augenblicklich auf sie richtete. »Sei still, Matty«, beschwor David sie, aber das machte es nur noch schlimmer. Der Anführer der SA-Leute, ein kräftiger Mann mittleren Alters, sagte etwas, und Tara antwortete in ihrem Schulmädchendeutsch. »Ach«, sagte der Anführer in holprigem Englisch, »ihr seid Engländer.« »Meine Schwester ist noch jung und kindisch«, sagte Tara und warf Mathilda Janine einen strengen Blick zu, worauf die se abermals unbeherrscht zu kichern begann. »Sind nur Engländer«, sagte der SA-Führer und wandte sich ab. Aber einer der jüngeren starrte David an. Dann fragte er in leidlichem Englisch: »Sie sind doch der Läufer? Sie sind David Abrahams, der Gewinner der Bronzemedaille.« David nickte verlegen. »Sie sind David Abrahams, der Judenläufer«, fügte der SAMann hinzu, und Davids Gesicht wurde starr. Die beiden Eng lisch beherrschenden SA-Männer klärten die anderen auf, wo bei mehrmals das Wort »Jude« fiel. Dann starrten sie David feindselig an, und der SA-Führer fragte laut: »Schämen sich die Amerikaner und Engländer nicht, daß sie Juden und Neger ihre Medaillen gewinnen lassen?« Bevor einer von ihnen antworten konnte, war Shasa aufge standen und lächelte freundlich. 540
»Hört mal, ihre Kerle seid auf der falschen Fährte. Er ist überhaupt kein Jude, er ist ein Zulu.« »Das ist nicht möglich«, erklärte der SA-Führer verdutzt. »Zulus sind schwarz.« »Irrtum, alter Junge. Zulus kommen weiß zur Welt. Sie wer den erst schwarz, wenn man sie in die Sonne läßt. Diesen hier haben wir immer im Schatten behalten.« »Sie machen sich über mich lustig.« »Natürlich mache ich mich über Sie lustig!« Shasa ahmte seine holprige Aussprache nach. »Würden Sie das nicht, wenn Sie sehen würden, was ich sehe?« »Shasa, setz dich um Himmels willen«, beschwor ihn David. »Das gibt nur ein Unglück.« Aber Shasa war der Champagner und sein eigener Witz zu Kopf gestiegen, und er tippte dem SA-Führer an die Brust. »Wirklich, mein Lieber – wenn Ihr Juden sucht, ich bin der einzige Jude hier.« »Ihr seid beide Juden?« fragte der SA-Führer und kniff dro hend die Augen zusammen. »Seien Sie doch kein Dummkopf. Ich hab’ es doch schon er klärt – er ist der Zulu und ich bin der Jude.« »Das ist eine Lüge«, sagte der SA-Mann. Mittlerweile hörten auch alle anderen Gäste dem Wortwech sel aufmerksam zu, und die, die kein Englisch verstanden, lie ßen es sich von den anderen übersetzen. Diese Aufmerksamkeit ermutigte Shasa noch mehr, und der Champagner machte ihn verwegen. »Ich sehe schon, ich werde Ihnen meine Behauptung beweisen müssen. Um Sie davon zu überzeugen, daß ich in die uralten Geheimnisse des Judentums eingeweiht bin, werde ich Ihnen eines unserer bestgehüteten Geheimnisse verraten. Haben Sie sich je gefragt, was wir mit dem kleinen Stückchen machen, das der Rabbi von unserem Glied abschneidet?« »Halt endlich den Mund, Shasa«, sagte David. 541
»Worüber redet er eigentlich?« fragte Mathilda Janine inter essiert. »Shasa Courtney, du bist abscheulich«, stieß Tara hervor. »Bitte?« fragte der SA-Mann verlegen, aber die anderen Gä ste grinsten erwartungsvoll. Schlüpfrige Witze waren am Kur fürstendamm nichts Ungewöhnliches, außerdem genossen sie die ungewohnte Verlegenheit der SA-Männer. »Also gut, ich werde es Ihnen sagen.« Shasa hörte nicht auf David und Tara. »Wir legen sie wie Sardellen in Salz ein und schicken sie nach Jerusalem. Dort pflanzt sie der oberste Rabbi am Tag des Passahfestes in der heiligen Grotte am Ölberg ein und macht magische Zeichen dazu – und dann geschieht ein Wunder! Sie beginnen zu wachsen.« Shasa beschrieb mit der Hand, wie sie wuchsen. »Sie werden höher und höher.« Die SA-Männer folgten mit verblüfften Gesichtern seiner Hand. »Und wissen Sie, was dann geschieht?« fragte Shasa, und der SA-Führer schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Wenn sie zu richtig großen Pimmeln herangewachsen sind, schicken wir sie nach Berlin, wo sie den Nazisturmtruppen beitreten.« Sie starrten ihn an, verblüfft über diese ungeheure Beleidi gung, und Shasa schloß seinen Vortrag: »Und dort bringt man ihnen bei, wie man sagt –« Er nahm Haltung an und riß den rechten Arm hoch. »Heil – wie heißt der Kerl noch gleich?« Der SA-Führer brüllte auf und schlug mit der rechten Faust zu. Shasa duckte sich, verlor aber, durch den Champagner nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, das Gleichgewicht und landete krachend auf dem Boden. Zwei der SA-Männer stürzten sich auf ihn und bearbeiteten seinen Kopf und seinen Oberkörper mit den Fäusten. David sprang auf, um ihm zu helfen, aber ein anderer SAMann packte ihn von hinten an den Armen. David riß den rech ten Arm los, wirbelte herum und landete einen wunderschönen rechten Haken auf der Nase des Uniformierten. Der Mann 542
heulte auf und ließ David los, um sein schmerzendes Riechor gan zu betasten, aber schon waren zwei andere zur Stelle, er griffen David und drehten ihm die Arme auf den Rücken. »Laßt ihn in Ruhe«, schrie Mathilda Janine und sprang einen der SA-Männer von hinten an. Sie schlug ihm die Mütze vom Kopf und griff mit beiden Händen in sein Haar. »Laß David los, du Schwein!« Sie zog mit aller Kraft an seinen Haaren, und der SA-Mann versuchte sie mit einer wilden Drehung ab zuschütteln. Frauen schrien auf, Stühle kippten um. Der Kaffeehausbesit zer stand in der Küchentür und rang mit kläglichem Gesicht die Hände. »Shasa Courtney«, schrie Tara wütend. »Du benimmst dich wie ein Straßenlümmel. Hör sofort auf damit.« Shasa lag halb unter den braunen Uniformen begraben und antwortete nicht. Die SA-Männer waren überrumpelt worden, aber sie erholten sich rasch. Straßenkämpfe waren ihre Spezia lität. Mathilda wurde mit einem Ruck der breiten Schultern abge schüttelt und landete in einer Ecke. Drei Männer rissen Shasa hoch, drehten ihm die Arme auf den Rücken und schoben ihn zur Küchentür. Mit David geschah das gleiche. Der Kaffeehausbesitzer trat eilig beiseite, und sie stießen Shasa und David an den Köchen und Dienstmädchen vorbei durch die Küche und hinaus auf die schmale Gasse hinter dem Café. Keiner von den SA-Männern sprach. Befehle waren nicht nö tig. Auf diesem Gebiet waren sie Experten. Sie drückten ihre Opfer gegen die Steinmauer, während jeweils einer von ihnen abwechselnd das Gesicht und den Körper der beiden jungen Männer mit Faustschlägen traktierte. Mathilda Janine war ihnen gefolgt und versuchte abermals, Da vid zu Hilfe zu kommen, aber ein gezielter Stoß ließ sie zurück taumeln, so daß sie stolperte und zwischen die Mülltonnen fiel. 543
Tara war noch in der Küche und schrie wütend auf den Kaf feehausbesitzer ein. »Rufen Sie sofort die Polizei. Hören Sie, Sie sollen die Polizei rufen. Sie bringen da draußen zwei un schuldige Menschen um.« Aber der Besitzer machte eine hilflose Geste. »Zwecklos, Fräulein. Die Polizei wird nicht kommen.« Shasa klappte zusammen, und sie ließen ihn fallen. Dann tra ten ihn alle drei mit ihren Stiefeln. Die eisenbeschlagenen Stie felspitzen bohrten sich in seinen Bauch und seinen Rücken. Der SA-Mann, der David bearbeitete, schwitzte und keuchte vor Anstrengung. Dann trat er einen Schritt zurück, zielte sorg fältig und landete einen letzten Schlag im Gesicht. Davids Kopf schnellte zurück und knallte gegen die Steinmauer. Dann brach David zusammen und fiel mit dem Gesicht voran auf das Pflaster. Dort blieb er reglos liegen und machte keinen Versuch mehr, den Tritten auszuweichen, die seinen Unterleib trafen. Schließlich ließen die Uniformierten von ihm ab. Es machte keinen Spaß, jemanden zu treten, der sich nicht krümmte und um Gnade flehte. Sie sammelten eilig ihre Mützen und Fahnen auf und trotteten davon, vorbei an den beiden Polizisten, die an der Straßenecke standen und gleichgültige Gesichter zu ma chen versuchten. Mathilda Janine sank neben David auf die Knie und bettete den böse zugerichteten Kopf auf ihren Schoß. Tara kam mit einem feuchten Geschirrtuch aus der Küche und beugte sich über Shasa. Es dauerte ein paar Minuten, bis die beiden jungen Männer wieder zu sich kamen. Shasa richtete sich auf und schüttelte benommen den Kopf. David stützte sich auf dem Ellbogen auf und spuckte einen blutigen Zahn aus. »Bist du in Ordnung, Davie, alter Junge?« fragte Shasa mit aufgeplatzten Lippen. Mathilda Janine half ihnen auf die Beine, und Tara gab sich, da Shasa nun wieder zum Leben erwacht war, betont kalt und 544
entrüstet. »Das war das widerlichste Schauspiel, das ich je gesehen ha be, Shasa Courtney. Du warst gemein und obszön und hast die Prügel verdient.« »Das ist nun doch ein bißchen hart, altes Mädchen«, prote stierte Shasa. Dann humpelten die beiden jungen Männer, ein ander stützend, die Gasse hinunter. Als sich die beiden zer schunden und blutig den Kurfürstendamm hinauf schleppten, blieb Mathilda Janine an ihrer Seite, während Tara sich abson derte und ein paar Meter vor ihnen herging. Die Passanten war fen ihnen nur flüchtig entsetzte Blicke zu, schauten rasch wie der weg und eilten weiter. Als die vier endlich im »Bristol« ankamen und mit dem Lift nach oben fuhren, fragte Mathilda Janine nachdenklich: »Diese Geschichte, Shasa, du weißt schon, diese Dinger, die da auf dem Ölberg wachsen. Das habe ich nicht verstanden. Sag mir, was sind Pimmel?« David und Shasa krümmten sich vor Lachen. »Bitte, Matty, sag jetzt nichts mehr«, flehte David. »Es tut so weh, wenn ich lache.« Tara warf ihrer Schwester einen strengen Blick zu. »Wenn ich Daddy erst erzähle, welche Rolle du in der ganzen Angele genheit gespielt hast, wird er wütend sein.« Sie hatte recht, er war wütend, aber bei weitem nicht so wütend wie Centaine Courtney. Es stellte sich heraus, daß Shasa vier Rippen und das Schlüs selbein gebrochen hatte. Er behauptete noch lange danach, daß die Argentinier zwei Tage später im Viertelfinalspiel nur des halb gesiegt hätten, weil er in der Mannschaft fehlte. Davids Verletzungen waren, abgesehen von zwei ausgeschlagenen Zähnen, nicht weiter schlimm. »Das ist noch einmal glimpflich verlaufen«, räumte Centaine schließlich ein. »Zumindest wird es keinen Artikel von einem dieser Zeitungsschmierer geben.« 545
Sie irrte. Der südafrikanische Korrespondent der Nachrich tenagentur Reuter war unter den Gästen im Café gewesen, und sein Artikel erschien in der südafrikanischen »Jewish Times«. Darin stand viel über Shasa Courtneys Rolle als Verteidiger seines jüdischen Freundes, des Gewinners der Bronzemedaille, und als sie schließlich nach Kapstadt zurückkehrten, mußte Shasa feststellen, daß er eine kleine Berühmtheit geworden war. Man lud Shasa und David ein, auf einem Empfang der ›Freunde von Zion‹ zu sprechen. »Das Gesetz der unvorhergesehenen Konsequenzen«, be merkte Blaine zu Centaine. »Was meinst du, wie viele jüdische Wähler stehen auf den Wahllisten?« Centaine kniff die Augen zusammen, um nachzu rechnen, und Blaine lachte leise. »Du bist wirklich unverbesserlich, mein Liebling.« Die Boxhalle war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Den Mittelgang von den Umkleidekabinen bis zum Ring säumten SA-Männer in braunen Uniformen. »Wir dachten, sie könnten uns vielleicht ganz nützlich sein«, erklärte Obersturmbannführer Boldt Heidi Kramer, als sie ihre Plätze einnahmen. Manfred De La Rey stieg als erster in den Ring. Er entdeckte Heidi Kramer sofort, weil er wußte, wo er sie suchen mußte. Doch er lächelte nicht. Sie schaute ebenfalls ernst zu ihm her auf, aber er fühlte, wie die Kraft, die er aus ihrer Gegenwart schöpfte, durch seinen Körper strömte. Dann glitt sein Blick weiter, und er runzelte unwillig die Stirn. Diese Frau war wieder hier. In Gedanken nannte er Centaine Courtney, immer »diese Frau«. Sie saß nur drei Plätze von sei ner geliebten Heidi entfernt. Ihr dichter dunkler Haarschopf war nicht zu übersehen. Sie trug ein gelbes Seidenkleid und teuren Diamantschmuck. 546
Warum verfolgt sie mich? fragte er sich. Sie war bei fast jedem anderen Kampf ebenfalls unter den Zuschauern gewesen, und immer hatte der große, arrogante Mensch mit der markan ten Nase und den abstehenden Ohren neben ihr gesessen. Centaine beobachtete ihn mit diesem beunruhigenden, rätsel haften Ausdruck in den dunklen Augen, den er nun schon be stens kannte. Er drehte ihr betont abweisend den Rücken zu und beobachtete Cyrus Lomax, der in diesem Augenblick auf der anderen Seite in den Ring kletterte. Der Amerikaner hatte einen schokoladenbraunen, muskulö sen Körper und den prächtigen Kopf eines Aschantifürsten: mit stark gewölbten Augenbrauen, weit auseinanderstehenden Au gen, dicken Lippen und einer breiten, flachen Nase. »Das ist der schlimmste Gegner, auf den du je treffen wirst«, hatte Onkel Tromp Manfred gewarnt. »Wenn du ihn schlagen kannst, kannst du alle schlagen.« Der Ringrichter rief sie in die Mitte des Ringes und stellte sie vor. Als er Manfreds Namen verkündete, begann die Menge zu brüllen. Er fühlte sich stark und unbezwingbar, als er in seine Ecke zurückkehrte. Onkel Tromp bestrich seine Wangen und Augenbrauen mit Vaseline und schob ihm den roten Zahn schutz in den Mund. »Schnell wie eine Mamba! Mutig wie ein Dachs!« zischte er ihm ins Ohr, und Manfred nickte. Der Gong ertönte, und er ging zur Ringmitte. Der Amerikaner kam ihm geschmeidig wie ein schwarzer Panther entgegen. Sie waren ebenbürtige Gegner, boxten gleich hart und kon zentriert, spürten die Reaktionen des anderen mit fast überna türlicher Sensibilität. Keiner konnte beim anderen eine Schwä che entdecken, beide waren sie schnell und gefährlich. Er fühlte sich stark und unbesiegbar, und er wußte, daß es bald kommen mußte. Er brauchte nur abzuwarten. Der Fehler war unausbleiblich, und darauf wartete Manfred. Es geschah bereits in der ersten Runde. 547
Der Amerikaner schoß eine seiner linken Geraden vor. Man fred sah die Faust nicht einmal, spürte sie aber kommen und wich instinktiv zurück, so daß der Schlag sein Gesicht streifte, aber nicht voll traf. Manfred stand auf den Fußballen und hatte sein Gewicht nach hinten verlagert, aber er war imstande, sich blitzartig vor zuschnellen und seinen angewinkelten rechten Arm mit der eisenharten Faust losschießen zu lassen. Und der Amerikaner war eine Hundertstelsekunde zu langsam. Manfreds Reaktion war rein instinktiv gewesen, sein Schlag erfolgte, bevor er den ken konnte und sollte den Kampf beenden. Seine Faust fand die Lücke in der Deckung des Amerikaners und knallte mit einer solchen Wucht gegen seinen schwarzen Kopf, daß Man freds Zähne aufeinander schlugen. In dem Schlag lag alles, was er hatte, sein Training, seine Erfahrung, seine ganze Kraft, sein ganzes Herz und jede Faser seiner Muskeln, und er traf sauber und endgültig. Manfred fühlte die Knochen seiner rechten Hand brechen, und der Schmerz raste wie ein weißer Blitz durch seinen Arm. Aber in den Schmerz mischten sich Triumph und Seligkeit, denn er wußte, es war vorbei. Er wußte, er hatte gewonnen. Der flammende Schmerz ließ nach, und sein Blick wurde wieder klar. Er hatte erwartet, den Amerikaner verkrümmt zu seinen Füßen liegen zu sehen, aber der ungestüme Jubel in sei nem Herzen verstummte und verwandelte sich in einen zent nerschweren Stein der Verzweiflung. Cyrus Lomax war noch immer auf den Beinen. Er war angeschlagen und schwankte, sein Blick hatte sich getrübt, aber er stand noch. »Mach ihn fertig!« brüllte die Menge. »Mach ihn fertig!« Manfred sah, wie wenig dazu noch nötig gewesen wäre, nur noch ein Schlag mit der rechten Hand – nur noch ein einziger Schlag. Aber das war nicht mehr möglich. Seine Rechte war nicht mehr zu gebrauchen. Der Amerikaner taumelte mit weichen Knien gegen die Seile, 548
wurde zurückgeworfen und schaffte es unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft, sich wieder einigermaßen zu erholen. Die Linke. Manfred bot alles auf, was noch übrig war. Ich muß ihn mit der Linken fertigmachen. Und trotz des Schmerzes griff er wieder an. Er ließ die Linke vorschnellen, aber der Amerikaner konnte den Schlag mit einem unkoordinierten Ausfallsprung abweh ren. Dann schlang er die Arme um Manfreds Schultern und ging in den Clinch. Er umklammerte ihn wie ein Ertrinkender. Manfred versuchte ihn abzuschütteln, das Gebrüll der Menge schwoll in blinder Wut an. Der Ringrichter rief: »Break! Break!«, aber der Amerikaner hielt lange genug aus. Als der Ringrichter sie trennte, war Cyrus Lomax’ Blick wieder klar. Er wich aus und deckte perfekt, als Manfred ver zweifelt versuchte, mit der Linken zu treffen. Und da ertönte der Gong. »Was ist los, Mani?« Onkel Tromp faßte ihn und zog ihn in seine Ecke. »Du hattest ihn schon fast soweit. Was ist pas siert?« »Meine Rechte«, murmelte Manfred halb betäubt, und als Onkel Tromp seine rechte Hand knapp über dem Handgelenk berührte, hätte Manfred fast aufgeschrien vor Schmerz. Die Hand schwoll sichtbar an. »Ich werfe das Handtuch«, flüsterte Onkel Tromp. »Mit die ser Hand kannst du nicht weitermachen!« »Nein!« fauchte Manfred und warf einen wilden Blick in die Ecke des Amerikaners. Der Gong verkündete den Beginn der zweiten Runde, und Manfred sah verzweifelt die wiedergewonnene Kraft und Har monie, mit der sich der Amerikaner bewegte. Er war noch un sicher und ängstlich, wich zurück und wartete auf Manfreds Angriff, aber er wurde von Minute zu Minute stärker und frag te sich, warum Manfred seine Rechte nicht einsetzte. Schließ lich leuchtete die Erkenntnis in seinen Augen auf. 549
»Du hast verloren«, knurrte er beim nächsten Clinch, an Manfreds Ohr. »Keine Rechte mehr, weißer Junge. Jetzt mach’ ich dich fertig!« Die Schläge begannen zu schmerzen, und Manfred wich im mer öfter zurück. Sein linkes Auge wurde getroffen und schloß sich, und er konnte den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spüren. Der Amerikaner schoß eine harte linke Gerade ab, Manfred versuchte instinktiv mit der Rechte abzublocken. Der Schlag traf seinen Handschuh. Der Schmerz war so heftig, daß ihm schwarz vor den Augen wurde und der Boden unter seinen Fü ßen schwankte. Als er beim nächsten Mal nicht mehr mit der Rechten abblockte, durchstieß die Faust des Amerikaners seine Deckung und knallte auf sein verletztes Auge. Lomax versuchte jetzt, sein Auge zu treffen, um den Bluter guß zum Platzen zu bringen. Das gelang ihm mit dem letzten Schlag in dieser Runde. Er traf die Geschwulst mit einer blitz schnellen Linken, und die Haut platzte auf. Das Blut strömte über Manfreds Gesicht und tropfte auf seine Brust. Bevor der Ringrichter den Kampf unterbrechen konnte, um sich die Verletzung anzusehen, erschallte der Gong, und Man fred wankte in seine Ecke. Onkel Tromp stürzte vor, um ihn zu stützen. »Ich mache diesem Wahnsinn ein Ende«, flüsterte er grim mig, als er die schreckliche Wunde untersuchte. »So kannst du nicht weiterkämpfen – du könntest das Auge verlieren.« »Wenn du jetzt abbrechen läßt«, erwiderte Manfred dumpf, »würde ich dir das nie verzeihen.« Seine Stimme klang matt, aber die Glut in seinen gelben Augen sagte Tromp Bierman, daß er es ernst meinte. Der alte Mann stöhnte. Er säuberte die Wunde und bestrich sie mit einem Alaunstift. Der Ringrichter kam heran, um das Auge zu untersuchen. »Kann er weitermachen?« fragte er leise. Tromp Bierman nickte nur. 550
Die letzte Runde war ein einziges Martyrium. Die Schläge des Amerikaners trafen ungehemmt, der Schmerz rauschte wie ein Sturmwind in Manfreds Ohren, aber er blieb auf den Beinen. Die Menge tobte, ihr Blutdurst verwandelte sich in Mitleid, dann in Entsetzen. Endlich, zu spät, viel zu spät, verkündete der Gong das Ende des Kampfes, und Manfred De La Rey stand noch immer auf den Beinen. Er stand schwankend, blind, benommen und betäubt in der Mitte des Ringes und war nicht mehr fähig, in seine Ecke zurückzufinden. Onkel Tromp stürzte herbei und umarmte ihn sanft. Er weinte, die Tränen liefen in seinen Bart, als er Manfred in die Ecke führte. »Mein armer Junge«, flüsterte er. »Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Ich hätte es stoppen müssen.« Gratulanten umdrängten Cyrus Lomax, sie lachten, klopften ihm auf die Schultern, und Lomax führte erschöpft einen klei nen Freudentanz auf. Er warf dem Mann, den er so böse zuge richtet hatte, einen besorgten Blick zu. »Achtung! Achtung!« Der Ringrichter rief die Kämpfer in die Ringmitte, stand zwischen ihnen, faßt sie an je einer Hand. Eine Stimme dröhnte aus den Lautsprechern: »Meine Damen und Herren, Gewinner nach Punkten und damit Olympiasieger ist – Manfred De La Rey aus Südafrika.« Drei Herzschläge lang herrschte in der riesigen Halle eine ungläubige Stille, dann brach ein Proteststurm los. Empörtes, wütendes Gebrüll, ein schrilles Pfeifkonzert und dröhnendes Getrampel erfüllten die Halle. Cyrus Lomax gebärdete sich wie ein Irrer, hunderte Zuschauer versuchten eine improvisierte Demonstration gegen die Schiedsrichterentscheidung zu insze nieren. Die SA-Truppe umstellte in Windeseile den Ring und trieb die wütende Menge zurück, um für Manfred einen Korridor zu den Umkleidekabinen zu schaffen.
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»Die Frau muß fünf oder sechs Jahre älter sein als du«, sagte Onkel Tromp vorsichtig. Sie gingen durch den Tegelpark, und in der Luft lag bereits ein Hauch von herbstlicher Kühle. »Sie ist um drei Jahre älter als ich«, erwiderte Manfred. »Aber das ändert nichts, Onkel Tromp. Was zählt, ist, daß wir uns lieben.« Seine rechte Hand war eingegipst, und er trug den Arm in der Schlinge. »Du bist noch nicht einundzwanzig, Mani – ohne die Erlaub nis deines Vormunds kannst du nicht heiraten.« »Du bist doch mein Vormund«, sagte Manfred und schaute ihn mit diesem durchdringenden, topasgelben Blick an. Onkel Tromp senkte die Augen. »Wie willst du deine Frau ernähren?« fragte er. »Die Reichskulturkammer gewährt mir ein Stipendium, da mit ich mein Studium in Berlin abschließen kann. Heidi hat einen guten Posten im Propagandaministerium und eine Woh nung, und ich werde Berufsboxer, um für unseren Lebensun terhalt zu sorgen, bis ich meine Laufbahn als Rechtsanwalt beginnen kann. Dann kehren wir nach Südafrika zurück.« »Du hast alles geplant«, seufzte Onkel Tromp, und Manfred nickte. »Du wirst mir deine Erlaubnis doch nicht verweigern, Onkel Tromp? Wir heiraten, bevor du nach Hause zurückfährst – und wir möchten beide, daß du die Trauung vornimmst.« »Ich bin entzückt.« Onkel Tromp war zutiefst aufgewühlt. Er kannte den Jungen, er wußte, wie hartnäckig er sein konnte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Weitere Einwän de zu machen würde ihn in seinem Entschluß nur bestärken. »Du bist wie ein Vater für mich«, sagte Manfred schlicht. »Und mehr als ein Vater. Dein Segen wäre ein unbezahlbares Geschenk.« »Mani, Manu« sagte Onkel Tromp. »Du bist der Sohn, den ich niemals hatte – und ich will nur das Beste für dich. Wie kann ich dich dazu überreden, noch ein wenig zu warten? Sol 552
che Dinge soll man nicht überstürzen.« »Ich werde mich durch nichts davon abbringen lassen.« »Manie, denk an deine Tante Trudi –« »Ich weiß, daß sie mich glücklich sehen möchte«, warf Man fred ein. »Ja, das weiß ich auch. Aber denk doch auch an Sarah, Mani –« »Wieso Sarah?« Manfreds Blick wurde wütend und kalt, er schob trotzig das Kinn vor. »Sarah liebt dich, Mani. Sie hat dich schon immer geliebt – das habe sogar ich bemerkt.« »Sarah ist meine Schwester, und ich liebe sie. Ich liebe sie wie ein Bruder. Aber Heidi liebe ich als Mann, und sie liebt mich als Frau.« »Ich glaube, du irrst dich, Mani. Ich dachte immer, daß du und Sarah –« »Genug, Onkel Tromp! Ich will nichts mehr davon hören. Ich heirate Heidi – und ich hoffe, mit deiner Erlaubnis und deinem Segen. Bitte, Onkel Tromp, mach uns das zum Hochzeitsge schenk.« Der alte Mann nickte traurig. »Ich gebe euch meine Erlaubnis und meinen Segen, mein Sohn – und ich werde euch mit freu digem Herzen trauen.« Heidi und Manfred feierten im Grunewald im Park von Sig mund Boldts Haus Hochzeit. Sarah radelte die Hauptstraße von Stellenbosch hinunter, schlängelte sich durch den dünnflüssigen Verkehr und winkte allen zu, die sie auf dem Gehsteig erkannte. Ihre Schulbücher waren auf dem Gepäckträger hinter dem Sattel festgeschnallt. An diesem Vormittag hatte ihre Klasse die Ergebnisse der letzten Schularbeit erhalten, und sie hatte es eilig, Tante Trudi zu erzählen, daß sie vom fünften auf den zweiten Platz vorge rückt war. Es war ihr letztes Schuljahr, im Oktober wurde sie 553
siebzehn, und einen Monat später wollte sie die Zulassungsprü fung zum Universitätsstudium ablegen. Mani konnte stolz auf sie sein. Seinem Einfluß und seiner Ermunterung war es danken, daß sie in der Schule zu den Be sten zählte. Sie dachte an ihn, als sie verträumt unter den Ei chen nach Hause fuhr. Er war nun schon Wochen fort, aber bald würde er zurückkommen. Dann würde sie ihm alles erzäh len, und alles würde wieder gut sein. Sie würde sich keine Sor gen mehr zu machen brauchen und in der Nacht nicht mehr weinen müssen. Mani würde wieder da sein – ihr starker, lie ber, geliebter Mani würde alles wieder gutmachen. Sie malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie einmal ver heiratet waren, wenn sie ihm das Frühstück machen, seine Hemden waschen, seine Socken flicken, an seiner Seite in die Kirche gehen, jeden Morgen neben ihm aufwachen und seinen schönen blonden Kopf auf dem Kissen neben sich sehen wür de. Und sie wußte, dann würde sie wunschlos glücklich sein. Sie sah den Postboten vor dem Gartentor des Pfarrhauses stehen, sprang vom Fahrrad und rief ihm schon von weitem zu: »Haben Sie Post für uns, Mr. Grobler?« Der Briefträger lächelte ihr zu und holte ein braungelbes Ku vert aus seiner Ledertasche. »Ein Telegramm«, verkündete er mit wichtiger Miene. »Ein Telegramm aus Übersee – aber es ist nicht für dich, Kleines, es ist für deine Tante.« »Ich unterschreibe!« Sarah kritzelte ihren Namen in sein Quittungsbuch, lehnte ihr Fahrrad ans Gartentor und rannte die Eingangstreppe hinauf. »Tante Trudi!« rief sie. »Ein Telegramm! Wo bist du?« Sie roch die Küchendüfte und wußte, wo sie zu finden war. »Es ist ein Telegramm!« Mit diesen Worten stürmte Sarah in die Küche. Tante Trudi stand mit dem Nudelholz in den Hän den über den Küchentisch gebeugt. »Du meine Güte! Was für ein Krach! Du mußt lernen, dich 554
wie eine Dame zu benehmen, du bist kein Kind mehr –« »Ein Telegramm! Ein richtiges Telegramm! Es ist das erste Telegramm, das wir bekommen.« Selbst Tante Trudi war beeindruckt. Sie streckte die Hand aus und hielt dann inne. »Ich habe Mehl an den Händen. Mach du es auf, Sarie.« Sarah riß das Kuvert auf. »Soll ich vorlesen?« fragte sie. »Ja, lies vor. Von wem ist es?« »Es ist von Onkel Tromp – er unterschreibt mit ›dein ergebe ner Mann Tromp Bierman‹.« »Dieser Verrückte. Er hat für vier überflüssige Wörter be zahlt«, brummte Tante Trudi. »Lies vor, was er schreibt.« »Er schreibt: ›Ich muß dir mitteilen, daß Manfred heute –‹« Sarah verstummte, und das erwartungsvolle Leuchten ver schwand aus ihren Augen. Sie starrte auf das Blatt Papier in ihrer Hand. »Mach schon, Kind«, drängte Tante Trudi. Sarah begann von neuem mit dünner, fast unhörbarer Stim me: »›Ich muß dir mitteilen, daß Manfred heute ein deutsches Mädchen namens Heidi Kramer geheiratet hat. Er beabsichtigt, an der Universität von Berlin zu studieren, und wird nicht mit mir nach Hause zurückkehren. Ich bin sicher, du wünschst ihm alles Gute, wie ich. Dein ergebener Mann Tromp Bierman‹« Sarah hob den Kopf, und sie starrten einander an. »Ich kann es nicht glauben –«, hauchte Tante Trudi. »Nicht unser Manfred. Er könnte nicht – er würde uns doch nicht im Stich lassen.« Dann bemerkte sie die Veränderung, die mit dem Mädchen vorging. Sarahs Gesicht war aschgrau geworden. »Oh, meine kleine Sarie.« Tante Trudis rundes Gesicht wur de faltig vor Mitgefühl und Anteilnahme. Sie streckte die Arme nach dem Mädchen aus, aber Sarah ließ das Telegramm zu Boden fallen, wirbelte herum und stürmte aus der Küche. Sie schnappte ihr Fahrrad und schwang sich in den Sattel. Ih re Augen waren weit aufgerissen und trocken, ihr Gesicht noch 555
immer grau vor Schreck. Sie raste aus der Stadt hinaus und fuhr instinktiv in die Berge. Als der Weg zu steil und holprig wurde, ließ sie das Fahrrad liegen und ging zu Fuß weiter durch den Föhrenwald bis zum ersten Hügelkamm. Dort verließ sie taumelnd den Weg und warf sich ausgestreckt auf das feuchte Bett aus Kiefernnadeln – genau an der Stelle, wo sie Manfred ihre Liebe, ihren Körper und ihre Seele geschenkt hatte. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, blieb sie re gungslos, ohne zu weinen oder zu schluchzen, liegen. Am spä ten Nachmittag drehte der Wind nach Nordwest, und über den Berggipfeln ballten sich Wolken zusammen. Bei Einbruch der Dunkelheit begann es zu regnen, die Luft wurde eiskalt, der Wind wimmerte in den Föhren, und Sarahs Kleid war bald völ lig durchnäßt. Sie lag auf dem Waldboden, zitterte wie ein ver lassenes Hündchen, und ihr Herz schrie in die Dunkelheit hin aus. Kurz vor Tagesanbruch stolperte eine der Suchmannschaften, die die ganze Nacht über die Berghänge abgesucht hatten, über sie. Sie trugen sie ins Pfarrhaus. »Es ist Lungenentzündung, Mevrou Bierman«, erklärte der Arzt Tante Trudi, als sie ihn in der folgenden Nacht zum zwei ten Mal ins Pfarrhaus rief. »Sie werden um ihr Leben kämpfen müssen – sie selbst scheint nicht kämpfen zu wollen.« Tante Trudi ließ nicht zu, daß sie Sarah in das neue Stadt krankenhaus brachten. Sie pflegte das Mädchen selbst, küm merte sich Tag und Nacht um sie, wusch ihr den Schweiß vom Körper, als das Fieber stieg, saß während der Krise neben ih rem Bett und hielt ihre heiße Hand und gönnte sich auch noch keine Ruhe, als die Krise überstanden war. Sarah lag blaß und matt in den Kissen und magerte zusehends ab, so daß ihr Ge sicht spitz und hager wurde. Am sechsten Tag, als Sarah sich aufsetzen konnte, kam der Arzt ein letztes Mal vorbei, um sie noch einmal genau zu un 556
tersuchen. Danach ging er zu Tante Trudi in die Küche und führte ein ernstes Gespräch mit ihr. Als er das Pfarrhaus verlas sen hatte, kehrte Tante Trudi in Sarahs Zimmer zurück und setzte sich neben das Bett. »Sarah«, sagte sie und nahm die kleine Hand des Mädchens. »Wann hattest du das letzte Mal deine Tage?« fragte sie. Sarah starrte sie sekundenlang an, ohne zu antworten, dann begann sie zum ersten Mal zu weinen. Langsam quollen die Tränen aus den Tiefen dieser geisterhaft dunkel umrandeten Augen, und ihre mageren Schultern bebten. »Oh, mein kleines Mädchen.« Tante Trudi streckte die Arme aus und drückte sie an ihren großen Busen. »Mein armes klei nes Mädchen – wer hat dir das angetan?« Sarah weinte stumm, und Tante Trudi streichelte ihr Haar. »Du mußt es mir sagen –« Plötzlich hielt die zärtliche Hand auf Sarahs Kopf inne, und wie ein Blitz traf Tante Trudi die Er kenntnis. »Mani – es war Mani.« Es war keine Frage, aber das gequälte Schluchzen, das sich Sarahs gepeinigter Brust entrang, bestätigte ihre Vermutung. »O Sarie – o meine arme kleine Sarie.« Unwillkürlich fiel Tante Trudis Blick auf eine kleine Foto grafie, die auf dem Nachttisch neben dem Bett des kranken Mädchens stand. Es war eine Aufnahme von Manfred De La Rey, in Boxerhose und Leibchen, und mit der Inschrift: »Für Klein-Sarie. Von ihrem großen Bruder Mani.« »Oh, wie schrecklich!« hauchte Tante Trudi. »Was machen wir nur?« Am folgenden Nachmittag, als Tante Trudi in der Küche ge rade damit beschäftigt war, ein Stück Wildbret zu spicken, kam Sarah auf bloßen Füßen herein. »Du solltest doch nicht aufstehen, Sarie«, sagte Tante Trudi streng, verstummte aber, als Sarah sie nicht einmal anblickte. Sie schwankte wie eine Schlafwandlerin zum Küchenherd 557
und öffnete die Ofenklappe. Da sah Tante Trudi erst, daß sie das Bild von Manfred in der Hand hielt. Sie hatte die Fotogra fie aus dem Rahmen genommen und starrte sie ein paar Sekun den lang an, bevor sie sie ins Feuer warf. Dann schloß sie die Ofenklappe wieder. Plötzlich begann sie zu schwanken und wäre vornüber auf die heiße Herdplatte gestürzt, wenn Tante Trudi sie nicht auf gefangen hätte. Sie führte sie zu einem Küchenstuhl. Sarah blieb minutenlang stumm sitzen und starrte mit leerem Blick zum Herd, bevor sie sprach. »Ich hasse ihn«, sagte sie leise, und Tante Trudi beugte den Kopf über das Wildbret, um ihre Augen zu verbergen. »Ich muß mit dir reden, Sarie«, begann sie behutsam. »Wir müssen uns darüber unterhalten, was jetzt zu tun ist.« »Ich weiß, was zu tun ist«, sagte Sarah, und ihre Stimme ließ Tante Trudi erschauern. Das war nicht die Stimme eines heite ren, süßen Kindes, sondern die Stimme einer Frau, die durch das, was ihr das Schicksal beschert hatte, hart und verbittert geworden war. Elf Tage später kehrte Roelf Stander nach Stellenbosch zu rück, und sechs Wochen danach wurden er und Sarah in der Reformierten Kirche getraut. Am 16. März 1937 kam Sarahs Sohn zur Welt. Es war eine schwere Geburt, denn Sarahs Kör per hatte sich noch immer nicht ganz von der Lungenentzün dung erholt. Roelf durfte unmittelbar nach der Niederkunft zu ihr. Er beugte sich über das Kinderbettchen und betrachtete das ge fleckte, geschwollene Gesicht des Neugeborenen. »Haßt du ihn, Roelf?« fragte Sarah vom Bett aus. Sie hatte schweißnasses Haar und war erschöpft und ausgelaugt. Roelf schwieg eine Weile nachdenklich. Dann schüttelte er den Kopf. »Er ist ein Teil von dir«, sagte er. »Ich könnte nie etwas has sen, das von dir ist.« Sie streckte den Arm aus, und er trat neben das Bett und er 558
griff ihre Hand. »Du bist ein gütiger Mensch. Ich werde dir eine gute Frau sein, Roelf. Das verspreche ich dir.« »Ich weiß genau, was du jetzt sagen wirst, Daddy.« Mathilda Janine saß Blaine in seinem Büro im Parlamentsgebäude ge genüber. »So, das weißt du?« fragte Blaine. »Dann laß mich hören, was ich sagen will.« »Erstens«, Mathilda Janine hielt den Zeigefinger hoch, »wirst du sagen, daß David Abrahams ein netter junger Mann ist, ein hochintelligenter Jurastudent und ein Sportler von internationa lem Rang, der eine der zwei Medaillen gewonnen hat, die unser Land bei den Olympischen Spielen in Berlin erringen konnte. Dann wirst du sagen, daß er liebenswürdig, aufmerksam und freundlich ist, daß er viel Sinn für Humor hat und wunderbar tanzt, daß er in gewisser Weise sehr gut aussieht und für jedes Mädchen einen wunderbaren Ehemann abgeben würde. Und dann wirst du ein ernstes Gesicht machen und ›aber‹ sagen.« »So, das werde ich also alles sagen?« Blaine schüttelte ver wundert den Kopf. »Schön. Nun mache ich also ein ernstes Gesicht und sage ›aber‹. Bitte fahre für mich fort, Matty.« »Aber, sagst du ernst, er ist Jude. Dabei wirst du genau auf den Ton achten, in dem du das sagst. Und gleichzeitig machst du nicht nur ein ernstes, sondern ein bedeutungsvoll ernstes Gesicht.« »Bedeutungsvoll ernst – das würde meinen Gesichtsmuskeln ein gewisses Maß an Anstrengung abverlangen. Gut, also wei ter.« »Mein geliebter Daddy würde natürlich nicht so taktlos sein und hinzufügen: ›Versteh mich bitte nicht falsch, Matty, einige meiner besten Freunde sind Juden.‹ So taktlos würdest du nie sein, oder?« 559
»Nie.« Blaine versuchte, nicht zu grinsen, obwohl ihn die ganze Angelegenheit ernsthaft dazu trieb. Er hatte der schelmi schen Art seiner karottenköpfigen geliebten jüngeren Tochter noch nie widerstehen können. »Das würde ich nie sagen.« »›Aber‹, würdest du sagen, ›Mischehen sind sehr schwierig, Matty. Die Ehe ist schon ohne die Erschwernis durch verschie dene Religionen, Bräuche und Lebensgewohnheiten eine harte Sache‹.« »Wie weise von mir«, nickte Blaine. »Und wie würdest du darauf antworten?« »Ich würde dir darauf sagen, daß ich das ganze vergangene Jahr bei Rabi Jakobs Unterricht genommen habe und Ende des nächsten Monats Jüdin sein werde.« Blaine zuckte zusammen. »Du hast mir noch nie etwas ver schwiegen, Matty.« »Mami wußte davon.« »Aha.« Sie lächelte heiter und versuchte weiterhin, ein Spiel daraus zu machen. »Dann würdest du sagen: ›Aber Matty, du bist doch noch ein Kind.‹« »Und du würdest antworten: ›Ich werde bald achtzehn.‹« »Daraufhin würdest du ein mürrisches Gesicht machen und sagen: ›Welche Aussichten hat David?‹« »Und du würdest mir erklären: ›David fängt Ende dieses Jah res mit einem Jahresgehalt von zweitausend Pfund bei der Courtney Bergwerks- und Finanzierungsgesellschaft an.‹« »Woher weißt du das?« Matty war verblüfft. »David hat nur mir erzählt –« Sie brach ab, als ihr klarwurde, woher sein Wis sen kam. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, denn die Beziehung ihres Vaters zu Centaine Courtney beunruhigte sie mehr, als sie ihm je hätte sagen können. »Liebst du ihn, Matty?« »Ja, Daddy. Von ganzem Herzen.« »Das Einverständnis deiner Mutter hast du schon – da bin ich 560
ganz sicher.« Im Laufe der Jahre hatten Mathilda Janine und Tara gelernt, Isabella und Blaine geschickt gegeneinander aus zuspielen. Mathilda Janine nickte schuldbewußt, und Blaine nahm stirn runzelnd eine Zigarre aus dem Behälter auf seinem Schreib tisch. »Das ist etwas, was man nicht leichtfertig eingehen sollte, Matty.« »Ich gehe es nicht leichtfertig ein. Ich kenne David nun schon zwei Jahre.« »Ich dachte immer, du wolltest Karriere machen –« »Das tue ich auch, Daddy. Meine Karriere besteht darin, Da vid glücklich zu machen und ihm eine Menge Kinder zu schenken.« Brummend zog Blaine an seiner Zigarre. »Na schön, dann schick mir deinen David. Ich möchte ihn bloß wissen lassen, was geschieht, wenn er nicht auf mein kleines Mädchen acht gibt.« Mathilda Janine war im Nu bei ihm, warf sich auf seinen Schoß und schlang beide Arme um seinen Hals. »Du bist der wunderbarste Vater, den ein Mädchen je hatte!« »Solange ich dir nachgebe!« schränkte er das Kompliment ein. Shasa und David flogen in der Rapide nach Windhuk, um Abe Abrahams und seine Frau zur Hochzeit zu holen. Der Rest von Davids Familie und die meisten seiner Freunde, so auch Dr. Twentyman-Jones, reisten mit der Eisenbahn an. Zusam men mit den Freunden und der Familie von Mathilda Janine Malcomess ergab das eine stattliche Menge, die die Synagoge in der Gardens-Vorstadt bis auf den letzten Platz füllte. Der Hochzeitsempfang gab Shasa Gelegenheit, sich wieder einmal mit Tara Malcomess zu versöhnen. In den zwei Jahren 561
seit den Olympischen Spielen in Berlin hatten Sturm und Son nenschein in ihrer Beziehung häufig gewechselt. Sie brachten es fertig, in nahezu allen Streitfragen verschiedener Meinung zu sein. Politik war ihr liebstes Streitobjekt, aber auch die Lage der Armen und Unterdrückten stellte eine unerschöpfliche Quelle für Streitigkeiten dar. Tara hatte gewöhnlich eine Menge gegen die Gleichgültig keit der privilegierten regierenden weißen Klasse anzuführen und geißelte die Ungerechtigkeit eines Systems, das einen jun gen Mann, der sich von anderen nur durch ein hübsches Ge sicht und eine reiche, nachsichtige Mutter unterschied, in den Stand setzte, als Spielzeug fünfzehn Poloponys, einen Jaguar mit speziellem 3,5-Liter-Motor und einen De-HavillandDoppeldecker zu besitzen, während tausende schwarze Kinder vor Unterernährung dicke Bäuche hatten und auf rachitisch deformierten Beinen herumliefen. Shasa wiederum fand es frevelhaft, daß ein Mädchen mit dem Gesicht und dem Körper einer Göttin versuchte, diese Tatsachen zu verbergen, um für eine Tochter des Proletariats gehalten zu werden, und konnte es nicht billigen, daß dieselbe junge Frau den Großteil ihrer Zeit entweder in ihrem Arbeits zimmer oder in den Elendsvierteln und Barackensiedlungen am Stadtrand zubrachte, um an kleine schwarze Rotznasen Gratis suppe zu verteilen. Und was er besonders mißbilligte, waren die Medizinstuden ten und die frischgebackenen jungen Ärzte – allesamt Bol schewiken –, mit denen sie in ihrer Eigenschaft als ungelernte und unbezahlte Krankenschwester viel Zeit aufwandte, um ungewaschene braune und schwarze Patienten zu pflegen, die an ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose, Syphilis, Ruhr oder Räude erkrankt waren oder an den Folgeerkrankungen von chronischem Alkoholismus und all den anderen unerfreuli chen Begleiterscheinungen der Armut und Unwissenheit litten. Er fand ihre Freunde mit ihrer ernsthaften Zielstrebigkeit 562
langweilig und bezeichnete deren schäbige Kleidung und un gepflegte Barte als demonstrative Prahlerei. »Sie haben weder Stil noch Klasse, Tara. Ich meine, wie kannst du dich nur mit einem von ihnen in der Öffentlichkeit zeigen?« »Ihr Stil ist der Stil der Zukunft, und ihre Klasse ist die Klas se aller Menschen.« »Meine Güte, nun redest du auch schon wie eine von ihnen!« Aber diese Unstimmigkeiten waren harmlos und ohne Be deutung im Vergleich zu ihren gewaltigen Meinungsverschie denheiten bezüglich des Themas Keuschheit und Jungfräulich keit. »Um Himmels willen, Tara, Königin Viktoria ist seit sieben unddreißig Jahren tot. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.« »Danke für die Lektion in Geschichte, Shasa Courtney, aber wenn du noch einmal versuchst, deine Hand in meinen Schlüp fer zu stecken, dann breche ich dir an drei verschiedenen Stel len den Arm.« »Was du im Schlüpfer hast, ist nichts so Einzigartiges. Es gibt viele andere junge Damen –« »›Damen‹ dürfte in diesem Fall leicht übertrieben sein, aber lassen wir das. Ich schlage vor, daß du deine Aufmerksamkei ten in Zukunft auf diese Damen beschränkst und mich in Ruhe läßt.« »Das ist der einzige vernünftige Vorschlag, den du heute von dir gegeben hast«, erklärte Shasa in eisigem Tonfall wütend. Das war vor zwei Monaten gewesen, und seither war kein Tag vergangen, an dem Shasa nicht an sie dachte. Er versuchte ihr Bild aus seinem Gedächtnis zu streichen, indem er waghal sige Kunststücke mit seiner Tiger Moth vollführte, in den Ber gen jenseits der H’ani-Mine auf Löwenjagd ging oder sich den vielfältigen Aufgaben des Courtney-Unternehmens widmete. Er spielte mit grimmiger Hingabe Polo, indem er sich und seine Pferde bis zum äußersten strapazierte, und machte mit derselben zielstrebigen Entschlossenheit Jagd auf Frauen – 563
junge und ältere, unscheinbare und hübsche –, aber als er Tara Malcomess wiedersah, hatte er das eigenartige Gefühl, in die sen zwei Monaten der Trennung nur halb gelebt zu haben. Anläßlich der Hochzeit ihrer Schwester hatte Tara die ge wollt langweilige Uniform der linksgerichteten Intellektuellen abgelegt und trug ein graublaues Seidenkleid, das, so schön es war, nicht mit dem Stahlgrau ihrer Augen konkurrieren konnte. Sie hatte eine neue Kurzhaarfrisur. Dichte, luftige Locken um rahmten ihren Kopf, ließen den langen Hals frei und unterstri chen so Länge und perfekte Form ihrer Gliedmaßen. Sie erblickten einander über die Köpfe der Hochzeitsgäste hinweg in dem riesigen Festzelt, und Shasas glaubte ein kurzes Aufleuchten in ihren Augen zu entdecken. Das gab ihm die Gewißheit, daß sie ihn ebenso vermißt hatte wie er sie. Doch dann nickte sie nur höflich und wandte sich wieder dem Mann an ihrer Seite zu. Shasa hatte diesen Mann schon einmal getroffen. Er hieß Hubert Langley und war einer von Taras fanatischsten Kolle gen. Er trug ein schäbiges Tweedjackett mit Lederaufnähern auf dem Ellenbogen, während die meisten anderen männlichen Gäste in Anzügen erschienen waren. Er war etwas kleiner als Tara, trug eine Nickelbrille und hatte schütteres blondes Haar. Er hielt an der Universität Vorlesungen in Soziologie. Tara hatte Shasa einmal anvertraut: »Huey ist tatsächlich eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei, ist das nicht bemerkenswert?« »Man könnte sagen, er ist ein kostbarer Edelstein in einer wertlosen, schäbigen Fassung«, erwiderte Shasa, womit er prompt eine ihrer regelmäßig wiederkehrenden Entfremdungs phasen ausgelöst hatte. Nun sah er, wie Huey seine sommersprossige Hand auf Taras makellosen Unterarm legte und mit seinem dünnen Schnurrbart ihre Wange berührte, um eine der Perlen seines brillanten Vers tands in ihr rosiges kleines Ohr zu flüstern. Und Shasa kam zu 564
der Überzeugung, daß langsames Erwürgen noch viel zu gut für ihn wäre. Er bahnte sich einen Weg durch das Festzelt, um diese Zwei samkeit zu stören, und Tara begrüßte ihn kühl. Die Tatsache, daß ihr das Herz bis zum Hals hinauf schlug, verbarg sie mei sterhaft. Mathilda Janine suchte ihre ältere Schwester vom Balkon aus in der Menge und warf ihr den Hochzeitsstrauß zu. Tara mach te keine Anstalten, den Strauß aufzufangen, aber Shasa konnte ihn ergattern und überreichte ihn Tara mit einer leichten Ver beugung, worauf die anderen Hochzeitsgäste applaudierten und wissende Blicke wechselten. Sobald David und Matty in Davids altem Morris abgefahren waren, zog Shasa Tara aus dem Festzelt und entführte sie in seinem Jaguar. Er fuhr zur Hout Bay hinaus und parkte den Wagen am Rand der steilen Klippen. Während die Sonne mit einer lautlosen Explosion von roten und orangefarbenen Strah len im dunkelgrünen Atlantik versank, fielen sie einander um den Hals und versöhnten sich. Die darauffolgende harmonische Phase dauerte vier Monate, was ein absoluter Rekord war. Nach reiflicher Überlegung und Abwägung aller Vorteile des Junggesellendaseins kam Shasa schließlich zu der Überzeugung, daß er ohne sie nicht leben konnte, und machte ihr einen förmlichen Heiratsantrag. Taras Antwort war niederschmetternd. »Mach dich nicht lächerlich, Shasa. Abgesehen von einer niedrigen, animalischen Anziehung auf einander, haben wir beide doch absolut nichts gemeinsam.« »Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe, Tara«, protestierte er. »Wir haben dasselbe Umfeld, sprechen dieselbe Sprache, lachen über dieselben Witze –« »Aber du bist so gleichgültig, Shasa.« »Du weißt genau, daß ich beabsichtige, ins Parlament einzu treten.« 565
»Das ist eine berufliche Entscheidung und geschieht nicht aus innerer Überzeugung. Das heißt noch lange nicht, daß du dich für die Armen und Bedürftigen und Hilflosen einsetzen wirst.« »Mir liegen die Armen am Herzen –« »Der einzige, der dir am Herzen liegt, ist Shasa Courtney.« Ihre Stimme klang messerscharf. »Für dich ist jeder arm, der es sich nicht leisten kann, mehr als fünf Poloponys zu halten.« »Dein Vater hält derzeit auch fünfzehn Ponys«, erwiderte er beißend. »Laß bitte meinen Vater aus dem Spiel«, fauchte sie. »Daddy hat mehr für die schwarze Bevölkerung dieses Landes getan, als –« Er hob die Hände, um sie zu besänftigen. »Hör auf, Tara! Du weißt genau, daß ich einer der feurigsten Bewunderer von Blaine Malcomess bin. Das war kein Versuch, ihn anzugreifen, sondern lediglich ein Versuch, dich dazu zu überreden, meine Frau zu werden.« »Das könnte nie gut gehen, Shasa. Ich bin der festen Über zeugung, daß der ungeheure Reichtum dieses Landes neu ver teilt werden muß und daß die Courtneys und Oppenheimers kein Recht haben –« »Aus dir spricht Hubert Langley und nicht Tara Malcomess. Dein kleiner Kommunistenfreund sollte sich lieber überlegen, wie man zu neuem Reichtum kommt, anstatt den alten aufzuteilen. Wenn du alles nimmst, was die Courtneys und die Oppenheimers besitzen, und gerecht verteilst, reicht es gerade für eine anständige Mahlzeit pro Kopf, und vierundzwanzig Stunden später würden alle wieder hungern, einschließlich der Courtneys und Oppenheimers.« »Das ist wieder typisch für dich!« rief sie triumphierend aus. »Es freut dich sogar noch, wenn alle außer dir hungern.« Diese Ungerechtigkeit nahm ihm fast den Atem, und er sammelte sich, um einen Gegenangriff zu starten, aber da ent 566
deckte er das kampflustige Glitzern in ihren stahlgrauen Augen und hielt sich zurück. »Wenn wir beide verheiratet wären«, sagte er mit demütiger Stimme, »könntest du mich beeinflussen und mich von deinen Ansichten überzeugen –« Sie hatte sich auf eines ihrer wunderbar anregenden Wortge fechte eingestellt und war richtiggehend enttäuscht. »Du verschlagener kleiner Kapitalist!« sagte sie. »Du kämpfst mit unfairen Mitteln.« »Ich möchte überhaupt nicht mit dir kämpfen, mein liebes Mädchen. Was ich wirklich will, ist genau das Gegenteil da von.« Sie mußte unwillkürlich kichern. »Das ist auch etwas, worin wir nicht übereinstimmen – du trägst deinen Verstand in der Unterhose spazieren.« »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Willst du mei ne Frau werden?« »Ich muß morgen früh um neun eine Seminararbeit abgeben und habe heute abend ab sechs Uhr Dienst in der Klinik. Bitte, bring mich jetzt nach Hause, Shasa.« »Ja oder nein?« fragte er. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber erst wenn ich einen Fortschritt in deinem Sozialbewußtsein feststelle, und ganz bestimmt nicht vor Abschluß meines Studiums.« »Bis dahin sind es noch zwei Jahre.« »Achtzehn Monate«, verbesserte sie ihn. »Und selbst dann ist das kein Versprechen, sondern nur ein großes Vielleicht.« »Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann.« »Dann leb wohl, Shasa Courtney.« Doch drei Tage später erhielt Shasa einen Anruf. Er hatte ge rade eine Besprechung mit seiner Mutter und dem neuen Kel lermeister, den Centaine erst kürzlich von Frankreich nach Weltevreden hatte kommen lassen. Sie diskutierten soeben die grafischen Entwürfe für die Flaschenetiketten des letzten Jahr 567
gangs Cabernet Sauvignon, als Centaines Sekretär das Büro betrat. »Ein Anruf für Sie, Master Shasa.« »Ich kann jetzt nicht. Lassen Sie sich die Nummer geben, ich rufe zurück«, sagte Shasa ohne aufzublicken. »Es ist Miss Tara, und sie sagt, es sei dringend.« Shasa warf Centaine einen hilflosen Blick zu. Es war einer ihrer strengsten Grundsätze, daß das Geschäft in jedem Fall vorgehe und nicht mit gesellschaftlichen oder sportlichen Akti vitäten vermischt werden dürfe, aber diesmal nickte sie ihm zu. »Es dauert nur eine Minute.« Er eilte hinaus und war nach wenigen Sekunden wieder zurück. »Um Himmels willen, was ist los?« Centaine stand rasch auf, als sie sein Gesicht sah. »Tara«, sagte er. »Es geht um Tara.« »Ist etwas passiert?« »Sie sitzt im Gefängnis.« Normalerweise hätte Shasa für die Fahrt von Weltevreden bis zur Polizeistation in der Victoriastraße eine knappe halbe Stun de gebraucht. Doch an diesem Vormittag kostete es ihn fast eine Stunde und viel Überredungskunst. Die Polizei hatte das ganze Gebiet rund um die Innenstadt abgeriegelt. Eine bedrohliche schwarze Rauchwolke hing über dem sechsten Bezirk und trieb über die Table Bay, und die Po lizeiposten an den Straßensperren waren nervös und gereizt. »Hier können Sie nicht durch, Sir«, hielt ein Wachtmeister den Jaguar an. »Die gesamte Innenstadt ist gesperrt. Diese schwarzen Bastarde werfen mit Steinen und brennen alles nie der.« »Ich bin angerufen worden, Herr Wachtmeister. Meine Ver lobte ist da drin – sie braucht mich. Sie ist in schrecklichen Schwierigkeiten – Sie müssen mich durchlassen.« 568
»Ich hab’ meine Befehle, Sir. Tut mir leid.« Sechs Polizisten bewachten die Straßensperre, und vier davon waren Farbige. »Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau oder Ihre Mutter Sie brauchte?« Der Wachtmeister blickte sich verstohlen um. »Ich sage Ih nen, was ich tun werde, Sir. Meine Männer öffnen für eine Mi nute die Straßensperre, und wir schauen kurz weg. Ich habe Sie nie gesehen und weiß von nichts.« Die Straßen waren verlassen, aber überall lagen Steine, Zie gel und Glasscherben. Da und dort lauerten Gestalten in den Hauseingängen, aber niemand versuchte, ihn aufzuhalten oder anzugreifen. Trotzdem war er erleichtert, als er die Polizeistati on in der Victoriastraße erreichte und sich in Sicherheit wußte. »Tara Malcomess.« Der diensthabende Polizeisergeant wußte sofort Bescheid. »Ja, die kennen wir! Immerhin waren vier meiner Männer nötig, um sie hierherzubringen.« »Was hat sie angestellt, Sergeant?« »Lassen Sie mich sehen –« Er schlug das Polizeiregister auf. »Bisher sind es nur folgende Punkte: Teilnahme an einer ille galen Versammlung, vorsätzliche Zerstörung fremden Eigen tums, Anstiftung zur Gewalt, drohende und beleidigende Äuße rungen, Behinderung der Polizei bei Erfüllung ihrer Pflicht, Angriff auf einen und/oder mehrere Polizisten, tätliche Dro hung, Angriff mit einer Offensivwaffe und/oder Angriff in ver brecherischer Absicht.« »Ich werde eine Kaution für sie stellen.« »Das, Sir, wird einiges kosten, würde ich sagen.« »Sie ist die Tochter von Oberst Malcomess, dem Kabinetts minister.« »Ach, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Warten Sie bitte hier, Sir.« Tara hatte ein blaues Auge, und ihre Bluse war zerrissen. Mit zerrauftem Haar schaute sie Shasa durch die Gitterstäbe der Zelle an. 569
»Was ist mit Huey?« fragte sie. »Huey kann von mir aus in der Hölle schmoren.« »Dann werde ich mit ihm schmoren«, erklärte Tara wider spenstig. »Ohne ihn gehe ich nicht von hier weg.« Shasa bemerkte den trotzigen Ausdruck in ihrem Madonnen gesicht und seufzte. Die Kaution betrug hundert Pfund – fünf zig für Tara und fünfzig für Huey. »Ich will verdammt sein, wenn ich ihn auch noch mitneh me«, erklärte Shasa. »Fünfzig Pfund sind genug für einen klei nen Bolschewiken. Er kann zu Fuß nach Hause gehen.« Tara setzte sich auf den Beifahrersitz und verschränkte trot zig die Arme. Beide schwiegen, und Shasa ließ den Motor auf heulen und fuhr mit quietschenden Reifen los. Anstatt in Richtung der ruhigen Vorstädte im Süden zu fah ren, jagte er den Jaguar die steilen Straßen von Devils Peak hinauf und parkte an einer Stelle, von wo aus man die rauchen den und beschädigten Gebäude des sechsten Bezirkes überblik ken konnte. »Was hast du vor?« fragte Tara, als er den Motor abstellte. »Willst du dir dein Werk nicht ansehen?« fragte er kalt. »Du bist doch sicher stolz auf das, was du geleistet hast.« Sie rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. »Das waren wir nicht«, murmelte sie. »Das waren Straßenbanden und Gau ner.« »Meine liebe Tara, so wird eben Revolution gemacht. Die kriminellen Elemente werden ermutigt, das bestehende System zu zerstören und die Regeln von Gesetz und Ordnung umzu stoßen, und dann betreten die Anführer die Bühne, um die Ordnung wiederherzustellen, indem sie die Revolutionäre nie derschießen. Hast du denn die Lehren deines geliebten Lenin nicht studiert?« »Die Polizei war schuld –« »Ja, die Polizei ist immer schuld – das ist ebenfalls Teil von Lenins Plan.« 570
»So ist es nicht –« »Halt den Mund«, fuhr er sie an. »Halte nur einmal den Mund und hör mir zu. Bis jetzt habe ich dein Amazonengehabe ruhig hingenommen. Es war naiv und lächerlich, aber ich habe mich damit abgefunden, weil ich dich liebe. Aber wenn du an fängst, die Häuser anderer Leute niederzubrennen und Steine und Bomben zu werfen, dann hört sich für mich der Spaß all mählich auf.« »Wie kannst du es wagen, in diesem Ton mit mir zu reden«, fauchte sie ihn an. »Schau einmal hinunter auf die Flammen und den Rauch. Dort wohnen die Menschen, die dir angeblich am Herzen lie gen, dort wohnen die Menschen, denen du angeblich helfen willst. Das sind ihre Häuser und Geschäfte, die ihr da in Brand gesteckt habt.« »Ich hab’ nicht gedacht –« »Nein, natürlich hast du nicht gedacht! Aber ich werde dir etwas sagen, und das solltest du dir besser merken. Wenn du versuchst, dieses Land, das ich liebe, zu zerstören und sein Volk ins Unglück zu stürzen, dann bist du mein Feind, und ich werde dich bis aufs Messer bekämpfen.« Sie blieb lange schweigend und mit abgewandtem Kopf re gungslos neben ihm sitzen und sagte schließlich leise: »Wür dest du mich bitte nach Hause fahren?« Er nahm den Umweg über Kloof Nek an der Atlantikküste und fuhr um den Tafelberg herum, um die von den Ausschrei tungen betroffenen Stadtbezirke zu meiden. Zwischen ihnen fiel kein einziges Wort, bis Shasa den Wagen vor dem Haus in Newlands anhielt. »Vielleicht hast du recht«, sagte Tara. »Vielleicht sind wir wirkliche Feinde.« Sie stieg aus, blieb stehen und schaute ihn an. »Leb wohl, Shasa«, sagte sie leise und traurig und ging ins Haus. 571
»Leb wohl, Tara«, flüsterte er. »Leb wohl, meine geliebte Feindin.« Alle Courtneys waren in der Halle von Weltevreden ver sammelt. Sir Garrick und Anna saßen auf dem langen Sofa mit der ge streiften Damastdecke. Sie waren zu Sir Garrys Geburtstag von Natal angereist, und vor einer Woche hatte das traditionelle Geburtstagspicknick auf dem Tafelberg stattgefunden. Wie immer war auch der Ou Baas, General Jan Christian Smuts, mit von der Partie gewesen. Sir Garry und Lady Anna hatten eigentlich schon vor ein paar Tagen abreisen wollen, doch dann war die furchtbare Nachricht von der deutschen Invasion in Polen eingetroffen, und sie wa ren auf Weltevreden geblieben. Es war nur recht und billig, daß die Familie in solch unsicheren Zeiten zusammenblieb. Sie saßen händchenhaltend wie zwei Jungverliebte auf dem Sofa. Sir Garry hatte sich leicht vorgeneigt, und seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Radiogerät, an dem Shasa Courtney mit gerunzelter Stirn nervös an den Knöpfen drehte. »Die BBC sendet auf dem 41-Meter-Band«, sagte Centaine ungeduldig und warf einen besorgten Blick auf ihre Armband uhr. »Beeil dich, chéri, sonst versäumen wir die Sendung.« »Aha!« Shasa lächelte, als das Rauschen verstummte und die Glocken von Big Ben aus dem Lautsprecher schallten. Dann sprach der Ansager: »Es ist zwölf Uhr mitteleuropäischer Zeit, und anstelle der Nachrichten übertragen wir eine Verlautbarung von Premier minister Neville Chamberlain –« »Dreh lauter, chéri«, befahl Centaine gespannt, und die schicksalhaften Worte dröhnten durch die große Halle. Alle hörten schweigend zu. Sir Garrys Bart zitterte ein we nig, er nahm die Brille ab und kaute geistesabwesend an einem 572
Brillenbügel. Centaine saß in dem hohen Armsessel neben dem riesigen Steinkamin. In ihrem weißen Sommerkleid mit dem breiten gelben Gürtel um die Taille sah sie aus wie ein junges Mäd chen, obwohl sie nun schon neununddreißig Jahre alt war. Sie hatte einen Ellbogen auf die Stuhllehne gestützt, und während sie mit einem Finger über ihre Wange strich, ließ sie ihren Sohn keinen Augenblick aus den Augen. Shasa schritt, die Hände auf dem Rücken und den Kopf ge senkt, ruhelos in der Halle auf und ab. Centaine fiel auf, wie sehr er seinem Vater ähnelte. Sie spür te, wie die Angst wieder von ihr Besitz ergriff, diese hilflose, lähmende Angst, als Worte über Krieg durch das wunderschö ne Haus hallten. Wir sind nie ganz sicher, es gibt keinen Zu fluchtsort, dachte sie. Es kommt wieder, und ich kann die, die ich liebe, nicht schützen. Shasa und Blaine – beide werden sie gehen, und ich kann sie nicht davon abhalten. Das letzte Mal Michael und Papa, diesmal Shasa und Blaine. O Gott, wie ich den Krieg hasse. Shasa blieb plötzlich wie erstarrt mitten im Zimmer stehen, als die Stimme sagte: »Und so muß ich Ihnen mit tiefstem Be dauern mitteilen, daß nun zwischen Großbritannien und Deutschland der Kriegszustand herrscht.« Damit endete die Übertragung, und aus dem Radiogerät er tönten die getragenen, traurigen Klänge von Kammermusik. »Schalte es ab, chéri«, sagte Centaine leise. Sekundenlang rührte sich keiner von ihnen. Dann sprang Centaine plötzlich auf. Sie lächelte heiter und hängte sich bei Shasa ein. »Das Mittagessen ist fertig«, verkündete sie munter. »Bei diesem herrlichen Wetter essen wir draußen auf der Terrasse. Shasa wird eine Flasche Champagner aufmachen. Ich konnte uns die ersten Austern der Saison besorgen.« Sie führte diesen heiteren und fröhlichen Monolog weiter, bis 573
alle bei Tisch saßen und die Weingläser gefüllt waren. Dann beendete sie jäh ihr Rollenspiel und wandte sich mit verstörtem Gesicht an Sir Garry. »Wir werden nicht mitmachen müssen, nicht wahr, Papa? General Hertzog hat versprochen, daß wir uns heraushalten werden. Er sagt, es ist ein englischer Krieg. Wir werden unsere Männer nicht wieder in den Krieg schicken müssen – diesmal nicht. Oder, Papa?« Sir Garry nahm ihre Hand. »Du und ich, wir beide wissen, was das letzte Mal der Preis war –« Ihm versagte die Stimme, und es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder gefaßt hat te. »Ich wünschte, ich könnte dich beruhigen, meine Liebe. Ich wünschte, ich könnte das sagen, was du gerne hören möchtest.« »Es ist ungerecht«, sagte Centaine unglücklich. »Es ist ein fach ungerecht.« »Ja, ich gebe zu, es ist ungerecht, aber in Europa herrscht eine schreckliche Diktatur, eine dunkle Macht, die uns und unsere Welt verschlingen wird, wenn wir uns nicht gegen sie wehren.« Centaine sprang auf und lief ins Haus. Shasa erhob sich, um ihr zu folgen, aber Sir Garry hielt ihn zurück. Nach zehn Minu ten kam Centaine wieder. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen und ihr Make-up erneuert. Sie lächelte, als sie sich an den Tisch setzte, aber in ihren Augen lag ein fiebriger Glanz. »Wir wollen jetzt alle fröhlich sein«, sagte sie lachend. »Das ist ein Befehl. Keine lange Gesichter, keine grausigen Gedan ken oder Worte – wir werden jetzt alle glücklich sein –« Am 4. September 1939, einen Tag nach Großbritanniens und Frankreichs Kriegserklärung an Hitlerdeutschland, hielt Gene ral Barry Hertzog eine Rede im Parlament der Südafrikani schen Union. »Es ist meine traurige und schmerzliche Pflicht, dem Hohen Haus mitzuteilen, daß sich der Ministerrat in der Frage der Hal 574
tung dieses Landes in bezug auf den Kriegszustand zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits und Deutschland an dererseits nicht einigen konnte.« Er hielt inne und setzte seine Brille auf, um in den Gesichtern der Männer zu lesen, die ne ben ihm auf der Regierungsbank saßen. Dann fuhr er ernst fort: »Ich bin der festen Überzeugung, daß die britische Kriegser klärung an Deutschland für unser Land nicht verpflichtend ist und die deutsche Invasion in Polen keine Bedrohung der Si cherheit für die Südafrikanische Union darstellt –« Von Seiten der Opposition kam stürmischer Beifall, während Smuts und seine Anhänger auf der Regierungsbank ebenso laut ihren Protest zum Ausdruck brachten. »Es ist ein Konflikt zwischen Deutschland und Polen«, fuhr Hertzog fort. »Und daher hat unser Land keinen Grund, Deutschland den Krieg zu erklären. Deshalb schlage ich vor, daß Südafrika neutral bleibt, daß wir Großbritannien den Mari nestützpunkt bei Simonstown überlassen, aber in jeder anderen Hinsicht unsere gegenwärtigen Beziehungen zu den kriegfüh renden Staaten aufrechterhalten.« Der alternde Premierminister war ein ausgezeichneter Red ner, und während er sprach, beobachtete Blaine Malcomess verstohlen die Reaktionen der Smuts-Anhänger in seiner Nähe. Er wußte, wer von ihnen, ebenso wie er und der Ou Baas, der festen Überzeugung war, daß man Großbritannien beistehen müsse, und wer noch unsicher und unschlüssig war. Er spürte, wie das Pendel der Gefühle, während Hertzog redete, immer mehr zu dessen Gunsten ausschlug, und mit wachsender Ent täuschung und Beschämung sah er den schändlichen Beschluß voraus, den das Hohe Haus am Ende fassen würde. General Hertzog redete noch immer. Blaine hörte nur mit halbem Ohr zu, während er eine Notiz für den Ou Baas nieder kritzelte, doch plötzlich horchte er auf und wandte seine ganze Aufmerksamkeit den Worten des Premierministers zu. »Und schließlich, betrachtet man die ethische Seite der deut 575
schen Invasion in Polen, lassen sich triftige Gründe nennen, um diese Handlungsweise zu rechtfertigen. Zieht man etwa in Be tracht, daß die Sicherheit des deutschen Staates –« Blaine jubelte innerlich auf und konnte richtiggehend spüren, wie sehr diese Worte die Unschlüssigen schockierten und bei jenen, die bereits zur Neutralität tendierten, einen Umschwung auslösten. »Er ist zu weit gegangen«, schrieb Blaine auf ein neues Blatt seines Notizblockes. »Er verteidigt Hitlers Angriff. Wir haben gewonnen.« Er reichte das Blatt General Smuts. Der las die Notiz, nickte kurz und erhob sich. »Die Briten sind unsere Freunde, unsere ältesten und besten Freunde. Wir müssen Großbritannien beistehen«, erklärte er. »Die Invasion in Polen ist keinesfalls ein lokaler Konflikt, son dern ein aggressiver Akt, dessen Folgen weit über Danzig und den polnischen Korridor hinausreichen und jedes freie Volk der Welt betreffen.« Als es schließlich zur Abstimmung für oder gegen den Krieg kam, stimmten Dr. Malans Nationalisten vollzählig für die Neutralität, ein Drittel von Hertzogs Partei sowie drei seiner Kabinettsminister folgten diesem Beispiel. Doch Smuts und seine Männer – Reitz, Malcomess, Stuttaford und die anderen – trugen den Sieg davon, und mit einem knappen Vorsprung von 80 gegen 67 Stimmen war das Parlament für eine Kriegserklä rung an Deutschland. In einer letzten verzweifelten Anstrengung, die Kriegserklä rung zu vereiteln, forderte General Hertzog die Auflösung des Parlaments und vorzeitige Neuwahlen, aber der Generalgou verneur, Sir Patrick Duncan, lehnte das Ansuchen ab und ak zeptierte statt dessen sein Rücktrittsgesuch. General Jan Chri stian Smuts erhielt den Auftrag, eine neue Regierung zu bilden und die Nation in den Krieg zu führen.
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»Der Ou Baas läßt mich nicht gehen«, sagte Blaine bitter, und Centaine lief zu ihm und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. »Oh, Gott sei Dank, mein Liebling. Ich habe gebetet und ge betet, und Er hat mich erhört. Ich könnte es nicht ertragen, euch beide zu verlieren. Nicht dich und Shasa – das hätte ich nie überlebt.« »Ich bin nicht stolz darauf, zu Hause zu bleiben, während an dere kämpfen.« »Du hast schon einmal tapfer und selbstlos gekämpft«, er klärte sie. »Hier bist du lebendig tausendmal nützlicher als tot auf irgendeinem Schlachtfeld.« »Davon hat mich der Ou Baas bereits überzeugt«, seufzte Blaine. Er legte einen Arm um ihre Taille und führte sie ins Wohnzimmer. Centaine wußte, daß diese Nacht keine Liebes nacht werden würde, seine Sorgen waren zu drückend. Sie wußte, daß er in dieser Nacht nur reden wollte, und es war ihre Pflicht, ihm zuzuhören, während er sich seinen Kummer, seine Zweifel und seine Befürchtungen von der Seele redete. »Unsere Position ist äußerst schwach – wie sollen wir mit ei ner Parlamentsmehrheit von nur dreizehn Stimmen Krieg füh ren, wenn eine starke Opposition den Ou Baas und den engli schen Krieg, wie sie ihn nennt, ablehnt? Sie werden uns auf Schritt und Tritt bekämpfen. Und unser Volk ist innerlich eben falls zerrissen. Wir haben innerhalb der Grenzen unseres Lan des Feinde, die fast noch gefährlicher sind als die Nazis – die Ossewa Brandwag, die Schwarzhemden, die Grauhemden, den Deutschen Bund in Südwestafrika. Innerhalb und außerhalb nichts als Feinde.« Sie schenkte ihm einen Whisky-Soda ein und brachte ihm das Glas. Es war sein zweiter Whisky an diesem Abend, ob wohl er gewöhnlich nie mehr als einen trank. »Pirow hat uns auch hinters Licht geführt. Er ist jetzt einer von ihnen, obwohl er in all den Jahren eine Vertrauensstellung 577
innehatte.« Oswald Pirow war unter Hertzogs Regierung Ver teidigungsminister gewesen. »Wir hatten ihm ein Budget von sechsundfünfzig Millionen Pfund bewilligt und ihn angewie sen, eine kampffähige, moderne Armee aufzubauen, und er hat nur eine Armee auf dem Papier hinterlassen. Wir glaubten sei nen Berichten und Zusagen, und jetzt, nach seinem Abgang, müssen wir feststellen, daß wir keine modernen Waffen haben und lediglich über eine Handvoll altmodischer Panzer, ein paar ehrwürdige Flugzeuge und eine Armee aus knapp fünfzehn hundert Mann verfügen. Pirow hat es abgelehnt, die Nation für einen Krieg zu rüsten, den er und Hertzog mit allen Mitteln verhindern wollten.« Es wurde allmählich spät, aber beide waren sie zu ange spannt, um an Schlaf zu denken. Als er einen dritten Whisky ablehnte, ging sie in die Küche, um Kaffee zu machen, und er folgte ihr nach. »General Smuts hat mir im neuen Kabinett das Innenministe rium übertragen. Einer seiner Hauptgründe ist, daß ich Leiter der Untersuchungskommission gegen die Ossewa Brandwag und andere subversive Organisationen gewesen bin. Zu verhin dern, daß sie unsere Vorbereitungen auf den Krieg stören, wird eine meiner Hauptaufgaben sein. Der Ou Baas selbst hat das Verteidigungsministerium übernommen und Großbritannien eine Armee von fünfzigtausend Freiwilligen versprochen, die in ganz Afrika zum Einsatz kommen kann.« Sie brachten das Kaffeegeschirr ins Wohnzimmer, und als Centaine eben einschenken wollte, klingelte das Telefon. Sie zuckte vor Schreck zusammen und verschüttete etwas von dem heißen Kaffee. »Wie spät ist es, Blaine?« »Zehn vor eins.« »Dann hebe ich nicht ab – laß es klingeln«, erklärte Centaine fest, aber er stand auf. »Doris weiß, daß ich hier bin«, sagte er. »Ich mußte es ihr 578
sagen, falls –« Doris war seine Sekretärin und die einzige, die sie ins Vertrauen gezogen hatten. Natürlich mußte sie wissen, wo er zu finden war. Centaine hob den Hörer ab. »Courtney.« Sie hörte einen Au genblick zu. »Ja, Doris, er ist hier.« Sie reichte Blaine den Hö rer und wandte sich ab. Er lauschte kurz und sagte dann ruhig: »Danke, Doris, ich bin in zwanzig Minuten da.« Er legte auf und schaute Centaine bedauernd an. »Tut mir leid, Centaine.« Sie half ihm in den Mantel, und während er ihn zuknöpfte, erklärte er: »Es geht um Isabella.« Als er ihre Überraschung sah, fuhr er fort: »Der Arzt ist bei ihr. Mehr wollte Doris nicht sagen, aber es klang ernst.« Nachdem Blaine gegangen war, brachte sie die Kaffeekanne und die Tassen in die Küche und spülte sie ab. Sie hatte sich selten so einsam gefühlt. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, legte eine Schallplatte auf und setzte sich in einen Armsessel, wo sie schließlich einschlief. Das Telefon ließ sie hochschrecken. Sie griff schlaftrunken zum Hörer. »Blaine!« Sie hatte seine Stimme sofort erkannt. »Wie spät ist es?« »Ein paar Minuten nach vier Uhr.« »Stimmt etwas nicht, Blaine?« Mittlerweile war sie hellwach. »Isabella«, sagte er. »Sie verlangt nach dir.« »Nach mir?« fragte Centaine bestürzt. »Sie möchte, daß du herkommst.« »Ich kann nicht, Blaine. Es geht nicht, das weißt du doch.« »Sie liegt im Sterben, Centaine. Der Arzt meint, daß sie den heutigen Tag nicht überleben wird.« »O Gott, Blaine!« »Wirst du kommen?« »Möchtest du, daß ich komme, Blaine?« »Es ist ihr letzter Wunsch.« 579
»Ich komme«, sagte sie und legte auf. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um sich umzuziehen und ein wenig zurechtzumachen. Blaines Haus war das einzige in der Newlands Avenue, wo noch Licht brannte. Er empfing sie an der Eingangstür und sagte, ohne sie zu um armen: »Danke, Centaine.« Da erst sah sie seine Tochter hinter ihm in der Halle stehen. »Hallo, Tara«, begrüßte sie das Mädchen. Tara hatte geweint. Ihre großen grauen Augen waren ver schwollen und rot umrandet, ihr Gesicht war so blaß, daß ihr dunkles kastanienbraunes Haar wie Feuer zu leuchten schien. »Es tut mir so leid um deine Mutter.« »Nein, das stimmt nicht.« Tara starrte sie feindselig an, ver lor dann aber die Beherrschung und rannte schluchzend den Korridor hinunter. Eine Tür fiel zu. »Sie ist völlig durcheinander«, sagte Blaine. »Ich muß mich für sie entschuldigen.« »Ich verstehe das«, antwortete Centaine. »Zum Teil habe ich es ja auch verdient.« Er schüttelte den Kopf, sagte aber nur: »Komm bitte mit.« Sie gingen Seite an Seite die Treppe hinauf, und Centaine fragte leise: »Hat sie Schmerzen?« »Ja«, sagte er. »Sie hatte immer Schmerzen, mehr als ein normaler Mensch ertragen könnte.« Sie gingen den breiten, mit Teppichen ausgelegten Gang ent lang. Blaine klopfte an die letzte Tür und öffnete sie. »Bitte komm herein.« Das Zimmer war groß und in ruhigen Grün- und Blautönen eingerichtet. Auf dem Nachttisch brannte eine Lampe, die Vor hänge waren zugezogen. Der Mann, der neben dem Bett stand, war offensichtlich Arzt. Blaine führte Centaine zu dem Him melbett, aber obwohl sie nicht vorbereitet war, erschrak sie doch beim Anblick der auf mehrere Kissen gebetteten Gestalt. Sie erinnerte sich Isabella Malcomess’ heiterer, sanfter 580
Schönheit. Was ihr aus den Kissen entgegenstarrte, waren tief in den Höhlen liegende tote Augen über bleckenden gelblichen Zähnen. »Schön von Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Centaine mußte näher an das Bett herantreten, um das dünne Stimmchen zu hören. »Als ich erfuhr, daß Sie mich sehen wollen, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.« Leise warf der Doktor ein: »Sie dürfen nur ein paar Minuten bleiben, Mrs. Malcomess braucht Ruhe.« Aber Isabella winkte ungeduldig ab, und Centaine sah, daß die Hand nur noch aus Haut und Knochen bestand. »Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen reden«, flüsterte sie. »Lassen Sie uns bitte allein, Doktor.« Blaine beugte sich über das Bett und richtete die Kissen. »Streng dich nicht zu sehr an, Liebes«, sagte er, und Centaine konnte nicht verhindern, daß ihr seine Fürsorglichkeit einen Stich versetzte. Blaine und der Doktor verließen das Zimmer und schlossen leise die Tür. Zum ersten Mal waren die beiden Frauen mitein ander allein. Centaine glaubte etwas Unwirkliches zu erleben. Jahrelang hatte diese Frau eine bedeutende Rolle in ihrem Le ben gespielt. Allein ihre Existenz war Grund dafür gewesen, daß Centaine alle niedrigen menschlichen Regungen an sich erfahren hatte. Nun aber, da sie an ihrem Sterbebett stand, wa ren all diese Gefühle verschwunden. Das einzige, was sie emp fand, war tiefes Mitleid. »Kommen Sie näher, Centaine«, flüsterte Isabella. »Das Sprechen strengt mich an.« Impulsiv kniete Centaine neben dem Bett nieder. Sie hatte das Bedürfnis, sich bei Isabella zu entschuldigen und sie um Verzeihung zu bitten, aber Isabella ergriff als erste das Wort. »Ich habe Blaine gesagt, daß ich Frieden mit Ihnen schließen möchte, Centaine. Ich erklärte ihm, daß mir klargeworden ist, 581
wie wenig ihr dafür könnt, daß ihr euch liebt, und wie sehr ihr versucht habt, mich zu schonen. Ich sagte ihm, daß ich wüßte, daß Sie mir, obwohl Sie ihn mir hätten wegnehmen können, diese endgültige Demütigung erspart und mir damit den letzten Rest an Würde gelassen haben.« Centaine hätte dieses zerbrechliche, sterbende Geschöpf am liebsten in die Arme genommen und festgehalten, aber etwas in Isabellas Augen, ein stolzes, leidenschaftliches Feuer, hielt sie davon ab. »Oh, Isabella, ich weiß nicht, wie ich Ihnen –« Centaines Stimme versagte, und Isabella brachte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen. Sie schien noch einmal all ihre Kräfte zu sammeln. Ein Hauch von Farbe überzog ihre Wangen, ihr Atem ging schnel ler, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme kräftiger und schärfer. »Aber ich habe ihm das nur gesagt, damit er Sie zu mir bringt. Hätte er geahnt, was ich wirklich vorhabe, dann hätte er Sie nicht hergebracht.« Sie hob den Kopf, und nun klang ihre Stimme wie das Zischen einer Schlange. »Jetzt kann ich Ihnen endlich sagen, wie sehr ich Sie in jeder wachen Minute all die Jahre hindurch gehaßt habe und daß ich nur durch meinen Haß so lange am Leben geblieben bin, um zu verhindern, daß Sie ihn heiraten. Jetzt, da ich sterbe, ist dieser Haß noch hundert mal größer –« Sie brach ab, um Atem zu holen, und Centaine schauderte vor ihrem Blick zurück. Sie erkannte, daß Isabella eine Frau war, die die dauernden Schmerzen und das verzehrende Feuer von Haß und Eifersucht in den Wahnsinn getrieben hatten. »Wenn der Fluch einer Sterbenden irgendeine Macht hat«, fuhr Isabella fort, »dann verfluche ich Sie, Centaine Courtney, mit meinem letzten Atemzug. Mögen Sie diesselben Qualen erleiden, die Sie mir zugefügt haben, mögen Sie leiden, wie ich gelitten habe. An dem Tag, an dem Sie mit meinem Mann vor 582
den Traualtar treten, werde ich noch aus dem Grab die Hand nach Ihnen ausstrecken –« »Nein!« Centaine sprang auf und wich taumelnd zurück. »Hören Sie auf! Bitte, hören Sie auf!« Isabella lachte schrill. »Ich verfluche Sie, und mein Fluch wird Ihre ehebrecherische Leidenschaft vernichten. Ich verflu che jede Minute, die ihr nach meinem Tod zusammen seid. Ich verfluche den Samen, den er in Ihren Leib fließen läßt, ich ver fluche jeden Kuß und jede Berührung – ich verfluche Sie und Ihren Balg. Ich verfluche alle Ihre Erben. Auge um Auge, Cen taine Courtney. Denken Sie an meine Worte – Auge um Au ge!« Centaine stürzte zur Tür und floh aus dem Zimmer. Sie rann te den Korridor entlang, und in diesem Augenblick kam Blaine die Treppe herauf. Er versuchte sie aufzuhalten, aber sie riß sich los und lief hinaus auf die Straße zu ihrem Wagen. Sie war schon viele Stunden lang mit Vollgas unterwegs, ehe ihr bewußt wurde, daß sie auf dem Weg in die Wüste war, zu rück zu den verträumten, geheimnisvollen Bergen, die die Buschmänner »Ort des Lebens« nannten. Zwei Monate vergingen, bevor Centaine aus der Kalahari zu rückkehrte. Die ganze Zeit über hatte sie Blaines Bemühungen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, zunichte gemacht, indem sie weder seine Briefe beantwortete noch eine Nachricht über mitteln ließ, wenn er bei Abe Abrahams oder bei Dr. Twenty man-Jones anrief. Sie las die Todesanzeige von Isabella Malcomess in den Zei tungen, die die H’ani-Mine erst Wochen nach ihrer Veröffent lichung erreichten, aber die Todesanzeige trug nur dazu bei, daß sich ihr Gefühl der Isoliertheit und ihre dunklen Ahnungen von drohendem Unheil, die Isabellas Fluch ausgelöst hatte, noch verstärkten. 583
Sie kehrte schließlich nur auf Shasas Drängen nach Welte vreden zurück. Als sie auf dem Gut ankam, war sie braunge brannt von der Kalaharisonne, aber noch immer mutlos und deprimiert. Shasa mußte ihr Telegramm erhalten haben und sie erwarten, aber er kam ihr nicht entgegen. Als sie ihr Arbeitszimmer betrat, wandte er sich vom Fenster ab, von wo er ihre Ankunft beobachtet hatte, und kam ihr entgegen. Er war in Uniform. Sie blieb in der Tür stehen, und ein Schauer ließ sie erstarren. Er ging auf sie zu – und sie glaubte sich in die Vergangenheit zurückversetzt, als ihr ein großer und unwahrscheinlich gut aussehender junger Mann in derselben Khakiuniform, mit dem glänzenden Gürtel und der spitz zulaufenden, schiefsitzenden Mütze auf dem Kopf sowie dem Fliegerabzeichen auf der Brust, entgegengekommen war. »Gott sei Dank, du bist gekommen, Mutter«, begrüßte Shasa sie. »Ich mußte dich einfach sehen, bevor ich gehe.« »Wann?« hauchte sie und hatte gleichzeitig Angst vor der Antwort. »Wann mußt du fort?« »Morgen.« »Wohin? Wo schicken sie dich hin?« »Erst kommen wir nach Roberts Heights.« Das war die Aus bildungsbasis der Luftwaffe in Transvaal. »Um auf die Jagd flugzeuge eingeschult zu werden. Wohin sie uns nachher schicken, weiß ich noch nicht. Wünsch mir Glück, Mutter.« Sie sah, daß er die orangefarbenen Blitze auf den Schulter stücken seines Uniformrockes trug, die Abzeichen jener, die sich freiwillig zum Kampf außerhalb der Landesgrenzen ge meldet hatten. »Ja, mein Liebling, ich wünsche dir viel Glück«, sagte sie und wußte in diesem Augenblick, daß ihr das Herz brechen würde, wenn er ging.
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Die drei Jagdflugzeuge flogen in Pfeilformation. Shasa führte den Schwarm an. Er war rasch befördert worden. Kommandie ren war ganz natürlich für ihn, das hatte er von Centaine Courtney gelernt. Er brauchte nur achtzehn Monate, um den Rang eines Staffelkommandanten zu erreichen. Shasa flog in einem kurzärmeligen Khakihemd und kurzer Hose, denn die Sommerhitze in Äthiopien war mörderisch. An diesem Tag war die Luft unter dem wolkenlosen, azurblauen Himmel klar und rein, so daß sie unbegrenzte Sicht hatten. Vor und unter ihnen erstreckte sich das wilde äthiopische Bergland, hohe, flachkuppige Berge mit tiefen dunklen Schluchten da zwischen, felsig und ohne Vegetation. Die drei Jagdflugzeuge waren erst vor wenigen Minuten vom staubigen Behelfsflugplatz bei Yirga Alem aufgestiegen und gewannen langsam an Höhe. Sie folgten einem verzweifelten Notruf, der über Funk von der vorrückenden Infanterie ge kommen war. Shasa schwenkte nach Norden und folgte dem schmalen, hel len Band der Straße, die sich unter ihnen durch die Berge schlängelte. Er sah sie als erster. Noch waren es winzige Punkte, eine Wolke von schwarzen Mücken im tiefen Blau des Himmels. »Popeye-Schwarm, hier spricht der Kommandant. Beute in Sicht!« sagte er in das Mikrophon seines Funksprechgerätes. »Höhe elf Uhr! Mindestens zehn – und sie sehen aus wie Ca pronis. Mit Vollgas voraus!« »Ich hab’ sie«, antwortete Dave Abrahams sofort. Es war un gewöhnlich, daß sie es geschafft hatten, zusammenzubleiben. Sie waren gemeinsam ausgebildet worden und kämpften nun in Dan Pienaars Südafrikacorps, um die italienischen Truppen des Herzogs von Aosta nach Addis Abeba zurückzudrängen. David hatte seine Hawker Hurricane neben Shasas rechte Flügelspitze gesteuert. Shasa schaute zu ihm hinüber, und sie grinsten einander zu. Es war ein gutes Gefühl, ihn neben sich 585
zu haben. Die kleinen Mücken verwandelten sich rasch in die vertrau ten Silhouetten der dreimotorigen Capronibomber. Shasa zählte zwölf, vier Schwärme zu je drei Maschinen. Sie bombardierten die Straßenkreuzung bei Keren, wo der südafrikanische Vor stoß in einem Paß zwischen den steilen Felswänden der Am basberge zum Stillstand gekommen war. Shasa sah nun auch die Bomben, die die vordersten Capronis abwarfen. Er schwenkte ab und ging zum Angriff über. Shasa nahm den ersten Bomber des dritten Schwarms ins Vi sier, berührte leicht das linke Seitenruder und drückte die Nase seiner Hurricane ein klein wenig hinunter, bis er die silberblaue Caproni leicht verschwommen im Visier hatte. Er nahm das Steuerruder zwischen die Knie und löste die Sicherung des Auslöserknopfes, so daß alle acht BrowningMaschinengewehre in den Tragflächen schußbereit waren. Er starrte durch das Visier, runzelte konzentriert die Stirn und drückte mit dem Daumen auf den Auslöser. Die Hurricane beb te und zitterte durch den Rückstoß der acht Brownings, Shasa wurde nach vorn geschleudert und gegen seine Schultergurte gedrückt. Die Geschosse seiner Maschinengewehre schlugen in die Caproni ein, und Shasa beobachtete die Treffer und korri gierte mit leichten Berührungen der Seitenruderpedale die Schußrichtung. Der Bomber fing Feuer, verlor eine Tragfläche, drehte sich auf den Rücken und raste brennend und rauchend im Spiralflug auf die Erde zu. Shasa wandte seine ganze Aufmerksamkeit der nächsten Bomberformation zu. Er riß die Maschine herum und flog eine atemberaubende Kurve, um die nächste Caproni fron tal anzugreifen. Die beiden Flugzeuge rasten aufeinander zu. Die Nase der Caproni wurde wie durch Zauberhand größer und füllte Shasas Blickfeld schließlich ganz aus. Er feuerte im letzten Moment und zog dann die Nase seiner Hurricane hoch, so daß die bei 586
den Flugzeuge nur knapp aneinander vorbeirasten. Shasa machte kehrt und stürzte sich neuerlich auf die italieni schen Formationen, um sie auseinanderzureißen und über den Himmel zu zerstreuen. Er griff an, feuerte, schwenkte ab, tauchte weg, griff an, bis alle Capronis mit der für den Luft kampf charakteristischen Plötzlichkeit verschwunden waren. Mit einemmal war er allein in der unendlichen Weite des Himmels, und er begann zu schwitzen, als seine innere An spannung nachließ. Den Steuerknüppel hielt er so fest um klammert, daß seine Knöchel schmerzten. Er drosselte die Ge schwindigkeit und warf einen Blick auf die Treibstoff anzeige. Der verwegene Kampf unter Vollgas hatte mehr als den halben Tank verbraucht. »Popeye-Schwarm, hier spricht der Kommandant. Alle Ein heiten bitte melden«, rief er in das Mikrophon und erhielt au genblicklich Antwort. »Kommandant, hier Nummer drei!« Das war die dritte Hurri cane mit dem jungen Le Roux am Steuerknüppel. »Ich habe nur noch ein Viertel Treibstoff im Tank.« »In Ordnung, Drei, kehren Sie allein zur Basis zurück«, be fahl Shasa. Dann rief er neuerlich: »Popeye-Zwei, hier der Kommandant. Hörst du mich?« Shasa suchte den Himmel nach Davids Flugzeug ab und wurde allmählich unruhig. »Popeye-Zwei, bitte melden«, wiederholte er und suchte in dem zerklüfteten Gebiet unter ihm nach einem rauchenden Flugzeugwrack. Dann machte sein Herz einen Satz, als Davids Stimme klar und deutlich aus den Kopfhörern schallte. »Kommandant, hier Nummer Zwei. Habe Schwierigkeiten.« »David, wo, zum Teufel, bist du?« »Ungefähr zehn Meilen östlich der Keren-Kreuzung, Höhe achttausend Fuß.« Shasa blickte nach Osten und entdeckte sofort die dünne graue Linie, die in südlicher Richtung über den Horizont gezo 587
gen wurde. Es sah aus wie eine Feder. »David, ich sehe Rauch. Brennst du?« »Positiv. Habe Motorbrand.« »Ich komme, David, halte durch!« Shasa riß die Hurricane herum und drückte den Gashebel bis zum Anschlag durch. Da David ein paar hundert Meter tiefer flog, ließ er die Ma schine absacken. »David, wie schlimm ist es?« »Truthahnbraten«, sagte David lakonisch, und da sah Shasa die brennende Hurricane schon vor sich. Er nahm die Geschwindigkeit ein wenig zurück und hielt sich in zweihundert Meter Entfernung etwas oberhalb der brennen den Maschine. Er konnte die Einschußlöcher in Motorhaube und Tragfläche sehen. Einer der italienischen Bordschützen hatte David voll getroffen. Der Anstrich des Flugzeugrumpfes unmittelbar vor dem Cockpit wurde schwarz und blasig, und David hatte Schwierigkeiten beim Öffnen des Schiebedaches. Wenn das Schiebedach klemmt, ist er verloren, dachte Shasa, aber in diesem Augenblick glitt das Schiebedach zurück, und David schaute zu ihm herauf. Die Luft rund um seinen Kopf flimmerte von der Hitze der unsichtbaren Flammen, und am Ärmel seines Hemdes erschien ein brauner Fleck, als der Stoff zu schmoren begann. »Nichts zu machen! Ich springe ab, Shasa.« Shasa sah die Bewegungen seiner Lippen, und seine Stimme schallte aus den Kopfhörern, aber bevor er etwas sagen konnte, hatte David schon den Helm abgenommen und löste die Schultergurte. Er hob zum Abschied die Hand, drehte die brennende Maschine herum und ließ sich aus dem Cockpit fallen. Er stürzte ein paar hundert Meter mit ausgebreiteten Armen und Beinen im freien Fall, dann öffnete sich der Fallschirm. Langsam trieb er auf die ausgedörrte, graufarbene Erde fünf tausend Fuß unter ihm zu. 588
Shasa drosselte die Geschwindigkeit, bis er zugleich mit dem Fallschirm an Höhe verlor, dann umkreiste er David in einer Entfernung von zwei- bis dreihundert Metern. Er versuchte abzuschätzen, wo David landen würde, und warf einen besorg ten Blick auf die Treibstoffanzeige. Die Nadel schwebte knapp über dem roten Strich. Davids brennende Maschine schlug auf dem Plateau am Fuß der Ambasberge auf und explodierte mit einer riesigen Stich flamme. Shasa nahm die Landschaft unter sich in Augenschein. Zwi schen den stahlgrauen Bergrücken entdeckte er felsige Schluchten, die aussahen wie die Haut eines Krokodils. Aber unmittelbar hinter dem letzten Bergrücken lag ein ebenes, brei tes Tal. David würde auf dem letzten Bergrücken oder ganz in dessen Nähe landen. Shasa kniff die Augen zusammen. Eine menschliche Sied lung! Er hatte am Ende des Tales eine kleine Ansammlung von strohgedeckten Hütten entdeckt, und für einen Augenblick ju belte er innerlich. Doch dann fielen ihm die Bilder von den geschändeten und verstümmelten Leichen zweier Piloten ein, die den »Shuftas«, den äthiopischen Freischärlern, in die Hän de gefallen waren. Shasa legte die Maschine in die Kurve und überflog in gerin ger Höhe das Tal. Dann sah er die menschlichen Gestalten un ter sich. Etwa zwanzig Männer in langen, schmutziggrauen Gewändern liefen vom Dorf ins Tal hinunter. Sie waren alle bewaffnet, einige mit modernen Karabinern, die sie vermutlich irgendwo erbeutet hatten, andere mit altmodischen langen Musketen. Als die Hurricane über ihre Köpfe hinwegbrauste, blieben drei oder vier von ihnen stehen, legten ihre Gewehre an und zielten auf Shasa. Er sah die Mündungsblitze, als sie feuerten, aber sie trafen sein Flugzeug nicht. Ein weiterer Beweis ihrer feindlichen Gesinnung war nicht 589
nötig. Die Männer rannten am Fuß des Bergrückens entlang, um die winzige Gestalt am Fallschirm abzufangen. Shasa ging tiefer, flog aus einer Entfernung von fünfhundert Metern direkt auf die rennenden Gestalten zu und eröffnete das Feuer. Die Geschosse aus seinen acht Maschinengewehren wirbelten rund um die Männer Staub auf, und er sah, wie vier oder fünf von ihnen die Arme hochrissen und im Kugelhagel zusammenbrachen. Dann war er gezwungen, die Hurricance hochzureißen, um dem Bergrücken am Ende des Tales auszuweichen. Als er wie der zurückkam, mußte er feststellen, daß sich die Freischärler neu gruppiert hatten und weiterliefen. David war nur noch knapp tausend Meter über der Erde und würde am Abhang des Bergrückens landen. Shasa versuchte einen zweiten Angriff, doch diesmal rannten die Freischärler auseinander, als die Maschine sich näherte, gingen hinter den Felsblöcken in Deckung und nahmen Shasa unter Feuer, als er über ihre Köpfe hinwegraste. Die Geschosse aus seinen Maschinengewehren wirbelten Sand und Felssplitter auf, richteten aber keinen Schaden an. Er zog die Maschine hoch und brachte sie in horizontale La ge, um Davids Landung zu beobachten. David landete hart, überschlug sich und kollerte ein paar Meter den steinigen Ab hang hinunter, bis ihn der Fallschirm wieder hochriß. Er kämpfte mit den Halteschnüren und dem sich im Wind blähen den Fallschirm und schaffte es schließlich, das Brustgeschirr abzustreifen. Rasch drehte er sich um und warf einen Blick auf die wilde Bande, die heulend den Hang heraufkam. Er öffnete die Schnalle seines Halfters und zog seine Dienstpistole, dann be schattete er die Augen und blickte zu der kreisenden Hurricane hinauf. Shasa ging tiefer und deutete, als er fast auf gleicher Höhe an ihm vorbeiflog, den Hang hinunter. David starrte ihn verständ 590
nislos an. Er wirkte klein und verlassen auf dem kahlen Berg rücken, und Shasa kam ihm nahe genug, um die Resignation in seinem Blick zu erkennen. David winkte ihm zum Abschied zu und wandte sich der wilden Horde zu, die rasch näher kam. Shasa griff die Freischärler abermals an, und wieder gingen sie in Deckung. Sie waren noch achthundert Meter von David entfernt, und mit seinem Angriff hatte er ein paar kostbare Se kunden gewonnen. Er legte die Maschine so hart in die Kurve, daß seine Flügelspitze das Dornengestrüpp auf der Hügelkuppe streifte. Sobald er die Hurricane abgefangen hatte, ließ er das Fahrgestell ausfahren. Dann überflog er abermals die Stelle, wo David stand, und deutete wieder ins Tal hinunter. Diesmal sah er Davids Gesicht verstehend aufleuchten. Er drehte sich um und rannte mit langen Sätzen den Abhang hin unter. Shasa wendete seine Maschine am Ende des Tales und steu erte auf einen grob gepflügten Acker am Fuß des Abhanges zu. Er sah noch, daß David schon auf halber Höhe war und daß die Shuftas versuchten, ihm den Weg abzuschneiden, aber dann brauchte er seine ganze Konzentration, um zu landen. Er öffnete im letzten Augenblick die Landeklappen und hielt die Maschine in der Luft, so daß sie mit sehr reduzierter Ge schwindigkeit auf den Acker zuschwebte. Einen halben Meter vor dem Acker sackte sie ab und krachte auf die Erde, machte einen Satz und kam wieder auf den Boden. Schwankend, hol pernd und bockend rollte sie aus, und Shasa wurde kräftig durchgeschüttelt. Er war unten. Seine Chancen, die Maschine ohne Bruch zu landen, waren fünfzig zu fünfzig gewesen. Aber nun war er unten, und David hatte die Talsohle fast erreicht. Fast im selben Augenblick erkannte er, daß David es nicht schaffen würde. Vier der schnellsten Läufer waren den anderen weit voraus und würden David den Weg abschneiden, bevor er den Acker erreichte. Die anderen Banditen waren stehenge 591
blieben und schossen ihm nach. Shasa wendete die Hurricane, und als ihre Nase direkt auf die vier vorderen Shuftas zielte, gab er Vollgas, so daß sich das Hinterteil der Maschine hob. Auf diese Weise befand sie sich für einen Augenblick in horizontaler Lage, und die Maschinen gewehre konnten treffen. Er feuerte eine Salve ab, und der Ku gelhagel erfaßte die vier Männer. Zwei von ihnen verwandelten sich in regungslose rote Stoffbündel, ein dritter wurde ein paarmal herumgewirbelt, bevor er in einer Staubwolke zusam menbrach. Der vierte Bandit warf sich flach auf die Erde, und dann standen die Hinterräder der Hurricane wieder auf dem Boden. Die Kugeln aus den Maschinengewehren gingen ins Leere. David war nur noch ein paar hundert Meter entfernt und kam rasch näher. Shasa drehte die Maschine wieder um, so daß ihre Nase ins Tal zeigte. Die leichte Hanglage würde ihre Startge schwindigkeit erhöhen. Shasa beugte sich aus dem Cockpit. »Los, Davie«, brüllte er. »Diesmal geht’s um die Goldme daille, Junge!« Unmittelbar vor dem Schiebedach traf etwas den Flugzeug rumpf. Shasa blickte zurück. Die Shuftas waren am Rand des Feldes angekommen, liefen noch ein paar Meter weiter und hielten an, um niederzuknien und zu feuern. Eine Kugel pfiff dicht über seinen Kopf hinweg, so daß er sich unwillkürlich duckte. »Vorwärts, Davie.« Er konnte David keuchen hören, und ei ne Kugel durchschlug die Tragfläche. »Komm schon, Davie.« Schweiß lief über Davids gerötetes Gesicht, hatte sein Hemd durchtränkt. Er erreichte das Flug zeug und sprang auf die Tragfläche. Unter seinem Gewicht neigte sich die Maschine zur Seite. »Auf meinen Schoß«, brüllte Shasa. »Nimm den Steuer knüppel und den Gashebel – ich betätige die Seitenruder.« 592
Er fühlte Davids Hände am Steuerknüppel und am Gashebel und ließ sie los. Der Motor heulte auf, die Hurricane rollte los. »Ein bißchen Druck aufs linke Seitenruder«, rief David mit erstickter Stimme, und Shasa drückte das Pedal für das linke Seitenruder einen Zentimeter nach unten. Der Rolls-Royce-Motor kam langsam auf Touren, und das Flugzeug rumpelte und holperte über das Feld. Shasa hatte nach vorne keine Sicht. David drückte ihn in den Sitz und nahm sie ihm völlig. Deshalb drehte er den Kopf zur Seite und spähte über die Kante des Cockpits. Er sah den Bo den vorbeirasen, als sie allmählich schneller wurden, und rea gierte prompt auf Davids Anweisungen für das Seitenruder. Dürre Hirsestengel klatschten gegen die vorderen Kanten der Tragflächen. Das Geräusch war fast ebenso bedrohlich wie das Summen und Singen der Kugeln, die dicht an ihnen vorbeipfif fen. Alle Shuftas feuerten auf sie, aber der Abstand wurde schnell größer. Die Hurricane raste über eine kleine Welle im Acker und war mit einem Satz in der Luft. Das Rumpeln und Rütteln hörte plötzlich auf, und sie stiegen höher. »Wir haben es geschafft!« jubelte Shasa, doch kaum hatte er das gesagt, als ihn etwas im Gesicht traf. Das Geschoß war ein gehämmerter Eisenstift, so lang und dick wie der Daumen eines Mannes. Er war mit einer Handvoll Schwarzpulver aus einer Muskete abgefeuert worden, hatte den Metallrahmen des Schiebedaches neben Shasas Kopf gestreift und sich in seine Schläfe gebohrt. Da er seitlich auftraf, durch drang er nicht die Hirnschale – Shasa verlor nicht einmal das Bewußtsein. Ihm war, als hätte ihm jemand mit einem Hammer gegen die linke Schläfe geschlagen. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert, so daß er auf der anderen Seite des Cockpits ge gen den Metallrahmen stieß. Er spürte, wie der Augenhöhlenrand seines vorderen Schä delknochens brach, und Haut und Fleischfetzen hingen wie ein 593
Vorhang vor seinen Augen. Ein Blutstrom ergoß sich über sein Gesicht. »David!« schrie er. »Ich bin getroffen! Ich sehe nichts mehr!« David drehte sich um und stieß einen entsetzten Schrei aus, als er Shasas Gesicht sah. »Ich sehe nichts mehr«, wiederholte Shasa immer wieder. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. »Ich kann nichts mehr sehen, o Gott, Davie, ich sehe nichts mehr.« David riß sich den Seidenschal vom Hals und drückte ihn in eine von Shasas tastenden Händen. »Versuch die Blutung zu stoppen«, überschrie er den Moto renlärm, und Shasa drückte den zusammengeknüllten Schal auf die schreckliche Wunde. David mußte sein ganzes fliegerisches Geschick aufwenden, um sie zum Stützpunkt zurückzufliegen. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie den Behelfsflugplatz bei Yirga Alem und flogen im Tiefflug die Landebahn an. Da vid setzte hart auf dem Flugfeld auf und steuerte die Maschine mit Höchstgeschwindigkeit zu dem wartenden Sanitätswagen, den er über Funk angefordert hatte. Sie hoben Shasa aus dem blutbespritzten Cockpit und brach ten ihn ins Feldlazarett. Eine Viertelstunde später lag er im Lazarettzelt auf dem Operationstisch. Als er aus der Narkose erwachte, war alles dunkel. Er hob die Hand und betastete sein Gesicht. Es war dick ver bunden, und panische Angst überkam ihn. »David!« wollte er rufen, aber seine Zunge gehorchte ihm noch nicht, so daß nur ein Lallen daraus wurde. »Schon gut, Shasa, ich bin ja hier.« Die Stimme kam ganz aus der Nähe, und Shasa tastete nach seinem Freund. »Davie! Davie!« »Alles in Ordnung, Shasa, bald ist alles wieder gut.« Shasa fand seine Hand und umklammerte sie. »Ich kann nichts sehen. Ich bin blind!« 594
»Der Verband, das ist alles«, versicherte ihm David. »Der Doktor ist sehr zufrieden mit dir.« »Du lügst doch nicht, David?« fragte Shasa flehend. »Sag mir, daß ich nicht blind bin.« »Du bist nicht blind«, flüsterte David. Shasas verzweifelter Griff löste sich langsam, und nach einer Minute begannen die schmerzstillenden Mittel zu wirken, und er schlief ein. David blieb die ganze Nacht neben seinem Feldbett sitzen. Im Lazarettzelt herrschte auch bei Nacht eine drückende Hitze. David wischte Shasa den Schweiß von Hals und Oberkörper und hielt seine Hand, als er im Schlaf wimmerte und murmelte: »Mutter? Bist du da, Mutter?« Nach Mitternacht kam der Arzt und befahl David, sich eine Weile hinzulegen, aber David lehnte ab. »Ich muß hier sein, wenn er aufwacht – ich muß es ihm selbst sagen. Das ist das mindeste, was ich ihm schulde.« Hinter dem Zelt jaulten die Schakale, und als der erste Licht schimmer durch die Zeltplane drang, wachte Shasa wieder auf und fragte sofort: »David?« »Ja, Shasa, ich bin hier.« »Es tut höllisch weh, Davie, aber du hast gesagt, daß alles in Ordnung ist. Das hast du doch gesagt, nicht wahr?« »Ja, das habe ich gesagt.« »Wir werden bald wieder zusammen fliegen, was, alter Jun ge? Das alte Team, Abrahams und Courtney wieder voll im Geschäft?« Er wartete auf eine Antwort, aber als keine kam, veränderte sich sein Ton. »Ich bin nicht blind, oder? Wir werden bald wieder zusammen fliegen?« »Du bist nicht blind«, sagte David leise. »Aber du wirst nicht wieder fliegen. Du darfst nach Hause, Shasa.« »Sag’s mir!« befahl Shasa. »Versuch nicht, mich zu schonen, das macht es nur noch schlimmer.« »Also gut, ich werde dir die Wahrheit sagen. Die Kugel hat 595
deinen linken Augapfel durchbohrt. Der Doktor mußte ihn ent fernen.« Shasa hob die Hand und berührte ungläubig die linke Seite seines Gesichts. »Du hast noch das volle Sehvermögen im rechten Auge, aber du wirst keine Hurricane mehr fliegen. Tut mir leid, Shasa.« »Ja«, flüsterte Shasa. »Mir auch.« Am Abend kam David wieder. »Der Kommandant hat dich für das Fliegerkreuz vorgeschlagen. Du bekommst es ganz be stimmt.« »Reizend von ihm«, sagte Shasa. »Wirklich reizend.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte David: »Du hast mir das Leben gerettet, Shasa.« »Ach, hör auf, Davie, vergiß es.« »Sie fliegen dich morgen früh zur Küste hinunter. Du wirst Weihnachten in Kapstadt sein. Gib Matty und dem Baby einen Kuß von mir, du Glückspilz.« »Ich würde jederzeit gern mit dir tauschen«, sagte Shasa. »Aber wir veranstalten eine höllische Party, wenn du nach Hause kommst.« Der U-Boot-Kommandant richtete sich auf und nickte Man fred De La Rey zu. »Schauen Sie bitte durch«, sagte er, und Manfred nahm sei nen Platz am Seerohr ein, preßte seine Stirn gegen das Gum mikissen und blickte in die Linse. Sie lagen zwei Meilen vor der Küste, und es war später Nachmittag. Die Sonne stand tief am Horizont. »Erkennen Sie die Landmarken?« fragte der U-BootKommandant. Manfred konnte nicht gleich antworten. Seine Gefühle überwältigten ihn. Fünf Jahre, fünf lange Jahre hatte er diese geliebte Küste nicht mehr gesehen, und seine Freude war unbeschreiblich. Er 596
wußte, daß er nur in seinem Afrika jemals wirklich glücklich sein konnte. Zwar, die vergangenen Jahre waren auch nicht unglücklich gewesen. Er hatte Heidi um sich gehabt und seit einem Jahr seinen Sohn Lothar, den sie nach Manfreds Vater getauft hat ten. Diese beiden Menschen waren Mittelpunkt in seinem Le ben gewesen, daneben natürlich seine Arbeit – zwei Dinge, die er gleichzeitig bewältigt hatte, beide ihn voll beanspruchend und äußerst befriedigend. Das Studium der Rechtswissenschaften hatte er an der Uni versität Berlin abgeschlossen. Außerdem hatte er eine militäri sche Ausbildung erhalten. Manchmal hatte ihn diese Ausbil dung monatelang von seiner Familie getrennt, aber dafür war er nun ein bestens geschulter und einsatzbereiter Agent der deut schen Abwehr. Er hatte ungewöhnliche und mannigfaltige Fer tigkeiten erworben. Er war ausgebildeter Funker, Sprengstoff experte und Fachmann für Handfeuerwaffen; er hatte zehn Ab sprünge mit dem Fallschirm absolviert, fünf davon bei Dunkel heit, und konnte ein leichtes Flugzeug fliegen; er konnte chif frieren und dechiffrieren und war ein ausgezeichneter Scharf schütze und Einzelkämpfer; man hatte ihn zum Attentäter aus gebildet und sowohl seinen Körper als auch seinen Verstand bis zur Vollkommenheit trainiert. Er hatte die Kunst der Rheto rik und der öffentlichen Rede gelernt sowie die politischen und militärischen Strukturen von Südafrika studiert, bis er jeden wunden Punkt in diesem System kannte und auszunutzen wuß te. Nun besaß er alle Fähigkeiten, die für die bevorstehende Aufgabe nötig waren. Er wußte, daß von einer Million Männer sich nicht einem einzigen je eine solche Gelegenheit bot – die Gelegenheit, Geschichte zu machen und die unselige Weltord nung auf den Kopf zu stellen. Man hatte ihm Großes anver traut, und er glaubte sich dieser Herausforderung gewachsen. »Ja«, antwortete er dem U-Boot-Kommandanten, »ich erken ne die Landmarken.« 597
Er hatte einen glücklichen, sorgenfreien Sommer in diesem dünnbesiedelten Landstrich an der südöstlichen Küste Afrikas verlebt. Roelf Standers Familie besaß hier fünftausend Hektar Grund, von dem fünf Meilen Uferland waren. Auf dieser felsigen Landzunge hatten Manfred und Roelf einst gefischt und in den Hügeln dahinter den gefleckten Buschbock gejagt. Sie hatten nackt in der stillen Bucht mit dem weichen, gelben Sand gebadet und danach am Strand gelegen und Zu kunftspläne geschmiedet. Dort am Fuß der Hügel stand die weißgetünchte kleine Ferienhütte, in der sie gewohnt hatten. »Ja«, bestätigte er. »Das ist der Treffpunkt.« »Wir müssen den vereinbarten Zeitpunkt abwarten«, sagte der U-Boot-Kommandant und befahl, das Periskop einzufahren. Das U-Boot blieb mit abgeschalteten Maschinen in zwanzig Meter Tiefe zwei Meilen vor der Küste liegen, während oben die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Nacht über das afrikanische Festland hereinbrach. Manfred ging durch den schmalen Gang zu der winzigen Kabine, die er mit zwei Unter offizieren des U-Boots teilte, und traf seine letzten Vorberei tungen für die Landung. Rasch streifte er die marineblaue Matrosenjacke und den weißen Rollkragenpullover ab und schlüpfte statt dessen in die schäbige und unförmige Kleidung eines afrikanischen Landar beiters. Er war noch immer braungebrannt vom Training in den Bergen und hatte sich das Haar und einen dichten Vollbart wachsen lassen, was ihn um viele Jahre älter machte. Er hatte sich das Haar und den Bart schwarz gefärbt, und sei ne Nase war ein wenig krumm und flachgedrückt, eine Folge der Treffer, die er im Finalkampf gegen den Amerikaner Cyrus Lomax kassiert hatte. Auch unterhalb der Augenbraue war eine breite Narbe zurückgeblieben. Er sah ganz anders aus als jener junge, glattrasierte blonde Sportler, der fünf Jahre zuvor aus Afrika abgereist war. Er drückte sich den schäbigen Filzhut tief in die Stirn und kniete nieder, um die Ausrüstung hervorzuho 598
len, die unter seiner Koje verstaut war. Die Sachen waren in wasserdichte Plastikbehälter verpackt, die mit plombierten Metallbändern gesichert waren. Er über prüfte die Nummern der Behälter anhand einer Liste, und ein Matrose brachte sie in den Kommandoraum und stapelte sie unterhalb der Leiter, die zum Kommandoturm hinaufführte. Manfred schaute auf die Uhr. Er hatte gerade noch Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen, dann würde er an Land gehen. Der Bootsmann holte ihn aus der Kombüse, und Manfred eil te mit vollem Mund in den Kontrollraum. »Ich sehe Lichter am Ufer.« Der Kapitän trat beiseite, und Manfred nahm seinen Platz am Periskop ein. An der Oberfläche war es völlig dunkel, so daß Manfred die drei Signalfeuer auf den Klippen am Strand gut erkennen konnte. »Das ist das Erkennungszeichen, Kapitän.« Er richtete sich auf und nickte. »Tauchen wir auf, um das Antwortsignal zu geben.« Unter dem Donnern und Knattern der entweichenden Preß luft schoß das U-Boot nach oben und durchbrach wie ein See ungeheuer die Wasseroberfläche. Manfred und der Kapitän kletterten die Leiter hinauf und tra ten auf die Brücke hinaus. Die Nachtluft war kühl und rein. Manfred holte tief Atem, während er mit dem Fernglas die dunkle Küste absuchte. Der Kapitän gab dem Signalgast leise einen Befehl, worauf dieser mit der Blinklampe die Buchstaben W und S morste, die für ›Weißes Schwert‹ standen. Nach einer Weile verlöschte eines der Signalfeuer auf den Klippen, etwas später auch das zweite, so daß nur noch das Feuer am Strand brannte. »Das ist das Antwortsignal«, brummte Manfred. »Bitte, las sen Sie meine Ausrüstung an Deck bringen, Kapitän.« Sie warteten fast eine halbe Stunde, bis eine Stimme aus der Dunkelheit sie anrief. »Weißes Schwert?« »Komm längsseits«, antwortete Manfred in Afrikaans, und 599
ein kleines offenes Fischerboot mit langen Rudern tauchte aus der Dunkelheit auf. Rasch schüttelte Manfred dem U-Boot-Kapitän die Hand und verabschiedete sich mit dem Hitlergruß: »Heil Hitler!« Dann kletterte er über die Reling auf das Unterdeck. Als das Fischerboot anlegte, sprang Manfred leichtfüßig auf die mittle re Ruderbank hinunter. Der Mann am Bug des Bootes erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Mani, bist du’s wirklich?« »Roelf!« Manfred umarmte ihn kurz. »Es tut so gut, dich wiederzusehen! Nehmen wir meine Ausrüstung an Bord.« Die Plastikbehälter wurden von der Deckmannschaft des UBootes hinuntergeworfen und am Boden des Fischerbootes verstaut. Dann stießen sie sich ab. Manfred nahm das Ruder neben Roelf und fragte leise: »Wer sind die anderen?« Er deu tete mit dem Kinn auf die anderen drei Ruderer. »Sie gehören zu uns – Bauern aus der Umgebung. Ich kenne sie seit meiner Kindheit. Sie sind absolut zuverlässig.« Sie schwiegen, bis sie an Land waren und das Boot unter dichtem Gestrüpp versteckt hatten. »Ich hole den Laster«, murmelte Roelf, und nach ein paar Minuten näherten sich die gelben Scheinwerfer auf dem holp rigen Pfad, der zum Strand herunterführte. Roelf brachte den alten grünen Viertonner neben dem Fischerboot zum Stehen. Die drei Bauern halfen ihnen, Manfreds Ausrüstung auf der Ladefläche des Lasters zu verstauen und die Behälter mit Strohballen und einer zerfetzten alten Plane abzudecken. Dann setzten sie sich auf die Strohballen, während Manfred neben Roelf auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Erzähl mir zuerst alles, was es an Neuem von meiner Familie gibt«, bat Manfred, als sie losfuhren. »Das andere kann warten.« »Onkel Tromp ist noch immer derselbe – Himmel, was für Predigten der Mann halten kann! Sarie und ich gehen jeden Sonntag –« 600
»Wie geht es Sarah?« fragte Manfred. »Und dem Kind?« »Du bist nicht mehr ganz auf dem Laufenden«, erwiderte Roelf lachend. »Mittlerweile sind es drei, zwei Jungen und ein kleines Mädchen von drei Monaten. Aber du wirst sie ja bald kennenlernen.« Sie setzten die drei Männer nacheinander mit einem kurzen Dank und einem kräftigen Händedruck am Straßenrand ab, bis sie schließlich allein waren. Ein paar Meilen weiter, in der Nä he von Riversdale, bogen sie in die Küstenstraße ein und fuh ren nach Westen Richtung Kapstadt. Vier Stunden später überquerten sie die Berge und holperten auf der schmalen, steilen Paßstraße in den breiten Talkessel hinunter. Bei einer genossenschaftlichen Weinkellerei, ein paar Meilen außerhalb von Stellenbosch, hielten sie an. Obwohl es schon drei Uhr morgens war, erwartete sie der Verwalter und half ihnen, die Plastikbehälter abzuladen und in den Keller hin unterzutragen. »Das ist Sakkie Van Vuuren«, stellte Roelf den Verwalter vor. »Er ist ein guter Freund und hat ein sicheres Versteck für deine Ausrüstung vorbereitet.« Van Vuuren führte sie in den hinteren Teil des Kellers, wo die letzte Reihe Weinfässer stand. Es waren massive Eichen fässer, die jeweils 4500 Rotwein Liter faßten. Der Verwalter klopfte mit der flachen Hand gegen eines die ser Fässer und lächelte, als es hohl durch den Keller hallte. »Ich habe es selbst umgebaut«, sagte er und öffnete die Vor derwand des Fasses. Das Faß war leer. »Niemand wird die Sa chen je hier finden.« Sie verstauten die Plastikkanister in dem Faß und schlossen die Vorderwand. »Wenn die Zeit reif ist, werden wir bereit sein«, sagte der Kellermeister zu Manfred. »Wann ist es soweit?« »Bald, mein Freund«, versprach Manfred. »Schon sehr bald.« Dann fuhren er und Roelf nach Stellenbosch weiter. 601
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.« »Du wirst nur über Nacht bleiben, Mani«, erklärte Roelf. »Du bist viel zu bekannt. Trotz deinem neuen schwarzen Bart und der gebrochenen Nase wird man dich erkennen.« Er stellte den Laster im Hof eines Gebrauchtwarenhändlers ab und legte den Schlüssel unter die Bodenmatte. Dann gingen sie das letzte Stück durch die menschenleeren Straßen zu Roelfs Heim, einem Häuschen in einer Straße mitkleinen Ein familienhäusern. Roelf führte ihn durch die Hintertür in die Küche, und von einem Stuhl neben dem Küchentisch erhob sich eine vertraute Gestalt, um sie zu begrüßen. »Onkel Tromp!« rief Manfred erfreut aus. Der alte Mann breitete die Arme aus, und Manfred stürzte zu ihm hin. »Mit dem Bart siehst du aus wie ein Schurke«, lachte Onkel Tromp. »Und wie ich sehe, hat der Amerikaner deine Nase ganz schön verbogen.« Manfred blickte über Onkel Tromps Schulter und sah eine Frau in der Küchentür stehen. Es war eine Frau, kein Mädchen. In ihren Augen lag ein trauriger, weiser Ausdruck, ihr Gesicht war abgehärmt und freudlos. »Sarah?« Manfred ließ Onkel Tromp los und trat auf sie zu. »Wie geht es dir, kleine Schwester?« »Ich war nie deine kleine Schwester, Manfred«, sagte sie. »Aber es geht mir gut, danke.« Sie machte keine Anstalten, ihn zu umarmen, und Manfred war augenscheinlich bestürzt über den kühlen Empfang. »Bist du glücklich, Sarah?« »Ich habe einen netten Mann und drei hübsche Kinder«, sag te sie und blickte zu Roelf. »Ihr werdet Hunger haben«, meinte sie dann. »Setzt euch. Ihr könnt euch unterhalten, während ich Frühstück mache.« Die drei Männer setzten sich an den Küchentisch, und wäh rend sie sich unterhielten, warf Manfred, von alten Erinnerun gen und Schuldgefühlen geplagt, hin und wieder einen verstoh 602
lenen Blick auf Sarah, die still am Küchenherd werkte. »Die Nachrichten sind allesamt gut – Frankreich und die Niederlande besetzt, Jugoslawien und Griechenland erobert. Die deutschen U-Boote beherrschen den Atlantik, und sogar die Italiener in Nordafrika sind siegreich –« »Ich wußte nicht, daß du einer von uns bist, Onkel Tromp«, mischte sich Manfred in das Gespräch. »Ja, mein Sohn. Ich bin ein Patriot, genau wie du. Die Osse wa Brandwag hat mittlerweile vierzigtausend Mitglieder. Vier zigtausend ausgesuchte Männer in Macht- und Autoritätsstel lungen, während Jannie Smuts hundertsechzigtausend England freunde mit kleinen orangefarbenen Abzeichen auf den Schul terklappen ins Ausland geschickt hat. Damit hat er sich selbst in unsere Gewalt begeben.« »Unsere Führer wissen von deiner Ankunft, Mani«, erklärte Roelf. »Sie wissen, daß du eine persönliche Botschaft vom Führer bringst, und sind erpicht darauf, dich zu sehen.« »Würdest du bitte so bald wie möglich ein Treffen arrangie ren?« fragte Manfred. »Es gibt viel zu tun. Große Taten warten auf uns.« Sarah Stander stand schweigend am Küchenherd, schlug Eier in die Pfanne und briet Koteletts. Sie schaute sich nicht um, arbeitete lautlos, aber insgeheim dachte sie: »Du bist gekommen, um abermals Elend und Leid in mein Leben zu bringen, Manfred De La Rey. Mit jedem deiner Wor te, Blicke und Gesten öffnest du Wunden, die ich längst ver heilt glaubte. Du bist gekommen, um das bißchen Glück, das mir geblieben ist, auch noch zu zerstören. Roelf wird dir blind lings in den Wahnsinn folgen. Du bist eine Gefahr für meinen Mann und meine Kinder –« Und ihr Haß auf ihn wurde noch größer, genährt vom Leich nam der Liebe, die er getötet hatte.
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Manfred reiste allein. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich und löste eine Bahnkarte nach Bloemfontein, der Hauptstadt des Oranje-Freistaates. Er teilte das Abteil während der fünf hundert Meilen langen Fahrt mit fünf anderen Reisenden. Ironischerweise fand die Beratung über den Sturz der ge wählten Regierung des Landes im Gebäude der Provinzverwal tung statt. Als Manfred das vornehme Büro des Administrators betrat, wurde er daran erinnert, wie groß der Einfluß ihrer Ge heimorganisation war. Der Oberkommandierende der Ossewa Brandwag empfing ihn an der Tür. Er hatte sich kaum verändert, seit er Manfred bei jener mitternächtlichen Zeremonie den Blutsschwur abge nommen hatte. Er begrüßte Manfred herzlich, schüttelte ihm die Hand und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. »Ich habe Sie schon erwartet, Bruder, aber erst möchte ich Sie zu Ihren Leistungen und der hervorragenden Arbeit be glückwünschen, die Sie bisher geleistet haben.« Er führte Manfred in das Beratungszimmer und machte ihn mit den fünf Männern bekannt, die an dem langen Sitzungs tisch saßen. »Wir haben alle den Blutsschwur geleistet. Sie können also offen reden«, erklärte er Manfred, der nun wußte, daß er die höchsten Ratsmitglieder der Bruderschaft vor sich hatte. Er setzte sich dem Oberbefehlshaber gegenüber ans untere Ende der Tafel und sammelte kurz seine Gedanken, bevor er begann: »Meine Herren, ich überbringe Ihnen die persönlichen Grüße von Adolf Hitler, dem Führer des deutschen Volkes. Er bat mich, Sie der tiefen Freundschaft zu versichern, die immer zwischen den Afrikaandern und der Deutschen Nation bestan den hat. Weiters soll ich Ihnen sagen, daß er bereit ist, uns in unserem berechtigten Kampf um das Land, das allein den Afri kaandern gehört, in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen.« Manfred sprach eindringlich und überzeugend. Er hatte diese 604
Rede mit Hilfe der Fachleute im Deutschen Propagandamini sterium ausgearbeitet und so lange einstudiert, bis er sie perfekt beherrschte. Er konnte seinen Erfolg von den entzückten Ge sichtern der lauschenden Männer ablesen. »Der Führer ist davon unterrichtet, daß im Augenblick fast alle Männer im militärfähigen Alter, die mit der Regierung Smuts und den Engländern sympathisieren, außer Landes sind. Etwa hundertsechzigtausend Männer sind nach Norden ge schickt worden, um jenseits unserer Grenzen zu kämpfen. Das erleichtert unsere Aufgabe.« »Smuts hat alle in Privatbesitz befindlichen Waffen eingezo gen«, unterbrach ihn einer der Männer. »Er hat die Jagdgeweh re und Schrotflinten einsammeln lassen und sogar die alten Kanonen von den Stadtplätzen entfernt. Ohne Waffen ist ein Aufstand nicht möglich.« »Damit sprechen Sie das Kernproblem an«, stimmte Manfred zu. »Um unser Ziel zu erreichen, brauchen wir Waffen und Geld. Das werden wir bekommen.« »Von den Deutschen?« »Nein.« Manfred schüttelte den Kopf. »Man hat diese Lö sung in Betracht gezogen und verworfen. Die Entfernung ist zu groß, das Ausladen größerer Waffenmengen an einer feindli chen Küste bringt zu viele Schwierigkeiten mit sich, und die Häfen werden gut bewacht. Doch sobald wir die Häfen unter Kontrolle haben, werden wir von den Schiffen der deutschen Marine mit schweren Geschützen beliefert, und dafür öffnen wir den U-Booten unsere Häfen. Dann sperren wir für engli sche Schiffe den Seeweg um das Kap der guten Hoffnung.« »Woher bekommen wir die Waffen, die wir für den Aufstand benötigen?« »Von Jannie Smuts«, erklärte Manfred, worauf sie unruhig wurden und skeptische Blicke tauschten. »Mit Ihrer Zustimmung werde ich eine kleine Elitetruppe aus unseren Stormjagters zusammenstellen und ausbilden. Wir 605
werden die Waffen- und Munitionslager der Regierung überfal len und uns nehmen, was wir brauchen. Dasselbe gilt für das Geld. Wir holen es uns von den Banken.« Die Ungeheuerlichkeit dieses Planes sowie seine bestechende Einfachheit und Kühnheit setzten sie in Erstaunen. Sie starrten ihn fassungslos an, und Manfred fuhr fort: »Wir werden schnell und rücksichtslos vorgehen, die Waffen besorgen und sofort verteilen. Auf ein vereinbartes Zeichen erheben wir uns dann – vierzigtausend Patrioten werden zu den Waffen greifen, um die Zügel der Macht an sich zu reißen; Polizei und Armee, das Fernmeldewesen, die Eisenbahnlinien und die Häfen.« »Was wird das vereinbarte Zeichen sein?« fragte der Oberbe fehlshaber. »Es wird etwas sein, was das ganze Land in Aufruhr versetzt – ein niederschmetternder Schlag. Aber noch ist es zu früh, um darüber zu sprechen. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß das Zeichen bereits feststeht und ebenso der Mann, der es geben wird.« Manfred machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich selbst habe die Ehre. Ich bin für diese Aufgabe ausgebildet worden und werde sie allein und ohne Hilfe ausführen. Danach liegt es bei Ihnen, die Macht zu übernehmen, unsere Unterstüt zung der siegreichen deutschen Wehrmacht angedeihen zu las sen und unserem Volk zu der Größe zu verhelfen, die ihm von seinen Feinden verweigert worden ist.« Er schwieg, um ihre Mienen zu studieren, und sah das patrio tische Feuer in ihren Gesichtern und die neue Glut in ihren Augen. »Nun, meine Herren, habe ich Ihr Einverständnis, weiterzu machen?« fragte er. Der Kommandant blickte einen nach dem anderen an und er hielt von jedem ein kurzes Kopfnicken. Dann wandte er sich wieder an Manfred: »Sie haben unsere Genehmigung und unse ren Segen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie die Unterstützung 606
und Hilfe jedes einzelnen Mitglieds der Bruderschaft erhalten.« »Danke, meine Herren«, sagte Manfred ruhig. Der grüne Jaguar stand verlassen am Straßenrand oberhalb der felsigen Klippen, als hätte sein Besitzer ihn einfach hier stehenlassen. Blaine Malcomess parkte seinen Bentley dahinter und ging zum Klippenrand. Er war noch nie hier gewesen, aber Centaine hatte ihm die Bucht und auch den Weg hierher beschrieben. Er beugte sich vor und schaute hinunter. Die Klippen waren steil, aber nicht unzugänglich. Er konnte den Zickzackweg sehen, der in die Bucht hinunterführte. Unten sah er die Dächer von drei oder vier einfachen Hütten, die über die Bucht verteilt wa ren, genau wie Centaine es beschrieben hatte. Blaine zog sein Jackett aus und warf es auf den Vordersitz des Bentley. Dann sperrte er die Wagentür ab und machte sich auf den Weg. Er war nicht nur deshalb gekommen, weil Cen taine ihn darum gebeten hatte, sondern auch wegen seiner Zu neigung und seinem Verantwortungsgefühl gegenüber Shasa. Manchmal hatte er gehofft, Shasa werde sein Stiefsohn oder sein Schwiegersohn werden. Als er den Pfad hinunterkletterte, dachte er wieder mit tiefem Bedauern daran, daß bislang keine seiner Hoffnungen in Erfüllung gegangen war. Obwohl Isabella nun schon fast drei Jahre tot war, hatten er und Centaine noch immer nicht geheiratet. Centaine war in jener Nacht, als Isabella starb, vor ihm geflohen und hatte dann monatelang alle seine Versuche, sie zu finden, vereitelt. In je ner Nacht an Isabellas Sterbebett mußte etwas Schreckliches vorgefallen sein. Doch Centaine hatte nie darüber gesprochen oder auch nur eine Andeutung gemacht, was zwischen ihr und der Sterbenden vorgefallen war. Centaine weigerte sich seither, über Heirat auch nur zu sprechen, und wurde gereizt und unru hig, wenn er sie zu drängen versuchte. Es war fast so, als wür 607
de Isabella aus ihrem Grab heraus noch Macht auf sie ausüben. Sein zweiter Kummer waren Shasa und Tara. Sie erschienen ihm wie zwei verlorene Seelen, die einander im Dunkeln such ten. Er wußte, wie sehr sie einander brauchten, das hatte er von Anfang an erkannt. Er wußte auch, wie nahe sie schon oft dar an gewesen waren, sich die Hände zu reichen. Aber jedesmal schreckten sie vor dem letzten Schritt zurück und trennten sich leidend. Es schien keinen Grund dafür zu geben, außer Stolz und Dickköpfigkeit, denn ohne den anderen waren sie ge schwächt, war keiner der beiden fähig, seine großen Erwartun gen zu erfüllen und all die Gaben zu nützen, die beiden von Natur aus gegeben waren. Er hatte das Ende des Pfades erreicht und blieb stehen, um sich umzusehen. In der Bucht standen vier Blockhütten, von denen drei offensichtlich unbewohnt waren, denn ihre Fenster waren mit Brettern verschlagen. Die letzte Hütte am Ende der Bucht war die, die er suchte. Als er näher kam, sah er, daß die Fenster offenstanden, aber die gebleichten, schäbigen Vorhänge zugezogen waren. Über dem Geländer der kleinen Veranda hingen Krebsnetze, an der Wand lehnten eine Angelrute und zwei Ruder. Am Strand oberhalb der Hochwassermarke lag ein kleines Dingi. Blaine stieg die paar Steinstufen zur Veranda hinauf und ging zur Eingangstür. Da sie offen war, trat er ein. Der kleine Herd an der hinteren Wand war kalt, auf der Platte stand eine Bratpfanne mit erstarrten Essensresten. Schmutzige Teller und Tassen stapelten sich auf dem Tisch in der Mitte des Raumes, und unter seinen Schuhen knirschte der Ufersand. An der Seitenwand gegenüber dem Fenster stand ein Stockbett. Das obere hatte nicht einmal eine Matratze, aber im unteren lag eine harte Roßhaarmatratze mit einem fleckigen, zerrissenen Leintuch und ein paar alten grauen Decken und obenauf Shasa Courtney. Es war kurz vor Mittag, und er schlief noch immer. Auf dem 608
Boden in Shasas Reichweite standen eine fast leere Whiskyfla sche und ein Glas. Shasa hatte nur eine alte kurze Hose an, sein Körper war braungebrannt. Er hatte sich offenbar seit Tagen nicht mehr rasiert, und sein Haar war lang und ungepflegt. Alle anderen Kennzeichen übermäßigen Alkoholgenusses verbarg die tiefe Sonnenbräune. Shasa schlief ruhig, nichts in seinem Gesicht wies auf den inneren Aufruhr hin, der ihn von Weltevreden in diese elende Hütte getrieben hatte. Er war noch immer in jeder Hinsicht ein gutaussehender junger Mann – wodurch der Anblick seines linken Auges den Betrachter noch mehr schockierte. Es war unmöglich, diese schreckliche Verletzung zu sehen, ohne Mit leid zu empfinden, und Blaine brauchte ein paar Sekunden, um sich für das zu rüsten, was er tun mußte. »Shasa!« Er ließ seine Stimme absichtlich schroff klingen. Shasa stöhnte leise, und das Lid über seiner linken Augen höhle zuckte. »Wach auf, Mann.« Blaine trat ans Bett und schüttelte ihn an der Schulter. »Wach auf. Wir haben miteinander zu reden.« »Geh weg«, murmelte Shasa noch halb im Schlaf. »Geh weg und laß mich in Ruhe.« »Wach auf, verdammt noch mal!« Shasas gesundes Auge öffnete sich, und er schaute trübe zu Blaine auf. Dann wurde sein Blick klarer, und seine Miene veränderte sich. »Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?« Er drehte den Kopf weg, um sein schlimmes Auge zu verbergen, während er in dem zerwühlten Bett nach der schwarzen Augenklappe such te. Mit abgewandtem Gesicht legte er die Klappe über die leere Augenhöhle, bevor er sich wieder zu Blaine umdrehte. »Ich muß mal«, stieß er hervor und torkelte hinaus. Blaine wischte einen der Stühle ab und stellte ihn gegen die Wand. Dann nahm er Platz, lehnte sich zurück und zündete sich eine seiner langen schwarzen Zigarren an. 609
Shasa kam zurück, setzte sich auf die Bettkante und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. »Ich habe einen Geschmack im Mund, als hätte mir ein Iltis hineingepißt«, murmelte er und griff nach der Flasche zu seinen Füßen. Er goß den Rest Whis ky ins Glas, leckte den letzten Tropfen vom Flaschenhals und rollte die leere Flasche am Boden in die ungefähre Richtung des überquellenden Mülleimers neben dem Herd. »Auch einen?« fragte er, und Blaine schüttelte den Kopf. Shasa starrte ihn über den Rand des Whiskyglases an. »Dieser Ausdruck auf Ihrem Gesicht kann nur zweierlei be deuten«, meinte er. »Entweder Sie haben gerade einen Furz gerochen, oder ich gefalle Ihnen nicht.« »Ich nehme an, die derbe Sprache ist deine neueste Errun genschaft, ebenso wie deine neuen Trinkgewohnheiten. Ich beglückwünsche dich zu beiden. Sie passen zu deinem neuen Erscheinungsbild.« »Rutsch mir doch den Buckel runter, Blaine Malcomess!« gab Shasa trotzig zurück und hob das Glas an die Lippen. Er zog den Whisky durch die Zähne und spülte den Mund damit aus. Dann schluckte er und schauderte, als die scharfe Flüssig keit durch seine Kehle rann. »Sicher hat Mutter Sie herge schickt«, sagte er gleichgültig. »Sie hat mir erklärt, wo ich dich finden kann, aber geschickt hat sie mich nicht.« »Das ist dasselbe«, erwiderte Shasa und ließ den letzten Tropfen Whisky aus dem Glas auf seine Zunge rinnen. »Sie will, daß ich zurückkomme, um Diamanten aus dem Dreck zu graben, Weintrauben zu pflücken, Baumwolle anzupflanzen und Papier auf dem Tisch herumzuschieben. Verdammt, sie kapiert es einfach nicht.« »Sie kapiert viel mehr, als du denkst.« »Da draußen kämpfen Männer, und ich liege hier im Dreck. Ein Krüppel, der im Dreck wühlt.« »Du hast dir den Dreck selbst ausgesucht.« Blaine schaute 610
sich verächtlich in der schmutzigen Hütte um. »Und jetzt wühlst du jammernd darin herum.« »Scheren Sie sich zum Teufel, Sir«, knurrte Shasa, »bevor ich mich vergesse.« »Mit dem allergrößten Vergnügen.« Blaine stand auf. »Ich habe dich falsch eingeschätzt. Ich bin gekommen, um dir einen Job anzubieten, eine wichtige militärische Aufgabe, aber wie ich sehe, bist du nicht Manns genug dazu.« Er ging zur Tür und blieb noch einmal stehen. »Außerdem wollte ich dir eine Ein ladung überbringen. Tara gibt ihre Verlobung mit Hubert Langley bekannt. Ich dachte, das würde dich freuen – aber ver giß es.« Er ging mit langen festen Schritten hinaus, und nach ein paar Sekunden trat Shasa auf die Veranda, um ihm nachzublicken. Blaine schaute kein einziges Mal zurück, und als er nicht mehr zu sehen war, fühlte Shasa sich plötzlich hilflos und verlassen. Er berührte die schwarze Klappe über seinem Auge. »Warum ich?« Es war der ewige Schrei des Verlierers. »Warum ausgerechnet ich?« Er ließ sich auf die oberste Stufe sinken und starrte über das ruhige grüne Wasser zur Mündung der Bucht hinaus. Allmählich kam ihm die ganze Tragweite von Blaines Wor ten zu Bewußtsein. Er dachte an den Job, den Blaine ihm ange boten hatte, dann dachte er an Tara und Hubert Langley. Tara. Er sah ihre grauen Augen und ihr dunkelrotes Haar vor sich, und das Selbstmitleid spülte alle anderen Gefühle fort. Träge stand er auf und ging in die Hütte, um den Geschirr schrank über dem Waschbecken zu öffnen. Eine einzige Fla sche Whisky war noch da. Er brach den Verschluß der Flasche auf und suchte nach ei nem Glas. Als er kein sauberes mehr finden konnte, hob er die Flasche an den Mund. Doch bevor er trank, ließ er die Flasche wieder sinken und starrte sie an. Ihm war übel, und ein plötzli cher Ekel überkam ihn. 611
Bedächtig kippte er die Flasche über dem Waschbecken und sah zu, wie die goldgelbe Flüssigkeit gluckernd in den Abfluß lief. Kaum war die Flasche leer, kehrte sein Verlangen doppelt so stark zurück. Er warf die Flasche an die Wand und lief hin aus in den Sonnenschein. Am Strand streifte er die Augenklap pe und die Hose ab und tauchte mit einem Kopfsprung in das kalte grüne Wasser. Er begann wie ein Wettschwimmer zu kraulen, und als er die Mündung der Bucht erreichte, schmerzte jeder Muskel seines Körpers. Er wendete und kraulte, ohne das Tempo zu verlangsamen, zum Ufer zurück. Sobald seine Füße den Grund berührten, drehte er um und schwamm wieder zur Landzunge hinaus. So ging es weiter, hin und zurück, Stunde um Stunde, bis er schließlich so erschöpft war, daß er die Arme nicht mehr heben konnte und die letzten hundert Meter unter Schmerzen mit einarmigen Ruderschlägen zurücklegen mußte. Auf allen vieren kroch er den Strand hinauf, fiel mit dem Ge sicht nach unten in den feuchten Sand und blieb wie ein Toter liegen. Es war später Nachmittag, bevor er die Kraft hatte, auf zustehen und zur Hütte zurückzuhinken. In der Tür blieb er stehen und besah sich die Unordnung. Dann holte er den Besen hinter der Tür hervor und machte sich an die Arbeit. Es wurde spät, bis er endlich fertig war. Schließ lich schöpfte er einen Kessel frisches Wasser aus der Regen tonne neben der Hintertür und machte es auf dem Herd warm. Nachdem er sich sorgfältig rasiert hatte, zog er das sauberste Hemd und eine lange Hose an und befestigte die Augenklappe über dem Auge. Dann schloß er die Hütte ab und versteckte den Schlüssel. Das Bündel Schmutzwäsche über der Schulter, stieg er den Pfad durch die Klippen hinauf. Sein Jaguar war dick mit Staub und mit einer Schicht Meersalz überzogen, und die Batterie war so schwach, daß er den Wagen über den Hang hinunterrollen lassen mußte, um ihn starten zu können. Centaine saß am Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer und war in ihre Papiere vertieft. Als Shasa eintrat, sprang sie auf. 612
Sie wollte ihm entgegenlaufen. Nur mit Mühe konnte sie sich im Zaum halten. »Hallo, chéri, gut siehst du aus. Ich hab’ mir schon Sorgen um dich gemacht – du warst so lange fort. Volle fünf Wo chen.« Die schwarze Klappe über seinem linken Auge erschreckte sie noch immer. Jedesmal, wenn sie ihn sah, fielen ihr Isabella Malcomess’ letzte Worte ein: »Auge um Auge, Centaine Courtney. Denken Sie an meine Worte – Auge um Auge.« Sobald sie sich gefaßt hatte, ging sie ruhig auf ihn zu und bot ihm ihre Wange zum Kuß. »Ich bin froh, daß du wieder zu Hause bist, chéri.« »Blaine Malcomess hat mir einen Job angeboten, irgendeine militärische Aufgabe. Ich denke daran, das Angebot anzuneh men.« »Ich bin sicher, es handelt sich um eine wichtige Sache«, sagte Centaine. »Ich freue mich für dich. Ich kann hier die Stel lung halten, bis du bereit bist, zurückzukehren.« »Da bin ich auch ganz sicher, Mutter«, meinte er mit einem schiefen Grinsen. »Jedenfalls hattest du in den letzten zwei undzwanzig Jahren kaum Schwierigkeiten, die Stellung zu hal ten.« Manfred hörte den Zug als erster, ein sanftes Surren der Nacht, noch sehr weit weg, und er warnte seine Männer mit drei scharfen Signalen aus seiner Pfeife. Dann rückte er das Batteriegehäuse zurecht und befestigte die Drähte an den Mes singpolen. Das riesige Zyklopenauge der näherkommenden Lokomotive erstrahlte über der Ebene am Fuß der Berge. Die Männer setzten ihre Gesichtsmasken auf und gingen im gras bewachsenen Graben neben den Eisenbahnschienen in Dek kung. Das Klopfen der Dampfmaschine wurde langsamer und tie 613
fer, als die Lokomotive die leichte Steigung erklomm. Sie rat terte heran, passierte die erste Gruppe der wartenden Männer und traf dann auf die erste Leuchtrakete. Die Rakete ging mit scharfem Zischen los und erleuchtete das Gelände im Umkreis von fünfzig Metern mit einem roten, unsteten Licht. Manfred hörte das metallische Quietschen der Bremsen, und seine Spannung ließ ein wenig nach. Der Lokomotivführer handelte reflexartig, es würde nicht nötig sein, die Schienen zu sprengen. Als die zweite Leuchtrakete losging, hielt die Loko motive mit kreischenden Bremsen langsam und ruckartig an. Sie war noch nicht zum Stillstand gekommen, als Manfred auf die Plattform sprang und dem überraschten Lokomotivfüh rer und seinem Heizer die Lugerpistole unter die Nase hielt. »Maschine abstellen! Scheinwerfer ausschalten!« befahl er durch die Maske. »Und dann runter vom Führerstand!« Die beiden Eisenbahner kletterten von der Lokomotive und hoben die Hände hoch. Sie wurden sofort durchsucht und ge fesselt. Manfred rannte den Zug entlang zurück, und als er die Sprengstoffwaggons erreichte, waren Roelfs Männer bereits dabei, die Holzkisten mit dem Dynamit auf den ersten Liefer wagen umzuladen. »Was ist mit dem Wachposten am Zugende?« fragte Man fred. »Wir haben ihn gut verschnürt«, antwortete Roelf, und Man fred rannte zur Lokomotive zurück. Hastig entschärfte er die Sprengladung, die er gelegt hatte – froh, daß es nicht nötig ge wesen war, den Sprengsatz zu zünden. Als er zurückkam, war der erste Lieferwagen mit Dynamit voll beladen. »Abfahren!« brüllte Roelf, und einer seiner Männer setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr mit abge schalteten Scheinwerfern los. Der zweite Wagen fuhr rückwärts an den Sprengstoffwaggon heran, und sie begannen ihn zu beladen. Manfred blickte auf die Uhr. »Zwölf Minuten«, murmelte er. 614
Sie waren ihrem Zeitplan voraus. Der Lokomotivführer, der Heizer und der Wachposten wur den gefesselt im Dienstwagen eingeschlossen, während das Umladen der Dynamitkisten glatt und zügig voranging. »Alles fertig«, rief Roelf. »Mehr können wir nicht unterbrin gen.« »Achtundvierzig Minuten«, stellte Manfred fest. »Gut ge macht. Jetzt nichts wie weg!« »Und was ist mit dir?« »Geh schon!« befahl Manfred. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Er schaute dem letzten Laster nach und wartete, bis dieser den Feldweg erreicht hatte und die Scheinwerfer eingeschaltet wurden. Das Motorengeräusch entfernte sich. Er war allein. Wenn Roelf oder die anderen gewußt hätten, was er vorhatte, wären sie vermutlich kopfscheu geworden und hätten versucht, es zu verhindern. Manfred kletterte in den Sprengstoffwaggon. Er war noch zur Hälfte mit den weißen Holzkisten beladen. Sie hatten nur einen Teil der Fracht fortschaffen können, während der zweite Wag gon gänzlich unberührt geblieben war. In den Waggons befan den sich noch mindestens fünfundzwanzig Tonnen Dynamit. Er stellte den Zeitzünder auf fünfzehn Minuten ein und legte ihn zwischen die aufgestapelten Holzkisten und die stählerne Waggonwand. Dann sprang er aus dem Waggon und lief zur Lokomotive vor. Keiner der drei Männer, die im Küchenabteil des Dienstwagens eingeschlossen waren, gehörte der Ossewa Brandwag an. Blieben sie am Leben, konnten sie der Polizei nützliche Hinweise liefern. Manfred empfand kaum Mitleid für sie. Sie waren Opfer des Krieges. Er erklomm den Führerstand und löste die Bremsen. Dann öffnete er langsam das Ventil. Die Räder begannen sich zu drehen, und der Zug setzte sich ruckartig in Bewegung. Manfred öffnete das Ventil bis zur ersten Kerbe und ließ den 615
Hebel einrasten. Dann sprang er ab und sah zu, wie die Wag gons an ihm vorbeiratterten. Der Zug wurde nach und nach schneller. Als der letzte Waggon an ihm vorüber war, schlen derte er zu den Dornenbäumen, unter denen sein Motorrad stand, und setzte sich rittlings auf den Sattel. Alle paar Minuten auf die Uhr blickend, wartete er ungedul dig. Endlich erfolgte die Explosion. Ein kurzer, gelblichroter Lichtschein zuckte wie Wetterleuchten über den nördlichen Horizont, dann traf die Druckwelle sein Gesicht, und aus der Ferne kam ein Grollen wie von der Brandung an einer Felsen küste. Manfred startete das Motorrad und fuhr südwärts in die Nacht hinein. Ein guter Anfang, dachte er. Aber es gab noch viel zu tun. Blaine blickte auf, als Shasa sein Büro betrat und zögernd an der Tür stehenblieb. Er trug die Luftwaffenuniform mit dem Fliegerkreuz und dem Afrikastern an der Brust. »Morgen, Shasa«, begrüßte Blaine ihn kühl. »Zehn Uhr. Darf ich dir einen Whisky anbieten?« Shasa zuckte zusammen. »Ich bin gekommen, um mich für mein gestriges Benehmen zu entschuldigen, Sir. Es war unver zeihlich.« »Setz dich.« Blaine deutete auf den Ledersessel vor seinem Schreibtisch. »Wir benehmen uns alle hin und wieder wie Voll idioten. Die Kunst ist, das auch einzusehen. Entschuldigung angenommen.« Shasa setzte sich und schlug die Beine übereinander, doch dann besann er sich und stellte die Beine nebeneinander. »Sie sprachen von einem Job, Sir?« Blaine nickte und stand auf. Er trat ans Fenster und starrte hinaus in den Park. Eine alte Frau fütterte aus einer Papiertüte 616
die Tauben. Während er sie beobachtete, dachte er nach. Was er im Sinn hatte, war entscheidend für die Zukunft des Landes. War Shasa nicht zu jung und zu unerfahren für diese Aufgabe? Er ging zum Schreibtisch zurück und nahm einen unbeschrifte ten, schwarzen Aktenordner zur Hand. »Dieser Akt unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe«, sagte er, den Ordner in der rechten Hand wiegend. »Ein äußerst heikler Geheimbericht.« Er reichte Shasa den Ordner. »Er muß in diesem Büro bleiben. Lies ihn hier. Ich habe eine Bespre chung mit Feldmarschall Smuts.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »In einer Stunde bin ich wieder zurück. Dann besprechen wir alles weitere.« Er blieb länger als eine Stunde fort, und als er wiederkam, las Shasa noch immer. Den Aktenordner offen auf dem Schoß, blickte er mit ernstem und besorgtem Gesicht zu Blaine auf. »Was hältst du davon?« fragte Blaine. »Von der Ossewa Brandwag habe ich natürlich schon ge hört«, sagte Shasa. »Aber ich hatte keine Ahnung, was dahin tersteckt. Das ist ja eine Geheimarmee, mitten unter uns, Sir. Sollte sie jemals gegen uns mobilisiert werden –« Er schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. »Das hätte eine Revolution zur Folge, einen Bürgerkrieg. Und der Großteil unserer Soldaten befindet sich im Norden.« »Sie haben bereits begonnen, aktiv zu werden«, sagte Blaine leise. »Bisher zögerten sie noch und zankten sich im typischen Stil der Afrikaander untereinander, aber kürzlich muß etwas geschehen sein, das ihnen neuen Auftrieb gegeben hat –« Er brach ab, dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: »Ich muß wohl nicht betonen, daß nichts von dem, was wir hier besprechen, einem Dritten bekanntwerden darf, nicht einmal engsten Familienangehörigen.« »Natürlich nicht, Sir«, erwiderte Shasa ein wenig gekränkt. »Hast du von dem Sprengstoffzug gelesen, der vor zwei Wo chen auf der Touwsstrecke in die Luft flog?« 617
»Ja, Sir, ein schrecklicher Unfall. Der Lokomotivführer und seine Mannschaft kamen dabei ums Leben.« »Wir haben mittlerweile neue Beweise. Wir glauben nicht, daß es ein Unfall war. Die gesamte Begleitmannschaft befand sich im Dienstwagen, und es gibt Hinweise darauf, daß zumin dest einer von ihnen an Händen und Füßen gefesselt war. Wir vermuten, daß eine große Menge Dynamit aus dem Zug ge raubt wurde, und danach hat man den Rest in die Luft gejagt, um die Spuren des Diebstahls zu verwischen.« Shasa pfiff leise durch die Zähne. »Ich glaube, das war erst der Anfang. Ich glaube, daß eine neue Phase begonnen hat und die Dinge von nun an rasch eska lieren werden. Wie ich schon sagte, es muß etwas geben, was das Ganze ins Rollen gebracht hat. Wir müssen herausfinden, was es ist, und es zerschlagen.« »Was kann ich tun, Sir?« »Die Sache ist ernst – und betrifft das ganze Land. Ich muß ständig mit den Polizeichefs aller Provinzen und mit dem Mili tärischen Nachrichtendienst in Verbindung bleiben. Die ganze Operation muß genau koordiniert werden. Ich brauche einen persönlichen Assistenten, einen Verbindungsoffizier. Das ist der Job, den ich dir anbiete.« »Ich fühle mich geehrt, Sir, aber es muß Dutzende andere geben, die besser qualifiziert –« »Wir kennen einander, Shasa«, unterbrach ihn Blaine. »Wir haben jahrelang miteinander trainiert. Wir sind ein eingespiel tes Team. Ich vertraue dir, ich weiß, du hast Mut und Verstand. Ich brauche keinen Polizisten. Ich brauche jemanden, der mei nen Gedankengängen folgen kann und von dem ich weiß, daß er meine Befehle unbedingt befolgt.« Plötzlich grinste Blaine. »Außerdem brauchst du einen Job. Habe ich recht?« »Ja, Sir. Danke.« »Du hast im Augenblick noch Genesungsurlaub, aber ich werde sofort veranlassen, daß du von der Luftwaffe zum In 618
nenministerium abkommandiert wirst. Du behältst deinen Offi ziersrang und das Gehalt eines Majors, unterstehst von nun an aber mir.« »Verstanden, Sir.« »Shasa, bist du wieder einmal geflogen, seit du dein Auge verloren hast?« Er sprach ganz unumwunden über das Auge. Niemand, nicht einmal seine Mutter, hatte das fertiggebracht. »Nein, Sir«, antwortete er. »Schade. Es könnte nämlich sein, daß du verdammt schnell von einem Punkt des Landes zum anderen gelangen mußt.« Er beobachtete Shasas Gesicht genau. »Es geht nur darum, Entfernungen richtig abschätzen zu ler nen«, murmelte Shasa. »Reine Übungssache.« »Versuch dich doch wieder einmal im Polo«, schlug Blaine wie beiläufig vor. »Eine gute Übung zum Abschätzen von Ent fernungen. Aber reden wir über wichtigere Dinge. Der Polizei offizier, der die Gesamtleitung über die Untersuchung hat, ist Chefinspektor Louis Nel in der CID-Zentrale hier in Kapstadt. Ich werde dich mit ihm bekannt machen. Er ist ein erstklassiger Bursche und wird dir gefallen.« Sie redeten und planten noch eine Stunde lang, bevor Blaine ihn schließlich entließ. »Das genügt für heute. Melde dich morgen früh um acht Uhr dreißig wieder hier bei mir.« Aber als Shasa die Tür erreichte, hielt er ihn auf. »Ach, übri gens, Shasa, Freitag abend. Die Einladung ist noch aufrecht. Acht Uhr. Schwarzer Anzug oder Uniform. Versuch doch zu kommen, ja?« Sarah Stander lag allein in ihrem Messingbett im Dunkeln. Die älteren Kinder schliefen im angrenzenden Zimmer, das Baby in der Wiege neben ihrem Bett schmatzte zufrieden im Schlaf. Die Turmuhr schlug die vierte Stunde. Sarah hatte sie jede 619
Stunde seit Mitternacht schlagen hören. Sie wollte gerade auf stehen, um sich zu vergewissern, ob die Kinder gut zugedeckt waren, aber in diesem Augenblick hörte sie die Küchentür ge hen und blieb regungslos liegen, um mit angehaltenem Atem zu lauschen. Sie hörte Roelf ins Bad gehen, etwas später knarrte die Schlafzimmertür, und das Bett quietschte unter seinem Ge wicht. Sie stellte sich schlafend. Es war das erste Mal, daß er so spät nach Hause kam. Sarah spürte, daß auch Roelf nicht schlief. Er war unruhig und nervös. Die Stunden schleppten sich dahin, und Sarah zwang sich, still zu liegen. Dann begann das Baby zu wim mern, und sie nahm es aus der Wiege und gab ihm die Brust. Als sie sich wieder ins Bett legte, streckte Roelf den Arm nach ihr aus. Keiner von ihnen sprach. Sarah mußte sich zusammen nehmen, um ihn gewähren zu lassen. Sie haßte es. Es war nie wieder so gewesen wie damals mit Manfred. Doch in dieser Nacht war Roelf anders. Er drang rasch und fast brutal in sie ein und kam mit einem wilden, heiseren Aufschrei. Dann fiel er augenblicklich in tiefen Schlaf. Sie lag wach neben ihm und lauschte seinem Schnarchen. Beim Frühstück fragte sie ihn ruhig: »Wo warst du letzte Nacht?« Er wurde sofort wütend. »Halt den Mund, Frau«, schnauzte er sie an. »Du bist nicht mein Aufpasser.« »Du hast dich auf eine gefährliche Sache eingelassen«, sagte sie, ohne seine Worte zu beachten. »Du hast drei kleine Kinder, Roelf. Du kannst dir keine Dummheiten leisten –« »Schluß damit, Frau!« brüllte er sie an. »Das ist Männersa che. Du hältst dich da raus.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus, um zur Univer sität zu gehen, wo er auf der juridischen Fakultät Vorlesungen hielt. Sie wußte, daß er in zehn Jahren den Lehrstuhl haben konnte, wenn er vorher nur keine Dummheiten machte. 620
Nachdem sie das Geschirr gespült und die Betten gemacht hatte, setzte sie die Kinder in den breiten Kinderwagen und ging mit ihnen in die Stadt. Einmal blieb sie stehen, um mit der Frau eines anderen Universitätsdozenten zu plaudern, und dann betrat sie ein Geschäft, um für die beiden größeren Kinder Zuckerstangen zu kaufen. Beim Bezahlen fiel ihr Blick auf die Schlagzeile der Zeitung, die zuoberst auf einem Stapel lag. »Ich nehme noch die Zeitung dazu.« Sie überquerte die Straße und setzte sich auf eine Parkbank, um den Bericht über die Explo sion eines Güterzuges irgendwo in der Karru zu lesen. Dann falte te sie die Zeitung zusammen und blieb nachdenklich sitzen. Roelf war am vorangegangenen Tag nach dem Mittagessen gegangen. Der Zug war kurz vor elf Uhr nachts explodiert. Sie rechnete anhand der Entfernung die Fahrzeit aus, und dann krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie setzte die Kinder wie der in den Kinderwagen und ging zum Postamt. Dort stellte sie den Kinderwagen neben der gläsernen Telefonzelle ab, um ihn im Auge behalten zu können. »Zentrale, bitte geben Sie mir die Polizeidirektion in Kap stadt.« »Bleiben Sie am Apparat.« Plötzlich kam ihr die Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens zu Bewußtsein. Wie konnte sie Manfred De La Rey der Polizei verraten, ohne nicht auch ihren Mann zu gefährden? Und doch wußte sie, daß es ihre Pflicht war, Roelf daran zu hindern, wei ter diese schrecklichen Sachen zu machen, die mit einer Kata strophe enden mußten. Es war ihre Pflicht gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern. »Hier ist die Polizeizentrale in Kapstadt. Kann ich etwas für Sie tun?« »Ja«, stotterte Sarah, und dann: »Nein, tut mir leid. Es ist nicht so wichtig. Es ist schon vorbei.« Sie legte auf, stürzte aus der Telefonzelle und schob ent schlossen den Kinderwagen nach Hause. Dort setzte sie sich an 621
den Küchentisch und weinte leise. Nach einer Weile wischte sie sich mit der Schürze über die Augen und machte sich eine Tasse Kaffee. Shasa parkte den Jaguar am Straßenrand gegenüber von Blaine Malcomess’ Haus, stieg aber nicht gleich aus. Er blieb sitzen und dachte noch einmal über sein Vorhaben nach. Wahr scheinlich mache ich mich wieder nur zum Narren, dachte er. Er kämmte sich kurz, setzte seine Augenklappe zurecht und stieg aus. Zu beiden Seiten der Newlands Avenue parkten Autos. Es war eine große Party mit zwei- bis dreihundert Gästen. Blaine Malcomess war immerhin eine bekannte Persönlichkeit und die Verlobung seiner Tochter ein bedeutsames gesellschaftliches Ereignis. Shasa überquerte die Straße. Die Eingangstüren standen weit offen, aber es war trotzdem nicht einfach, das Haus zu betreten. Selbst in der Halle drängten sich die Gäste. Die Party war schon in vollem Gange. Shasa bahnte sich einen Weg durch die überfüllten Räume, schüttelte hie und da alten Freunden die Hand und küßte deren Frauen auf die Wange. »Schön, daß du wieder zurück bist, Shasa.« Alle versuchten krampfhaft, die schwarze Augenklappe zu ignorieren. Er fand sie mit dem farbigen Küchenchef und zwei Dienst mädchen im Speisesaal, um dem erlesenen kalten Büffet den letzten Schliff zu geben. Sie blickte auf, sah ihn und erstarrte. Ihr duftiges dünnes Abendkleid hatte die Farbe von blaßroten Rosen, und das Haar fiel offen auf ihre Schultern herab. Mit einer Handbewegung entließ sie die Dienstboten, und er ging langsam auf sie zu. »Hallo, Tara, ich bin wieder zurück«, sagte er. »Ja, das hörte ich schon. Du bist seit fünf Wochen zurück. 622
Ich dachte, du würdest –« Sie hielt inne und forschte in seinem Gesicht. »Ich habe gehört, daß du eine Auszeichnung bekom men hast.« Sie berührte das Ordensband an seiner Brust. »Und daß du verwundet worden bist.« Sie musterte ganz offen sein Gesicht und vermied es nicht, sein linkes Auge zu betrachten. Dann lächelte sie. »Du siehst verwegen aus damit.« »Ich komme mir aber nicht sehr verwegen vor.« »Das fühle ich«, nickte sie. »Du hast dich verändert.« »Findest du?« »Ja, du bist nicht mehr so –« Sie schüttelte den Kopf, verär gert, daß sie nicht das richtige Wort finden konnte. »Nicht mehr so draufgängerisch und so überheblich.« »Ich möchte mit dir reden«, sagte er. »Ernsthaft.« »Gut«, meinte sie. »Worum geht’s?« »Nicht hier«, wehrte er ab. »Nicht unter all den Leuten.« »Morgen?« »Morgen ist es zu spät. Komm mit – jetzt.« »Shasa, bist du verrückt? Das ist meine Party – meine Verlo bungsparty.« »Ich fahre den Jaguar zum Lieferanteneingang«, sagte er. »Du wirst einen Mantel brauchen, es ist kalt draußen.« Er parkte den Jaguar dicht an der Mauer. Hier hatten sie frü her immer lange voneinander Abschied genommen. Er schalte te die Scheinwerfer ab und wartete, obwohl er überzeugt war, daß sie nicht kommen würde. Seine Überraschung, als die Tür sich öffnete und sie auf den Beifahrersitz glitt, war echt und seine Erleichterung groß. Sie trug Hosen und einen Rollkragenpullover. Sie hatte nicht vor, zur Party zurückzukehren. »Fahr los!« sagte sie. »Verschwinden wir von hier.« Für eine Weile schwiegen sie, und er schaute sie jedesmal an, wenn eine Straßenlaterne das Wageninnere beleuchtete. Sie blickte, leise vor sich hinlächelnd, geradeaus und brach 623
schließlich als erste das Schweigen. »Vorher hast du nie etwas oder jemanden gebraucht. Das war das einzige, was mir an dir nicht gefiel.« Er antwortete nicht. »Ich glaube, jetzt brauchst du mich. Das habe ich in dem Au genblick gespürt, als ich dich wiedersah. Endlich brauchst du mich wirklich.« Er schwieg, Worte schienen überflüssig. Statt dessen streckte er den Arm aus und ergriff ihre Hand. »Jetzt gehöre ich dir, Shasa«, sagte sie. »Bring mich irgend wohin, wo wir allein sein können, ganz allein.« Der Mond schien hell genug, um den steilen Pfad auszu leuchten. Sie hielt sich an seiner Hand fest. Auf halbem Weg blieben sie stehen, um sich zu küssen. Shasa schloß die Tür zur Strandhütte auf und zündete die Öl lampe an. Erleichtert stellte er fest, daß die Dienstboten von Weltevreden seine Anweisungen befolgt hatten. Das Bett war frisch überzogen, der Boden glänzte. Tara stand in der Mitte des Zimmers, hatte die Hände schützend vor sich verschränkt, und ihre großen Augen glänzten im Schein der Lampe. Als er sie in die Arme nahm, begann sie zu zittern. »Shasa, bitte geh sanft mit mir um«, flüsterte sie. »Ich hab’ solche Angst.« Er war geduldig und sanft, aber sie hatte keinen Vergleichs maßstab, um zu erkennen, wie geschickt und erfahren er war. Sie merkte nur, daß er jede Nuance im Wechsel ihrer Gefühle zu spüren schien und jede Reaktion ihres Körpers vorausemp finden konnte, so daß sie sich ihrer Nacktheit nicht mehr schämte und unter seinen zärtlichen Händen und Lippen auch ihre anderen Ängste und Zweifel rasch schwanden. Am Ende schaute sie verwundert zu ihm auf und flüsterte heiser: »Ich hätte nie gedacht, daß es so sein würde. Oh, Shasa, ich bin so froh, daß du zu mir zurückgekommen bist.«
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RAUBÜBERFALL IN EINER BANK
ZWEI TOTE
OSSEWA BRANDWAG IM SPIEL
Sarah Stander las vor dem Zeitungsstand die Schlagzeile. Sie betrat den Laden, kaufte wie immer Süßigkeiten für die Kinder und ließ sich eine Zeitung geben. Sie ging in den Park, und während die beiden Kinder auf dem Rasen spielten, las sie hastig den Artikel auf der ersten Seite. Mr. Peter Cartwright, Direktor einer Bank in Fordsburg, wurde letzte Nacht erschossen, als er versuchte, einen Raub überfall auf seine Bank zu verhindern. Einer der Bankräuber wurde ebenfalls erschossen, während ein zweiter Mann schwer verletzt zurückblieb und von der Polizei in Gewahr sam genommen wurde. Ersten Schätzungen zufolge konnten vier Bankräuber mit Bargeld in der Höhe von 100 000 Pfund entkommen. Ein Polizeisprecher gab heute morgen bekannt, daß nach einem ersten Verhör des verletzten Bankräubers die Beteili gung der Ossewa Brandwag an dem Überfall außer Zweifel steht. Der Minister für Inneres, Oberst Blaine Malcomess, hat durch sein Büro im Parlamentsgebäude in Kapstadt verlaut baren lassen, daß er eine Untersuchung der subversiven Tä tigkeit der Ossewa Brandwag angeordnet hat und sich jeder Staatsbürger mit sachdienlichen Hinweisen an die nächste Polizeidienststelle wenden oder eine der folgenden Telefon nummern anrufen soll: Johannesburg 78114; Kapstadt 42444. Der Minister sichert jedem Informanten zu, daß sein Hinweis streng vertraulich behandelt werden wird. Sarah blieb fast eine Stunde auf der Parkbank sitzen und ver suchte einen Entschluß zu fassen. War es richtig, im Namen 625
von Freiheit und Gerechtigkeit Züge zu sprengen, Banken aus zurauben und unschuldige Menschen zu töten? Machte sie sich zur Verräterin, wenn sie ihren Mann und ihre Kinder zu schüt zen versuchte? Wie viele Unschuldige würden noch sterben, wenn Manfred De La Rey weiterhin sein Unwesen treiben konnte? Sie stand auf, rief nach den Kindern und schob den Kinder wagen über die Straße. Als sie auf das Postamt zuging, sah sie, daß der Postmeister, Mr. Oberholster, sie durch das Fenster beobachtete. Er war einer von ihnen, das wußte sie, weil sie ihn einmal in Uniform gesehen hatte, als er Roelf zu einer ihrer Versammlungen von zu Hause abgeholt hatte. Sie geriet sofort in Panik. Alle Telefongespräche liefen über die Vermittlung im Postamt. Es bestand die Möglichkeit, daß Oberholster ihr Gespräch mithörte oder die Vermittlung ihre Stimme erkannte. Sie bog ab und schob den Kinderwagen zum Metzger, so als hätte sie das von Anfang an vorgehabt. Sie kaufte Schweinskoteletts, Roelfs Lieblingsessen, und eilte nach Hause, um dort allein und in Ruhe nachdenken zu können. Als sie die Küche betrat, hörte sie aus dem vorderen Zimmer, das Roelf als Arbeitszimmer diente, Männerstimmen. Er war also schon früh von der Universität zurück. Dann erkannte sie Manfreds Stimme, und ihr Puls ging schneller. Sie kam sich treulos und schuldig vor, weil er noch immer eine solche Wir kung auf sie ausübte. Manfred war seit fast drei Wochen nicht mehr bei ihnen gewesen, und ihr wurde bewußt, daß sie ihn vermißt und fast jeden Tag an ihn gedacht hatte, allerdings mit Gefühlen, die zwischen bitterem Haß und physischer Erregtheit hin und her schwankten. Während sie begann, das Mittagessen für Roelf und die Kin der zuzubereiten, drangen die Männerstimmen deutlich aus dem vorderen Zimmer an ihr Ohr. Hin und wieder hielt Sarah inne, um zu lauschen, und einmal hörte sie Mani sagen: »Wäh rend ich in Johannesburg war …« Er war also in Johannesburg 626
gewesen. Der Bankraub hatte vor zwei Tagen stattgefunden – es war ihm also genügend Zeit geblieben, mit dem Postzug oder dem Wagen von Johannesburg hierherzufahren. Sie dach te an die beiden Männer, die getötet worden waren. In der Zei tung stand, daß der Bankdirektor eine schwangere Frau und zwei kleine Kinder zurückgelassen habe. Wo führt das bloß hin? dachte sie. Oh, ich wünschte, sie würden damit aufhören. Ich wünschte, Mani würde fortgehen und uns in Ruhe lassen – Aber dieser Gedanke erfüllte sie gleichzeitig mit einem tiefen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Shasa flog allein in der Rapide von Witwatersrand zurück nach Kapstadt und landete nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Flugfeld Youngsfield. Er fuhr direkt vom Flugplatz zu Blaines Haus in der Newlands Avenue. Tara öffnete die Tür, und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn erkannte. »Oh, Liebling, ich hab’ dich so vermißt!« Sie küßten sich leidenschaftlich, bis Blaines Stimme sie auseinanderfahren ließ. »Hör mal, Shasa, ich unterbreche nicht gern Wichtiges, aber wenn du einen Augenblick erübrigen könntest, würde ich gern deinen Bericht hören.« Tara wurde blutrot. »Daddy, du spionierst uns nach!« »Was so öffentlich vor sich geht, mein Liebes, braucht nicht ausspioniert zu werden. Komm, Shasa.« Er führte ihn in sein Arbeitszimmer und forderte ihn auf, sich zu setzen. »Einen Drink?« »Bitte, ein Ginger-ale, Sir.« »Wie tief sind wir gesunken!« Blaine goß sich einen kleinen Whisky ein und reichte Shasa das Ginger-ale. »Nun, was war das, worüber du am Telefon nicht sprechen konntest?« »Sieht so aus, als hätten wir endlich einmal Glück gehabt, Sir.« 627
Auf Blaines Anweisung hin war Shasa sofort nach Johannes burg geflogen, nachdem erwiesen war, daß die Ossewa Brand wag bei dem Bankraub die Hände im Spiel gehabt hatte. Er war im Hauptquartier der CID gewesen, als der gefangene Bank räuber verhört worden war. »Wie Sie wissen, ist der Kerl ein Beamter der Crown-Minen. Er heißt Thys Lourens und steht tatsächlich auf unserer Liste bisher bekannter Ossewa-Brandwag-Mitglieder. Keiner von den großen Fischen, aber immerhin ein recht einflußreicher Bursche, wenn ich auch den Eindruck hatte, daß er ein kleiner Säufer ist. Ich erklärte dem Polizeiinspektor, daß wir alles wis sen müßten –« »Bloß keine Grobheiten«, warf Blaine stirnrunzelnd ein. »Nein, Sir. War gar nicht nötig. Lourens war nicht so zäh, wie er aussah. Wir brauchten nur darauf hinzuweisen, daß auf bewaffneten Raubüberfall und Anstiftung zum Mord der Gal gen stehe, daß wir aber verhandlungsbereit wären, und schon fing er an zu singen. Ich habe Ihnen das meiste schon heute morgen am Telefon gesagt.« »Ja. Weiter.« »Dann gab er uns die Namen der anderen Männer, die an dem Banküberfall beteiligt waren, das heißt, nur von dreien. Wir konnten die Verhaftungen vornehmen, bevor ich Johan nesburg verließ. Der Anführer der Bande aber war ein Mann, den er erst drei Tage vor dem Bankraub zum erstenmal sah. Er kennt weder seinen Namen noch seinen Aufenthaltsort.« »Hat er den Mann beschreiben können?« »Ja. Groß, schwarzes Haar, schwarzer Vollbart, schiefe Nase und Narbe über einem Auge – eine recht detaillierte Beschrei bung. Aber er hat uns noch etwas anderes verraten, das von entscheidender Bedeutung sein könnte.« »Was ist das?« »Einen Kodenamen. Der Anführer ist nur als Die Wit Swaard, das ›Weiße Schwert‹ bekannt, und sie hätten von 628
höchster Stelle der Stormjagters die Anweisung erhalten, mit ihm zusammenzuarbeiten.« »Weißes Schwert«, meinte Blaine nachdenklich. »Klingt wie ein Name aus einem Abenteuerroman für kleine Jungen.« »Leider nicht ganz so harmlos«, fuhr Shasa fort. »Ich habe dem Inspektor eingeschärft, daß der Kodename und die Be schreibung nicht bekanntwerden dürfen, bevor er von Ihnen persönlich Anweisung erhält.« »Gut.« Blaine nippte an seinem Whisky. »Weißes Schwert – ich frage mich, ob das der Auslöser ist, den wir suchen und der die Ossewa Brandwag letztendlich in Aktion hat treten lassen.« »Sehr gut möglich, Sir. Alle festgenommenen Mitglieder der Bande haben offensichtlich ungeheuren Respekt vor dem Mann. Er ist unzweifelhaft die treibende Kraft hinter der gan zen Sache und spurlos verschwunden. Keine Spur von dem geraubten Geld – nebenbei bemerkt, sind es 127 000 Pfund.« »Ein hübsches Sümmchen«, murmelte Blaine. »Wir müssen annehmen, daß es der Ossewa Brandwag zufließt, vermutlich zusammen mit dem Dynamit von dem Zugüberfall.« »Was diesen Kodenamen betrifft, Sir, würde ich vorschlagen, daß wir ihn weiterhin vor der Presse und jedermann geheimhal ten, der nicht unmittelbar mit der Untersuchung befaßt ist.« »Einverstanden. Doch laß mich deine Gründe hören. Mal se hen, ob sie mit meinen übereinstimmen.« »Erstens wollen wir das Wild nicht aufscheuchen. Es soll nicht wissen, daß wir ihm auf der Spur sind.« Blaine nickte. »Ganz recht.« »Der zweite Grund ist, daß jeder Informant, der den Kode namen benützt, als zuverlässig gelten darf.« »Ich kann dir nicht ganz folgen«, meinte Blaine stirnrun zelnd. »Ihr Aufruf um Hinweise aus der Bevölkerung hat eine Flut von Telefonanrufen zur Folge gehabt, aber leider sind die mei sten irreführend. Wenn wir den Kodenamen allgemein be 629
kanntmachen, wird jeder ihn benützen.« »Ich verstehe. Die Nennung des Kodenamens bürgt für die Glaubwürdigkeit des Anrufers.« »So ist es, Sir.« »Also gut, halten wir ihn vorläufig geheim. Sonst noch et was?« »Im Augenblick nicht.« »Dann laß mich kurz erzählen, was während deiner Abwe senheit hier geschehen ist. Ich war beim Premierminister, und wir haben beschlossen, die Ossewa Brandwag zu einer politi schen Organisation zu erklären. Alle öffentlich Bediensteten, einschließlich Polizei und Armee, sind somit gezwungen, ihre Mitgliedschaft sofort zurückzulegen.« »Das wird kaum etwas an ihren Sympathien ändern«, be merkte Shasa. »Natürlich nicht«, gab Blaine zu. »Auch dann werden wir noch immer etwa vierzig oder fünfzig Prozent des Landes ge gen uns haben.« »So kann es nicht weitergehen, Sir. Sie und der Ou Baas werden eine entscheidende Kraftprobe erzwingen müssen.« »Ja, das wissen wir. Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, sobald wir eine umfassende Liste der Rädelsführer haben, werden wir zuschlagen.« »Sie festnehmen?« Shasa war bestürzt. »Ja. Sie werden für die Dauer des Krieges als Staatsfeinde in terniert.« Shasa stieß einen leisen Pfiff aus. »Verdammt drastisch, Sir. Das könnte zu echten Unruhen führen.« »Deshalb müssen wir sie alle gleichzeitig hochnehmen. Wir können nicht riskieren, ein paar von ihnen laufenzulassen.« Blaine stand auf. »Ich kann mir vorstellen, daß du müde bist, und ich bin sicher, daß Mademoiselle Tara noch einiges mit dir zu besprechen hat. Ich erwarte dich morgen früh pünktlich um acht Uhr dreißig in meinem Büro.« Sie gingen zur Tür, und 630
Blaine fiel noch etwas ein: »Übrigens, dein Großvater, Sir Gar ry, ist heute morgen in Weltevreden eingetroffen.« »Er kommt zu seinem Geburtstag«, meinte Shasa lächelnd. »Ich freue mich schon darauf, ihn wiederzusehen. Ich hoffe doch, daß Sie und Feldmarschall Smuts wie gewöhnlich zum Geburtstagspicknick kommen?« »Das würde ich um nichts in der Welt versäumen!« Blaine öffnete die Tür. Tara stand wie zufällig in der anstoßenden Bi bliothek vor dem Bücherregal und tat so, als würde sie ein Buch suchen. Blaine grinste. »Tara, du läßt Shasa heute nacht ein bißchen schlafen, verstanden? Ich weigere mich, morgen mit einem Schlafwandler zusammenzuarbeiten.« Die Besprechung in Blaines Büro am folgenden Morgen dau erte länger, als erwartet, und wurde später sogar in das Büro des Premierministers verlegt, wo Feldmarschall Smuts Shasa persönlich befragte. Seine Fragen waren so eingehend, daß Shasa Mühe hatte, den Gedankensprüngen des Ou Baas zu folgen. Erleichtert wandte er sich schließlich zum Gehen, und Smuts ermahnte ihn noch einmal: »Wir wollen diesen Kerl, dieses ›Weiße Schwert‹ kriegen, wer immer er ist, und wir müssen ihn erwischen, bevor er noch mehr Schaden anrichten kann. Richten Sie das allen Beteiligten aus.« »Ja, Sir.« »Und diese Liste will ich noch vor dem Wochenende auf dem Schreibtisch liegen haben. Wir müssen diese Kerle so bald wie möglich hinter Schloß und Riegel bringen.« Es war später Vormittag, als Shasa vor dem CIDHauptquartier eintraf und den Jaguar auf dem für ihn reservier ten Platz abstellte. Die Kommandozentrale für diese Operation war in einem der 631
ausgedehnten Kellerräume eingerichtet worden. An der Tür stand ein Wachtposten, und Shasa wies sich aus. Der Posten schaute auf einer Liste nach. Das Betreten der Zentrale war nur jenen Personen erlaubt, die auf der Liste standen. Viele Ange hörige der Polizei waren als Mitglieder oder Sympathisanten der Ossewa Brandwag bekannt. Inspektor Louis Nel hatte sein Team mit äußerster Vorsicht zusammengestellt. Der Inspektor war ein wortkarger Mann, dessen Alter und Dienstrang verhindert hatten, daß er als Freiwilliger zum Mili tärdienst in Übersee eingezogen worden war, eine Tatsache, die er sehr übelnahm. Doch Shasa hatte bald entdeckt, daß er ein Mann war, den man achten und mögen mußte, obwohl er nicht leicht zufriedenzustellen war. Sie hatten rasch zu einer guten Zusammenarbeit gefunden. Nel saß in Hemdsärmeln, eine Zigarette im Mundwinkel, am Schreibtisch und telefonierte, doch als Shasa eintrat, deckte er die Sprechmuschel zu und winkte ihn gebieterisch zu sich. »Wo, zum Teufel, bleiben Sie denn so lange? Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken«, rügte er ihn. »Setzen Sie sich. Ich muß mit Ihnen reden.« Shasa setzte sich auf die Schreibtischkante. Während der In spektor sein Telefongespräch fortsetzte, blickte er durch die Glasscheibe in die geschäftige Kommandozentrale. Inspektor Nel hatte acht Geheimpolizisten und eine Schar Sekretärinnen zugeteilt bekommen. Zigarettenqualm und das Geklapper der Schreibmaschinen erfüllten den Raum. Eines der anderen Tele fone auf dem Schreibtisch des Inspektors klingelte, und er blickte zu Shasa auf. »Nehmen Sie das Gespräch entgegen – diese verdammte Telefonistin schaltet alles zu mir durch.« Shasa hob den Hörer ab. »Guten Morgen, hier ist das CIDHauptquartier. Was kann ich für Sie tun?« sagte er, und als es in der Leitung still blieb, wiederholte er dasselbe in Afrikaans. »Hallo, ich möchte mit jemandem sprechen –« Der Anrufer war eine Frau, eine junge, sehr aufgeregt klingende Stimme. 632
Sie sprach Afrikaans. »In der Zeitung steht, daß Sie etwas über die Ossewa Brandwag wissen möchten. Ich möchte mit jeman dem reden.« »Mein Name ist Courtney«, sagte Shasa in Afrikaans. »Major Courtney. Ich freue mich, daß Sie der Polizei helfen wollen. Sie können mir alles sagen.« Er versuchte, seine Stimme warm und beruhigend klingen zu lassen. Er spürte, daß die Frau Angst hatte und vielleicht im Begriff war, ihre Meinung zu ändern und aufzulegen. »Lassen Sie sich Zeit. Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören.« »Sind Sie von der Polizei?« »Ja, Madame. Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?« »Nein! Ich werde Ihnen nicht sagen –« Er erkannte seinen Fehler sofort. »Das ist völlig in Ordnung. Sie müssen mir Ihren Namen nicht nennen«, sagte er hastig. Es blieb lange still. Er konnte sie atmen hören. »Lassen Sie sich Zeit«, wiederholte er sanft. »Sagen Sie mir nur das, was Sie sagen möchten.« »Sie wollen die Gewehre stehlen.« Die Stimme der Frau war nur noch ein Flüstern. »Können Sie mir sagen, welche Gewehre?« fragte Shasa vor sichtig. »Aus der Waffenfabrik in Pretoria, der Eisenbahn Werk statt.« Shasa fuhr in die Höhe und hielt den Telefonhörer mit beiden Händen fest. Fast die gesamte Waffen- und Munitionsproduk tion des Landes lag in den Händen der Eisenbahnwerkstatt in Pretoria. Dieser Betrieb war das einzige Unternehmen mit da für geeigneten Maschinen wie Hochgeschwindigkeitsdrehbän ken und Dampfpressen zur Herstellung von Läufen für Geweh re und Maschinengewehre. Die Patronenhülsen für die Muniti on wurden zwar von Pretoria Mint ausgestanzt, aber zur End bearbeitung kamen sie ebenfalls in die Eisenbahnwerkstatt. »Was Sie da sagen, ist sehr wichtig«, erklärte Shasa vorsich 633
tig. »Können Sie mir sagen, wie sie die Gewehre stehlen?« »Sie schaffen die Gewehre fort und packen statt dessen Alt eisen in die Kisten«, flüsterte die Frau. »Können Sie mir bitte sagen, wer das tut? Wissen Sie, wer dafür verantwortlich ist?« »Die Leute in der Fabrik kenne ich nicht, nur den Anführer. Ich weiß, wer der Anführer ist.« »Wir müssen seinen Namen wissen«, drängte Shasa, aber sie schwieg. Er spürte, wie sie mit sich rang und daß sie auflegen würde, wenn er sie jetzt drängte. »Wollen Sie mir sagen, wer der Anführer ist?« fragte er. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.« »Sein Name –« Die Frau zögerte, schwieg für einen Augen blick und stieß dann hervor: »Sie nennen ihn Wit Swaard.« Shasa fühlte, wie es auf seiner Haut zu kribbeln begann. »Was haben Sie gesagt?« »Wit Swaard – sein Name ist Wit Swaard«, wiederholte die Frau, dann knackte es in der Leitung und die Verbindung war unterbrochen. »Hallo! Hallo!« rief Shasa in den Hörer. »Sind Sie noch da? Hängen Sie nicht auf!« Aber das einzige, was er hörte, war das Rauschen in der Leitung. Shasa stand neben Blaine Malcomess’ Schreibtisch und tele fonierte mit dem leitenden Inspektor am Marshallplatz in Jo hannesburg. »Sobald Sie den Durchsuchungsbefehl haben, riegeln Sie die Fabrik ab. Niemand darf das Gelände betreten oder verlassen. Ich habe den Truppenkommandeur von Transvaal bereits un terrichtet. Er und sein Generalquartiermeister werden Sie voll unterstützen. Ich möchte, daß Sie sofort mit der Durchsuchung beginnen. Lassen Sie alle Waffenkisten öffnen, und überprüfen Sie den Inhalt anhand der Produktionspapiere aus der Fabrik. 634
Wir fliegen sofort ab. Bitte schicken Sie einen Polizeiwagen zum Flugplatz –« Er blickte Shasa fragend an. »Um fünf Uhr nachmittag. Inzwischen verpflichten Sie alle, die an der Unter suchung beteiligt sind, zu äußerster Verschwiegenheit. Und noch etwas, Inspektor. Bitte, wählen Sie nur solche Männer aus, von denen Sie bestimmt wissen, daß sie nicht Mitglieder irgendeiner subversiven Organisation, besonders der Ossewa Brandwag, sind.« Auf dem Platz unterhalb des Kontrollturms von Roberts Heights erwartete sie ein Polizeiinspektor. Als Blaine und Sha sa aus der Rapide stiegen, kam er auf sie zu. »Wie läuft die Untersuchung?« fragte Blaine sofort, nachdem sie einander die Hand geschüttelt hatten. »Was haben Sie ge funden?« »Nichts, Minister.« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Wir haben über sechshundert Kisten mit Gewehren überprüft. Eine zeitaufwendige Arbeit. Aber bisher scheint alles in Ordnung zu sein.« »Wie viele Kisten sind im Lager?« »Neunhundertachtzig.« »Dann habt ihr schon mehr als die Hälfte überprüft.« Blaine schüttelte den Kopf. »Sehen wir uns das einmal an.« An den Toren der Eisenbahnwerkstatt waren doppelte Wa chen von Polizei und Militär postiert. Sie überprüften, schein bar unbeeindruckt von Blaines hohem Rang, die Insassen des Packard sorgfältig. Der Chefinspektor, der die Untersuchung leitete, befand sich im Büro des Betriebsleiters, und sein Bericht stimmte mit dem überein, was sie bereits wußten. Sie hatten bisher keinerlei Un regelmäßigkeiten bei der Produktion oder der Verpackung der Waffen entdecken können. »Machen wir einen Rundgang«, befahl Blaine grimmig, und die ganze Gruppe – Blaine, Shasa, der Chefinspektor und der Werkstattleiter – begab sich zur Produktionshalle. 635
»Werkstatt« war wohl kaum die richtige Bezeichnung für die riesige Fabrikhalle, die sie betraten. Ursprünglich gebaut, um das rollende Inventar der staatlichen Eisenbahn zu warten und zu reparieren, war die Werkstatt immer weiter ausgebaut und modernisiert worden, bis sie schließlich imstande war, ihre eigenen Lokomotiven zu bauen. Nun entstanden an dem Fließ band, an dem sie vorbeikamen, Panzerwagen für den Wüsten krieg in Nordafrika. Der Fabrikbetrieb lief trotz der polizeilichen Untersuchung weiter, und in der riesigen Halle herrschte ein ohrenbetäuben der Krach. »Wie viele Männer beschäftigen Sie?« Blaine mußte schrei en, um sich verständlich zu machen. »Insgesamt fast dreitausend. Wir arbeiten in drei Schichten. Kriegsproduktion.« Der Betriebsleiter führte sie durch das abgelegenste Gebäude. »Hier werden die leichten Waffen hergestellt«, erklärte er. »Oder besser gesagt, die Metallteile davon. Läufe und Rohre. Die Holzteile werden von externen Firmen erzeugt.« »Zeigen Sie uns jetzt die fertige Ware und die Verpackung«, befahl Blaine. »Wenn es Unregelmäßigkeiten gibt, dann sind sie dort zu finden.« In der Lagerhalle, die sie nun betraten, arbeiteten ein Dut zend uniformierter Polizisten mit mindestens fünfzig Fabrikar beitern in blauen Overalls zusammen. Jede Kiste wurde einzeln von den hohen Stapeln heruntergehoben und von einem der Polizisten geöffnet. Dann wurden die umwickelten Gewehre herausgenommen, gezählt, wieder eingepackt und der Kisten deckel verschlossen. Die überprüften Kisten wurden am ande ren Ende des Lagerhauses wieder aufgestapelt, und Shasa sah sofort, daß nur noch ungefähr fünfzig Kisten zu öffnen waren. Der Hauptlagerleiter kam von seinem Schreibpult herangeeilt und fuhr Blaine empört an: »Ich weiß nicht, wer Sie sind – aber falls Sie der verdammte Idiot waren, der das hier angeordnet 636
hat, dann gehört Ihnen ein Tritt in den Arsch. Wir haben einen ganzen Tag verloren. Auf dem Nebengleis steht ein Güterzug, und im Hafen von Durban wartet ein Geleitzug, um unseren Jungs oben im Norden diese Waffen zu bringen.« Shasa verließ die Gruppe und ging zu den arbeitenden Polizi sten. »Kein Glück?« fragte er einen von ihnen. »Reine Zeitverschwendung«, brummte der Mann, ohne auf zublicken, und Shasa schalt sich insgeheim einen Narren. Sei netwegen war ein ganzer Produktionstag verlorengegangen – eine schreckliche Verantwortung. Seine Verzweiflung wurde noch größer, als er zusehen mußte, wie die restlichen Kisten ebenso erfolglos geöffnet, überprüft und wieder verschlossen wurden. Die Polizisten sammelten sich am Lagertor, die Fabrikarbei ter verschwanden durch die riesigen Schiebetore, um ihre Plät ze am Fließband wieder einzunehmen. Der Polizeiinspektor trat zu ihnen heran. »Nichts, Minister. Tut mir leid.« »Wir mußten es tun«, sagte Blaine mit einem Blick auf Sha sa. »Niemand ist schuld daran.« »Irgend so ein verdammter Narr muß aber schuld daran sein«, warf der Hauptlagerverwalter wütend ein. »Kann ich jetzt, wo Sie Ihren Spaß gehabt haben, endlich den Rest der Lieferung aufladen lassen?« Shasa starrte den Mann an. Im Benehmen dieses Mannes war etwas, das eine Alarmglocke in seinem Kopf klingen ließ – dieses polternde Benehmen, dieser unstete Blick. Natürlich! dachte Shasa. Wenn es einen Austausch gegeben hat, dann konnte er nur hier stattfinden, und dann steckt dieser Kerl bis zum Hals drin. »Schon gut«, sagte Blaine. »Es war blinder Alarm. Sie kön nen mit dem Laden weitermachen.« »Einen Augenblick, Sir«, mischte Shasa sich ein und wandte sich an den Lagerverwalter. »Wie viele Eisenbahnwaggons 637
sind heute schon beladen worden?« Da war es wieder, das leise Flackern in den Augen des Man nes, dieses leichte Zögern. Er war im Begriff zu lügen. Dann warf er unwillkürlich einen Blick auf die Papiere, die auf sei nem Schreibpult lagen. Shasa trat rasch an das Schreibpult und nahm die Frachtlisten in die Hand. »Drei Waggons wurden bereits beladen«, sagte er. »Wo sind die?« »Auf einem Nebengleis«, murmelte der Lagerverwalter ver drießlich. »Dann lassen Sie sie augenblicklich wieder hierherschieben«, warf Blaine scharf dazwischen. Blaine und Shasa standen nebeneinander unter den Bogen lampen auf der Laderampe, als der erste der verschlossenen Güterwaggons geöffnet wurde. Das Innere des Waggons war bis obenhin voll mit grünen Gewehrkisten. »Falls sie hier drin sind, dann ganz unten«, sagte Shasa. »Wer auch dafür verantwortlich ist, wird trachten, die betref fenden Kisten als erste zu verladen.« »Nehmen Sie gleich die unteren Kisten«, befahl Blaine scharf. Die oberen Kisten wurden ausgeladen und auf der Plattform aufgestapelt. »Gut!« Blaine deutete in den hinteren Teil des Waggons. »Holt diese Kiste heraus und öffnet sie.« Der Deckel löste sich, und der Polizist ließ ihn klappernd auf den Betonboden fallen. »Sir!« rief er aus. »Sehen Sie sich das an.« Blaine trat neben ihn und starrte in die offene Kiste, dann blickte er hastig auf. Der Hauptlagerverwalter eilte durch die Lagerhalle auf das Tor am anderen Ende zu. »Nehmt den Mann fest!« rief Blaine, und zwei Polizisten stürmten los und ergriffen ihn. Er wehrte sich wütend, als sie 638
ihn auf die Laderampe herauszerrten. Blaine wandte sich mit grimmiger Miene an Shasa. »Nun, mein Junge, ich hoffe, jetzt bist du zufrieden. Du hast uns einen Berg Arbeit verschafft und eine Menge schlafloser Nächte.« Fünfzehn Männer saßen mit ernsten Gesichtern an dem lan gen, polierten Tisch in dem holzgetäfelten Büro und hörten schweigend zu, als Blaine Malcomess Bericht erstattete. »Es gibt keine Möglichkeit, mit letzter Gewißheit festzustel len, wie viele Waffen tatsächlich fehlen. Zwei große Lieferun gen sind seit dem Ersten dieses Monats abgegangen, und keine von ihnen hat inzwischen ihren Bestimmungsort in Kairo er reicht. Sie sind noch unterwegs, aber wir müssen annehmen, daß von beiden Lieferungen Waffen fehlen. Ich schätze, daß es insgesamt etwa zweitausend Gewehre und eineinhalb Millio nen Schuß Munition sind.« Die Männer an dem langen Tisch wurden unruhig, aber nie mand sprach. »Das ist natürlich alarmierend. Aber das beunruhigendste an der Sache ist der Diebstahl von dreißig bis fünfzig VickersMaschinengewehren derselben Herkunft.« »Unglaublich«, murmelte Denys Reitz. »Das genügt, um ei nen landesweiten Aufstand zu inszenieren. Es könnte dasselbe passieren wie 1914. Wir müssen dafür sorgen, daß nichts da von in die Öffentlichkeit dringt. Es würde eine Panik auslö sen.« »Wir sollten auch berücksichtigen«, fuhr Blaine fort, »daß in der Karru einige Tonnen Dynamit geraubt worden sind. Das käme bestimmt zum Einsatz, um die Fernmelde- und Straßen verbindungen zu unterbrechen und die Mobilisierung unserer begrenzten Militärstreitkräfte zu verhindern. Sollte es zu einem Aufstand kommen –« »Blaine, bitte sagen Sie uns folgendes.« Der Premierminister 639
hielt den Finger hoch, »Erstens: Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wann dieser Staatsstreich stattfinden könnte?« »Nein, Herr Premierminister. Das einzige, was ich anbieten kann, ist eine Vermutung, die sich auf den Zeitpunkt stützt, zu dem wir den Waffendiebstahl unter normalen Umständen ent deckt hätten. Sie müssen sich im klaren darüber sein, daß der Diebstahl entdeckt worden wäre, sobald die erste Waffenliefe rung in Kairo eintrifft, und höchstwahrscheinlich planen sie ihren Angriff vor diesem Zeitpunkt.« »Wann trifft die erste Lieferung in Kairo ein?« »Ungefähr in zwei Wochen.« »Dann müssen wir also darauf gefaßt sein, daß sie innerhalb der nächsten Tage losschlagen?« »Ich fürchte ja, Herr Premierminister.« »Meine nächste Frage, Blaine. Wie weit sind Sie mit Ihren Nachforschungen? Haben Sie eine vollständige Liste der Rä delsführer der Ossewa Brandwag und der Stormjagters?« »Die Liste ist noch nicht ganz vollständig. Wir haben bisher rund sechshundert Namen. Ich glaube, daß auf ihr fast alle Schlüsselmänner erfaßt sind – aber wir haben natürlich keine Möglichkeit, das zu überprüfen.« »Danke, Blaine.« Der Premierminister zupfte nachdenklich an seinem kleinen silbernen Spitzbart. Seine Miene wirkte fast feierlich, und sein Blick war ruhig und ohne Angst. Alle warteten. »Wie heikel sind die Namen auf der Liste?« fragte er. »Einer von ihnen ist der Administrator des OranjeFreistaates.« »Ja, über ihn wissen wir bereits Bescheid.« »Zwölf Parlamentsmitglieder einschließlich eines früheren Kabinettsministers .« »Parlamentarische Immunität«, murmelte Feldmarschall Smuts. »Wir können sie nicht antasten.« »Dann gibt es noch hohe geistliche Würdenträger, minde 640
stens vier hochrangige Armeeoffiziere, hohe Beamte und einen stellvertretenden Polizeikommissar.« Blaine ging die Liste durch, und als er endete, war der Premierminister bereits zu einem Entschluß gekommen. »Wir können nicht länger warten«, sagte er. »Ich möchte, daß mit Ausnahme der Parlamentsabgeordneten für alle Namen auf der Liste der Verdächtigen Haft- und Internierungsbefehle aus gestellt werden. Ich unterzeichne sie, sobald sie bereitliegen. Inzwischen möchte ich, daß Sie einen Plan ausarbeiten, alle gleichzeitig festzunehmen, und Vorkehrungen für ihre Einker kerung treffen.« »Wie wäre es mit den Konzentrationslagern für italienische Kriegsgefangene bei Baviaanspoort und Petermaritzburg«, schlug Blaine vor. »Gut«, stimmte Feldmarschall Smuts zu. »Ich möchte diese Männer so bald wie möglich hinter Stacheldraht wissen. Und ich will, daß die fehlenden Waffen und das Dynamit gefunden werden. Und zwar schnell.« »Wir können nicht länger warten«, sagte Manfred De La Rey langsam. »Jede weitere Stunde ist eine Gefahr, jeder weitere Tag bringt uns näher an den Abgrund, eine Woche könnte eine Katastrophe auslösen.« »Wir sind noch nicht soweit. Wir brauchen Zeit«, warf einer der anderen Männer in dem Erste-Klasse-Abteil ein. Mit Man fred waren sie zu acht in dem Zugabteil. Sie hatten den süd wärts fahrenden Expreßzug einzeln an verschiedenen Bahnhö fen auf den letzten zweihundert Meilen bestiegen. Der Schaff ner war ein Sympathisant, und auf dem Gang vor dem Abteil lungerten Stormjagters herum, um Wache zu halten. Niemand konnte zu ihnen gelangen oder ihr Gespräch belauschen. »Sie haben uns noch zehn Tage gegeben, um die letzten Vor bereitungen treffen zu können.« 641
»Wir haben die zehn Tage nicht mehr. Haben Sie denn nicht gehört, was ich gerade erzählt habe?« »Es ist nicht zu machen«, wiederholte der Mann eigensinnig. »Es ist zu machen«, erwiderte Manfred mit erhobener Stim me. »Es muß zu machen sein!« Energisch mischte sich der Administrator in die Diskussion: »Schluß damit, meine Herren. Sparen wir uns das Kämpfen für unsere Feinde auf.« Mit sichtlicher Mühe dämpfte Manfred seinen Tonfall. »Ent schuldigen Sie bitte meinen Ausbruch. Doch ich wiederhole, daß wir keine Zeit mehr zu verlieren haben. Das Fortschaffen der Waffen aus der Eisenbahnwerkstatt ist entdeckt, zehn unserer Leute sind festgenommen worden. Einer unserer Leute im CIDHauptquartier hat uns mitgeteilt, daß für über zweihundert unserer ranghöchsten Mitglieder Haftbefehle ausgestellt worden sind, die am Samstag vollstreckt werden sollen. Das ist in vier Tagen.« »Das wissen wir alle«, sagte der Administrator. »Was wir jetzt tun müssen, ist zu entscheiden, ob wir es uns leisten kön nen, den ganzen Plan auf einen früheren Zeitpunkt zu verlegen – oder ob wir ihn fallenlassen sollten. Ich möchte dazu jetzt die Meinung von Ihnen allen hören, und dann stimmen wir ab. Die Mehrheit entscheidet. Hören wir uns erst die Ausführungen von Brigadegeneral Koopmann an.« Alle blickten auf den General. Er trug Zivilkleidung, aber sei ne militärische Haltung war unverkennbar. Er breitete eine Landkarte auf dem Klapptisch aus und benützte sie, um seinen in geschäftsmäßig sachlichem Ton gehaltenen Bericht zu unter mauern. Als erstes erklärte er die Standorte der Truppen, Flug zeuge und Panzerwagen, die im Land geblieben waren, dann fuhr er fort: »Sie sehen also, daß die zwei größten Truppenkon zentrationen die in den Infanteriekasernen bei Roberts Heights und in Durban sind. Da sich fast hundertsechzigtausend Mann derzeit im Ausland aufhalten, sind das nicht mehr als fünftau send Soldaten. Abgesehen von den fünfzig Harvard 642
Schulungsmaschinen, gibt es keine modernen Flugzeuge. Da durch ist es möglich, zumindest für die kritischen Tage, die wir brauchen, um die Macht zu übernehmen, die Truppen außer Ge fecht zu setzen. Das erreichen wir, indem wir alle Hauptverbin dungsstraßen und Eisenbahnbrücken zerstören, besonders die über den Vaalfluß, den Oranjefluß und den Umzindusifluß.« Er sprach noch weitere zehn Minuten und faßte dann zu sammen: »Wir haben bis hinauf zum Generalstab Männer in führenden Positionen sitzen, und sie sind imstande, uns vor jeder Sofort maßnahme durch die Armee zu bewahren. Danach werden sie die Smuts-Anhänger im Generalstab festnehmen und internie ren und die Armee auf unsere Seite bringen, um die neue Re publikanische Regierung zu unterstützen.« Nacheinander gab jeder der anwesenden Männer seinen Be richt ab. Manfred sprach als letzter. »Meine Herren«, begann er, »ich war während der letzten zwölf Stunden ständig in direktem Funkkontakt mit der deut schen Abwehr beziehungsweise ihrem Vertreter in Angola. Er läßt uns abermals das Vertrauen des deutschen Oberkomman dos und des Führers aussprechen. Ein deutsches U-BootVersorgungsschiff liegt derzeit mit einer Fracht von über fünf hundert Tonnen Waffen nur dreihundert nautische Meilen von Kapstadt entfernt. Das Schiff wartet nur auf unser Signal, um uns zu Hilfe zu kommen.« Er sprach ruhig und überzeugend und spürte, daß die Stimmung zu seinen Gunsten umschlug. Nachdem er geendet hatte, blieb es eine Weile still, dann sag te der Administrator: »Wir haben nun alle Fakten vor uns lie gen. Wir müssen die Entscheidung treffen. Die einzig richtige. Bevor die Regierung uns und die anderen rechtmäßigen Führer unseres Volkes verhaften und einkerkern kann, erheben wir uns und setzen die gegenwärtige Regierung ab, um die Macht zu übernehmen und unsere Nation auf den Weg der Freiheit und Gerechtigkeit zurückzuführen. Ich werde Sie jetzt der Reihe 643
nach fragen.« »Ja«, sagte der erste. »Ek stem ja. Ich sage ja.« »Ek stem ook ja. Ich sage auch ja.« Schließlich faßte der Administrator zusammen: »Wir sind al le dafür – nicht ein einziger von uns ist gegen das Unterneh men.« Er hielt inne und wandte sich an Manfred De La Rey. »Sie haben von einem Signal gesprochen, das die ganze Aktion ins Rollen bringen wird.« »Das Signal ist die Ermordung des Verräters Jan Christian Smuts«, sagte Manfred. Sie starrten ihn stumm an. Es war offensichtlich, daß sie alle etwas Folgenschweres erwartet hatten, aber keinesfalls das. »Die Einzelheiten dieses politischen Attentats sind sorgfältig geplant worden«, erklärte Manfred. »In Berlin hat man drei verschiedene Pläne ausgearbeitet, jeder im Hinblick auf die Umstände zum Zeitpunkt der Ausführung. Der erste Plan ent spricht genau der jetzigen Situation. Smuts wird kommenden Samstag hingerichtet. Also in drei Tagen – einen Tag bevor die Verhaftung unserer Führer vorgenommen werden soll.« Die Stille hielt noch eine Minute länger an, dann fragte der Administrator: »Wo und wie wird es stattfinden?« »Das ist nicht wichtig für Sie. Ich werde es ausführen – allein und ohne Hilfe. Ihnen obliegt es, schnell und effektiv zu han deln, sobald die Nachricht von Smuts’ Tod bekanntgegeben wird. Sie müssen an seine Stelle treten und die Zügel der Macht in die Hand nehmen.« »So soll es geschehen«, sagte der Administrator ruhig. »Wir werden uns bereithalten. Gott segne unseren Kampf.« Von den acht Männern im Abteil blieb schließlich nur Man fred zurück, als der Zug den Bahnhof von Bloemfontein verließ und südwärts in Richtung Kapstadt stampfte.
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Shasa war seit der Entdeckung des Waffendiebstahls in Pre toria weder zu Hause in Weltevreden gewesen, noch hatte er Tara wiedergesehen. Er hatte das CID-Hauptquartier während der ganzen Zeit nicht verlassen, aß in der Polizeikantine und schlief ab und zu ein paar Stunden in dem Ruheraum, der eine Etage über der Kommandozentrale eingerichtet worden war. In der übrigen Zeit war er voll und ganz mit den Vorbereitungen für die ge plante Polizeiaktion beschäftigt. Allein in der Kapprovinz waren fast hundertfünfzig Verhaf tungen vorzunehmen. Für jede mußte ein Haftbefehl ausge stellt, der voraussichtliche Aufenthaltsort der betreffenden Per son festgestellt und für jede Verhaftung ein Polizeibeamter abkommandiert werden. Der Sonntag war bewußt gewählt worden, weil fast alle zu verhaftenden Personen gläubige Kalvinisten waren, Mitglieder der Reformierten Holländischen Kirche. Sie würden am Sonn tagmorgen den Gottesdienst besuchen, wodurch ihr Aufent haltsort mit einem hohen Maß an Sicherheit vorauszusehen war. Erst Freitag mittag fiel Shasa wieder ein, daß am Tag darauf das Geburtstagspicknick für seinen Großvater stattfand. Er rief Centaine von der Kommandozentrale aus in Weltevreden an. »Oh, chéri, das ist aber keine gute Nachricht. Sir Garry wird sehr enttäuscht sein. Er hat seit seiner Ankunft jeden Tag nach dir gefragt – und wir anderen freuen uns auch schon darauf, dich wiederzusehen.« »Tut mir leid, Mutter.« »Kannst du dich nicht wenigstens für eine Stunde freima chen, um herzukommen?« »Das ist nicht möglich. Glaub mir, Mutter, ich bin ebenso enttäuscht wie alle anderen.« »Du brauchst ja nicht mit auf den Berg zu gehen, Shasa. Komm einfach vorher einen Sprung hierher und trink ein Glas 645
Champagner mit uns. Danach kannst du gleich wieder zurück fahren und mit deiner wichtigen Arbeit weitermachen. Versuch es wenigstens, chéri – mir zuliebe.« Sie spürte, daß er schwankte. »Blaine und Feldmarschall Smuts sind auch da. Sie haben es versprochen. Wenn du um acht Uhr kommst, um deinem Großvater zum Geburtstag zu gratulieren, kannst du spätestens um halb neun wieder fahren.« »Also gut, Mutter«, kapitulierte er schließlich. »Findest du es nicht langweilig, immer deinen Kopf durchzusetzen?« »Das ist etwas, das ich zu ertragen gelernt habe, chéri«, gab sie lachend zurück. »Dann bis morgen.« Ein wenig schuldbewußt, ihr wieder einmal nachgegeben zu haben, legte er auf. Er wollte gerade Tara anrufen, um ihr zu sagen, daß er nicht zum Picknick auf den Berg mitgehen wür de, als ihn einer der Sergeants am anderen Ende des Raumes rief. »Major Courtney, ein Anruf für Sie.« »Wer ist es?« »Das hat sie nicht gesagt, aber es ist eine Frau«, antwortete er, und Shasa ging lächelnd zum Telefon. Tara war ihm zuvor gekommen. »Hallo, bist du es, Tara?« sagte er in die Sprechmuschel, doch am anderen Ende blieb es bis auf ein nervöses Atmen still. Shasas Nerven spannten sich, er senkte die Stimme und versuchte so freundlich und beruhigend wie möglich zu klin gen, als er ins Afrikaans wechselte. »Hier spricht Major Courtney. Sind Sie die Dame, mit der ich schon einmal gesprochen habe?« »Ja, die bin ich.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Was Sie getan haben, hat vielen Menschen das Leben gerettet – vielen unschuldigen Menschen, vielleicht sogar Frauen und unschuldigen Kindern.« Das schien den Ausschlag zu geben, denn plötzlich sprudelte sie hervor: »Es besteht noch immer große Gefahr. Sie planen 646
irgend etwas Schreckliches. ›Weißes Schwert‹ hat etwas vor. Schon bald, sehr bald. Ich hörte ihn sagen, daß es das Signal sein wird und daß es die ganze Nation in Aufruhr versetzen wird –« »Können Sie mir sagen, was es ist?« fragte Shasa und ver suchte beruhigend zu klingen, um sie nicht zu erschrecken. »Was hat er vor?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß es sehr bald sein wird.« »Können Sie, vor allem den Frauen und Kindern zuliebe, he rauszufinden versuchen, was es ist?« »Ja, ich werde es versuchen.« »Ich bin hier unter dieser Telefonnummer zu erreichen –« Plötzlich fiel ihm ein, was er Centaine versprochen hatte. »Oder unter folgender Nummer –« Er gab ihr die Nummer von Weltevreden. »Versuchen Sie es zuerst hier, und wenn ich nicht da bin, rufen Sie die andere Nummer an.« »Verstanden.« »Können Sie mir sagen, wer ›Weißes Schwert‹ ist?« Damit ging er ein gewisses Risiko ein. »Wissen Sie seinen richtigen Namen?« Es knackte in der Leitung, und die Verbindung war unterbro chen. Shasa ließ langsam den Hörer sinken und starrte das Te lefon an. Er spürte, daß er sie mit dieser letzten Frage für im mer verscheucht hatte. Etwas, das die ganze Nation in Aufruhr versetzen wird. Ihre Worte ließen ihn nicht mehr los, und eine dunkle Vorahnung von drohendem Unheil quälte ihn. Manfred lenkte den Wagen gelassen an den Universitätsge bäuden vorbei den Rhodos Drive hinunter. Es war nach Mitter nacht, die Straßen waren fast menschenleer. Der Wagen, den er fuhr, war ein unauffälliger kleiner Morris, und das Gewehr lag in seinem Futteral unter einer Plane verborgen. Manfred trug 647
einen blauen Overall, darüber eine dicke Fischerweste sowie einen schweren Mantel. Er begab sich schon jetzt auf seinen Posten, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, bei Tageslicht mit einem Gewehr auf dem Berg gesehen zu werden. Am Wochenende wimmelte es auf dem Tafelberg von Wanderern und Kletterern, Vogelkundlern und Spaziergängern, Pfadfindern und Liebespaaren. Er fuhr an der Forststation vorbei und bog in den De Waal Drive ab. Bevor er den Constantia Nek passierte, verlangsamte er die Geschwindigkeit und blickte in den Rückspiegel, um sicherzugehen, daß ihm kein anderer Wagen folgte. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und schwenkte scharf in den Forstweg ein. Im Schrittempo fuhr er bis zur Forstschranke. Dann hielt er an, stieg aus, ohne den Motor abzustellen, und ging zur Schranke, um sie aufzusperren. Roelf hatte ihm den Schlüssel besorgt und versichert, daß der Förster ein Freund sei. Manfred fuhr den Morris hinter die Schranke und machte sie wieder zu, ohne abzusperren. Er fuhr die engen Serpentinen des Reitweges hinauf. Unmit telbar unter dem Hochplateau wendete er den Morris und fuhr ihn rückwärts ein Stück in den Wald hinein, damit er nicht von zufällig vorbeikommenden Wanderern entdeckt würde. Er nahm das Mausergewehr aus dem Futteral und wickelte es vor sichtig in ein Stück Segeltuch. Dann verschloß er die Wagentü ren und ging, das Gewehr über der Schulter, den Weg zurück in Richtung Höhenpfad, der um den Tafelberg herumlief. Er benutzte seine Taschenlampe so wenig wie möglich. Nach zwanzig Minuten erreichte er den Pfad, der direkt durch die Skelettschlucht auf den Gipfel führte. Manfred stieg, ohne zu rasten, die dreihundertfünfzig Höhenmeter durch die Skelettschlucht hinauf bis zum Gipfel. Hier blieb er einen Au genblick stehen, um zurückzublicken. Tief unter ihm lag das Constantiatal, bis auf ein paar vereinzelte Lichter war es dun 648
kel. Er hatte das Gelände zwei Tage vorher ausgekundschaftet und die Stelle gewählt, von wo aus er schießen würde. Dann hatte er die Entfernung von dort bis zu dem Punkt gemessen, wo ein Mann, der auf dem Pfad den Gipfel betrat, in sein Blickfeld treten würde. Nun bezog er seine Stellung. Es war eine Mulde zwischen zwei Felsblöcken, die durch niedriges Gestrüpp ein wenig ab geschirmt war. Er breitete die Plane über den Adlerfarn und streckte sich aus. Er drehte sich auf den Bauch und ging in Schußstellung, leg te den Schaft der Mauser gegen seine Wange und zielte auf den Scheitelpunkt des Pfades in zweihundertfünfzig Meter Entfer nung. Durch die Zeisslinse konnte er jeden einzelnen Zweig an dem Strauch, der neben dem Pfad wuchs, ausmachen. Er legte die Waffe griffbereit vor sich hin. Dann stellte er den Mantelkragen hoch und kauerte sich zusammen. Es würde eine lange, kalte Nacht werden. Sein Wild sollte am nächsten Mor gen etwa um zehn Uhr dreißig am Scheitelpunkt auftauchen und ins Fadenkreuz seines Zielfernrohres treten. Das von der Abwehr in Berlin sorgfältig zusammengetragene Dossier über Jan Christian Smuts enthielt auch die Angabe, daß der Feldmarschall seit zehn Jahren jedes Jahr an diesem Tag mit einem alten Freund auf den Tafelberg steige, und nun hing das Schicksal einer ganzen Nation davon ab, daß er seiner Ge wohnheit auch in diesem Jahr treu blieb. Shasa fuhr die lange Auffahrt nach Weltevreden hinauf. Vor dem Herrenhaus parkten ein Dutzend Autos, darunter auch Blaines Bentley. Shasa stellte den Jaguar daneben ab und schaute auf seine Armbanduhr. Es war zehn Minuten nach acht. Er kam zu spät, was ihm seine Mutter bestimmt übel nahm, da sie streng auf Pünktlichkeit achtete. Sie überraschte ihn wieder einmal, indem sie von der langen 649
Tafel im Eßzimmer aufsprang und herbeieilte, um ihn zu um armen. Zwanzig Gäste waren um den festlich gedeckten Früh stückstisch versammelt. Alle waren sie da, alle, die Shasa liebte – Großvater Garry am oberen Ende des Tisches, munter wie ein Kobold, Anna an seiner Seite, wie eine freundliche Bulldogge über das ganze Gesicht strahlend, Tara, schön wie ein Frühlingsmorgen, Mat ty, sommersprossig und rothaarig, Blaine, der Ou Baas und natürlich Mutter. Nur David fehlte. Shasa begrüßte jeden einzeln, lachte, tauschte Neckereien aus, schüttelte Hände, umarmte und küßte. Er überreichte Großvater Garry sein Geschenk und blieb neben ihm stehen, als dieser die Sonderausgabe von »Burchell’s Travels« aus packte und einen Freudenschrei ausstieß. Er gab dem Ou Baas respektvoll die Hand und freute sich über sein knappes Lob: »Sie leisten gute Arbeit.« Schließlich wechselte er noch ein paar Worte mit Blaine, bevor er sich am Büffet einen Teller füllte und zwischen Tara und seiner Mutter Platz nahm. Nur zu bald erhoben sich alle, die Frauen holten ihre Mäntel, die Männer gingen zu den Wagen und überzeugten sich davon, daß die Decken und Picknickkörbe verstaut waren. »Es tut mir leid, daß du nicht mitkommen kannst, Shasa.« Großvater Garry zog ihn beiseite. »Ich hatte gehofft, wir könn ten einmal gemütlich miteinander plaudern, aber ich hörte von Blaine, wie wichtig deine Arbeit ist.« »Ich werde versuchen, morgen abend herzukommen. Bis da hin sollte eigentlich das Schlimmste vorbei sein.« »Ich gehe nicht nach Natal zurück, bevor wir nicht ein paar Stunden zusammen verbracht haben. Immerhin bist du mein einziger Enkel und wirst den Namen Courtney weitertragen.« Shasa empfand eine tiefe Zuneigung für diesen weisen und gütigen alten Mann. Die Tatsache, daß sie beide verstümmelt waren – Sir Garrys Bein und Shasas Auge –, schien sie einan der irgendwie noch näher gebracht zu haben. 650
»Es ist Jahre her, daß ich dich und Anna auf Theuniskraal be sucht habe«, sagte Shasa impulsiv. »Darf ich kommen und ein paar Wochen bei euch verbringen?« »Nichts würde uns mehr Freude bereiten.« Smuts trat zu ihnen. »Redest du noch immer, alter Freund? Komm endlich. Wir haben noch eine Bergwanderung vor uns, und wer als letzter oben ankommt, wird ins Altersheim ge schickt.« Die beiden grinsten einander zu. Sie hätten Brüder sein kön nen – beide leicht gebaut, aber drahtig und zäh, beide mit ei nem kleinen silbrigen Spitzbart am Kinn und unbeschreibli chen Hüten auf dem Kopf. »Vorwärts!« Sir Garry schwang seinen Spazierstock, hakte sich beim Feldmarschall unter und ging mit ihm zu Centaines gelbem Daimler. Der Daimler führte den Konvoi an, und Blaines Bentley folg te. Tara warf Shasa, der auf der Freitreppe stand, im Vorbeifah ren noch eine Kußhand zu. Er ging ins Haus zurück, eilte über die Treppe in sein Zim mer hinauf, nahm einen Stapel sauberer Hemden, Socken und Unterhosen aus dem Schrank und stopfte alles in eine Reiseta sche. Auf dem Weg nach unten besann er sich, ging in Centaines Arbeitszimmer und nahm den Telefonhörer ab. Einer der diensthabenden Polizisten in der Kommandozentrale im CIDHauptquartier meldete sich. »Hallo, Sergeant. Gab es irgendwelche Anrufe für mich?« »Einen Augenblick, Sir, ich sehe rasch nach.« Ein paar Se kunden später war er wieder am Apparat. »Nur einer, Sir, vor zehn Minuten. Eine Frau – sie wollte ihren Namen nicht nen nen.« »Danke, Sergeant«, sagte Shasa und legte hastig auf. Er be merkte, daß seine Hand zitterte. Das mußte sie gewesen sein. Warum rief sie nicht hier an? Sie hatte doch die Nummer. 651
Er stand über das Telefon gebeugt und wartete. Nichts ge schah. Nach fünf Minuten begann er ruhelos zwischen der brei ten Terrassentür und dem Schreibtisch auf und ab zu gehen, ohne das Telefon aus den Augen zu lassen. Er war unschlüssig. Sollte er ins CID-Hauptquartier zurückkehren, falls sie noch einmal dort anrief? Und wenn sie in der Zwischenzeit hier an rief? Oder sollte er den Sergeant anrufen? Aber dadurch würde er die Leitung blockieren. »Komm schon!« murmelte er. »Na los, komm schon!« Er warf einen Blick auf die Uhr. Fünfunddreißig Minuten hatte er bereits vergeudet. Er trat an den Schreibtisch und streckte die Hand nach dem Telefon aus, aber bevor er es berührte, begann es zu klingeln. Er riß den Hörer hoch. »Major Courtney«, meldete er sich in Afrikaans. »Sind Sie es, Mevrou?« »Ich hatte die Nummer vergessen – ich mußte erst noch ein mal nach Hause zurück, um sie zu holen«, sagte sie atemlos. Sie war offenbar gelaufen. »Ich konnte nicht früher anrufen – ich war nicht allein, mein Mann –« Sie brach ab. »Ist schon in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen, alles ist in bester Ordnung.« »Nein«, erwiderte sie. »Was sie vorhaben, ist schrecklich. Einfach schrecklich.« »Möchten Sie es mir sagen?« »Sie wollen den Feldmarschall töten –« »Den Feldmarschall?« »Den Ou Baas – Feldmarschall Smuts.« Für einen Augenblick verschlug es Shasa die Sprache, doch dann nahm er sich zusammen. »Wissen Sie, wann sie es tun wollen?« »Heute. Er soll heute erschossen werden.« »Das ist nicht möglich –« Er wollte es nicht glauben. »Der Ou Baas ist heute auf dem Tafelberg. Er nimmt an einem Pick 652
nick mit –« »Ja! Ja!« Die Frau schluchzte jetzt. »Auf dem Berg. ›Weißes Schwert‹ wartet auf dem Berg auf ihn.« »O mein Gott!« flüsterte Shasa. Er war wie gelähmt. Seine Beine fühlten sich an wie aus Blei, ein Stahlring schien seine Lungen zusammenzupressen, so daß er für einen Augenblick keine Luft bekam. »Sie sind eine mutige Frau«, stieß er schließlich hervor. »Danke für alles, was Sie getan haben.« Er warf den Hörer auf die Gabel und riß die Schreibtisch schublade auf. Die Beretta-Pistolen mit der Goldgravur lagen noch in der Geschenkkassette. Er nahm eine heraus und prüfte, ob sie geladen war. Sechs Patronen steckten im Magazin, und in der Kassette fand er noch ein Extramagazin. Er steckte die Pistole in den Gürtel und das Magazin in die Tasche und eilte zur Tür. Auf größere Entfernung war die Pistole nutzlos, aber die Jagdgewehre hingen in einer verschlossenen Vitrine im Ge wehrraum, und der Schlüssel dazu lag im Jaguar. Es würde wertvolle Minuten kosten, den Schlüssel zu holen, die Vitrine aufzuschließen, sein Mannlicher herausnehmen und die Muni tion zu holen. Die Picknickgesellschaft hatte einen Vorsprung von fast vierzig Minuten. Inzwischen hatten sie bereits den halben Weg auf den Berg zurückgelegt. Und oben wartete ein Mörder auf sie. Er rannte die Eingangstreppe hinunter und schwang sich in den offenen Jaguar. Der Motor heulte auf, und Shasa raste los. Ein paarmal wäre er fast von der Straße abgekommen, als er den Jaguar mit quietschenden Reifen durch die Kurven jagte, dennoch brauchte er volle fünfzehn Minuten bis zu dem Park platz am Fuß des Berges. Die anderen Wagen standen alle da, sonst aber war der Parkplatz leer. Er warf einen flüchtigen Blick den Berg hinauf, der sechs hundert Meter über ihm emporragte. Auf dem Pfad oberhalb 653
der Waldgrenze entdeckte er ein paar Farbtupfen, die sich be wegten. Großvater und der Ou Baas gingen wie immer in scharfem Tempo voraus, um allen zu beweisen, daß sie noch in Form waren, und als Shasa wegen des Sonnenlichts die Hand an die Stirn legte, konnte er Centaines gelbes Kleid und Taras türkisfarbenen Rock erkennen. Sie waren weit hinter den ande ren zurückgeblieben. Shasa lief los. Er nahm die erste leichte Steigung im Lauf schritt. Als er den Höhenweg erreichte, blieb er kurz stehen, um ein paarmal tief Atem zu holen. Der Pfad wurde nun steil und führte an einem Bach entlang durch den Wald. Shasa ging mit schnellen Schritten weiter. Keuchend und mit schweißdurchnäßtem Hemd erreichte er schließlich die Waldgrenze. Bis zum Gipfel waren es noch fast dreihundert Höhenmeter, aber er sah sofort, daß er der Pick nickgesellschaft näher gekommen war. Sie bewegten sich in einer unregelmäßigen Reihe den Pfad hinauf. Die zwei Gestalten an der Spitze waren Großvater und der Ou Baas, aber nur ein paar Schritte hinter ihnen ging Blai ne. Die übrigen gingen einzeln oder in Gruppen weiter hinten, und die Frauen waren weit zurück. Shasa holte tief Luft und schrie. Die Frauen blieben stehen und schauten zurück. »Halt!« brüllte er aus vollem Hals. »Halt!« Eine der Frauen winkte – vermutlich war es Matty –, dann gingen sie weiter. Sie hatten ihn nicht erkannt und auch seinen Ruf nicht verstanden. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Wanderer. Die drei Männer an der Spitze näherten sich bereits dem Gipfel. Shasa begann mit Riesenschritten weiter hochzusteigen und zwang sich, das Brennen in seiner Lunge und die wachsende Müdigkeit in den Beinen zu ignorieren. Tara schaute sich um, als er nur noch drei Meter hinter ihr war. 654
»Shasa!« rief sie freudig überrascht. »Was tust du hier –?« Er eilte an ihr vorbei. »Kann jetzt nicht«, keuchte er und überholte zuerst Anna und dann Centaine. »Was ist los, Shasa?« »Später!« Für mehr Worte fehlte ihm die Luft. Er brauchte jetzt seine ganze Kraft für seine schmerzenden Beine. Der Schweiß lief ihm ins Auge und nahm ihm die Sicht. Er sah die Männer an der Spitze auf dem letzten Wegstück vor dem Gipfel und blieb stehen, um noch einmal zu rufen. Was dabei herauskam, war nur ein Pfeifen. Und dann sah er Großvater und den Ou Baas über den Kamm verschwinden. Blaine befand sich nur zwanzig Schritte hinter ihnen. Die Entfernung dämpfte den Schuß, trotzdem erkannte Shasa den typischen scharfen Knall einer Mauser. Er nahm den Rest seiner Kraft zusammen und rannte in gro ßen Sätzen den Hang hinauf. Er hörte jemanden schreien. Viel leicht war es auch nur sein eigenes wildes Keuchen und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Als es geschah, geschah es mit einer Plötzlichkeit, die jeden anderen überrascht hätte. Es geschah ohne jede Vorwarnung, ohne jedes Geräusch von Schritten oder Stimmen. Dafür war die Entfernung zu groß. Die menschliche Gestalt tauchte ganz plötzlich lautlos über dem Kamm auf und zeichnete sich klar gegen das Blau des Himmels ab. Manfred war darauf gefaßt. Er hob mit einer fließenden Bewegung das Gewehr an die Schul ter, und sein Auge schob sich automatisch vor das Zielfernrohr. Er brauchte die Zielrichtung gar nicht zu ändern, das Bild des Mannes erschien augenblicklich in seinem Blickfeld – stark vergrößert und scharf umrissen. Es war ein alter Mann mit mageren schmalen Schultern, ei nem offenen weißen Hemd und einem alten, verblichenen Pa namahut auf dem Kopf. Sein silberner Spitzbart funkelte im 655
Sonnenschein. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs lag genau über der Mitte der schmalen Brust. Keine Faxen, hatte Manfred beschlossen, keinen Kopfschuß, sondern einen sauberen Schuß ins Herz. Er betätigte den Abzug, der Schaft stieß gegen seine Schul ter, und der Schuß dröhnte in seinen Ohren. Er sah die Kugel einschlagen. Der zerbrechliche alte Körper wurde zurückgeschleudert und fiel ins hohe Gras. Manfred sprang auf und rannte los. Jeder Meter seines Fluchtweges bis zum Morris war genau geplant, und eine freu dige Erregung beschleunigte seinen Lauf. Hinter ihm schrie jemand, es war ein bestürzter Klagelaut, aber Manfred rannte, ohne zurückzuschauen, weiter. Shasa erreichte im Laufschritt den Gipfel. Die beiden Män ner knieten neben dem Körper, der im Gras lag. Sie schauten mit betroffenen Gesichtern zu ihm auf. Shasa warf nur einen flüchtigen Blick auf den Mann, der mit dem Gesicht nach unten im Gras lag. Nach der riesigen Aus trittswunde zu schließen, handelte es sich um ein Dumdumge schoß. Das Loch im Brustkorb war so groß, daß zwei Männer fäuste darin Platz gefunden hätten. Es gab keine Hoffnung mehr. Er war tot. Shasa straffte sich. Zum Trauern war später Zeit. Jetzt galt es zu handeln. »Haben Sie den Täter gesehen?« keuchte er. »Ja.« Blaine sprang auf. »Ich hab’ ihn kurz gesehen. Er ist in Richtung Oudekraal Kop geflüchtet und trägt einen blauen Overall.« Shasa kannte diese Seite des Berges wie seine Hosentasche, jeden Pfad und jeden Felsen, jede Schlucht und jeden Graben zwischen Constantia Nek und dem Bergsattel. Der Mörder hatte einen Vorsprung von knapp zwei Minuten. »Der Reitweg«, keuchte Shasa. »Er will zum Reitweg. Ich 656
versuche ihn oberhalb der Nursery Ravine abzufangen.« Er rannte los. »Shasa, sei vorsichtig!« rief Blaine ihm nach. »Ich habe ge sehen, daß er das Gewehr noch bei sich hat.« Der Reitweg war die einzige befahrbare Straße auf den Berg, überlegte Shasa im Laufen, und die Sache war bestimmt so sorgfältig geplant, daß der Mörder ein Fluchtfahrzeug haben mußte, das irgendwo am Reitweg abgestellt war. Der Fußweg lief in einer weiten Schleife um den Oudekraal Kop, führte an der oberen Kante der Nursery Ravine vorbei und stieß eine halbe Meile weiter unten auf den Reitweg. Aber es gab eine kaum begangene, schwierige Abkürzung, die steil hinunterführte. Ihr Beginn war nicht leicht zu finden, und wenn man die falsche Route wählte, endete der Weg irgendwo im Nichts an einem Abgrund. Fand er sie aber, sparte er sich ein Viertel der Strecke. Er fand die Stelle und bog ab. An zwei Punkten war der Weg so überwuchert, daß er sich mit Gewalt durch das Unterholz arbeiten mußte. An einer anderen Stelle unmittelbar über dem Abgrund war der Steig abgebrochen. Er mußte einen Anlauf nehmen, um die Bresche, unter der es hundertfünfzig Meter in die Tiefe ging, mit einem weiten Satz zu überspringen. Er lan dete auf den Knien, rappelte sich wieder hoch und rannte wei ter. Dann brach er unerwartet auf den Hauptweg hinaus und stieß mit dem blaugekleideten Mörder zusammen, der in vollem Lauf aus der Gegenrichtung kam. Shasa bekam einen flüchtigen Eindruck von der Größe des Mannes und von der Breite seiner Schultern, dann stürzten sie Brust an Brust zu Boden und rollten, einander umklammernd, den Pfad hinunter. Beim Aufprall hatte der Mörder das Gewehr fallen lassen, aber Shasa spürte die elastische Härte seiner Muskeln, und dieser erste Beweis seiner Kraft schockierte ihn. Er wußte sofort, daß er körperlich unterlegen war. Obwohl er 657
sich mit aller Kraft wehrte, drehte der Mann ihn auf den Rük ken und drückte ihn mit seinem Gewicht zu Boden. Ihre Gesichter waren nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Der Mann hatte einen lockigen dunklen Bart, eine gekrümmte Nase und dichte schwarze Augenbrauen. Aber was Shasa erschreckte, waren seine Augen. Sie waren gelb und ir gendwie furchtbar vertraut. Und eben diese Augen waren es, die Shasas Entsetzen in übermenschliche Kraft verwandelten. Er konnte einen Arm aus dem Griff des Mörders befreien und ihn weit genug zurückstoßen, um die Beretta aus dem Gürtel zu ziehen. Die Waffe war nicht entsichert, aber er stieß den kurzen Lauf gegen die Schläfe des Mannes. Der Griff des Mörders löste sich, und er sank zurück. Shasa richtete sich auf die Knie auf und entsicherte die Beretta hastig. Mit einem metallischen Klicken rastete eine Patrone in der Kammer ein, und Shasa hob die Pistole. Bis zu diesem Augen blick hatte er nicht bemerkt, wie nahe sie dem Abgrund waren. Er kniete unmittelbar an der Kante, und als er versuchte, auf den bärtigen Kopf zu zielen, zog der Mörder die Beine an und trat Shasa mit beiden Füßen in die Brust. Shasa wurde zurückgeschleudert. Der Schuß krachte, ging ins Leere, und Shasa stürzte in den Abgrund. Unter ihm ging es ein paar hundert Meter in die Tiefe, aber er wurde schon nach ein paar Metern von einer jungen Kiefer aufgefangen, die in einer Felsspalte Halt gefunden hatte. Halb betäubt und benommen klammerte er sich an die Äste und schaute nach oben. Der Kopf des Mörders tauchte über der Felskante auf, und diese eigenartigen gelben Augen starrten ihn für einen Augenblick an, bevor der Kopf wieder verschwand. Shasa hörte Schritte auf dem Pfad und dann das unverkennbare Geräusch eines Gewehrbolzens beim Nachladen. Er will mich auch umbringen, dachte er und bemerkte erst jetzt, daß er in der rechten Hand noch immer die Beretta hielt. Mit der Kraft der Verzweiflung schlang er den linken Arm 658
um den dünnen Kiefernstamm und richtete die Pistole auf die Felskante über ihm. Oben erschienen der Kopf und die Schultern des Mörders und der Lauf der Mauser. Aber die Waffe war zu lang für die sen Schußwinkel, und Shasa feuerte, bevor sein Gegner ihn ins Visier nehmen konnte. Er hörte den Einschlag der leichtkali brigen Pistolenkugel, und der Mörder verschwand stöhnend aus seinem Blickfeld. Kurz darauf hörte er jemanden aus der Ferne schreien und erkannte Blaines Stimme. Eilige Schritte entfernten sich, als der Mörder die Flucht er griff, und eine Minute später tauchte Blaines Kopf über der Felskante auf. »Halt dich fest!« Blaines Gesicht war vor Anstrengung gerö tet, und seine Stimme klang gepreßt. Er zog den breiten Leder gürtel aus den Schlaufen an seinem Hosenbund und schloß ihn zu einer Schlinge. Flach auf dem Bauch liegend, ließ er den Gürtel herunter, Shasa hakte sich ein. Obwohl Blaine ein kräf tiger Mann mit vom Polospiel überdurchschnittlich entwickel ten Arm- und Brustmuskeln war, dauerte es ein paar Minuten, bevor er Shasa über die Felskante ziehen konnte. Einen Augenblick blieben beide erschöpft liegen. Dann kam Shasa unsicher auf die Beine und stolperte den Pfad hinunter, um den flüchtigen Mörder weiter zu verfolgen. Nach ein paar Schritten überholte ihn Blaine und lief kraftvoll voran. »Blut!« Blaine deutete keuchend auf ein paar rote Flecke auf einem flachen Stein in der Mitte des Weges. »Du hast ihn ge troffen!« Schließlich stießen sie auf den breiten Reitweg und rannten, durch das leichte Gefälle begünstigt, Seite an Seite weiter, aber sie hatten die erste Kurve noch nicht erreicht, als im Wald un ter ihnen ein Motor gestartet wurde. »Er hat einen Wagen!« keuchte Blaine, als der Motor auf heulte. Dann entfernte sich das Motorengeräusch rasch. Sie blieben stehen und hörten, wie es in der Ferne verklang. Shasas 659
Beine trugen ihn nicht mehr länger. Er ließ sich mitten auf dem Weg zu Boden sinken. Das nächste Telefon befand sich in der Cecilia-Forststation. Shasa rief Inspektor Nel im CID-Hauptquartier an und gab ihm die genaue Beschreibung des Mörders durch. »Sie werden schnell handeln müssen. Der Mann hat seine Flucht offenbar sorgfältig geplant.« In der Forststation war eine Tragbahre des Wandervereins deponiert, denn der Tafelberg forderte jedes Jahr einige Men schenleben. Der Förster gab ihnen sechs seiner schwarzen Ge hilfen mit, um die Bahre zu tragen, und begleitete sie auf den Gipfel. Centaine und Anna weinten haltlos und klammerten sich trostsuchend aneinander. Sie hatten eine Decke über den Toten gebreitet. Shasa kniete neben der Leiche nieder und hob die Decke hoch. Sir Garry Courtneys Gesichtszüge waren im Tod einge fallen, so daß seine Nase noch größer und spitzer wirkte, aber das Gesicht strahlte Würde aus. Shasa küßte die Stirn des Toten und fühlte die kühle, samtig weiche Haut unter seinen Lippen. Als er sich erhob, legte ihm Feldmarschall Smuts die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte der alte Feldmarschall. »Diese Kugel war für mich bestimmt.« Manfred De La Rey steuerte den Wagen mit einer Hand an den Straßenrand. Ohne auszusteigen oder den Motor abzustel len, knöpfte er das Oberteil seiner Montur auf. Die Kugel war direkt unterhalb seiner Achselhöhle in den fe sten Brustmuskel eingetreten und aufwärts vorgedrungen. Er konnte keine Austrittswunde finden. Die Kugel steckte also noch in seinem Körper. Er betastete vorsichtig seine Schulter und fand eine Schwellung, die unter der Berührung so stark 660
schmerzte, daß er fast laut aufgeschrien hätte. Die Kugel lag unmittelbar unter der Haut, schien jedoch nicht durch den Brustkorb gedrungen zu sein. Er drückte sein Ta schentuch gegen die Wunde an der Achsel und knöpfte den Overall wieder zu. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Seit dem Schuß, der sein Volk befreien wür de, waren erst dreiundzwanzig Minuten vergangen. Ein ungeheures Triumphgefühl ließ ihn den Schmerz verges sen. Er steuerte den Wagen wieder auf die Straße und fuhr langsam um den Berg herum bis zur Hauptstraße und dann durch Woodstock hindurch. Am Tor des Rangierbahnhofes zeigte er dem Wächter seinen Ausweis und durfte passieren. Er parkte den Morris vor den Aufenthaltsräumen für dienstfreie Heizer und Lokomotivführer. Die Mauser ließ er unter dem Sitz des Morris liegen. Um die Waffe und den Wagen würde man sich kümmern. Er betrat den Aufenthaltsraum durch die Hintertür und wurde bereits erwar tet. Roelf sprang besorgt auf, als er das Blut an seinem Overall sah. »Bist du verletzt? Was ist passiert?« »Smuts ist tot«, sagte Manfred, und seine Freude übertrug sich sofort auf die anderen. Sie brachen nicht in Jubel aus, son dern genossen still den Augenblick, der einen Wendepunkt in der Geschichte darstellen würde. Roelf brach nach ein paar Sekunden das Schweigen. »Du bist verletzt.« Während einer der Stormjagters hinausging und den Morris wegfuhr, half Roelf Manfred aus dem blutdurchtränkten Over all. Die Wunde blutete kaum noch, aber die Wundränder waren geschwollen und gerötet. Roelf säuberte sie und verband sie mit Bandagen aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Da Manfred seinen linken Arm nicht gebrauchen konnte, seifte Roelf ihm den Bart ein und rasierte ihn ab. Ohne den 661
Bart sah Manfred um Jahre jünger aus, aber er war blaß von dem Blutverlust. Sie halfen ihm in einen sauberen Overall, und Roelf setzte ihm die Heizermütze auf den Kopf. »Wir sehen uns bald wieder«, sagte Roelf zum Abschied. »Ich bin stolz darauf, dein Freund zu sein.« Der Lokomotivführer trat heran. »Wir müssen gehen«, sagte er. Roelf und Manfred schüttelten einander die Hand, dann dreh te Manfred sich um und schritt hinter dem Lokomotivführer aus dem Aufenthaltsraum und über den Bahnsteig zu der war tenden Lokomotive. Die Polizei hielt den nordwärts fahrenden Güterzug am Bahnhof Worcester an. Sie durchsuchten alle Waggons, und einer der Polizisten kletterte in den Führerstand, um auch den zu durchsuchen. »Was ist denn los?« fragte der Lokomotivführer. »Es hat einen Mord gegeben. Irgendein hohes Tier ist heute vormittag auf dem Tafelberg erschossen worden. Wir erhielten eine Beschreibung des Mörders. Auf allen Straßen sind Poli zeisperren errichtet worden, und wir durchsuchen jeden Wa gen, jedes Schiff und jeden Zug –« »Wer wurde denn ermordet?« fragte Manfred. Der Wachtmeister zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht, mein Freund, aber der Aufregung nach zu urteilen, war es eine wichtige Persönlichkeit.« Er kletterte vom Führerstand, und ein paar Minuten später konnte der Zug weiterfahren. Als sie Bloemfontein erreichten, war Manfreds Schulter dick angeschwollen und schmerzte unerträglich. Er kauerte benom men in einer Ecke des Führerstandes und stöhnte leise. Roelf hatte inzwischen angerufen und Freunde geschickt, die Manfred aus dem Bahnhofsgelände schleusten. »Wohin gehen wir?« »Zum Doktor«, erklärten sie ihm, und dann wurde ihm 662
schwarz vor den Augen. Das erste, was er wahrnahm, war der erstickende Geruch von Chloroform. Er lag in einem Bett in einem hellen, aber sparta nisch eingerichteten Zimmer. Auf einem Stuhl neben dem Fenster saß ein Mann, der sofort aufstand, als er merkte, daß Manfred wach war. »Wie fühlen Sie sich?« »Nicht schlecht. Ist es geschehen – ich meine, der Aufstand? Haben unsere Leute die Macht übernommen?« Der Mann starrte ihn verwundert an. »Sie wissen es noch nicht?« »Ich weiß nur, daß wir erfolgreich –« begann Manfred, aber der Mann nahm eine Zeitung vom Tisch und legte sie auf die Bettdecke. Er blieb neben Manfred stehen, als dieser die Schlagzeile las. MORD AUF DEM TAFELBERG.
OSSEWA BRANDWAG FÜR DEN MORD AN BERÜHM
TEM HISTORIKER VERANTWORTLICH.
SMUTS ORDNET VERHAFTUNG UND INTERNIERUNG
VON SECHSHUNDERT PERSONEN AN.
Manfred starrte verständnislos auf das Zeitungsblatt, und der Mann erklärte: »Sie haben den falschen Mann getötet. Nun hat Smuts den Vorwand, den er brauchte. Alle unsere Führer hat man festgenommen, und nach Ihnen wird gesucht. Es ist eine landesweite Menschenjagd. Sie können nicht hierbleiben. Wir erwarten, daß die Polizei jeden Augenblick hier eintrifft.« Manfred verließ die Stadt auf einem Lastwagen unter einer Ladung stinkender getrockneter Tierhäute. Die Ossewa Brandwag war durch die Verhaftungen stark dezimiert. Alle jene ihrer Mitglieder, die noch in Freiheit waren, gingen ängst lich in Deckung. Keiner von ihnen ging das Risiko ein, den Flüchtling bei sich aufzunehmen. Also wurde Manfred von 663
einem zum anderen weitergereicht. Auf den veröffentlichten Listen der Verhafteten fand er viele bekannte Namen, unter anderen auch den von Roelf und von Reverend Tromp Bierman. Er fragte sich, wie es Sarah, Tante Trudi und den Mädchen ginge, aber es fiel ihm schwer, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, denn er selbst fühlte sich wie ein gejagtes und verwundetes Tier. Für die Fahrt nach Johannesburg brauchte er acht Tage. Dort wußte er noch eine Adresse – seine letzte Verbindung zur Bru derschaft. Er stieg am Hauptbahnhof in die Straßenbahn Richtung Braamfontain Ridge und achtete im Vorbeifahren auf die Hausnummern. Die Nummer, die er suchte, war 36. Das Haus stand in einer Reihe von Doppelhäusern, und er erhob sich, um an der nächsten Straßenbahnhaltestelle auszusteigen. Dann sah er die blaue Polizeiuniform im Torweg von Haus Nummer 36 und sank auf seinen Platz zurück. An der Endstation der Stra ßenbahn stieg er schließlich aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es ein griechi sches Café. Manfred ging hinein, bestellte eine Tasse Kaffee, bezahlte mit seinen letzten Münzen und schlürfte langsam die heiße Flüssigkeit. Er war in den letzten acht Tagen etlichen Polizeisperren und Suchtrupps entronnen, aber er spürte, daß ihn sein Glück ver ließ. Es gab keinen Zufluchtsort mehr für ihn. Der Weg führte geradewegs auf den Galgen. Er starrte durch die schmutzige Glasscheibe, und sein Blick fiel auf das Straßenschild. Der Name der Straße kam ihm be kannt vor, aber es dauerte eine Weile, bis es ihm einfiel. Plötz lich faßte er wieder Mut und sah einen winzigen Hoffnungs schimmer vor sich. Er verließ das Café und folgte der Straße. Die Gegend ähnel te immer mehr einem Elendsviertel, und auf der schmutzigen, verwahrlosten Straße waren bald keine weißen Gesichter mehr 664
zu sehen. Aber er fand, was er suchte. Es war ein kleiner Ge mischtwarenladen, in dem sich eine Menge Schwarze drängten und lärmend und lachend ihre Einkäufe tätigten. Als Manfred den Laden betrat, wurde es augenblicklich still. Die Leute machten ihm, ohne ihn anzublicken, respektvoll Platz. Der Besitzer war ein älterer Zulu mit krausem, weißem Bart. Er ließ die Frau, die er gerade bediente, stehen und kam zu Manfred, um sich mit ehrerbietig geneigtem Kopf seine Bitte anzuhören. »Folgen Sie mir, Nkosi.« Er führte Manfred in den Lager raum hinter dem Laden. »Sie werden warten müssen«, sagte er und ließ ihn stehen. Manfred setzte sich auf einen Stapel Zuckersäcke. Er war hungrig und erschöpft, seine Schulter begann wieder zu schmerzen. Nach einer Weile schlief er ein und wachte erst wieder auf, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und eine tiefe Stimme an seinem Ohr sagte: »Woher hast du gewußt, wo ich zu finden bin?« Manfred stand unsicher auf. »Mein Vater hat es mir verra ten«, antwortete er. »Hallo, Swart Hendrick.« »Es ist lange her, kleiner Mani.« Der große Ovambo grinste ihn zahnlos an. Sein Kopf, mit Narben übersät, glänzte wie eine schwarze Kanonenkugel. »Aber ich habe nie bezweifelt, daß wir uns wiedersehen würden. Die Götter der Wildnis haben uns aneinandergefesselt, kleiner Mani. Ich wußte, daß du eines Tages kommen würdest.« Swart Hendrick hob den Bierkrug an die Lippen und nahm einen großen Schluck von der dicken weißen Brühe. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe und reichte Manfred den Krug. »So, kleiner Mani, jetzt haben wir über alles gesprochen und alles gesagt, was zu sagen war, und sind wieder bei unserem 665
Problem. Das Problem ist, daß die weiße Polizei überall nach dir sucht. Sie haben sogar einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt. Und was für einen Preis, kleiner Mani! Sie zahlen fünftausend Pfund für dich. Wie viele Rinder und Frauen könnte sich ein Mann für soviel Geld kaufen?« Er brach ab und rechnete nach, um dann verwunderte den Kopf zu schütteln. »Du bittest mich, dir zu helfen, aus Johannesburg zu verschwinden und den gro ßen Fluß im Norden zu überqueren. Was wird die weiße Polizei wohl tun, wenn sie mich erwischt? Wird sie mich an denselben Baum hängen wie dich – oder mich nur zum Steineklopfen ins Gefängnis von Ou Baas Smuts und König Georgy stecken?« Swart Hendrick seufzte theatralisch. »Eine schwierige Frage, kleiner Mani. Kannst du mir eine Antwort geben?« »Du warst wie ein Vater zu mir, Hennie«, sagte Manfred ruhig. »Überläßt ein Vater seinen Sohn den Hyänen und Geiern?« »Wenn ich dein Vater bin, kleiner Mani, warum ist dein Ge sicht dann weiß und meines schwarz?« Hendrick lächelte. »Wir sind einander nichts mehr schuldig, alle Schulden sind vor lan ger Zeit beglichen worden.« »Mein Vater und du, ihr wart Brüder.« »Viele Sommer sind seit jenen Tagen vergangen«, sagte Hendrick und schüttelte wehmütig den Kopf. »Und wie sehr hat sich die Welt seither verändert.« »Es gibt etwas, das sich nie verändert – nicht einmal in vielen Jahren, Hennie.« »Was ist das, kleiner weißer Junge?« »Ein Diamant, mein schwarzer Vater. Ein Diamant verändert sich nie.« Hendrick nickte. »Dann reden wir über einen Diamanten.« »Nicht über einen Diamanten«, erwiderte Manfred. »Über viele Diamanten, einen ganzen Sack voll Diamanten, die an einem fernen Ort liegen, von dem nur wir beide etwas wissen.«
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»Das Risiko ist groß«, erklärte Hendrick seinem Bruder. »Und Zweifel lauern in meinem Gehirn wie ein menschenfres sender Löwe im dichten Busch. Vielleicht sind die Diamanten wirklich dort, wo der weiße Junge behauptet, aber der Löwe des Zweifels läßt mich nicht los. Sein Vater war ein verschla gener Mann, hart und gnadenlos, und ich spüre, daß der Sohn geworden ist wie sein Vater. Er redet von Freundschaft, aber ich fühle keine Wärme mehr in ihm.« Moses Gama starrte ins Feuer. Seine Augen waren dunkel und unergründlich. »Er hat versucht, Smuts zu töten«, überleg te er laut. »Er ist einer von den harten Burschen, wie die, die unser Volk am Blutfluß niedergemetzelt haben und die Macht der großen Häuptlinge zerschlugen. Diesmal sind sie geschla gen worden, genau wie 1914, aber sie werden sich wieder er heben, um zu kämpfen. Sobald der Krieg der weißen Männer vorbei ist, werden sie sich sammeln und von neuem den Kampf gegen Smuts und seine Partei aufnehmen. Ich spüre, daß Smuts das nächste Mal unterliegen wird und daß die harten Buren triumphieren werden – und dieser weiße Junge ist einer von ihnen.« »Du hast recht, mein Bruder«, nickte Hendrick. »Ich habe nicht so weit in die Zukunft geblickt. Er ist der Feind unseres Volkes. Wenn er und seinesgleichen an die Macht kommen, werden wir eine bittere Lektion in Sklaverei lernen müssen. Daher werde ich ihn jenen ausliefern, die nach ihm suchen.« Moses Gama hob seinen edlen Kopf und starrte seinen älte ren Bruder über das Feuer hinweg an. »Es ist die Schwäche der großen Masse, daß sie den Horizont nicht sehen kann – ihr Blick reicht nur bis zu ihren Bäuchen und ihren Genitalien«, sagte Moses. »Du hast diese Schwäche übernommen. Warum erhebst du nicht deinen Blick und schaust in die Zukunft?« »Ich verstehe nicht.« »Die größte Gefahr für unser Volk ist seine Trägheit und sei 667
ne Duldsamkeit. Wir sind wie eine große Viehherde in der Hand eines geschickten Hirten. Er hält uns mit väterlicher Ge walt ruhig, und die meisten von uns nehmen das hin, weil sie es nicht anders kennen. Doch der Hirte melkt uns und ißt von un serem Fleisch. Er ist unser Feind, denn seine Art der Sklaverei ist so heimtückisch.« »Wenn er unser Feind ist, was ist dann mit den anderen, die du die harten Buren nennst?« Hendrick war verblüfft. »Sind diese dann nicht noch schlimmere Feinde?« »Von ihnen hängt die endgültige Befreiung unseres Volkes ab. Sie sind ohne List und Scharfsinn. Bei ihnen gibt es das Lächeln und die freundlichen Worte nicht, die brutales Tun verschleiern. Die Buren sind zornige Männer, erfüllt von Furcht und Haß. Sie hassen die Inder, die Juden und die Eng länder. Aber am meisten hassen und fürchten sie die Schwar zen, denn wir sind viele und sie sind wenige. Sie hassen und fürchten uns, weil sie besitzen, was von Rechts wegen uns gehört. Wenn sie an die Macht kommen, werden sie unserem Volk die wahre Bedeutung der Sklaverei beibringen. Durch ihre Unterdrückung werden sie schließlich die zufriedene Viehherde in eine wilde, wütende Büffelherde verwandeln, deren Gewalt niemand standhalten kann. Wir müssen froh sein über diesen weißen Jungen und das, was er darstellt. Von ihm hängt die Zukunft unseres Volkes ab.« Hendrick starrte eine Weile schweigend ins Feuer, dann hob er langsam seinen runden kahlen Kopf und schaute seinen Bru der ehrfürchtig an. »Manchmal denke ich, Sohn meines Vaters, daß du der wei seste Mann unseres ganzen Stammes bist«, flüsterte er. Manfred und Swart Hendrick saßen auf dem Granithügel, auf dem sie vor Jahren seinen Vater zurückgelassen hatten, und teilten die Diamanten. Manfred verstaute seinen Anteil in dem 668
leeren Tabaksbeutel, den er zu diesem Zweck mitgenommen hatte. »Du hast die Wahrheit gesagt, kleiner Mani«, sagte Hen drick, während er seinen Anteil einpackte. »Ich habe mich ge irrt, als ich an dir zweifelte.« Am folgenden Abend erreichten sie den Fluß und schliefen Seite an Seite neben dem Feuer. Am Morgen rollten sie ihre Decken zusammen und sahen einander an. »Leb wohl, Hennie. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ei nes Tages wieder.« »Ich habe dir doch gesagt, kleiner Mani, daß uns die Götter der Wildnis aneinandergefesselt haben. Wir sehen uns wieder, da bin ich ganz sicher.« »Ich freue mich auf diesen Tag.« »Die Götter werden entscheiden, ob wir uns als Vater und Sohn, als Brüder wiedersehen – oder als Todfeinde«, sagte Hendrick und nahm seinen Packen auf die Schulter. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, marschierte er zurück in die Wüste. Manfred schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann drehte er sich um und folgte in nordwestlicher Richtung dem Flußufer. Am Abend kam er in ein Dorf, und zwei junge Männer ruderten ihn in einem Einbaum auf die portugiesische Seite des Flusses. Drei Wochen später erreichte Manfred Lu anda, die Hauptstadt der portugiesischen Kolonie Angola, und läutete die Glocke an den schmiedeeisernen Toren des deut schen Konsulats. Er wartete drei Wochen in Luanda auf neue Befehle der deut schen Abwehr in Berlin, und allmählich wurde ihm klar, daß diese Verzögerung absichtlich geschah. Er hatte versagt, und Versagen war in Nazideutschland unverzeihlich. Schließlich kamen seine Befehle. Er erhielt einen neuen deutschen Diplomatenpaß und segelte auf einem portugiesi schen Frachter zu den Kanarischen Inseln. Von dort flog er in 669
einer zivilen Junkers-Maschine mit spanischen Hoheitszeichen nach Lissabon. In Lissabon begegnete man ihm mit der gleichen Verachtung. Es blieb ihm überlassen, sich eine Unterkunft zu suchen und auf neue Befehle zu warten, die nie zu kommen schienen. Er schrieb persönliche Briefe an Sigmund Boldt und an Heidi. Obwohl ihm der Attache im deutschen Konsulat versicherte, daß die Briefe mit der Diplomatenpost nach Berlin geschickt würden, erhielt er nie eine Antwort. Er verkaufte einen weiteren kleineren Diamanten und mietete eine schöne große Wohnung in einem alten Gebäude am Ufer des Tejoflusses. Er verbrachte die langen, müßigen Tage mit Lesen, Lernen und Schreiben. Er lernte Portugiesisch, indem er Stunden bei einem pensionierten Lehrer nahm, der im selben Haus wohnte. Er unterwarf sich einem strengen Körpertraining, so als wäre er noch immer Berufsboxer. Auf der Suche nach rechtswissenschaftlichen Büchern lernte er alle Buchläden der Stadt kennen und kaufte Bücher in Deutsch, Englisch und Por tugiesisch. Doch die Zeit verging trotzdem nur schleppend, und er litt darunter, daß er nicht an dem Krieg teilnehmen konnte, der auf der ganzen Welt tobte. Das Blatt wendete sich zu Ungunsten der Achsenmächte. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren in den Krieg eingetre ten, und fliegende Festungen bombardierten die Städte in Deutschland. Er schrieb – bestimmt zum hundertsten Mal seit seiner Ankunft in Portugal – einen Brief an Heidi. Drei Wochen später überreichte ihm der Militärattaché einen Briefumschlag, und Manfred erkannte mit freudiger Überra schung Heidis Handschrift. Dem Brief war zu entnehmen, daß sie keinen seiner früheren Briefe erhalten hatte und der Über zeugung gewesen war, er wäre tot. Sie schrieb, wie dankbar sie sei, daß er noch lebe, und schickte ihm einen Schnappschuß von sich und Lothar. Die Sehnsucht nach den beiden drohte Manfred zu verzehren. Er schrieb Heidi einen langen, innigen 670
Brief, in dem er ihr seine Lebenslage schilderte und sie dräng te, alles zu versuchen, um einen Reisepaß zu erhalten und mit dem Kind zu ihm nach Lissabon zu kommen. Ohne Einzelhei ten zu nennen, ließ er sie wissen, daß er finanziell in der Lage sei, für sie zu sorgen, und Pläne für die Zukunft habe. Heidi De La Rey lag wach im Bett und lauschte dem Moto rengeräusch der Bomber. Sie kamen nun schon die dritte Nacht. Das Stadtzentrum war verwüstet, die Oper und der Bahnhof vollständig zerstört. Aus den Berichten, zu denen sie im Propagandaministerium Zugang hatte, wußte sie von den Erfolgen der Alliierten in Frankreich und Rußland, von den über hunderttausend deutschen Soldaten, die bei Minsk von den Russen gefangengenommen worden waren. Sigmund Boldt, der neben ihr im Bett lag, schlief unruhig. Jeder lebte in Angst seit dem mißlungenen Attentat auf den Führer. Heidi hatte die Filme über die Hinrichtung der Verräter gesehen – und General Soeller war einer von ihnen gewesen. Sigmund Boldt hatte sich nicht an der Verschwörung betei ligt, dessen war sie sich sicher, aber er stand einigen Ver schwörern nahe genug, um von der Flutwelle mitgerissen zu werden, die dem mißlungenen Attentat folgte. Heidi war nun seit fast einem Jahr seine Geliebte, aber sie hatte bereits die ersten Anzeichen von Überdruß an ihm bemerkt. Zudem wußte sie, daß seine Tage der Macht und des Einflusses gezählt wa ren. Bald würde sie wieder allein sein, ohne Sonderrationen für sich und Lothar. Sie dachte an Manfred und die Briefe, die sie nie beantwortet hatte. Er war in Lissabon, und in Portugal gab es keine Bom ber. Am nächsten Tag beim Frühstück sprach sie mit Sigmund. »Ich denke dabei nur an den kleinen Lothar«, erklärte sie und glaubte, Erleichterung in seinem Blick zu entdecken. Vielleicht 671
hatte er bereits überlegt, wie er sie ohne viel Aufhebens los werden könnte. Am Nachmittag schrieb sie über das deutsche Konsulat in Lissabon an Manfred und legte eine Fotografie von sich und Lothar bei. Sigmund Boldt handelte rasch. Er hatte noch immer genü gend Einfluß und Macht, um innerhalb einer Woche einen Rei sepaß und Dokumente zu besorgen. Dann fuhr er sie in dem schwarzen Mercedes auf den Flugplatz Tempelhof und gab ihr am Fuß der Einstiegsleiter zum Junkers-Transporter einen Ab schiedskuß. Drei Tage später wurde Sigmund Boldt in seinem Haus im Grünewald verhaftet und starb kurze Zeit darauf während des Verhörs in seiner Zelle im Gestapo-Hauptquartier, bis zuletzt seine Unschuld beteuernd. Der kleine Lothar De La Rey erblickte Afrika zum ersten Mal, als der portugiesische Frachter auf Table Bay zulief. Er stand zwischen seinen Eltern an der Reling und krähte vor Vergnügen über die Dampfschlepper, die dem Schiff entge genkamen. Der Krieg lag zwei Jahre zurück, Manfred hatte besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen, bevor er seine Familie nach Afrika einschiffte. Zuerst hatte er an Onkel Tromp geschrieben, der nach dem Krieg aus dem Internierungslager entlassen wor den war. Von ihm erfuhr er alle familiären und politischen Neuigkeiten. Tante Trudi ging es gut, beide Mädchen waren mittlerweile verheiratet. Roelf war zur selben Zeit wie Onkel Tromp entlassen worden und hatte seine Arbeit an der Univer sität wieder aufgenommen. Er und Sarah waren glücklich und wohlauf. Die politischen Neuigkeiten klangen vielversprechend. Die Ossewa Brandwag und alle anderen paramilitärischen Organisa tionen waren zwar aufgelöst worden, aber ihre Mitglieder traten 672
nun in die National Party von Dr. Daniel Malan ein. Für die Par tei bedeutete das eine Stärkung und Blutauffrischung. Für Smuts und seine United Party zeichnete sich ein deutlicher Sympathie verlust ab. Man hatte allgemein den Eindruck, er stelle die Inter essen des British Commonwealth, dessen Entstehen er so massiv unterstützt hatte, vor die Interessen Südafrikas. Weiters beging Smuts den schweren politischen Fehler, die englische Königsfamilie zu einem Staatsbesuch einzuladen, was dazu führte, daß die Einstellung der Afrikaander zu den englischsprechenden Chauvinisten noch schärfer wurde. Selbst viele unter den Smuts-Anhängern nahmen Anstoß an dem Staatsbesuch. Onkel Tromp schloß seinen Brief mit dem Satz: »So sind wir gekräftigt und geläutert als eigenes Volk dem Sturm entronnen und entschlossener denn je in unserem Bestreben. Vor uns lie gen große Tage, Mani. Komm nach Hause. Wir brauchen Männer wie dich.« Aber Manfred machte sich nicht sofort auf die Heimreise. Erst schrieb er noch einmal an Onkel Tromp. In verschlüsselten Worten fragte er an, wie es um das weiße Schwert stehe, das er zurückgelassen habe. Nach einer Weile erhielt er die Versiche rung, daß niemand etwas über sein Schwert wisse. Diskrete Nachforschungen durch Freunde bei der Polizei hätten ergeben, daß es in dieser Sache keine Untersuchungen mehr gab. Nie mand kenne seinen Aufenthaltsort, schrieb Onkel Tromp, oder wisse, wem es gehöre. Es sei anzunehmen, daß es nie gefunden werden würde. Manfred ließ Heidi und den Jungen in Lissabon zurück und fuhr mit dem Zug nach Zürich, wo er die letzten Diamanten verkaufte. In der Nachkriegseuphorie waren die Preise hoch, so daß er fast zweihunderttausend Pfund auf einem Schweizer Nummernkonto deponieren konnte. Als sie Kapstadt erreichten, ging die Familie ohne Aufsehen an Land, obwohl Manfred als Gewinner der Olympischen 673
Goldmedaille eine Menge Publicity hätte haben können. Er ging sehr vorsichtig zu Werke, besuchte alte Freunde, frühere Mitglieder der Ossewa Brandwag und politisch Gleichgesinnte, um sicherzugehen, daß keine bösen Überraschungen auf ihn warteten, bevor er sein erstes Zeitungsinterview gab. Er erklär te den Journalisten, daß er während des Krieges im neutralen Portugal gelebt habe, da er es ablehnte, für eine der beiden Sei ten zu kämpfen, nun aber in sein Heimatland zurückgekehrt sei, um sein Teil am politischen Fortschritt beizutragen und den Traum der Afrikaander – eine Republik Südafrika ohne die Vorherrschaft einer fremden Macht – zu verwirklichen. Er hatte genau die richtigen Worte gefunden. Zudem war er Olympiasieger, gutaussehend, klug und gottesfürchtig und hat te eine attraktive Frau und einen hübschen Sohn. Er besaß noch immer Freunde in hohen Positionen, und die Zahl seiner Freunde wurde von Tag zu Tag größer. Er kaufte sich in eine gutgehende Anwaltskanzlei in Stellen bosch ein. Sein Partner war ein Anwalt namens Van Schoor, ein engagiertes Mitglied der National Party. Er förderte Man freds Eintritt in die Partei. Manfred widmete sich ganz der Arbeit für Van Schoor & De La Rey und trat ebenso zielstrebig für die Sache der Nationali stischen Partei ein. Er zeigte großes Geschick als Organisator und im Auffinden von Geldquellen. Als 1948 die Wahlkampagne für die allgemeinen Wahlen be gann, wurde Manfred De La Rey als offizieller Kandidat der Nationalisten für den Randsitz von Hottentots Holland nomi niert. Zwei Jahre vorher war der Sitz bei der Nachwahl von einem jungen Kriegshelden aus einer reichen englischsprachigen Fa milie für Smuts’ United Party gewonnen worden. Als Amtsin haber war Shasa Courtney nun auch bei den allgemeinen Wah len Kandidat der United Party. Man hatte Manfred De La Rey eine sichere Kandidatur ange 674
boten, aber er hatte sich bewußt für Hottentots Holland ent schieden. Er wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Shasa Courtney wiederzusehen. Er erinnerte sich noch genau an ihren ersten Zusammenstoß auf dem Fischkutter in Walvis Bay. Seither schienen ihre Geschicke unentwirrbar wie in ei nem Gordischen Knoten miteinander verschlungen zu sein, und Manfred begriff, daß er diesem Widersacher noch einmal be gegnen mußte, um diesen Knoten zu lösen. Um sich so gut wie möglich auf die Wahlkampagne vorzube reiten, stellte Manfred Nachforschungen über die Familie Courtney und insbesondere über Shasa und seine Mutter Cen taine de Thiry Courtney an. Fast unverzüglich stieß er auf ein geheimnisvolles Dunkel in der Vergangenheit der Frau, und dieses wurde immer geheimnisvoller, je weiter seine Nachfor schungen gediehen. Schließlich war er genügend ermutigt, ein Detektivbüro in Paris zu beauftragen, Centaines familiären Hintergrund und ihre Herkunft genau zu erforschen. Als er seinem Vater im Pretoria-Zentralgefängnis seinen mo natlichen Besuch abstattete, erwähnte er den Namen Courtney und bat den gebrechlichen alten Mann, ihm alles zu erzählen, was er über die Familie wisse. Als die Wahlkampagne begann, hatte Manfred die Gewiß heit, durch seine Nachforschungen einen bedeutenden Vor sprung zu haben, und warf sich genüßlich und entschlossen in die wilde Schlacht eines südafrikanischen Wahlkampfes. »Weltevreden ist einer der schönsten Herrensitze am Kap«, gab Blaine zu. »Aber es gehört nicht mir – und ich möchte meine Braut über die Schwelle meines eigenen Hauses tragen.« »In der Newlands Avenue können wir auch nicht leben.« Für einen Augenblick schob sich Isabellas Gesicht wie ein dunkler Schatten zwischen sie. »Wie wäre es mit dem Cottage?« schlug er vor, um die Erin 675
nerung an Isabella zu verscheuchen. »Es hat ein wundervolles Bett, was brauchen wir mehr?« »Wir werden es behalten«, stimmte Centaine zu, »und hin und wieder ein paar Tage dort verbringen.« »Stürmische Wochenenden!« »Du bist vulgär, weißt du das?« »Wo sollen wir also leben?« »Wir finden schon etwas. Unser beider Heim.« Es waren fünfhundert Morgen Land, die sich auf den Berg, den Strand und die Felsenküste verteilten, und vom riesigen, weiträumigen Herrenhaus im viktorianischen Stil genoß man eine großartige Aussicht über die Hout Bay und auf den grünen Atlantik. Das Haus war um die Jahrhundertwende von einem der alten Goldmagnaten erbaut worden und hatte Centaines Renovierungslust bitter nötig. Doch den Namen »Rhodes Hill« behielt sie bei. Was den Reiz des Hauses für sie noch erhöhte, war, daß sie mit dem Daimler nur zwanzig Minuten brauchte, um über den Constantia Nek nach Weltevreden zu gelangen. Shasa hatte nach dem Krieg die Präsidentschaft über die Courtney Bergwerks- und Finanzierungsgesellschaft über nommen, wenngleich Centaine ihren Sitz im Vorstand behielt und nie eine Sitzung versäumte. Nun zogen Shasa und Tara ins Herrenhaus von Weltevreden. Centaine besucht sie jedes Wo chenende, manchmal auch öfter. In diesen Tagen dachte sie häufig an das alte Buschmann paar, das ihr das Leben gerettet hatte, und dann sang sie manchmal leise den Lobgesang, den O’wa bei Shasas Geburt komponiert hatte: »Seine Pfeile werden bis zu den Sternen fliegen
Und wenn die Männer seinen Namen sagen
Wird es weithin schallen –
Und er wird gutes Wasser finden,
Wo immer er ist, er wird gutes Wasser finden.«
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Obwohl die klickenden, kehligen Laute der Sansprache nach all den Jahren nur schwerfällig von ihrer Zunge rollten, wußte sie, daß O’was Segen Früchte getragen hatte. Dieser und ihre eigene harte Schule hatten Shasa zum guten Wasser des Lebens geführt. Mit Unterstützung von David Abrahams hatte Shasa allmäh lich frischen Wind und neuen Schwung in die weitverzweigte Courtney Bergwerks- und Finanzierungsgesellschaft gebracht. Obwohl die alten Fachmänner, Abe Abrahams und Twenty man-Jones, brummelten und die Köpfe schüttelten, obwohl Centaine gelegentlich gezwungen war, deren Partei zu ergrei fen und gegen Shasas allzu riskante Projekte ein Veto einzule gen, gewann das Unternehmen mehr und mehr an Format. Selbst Dr. Twentyman-Jones, dieses Muster von einem Pessi misten, murmelte einmal: »Der Junge hat tatsächlich einen Kopf auf den Schultern.« Und entsetzt über diesen Lapsus, fügte er düster hinzu: »Aber wohlgemerkt, wir werden alle Hände voll zu tun haben, damit er ihn auch dort behält.« Als Shasa bei der parlamentarischen Nachwahl zum offiziel len Kandidaten der United Party für Hottentots Holland einen knappen Sieg über seinen nationalistischen Gegner erringen konnte, sah Centaine alle ihre Ambitionen für ihn Wirklichkeit werden. Man würde ihm nach der Wahl fast sicher ein wichti geres Amt anbieten, vielleicht das Amt eines stellvertretenden Ministers für Bergbau und Industrie. Danach einen Sitz im Ka binett. Und dann? Alles war möglich. Centaine saß unter den Eichen neben dem Polofeld auf Wel tevreden – ein Gast auf ihrem Gut, das sie aufgebaut und ge pflegt hatte, aber ein gerngesehener Gast und sehr zufrieden. Die farbigen Kindermädchen kümmerten sich um die Jüngsten – Michael war gerade ein Jahr geworden, Isabella war noch ein 677
Säugling. Sean, der Älteste, saß vorn auf Shasas Sattel und krähte vor Vergnügen und Aufregung, als sein Vater das Pony in vollem Galopp auf das ferne Tor zutrieb, dahinter wendete und mit donnernden Hufen zurückgaloppierte. Garrick, der auf Centaines Schoß saß, hopste ungeduldig auf und ab und rief: »Ich! Jetzt ich!« Shasa raste in vollem Galopp heran und zügelte das Pony abrupt. Er stellte Sean auf den Boden, und Garrick rutschte von Centaines Schoß, um zu seinem Vater zu laufen. »Ich, Daddy, jetzt bin ich an der Reihe!« Shasa beugte sich aus dem Sattel, hob das Kind hoch, und dann rasten sie wieder davon. Es war ein Spiel, dessen sie nie müde wurden. Seit dem Mittagessen hatten sie bereits zwei Ponys bis an den Rand der Erschöpfung gebracht. Centaine hörte einen Wagen vom Gutshaus herunterkommen und sprang unwillkürlich auf, als sie das charakteristische Ge räusch des Bentley erkannte. Als Blaine aus dem Wagen stieg und sie seinen Gesichtsausdruck sah, ging sie ihm rasch entgegen. »Was ist los, Blaine?« fragte sie, während er sie auf die Wange küßte. »Stimmt etwas nicht?« »Nein, nein«, versicherte er. »Die Nationalisten haben ihre Kandidaten für die Wahlkreise am Kap bekanntgegeben, das ist alles.« »Wen haben sie gegen dich aufgestellt?« fragte Centaine in teressiert. »Wieder den alten Van Schoor?« »Nein, mein Liebes, frisches Blut. Einen, von dem du wahr scheinlich noch nie gehört hast. Dawid Van Niekerk.« »Und wen haben sie für Hottentots Holland nominiert?« Als er zögerte, fragte sie sofort eindringlicher: »Wer ist es, Blai ne?« Er nahm ihren Arm und führte sie langsam zurück zu dem Teetisch unter den Eichen. »Manchmal ist das Leben schon eigenartig«, sinnierte er. 678
»Blaine Malcomess, ich möchte eine Antwort von dir haben, nicht eine Lektion in praktischer Philosophie. Wer ist es?« »Es tut mir leid, mein Liebling«, murmelte er bedauernd. »Sie haben Manfred De La Rey als offiziellen Parteikandidaten nominiert.« Centaine blieb abrupt stehen und fühlte, wie das Blut aus ih rem Gesicht wich. Blaine verstärkte seinen Griff auf ihrem Arm, um sie zu stützen. Seit den Olympischen Spielen in Ber lin hatte Centaine nichts mehr von ihrem zweiten Sohn gehört oder gesehen. Der Wahlkampf von 1948 wurde mit wachsender Schärfe ausgetragen, als man im ganzen Land allmählich begriff, daß die Nation vor einem schicksalhaften Wendepunkt stehe. Die Kandidaten von Smuts waren bestürzt über die Emotio nen, die die Nationalisten bei den Afrikaandern zu erzeugen verstanden, und waren völlig unvorbereitet auf die fast militäri sche Mobilisierung aller nationalistischen Kräfte. Es gab nur wenige schwarze Wähler, und unter den weißen Südafrikanern bildeten die Afrikaander eine knappe Mehrheit. Smuts hatte sich auf die Unterstützung der englischsprachigen Wahlkreise und auf die gemäßigten Afrikaander-Parteien ver lassen. Doch als der Wahltag näherrückte, wurden die gemä ßigten Afrikaander allmählich ebenfalls von der Welle nationa listischer Hysterie ergriffen, und die gedrückte Stimmung in der United Party verstärkte sich. Drei Tage vor dem Wahltag war Centaine gerade in ihrem Garten und überwachte das Pflanzen von zusätzlichen Rosen sträuchern, als ihr Sekretär vom Haus herangeeilt kam. »Madame, Mr. Duggan ist hier.« Andrew Duggan war Herausgeber des »Cape Argus«, der 679
englischsprachigen Zeitung mit der größten Leserschaft am Kap. Er war ein guter Freund von Centaine und regelmäßig zu Gast in ihrem Haus. Trotzdem war es äußerst rücksichtslos von ihm, unangemeldet zu erscheinen. »Sagen Sie ihm, ich bin nicht zu Hause«, befahl sie. »Mr. Duggan läßt sich vielmals entschuldigen, aber es sei ei ne Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit. Er benutzte die Worte ›Leben und Tod‹, Madame.« »Also gut. Sagen Sie ihm, ich bin in fünf Minuten bei ihm.« Sie zog Hose und Pullover aus und streifte ein helles Kleid über, betupfte ihr Gesicht flüchtig mit einer Puderquaste und stürmte dann in den Salon, wo Andrew Duggan auf sie wartete. Ihre Begrüßung war nicht gerade von überströmender Herz lichkeit, und Andrew entschuldigte sich sofort: »Ich weiß, was Sie denken, Centaine. Es ist verdammt unver schämt von mir, einfach hier hereinzuplatzen, aber ich mußte unbedingt mit Ihnen sprechen, und nicht am Telefon. Sagen Sie bitte, daß mir verziehen ist.« Centaines Züge glätteten sich, und sie lächelte. »Ihnen sei verziehen, und zum Beweis dafür biete ich Ihnen eine Tasse Tee an.« Sie schenkte den Tee ein, reichte ihm die hauchdünne Tee tasse und setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Leben und Tod?« fragte sie. »Richtiger müßte es eigentlich heißen – Leben und Geburt.« »Sie machen mich neugierig. Bitte reden Sie, Andy.« »Centaine, ich habe höchst ungewöhnliche Informationen er halten, unterstützt durch Dokumente, die auf den ersten Blick echt wirken. Wenn sie echt sind, dann bin ich gezwungen, die Geschichte zu veröffentlichen. Die Information betrifft Sie und Ihre Familie, insbesondere Sie und Shasa. Es geht um eine äu ßerst folgenschwere Behauptung –« Er verstummte und schau te sie fragend an. »Fahren Sie bitte fort«, sagte Centaine, nur noch äußerlich 680
ruhig und gefaßt. »Um es kurz zu machen, Centaine: Man hat uns mitgeteilt, daß Ihre Ehe mit Blaine Ihre erste und einzige Ehe ist –« Centaine hatte das Gefühl, von einem Felsblock erdrückt zu werden »– was natürlich heißt, daß Shasa ihr unehelicher Sohn ist.« Sie hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Beantworten Sie mir nur eine Frage. Ihr Informant ist der Kandidat der Nationa listischen Partei in Hottentots Holland oder einer seiner Agen ten. Habe ich richtig geraten?« Er neigte bejahend den Kopf, sagte aber: »Wir geben unsere Informationsquellen nie bekannt. Das entspricht nicht unserer Blattlinie.« Eine Weile schwiegen beide, und Andrew Duggan studierte ihr Gesicht. Was für eine außergewöhnliche Frau sie doch war, unbezwingbar selbst angesichts einer Katastrophe. Es machte ihn traurig, daß er derjenige sein mußte, der ihren Traum zer stören würde. Er wußte von ihren Ambitionen und maß ihnen besonderes Gewicht zu. Shasa Courtney konnte dem Land von großem Nutzen sein. »Sie haben die Dokumente natürlich?« fragte Centaine, und er schüttelte den Kopf. »Mein Informant hält sie gegen mein Versprechen zurück, die Geschichte noch vor dem Wahltag zu veröffentlichen.« »Das Sie ihm natürlich geben werden?« »Wenn Sie mir nichts vorweisen können, was die Behaup tung widerlegt, dann muß ich es abdrucken. Es ist eine Infor mation von öffentlichem Interesse.« »Geben Sie mir bis morgen früh Zeit«, bat sie, und er zögerte. »Bitte, Andy! Als persönlichen Gefallen.« »Also gut«, stimmte er zu. »Das ist das mindeste, was ich Ih nen schulde.« Er stand auf. »Tut mir leid, Centaine, daß ich Sie so lange aufgehalten habe.«
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Sobald Andrew Duggan gegangen war, ging sie nach oben, um zu baden und sich umzuziehen. Eine halbe Stunde später fuhr sie in ihrem Daimler in Richtung Stellenbosch. Es war schon nach fünf Uhr, als sie den Wagen schließlich vor dem hübschen, aber einfachen Haus am Flußufer parkte. Eine Frau öffnete Centaine die Tür – eine große blonde Frau mit attraktivem Gesicht und kräftiger Statur. Ihr Lächeln war reserviert, und sie öffnete die Tür nur einen Spalt breit. »Ich möchte mit Menheer De La Rey sprechen«, erklärte Centaine in Afrikaans. »Ich bin Mrs. Malcomess.« »Mein Mann arbeitet. Ich störe ihn nicht gern – aber kommen Sie doch bitte herein, ich will sehen, ob er Zeit für Sie hat.« Sie führte Centaine ins Wohnzimmer. Centaine war zu aufge regt, um sich zu setzen. Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und betrachtete die Bilder an der Kaminwand, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich rasch um. In der Tür stand ein Kind, das sie offen und unverwandt musterte. Es war ein hübscher Junge von sieben oder acht Jahren, mit einem blonden Lockenkopf, aber auffallend dunklen Augen unter dunklen Augenbrauen. Es waren ihre Augen, das erkannte sie sofort. Der Junge war ihr Enkel – und der Schock ließ sie erbeben. Dann nahm sie sich zusammen und ging langsam auf ihn zu. Lächelnd streckte sie ihm die Hand hin. »Hallo«, sagte sie. »Wie heißt du?« »Ich bin Lothar De La Rey«, antwortete er wichtig. »Und ich werde bald acht.« »Lothar!« dachte sie, und der Name weckte all die schmerz lichen Erinnerungen der Vergangenheit. Doch sie behielt ihr Lächeln bei. »Was für ein großer Junge –« begann sie und wollte ihm ge rade die Wange streicheln, als die Frau hinter ihm auftauchte. »Was tust du hier, Lothar?« schalt sie. »Du hast noch nicht aufgegessen. Marsch in die Küche, hörst du?« 682
Das Kind sauste aus dem Zimmer. Die Frau lächelte Centaine zu. »Er ist gerade im neugierigen Alter«, entschuldigte sie sich. »Mein Mann kann sie empfangen, Mevrou. Kommen Sie bitte mit.« Noch immer erschüttert von der kurzen Begegnung mit ihrem Enkelkind, war Centaine nicht auf den zusätzlichen Schock gefaßt, ihrem Sohn endlich von Angesicht zu Angesicht gege nüberzutreten. Er stand hinter dem Schreibtisch, der mit Do kumenten übersät war, und starrte sie mit diesen beunruhigen den gelben Augen an. »Ich kann nicht behaupten, daß Sie in diesem Haus will kommen sind, Mrs. Malcomess.« Er sprach englisch. »Sie sind eine Todfeindin von mir und meiner Familie.« »Das ist nicht wahr.« Centaine hörte den erstickenden Klang ihrer Stimme und versuchte verzweifelt, ihre Fassung wieder zufinden. Manfred machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie ha ben meinen Vater beraubt und betrogen, haben ihn zum Krüp pel gemacht. Durch Sie verbringt er die Hälfte seines Lebens im Gefängnis. Wenn Sie ihn jetzt sehen könnten, einen alten Mann, gebrochen und einsam, würden Sie nicht herkommen, um mich um einen Gefallen zu bitten.« »Sind Sie sicher, daß ich gekommen bin, um Sie um einen Gefallen zu bitten?« fragte sie. Er lachte bitter auf. »Aus welchem Grund sonst? Sie haben mich verfolgt – von dem Augenblick an, da ich Sie beim Pro zeß meines Vaters im Gerichtssaal zum ersten Mal sah. Ich weiß, daß Sie danach trachten, mich zugrunde zu richten, wie Sie meinen Vater zugrunde gerichtet haben.« »Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf, aber er fuhr unbarm herzig fort. »Und nun wagen Sie es, hierherzukommen und mich um ei nen Gefallen zu bitten. Ich weiß, was Sie wollen.« Er zog die 683
Schreibtischschublade auf und nahm eine Mappe heraus. Er schlug sie auf und streute die Papiere, die sie enthielt, über den Schreibtisch. Centaine sah französische Geburtsurkunden und alte Zeitungsausschnitte. »Soll ich Ihnen alles das vorlesen, oder wollen Sie es selbst lesen? Brauche ich mehr, um der Welt zu beweisen, daß Sie eine Hure sind und Ihr Sohn ein Bastard?« fragte er. »Sie waren sehr gründlich«, sagte sie leise. »Ja«, pflichtete er bei. »Sehr gründlich. Ich habe alle Bewei se –« »Nein«, widersprach sie ihm. »Nicht alle Beweise. Sie wis sen nur von einem unehelichen Sohn – aber es gibt noch einen zweiten Bastard. Ich werde Ihnen von meinem zweiten Bastard erzählen.« Zum ersten Mal wurde er unsicher, starrte sie an und fand keine Worte. »Sie haben keinerlei Schamgefühl«, sagte er dann. »Sie stellen Ihre Sünden vor aller Welt zur Schau.« »Nicht vor aller Welt«, erwiderte sie. »Nur vor der Person, die es am meisten betrifft. Nur vor Ihnen, Manfred De La Rey.« »Ich verstehe nicht.« »Dann werde ich Ihnen erklären, warum ich Sie verfolgt ha be, wie Sie es ausdrückten. Sie sind nämlich mein zweiter Sohn, Manfred. Ich brachte Sie in der Wüste zur Welt, und Lothar nahm Sie fort, bevor ich Ihr Gesicht gesehen hatte. Sie sind mein Sohn, und Shasa ist Ihr Halbbruder. Wenn er ein Bastard ist, sind Sie auch einer. Wenn Sie ihn mit dieser Tatsa che zugrunde richten, richten Sie auch sich selbst zugrunde.« »Das glaube ich nicht!« Er wich von ihr zurück. »Lügen! Al les Lügen! Meine Mutter war eine Deutsche von edler Ab stammung. Ich habe ihre Fotografie. Dort! Dort an der Wand!« Centaine warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Das war Lothars Frau«, stimmte sie zu. »Sie starb fast zwei Jahre, bevor Sie geboren wurden.« 684
»Nein. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein.« »Fragen Sie Ihren Vater, Manfred«, erwiderte Centaine leise. »Oder fahren Sie nach Windhuk. Der genaue Todestag dieser Frau wird dort registriert sein.« Er mußte einsehen, daß es die Wahrheit war. Er ließ sich auf den Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wenn Sie meine Mutter sind – wie kann ich Sie dann so bit ter hassen?« Sie ging zu ihm und blieb neben ihm stehen. »Nicht so bitter, wie ich mich selbst dafür gehaßt habe, dich verstoßen und ver lassen zu haben.« Sie beugte sich vor und hauchte einen Kuß auf seinen Kopf. »Wenn nur –« flüsterte sie. »Aber jetzt ist es zu spät – viel zu spät. Wie du schon sagtest, wir sind Feinde, und uns trennen Welten. Keiner von uns kann sie je überbrücken, aber ich hasse dich nicht, Manfred. Ich habe dich nie gehaßt.« Sie ließ ihn zusammengesunken am Schreibtisch zurück und ging leise aus dem Zimmer. Am nächsten Tag erhielt sie einen Anruf von Duggan. »Mein Informant hat seine Behauptung zurückgezogen, Centaine. Er sagt, die Papiere – alle Papiere, die den Fall betreffen – seien verbrannt worden. Ich glaube, man hat ihn bestochen, Centai ne. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer das gewesen sein kann.« Am 25. Mai 1948, einen Tag vor den allgemeinen Wahlen, hielt Manfred in der Stadthalle von Stellenbosch vor einer rie sigen Menschenmenge eine Ansprache. »Unter Smuts’ Regierung wird unser Land bald von einer kaffeefarbenen Rasse von halbblütigen Mischlingen bevölkert sein, und die Juden werden als einzige Weiße übrigbleiben – 685
dieselben Juden, die in diesem Augenblick an jeder Straßenek ke in Palästina unschuldige britische Soldaten umbringen. Wie Ihnen bekannt ist, hat sich Smuts beeilt, den neuen Staat Israel anzuerkennen. Das war zu erwarten. Seine Zahlmeister sind die jüdischen Besitzer der Goldminen –« Die Menge brüllte: »Skande! Schande!«, und Manfred mach te eine eindrucksvolle Pause, bevor er fortfuhr: »Was wir statt dessen anbieten, ist ein Plan, nicht mehr als ein Plan – eine Vision, eine kühne und edle Vision, die den Fortbestand des reinen, unvermischten Blutes unseres Volkes sichert. Eine Vision, die auch alle anderen Völker dieses Lan des schützen wird – die Farbigen der Kapprovinz, die Inder und die schwarzen Stämme. Dieses großartige Konzept haben kluge Männer mit Hingabe und ohne Eigennutz ausgearbeitet, Männer wie Dr. Theophilus Dönges und Dr. Nikolaas Diede richs und Dr. Hendrik French Verwoerd – hervorragende Män ner, jeder einzelne von ihnen.« Die Menge brüllte zustimmend, und Manfred nippte an ei nem Glas Wasser und blätterte in seinen Notizen, bis wieder Ruhe einkehrte. »Es ist ein idealistisches, sorgfältig ausgearbeitetes und zu verlässiges Konzept, das jeder Rasse erlauben wird, in Frieden, Würde und Wohlstand zu leben und dabei ihre eigene Identität und Kultur zu bewahren. Aus diesem Grund haben wir diese Politik ›Apartheid‹ genannt. Das ist unsere Vision, die unserem Land zur Größe verhelfen wird. Das ist der prächtige Mantel, den wir unserem Land umhängen werden. Apartheid, meine lieben Freunde, das ist es, was wir euch anbieten, die strahlen de Vision der Apartheid.« Ein paar Minuten lang ließ ihn die Menge nicht zu Wort kommen, doch als es wieder still wurde, fuhr er in einem schär feren, sachlicheren Tonfall fort: »Natürlich wird es erst notwendig sein, jenen Farbigen und Schwarzen, die bereits auf den Wahllisten stehen, das Wahl 686
recht zu nehmen –« Als er nach einer Stunde seine Ansprache beendete, trug man ihn auf den Schultern aus der Halle. Tara stand dicht neben Shasa, als sie darauf warteten, daß die Wahlergebnisse für den Wahlkreis Hottentots Holland verlaut bart würden. Eine aufgeregte Menschenmenge füllte die Halle. Es wurde gelacht, gesungen und gebrüllt. Der Kandidat der Nationalisten stand mit seiner großen blonden Frau am anderen Ende der Halle, umgeben von seinen siegessicheren Anhängern. Einer der Funktionäre der United Party winkte Shasa über die Köpfe der Menge hinweg zu, aber Shasa plauderte angeregt mit einer Gruppe weiblicher Wähler, und daher folgte Tara dem Wink. Sekunden später kam sie wieder zurück, und als Shasa ihr Gesicht sah, brach er sein Gespräch unvermittelt ab und eilte auf sie zu. »Was ist los, Liebling? Du siehst aus, als hättest du ein Ge spenst gesehen.« »Der Ou Baas«, flüsterte sie. »Ein Anruf aus Transvaal. Smuts hat Standerton verloren. Die Nationalisten haben dort die Stimmenmehrheit erhalten.« »O Gott, nein!« Shasa war entsetzt. »Der Ou Baas hat diesen Sitz seit fünfundzwanzig Jahren. Sie können ihn doch jetzt nicht fallenlassen.« »Die Briten haben Winston Churchill auch fallengelassen«, sagte Tara. »Man will keine Helden mehr.« »Ein schlechtes Vorzeichen«, murmelte Shasa. »Wenn Smuts verliert, verlieren wir alle.« Zehn Minuten später kam die nächste Nachricht. Oberst Blaine Malcomess hatte Gardens mit einem Rückstand von fast tausend Stimmen verloren. 687
»Tausend Stimmen –« Shasa konnte es kaum fassen. »Das ist ja ein Stimmenverlust von fast zehn Prozent. Was geht hier bloß vor?« In diesem Augenblick betrat der Vorsitzende des Wahlkomi tees das Podium am anderen Ende der Halle. »Meine Damen und Herren, hier die Ergebnisse der Wahl im Wahlkreis Hottentots Holland«, verkündete er. »Manfred De La Rey, National Party. 3126 Stimmen. Shasa Courtney, Uni ted Party: 2012 Stimmen. Claude Sampson, parteilos: 196 Stimmen.« Tara nahm Shasas Hand, und sie verließen die Halle. Sie stiegen in den Wagen, aber Tara fuhr nicht sofort los. Beide waren sie erschüttert und fassungslos. »Ich kann es einfach nicht glauben«, flüsterte Tara. »Ich fühle mich so«, sagte Shasa, »als säße ich in einem füh rerlosen Zug, der auf einen langen dunklen Tunnel zurast, ohne die Möglichkeit, ihn anzuhalten oder abzuspringen.« Er seufz te. »Armes altes Südafrika«, murmelte er. »Gott allein weiß, was die Zukunft dir bringen wird.«
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