Evan Hunter
Westwärts liegt die Freiheit
Inhaltsangabe Es ist die Zeit der großen, heroischen Trecks, die aufbrachen,...
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Evan Hunter
Westwärts liegt die Freiheit
Inhaltsangabe Es ist die Zeit der großen, heroischen Trecks, die aufbrachen, den Westen der jungen Vereinigten Staaten von Amerika zu erobern. Unter ihnen befinden sich auch Hadley Chisholm mit seiner Frau Minerva, drei Söhnen und zwei hübschen Töchtern. Mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Planwagen haben sie das steinige und für den Ackerbau wenig ergiebige Virginia verlassen. Ihre Devise heißt: Westwärts, dem Lauf der Sonne nach, Richtung California, wo sie sich ein Höchstmaß individueller Freiheit, Selbständigkeit, Arbeit und Wohlstand erhoffen. Der Weg dieser Pioniere ist unvorstellbar hart. Einem ungewissen Ziel entgegen geht es, durch Bretterbudendörfer, zwielichtige Städtchen, scheinbar unüberwindliche Flußfurte und trostlose Wüstenstriche. Ihre ständigen Begleiter heißen Gefahr, Kampf mit beutegierigen Indianern, Hunger und Durst. Bei Fort Laramy spitzt sich die Lage dramatisch zu, und die Chisholms, deren eine Tochter bereits ein Opfer des Trecks wurde, müssen wie Pech und Schwefel zusammenhalten, um zu überstehen. Endlich, am 16. Juni 1845, ist der Weg frei, und es geht weiter in den Goldenen Westen. Ein packender Roman über Menschen mit den Tugenden, die Amerika groß gemacht haben: Zielstrebigkeit, Ausdauer, Mut, Tapferkeit, Unabhängigkeitsstreben, Freiheitsdrang und Stolz
Sonderausgabe für ENGEL VERLAG Copyright © by Evan Hunter Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe by Lichtenberg Verlag, München Alle Rechte vorbehalten, auch die des teilweisen Abdrucks, des öffentlichen Vortrages und der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. Fotomechanische Wiedergabe mit Genehmigung des Verlages. Redaktion: Annalisa Viviani Korrekturen: Irmgard Wutz Gesamtherstellung: Engel Verlag GmbH, München Printed in W.-Germany Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Mary und Vann Hughes, den Eltern meiner Frau, gewidmet
Hadley
N
ach altem Brauch hatten sie Whiskey und Kuchen serviert und die Tür des Hauses offengelassen, damit die Trauergäste ein und aus gehen und ihr Beileid ausdrücken konnten. Um ein Viertel nach elf war ein halbes Dutzend der Männer betrunken. Die Frauen sprachen dem Alkohol mäßiger zu, doch der Whiskey löste auch ihre Zungen, und ihr Geschnatter mischte sich mit dem Lachen und den lauten Stimmen im Haus und mit dem Pfeifen des Windes draußen. Trotz des strahlenden Himmels war es ein stürmischer Tag. Im April gab es hier in den Bergen frühmorgens Nebel, der sich jedoch im allgemeinen eine Stunde nach Sonnenaufgang verzog; Hadley Chisholm hatte ihn vom Fenster des Hauses aus beobachtet, wie er in Fetzen zurückwich, die durch das Tal davongetrieben wurden. In der Talsohle standen die Schlüsselblumen in Blüte. Das war der Frühling. Man dachte nicht an Sterben und Begraben, wenn das Land rundum grün wurde. Doch an diesem Morgen hatten sie Hadleys Mutter zur ewigen Ruhe gelegt. Nachher hatte er neben dem offenen Grab gekniet, nach unten gegriffen und eine Handvoll Erde genommen. Der Boden war ausgetrocknet und steinig. Er ließ die Erde durch seine Finger auf den Fichtenholzsarg hinunterrieseln. Benjamin Lowery kam quer durch das Haus auf ihn zu. In der Hand trug er einen Zinnbecher, aus dem er Whiskey trank, während er an dem Tisch in der Zimmermitte vorbeisteuerte und schwankend in einen Stuhl mit rissiger Sitzfläche taumelte. Er kicherte, erwischte den Stuhl, bevor er zu Boden fiel, und drehte sich dann zu Hadley um, der neben dem Kamin stand. Er legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte sehr ernst: »Hadley, geht's dir gut?« »Prima«, sagte Hadley. »Hadley, ich mache mir Sorgen um dich.« »Nein, mir geht's prima.« 1
»Du trinkst nicht, Hadley. Hadley, in einem solchen Augenblick, wenn einem die Mutter stirbt, gehört es sich, daß man etwas trinkt. Hadley, ich hol' dir einen Whiskey.« »Du kannst es dir sparen, Ben. Mir geht's gut.« »Na schön«, sagte Lowery und nickte, dann faßte er nach Hadley, um sich auf ihn zu stützen. »Hadley«, sagte er, »wie hat dir der neue Prediger gefallen?« »Das werde ich dir genau sagen«, antwortete Hadley. »Ja, sag's mir.« »Er hatte kein Recht, von ihr so zu reden, als hätte er sie gekannt.« »Hat er sie denn nicht gekannt?« fragte Lowery. »Kein verdammtes bißchen. Hat nur ein paar Kleinigkeiten aus ihrem Leben zusammengetragen, das hat er getan. Die hat er von Nachbarn auf den Hügeln rundum erfahren.« »Genau das hat er getan«, sagte Lowery und setzte sich plötzlich auf die roh behauene Bank an der Kaminwand. Der Becher fiel ihm aus der Hand. Gleich darauf war er eingeschlafen. Am anderen Ende des Zimmers lachte eine Gruppe von Männern über einen Witz, den der Farmer Henry Soames soeben erzählt hatte. Hadley hätte gern etwas zu trinken gehabt. Der Gedanke an den Priester hatte seine Wut wieder geweckt und ein wenig Maisschnaps würde … nein, er konnte es sich nicht leisten, sich zu betrinken. Er hatte seiner Familie noch nichts von seinem Entschluß erzählt und wollte ihn nicht in einer Wolke von Alkoholdunst von sich geben. So stillte er also seinen Durst mit Ärger, indem er wieder an den verdammten Narren von einem Priester dachte, der von seiner Mutter wie von einer ausgestopften Stoffpuppe gesprochen hatte. Die Fakten, ja, die kannte er, hatte sie alle ergattert und sagte sie auf wie das Alphabet: A wie Antrim, der Bezirk, aus dem Eva Chisholm, die Braut des jungen William Allyn Chisholm, im Jahr 1768 gekommen war. B wie Boston Harbor, wohin Evas erster Sohn geflüchtet war, zwei Monate nachdem Hadley geboren wurde. C wie Chickasaw, der Hadleys Vater erschlagen hatte, als Hadley erst fünfzehn war; ein Wunder, daß der Narr von einem Priester nicht er2
wähnt hatte, daß William Allyn damals betrunken war und daß er und der Indianer sich wegen einer schwarzen Nutte auf Baileys Plantage in die Haare geraten waren. »Hab' die Frau geliebt wie meine eigene Mutter«, sagte Minerva. »Es verging kein Tag, an dem sie mir nicht sagte, wie schön ich wär. Bin ich ja gar nicht, aber es war nett zu hören, wie sie's sagte.« Ach, du bist es doch, dachte Hadley und sah seine Frau an, wie sie mit den anderen Frauen dort stand, und er dachte an den Augenblick, da er sie zum erstenmal gesehen hatte. Sein Herz war fast stillgestanden. Er war drüben in Cedar Creek, um Whiskey zu liefern, und sah sie, wie sie eine Kuh die Straße entlangführte, eine kräftige Gerte in der Hand und ein Lied summend. Es war ein strahlender Sommertag, und ihr Haar war golden wie der Sonnenschein. Staub stieg von der Straße hoch. Sie war barfuß. »Hör' mal«, sagte er, »was tut ein kleines Mädchen wie du mit so 'ner großen Kuh?« »Wie sieht das denn aus, was ich tue?« fragte sie. »Na ja, weiß nicht genau«, sagte Hadley und lächelte. »Jedenfalls, klein bin ich nicht.« War sie auch nicht. Das größte Mädchen, das er je gesehen hatte; ihr Kopf war fast auf gleicher Höhe mit seinen Augen. Und verdammt, das blondeste Haar, das er je gesehen hatte, und die Sonne glänzte darin. Im hohen Gras summten die Fliegen. »Wie alt bist du?« fragte er. »Neunzehn«, sagte sie. »Willst du 'n Schluck Whiskey?« »Nee.« »Hab' ihn selbst gebraut.« »Wer macht das nicht?« Sie zog die Schultern hoch. »Noch nie jemand gesehen mit so grünen Augen«, sagte Hadley. »Nun, dann siehst du eben jetzt jemand.« »Stimmt«, sagte er. »Willst du, daß ich dich mal besuche?« »Nee.« 3
»Willst du mich küssen?« »Hah!« schnaubte Minerva. Hadley lächelte bei dieser Erinnerung. Er würde ihr seinen Entschluß später mitteilen, wenn alle Trauergäste weg sein würden. Er würde es ihr und der Familie sagen. Er wußte von keinem von ihnen, was er zu erwarten hatte. Er ging zu Minerva und legte ihr den Arm um die Taille. Sie war mitten in einem Satz und quittierte seine Anwesenheit mit einem kurzen Nicken. »…sagte, er wolle mich heiraten. Nun, Eva maß mich von Kopf bis Fuß, sie saß in dem Schaukelstuhl dort drüben neben dem Kamin und sprach die meiste Zeit kein Wort. Dann sagte sie: ›Du bist Ian Campbells Tochter, nicht wahr?‹ ich sagte ja…« Damals trug sie ihr Haar lang, erinnerte sich Hadley, gelockt wie eine Muschel an ihrem Nacken. Die Hände im Schoß gefaltet, hatte sie seiner Mutter zugenickt und gesagt: »Ja, Ma'am, ich bin Ian Campbells Tochter.« »Dein Vater ist ein Schurke«, sagte Eva. »Ich liebe ihn«, sagte Minerva. »Auf immer und ewig, wie es sich für eine brave Tochter gehört«, sagte Eva, »und das macht ihn zu keinem geringeren Schurken.« Plötzlich lächelte sie. »Aber das soll nicht heißen, daß ich seine Tochter nicht nett finde.« Damals war Minerva zwanzig. Sie erwiderte Evas Lächeln, und die Frauen reichten einander die Hand, als wollte eine der anderen durch die Furt über einen Fluß helfen. Als Minerva nun die Geschichte erzählte, traten ihr Tränen in die Augen. Dicht neben ihr stand Millie Bain, die kaum einen Kilometer weit auf dem Hügel wohnte. Sie legte den Arm um Minerva und tätschelte ihre Schulter. »Wenn ich daran denke, bin ich gerührt«, sagte Minerva. »Weinen ist keine Sünde«, sagte Millie. »Ist schon über dreißig Jahre her, und ich kann mich noch immer genau daran erinnern.« »Und wie war das damals mit der Natter?« fragte Millie und lachte. Sie war um vier oder fünf Jahre jünger als Minerva, acht- oder 4
neunundvierzig. Genau wußte das Hadley nicht. Eine kleine, rundliche Frau mit einem Mopsgesicht und fröhlichen blauen Augen, die vertrauteste Freundin, die Minerva auf der Welt hatte. Sie war es gewesen, die bei der Geburt ihres ersten Sohnes geholfen hatte, es war eine Steißgeburt gewesen. Millie und Eva hatten beide hart gekämpft, um das Baby auf die Welt zu bringen. Der Knabe wurde in Erinnerung an den leise sprechenden Mann, der Hadleys Vater gewesen war, William Allyn Chisholm genannt. »Wenn du nochmals von dieser Natter erzählst…«, sagte Hadley warnend. »Ach, bloß weil du alles über Schlangen weißt«, sagte Millie lachend und brachte Hadley mit ihrer drallen kleinen Hand zum Schweigen. »Das war damals, als du mit Bobbo schwanger warst, erinnerst du dich?« sagte sie. »Da kommt also wieder die verdammte Natterngeschichte«, sagte Hadley und hob die Augen zum Himmel. »Still«, sagte Millie. »Wir gingen mit Eva durch den Wald, und neben uns der kleine Gideon in seinem Kittelchen. Er muß sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein.« »Fünf«, sagte Minerva lächelnd. »Wir waren draußen, um Christophskraut zu suchen.« »Stimmt«, sagte Minerva. »Will hustete, daß Gott erbarm', und wir wollten ihm einen Sirup brauen.« »Gideon ging in seinem Kittel vor uns.« »Ich erinnere mich deutlich.« »Da ringelt sich die Natter über den Weg. Gideon rannte davon und kletterte auf den nächsten Baum.« »Ich glaube, daß auch ich zum nächsten Baum rennen würde«, sagte Hadley. »Nun sei mal still, Hadley«, sagte Millie. »Eva ging mit einer Hacke auf die Schlange los und schrie Min zu, sie solle das häßliche Ding nicht anschauen, sonst würde das Neugeborene ein rundes Muttermal bekommen.« »Hab' auch gar nicht hingesehen«, sagte Minerva. 5
»Die Leute in der Umgebung behaupten, daß eine Natter einen ausgewachsenen Baum zugrunde richten kann, wenn sie bloß ihren Schwanzdorn reinsticht«, sagte Millie. »Davon halte ich nicht viel«, sagte Hadley. »Also, von Schlangen verstehst du was, glaub' ich«, sagte Millie. »Das will ich meinen«, sagte Hadley, und plötzlich wünschte er, diese Leute würden fortgehen, obgleich sie gute Freunde waren, wünschte, allein gelassen zu werden mit seiner Familie, damit er ihr das Geheimnis anvertrauen konnte, das er seit mehr als einem Monat mit sich herumtrug. Er konnte sich an eine Zeit erinnern – doch ja, damals war das Land neu. Als er ein Junge war, damals lebte sein Vater noch, und auch später, als junger Mann, bevor er Minerva kennenlernte, war das Land auf dieser Berghöhe in Virginia, das sie besaßen, reich genug gewesen, um ihnen alles zu liefern, was sie brauchten. Nicht nur Mais – nein, das war immer ein gutes Ackerland für Mais gewesen –, aber auch Bohnen auf der anderen Seite des Hauses, Kürbis und Muskatkürbis, Erbsen und Wassermelonen auf dem Berghang. Und auf dem Boden, den sie von Baumstümpfen und Rohrwurzeln säuberten, pflanzten sie Flachs, den sie später rösteten und trockneten und dann in der Flachsbreche verarbeiteten, die Hadley und sein Vater selbst gebaut hatten. Sie schüttelten die Rindenstücke aus, die sie Holzkörper nannten, dann machte sich Hadleys Mutter an die Arbeit mit der Hechsel, deren Eisenzähne aus dem paddelförmigen Brett ragten, mit dem sie die Fasern strich und säuberte und zu Wergtuch trennte, das bloß zum Reinigen von Gewehrläufen und zu nichts anderem geeignet war. Die feineren Fasern verwendete sie zum Spinnen des Fadens, aus dem ihre schönsten Kleider gemacht wurden. Aus den Samen machte man Leinöl; von der Flachspflanze ging mit Ausnahme der Holzkörper nicht viel verloren, und ein Flachsfeld in Blüte war ein ebenso atemberaubender Anblick wie ein wolkenloser blauer Himmel. Flachs, ja, und genug Mais, um Eichhörnchen und Krähen und die Familie zu ernähren, wobei Haufen übrigblieben zum Brotbacken, zum Füttern der Schweine und Pferde, und auch noch zum De6
stillieren von ein wenig Whiskey, obwohl damals Hadleys Vater Whiskey nur für die Familie brannte und sein Destillierkolben klein und kaum eifrig betrieben war. Sie bauten Mais für Maisbrei und Popcorn an, Steckrüben und Zwiebeln, Kohl und Eibisch. Sein Vater hatte sogar ein kleines Feld mit Tabak, den er nicht rauchte, sondern gegen Produkte eintauschte, die er nicht anbauen oder herstellen konnte. Auf dem Hof vor dem Haus wimmelte es von Hühnern und Schweinen, es gab auch eine Milchkuh mit Ohrmarke, Brandzeichen und einer Glocke. Hadley verbrachte einen guten Teil seiner Kindheit damit, Tiere aus den Kräutern und Blumen zu jagen, die seine Mutter gepflanzt hatte, und sie von dem Wurmkraut vor der Haustür oder dem Lavendel und dem Schnittlauch zu verscheuchen. Jetzt war das Land tot, so tot wie die geliebte Frau, die sie an diesem neunzehnten Tag des Monats April zur ewigen Ruhe gebettet hatten. Vom Lärm umtost, sah sich Hadley im Haus um und suchte seine Lieben. Er entdeckte seine drei Söhne und zwei Töchter, betrachtete ihre Gesichter, versuchte ihre Antworten auf die Frage zu erraten, die er noch nicht gestellt hatte. Es war ein Uhr mittags. Die Trauergäste waren gegangen. »Ich habe euch allen etwas zu sagen«, begann Hadley, »worüber ich die ganze Zeit nachgedacht habe, seit meine Mutter vor einem Monat krank wurde. Ich wußte, sie würde diesmal sterben, wußte, daß wir nichts tun konnten, um sie zu retten; sie war eine alte Frau, für den Himmel bestimmt, Gott gebe ihrer Seele Frieden. Und ich dachte, wenn sie stirbt, sollten wir dieses Land verlassen. Nun ist sie also tot, heute morgen haben wir sie zur Ruhe gelegt und unsere Gebete an ihrem Grab gesprochen. Es gibt hier nichts mehr als Land, das so öde ist wie die Gesellschaft der Gottlosen. Ich will fort von hier.«
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Minerva stand am Kamin neben dem Backsteinofen. Sie wandte sich um und blickte ihren Mann an, als habe er eine Lästerrede gegen die Tote wie die Lebenden gehalten. Er erwiderte ihren Blick und nickte – bestätigend oder herausfordernd. »Wohin sollen wir gehen, Pa?« fragte Will. Will war beinahe zweiunddreißig, kurz vor Kriegsausbruch, im Juni 1812 geboren. Er sah seinem Vater sehr ähnlich, hatte die gleiche hochgewachsene, breitschultrige, drahtige Figur, die gleichen dunkelblauen Augen und das schwarze Haar – wenn auch Hadley mit seinen sechsundfünfzig Jahren mehr als nur einen Anflug von Reif auf dem Haupt trug. »Ich dachte, nach Westen«, sagte Hadley. »Wohin nach Westen?« fragte Minerva sofort. »Meinst du Kentucky?« »In Kentucky ist kein Land zu haben, auch sonst nirgends östlich des Mississippi«, sagte Hadley. »Ich denke an Kalifornien. Oder vielleicht Oregon.« Minerva schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Hier gibt es für uns nichts mehr«, sagte Hadley. »Es ist unser Daheim«, sagte Minerva. »Es ist kein Heim«, sagte Hadley. »Die Cassadas werden uns erbarmungslos umbringen, wenn es das Land nicht schon vorher tut.« »Uns werden weder die Cassadas umbringen noch das Land«, erwiderte Minerva. »Ich leb' auf diesem Land seit meinem zwanzigsten Lebensjahr, als du mich von Cedar Creek hierher brachtest, um mich zu heiraten. Ich kann mich daran erinnern, wie dieser Viertelmorgen…« »Das Land ist tot«, sagte Hadley. »…hinter dem Haus zumindest fünfundzwanzig Scheffel abwarf. Und ich erinnere mich auch an schlechte Zeiten, während der Großen Panik, als ich Will schon hatte und mit Gideon schwanger war, und die haben wir auch überlebt. Wir haben jetzt Ärger mit den Cassadas, aber es gab doch immer Ärger in der einen oder anderen Weise, und ich seh' nicht ein, daß das eine Lösung sein soll, 8
wenn wir zusammenpacken und fortziehen. Du willst nach Westen, gut, dann steig auf dein Pferd und geh, Had. Keine Seele auf Erden kann dich hindern zu tun, was du tun willst.« »Pa hat recht«, sagte Will. »Dann geh' du auch mit ihm«, sagte Minerva. »Ich bleibe hier.« »Ich wollte schon von hier fort, als Elizabeth vor zehn Jahren starb«, sagte Will. »Wollte zusammenpacken und gehen, ich dachte, es gibt nichts, das mich hier noch hält.« »Frauen sterben eben, das ist für den Menschen natürlich…« »Es war mehr als das, Ma. So wie Pa sagt. Du mußt dich hier umbringen, um eine Steckrübe oder eine Zwiebel aus dem Boden zu kriegen, der sich die ganze Zeit wehrt. Verdammt, Ma, du hast gesehen…« »Du hast nicht zu fluchen in diesem Haus!« fuhr ihn Minerva an. »Du hast gesehen, was geschah, als wir den Mais anbauten, oder? Wir mußten in einem Kreis von Gewehren arbeiten, damit uns die Cassadas nicht abknallten…« »Mich hätten sie beinahe abgeknallt«, sagte Bobbo. Er war siebzehn, der jüngste der Söhne, und hatte das schwarze Haar und die blauen Augen des Vaters und die schmale Nase und das Kinn seiner Mutter und ihren sinnlichen Mund. Es gab Leute, die behaupteten, daß in Minervas Adern französisches Blut fließe und daß ein Campbell vor den Indianerkriegen die Tochter eines Trappers zur Frau genommen hatte. Die Cassadas verbreiteten das bösartige Gerücht, Minerva habe auch ein bißchen Cherokesenblut, als sei man blind und könne ihr maisblondes Seidenhaar und ihre Augen nicht sehen, die grün waren wie Gras. »Was meinst du damit?« fragte sie. »Schweig davon!« sagte Hadley. »Ich war auf dem Weg in die Stadt mit Whiskey zum Verkauf…« »Sie braucht das nicht zu hören!« sagte Hadley. »Ich will es aber hören. Was ist passiert?« »Einer von den Cassadas schoß aus den Büschen auf mich. Er traf zwei volle Krüge, sie zerbrachen auf dem Boden.« 9
»Das war schwer verdientes Geld, das in die Erde floß«, sagte Hadley. »Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?« »Ich dachte, Pa hätte es getan«, sagte Bobbo und zog die Schultern hoch. »Das hast du erfunden«, sagte Minerva. »Es ist wahr, Ma«, sagte Bobbo. »Ma, es gibt etwas, das du einsehen mußt«, sagte Will. »Wenn wir versuchen, eine Ähre von dem Getreide anzurühren, das wir gepflanzt haben…« »Der Streit mit den Cassadas wird vorübergehen«, sagte Minerva. »Wenn man lang genug wartet, geht alles auf Gottes Erden vorüber. Es war Jeff Cassadas Mutter, die bei Gideons Geburt meine Hebamme war. Das vergesse ich nicht, Had.« »Das ist über zwanzig Jahre her, Min! Wir reden von…« »Ich sage dir, wir waren damals unzertrennliche Freunde, und wir werden wieder Freunde sein, wenn der Zwist vorbei und begraben ist.« »Du verstehst uns nicht, Ma«, sagte Gideon. »Die Cassadas erheben Anspruch auf das Feld, sie behaupten, es gehöre ihnen.« Gideon, der mittlere Sohn, war dreiundzwanzig Jahre alt, noch immer mit denselben blonden Locken wie als Baby, ein Erbe seiner Mutter, das seine Brüder nicht mitbekommen hatten. Er war nach dem biblischen Sohn des Joas, des Vaters der Esriter, genannt worden, der im Buch der Richter 6,15 zu Gott sprach: »Mein Herr, womit soll ich Israel erlösen? Siehe, meine Freundschaft ist die geringste in Manasse, und ich bin der Kleinste in meines Vaters Hause.« Gideon wurde im Jahr 1821 auf dem Höhepunkt der Großen Panik geboren; damals glaubte Hadley nach Jahren der Entbehrungen, daß sein Clan wirklich der ärmste in diesem ganzen gottverlassenen Winkel von Virginia war. Außerdem war sein neugeborener Sohn sicher ein unterentwickeltes Kind, blondhaarig und blauäugig, spindeldürr, wirklich der letzte in der Familie – so taufte man ihn Gideon. Aber als Erwachsener war er einsneunzig groß, wog zweihundert 10
Pfund und hatte einen mächtigen Brustkasten und Muskeln an den Armen so hart wie Astknorren. Gideon war Minervas Liebling. Sie hörte ihm nun aufmerksamer zu als ihrem Mann oder ihren anderen Söhnen vorher. »Ma«, sagte er, »ich liebe das Land hier ebenso wie du, aber ich glaube, Pa hat recht, ich glaube, wir sollten von hier fortgehen. Es lohnt sich nicht, einen Tropfen von Bobbos oder irgend jemand anders Blut sogar für das wertvollste Land in dem ganzen Tal zu vergießen. Und, Ma, wir besitzen doch nur einen Fleck auf einem Berg, den zu bebauen es unser Leben gekostet hat und bei dem es uns das Leben kosten wird, eine Ähre Getreide zu ernten, wenn sie reif ist. Ich bin dafür, daß wir fortgehen.« »Können wir gehen, Ma?« fragte Annabel. »Nein«, sagte Minerva entschieden. »Wir haben Verwandte dort drüben«, sagte Bonnie Sue. »Verwandte? Wer hat dir das erzählt?« »Pa hat's gesagt. Ein Mann namens Jesse Chisholm. Aus Tennessee.« »Von einem Jesse Chisholm hab' ich nie gehört. Den hast du erfunden, Hadley.« »Nein, er ist wirklich ein Verwandter.« »Wo lebt er denn?« »Ich glaube, in Texas«, sagte Hadley. »Ich würd' ihn nicht erkennen, wenn ich mit ihm zusammenstieße. Jedenfalls hab' ich nicht die Absicht, meine Familie dorthin zu bringen.« »Deine Familie bleibt hier«, sagte Minerva. »Und wenn mein eigener Bruder mich drüben im Westen mit offenen Armen erwartete, würde ich Virginia nicht verlassen.« Sie nahm das einzige übriggebliebene Holzscheit und warf es in den Kamin. Sie wußte nicht, was sie zum Mittagessen kochen würde. Sie war den Tränen nahe, würde es aber weder Hadley noch ihren Söhnen zeigen. Zu ihren Töchtern sagte sie nur: »Wir brauchen mehr Holz. Wenn wir Brot haben wollen, brauchen wir ein Feuer.« Die Mädchen hatten ihre Kattunkleider ausgezogen und trugen einfache Leinenkleider, die bequem und lose an ihren Körpern hin11
gen. Ihre Beine und Füße waren bloß, sie standen gerade innerhalb des Durchgangs zwischen den beiden Räumen; die fünfzehnjährige Bonnie Sue war fraulich und rund, bei der um zwei Jahre jüngeren Annabel zeigten sich eben erst die knospenden Brüste, beide Mädchen waren blond und grünäugig wie ihre Mutter. »Holt mir ein wenig Anbrennholz«, sagte Minerva. Es mußte Brot geben. Was immer sie aßen, es gab dazu Brot. Sie würde es auf dem Röstblech backen, nachdem sie den Deckel und das Röstblech selbst auf den Kohlen des Kamins erhitzt hatte. Das Brot würde natürlich Maisbrot sein. Aber sie behaupteten fest, das Land sei tot. Und für sie war das Land Mais. »Min«, sagte Hadley. Er stand ganz nah bei ihr; sie wandte sich nicht um, um ihn anzusehen. Sie war damit beschäftigt, das Kleinholz entgegenzunehmen, das die Mädchen brachten, und es unter das Holzscheit zu legen. Sie hatten das Feuer ausgehen lassen. Sie hatten eine Frau begraben, die sie liebte wie ihre eigene Mutter, und hatten das Feuer daneben ausgehen lassen. »Min«, sagte er, »ich hab' den Squire gefragt, wieviel er für seinen blauen Lastwagen verlangen würde. Er sagte neunzig Dollar. Wir haben genug auf die Seite gelegt, um den Wagen und die Reise zu bezahlen und uns auch noch etwas Land zu kaufen, wenn wir –« »Du würdest das ausgeben, wozu wir unser halbes Leben gebraucht haben, um es zu sparen?« »Ich würde es für die nächste Hälfte ausgeben, Min. Verdammt, ich bin ein Farmer und habe nichts anzubauen! Es gibt Land drüben im Westen. Man kann es billig kaufen, kann es bebauen. Ich will fort. Bailey sagt, er wird uns den Wagen verkaufen. Ich will ihn kaufen, Min.« »Tu, was du willst«, sagte sie und schlug zornig Feuerstein in den Zunder. Die Schlange war nicht so groß wie manche, mit denen Hadley es zu tun gehabt hatte; sie war vielleicht eineinviertel bis anderthalb 12
Meter lang – er hatte sie nicht gesehen und beabsichtigte auch nicht, es zu tun. Er hatte in seinem Leben in diesen Bergen alle Arten von Giftschlangen gesehen, von Diamantklapperschlangen, wie die im Jutesack, bis zu Mokassinschlangen, die ihren Schwanz schüttelten, wenn man eine in die Enge trieb, die versteckt war, und die Büsche zum Rascheln brachten, daß einem das Herz stehenblieb. Er hatte sogar eine Wassermokassinschlange – oder Baumwollmaul oder wie immer man das verdammte Ding nennen wollte – gesehen, die wie ein Aal im Clinch geschwommen war und ihn beinahe halb zu Tode erschreckt hatte. Nur einmal war er von einer Schlange gebissen worden, und das war eine Klapperschlange gewesen, die sofort zugeschlagen und erst dann gewarnt hatte. Hadley war ins Haus zurückgegangen, hatte zwei volle Becher Whiskey getrunken und dann zwischen der Stelle, wo die Schlange ihn gebissen hatte, und seinem Herz einen Lappen eng um seinen Arm geschnürt. Er schüttete Salz auf die Zahnmale, wo der Arm anzuschwellen begann, und als die Schwellung sich auszubreiten begann, schob er den Lappen noch ein Stück nach oben. Er war allein im Haus. Als er starke Kopfschmerzen bekam und sich einigermaßen benommen fühlte, dachte er, er hätte vielleicht nicht so viel Whiskey trinken sollen, obwohl manche Leute in der Umgebung sagten, Whiskey sei das einzige sichere Mittel gegen Schlangenbiß. Dann kam Will nach Hause und sah Hadley, der mit gesenktem Kopf, eine Hand an die Mauer gelehnt, dastand; er ging schnell zu ihm und erwischte ihn, bevor er niederfiel. Will schnitt die Zahnmale mit einem Messer heraus, das er von den Kämpfen in Texas mitgebracht hatte. Das Messer hatte einen Nußholzgriff, der mit Silber eingelegt war. Er saugte das Blut heraus, spie es auf den Boden und spülte sich dann den Mund mit Whiskey aus. Er gab Hadley noch mehr Whiskey zu trinken, nachdem er die Wunde verbunden hatte, dann setzten sich beide Männer hin und tranken Whiskey bis zum Sonnenuntergang, als der Rest der Familie nach Hause kam. Hadley war schon betrunken und begierig, ihnen zu erzählen, wie er fast an einem Schlangenbiß gestorben wäre, 13
wenn nicht Will mit seinem mexikanischen Messer gekommen wäre. Aber sie waren alle in der Stadt gewesen und hatten einem Mann zugesehen, der beim Zirkus Buckley Weeks gewesen war und nun selbst einen Tanzbären hatte und Medizin verkaufte, die für die Behandlung von Schlangenbissen gut sein sollte. Er kam nie dazu, ihnen zu erzählen, was vorgefallen war. Als Minerva abends im Bett den Verband sah und ihn fragte, was mit seinem Arm los sei, sagte er, er sei von einer Klapperschlange gebissen worden, während sie in der Stadt war und einem Tanzbären zugesehen habe, und da sagte sie: »Nein, das ist nicht wahr, Hadley.« Es war das erste und einzige Mal, daß er von einer Klapperschlange oder irgendeiner anderen Art von Schlange gebissen wurde. Es kam nur darauf an, daß man wußte, was man von den Tieren zu erwarten hatte, und wie man mit ihnen umgehen mußte, wenn man sie fangen wollte. Hadley fing fast jede Schlange, die er sah, denn in der Bibel hieß es in Johannes 3: »Und niemand fahret gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder kommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden. Auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.« Hadley glaubte an den Menschensohn, er hoffte auf ewiges Leben und dachte, eine Möglichkeit, um ewiges Leben zu erlangen, bestünde darin, die Schlangen in der Wildnis aufzuheben. Außerdem fand er Gefallen an Schlangen. Sie waren ihm lieber als Vögel, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Vögel machten nur einen Mordskrach am Morgen, wenn der Mensch schlafen wollte. Außerdem versauten sie die Veranda. Schlangen waren sauber und höflich, und sogar die giftigen schnappten nicht zu, es sei denn, man trat zufällig auf sie oder stach mit einem Stock nach ihnen. Seiner Ansicht nach waren Schlangen die am schlimmsten mißverstandenen Geschöpfe auf Gottes Erde. Kaum sah einer eine Schlange auf dem Boden, bums, schlug er sicher mit 14
einer Harke darauf. Das arme Ding glitt nur dahin und suchte seinen Lebensunterhalt wie irgend jemand anders. Doch, bums, kam die Harke, und die Frau am Hauseingang hob schreiend die Röcke bis zu den Knien hoch. Sie hatte Angst, die gute Schlange würde dort raufkriechen und zwischen ihre Beine geraten, das war's. Es brauchte doch kein Mann auf Erden Angst vor Reptilien zu haben, es sei denn, sein eigener Pimmel war so klein, daß er von der kleinsten Gartenschlange beschämt werden konnte. Als die Chisholms am Sonntagmorgen in die Stadt fuhren, läutete die Glocke in dem verwitterten Kirchturm. Hadley hielt die Maultiere vor den offenen Türen an und ließ Minerva und die Mädchen aussteigen. Bis er die Maultiere und den zweirädrigen Wagen nach hinten gefahren und sie dort an dem Geländer festgebunden hatte, waren seine Söhne abgestiegen und kamen über das Feld heran, wobei sie eine Staubwolke hinter sich hochwirbelten. Es hatte seit über zwei Wochen nicht geregnet, doch der Clinch strömte dessenungeachtet schnell dahin; Hadley konnte das Wasser unten hören, jenseits des Hügels, ohne es zu sehen. Sobald seine Söhne um die Ecke der Kirche verschwanden, hob er den Jutesack aus der Werkzeugkiste. Drei Reihen vor dem Platz, den Hadley in der Kirche einnahm, sah er seinen Sohn Gideon, der über den Gang dorthin blickte, wo Rachel Lowery saß. Im Jahr zuvor war Benjamin Lowery einmal zu Hadley gekommen und hatte von ihm wissen wollen, welche Absichten sein Sohn habe. Hadley hatte gefragt: »Welcher Sohn?« »Gideon natürlich«, sagte Lowery. »Seine Absichten wem gegenüber?« »Meiner Tochter Rachel gegenüber«, sagte Lowery. Hadley war kein Narr, er wußte längst, was zwischen seinem Sohn und Rachel vorging. Aber man erzählte sich in der Mietstallung – wo der Klatsch zugegebenermaßen mitunter nicht auf Wahrheit beruhte –, daß Rachel, seit sie vierzehn war, mit der Hälfte der jungen Leute in der Stadt geschlafen hatte; ein Wunder, daß sie noch 15
keinen Bastard geboren hatte und dafür öffentlich ausgepeitscht worden war. »Ich weiß von keinerlei Absichten, die er gegenüber deiner Tochter hat«, sagte Hadley, und damit war die Sache erledigt. Dennoch starrte Gideon jetzt über den Gang zu ihr hinüber, und da waren seine Absichten so deutlich zu sehen wie die Nase in seinem Gesicht. Obgleich er hier in der Kirche war, sehnte er sich danach, in einen anderen Tempel einzudringen. Gott verzeih mir, dachte Hadley, und wandte seine Aufmerksamkeit dem zu, was der alberne Priester sagte. Es dauerte nur einen Augenblick, bis ihm klar wurde, daß der junge Harlow Cooper aus dem Brief des Jakobus las. »…ist aufs erste keusch, darnach friedsam, gelinde, läßt sich sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ohne Heuchelei. Die Frucht aber der Gerechtigkeit wird gesäet im Frieden denen, die den Frieden halten.« Cooper räusperte sich. »Woher kommt Streit und Krieg unter euch? Kommt's nicht daher: aus euren Wollüsten, die da streiten in euren Gliedern? Ihr seid begierig, und erlanget's damit nicht; ihr hasset und neidet, und gewinnet damit nichts; ihr streitet und krieget. Ihr habt nicht, darum daß ihr nicht bittet; ihr bittet, und nehmet nicht, darum daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr's mit euren Wollüsten verzehret. Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen!« sagte Cooper und schloß die Bibel so, als schlüge er eine Tür vor der Nase eines Eindringlings zu. »Das war aus dem Brief des Jakobus«, sagte er, als käme er mit frischen Neuigkeiten in die Stadt geritten. Seine Augen schweiften durch die Kirche. Hadley erinnerte sich an die Tränen in diesen Augen auf dem windgepeitschten Hügel vor zwei Tagen, als sie seine Mutter begraben hatten. Zu seiner Überraschung blieb der Blick des Priesters jetzt auf ihm haften. »Ich wählte diese Stelle«, sagte Cooper, »weil ich Freitagmorgen Gott dem Herrn eine Frau empfahl, die ihr ganzes Leben in Frieden mit ihren Nachbarn verbrachte. Ich wählte diese Stelle, weil es Hader gab in dieser Stadt, Nachbar gegen Nachbar, weil sich Chri16
sten weder friedsam und sanft zueinander verhalten, noch voll guter Früchte sind. Ich wählte diese Stelle…« Hadley erhob sich. »Hochwürden«, sagte er, eine Anrede verwendend, von der die Versammlung der Gläubigen annahm, sie sei unter Papisten üblich, und die sie sofort zum Kichern veranlaßte, »ich möchte wissen, warum Sie Ihre Bibelzitate auf diese Weise wählen. Liegt der Grund dafür darin, daß Sie das Wort Gottes nicht kennen?« »Sir«, sagte Cooper, »ich…« »Hochwürden«, unterbrach ihn Hadley, »ich denke an das, was Sie vergangenen Freitag am Grab meiner Mutter sagten. Nun, diese Worte paßten nicht zum Begräbnis einer Frau, die…« »Mr. Chisholm«, sagte Cooper, »es tut mir leid, wenn die Wahl meiner…« »Es waren Worte der Feier«, sagte Hadley, »und hier in diesen Bergen feiern wir nicht, wenn wir an einem Grab stehen. Wir trauern um die Dahingegangenen, und wir trauerten letzten Freitag um eine vortreffliche und bescheidene…« »Ich versichere Ihnen, Mr. Chisholm…« »Eine vortreffliche und bescheidene Frau«, sagte Hadley. »Sie hätten nicht aus den Psalmen, sondern aus den Sprüchen 31 zitieren sollen, wo geschrieben steht: ›Sie ist viel edler denn die köstlichsten Perlen. Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen‹, und so fort bis: ›Sie schauet, wie es in ihrem Hause zugehet, und isset ihr Brot nicht mit Faulheit…‹« »Ja, ja«, sagte Cooper und lächelte die Versammlung um Zustimmung heischend an. »Ihre Söhne kommen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobet sie…« »Sie kennen die Stelle jetzt sehr gut«, sagte Hadley, »aber was war damit am vorigen Freitag? Braucht es denn einen armen Bauern, um Sie zu knuffen und zur Erinnerung anzustacheln?« »Ich versichere Ihnen«, sagte Cooper und sah, daß Hadley in seinen Jutesack langte. Er konnte sich nicht vorstellen, was in dem Sack war. Er hatte nur einmal eine Klapperschlange gesehen, und die war 17
ein winziges Ding, über das er im Wald fast gestolpert wäre. Ja, Hadley Chisholm zog eine Klapperschlange aus dem Sack, seine rechte Hand hielt sie hinter dem Kopf fest, in seinem linken Arm lag der Körper der Schlange verborgen, sein Daumen an einer Seite der Kiefer, sein Zeigefinger an der anderen, und die übrigen Finger umschlossen fest ihren … Hals? Hatten Schlangen Hälse oder wurden ihre Köpfe plötzlich Körper? Cooper sah, wie sich das Maul der Schlange öffnete und die Fänge vom Oberkiefer in Beißstellung sprangen. Er hörte ein Geräusch, das aus dem Sack kam, das drohende Klappern, und merkte im nächsten Augenblick, daß es nur Hadley Chisholm war, der kicherte. »Nun war die Schlange schlauer als irgendein Tier auf dem Feld, das Gott der Herr erschaffen hatte«, zitierte Hadley. »Wo steht das in der Bibel?« »Genesis 3«, sagte Cooper. Hadley stand jetzt unmittelbar vor der Kanzel, die Augen auf den Priester gerichtet, dessen Augen auf die Schlange gerichtet waren. »Ausgezeichnet, Hochwürden«, sagte er. »Lassen Sie uns nun sehen, woran Sie sich mit ein wenig Knuffen und Anstacheln noch erinnern.« Als er ›knuffen‹ sagte, stieß er den Schlangenkopf in Richtung auf Cooper vorwärts, der zurückwich. »Ihr Wüten ist wie das Wüten einer Schlange«, zitierte Hadley, »sie sind wie die taube Otter, die ihr Ohr…« »Das ist aus…« »Ja, Hoch würden? ›die ihr Ohr zustopft, daß sie nicht höre die Stimme des Zauberers…‹« »Psalm 58«, sagte Cooper. »Psalm ist richtig, Sie kennen die Psalmen gut. Freitag haben Sie die Psalmen zitiert; sind Sie nichts als ein Psalmensänger?« sagte Hadley und stieg auf die kleine erhöhte Plattform, so daß er unmittelbar neben Cooper stand. Die Schlange klapperte wütend im Inneren des Jutesacks; Hadleys Hand hielt sie noch immer hinter den offenen Kiefern fest umklammert. »Keine Angst vor dem Reptil«, sagte er. »Es wird nur einen Mann beißen, der die Schrift nicht kennt. Also 18
dann… ›drei Dinge sind nur zu wunderlich, und das vierte weiß ich nicht: Des Adlers Weg am Himmel…‹« »›der Schlange Weg auf einem Felsen‹«, sagte Cooper sofort. »Sprüche 30.« »Ausgezeichnet!« sagte Hadley. »›denn ein jeglicher warf seinen Stab von sich…‹« »›und er ward zur Schlange!‹« sagte Cooper triumphierend, blickte auf die offenen Schlangenkiefer und fügte schnell hinzu: »Exodus 8.« »Exodus 7!« korrigierte Hadley. »Ganz richtig, Exodus 7, ja«, sagte Cooper, »Exodus 7.« »Es wird schwieriger«, sagte Hadley und brachte die Schlange auf gleiche Höhe mit Coopers Gesicht. »Schauen Sie in die kleinen Augen, Hochwürden. Sie wartet darauf, Sie zu beißen, falls Sie sich in der Bibel irren. Also, sind Sie bereit?« »Sie wissen doch, nicht wahr«, sagte Cooper, »daß Sie Gotteslästerung begehen im Hause des…« »›denn siehe‹«, sagte Hadley, »›ich werde Schlangen, Basilisken unter euch senden‹«, und stieß die Schlange nach vorne, zog sie sofort wieder zurück und sagte, »›Die Schlange verführte mich, und ich aß‹«, und wieder kam der Schlangenkopf auf Cooper zu, der gerade ›Jeremias‹ sagen wollte, riß das Maul auf, die Fänge standen schräg nach unten – er hätte schwören können, daß er Gifttropfen sah. Nun zitierte Hadley aus Matthäus die Stelle »›siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben‹«. Die Augen der Schlange starrten Cooper bösartig an. Er wich zurück, Hadley und die Schlange folgten, die Schlange schien sich viel mehr für das zu interessieren, was nun geschah, von ihrem eigenen Willen besessen. Hadley rief: »›Ihr Schlangen, ihr Geschlecht von Vipern, wie könnt ihr der Verdammnis der Hölle entgehen?‹« und die Schlange zischte und klapperte, und Cooper wandte sich um und rannte von der Kanzel und der Plattform zur Tür an der Rückwand der Kirche. Er faßte mit seiner glitschigen, nassen Hand nach 19
dem Türknopf und versuchte ihn zu drehen, überzeugt, daß die Schlange und Hadley hinter ihm waren, ebenso sicher, daß ihn die Schlange in den Sitz seiner Schmach beißen würde. Irgendwie schaffte er es, die Tür zu öffnen und zu fliehen. Hinter sich hörte er die Versammlung der Gläubigen lachen. Hadley steckte die Schlange triumphierend in den Jutesack, warf den Kopf zurück und lachte gleichfalls. Squire Bailey trug einen Rock aus feinstem blauen Tuch mit dunklerem Samt an den Aufschlägen, deren V-förmiger Ausschnitt eine Weste aus cremefarbenem Kaschmir erkennen ließ. Der Kragen seines Leinenhemdes lag über dem weißen, über seiner Brust gekreuzten und mit Volants besetzten Halstuch, das von einer Amethystnadel gehalten wurde. Seine Hose war an den Hüften weit, vom Knie bis zum Fußknöchel eng, und am Rist so geschnitten, daß sie in seine auf Hochglanz polierten Stiefel paßte. In der linken Hand hielt er einen auf der Insel Kuba hergestellten Palmblätterhut. Alles in allem sah er so aus, wie sein Großvater vor zwei Generationen ausgesehen haben mußte, als die Ansiedlung neu war und der Titel ›Squire‹ einen Landgentleman bedeutete und noch etwas mehr, einen gelehrten Mann mit Humor, Intelligenz und persönlichem Charme. Er schritt die Stufen der Kirche hinunter, neben ihm ging ein Koloß von einem Mann namens Jeremy Stokes, den er vor drei Jahren als Aufseher für seine sich ausbreitende Plantage angestellt hatte. Stokes hatte Seite an Seite mit Andrew Jackson in der Schlacht von New Orleans gekämpft, so ging zumindest das Gerücht in der Stadt, und die Narbe quer über seiner Nasenwurzel stammte angeblich von einem britischen Bajonett. Er war an diesem sonnigen Apriltag ebenso prächtig herausgeputzt wie sein Dienstherr. Als Hadley ihnen zusah, wie sie über die Kirchentreppe nach unten schlenderten, konnte er sich gut vorstellen, wie sie nach einer Stunde oder noch längerer Zeit, die sie mit Wein und Weibern zugebracht hatten, aus einem Luxusbordell kamen. Und das war auch gar kein so weit20
hergeholter Gedanke; die ganze Stadt wußte, daß Horace Baileys einzige Schwäche – oder zumindest die einzige Schwäche, die er offen bekannte – Frauen waren. Es gab Leute in der Stadt, die ihn bis zum Überdruß mit ›Squire‹ anredeten und Kratzfüße machten, nicht aus Respekt vor seiner Klugheit und Intelligenz, die er gar nicht besaß, sondern nur vor dem Reichtum, den er zusammen mit seinem Titel geerbt hatte. Hadley gehörte nicht zu ihnen. »Guten Morgen, Bailey«, sagte er. »Guten Morgen, Chisholm.« Hadley zog einen kleinen Lederbeutel aus seiner Jackentasche. »Hier sind die neunzig Dollar«, sagte er und ließ die Münzen in dem Beutel klirren. »Welche neunzig Dollar?« fragte der Gutsherr. »Für den Wagen.« »Und welcher Wagen soll das sein?« »Der Wagen, den Sie mir verkaufen wollten«, sagte Hadley. »Für die Reise nach Westen.« »Ich glaube, ich werde den Wagen lieber behalten«, sagte der Squire. »Wissen Sie, ich habe nichts dagegen, daß Sie von hier fortziehen. Ich bin nur dafür, daß Sie das ohne fremde Hilfe tun…« »Hören wir doch mit dem Herumreden auf, Bailey«, sagte Hadley. »Sie haben versprochen, mir den Wagen zu verkaufen, und ich bin hier, um ihn zu bezahlen.« »Ich erinnere mich an kein derartiges Versprechen.« »Hören Sie mal, Bailey, wir sprachen vorigen Mittwochabend darüber.« »Ich erinnere mich an kein Gespräch in dieser Richtung.« »Ich ritt hinüber zur Plantage, der Wagen war vor der Scheune angebunden. Wir einigten uns darauf, daß er neunzig Dollar kosten solle. Das war der Preis, und hier sind die neunzig«, sagte Hadley und hob wieder den Beutel hoch, und wieder klirrten die Münzen darin. »Wir haben einen mündlichen Vertrag, Bailey. Wir einigten uns auf…« 21
»Ich hatte auch einen mündlichen Vertrag mit diesem jungen Geistlichen Harlow Cooper. Ich versprach ihm, er würde in dieser Stadt ein gottesfürchtiges Volk finden, nicht solche Leute, die ins Gotteshaus kommen und einem Mann Schlangen vor die Nase halten. Mir scheint, wenn ein Vertrag gebrochen werden kann, kann auch ein anderer ebenso leicht gebrochen werden. Meinen Sie das nicht auch, Stokes?« »Ganz meine Ansicht, Squire.« »Dann guten Tag, Chisholm.« Chisholm versperrte dem Squire den Weg, seine Möglichkeiten vervielfachten sich wie die Fische und Brote. Er konnte dem Squire die Nase einschlagen, so daß seine cremefarbene Weste und das weiße Halstuch voller Blut waren. Oder er konnte den Mann schreiend und heulend zum Clinch hinunter schleppen, wo er ihn richtig taufen würde. Oder er konnte… »Ein Vertrag ist ein Vertrag«, sagte er nur. »Wenden Sie sich ans Gesetz, wenn Sie wollen«, sagte der Squire und Hadley trat zur Seite und ließ die beiden vorbei. Das Gesetz, an das er sich wandte, war die Bibel. Und in der Bibel, im Brief des Paulus an die Galater, fand er die Worte: »Brüder, ich will nach menschlicher Weise reden: verachtet man doch eines Menschen Vertrag nicht, wenn er bestätigt ist, und tut auch nichts dazu.« Wie Hadley es betrachtete, hatte er mit Horace Bailey einen Vertrag geschlossen, und nun versuchte der Squire, ihn für nichtig zu erklären. Das war nicht nur rechtswidrig nach menschlichen Sitten, es stand auch in direktem Widerspruch zu dem, was die Bibel sagte, das Gesetz Gottes, des Allmächtigen. Die Pflanzung Baileys war so angelegt, daß das Hauptgebäude sich auf einer erhöhten Stelle mit Ausblick auf die Felder befand. Die Sklavenunterkünfte lagen im Norden, die Scheunen und Ställe im Süden und weitere Felder im Osten. Hinter dem Haus fiel der Grund steil zum Fluß ab; dort war der Boden steinig und voller Gestrüpp, für eine Pflanzung ungeeignet. Man konnte aber noch als weiteren Ertrag Fische mit Netzen aus dem Fluß fangen und im Winter Eis 22
aus dem Fluß schneiden und in einem der drei Eishäuser der Pflanzung aufbewahren. Die Baumwolle war noch nicht angepflanzt; es war noch etwas zu früh. Irgendwann in der nächsten oder vielleicht in der übernächsten Woche würden die Sklaven beginnen, das Saatgut einzusetzen, das mit Asche vermengt war, um die Hülsen aufzuweichen und das Wachstum zu fördern. Jeder in der Gegend wußte es, wenn der Squire seine Baumwolle pflanzte. Die Stimmen der singenden Sklaven konnte man überall im Tal hören. Die Felder im Osten, mit wildem Roggen, wurden als Weideland belassen; der Squire besaß einundvierzig Maultiere und Pferde, dreihundert Schafe und vierundsiebzig Kühe. Er hatte auch hundertzwanzig Schweine und mehr Hühner, als sich je einer die Mühe gemacht hatte zu zählen. Hadley und Will standen vor einem Fenster des Hauptgebäudes und blickten in einen Raum, der von vierzehn brennenden Wachskerzen erhellt war, die in einem Messinghängeleuchter steckten. Der Squire saß beim Abendessen. Die Chisholms hatten ihr Abendessen vor Sonnenuntergang eingenommen, aber keiner von ihnen hatte zwei Hausnigger, die sie bedienten. Der ganze Raum war bis zu einer Höhe von etwa eineinviertel Meter von dem Parkettfußboden mit einem dunkler getönten Holz, anscheinend Fichtenholz, getäfelt. Auf der anderen Seite des Raumes gab es zwei Fenster wie das, durch welches sie mit großen Augen auf den Squire starrten. Beide Fenster waren mit Kaliko oder bedrucktem Leinen drapiert, sie wußten nicht genau, welches von beiden. Die Wände waren mit ziegelfarbenen Papiertapeten verkleidet, die ein verschlungenes Muster mit Vögeln, Zweigen und Blättern, rot auf noch dunklerem Rot, trugen. Es gab einen Kamin aus kompliziert bearbeitetem Marmor, und die Stühle rund um den Tisch waren die elegantesten, die Hadley je gesehen hatte. In der Ecke sah er auf einer niedrigen Kirschholzkommode eine Serviettenpresse. Der Squire speiste auf Tellern, die sichtlich echtes Londoner Zinn waren – nicht das neumodische Bleizeug –, und er hatte eine blendend weiße Serviette unter seine Hängebacken gesteckt. Im Augenblick goß 23
gerade eine schlanke Schwarze Wein aus einer Karaffe in den langstieligen Glaspokal des Squires. Die Wolken verzogen sich, der Mond brach durch. Hadley und Will eilten von dem Haus weg nach unten, südwärts, wo Gideon unweit des Stalls des Squires mit Maultieren und Pferden wartete. Ein Mann namens Alexander Buchanan saß vor der unverschlossenen Stalltür auf einer rohen Holzbank, sein Gewehr lehnte an der Wand. Er pfiff ein Lied, das Will zum erstenmal in Texas gehört hatte, als er mit Lamar gegen die Mexikaner geritten war. Ein schlaksiger Texaner, der ohne Sattel auf einem Pferd gesessen hatte und sagte, er habe diese Art zu reiten von den Kiowas gelernt, hatte dieses Lied gesungen. Der Bursche sagte, das Lied heiße ›Zip Coon‹, aber Will hörte es ein oder zwei Jahre später wieder, und da hieß das gleiche Lied ›Puter im Stroh‹. Manchmal wunderte er sich über solche Dinge; wenn also einer ein Lied erfand, konnte da jeder rumgehen und es singen und den Titel ändern, wie's ihm paßte? Irgendwie war's so ähnlich wie Pferdestehlen. Alexander Buchanan pfiff also ›Zip Coon‹ oder ›Puter im Stroh‹ oder wie immer man es nennen wollte, als Will um die Ecke des Stalles kam, sein Vater hinter ihm. Er hatte Buchanan oft genug in der Stadt gesehen und ihm einmal die Nase blutig geschlagen, als der Bursche in der Kneipe (und im Rausch) geprahlt hatte, er habe mit Rachel Lowery geschlafen; Will haßte das Gerede im Mietstall, insbesondere wenn es vom Stall zur Kneipe getragen wurde. Bei Rachel gab es keinen Zweifel; Will wußte, daß sein eigener Bruder Gideon ihre Punze probiert hatte. Aber es war etwas anderes, über sie zu reden. Man vergnügte sich mit einer Frau, aber dann hielt man darüber den Mund; man kostete das Vergnügen aus, man erhoffte es wieder, aber man verdarb es nicht, indem man es besudelte. Er freute sich, daß Alexander da vor der unverschlossenen Stalltür des Squires saß. Unnötig, sie zu versperren, mutmaßte Will, da jeder stromaufwärts und stromabwärts des Clinch einfach den Verstand verloren haben mußte, wenn er auch nur versuchen wollte, einen Grashalm von Baileys Pflanzung zu stehlen, wo doch Stokes 24
mit seiner bewaffneten Patrouille nachts herumstreifte. Alexander Buchanan war das Schloß des Squires, wie er so dasaß auf der Holzbank und ein Lied in die Nacht pfiff. Will lächelte und legte sein Messer an Buchanans Kehle. Das Pfeifen brach jäh ab. Buchanan wußte, wie sich eine Messerklinge anfühlte, obwohl ihm noch nie eine an die Kehle gedrückt worden war. Die Klinge lag flach knapp unter seinem Adamsapfel, aber man brauchte das Messer nur zu drehen, und da lag die scharfe Schneide an seiner Haut. Er schluckte sein Pfeifen hinunter und saß ganz still auf der Bank, wich vor dem Messer zurück und bemühte sich, in der silberweißen Kiefernverkleidung der Stallwand zu verschwinden. »Braver Bursche«, sagte Will und war mit einem Schritt vor Buchanan, wobei er das Messer drehte, so daß nun die Spitze der Klinge an seiner Kehle lag. Buchanan starrte ihn im Dunkel an, bewegte aber nur die Augen. Sein Kopf regte sich nicht, seine Hände lagen still, sogar sein Herz schien zu schlagen aufgehört zu haben. »Bist du es, Will Chisholm?« fragte er. »Jawohl, mein Freund«, sagte Will. »Was willst du hier?« »Wir kommen wegen unseres Wagens.« »Ihr habt keinen Wagen hier.« »Streit' doch nicht mit dem Mann«, sagte Hadley, der um die Ecke des Stalles kam. »Schneid ihm die Kehle durch und schmeiß ihn dort drüben ins Gebüsch!« Buchanans Herz schwankte, daß sein Adamsapfel hüpfte. Er verlor halb den Verstand vor Schreck, als er merkte, wie leicht das seinen Tod zur Folge haben konnte, wenn der Adamsapfel so gegen die Messerspitze hüpfte. Waren sie wirklich da, um einen Wagen zu holen, von dem sie irgendwie meinten, er gehöre ihnen? Würden sie ihm wirklich die Kehle aufschlitzen und ihn ins Gebüsch werfen? »Dein Pa macht doch nur Witze, oder?« fragte Buchanan.
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»Stimmt. Ich werde dir nicht die Kehle durchschneiden«, sagte Will. Nach einer Pause sagte er: »Was ich dir abschneiden werde, sind deine Eier.« »Also hör mal, Will«, sagte Buchanan und schluckte, und wieder hüpfte sein Adamsapfel gegen die Messerspitze. »Deine Eier werd' ich drüben ins Gebüsch schmeißen«, sagte Will. »Am Morgen werden die Schweine des Squires sie finden. Große Eier wie die müssen Buchanans Eier sein, werden die Schweine sagen. Dieser Buchanan muß ein richtiger Frauenheld sein. Muß er sein, weil er sich überall in der Stadt rühmt, wie er den Mädchen die Röcke hebt.« »Also, hör doch auf, Will«, sagte Buchanan. Hadley hatte die Stalltüren aufgemacht und zog den blauen Wagen des Squires heraus. Er warf einen Blick auf Buchanan und sagte: »Hast du ihm noch immer nicht die Kehle durchgeschnitten?«, und Will sagte: »Ich wollte ihm die Eier abschneiden, Pa«, und Hadley sagte »Der hat ja keine, Will.« Dann hängte er etwas an den Türgriff, einen kleinen Lederbeutel mit Lederzugbändern, und kam zurück zu der Stelle, wo Buchanan regungslos saß, immer noch mit dem Messer an der Kehle. »Mir scheint, ich sagte dir, du sollst dem Mann die Kehle durchschneiden«, sagte er zu Will. Nun war Buchanan sicher, daß sie scherzten. So meinte er. Er war aber gewaltig erleichtert, als sie ihm Hände und Füße fesselten, ihm ein Stück Werg in den Mund steckten und einen Lappen darum banden, und ihn an die Stallwand gelehnt zurückließen, als sie den Wagen über den Abhang hinunterzogen. Sean Cassada war durch das Maisfeld gekrochen, er lag nun in den Farnbüschen östlich des Chisholm-Hauses versteckt und sah zu, wie die Familie den Wagen belud. Sie hatten die Maultiere sofort ausgespannt, als sie in den Vorhof eingefahren waren; Maultiere waren 26
launisch und man konnte nicht voraussagen, wie sie sich verhalten würden, sie konnten ebenso leicht durchgehen wie schreien, und Sean vermutete, daß die Chisholms während des Beladens jede Panne vermeiden wollten. Sie gingen wie eine Reihe von Ameisen ins Haus und wieder heraus, Männer und Frauen trugen anscheinend all ihre irdische Habe und legten sie zögernd in den Wagen; wenn es einen bestimmten Sinn gab, nach dem sie die Dinge aufluden, dann konnte ihn Sean jedenfalls nicht erkennen. Servierteller, Teller und Becher aus Zinn, Kerzengußformen und Nachttöpfe, Gewehre und Jagdmesser, alles kam in den Wagen, jeder Chisholm trug etwas aus dem Haus und ging mit leeren Händen zurück, um gleich darauf mit einer neuen Last wiederzukehren. Wollene Jacken und Baumwollkleider, Gewehre und Wildlederhosen, Fleischermesser und – ach, Bonnie Sue trug eine Kaminuhr eng an ihren süßen Busen gedrückt; wie oft hatte er ihr Korsett gelöst, hineingelangt und diese zarten Brüste gestreichelt? Will Chisholm, der eines Morgens vor der Kirche gedroht hatte, ihn zu erwürgen, lud alle kleineren Werkzeuge der Familie – Äxte und Hämmer, Rauhhobel und Breitbeil, Bohrkurbel und Bohrwinde, Wasserwaage und Anschlagwinkel – in die Handkiste vorne im Wagen. Gideon band den Familienpflug an einer Seite des Wagens fest, Bobbo trug Schaufel und Spaten zur anderen Seite. Und da kam wieder Bonnie Sue aus dem Haus, diesmal trug sie drei, nein vier Hacken, die sie ihrem Bruder Bobbo reichte. Dann blickte sie direkt in das Gebüsch, und Sean war sicher, daß sie ihn gesehen hatte, doch die Nacht war so dunkel; hatte sie das Schlagen seines Herzens gehört? Gingen die Chisholms wirklich fort? Sean konnte es nicht glauben, und doch hatte er den Beweis vor Augen: heute verlor er Bonnie Sue, deren Brüste er geküßt und deren Brustwarzen er einmal mit einem Grashalm gekitzelt hatte, ihr Rock und Unterrock waren über ihre Knie hochgeschoben und darunter war sie nackt, aber sie ließ ihn nicht höher als bis zu der Stelle, wohin ihre Unterhose gereicht hätte, wenn sie eine getragen hätte. 27
Sie kam lange Zeit nicht wieder aus dem Haus. Sean lag dort geduckt unter dem Gebüsch und fragte sich, was sie wohl dort drinnen tun mochte. Als er sie mit einem Besen in der Tür sah, wurde ihm klar, daß sie die Zimmer ausfegte, bevor sie fortfuhren. Er erkannte mit jähem Entsetzen, daß der Augenblick der Abreise nahe war; sie verließen wirklich das Haus, und damit blieb auch Sean Cassada gebrochenen Herzens zurück. Er roch von seinem Platz im Gebüsch den erstickenden Staub, der in einer dicken Wolke vom Holzfußboden des Hauses aufstieg; wozu war ein sauberer Fußboden schon gut, es sei denn, um Schlangen abzuhalten, und auch das nicht allzugut. Bonnie Sue stand im Hauseingang und blickte wieder ins Gebüsch, und diesmal riß Sean die Augen weit auf, um das Weiße zu zeigen, und sie nickte kurz; da wußte er sicher, daß sie ihn gesehen hatte. Gideon, der größte von allen, führte nun die Maultiere zu dem Wagen. Der Wagen war blau gestrichen, in der Farbe blühender Zichorie. Sean hatte noch nie einen solchen Wagen gesehen, er war über eineinviertel Meter breit und anderthalbmal so lang oder vielleicht noch mehr – dreieinhalb bis vier Meter, schätzte er –, mit Eisenreifen auf den Rädern und Holzbügeln darüber zum Schutz, von denen aber jetzt keiner festgemacht war. An der Hinterachse hing ein Schmiereimer, und Bobbo füllte ihn nun mit Kiefernteer und Schweinefett; er roch drüben in seinem Gebüsch deutlich den Teer. Annabel Chisholm, die Bonnie Sue so ähnlich sah, daß Sean kaum erwarten konnte, daß sie erwachsen wurde, kletterte über die nach unten gekippte hintere Wagenklappe in den Wagen und ließ sich auf den neben dem Butterfaß aufgeschichteten Berg von Steppdecken und Kissen fallen. Der alte Hadley Chisholm kam aus dem Haus und prüfte die Befestigung des Pfluges und der anderen Werkzeuge, hob den Deckel der Handkiste hoch, blickte hinein und kontrollierte dann das Geschirr der Maultiere. Sean hörte, wie Gideon fragte: »Alles in Ordnung, Pa?« Hadley nickte und ging zurück ins Haus. Als er wieder herauskam, trug er vier Gallonen Whiskey an 28
seine Brust gedrückt. Er ging noch dreimal ins Haus und kam mit einem weiteren Dutzend Gallonen heraus, die er in den Wagen lud. Sean wußte, daß Bonnie Sue hinter ihm im Efeu war, noch bevor sie ihre Hand auf seine Schulter legte. »St!«, sagte sie und legte sich neben ihn, dann kam sie in seine geöffneten Arme. Sofort machten sich seine Hände an dem Baumwollleibchen zu schaffen, das sie trug, seine Finger knöpften es auf, er langte hinein, nahm ihre rechte Brust in seine hohle Hand und küßte Bonnie Sue auf die Lippen. Sein Herz schlug wild, er drückte sie krampfhaft an sich und küßte ihr ganzes Gesicht, ihre Wangen, ihre Nase, ihre geschlossenen Augen, voller Angst, er würde zu viel Lärm machen, entsetzt beim Gedanken, daß Will ins Gebüsch gestürzt kommen würde, um sie zu trennen, doch im Bewußtsein, daß sie fortging, daß er sie küssen, streicheln und festhalten wollte. Er ließ ihre Brust los und faßte dann wieder nach ihr, ließ sie gleich wieder los und senkte seine Hand zum Rand ihres Baumwollrocks, wo er an ihrem Schienbein hochgeglitten war, hob Rock und Unterrock hoch und strich mit seiner Hand an ihrem Bein entlang. Sie würde ihn jeden Augenblick abwehren, ihr Bruder würde sie jeden Augenblick finden. Gott würde ihn mit einem Blitzstrahl treffen, irgend etwas würde passieren, bevor er sie berühren würde, die seidige Weichheit ihrer – er konnte es nicht glauben, daß seine Hand dort war, er konnte nicht glauben, daß sie es gestattete, er fühlte wilde Erregung, wie noch nie vorher, und er versuchte, sie auf den Rücken zu wälzen, doch sie setzte sich statt dessen auf, jäh und plötzlich, ihre Hand packte sein Handgelenk. Er zog seine Hand zwischen ihren Schenkeln hervor, sie schob ihren Rock und Unterrock hinunter, dann beugte sie sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund. Er legte seine Hand an ihren Hinterkopf und spürte, wie ihr langes Haar über seine Finger fiel, und dann waren ihre Lippen an seinen Lippen. Er wußte, es war das letzte Mal. Sie erhob sich, sie stand, sie zog ihren Rock glatt, sie flüsterte: »Vergiß mich niemals, Sean«, und dann war sie fort. Er blieb liegen und beobachtete sie. 29
Hadley Chisholm saß auf dem Wagenbock, Minerva neben ihm. Beide Mädchen waren nun im Inneren des Wagens. Bonnie Sue blickte hinaus auf das Gebüsch, in dem er sich versteckte. Draußen vor dem Wagen saßen Gideon, Will und Bobbo auf ihren Pferden. Sean dachte: Sie gehen fort. Sie geht wirklich fort. Er wollte aus dem Gebüsch treten und wie ein Mann, der er war, den Chisholms zurufen, sie sollten Bonnie Sue zurücklassen, zurufen, daß er sie liebte. Aber wenn er das getan hätte, dann hätte Will nur seinen großen alten Wallach umgedreht und wäre herangeritten zu der Stelle, wo Sean wie ein verdammter Narr mit Tränen in den Augen stand, und hätte Sean entweder erwürgt oder angespuckt. Oder Gideon hätte sein altes Gewehr gehoben, auf seine entspannte, langsame Art gezielt, Sean eine Kugel durch den Kopf gejagt und wäre dann davongeritten. Statt dessen blieb Sean im Gebüsch liegen und versuchte noch einen Blick von Bonnie Sue zu erhaschen, aber sie sah vor sich hin, zur Vorderseite des Wagens, sie blickte nach Westen. Er wußte, er würde sie nie wieder sehen, so lange er lebte, und er sagte sich, es sei wichtig, daß er diese Abfahrt nicht vergaß, daß er sich an die Nacht erinnerte, in der Bonnie Sue aus seinem Leben verschwand. Seine Augen waren nun schon an die Dunkelheit gewöhnt, er konnte so scharf sehen wie eine Katze. Minerva Chisholm wandte den Kopf, um noch einen Blick auf das Haus zu werfen. Sie führte ihre Hand an den Mund und hielt sie einen Augenblick dort, die Fingerspitzen berührten leise ihre geöffneten Lippen. Das war es, was Sean nicht vergessen würde.
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Minerva
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enn du glaubst, ich fahre diesen Fluß hinunter, bist du verrückt«, sagte sie. Sie standen am Ufer des Ohio, knapp oberhalb der Wasserfälle, und sahen auf das Wasser, das in drei Meter hohen Fluten auf die unten liegenden Felsen stürzte. Sie hatten beinahe zwei Wochen gebraucht, um bis hierher zu kommen. Ihre Reise führte durch eine Gegend, die ebenso zivilisiert und ruhig war wie die bei ihnen daheim. Auf dem Weg durch die Schlucht und quer durch Kentucky herrschte ein reger Verkehr von Farmern und Händlern, die mit Gütern und Erzeugnissen unterwegs waren, um sie zu verkaufen. Die Chisholms tranken frische Milch und aßen frisches Gemüse. Auf einer Farm am Weg kauften sie ein Spanferkel und brieten es noch am selben Abend am Ufer eines Flusses. Wo immer es eine Scheune gab, ersuchten sie den Farmer um Erlaubnis, die Nacht dort verbringen zu können. Manchmal verlangte man eine geringe Bezahlung für das Dach über ihrem Kopf. Meist waren die Leute, die an der Straße wohnten, großzügig und gastfreundlich. Zwei Wochen, um hierher zu kommen, dachte Minerva. Es würde also nur zwei Wochen dauern, um dorthin zurückzukehren, wo sie hingehörten. »Dort draußen würde man gleich ertrinken«, sagte sie. »Es gibt Fahrrinnen, die hindurchführen«, erwiderte Will. »Ich sehe keine Fahrrinnen«, sagte sie und trat einen Schritt vom Rand zurück. Sie wollte nicht wieder auf den Fluß hinunterschauen, in dem es von Ästen, Baumstümpfen und zerbrochenen Dampfschiffschaufeln wimmelte. »Dein Sohn war schon hier, er kennt den verdammten Fluß«, sagte Hadley. »Mit Fluchen kriegst du mich auf kein Schiff, um über diesen Wasserfall hinunterzufahren. Keine wilden Indianer könnten…« »Es gibt Wasserrutschen, Ma«, sagte Will. »Man fährt über eine der Rutschen.« 31
»Es ist mir egal, ob es Rutschen oder Wasserrinnen oder geheime Unterwasserdurchfahrten gibt, die nur Männer kennen, die diese Stadt mit ihrem Tumult gegründet haben. Ich will heim, Hadley. Morgen in aller Frühe will ich umkehren und heimfahren.« »Morgen in aller Frühe fahren wir nach Westen«, sagte Hadley. »Du fährst vielleicht nach Westen«, sagte Minerva. »Wir alle fahren nach Westen«, sagte Hadley. »Du bist über diesen Wasserfall gefahren, Will?« »Man fährt nicht über ihn, Ma. Man fährt gewissermaßen durch ihn. Ich nahm einen Kahn und fuhr flußabwärts und stieg dann in Shippingport auf einen Dampfer.« »Dann laßt uns auch auf einem Dampfschiff stromabwärts fahren«, sagte Minerva. »Kostet zuviel«, sagte Hadley und schüttelte den Kopf. »Wieviel?« »Vierzehn Dollar pro Person, dazu kommt noch das, was sie für den Wagen und die Tiere verlangen würden.« »Ich bezweifele sogar, daß sie die an Bord nehmen, Pa«, sagte Will. »Auf dem Dampfer nach New Orleans gab es keine.« »Hadley«, sagte Minerva, »ich fahre heim. Wenn ich mich bei einem Wanderzirkus verdingen muß…« »Min…« »Als Trapezartistin oder als Dame mit Vollbart…« »Es ist wirklich nicht gefährlich«, warf Will ein. »Der Strom fließt schnell, und die Flußbreite ändert sich oft…« »Das höre ich sicher mit Freuden«, sagte Minerva. »Und es gibt auf dem ganzen Weg Inseln und Felsen…« »Klingt immer besser…« »Aber sieh doch mal dort hinunter, Ma. Schau dir all die verschiedenen Fahrzeuge an, die dort unten auf dem Fluß schwimmen. Sie haben es alle ungefährdet durch den Wasserfall geschafft, oder? Kein Grund, daß wir's nicht auch schaffen.« Unten gab es Flachboote und Kielboote, Langboote und Schleppkähne, leichte Flußboote, Plankenboote, Kanus und Kähne, Schu32
ten, Flöße und Paddelboote, Dampfschiffe, Schoner und sogar zweimastige Segler, die aus Europa gekommen waren. Sie konnte kaum ein Drittel der Schiffe, die sie dort unten auf dem Fluß sah, beim Namen nennen, aber ihre Zahl allein erfüllte sie mit neuer Furcht. Sogar wenn sie heil über den Wasserfall kommen würden – oder durch ihn, wie ihr Sohn behauptete –, würden sie nicht mit einem von den Schiffen zusammenstoßen, von denen es dort auf dem Fluß wimmelte? »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Kommt, wir suchen uns einen Mietstall«, sagte Hadley und seufzte. Die Stadt machte ihr ebenso Angst wie vorher der Fluß. Daheim wußte sie, was sie zu erwarten hatte, da gab es keine Überraschungen. Man kam auf einer breiten Sandstraße, die von Holzhäusern mit Lattentüren eingesäumt war, in die Stadt. Es gab mehrere kleinere Sandstraßen, die zu beiden Seiten abzweigten und gleichfalls von Holzhäusern eingesäumt waren, die zum Teil noch aus der Zeit der ersten Ansiedlung stammten. Die Stadt selbst begann unmittelbar nach der Abzweigung nach Bristol. Die breite Hauptstraße der Stadt war eigentlich die alte Wüstenstraße. Sie waren auf ihr nach Westen gefahren, als sie am zweiundzwanzigsten – das Datum würde sie niemals vergessen – losgezogen waren, und sie hatte sie direkt zur Cumberland-Schlucht geführt. In der Stadt, die Minerva ihr Zuhause nannte, gab es etwas über vierhundert Menschen (»manche von ihnen waren schon recht kurios«, sagte Hadley). Hier in Louisville waren es zwanzigtausend. Der Lärm allein genügte, damit ihr übel wurde. Sie trieb ihre Töchter die Gehsteige entlang, hielt sie fest an der Hand, an jeder Seite eine, aus Angst, sie würden niedergetrampelt werden, wenn sie nicht mit den Einwohnern Schritt hielten, die dicht gedrängt überall um sie herum hasteten, schoben und stießen. Die Gehsteige waren von Laternenpfählen eingesäumt. Die Straßen waren mit Kalksteinblöcken gepflastert. Auf den Straßen ritten Männer auf Pferden, Eseln und Maultieren. Wagen und Kutschen klap33
perten und ratterten, Karren und Lastwagen rumpelten vorbei – es konnte einem das Leben kosten, wenn man versuchte, die Straße zu überqueren! Jetzt kam ein stämmiger Schwarzer vorbei, der einen Karren schob und einem anderen Mann etwas zurief, der im Eingang einer Kneipe herumlungerte. Die Stadt war erfüllt von Lärm und Bewegung, Pferde wieherten und Maultiere schrien, Händler boten schreiend ihre Waren den Vorübergehenden feil, Lieferanten warfen Kisten auf den Gehsteig, sogar die Babys brüllten lauter, als Minerva je im Leben welche hatte brüllen hören. Das allgemeine Getöse erinnerte an das Kapitel in der Offenbarung, wo Johannes einen großen roten Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und sieben Kronen auf seinen Köpfen erblickte, dessen Schwanz ein Drittel der Sterne vom Himmel holte und sie auf die Erde warf, und nichts davon hätte mehr Tumult verursachen können, als es in dieser lärmenden, ekelhaften Stadt Louisville in Kentucky gab. Die Mädchen wollten herumschlendern, sie sagten Ah und Oh zu allen möglichen Dingen, die ihnen in den Schaufenstern auf dem Weg gefielen. Doch Minerva zog sie energisch vorbei an dem Kupfer- und Silberschmiedladen, dem Schneider und der Apotheke, einem Sattler, der extrafeine spanische Sättel zu je vierzig Dollar verkaufte, einer Möbelhandlung und drei Kaufhäusern, wovon eines Reklame für Textilwaren aus Boston und New York machte. Sie eilten an Theatern und Speisesälen, Tavernen und so vielen Kneipen vorbei, daß sie ein durstiger Mann in einem ganzen Jahr nicht durchprobieren konnte. Als Minerva endlich einen Laden fand, der die Waren führte, die sie zur Ergänzung ihrer schwindenden Vorräte brauchte, riß sie die Tür auf, als würden sie und ihre Töchter von Straßenräubern verfolgt, und zog sie sofort hinter sich zu. Stille. Gesegnete Stille. Der Ladenbesitzer war ein glatzköpfiger Mann mit rotbackigem Gesicht; er betrachtete die drei einigermaßen amüsiert, seine Augen blinzelten hinter der goldgerahmten Brille, ein leises Lächeln spielte um seinen Mund. Plötzlich sah sich Minerva durch die Au34
gen des Mannes – sie hatte Angst vor dieser Stadt und war sicher, daß sich ihre Angst in ihrem Gesicht zeigte. Das Lächeln des Mannes ärgerte sie, denn sie hatte das Gefühl, es drücke entweder Spott oder Mitleid aus, und sie konnte keines von beiden ausstehen. »Was finden Sie so amüsant?« fauchte sie ihn an. »Ma'am?« sagte er und riß die Augen hinter der Brille weit auf. Da wußte sie, daß sie ihn falsch beurteilt hatte, und errötete, wie es ihr, seit sie so alt gewesen war wie Bonnie Sue, nicht mehr passiert war. Als Entschuldigung sprach sie die Wahrheit. »Die Straßen machen mir Angst«, sagte sie. »Mir nicht«, sagte Annabel. »St!« sagte Minerva. »Wir sind weit fort von daheim, und ich habe noch nie eine so große Stadt gesehen.« »Es ist eine ordentliche Stadt«, sagte er, »wenn auch die Gewässer versumpfen und die Herbergen von Ungeziefer wimmeln. Werden Sie in einem der Hotels wohnen?« »Nein«, sagte Minerva, »aber ich bin Ihnen sehr verbunden. Ist das Kaffee, was ich dort sehe?« »Das ist Kaffee.« »Wieviel kostet das Pfund?« »Fünfzig Cents.« »Fünfzig Cents!« rief sie. »Das ist kein hoher Preis«, sagte er. »Es ist ein unerhörter Preis. Bei uns daheim bekomme ich ihn für dreißig.« »Er kostete bei uns, bevor er rar wurde, achtunddreißig.« »Ich brauche ihn jedenfalls«, sagte Minerva. »Aber Sie könnten mit einer Pistole und einer Maske vor dem Gesicht noch mehr Erfolg haben.« Der Mann lachte. »Wir gehen nach Westen«, sagte Annabel. »Wirklich?« sagte er. »Wieviel Pfund möchten Sie, Ma'am?« »Sagen wir zwei. Aber gutes Gewicht«, sagte sie. »Wir gehen nicht nach Westen, Annabel.« 35
»Doch, sicher«, sagte Annabel. »Wohin nach Westen, junges Fräulein?« »Kalifornien«, sagte Annabel. »Oder Oregon«, sagte Bonnie Sue. »Wir sind noch nicht entschlossen, wohin«, sagte Annabel. »Wir fahren heim, dorthin fahren wir«, sagte Minerva. »Und da sind Sie vernünftig. Wie steht es mit Maismehl, Ma'am?« »Was meinen Sie mit vernünftig?« »Sie wären tollkühn, die Reise um diese Jahreszeit zu versuchen.« »Meinen Sie den Wasserfall?« »Nun, der Wasserfall ist nicht so schlimm. Ich spreche davon, daß Sie in den Bergen auf Schnee stoßen können. Sagten Sie Mehl?« »Fünf Pfund«, sagte Minerva. »Was für Schnee?« »In den Rockies. Sie sind zu spät dran, um jetzt loszufahren. Hatten Sie gehofft, in Independence einen Wagenzug zu treffen? Denn die sind jetzt schon alle fort, verstehen Sie, und nichts würde die Indianer mehr freuen, als in den Prärien einen einzelnen Wagen zu treffen. Diese blutdürstigen Wilden würden…« »Keine Angst«, sagte Minerva, »wir fahren…« »…eure Männer skalpieren, euren Wagen verbrennen, eure Pferde stehlen, Sie und Ihre Töchter in die Gefangenschaft verschleppen… Wie steht es mit Melasse?« Die Kneipe war ein langgestreckter schmaler Raum mit einem Schanktisch an einer Seitenwand und einer Gruppe von Tischen am anderen Ende. In der Mitte der gegenüberliegenden Wand hing ein Elchkopf mit Geweih, und an den Tischen saßen fünf oder sechs Männer, die ziemlich übel aussahen und Schnaps tranken. Gideon und Will standen am Schanktisch und tranken Bier, drei oder vier Männer lehnten neben ihnen an der Theke. Hinter dem Schanktisch hingen ein Spiegel mit dunklem Holzrahmen sowie einige Porträts von Männern, die wie Flußschifflotsen aussahen. Es gab auch das Bild eines Showboats mit dem Na36
men Delta-Jungfrau; ein schwarzer Zwerg in einem karierten Anzug und flachem Strohhut stand auf dem Kai neben dem Schaufelrad. »Der Mann hatte keine Achsnägel mehr«, sagte Will kopfschüttelnd. »Und auch keine Achszapfen«, sagte Gideon. »Man würde doch meinen, eine so große Stadt…« »Ich hoffe nur, Pa hatte mehr Glück mit dem Schutzdach, das er sucht.« »Vielleicht könnten wir noch die Kette und das Tau finden, das wir brauchen.« »Ich glaube, in Evansville finden wir es eher.« »Oder vielleicht in Independence.« »Wenn wir jemals so weit kommen.« Der Mann neben Gideons Ellbogen wandte sich plötzlich zu ihnen um und sagte: »Verzeihen Sie, Gentlemen, aber wenn Sie die Absicht haben, einen Wagen auszustatten, wird Independence besser sein.« Er schien etwa in Gideons Alter zu sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, ein recht gut aussehender Bursche mit schwarzem Haar, das zum Teil unter dem breitkrempigen Hut verborgen war, den er schräg über der Stirn trug. Seine braunen Augen hatten die Farbe von wildem Ingwer, und er lächelte jetzt und zeigte Zähne, die noch nie gelb gewesen waren. »Independence ist nämlich der Ausgangspunkt«, sagte er. »Das heißt, wenn Sie nach dem Westen wollen.« »Wir wollen«, sagte Gideon. »Ich heiße Lester Hackett«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Gideon Chisholm«, sagte Gideon und schüttelte kurz und vorsichtig die Hand. »Das hier ist mein Bruder Will.« Will nickte. »Sie sind aber ein bißchen spät dran«, sagte Hackett. Er lehnte sich nachlässig an den Schanktisch, ein Ellbogen lag auf der blanken Mahagonifläche. Die Kneipe war ein düsteres, trostloses Lokal; 37
er leuchtete darin wie ein blauer Häher, der durch die Wipfel flitzt. Er war von Kopf bis Fuß in Blau gekleidet: der blaue Filzhut, dann eine blaue Jacke mit Samtkragen und Samtmanschetten, eine schmale blaue Krawatte, die vorn über seinem Rüschenhemd hing – das einzige, das an ihm nicht blau war, das und die braunen Stiefel. »Die Wagenzüge werden Ende April, Anfang Mai zusammengestellt.« »Das ist es ja«, sagte Gideon, »Anfang Mai.« »Der dritte Mai, wenn Sie's wissen wollen«, sagte Will. Er ärgerte sich über Hacketts Einmischung. Daheim in Virginia mengten sich Fremde nicht in Kneipengespräche, es sei denn, sie fragten höflich, wie man nach Bristol oder Fincastle oder westwärts zur Schlucht kam. »Der dritte ist heute, ganz richtig«, sagte Hackett und nickte. »Aber flußabwärts in Evansville ist es schon der sechste. Und in Independence, drüben auf der anderen Seite von Missouri, ist es schon Mitte Juni.« »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Will. »Ich will Ihnen sagen, Sir, daß Sie mit einigem Glück Ende des Monats nach St. Louis kommen werden, und dann müssen Sie noch zumindest zwei Wochen dazurechnen für die Fahrt nach Independence. Das bringt Sie in die zweite Juniwoche. Bevor Sie hinkommen, sind alle Züge schon seit über einem Monat losgezogen.« »Es muß doch ein paar verspätete Reisende geben«, sagte Gideon. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Hackett. »Wir werden welche finden.« »Es wird keine mehr geben, Mr. Chisholm. Sie sagten doch Chisholm?« »Ich sagte Chisholm.« »Gideon, nicht wahr?« »Ja, Gideon.« »Also, Gideon, ich sage Ihnen, daß sie schon längst fort sein werden. Sie werden keinen finden, der verrückt genug ist, um den Schnee in den Rockies zu riskieren. Die müssen sie vor dem Herbst hin38
ter sich haben. Manchmal schneit es schon Mitte September. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Meilen Sie vor sich haben? Wohin wollen Sie? Nach Kalifornien oder Oregon?« »Wir haben uns bis jetzt noch nicht entschlossen«, sagte Will. »Dann sagen Sie mir, Sir, wann werden Sie sich entschließen? Wenn die Indianer euch alle skalpiert haben und auf euren Gräbern tanzen?« »Ich kann nicht verstehen, was Sie das angeht, Sir.« »Dann verzeihen Sie mir«, sagte Hackett und wandte sich schnell ab. »Woher wissen Sie außerdem so viel über die Reise nach Westen, Sir?« »Lassen wir das«, sagte Hackett, immer noch mit dem Rücken zu ihnen. »Es geht mich nichts an, Sie haben recht, Sir.« »Sie sind es, der die Diskussion begonnen hat«, sagte Gideon. »Und ich werde sie nun beenden«, sagte Hackett, wandte sich aber wieder den beiden zu. »Danke, Gentlemen, daß Sie mit einem Mann Ihre Zeit verloren haben, der seit dem Jahr 1837 Reisegruppen nach Westen führt und nicht nur Independence als Ausgangspunkt, sondern auch Westport und Fort Leavenworth und St. Joe, neunzig Kilometer weit im Nordwesten, gut kennt.« »Wenn Sie ein Führer sind«, sagte Will, »dann sollten Sie sich beeilen, Mr. Hackett. In Independence ist es schon Mitte Juni.« »Gut gesagt, Sir«, rief Hackett lachend, »sehr gut. In diesem Jahr habe ich die Wagen sicher schon verpaßt. Glauben Sie mir, wenn ich nicht hier in Louisville ein Geschäft zu erledigen gehabt hätte, wäre ich in diesem Augenblick schon irgendwo an der Grenze von Missouri. Jetzt ziehen die Züge los, Freunde. Sie werden um einen Monat zu spät sein, wenn Sie hinkommen. Nehmen Sie diesen Rat von einem wohlmeinenden Fremden. Gehen Sie dorthin zurück, woher Sie kommen.« Er hob sein Whiskeyglas, trank, leckte seine Lippen und wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund. »Wo könnte das sein? Ich schätze, irgendwo stromaufwärts, wenn 39
nicht Ihre Stimmen wären. Was ich da höre, ist weder Ohio noch Pennsylvanien.« »Es ist Virginia«, sagte Gideon. »Dann sind Sie weniger als zwei Wochen von der Schlucht entfernt. Kehren Sie um. Gehen Sie zurück.« »Wir sind so weit gekommen…« »So weit?« sagte Hackett. »Ja, wenn Sie nach Independence kommen, haben Sie noch immer über dreitausend Kilometer zu reisen, bevor Sie an die Westküste kommen, ob Sie sich nun für Oregon oder Kalifornien entschließen. Kehren Sie jetzt um und ersparen Sie sich eine Menge Kummer.« »Ich glaube nicht«, sagte Will und schüttelte den Kopf. »Dann lade ich euch beide auf einen Drink ein«, sagte Hackett, »denn ihr seid entweder Helden oder Verrückte, und ich habe noch keinen von beiden je getroffen.« Es war am Spätnachmittag und der Laternenanzünder machte seine Runden. An der Spitze jedes Laternenpfahls, hinter der Verglasung, begannen die Lampen spuckend zu brennen, flackerten und glühten dann kräftiger, wobei sie warme Lichtkreise auf den Gehsteig warfen. Die Stadt wirkte nun weniger beängstigend. Die Menschenmenge war schütterer geworden, es gab weniger Verkehr und weniger Lärm. Das Holzschild vor dem Hotel knarrte in dem frischen Wind, der vom Fluß herüberkam. Der Lebensmittelhändler hatte Minerva davor gewarnt, daß die Hotels in Louisville verwanzt waren, aber sie hatte nicht die Absicht, dort zu schlafen, und außerdem sagte ihr das Schild, daß das Hotel einer Frau gehörte. Beladen mit Lebensmitteln ging sie mit ihren Töchtern durch den Vorraum zur Rezeption. Dort schrieb ein Angestellter etwas in ein in Leder gebundenes Buch. Sie wartete, bis er fertig war. »Ich suche Alice Pierson«, sagte Minerva. »Ja?« sagte der Angestellte. 40
»Ja. Gibt es hier eine Alice Pierson?« Eine Frau von etwa sechzig Jahren, die in einem Stuhl unweit der Rezeption saß und eine Zeitung las, blickte lebhaft hoch und sagte: »Ich bin Mrs. Pierson. Was gibt es?« »Sind Sie die Frau, deren Name auf dem Schild draußen steht?« »Ja, die bin ich«, sagte die andere. Sie hatte sich nicht von ihrem Stuhl erhoben. Ihr Haar war weiß, sie trug ein langes schwarzes Kleid, und eine vierreihige Perlenschnur zierte ihren Busen. Sie blickte zu Minerva und den Mädchen hoch; ihre Nase war zu lang für ihr Gesicht. »Sind Sie die Besitzerin dieses Hauses?« fragte Minerva. »So ist es«, sagte Mrs. Pierson. »Dann möchten meine Töchter und ich baden.« »Stellen Sie Ihre Pakete ab«, sagte Mrs. Pierson und erhob sich aus dem Stuhl. »Wir besorgen Ihnen Badewannen und heißes Wasser.« »Wieviel kostet es für jede von uns?« »Fünfzehn Cents für ein Bad und Sauberspülen.« »Ist Seife dabei inbegriffen?« »Wie denn wollen Sie den Schmutz der Reise loswerden?« »Ah, sieht man das so deutlich?« fragte Minerva. »Woher kommen Sie?« »Aus Virginia. Und morgen früh fahren wir zurück.« »Nehmen Sie zuerst Ihr Bad«, sagte Mrs. Pierson. Sie weichten sich genüßlich in drei Holzwannen ein, wuschen ihr Haar mit parfümierter Seife, gossen Eimer voll Wasser über ihre glitschigen Körper und sahen zu, wie das Seifenwasser so schaumig wie der Wasserfall von Ohio davonfloß. Nein, jetzt war sie mit Kenntnissen gewappnet; der Lebensmittelhändler hatte ihr unschätzbare Informationen gegeben. Hadley war vielleicht manchmal eigensinnig, aber er war nie draufgängerisch oder waghalsig. Es wäre sinnlos, noch weiter nach Independence zu fahren, da es keine Hoffnung gab, einen Wagenzug zu finden, wenn sie hinkamen. Wozu sollten sie sich den Gefahren des Wasserfalls aussetzen und dann 41
noch quer durch ganz Illinois trecken, nur um am Rand von ›nirgendwo‹ eine Stadt zu erreichen, von der man nirgendwohin kommen konnte? Es war so, als würde man einen Tag zu spät zu einer Party kommen. Hadley würde einsehen, wie albern das war, dessen war sie sicher. Sie würde mit ihm sprechen, sobald sie zum Mietstall zurückkam. Er würde es so eingerichtet haben, daß sie die Nacht dort verbringen konnten. Es würde sich nicht damit vergleichen lassen, in einem feinen Hotel zu schlafen, aber es war zumindest ein Dach über dem Kopf, und außerdem, wer konnte sich denn die Preise in dieser Stadt leisten? Sie hatte im Fenster eines Wirtshauses ein Plakat gesehen, man könne dort für fünfundzwanzig Cents Frühstück, Mittag- und Abendessen bekommen. Aber es kostete sie vierzig Cents, jedes ihrer Tiere mit Körnerfutter und Heu zu versorgen! Sie sollte sich wohl nicht beklagen, denn die Familie würde dort auch gratis schlafen. Der Mann sagte, er habe auch nichts dagegen, daß sie ihr Abendessen draußen auf dem Hof kochten. Es würde gut sein, wieder nach Hause zu kommen. In ihrem eigenen Haus kochen, vor ihrem eigenen Kamin ein Bad nehmen, nachher eine Tasse heißen Sassafrastee und dann rein ins Bett unter die Steppdecke, die Eva Chisholm, Gott segne sie, genäht hatte. Die Wanduhr zeigte zehn Minuten nach vier; sie würden sich beeilen müssen. Minerva stieg aus der Badewanne und begann sich mit einem der von Mrs. Pierson zur Verfügung gestellten Handtücher abzutrocknen. Bonnie Sue lag in ihrer Wanne auf dem Rücken, ihre Knie bildeten Inseln im Wasser, ihr Haar hing über die Holzwände der Wanne hinaus. »Bonnie Sue?« sagte Minerva. »Wir müssen jetzt gehen.« »Mmmm«, sagte Bonnie Sue. »Vorwärts, Liebling.« Auf der anderen Seite des Raumes hatte sich Annabel bereits abgetrocknet und zog ihre Unterhose an. »Bonnie Sue?« 42
»Ich könnte ewig in dieser Wanne bleiben.« »Du kannst massenhaft Bäder nehmen, wenn wir heimkommen.« »Fahren wir wirklich nach Hause, Ma?« »Du hast doch den Mann gehört, oder? Die Indianer würden uns lebendig auffressen, wenn wir nach Westen hinauskommen.« »Mmmm«, sagte Bonnie Sue. »Raus aus der Wanne – vorwärts jetzt!« Von der anderen Seite des Zimmers sagte Annabel: »Mama, in meiner Unterhose ist Blut.« »Laß mich sehen«, sagte Minerva. Sie legte das Handtuch weg, zog ihren Unterrock über den Kopf und ging dann barfuß zu ihrer Tochter, die ihre Unterhose betrachtete. Minerva nahm sie ihr aus der Hand. »Krieg ich die ›roten Tage‹?« fragte Annabel. »Sieht so aus, als würde es beginnen«, sagte Minerva. »Juuuhuuuu!« schrie Annabel und begann nackt im Zimmer herumzutanzen, wirbelte ihr Handtuch um ihren Kopf und brachte die Petroleumlampen zum Zittern. »Das ist nichts als andauernder Verdruß«, sagte Bonnie Sue in ihrer Wanne. »Ich bekam meine, als ich zwölf war.« »Es ist nichts, worüber man sich zu kränken braucht«, sagte Minerva, »aber Freude ist es auch keine.« »Nichts als andauernder Verdruß«, wiederholte Bonnie Sue. »Komm doch schon raus aus der Wanne! Ich werde etwas besorgen, Annabel, womit du dich verbinden kannst. Am besten, du trägst diese Hose, bis wir in den Mietstall kommen.« Annabel tanzte rund um ihre Schwester, während sie aus der Wanne stieg. Dann plötzlich blieb sie stehen, blickte ihre Mutter an und fragte: »Kann ich jetzt Kinder kriegen?« »Wenn du nicht achtgibst«, sagte Minerva. »Ich führe jetzt seit sieben Jahren Gruppen, die nach Westen ziehen«, sagte Lester Hackett. »Die Reise zur Küste und zurück habe 43
ich im ganzen fünfmal gemacht. Es ist nicht schwierig, wenn man's richtig angeht. Wie ihr sie plant, Jungs, das ist falsch.« Sie tranken nun schon seit über einer Stunde. Gideons Gesicht zeigte einen glasigen Ausdruck, er schien aber noch immer eifrig jedem Wort zu lauschen, das Hackett sprach. Will hatte schon lange das Interesse verloren. Auf der anderen Seite des Raums hatte sich eine geschminkte Nutte mit drei übel aussehenden Männern, offensichtlich Desperados, hingesetzt. Dann und wann blitzte ein Strumpfband. Das veranlaßte Will, sich zu fragen, wann er zum letztenmal eine Frau gehabt hatte. »Sind Sie Ire?« fragte Hackett. »Wer?« sagte Gideon. »Sie«, sagte Hackett. »Sind Sie einer?« »Ist nicht jeder einer?« sagte Hackett und lachte. »Auf dem Umweg über Schottland«, sagte Gideon. »Schottischer Ire.« »Auch gut. Wenn Sie nur kein Holländer sind. Ich lade Sie zu noch einem Drink ein. Woher aus Irland?« »Aus der Grafschaft Antrim.« Sechs Gräber sind jetzt dort auf dem Hügel, dachte Will. Großmutter Chisholm aus der Grafschaft Antrim, daneben ihr Mann William Allyn; meine zwei nach mir geborenen Brüder, die nie das Tageslicht erblickten; und meine Frau und das Baby. »Wollen Sie wissen, wieso ich die Wagenzüge nach Westen verpaßt habe?« fragte Hackett. »Wie?« sagte Gideon. »Ich kam nach Louisville auf der Suche nach einer Pokerpartie, als ich mit einem Dampfer aus Cincinnati flußabwärts fuhr. Ich kam von Carthage (Mississippi) mit vierhundert Dollar in bar und hoffte, daraus ein kleines Vermögen zu machen, das ich in Kalifornien investieren könnte. Verlor alles bis auf dreißig Dollar. Die dreißig hätt' ich auch verloren, wenn ich sie nicht in eine Tasche gesteckt hätte, die ich selten benutze.« 44
»Das ist eine Menge Geld«, sagte Gideon. »Außerdem verlor ich eine Taschenuhr und einen Ring, den mir mein Vater vererbt hat, ganz zu schweigen von einem Pferd und Sattel, einem feinen Kentucky-Gewehr mit Messing- und Silberintarsien und zwei spanischen Pistolen.« »Das ist eine Menge Geld«, sagte Gideon nochmals, als habe er Hacketts Aufzählung der übrigen Dinge überhört, die er verloren hatte. »Ich besitze noch genau drei Dollar und fünfzig Cents«, sagte Hakkett. »Wissen Sie, was ich damit zu tun gedenke?« »Was?« fragte Gideon. »Sie mit zwei irischen Gentlemen aus Virginia in dieser prima Kneipe zu vertrinken.« »Schottisch-irischen«, sagte Gideon. »Jederzeit, und dann gehe ich hinunter zum Wasserfall und stürze mich in den Fluß.« »Nein, das werden Sie nicht tun«, sagte Gideon und grinste. »Doch, ich tu's«, sagte Hackett und erwiderte das Grinsen. Sie starb mit achtzehn, dachte Will, sie und seine neugeborene Tochter, beide, das Baby machte seinen letzten Atemzug, knapp bevor sie es zum erstenmal aufgehoben hatte; Elizabeth hob plötzlich den Kopf vom Kissen, um sich im Zimmer nach ihm umzusehen, erblickte ihn, streckte die Hand nach ihm aus – und fiel dann wieder aufs Kissen zurück, tot. Er ging hinaus und stand allein hinter der Hütte, schrie seine Wut hinaus ins Weltall und weinte dann im Dunkel, bis sein Vater zu ihm trat und, gleichfalls weinend, den Arm um ihn legte, ihn ins Haus führte und zu Bett brachte. »Ich will dir sagen, was ich für euch tun werde«, erklärte Hackett. »Trink aus«, sagte Gideon. »Prost«, sagte Hackett. »Wenn ihr verrückt genug oder mutig genug seid, um nach all dem, was ich euch gesagt habe, weiter nach Westen zu wollen…« »Ma will zurück nach Hause«, sagte Gideon. 45
»Und sie hat recht. Was aber sagt Pa? Gibt es einen Vater bei euch hier in Louisville?« »Oh ja, tatsächlich. Hadley Chisholm selbst.« »Dann trinken wir auf Hadley Chisholm.« »Er soll leben«, sagte Gideon. »Und was sagt er?« »Worüber?« Die Frage verblüffte Hackett. Er starrte Gideon an. Gideon starrte zurück. »Worüber?« fragte Hackett. »Genau«, sagte Gideon und trank. Mitten in einer Arbeit erinnerte sich Will an etwas, das er Elizabeth fragen wollte. Er wollte zum Haus zurück, weil er dachte, sie dort zu finden, und plötzlich fiel ihm ein, daß sie tot und fort war, er konnte ebensowenig mit ihr sprechen, wie er Berge bewegen konnte. Mit der Hand auf dem Pflug oder an der Axt begann er zu weinen. Damals war Annabel erst drei Jahre alt; einmal kam sie auf dem Feld zu ihm, das kleine Ding, in einer Schürze, die ihrer Schwester gehörte. »Du mußt aufhören, Will«, sagte sie. Schluchzend sagte er: »Ich weiß, Liebling.« Und sie sagte: »Denn mir bricht das Herz, wenn ich dich weinen höre.« Die Nutte begann hemmungslos zu lachen, es kam tief aus ihrem Bauch. Sie war eine Brünette mit einem Lockenkopf, er konnte ihre parfümierten Titten deutlich durch das Lokal riechen. Einer der Männer am Tisch hatte seine Hand auf ihrem Bein, knapp unter dem Strumpfband, und kniff sie in ihren weißgepuderten Schenkel. Sie lachte wieder, und plötzlich dachte Will an all die Huren, die er von Texas bis zurück nach Virginia gebumst hatte, als er aufgehört hatte, an Lamars Seite zu kämpfen. Er war dorthin gegangen, um Elizabeth zu vergessen, was er ohnedies nicht in einer Million Jahren gekonnt hätte. Er ritt durch die Schlucht und quer durch Kentucky bis nach Louisville, das war im April 36 – er war losgezogen, als die Nachricht vom Massaker bei Alamo nach Virginia gedrungen war. 46
Dann weiter den Ohio entlang bis zu dessen Mündung in den Mississippi, und dann weiter nach New Orleans. Am neunzehnten holte er die Texas-Kavallerie ein und ritt zwei Tage lang mit ihr bis zur Überfuhr von San Jacinto, wo Houston darauf wartete, die Mexikaner aus einem Hinterhalt anzugreifen. Der Kommandeur der Kavallerie stammte aus Georgia. Will hätte beinahe laut herausgelacht, als er den Namen des Mannes hörte – Mirabeau Buonaparte Lamar. Im Eichengehölz war leises Pferdewiehern zu hören, Hufscharren, und dann plötzlich wurde es still. Will hörte jemanden flüstern: »Dort sind sie«, und dann gab Lamar den Befehl zum Angriff. Er sah verdammt viel Blut an dem Tag. Fickte sich durch, den Weg zurück nach Virginia. Bumste jede Nutte, die er auf der Heimreise traf. Konnte Elizabeth nicht vergessen und auch nicht vergessen, wie zehntausend Mann brüllten: »Denkt an Alamo!« Es regnete Säbelhiebe. Blut auf dem Hals seines gesprenkelten Wallachs. Fickte jede Hure. »Will euer Pa weiter nach Westen?« »O ja«, sagte Gideon. »Dann mache ich euch einen Vorschlag«, sagte Hackett. »Ich führe euch nach St. Louis. Was hältst du davon?« »Klingt gut«, sagte Gideon. »Kostet nichts«, sagte Hackett, »gratis. Setzt mich nur irgendwo in den Wagen und gebt mir dann und wann einen Bissen zu essen. Was meint ihr?« »Klingt ganz gut«, sagte Gideon. »Was meinst du, Will?« »Tut mir leid«, sagte Will, »ich hab' nicht zugehört.« »Helfe euch ein Schiff finden, das euch den Ohio flußabwärts bringt, und führe euch dann nach St. Louis«, sagte Hackett. »Dort hab' ich Freunde, die mir einen Job verschaffen werden. Wenn ich mir dann so viel erspart habe, wie ein gutes Pferd mit Sattel und Zaumzeug kostet, das werden so etwa hundertfünfzig Dollar sein…« »Das ist etwas zu hoch«, sagte Gideon, »um zwanzig Dollar zuviel, meine ich.« »Nein, in St. Louis kostet es soviel.« 47
»Daheim in Virginia…« »Nun gut, vielleicht hundertvierzig.« »Hundertdreißig, Lester.« Will dachte, die Zeit sei ihr Hauptfeind. Er wollte nicht zurück nach Virginia, dort gab es für ihn nichts als schmerzliche Erinnerungen und Kneipenhuren. Er wollte aber auch nicht allein durch das Indianergebiet ziehen. Wenn die Wagenzüge schon fortgezogen waren, dann konnten sie bestenfalls noch hoffen, sie irgendwo auf dem Weg hinter Independence einzuholen. Wenn Hackett ihnen helfen konnte, Zeit zu gewinnen, würde er wohl das ganze Essen wert sein, das er zwischen hier und St. Louis verzehren konnte. »Was Ihren Vorschlag betrifft«, sagte Will. »Welchen Vorschlag, Will?« »Den, den Sie uns da gerade gemacht haben. Bezüglich…« »Ich habe einen besseren«, sagte Hackett. »Vielleicht haben Sie die reizende junge Dame dort drüben bemerkt, die zufällig ein Dutzend oder noch mehr Schwestern aufzuweisen hat. Warum fordern wir sie nicht auf, uns drei nette Bürschchen nach Hause mitzunehmen?« »Klingt gut, Lester«, sagte Gideon und klopfte ihm auf den Rücken. »Komm' Will, holen wir uns Weiber!« »Holen wir uns Kaffee«, sagte Will. Das letzte, das sie auf Erden wünschte, war ein Streit mit ihrem Sohn. Sie hatte Hadley überzeugt, hatte ihm alles erzählt, was sie vom Ladenbesitzer wußte, und er hatte natürlich eingesehen, wie vernünftig es war, und eingewilligt, umzukehren. Nun kam da Will mit einem Fremden, der sich als Führer nach St. Louis anbot. Das Abendessen kochte im Hof vor dem Stall, das würzige Aroma von bratendem Schweinefleisch vermengte sich mit dem Gestank der Pferde, der Maultiere, des Heus und des Mistes. Es war kalt im Stall, aber sie ließen die Türen einen Spalt weit offen, sonst wäre der Gestank unerträglich gewesen. Lester Hackett rauchte eine lan-
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ge Zigarre; er hatte seine Füße mit den Stiefeln auf dem Schwemmentrog, sein Hut saß schräg nach hinten auf seinem Kopf. »Was ich euch besorgen kann, ist ein Breithornboot«, sagte er. »Das ist so ähnlich wie ein Flachboot, aber nicht ganz so primitiv. Es hat ein Deck und eine Kabine, in der sich die Damen aufhalten können, aber die langen Ruder werden nur von zwei Mann bedient – daher hat das Boot seinen Namen – und das Heckruder vom Steuermann, das ist alles. Der Steuermann, an den ich denke, ist ein gewisser Jimmy Jackson, nicht verwandt mit dem ehemaligen Präsidenten. Er schuldet mir einen Gefallen; ich glaube, ich kann ihn dazu bringen, den Wagen und die gesamte Gruppe für nur zwanzig Dollar zu übernehmen. Das ist nicht teuer, wenn man die Flußschiffpreise kennt.« »Wäre das bis hinunter nach Evansville?« fragte Will. »Ja«, sagte Lester. »Ich hab' noch nicht mit ihm gesprochen, aber ich bin sicher, das wird das Ziel und der Preis sein.« »Das ist sehr nett, Mr. Hackett«, sagte Hadley, »aber zufällig fahren wir nicht nach Evansville. Wir gehen zurück nach Virginia.« »Also, wer zum Teufel hat das beschlossen?« fragte Will. »Du fluchst noch einmal in diesem Haus und…« »Es ist doch nur ein Stall, Ma«, sagte Will. »Wer hat also beschlossen, daß wir umkehren?« »Ich«, sagte Hadley. »Ich bin noch immer das Oberhaupt dieser Familie, mein Sohn, und ich habe nicht die Absicht, sie in Gefahr zu bringen. Ich weiß zwar, daß es uns einiges gekostet hat, hierherzukommen, aber ich habe vor, den Whiskey zu verkaufen und so den Verlust wieder wettzumachen. Weißt du, welche Preise man hier bekommt?« »Pa, ich habe einen Mann gefunden, der uns in nicht mehr als zehn Tagen nach St. Louis bringt«, sagte Will. »Stimmt das, Lester?« »Es ist richtig.« »Und wir fahren schnell, wenn wir Independence verlassen…« »Die Wagenzüge sind aus Independence bereits fort«, sagte Minerva. 49
»Das weiß ich, Ma. Aber wir können sie einholen, stimmt das nicht, Lester?« »Es läßt sich machen, ja«, sagte Lester. »Hier wird gewöhnlich Rum für vier Dollar die Gallone verkauft«, sagte Hadley. »Für Brandy zahlt man sechs. Ich will meinen Whiskey teuer verkaufen und nach Hause zurückfahren, bevor die Cassadas sich meine Brennerei unter den Nagel reißen. Das will ich tun«, sagte Hadley. »Genau«, sagte Minerva und nickte. »Laßt uns darüber abstimmen«, sagte Will. »Wir brauchen keine Abstimmung. Ich habe es bereits beschlossen«, sagte Hadley. »Es gibt noch andere in dieser Familie«, sagte Will. Hadley blickte seinen Sohn an. »Ja, Pa«, sagte Will. »Auch ich habe ein Leben. Ich will in den Westen gehen. Ich will mein eigenes Leben führen, Pa.« Hadley blickte ihn noch eine Weile an. Dann wandte er sich ab und sagte: »Also dann vorwärts, stimmen wir ab.« »Pa?« »Ich sagte, vorwärts, stimmen wir ab.« »Wofür stimmst du?« »Das weißt du ja. Ich will nach Hause.« »Ma?« »Jawohl. Nach Hause.« »Gideon?« Gideon blickte seinem Vater in die Augen. »Nach Westen«, sagte er. »Bobbo?« »Nach Westen.« »Bonnie Sue?« »Nach Westen.« »Annabel?« »Nach Westen.« 50
»Auch ich stimme für den Westen«, sagte Will und machte eine Pause. »Pa?« sagte er. »Ich hab's gehört«, sagte Hadley, ging plötzlich zum Wagen und zog seinen Jutesack aus der Werkzeugkiste. Er ging auf Lester zu, der elegant und fein herausgeputzt dort stand, und sagte: »Sie gingen ein dutzendmal in den Westen und wieder zurück, stimmt's?« »Fünfmal, Sir«, sagte Lester. Minerva beobachtete die beiden. Sie wußte, was in dem Jutesack war. Sie ahnte, daß auch Lester es wußte, obwohl kein Geräusch aus dem Sack drang. Nichts verriet das zusammengerollte kalte Geheimnis im Inneren. Sie hatte gehört, daß manche Männer die Gegenwart von Gefahr riechen konnten. In Lesters Augen sah sie nun etwas anderes glänzen als Intelligenz, sie bemerkte auch das leise Zucken seiner Nasenflügel. Entweder wußte er, daß eine Klapperschlange in dem Sack war, oder er reagierte auf Hadleys aggressive Haltung. Was immer in dem Sack war, Lester spürte die Feindseligkeit, die in der Luft lag und stärker war als der Gestank von Pferdeschweiß und Maultiermist. »Fünf- oder sechsmal, das macht kaum einen Unterschied«, sagte Hadley. »Ich will nur sicher gehen, daß Sie ein Mann sind, der mit den Verhältnissen des Weges gut vertraut ist.« »Das bin ich, Sir«, sagte Lester. Sein Blick wich nicht von dem Sack. »Und da Sie mit den Verhältnissen des Weges vertraut sind, bin ich sicher, daß Sie das, was hier in diesem alten Sack ist, oft gesehen haben.« Hadley öffnete den Sack, langte hinein, und als er die Hand wieder herauszog, brachte er die Schlange zum Vorschein, die er hinter dem Kopf festhielt. Er drückte ein wenig, und die Kiefer der Schlange öffneten sich weit. Lester blickte auf das Tier. »Ja, Sir«, sagte er, »aber solche von der westlichen Sorte.« »Ja, eine Schwester oder Kusine«, sagte Hadley. 51
»So könnte man es nennen.« »Sehen Sie sie näher an«, sagte Hadley und setzte die Schlange auf den mit Heu bestreuten Boden unmittelbar vor Lesters Füße. Kaum lockerte er seinen Griff, begann die Schlange zu klappern und zu zischen. Lester machte einen Schritt nach rechts, gerade als die Schlange zubiß; ihre Zähne schlugen ins Leder seines linken Stiefels. Die Schlange wich zurück und rollte sich zu einem ›S‹ zusammen, während Lester rasch hinter sie trat, nach unten faßte und sie hinter dem Kopf ergriff, wie Hadley es getan hatte, als er sie keine zwei Minuten vorher aus dem Sack gezogen hatte. Lester lächelte. Er hob die Schlange nah an sein Gesicht empor, die Kiefer standen weit offen, Gift tropfte aus ihren Giftzähnen. Er sah der Schlange ins Maul und sagte: »Soll ich ihr das Rückgrat brechen, Sir, oder wollen Sie sie noch weiter als Spielzeug?« Der Schleppkahn – denn das war er, es hatte keinen Sinn, seinen Namen oder seine Schlichtheit zu bemänteln – beförderte eine volle Ladung Mehl und Hanf, Federn und Seife, unverpacktes Schweinefleisch, getrocknete Bohnen, Ginseng und Seneca-Öl, hundertvierzig Hühner und ein Dutzend Sklaven in Ketten flußabwärts. Die Sklaven waren im Heck zusammengepfercht, blickten auf den schäumenden Fluß hinab, jammerten und seufzten verzweifelt oder beteten; Minerva konnte es nicht unterscheiden. Der Ohio führte Hochwasser, es hatte in den letzten zwei Wochen in Louisville fast ununterbrochen geregnet. Andernfalls wären sie nicht durch den Wasserfall auf der Kentucky-Seite gekommen, der bei niedrigem Wasserstand unpassierbar war. Die Strömung war reißend, im Wasser wimmelte es von Treibgut, hervorstehenden Blöcken und Baumstämmen, die unterhalb im Schlamm steckten. Ein anderer Kahn war an der Felsbank zerschellt, die sich quer durch den Fluß zog, und der Anblick war nicht dazu angetan, Minerva von ihren Befürchtungen zu erlösen. Sie kniff die Augen zusammen, als sie näher ka52
men, und öffnete sie gleich wieder, als sie Jimmy Jacksons Stimme hörte, die den Lärm des Wasserfalls übertönte. »Hat sie Angst vor dem Fluß?« schrie er. »Achtung, auf Ihr Steuer!« schrie sie zurück. »Ich hab' die Fahrt schon tausendmal gemacht! Ich kann sie mit verbundenen Augen schaffen!« »Dann bitte tun Sie es schweigend!« »Es ist ja nur ein Fall von siebeneinhalb Metern…« »Aufgepaßt!« kreischte sie. Der Kahn drehte vor einer Insel in der Strommitte scharf ab. Jackson lachte. Hinter ihnen toste und brüllte der Wasserfall. Die Sklaven jammerten jetzt unisono ein Klagelied, das das Gackern der Hühner in ihren Käfigen übertönte. Durch das Jammern und Gackern, das Schreien und Patschen konnte Minerva den Käpt'n noch immer lachen hören. Plötzlich war es still. Sie waren lebendig durch die Passage gekommen; Minerva schien es wie ein Wunder. Sie blickte nach vorn, wo eine der Sklavinnen, ein dralles Mädchen in einem Hanfkleid, über den Fluß starrte. Das Jammern war verstummt. Die Sklaven waren so stumm wie die Fluten, durch die das Boot glitt. »Siehst du die Dampfschiffe dort vorne?« fragte Will. »Jawohl«, sagte Minerva. »Das ist Shippingport.« »Hat sie noch immer Angst?« schrie Jackson. »Was ist los mit ihm?« fragte Hadley. »Ist der Mann übergeschnappt?« »Scheint so«, sagte Minerva verblüfft. Einen Mann wie Jimmy Jackson hatte sie noch nie getroffen. Er war einsneunzig groß und wog zweihundertfünfzig Pfund. Bärtig und zottig wie ein Grizzlybär, selbst der riesige Gideon wirkte klein neben ihm. Er trug ein Hemd mit abgeschnittenen Ärmeln, 53
damit seine Arme unbehindert das Ruder führen konnten. Seine Hose war zu eng für seine gewaltigen Massen; sie spannte sich eng um seine Schenkel und Hüften und war um mindestens zehn Zentimeter zu kurz. Seine dichtbehaarten Schienbeine waren zwischen dem Hosensaum und dem oberen Rand seiner Schuhe nackt. Er stand grinsend da, Gesicht und Bart naß, eine durchnäßte Wollmütze in die Stirn gezogen und einen kleinen goldenen Ohrring im linken Ohrläppchen. Minerva glaubte, daß er auf der Fahrt durch die Wasserfälle mit ihr geflirtet hatte, und sie glaubte auch, daß sie sein Flirten ein bißchen erwidert hatte – aber nur in der Art, wie sie es bei einer Feier von Stallnachbarn oder einer Taufe getan hätte, wenn alle gut gelaunt waren. Auch dann hieß es nur: »Jeremy, das ist der leuchtendste Schlips, den ich je gesehen habe. Willst du etwas in Brand stecken?« Es war eher ein Necken als ein Flirten. Auf den Hügeln, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, wurde die Frau eines Mannes von den Männern, die seine Nachbarn waren, respektiert, und durchreisende Fremde hüteten sich, Blicke zu werfen, die man hätte mißverstehen können. Minerva war dreiundfünfzig Jahre alt, und die Neckereien, an denen sie Gefallen fand, hatten mit Schöne-Augen-Machen und Knöchel-Sehen-Lassen so wenig gemein wie ein Opossum mit einem Stinktier. Sie redete gern frei mit einem Mann und hörte gern, daß er ihr frei antwortete. Sie hatte mit dem Käpt'n genauso gesprochen, wie sie es mit Benjamin Lowery in seinem Kaufhaus getan hätte, wenn er ihr für einen Meter Kaliko zwei Dollar berechnet hätte anstatt einen Dollar fünfundsiebzig. Ihre beste Freundin, Millie Bain, die größte Flirterin, die sie kannte, trieb es mit dem Gemischtwarenhändler, als wären sie das größte Liebespaar, klimperte mit den Wimpern bei den Pfirsichen und Birnen, daß Minerva am anderen Ende des Ladens rot wurde. Und doch war das Ganze harmlos. Es gab keine Frau auf den Hügeln, bei der es je anders gewesen wäre. Nun ja, Charity Lewis, die vor drei Jahren aus England gekommen war und sich ihres Namens würdig erwies, wenn es darauf an54
kam, sich jemandem hinzugeben. Andy Lewis wußte nicht, was gespielt wurde, bis er einmal heimkam und sechs muskulöse junge Burschen vorfand, die vor der Schwelle seines Hauses saßen. Er fragte, was denn da los sei. Die Jungs wußten nicht, daß er Charitys Ehemann war. Sie waren aus Damascus herübergeritten, wo es sich bereits herumgesprochen hatte, daß es drüben auf den Hügeln eine Dame gab, die zu allem möglichen bereit war. Sie kamen einfach her über die Grenze von Tennessee, über den Copperfluß und den Copperhügel. Andy Lewis stand dort und fragte, was denn los wäre, daß sechs ungeschlachte Burschen auf seiner Schwelle saßen. Einer von ihnen sagte Andy, sie warteten darauf, bei der englischen Dame an die Reihe zu kommen. Und Andy solle doch Platz nehmen, wie die anderen auch. Andy holte sein Gewehr aus dem Wagen, stürmte ins Haus und schoß auf den Burschen, der auf Charity lag, die sich kaum einen Stoß entgehen ließ, das behaupteten zumindest die Damen auf den Hügeln, als sie die Sache besprachen. Die sechs Burschen draußen liefen um ihr Leben. Andy Lewis jagte hinter ihnen her und feuerte, so schnell er laden konnte. Später ließ er sich von Charity scheiden, die erste Scheidung auf den Hügeln, an die sich Minerva erinnern konnte, obwohl es einige in der Stadt gegeben hatte. Charity fuhr zurück nach London, wo sie bei ihrem Vater wohnte, der dort Metallwarenhändler war. Ja, es gab also Neckerei und es gab Flirt und dann und wann einen oder zwei Klapse (sie hatte einmal gesehen, daß Hadley die Hand auf Fanny Carters Hintern hatte; abends im Bett fragte sie ihn, ob es ihm Vergnügen gemacht habe, Fannys Hinterbacken abzugrapschen), aber nichts davon war ernsthaft – es sei denn, man hatte es mit einer Verrückten zu tun wie Charity Lewis, die ja schließlich eine Ausländerin war. Sie waren gottesfürchtige Leute, die nicht einmal im Traum daran dachten, die Frau ihres Nachbarn zu begehren, genausowenig wie dessen Ochsen. Sie wußte aber sofort, daß Jimmy Jackson nicht der Mann war, den man wegen der mottenzerfressenen Mütze necken konnte, die er in die Stirn gezogen trug, noch wegen des Ohrrings in seinem 55
rechten Ohr. Es war eine Wildheit in seinen Augen und etwas Irres in seinem Lachen. Was für sie nur Neckerei gewesen war, hielt er anscheinend für Unverschämtheit. Sie beschloß, sich auf der Reise flußabwärts von ihm fernzuhalten. »Fühlt sie sich einsam?« fragte er. Er schlich sich so heimlich an sie heran wie eine Katze und erschreckte sie. Sie blickte über die Seitenwand auf die Farmen entlang des Flußufers. Der Anblick von Frauen, die in ihrem Hof hantierten, erfüllte sie mit Sehnsucht nach ihrem Heim in Virginia. Jackson hatte ihre Stimmung fast erraten; sie fühlte sich nicht einsam, aber sie hatte wirklich Heimweh, und das war so etwas Ähnliches. »Guten Tag«, sagte sie. Es gab nur eine Art, mit diesem Mann zu sprechen, und das war auf einfachster Ebene. Man brauchte ihm nur eine Andeutung von Humor zu zeigen, und schon faßte er es falsch auf. Sie warf einen Blick nach vorn, wo Hadley mit dem Mann sprach, dem die Sklaven gehörten. »Wohin werden sie geschickt?« »Sie interessiert sich also für Sklaven?« fragte Jackson. »New Orleans. Der Mann, der mit Ihrem braven Mann dort spricht, gibt seine Farm im Shenandoah auf. Er zieht nach Norden, hat sich dort eine Mühle gekauft. Hat die Nigger mit dem Wagen nach Louisville gebracht.« »Wird er sie in New Orleans verkaufen?« »Das hat er vor. Er wird sie besser verkaufen«, sagte Jackson und begann zu lachen. »Mir zahlt er fünf Dollar pro Kopf dafür, daß ich sie transportiere, und das ist mehr, als ich für Sie und Ihre gesamte Ladung bekomme. Er bot mir an, mir seine kräftigsten Burschen für zwei Dollar das Stück auf der Fahrt flußabwärts zu vermieten; ich sagte ihm, ich habe schon zwei in der Mannschaft und brauche keine verdammten Nigger vor den Füßen. Was halten Sie von der Figur des Mädchens dort?« »Wie bitte?« sagte Minerva. 56
»Die hat Titten wie eine Zuchtstute«, sagte Jackson. »Die würd' ich für zwei Dollar gern…« Doch Minerva war schon fortgegangen. Er nannte sie dauernd ›sie‹, als spräche er von einer dritten Person und nicht zu Minerva selbst. »Sieht sie die Sägemühlen?« fragte er, als sie an New Albany vorbeikamen. »Gibt es so etwas in Virginia?« »Bei uns zu Hause gibt es massenhaft gesägtes Holz«, sagte sie kurz und merkte gleich, daß er sie hänseln wollte und ihr die zornige Antwort entlockt hatte, die er erwartete. Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann in ruhigerem Ton fort, als spräche sie zu einem vernünftigen Mann und nicht mit einem Verrückten. »Als ich ein Mädchen war«, sagte sie, »konnte man Sägeholz nicht billiger als fünf bis sechs Dollar die dreißig Meter bekommen, je nachdem wie weit es den Clinch stromabwärts befördert wurde.« »Aber jetzt gibt es schöne, elegante Möbel in Ihrem Haus, nicht wahr?« »Unser Haus daheim war einfach, aber in Kirschholz«, sagte sie ruhig. »War es größer als die Kabine dort in der Mitte des Bootes?« »Richtig«, sagte Minerva. »Und alles darin war Eigenbau außer der Kirschholzkommode, die sie nach Westen mitnimmt.« »Wieso haben Sie…« »Ich hab' sie durch das offene Schutzdach gesehen«, sagte Jackson und lachte. »In dem Wagen gibt es genug Zeug, um das Haus des Gouverneurs einzurichten. Zinnteller und Holzschalen, Jagdtaschen und…« »Das alles haben Sie nicht durch das Schutzdach gesehen«, sagte Minerva. »Waren Sie in dem Wagen?« »Nur um an ihrem Kissen zu schnüffeln«, sagte Jackson.
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»Hätten Sie Lust, durch eine blutende Nase zu schnüffeln?« fragte sie und ließ ihn sofort allein. Aber sie zitterte. Am dritten Reisetag blieb sie in Hadleys Nähe und bei ihren Söhnen, behielt Jackson ständig im Auge und sorgte dafür, daß sie nie allein in der Kabine oder neben den äußeren Seitenwänden blieb, wo sie außer Sicht war. Gegen drei Uhr nachmittags fragte jedoch Lester die Männer, ob sie Poker spielen wollten. »Kenn' das Spiel nicht«, sagte Hadley. »Werde es Ihnen gern beibringen, Sir«, sagte Lester, und Hadley begann zu lachen. »Sie sind sicher ein Falschspieler«, sagte er. »Wollen Sie bei uns alles gewinnen, was Sie auf dem Dampfer verloren haben?« Lester wandte sich an Jackson, der am Ruder stand, die Wollmütze über ein Auge gezogen; sein goldener Ohrring glänzte in der Sonne. »Hallo, Kapitän!« rief er. »Können wir eine Handvoll von den Bohnen haben, die Sie transportieren?« »Zu welchem Zweck?« rief Jackson zurück. »Um sie statt Geld zu verwenden.« »Den Trick möchte ich gern sehen«, sagte Jackson. »Bedienen Sie sich, aber verstreut sie mir nicht überall auf Deck.« »Suchen wir uns einen Platz in der Sonne«, sagte Lester, und die Männer erhoben sich, Minerva mit ihnen. Hadley nahm sie beiseite. »Was gibt es, Min?« fragte er. »Was meinst du?« »Tut dir etwas weh?« »Nein«, sagte sie. »Was ist es denn? Du klebst an mir wie…« »Da sind die Farmen schuld und all das.« »Die Farmen?« »Daß ich sie da entlang des Ufers sehe.« »Also, Min, wir wollen hier Karten spielen.« 58
»Das weiß ich.« »Es könnten da Reden geführt werden, von denen ich nicht will, daß du sie hörst.« »Es gibt keine Reden auf der Welt, die ich nicht gehört hätte. Ich könnte dir selbst Dinge sagen, daß du Blasen auf den Augen kriegst.« »Das stimmt«, sagte er und lächelte. »Aber ich weiß, du magst Fluchen nicht, und es könnte dazu kommen, wenn die Karten in der einen oder anderen Weise schlecht fallen.« »Mir macht Fluchen nichts aus«, sagte sie. »Das ist aber neu«, sagte er. »Schon möglich.« »Aber mir macht es etwas aus, daß du es hörst. Also, bleib nur schön hier und laß uns beim Spielen in Frieden. Es wird schwierig genug sein, es zu lernen, auch ohne daß man sich bei jedem Wort, das fällt, zusammennehmen muß.« »Hadley…« »Ja, Min?« »Nichts.« »Was gibt es?« »Nichts.« Sie beobachtete die Männer, wie sie nach vorn zu der Stelle gingen, wo die Bohnen in Hanfsäcken aufgestapelt waren. Lester schaufelte einen Hut voll davon heraus, und die Männer setzten sich auf der Steuerbordseite des Bootes in die Sonne. Sie ging rund um die Kabine, denn sie hoffte ihre Töchter zu finden, zu denen sie sich setzen wollte. Da vertrat ihr Jackson plötzlich den Weg. Er grinste breit, seine tabakgelben Zähne hoben sich von dem schwarzen Bart ab, seine braunen Augen glänzten unter der schräg in die Stirn gezogenen Wollmütze. Sie merkte sofort, daß der Ohrring in seinem Ohr fehlte. Er streckte seine geballte Faust aus und öffnete sie dann. Der goldene Ring blitzte in der Nachmittagssonne, glühte wie lebendig auf seiner Handfläche. »Will sie ihn?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. 59
»Sie wird ihn nehmen«, sagte er, »ob sie will oder nicht«, und machte einen schnellen Schritt auf sie zu. Er hielt den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ ihn in ihr Leibchen fallen. Sie spürte, wie er über ihre Brüste und in ihrem Unterrock nach unten glitt. Bald darauf fiel er aus ihrem Rocksaum klappernd auf das Deck. »Ah, und ich dachte, sie würde ihn vielleicht zwischen ihren Beinen auffangen«, sagte er, warf den Kopf zurück und lachte. »Lassen Sie mich in Frieden«, sagte sie. »Ich glaube nicht«, erwiderte Jackson und kam auf sie zu, als Annabel um die Ecke der Kabine kam. »Ma!« rief sie. »Komm doch und schau! Eine Fähre, ganz rot, gelb und blau, überquert den Fluß!« »Ich komme«, sagte Minerva, hob den Ohrring auf und warf ihn über Bord. Auf einem rostigen Eisenofen in der Kabine kochte Minerva das Abendessen und eine Kanne Kaffee von den kostbaren zwei Pfund, die sie in Louisville gekauft hatte. Es war die Nacht des sechsten Tages; am nächsten Morgen in der Früh würden sie in Evansville sein. Die Luft war beinahe lind, eher wie im August als im Mai. Draußen auf Deck plauderten die Männer mit dem Shenandoah-Farmer. Ihre Stimmen hallten über das Wasser. Vom Flußufer hörte Minerva das Muhen einer einsamen Kuh. Sie nahm die Kaffeekanne vom Ofen und horchte. Das Muhen der Kuh erinnerte sie lebhaft an die Kuh, die Bonnie Sue vor Jahren zu ihrem Lieblingstier erkoren hatte. Als die Zeiten schlecht wurden, konnte das Tier nicht zum Verzehr geschlachtet werden, weil Bonnie Sue bei der bloßen Erwähnung in Aufregung geriet und weinte. Schließlich mußten sie die Kuh für weniger Geld verkaufen als sie – »Gießt sie ein?« Sie drehte sich blitzschnell vom Ofen um. Jackson stand in der offenen Kabinentür. Das Deck draußen war dunkel, auch die Kabine war dunkel, ausgenommen die kirschrote Glut im Eisenofen. 60
»Danke, ich nehme eine Tasse«, sagte er und ging gleich zum Ofen. An einem Bord der Kabinenwand hing ein Zinnbecher so groß wie ein Trinkkrug. Darauf waren in blauer Farbe die Buchstaben J.J. gemalt. »Stellen Sie die Kanne hin!« sagte er. Sie wollte die Kanne nicht loslassen. Der Kaffee hatte sie fünfzig Cents das Pfund gekostet, und obwohl Minerva eine Generation oder mehr von Vorfahren entfernt war, die ihr Geld im Küchenschrank aufbewahrten, war noch viel Schottisches in ihrem Blut. »Stellen Sie sie hin, sag' ich«, wiederholte er, faßte sie am Handgelenk und zwang sie, die Kanne auf den glühenden Ofendeckel zu stellen. »Danke«, sagte er und goß seinen Becher randvoll. »Gibt es keinen Zucker?« »Der Kaffee kostet fünfzig Cents das Pfund«, sagte sie. »Ja, Kaffee ist teuer«, sagte er beim Trinken. »Wie Sie ihn in sich hineinsaufen –« »Mundhalten!« sagte er, und goß den Inhalt des Bechers mit einer jähen Handbewegung an die Holzwand der Kabine. »Soviel für Ihren Scheißkaffee«, sagte er. Sie glitt rasch an ihm vorbei zur Kabinentür, doch er faßte sie von hinten, drehte ihr Gesicht zu sich und zog sie dann fest an sich. Seine rechte Hand umschloß ihre Hinterbacke, Finger und Daumen bohrten sich in ihr Fleisch. Er ließ sie nicht los. Er drückte sie weiter, bis sie glaubte, sie würde in Ohnmacht fallen. Und als er sie schließlich losließ, warnte er sie: »Halt deine Zunge in meiner Gegenwart im Zaum, Weib!« »Mein Mann wird Sie umbringen«, sagte sie. Sonst fiel ihr nichts ein. »Wirklich?« erwiderte Jackson und lachte. Sie erzählte Hadley nichts. Statt dessen hätte sie gern gewußt, was Eva Chisholm getan hätte, die in ihrem Häuschen gegen wilde Indianer gekämpft und im Dunkel neben Hadleys Vater Gewehre geladen hatte. Sie dachte noch 61
weiter zurück an die Zeit, als Vorfahren, die sie nur dem Namen nach kannte, von Schottland nach Irland hinübergekommen waren, um gegen Wölfe, Wetter und Schlimmeres zu kämpfen. Hätte Glynis Campbell einem irischen Koloß gestattet, ihren Hintern zu fassen und sie festzuhalten? Sie hätte ihm auf der Stelle den Schädel eingeschlagen, das stand außer Frage. Minerva hatte sich immer für eine starke Frau gehalten. Sie wußte schon im Heranwachsen, daß sie kräftig sein würde, und war stets um einen oder zwei Köpfe größer als alle anderen Mädchen ihres Alters. Jackson gab ihr das Gefühl, schwach und unbedeutend zu sein, und deshalb verfluchte sie ihn, und sie verfluchte ihn auch, weil er wußte, daß sie ihn nur dadurch hindern konnte, ihr wieder weh zu tun, indem sie ihn erstach oder erschoß. Etwas anderes gab es nicht. Sie mußte mit ihm verfahren wie mit einem Tier im Wald, das sich auf sie stürzte und sie verletzen wollte. Er war von Natur aus größer als sie, das war das Verdammte daran, das war es, was sich auch in einer Million Jahren nicht ändern würde. Es gab keine andere Möglichkeit, sich gegen jemanden seiner Größe zu schützen, außer man verletzte ihn seinerseits. Wenn er noch mal versuchte, sich ihr zu nähern, würde sie ihn erschlagen – und der Herr sei seiner Seele gnädig. Bevor sie an diesem Abend schlafen ging, verlangte sie von Will das Messer, das er aus Texas mit nach Hause gebracht hatte. »Wozu brauchst du es?« fragte er. »Ich hab' mein Schabmesser verloren.« »Zu dieser Nachtzeit willst du etwas schaben?« »Gleich morgen früh«, sagte sie. »Also gut, dann geb' ich's dir am Morgen.« »Gib es mir jetzt gleich«, sagte sie, »und sei still.« »Es ist so scharf wie ein Rasiermesser, Ma«, sagte er und gab ihr das Messer. »Ich werde achtgeben«, sagte sie. Sie schlief diese Nacht neben Hadley, aber sie nahm nicht an, daß das einen Verrückten wie Jimmy Jackson hindern würde. In der Art, 62
wie er sie angefaßt hatte, lag keine Begierde oder Wollust, er wollte ihr nur Schmerz zufügen. Sie hielt das Messer fest in der rechten Hand. Die Sklaven sangen, ihre Stimmen erfüllten die Nacht. Irgendwoher vom Flußufer wehte der Duft von frisch geschnittenem Gras zum Boot herüber. Der Mann vom Shenandoah sagte seinen Sklaven, sie sollten still sein, und die Nacht wurde ruhig, bis auf das sanfte Plätschern, mit dem das Wasser gegen die Holzwände des Schiffes schlug, und bis auf Hadleys sanftes Schnarchen. Ob sie es Hadley wohl hätte erzählen und die Regelung der Sache ihm und ihren Söhnen überlassen sollen? Sie beschloß, nur das zu tun, was Eva Chisholm oder Glynis Campbell getan hätten. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß eine dieser beiden Frauen zu ihrem Mann um Hilfe gerannt wäre. Sie wartete geduldig. Plötzlich war er da, im Dunkel, und streckte sich in seiner ganzen Länge neben ihr aus. Sie roch seinen Schweiß und seinen stinkenden Atem. Er langte von hinten nach ihr, faßte eine Brust und drückte sie, wie vorher ihre Hinterbacke. »Wartet sie?« flüsterte er. »Gewiß«, erwiderte sie flüsternd, drehte sich in seinem Arm um und setzte ihm die Messerspitze an den Bauch. »Spürst du das?« fragte sie. »Was…?« »Das ist ein Messer. Mein Sohn brachte es aus Texas mit. Es ist so scharf wie ein Rasiermesser.« »Also … also was…« Er hatte seine Hand bereits von ihrer Brust genommen. »Halte dich fern von mir«, flüsterte sie. »Ich wollte nicht…« »Hast du gehört?« »Ja, aber…« »Jetzt fort mit dir!« »Ma'am, ich…« »Geh!« sagte sie. 63
Er ging sofort. Er stand auf und tat einen Fehltritt, dann stolperte er zum Heck. Sie lächelte im Dunkel. Es gab Tausende und aber Tausende Tauben in der Luft. Weiße, braune und purpurgraue, sie erfüllten den Himmel über Evansville mit flatternden Schwingen. Minerva hielt den Atem an. »In Indiana gibt es mehr Tauben als Menschen«, sagte Lester. »Ich habe sie in Bäumen schlafen sehen, die Zweige brechen unter ihrem Gewicht. Manchmal ist der Himmel so voll von ihnen, daß man meinen könnte, es schwebten Wolken über einem. Und wenn sie vorbeifliegen, schwirrt ein Wind vorbei, den man auf dem Boden spürt, und die Blätter auf den Bäumen machen einen Lärm wie die Schlange, die Ihr Mann in seinem Sack hat.« »Sie sind schön«, sagte Minerva. »Das ist der Große Taubenfluß.« »Wie heißen diese anderen Vögel?« »Truthahngeier.« »Warum heißt er dann nicht Truthahngeierfluß?« Minerva betrachtete weiter die Tauben, während Jackson und seine Besatzung das Breithornboot zum Anlegeplatz manövrierten. Hadley, der neben ihr stand, sagte: »Zu Hause hast du nie etwas Ähnliches gesehen, oder?« »Nein«, gab sie zu. Sie sah zu, wie Hadley und die Jungen den Wagen und die Tiere an Land brachten. Die Stadt drüben schien ziemlich groß zu sein. Sie war ganz ausgehungert und wollte fragen, ob sie nicht in einem Gasthaus ihr Mittagessen einnehmen könnten. Jimmy Jackson nahm seine Wollmütze vom Kopf, als sie auf die Behelfslaufplanke trat, und sagte ohne eine Spur von Ironie: »Es war ein Vergnügen, Sie an Bord zu haben, Ma'am. Wirklich ein Vergnügen.« Die Tauben über ihnen schienen zur Feier zu kreisen. 64
Bonnie Sue
I
llinois. Die Maultiere trotteten dahin, ka-tschok, ka-tschok, ka-tschok, ka-tschok. Frühstück, Mittagessen, Abendessen, ins Bett. Man fuhr durch eine Landschaft, die nicht viel anders war als die zu Hause, was die Häuser und Farmen und Städte anbelangte, durch die man kam. Es gab auf dem Weg Nahrungsmittel zu kaufen, oder man schoß Wild in den Wäldern, zumeist Kaninchen. Sogar daheim schon hatte sie Kaninchen gehaßt. Es war ganz ähnlich, dachte sie, wie wenn man Nachbarn ein, zwei Meilen weiter auf den Hügeln besuchte. Nur daß man es unaufhörlich tat. Und da war noch der Regen. Der Regen setzte ein, als sie Evansville verließen. Er trommelte auf das neue Baumwollschutzdach und drang beinahe hindurch, trotz der Schutzschicht aus Leinsamenöl. Er bedeckte die Maultiere und die Wagenräder mit Schmutz. Er überzog die Landschaft mit gleichförmigem Grau, das so trostlos war wie das ganze Gelände. Es gab drei Pferde. Bobbo, Gideon und Will ritten auf ihnen neben dem Wagen einher. Der Regen war unbarmherzig. Sie hatten die Hüte über die Augen gezogen, ritten zusammengesunken in ihren Sätteln und fluchten, wann immer ein Pferd auf dem glitschigen Boden den Halt verlor. Auf dem Wagensitz vorn saßen Hadley und Lester nebeneinander. Hadley rief dann und wann »Ha-ya!«, und die Maultiere trotteten durch den Schlamm, zuckten mit den Ohren. Im Wageninneren döste Minerva. Neben ihr arbeitete Annabel an einem Sticktuch, das sie vor ihrer Abfahrt begonnen hatte. Es zeigte ein Blockhaus auf einem grasbewachsenen Hügel. Vor der Haustür waren Blumen. Eine einzige dicke weiße Wolke schwebte über dem Haus am Himmel. Links vom Haus standen die Worte ›Heimat, geliebte Heimat‹. Rechts hatte Annabel mit dem Stift das Datum eingetragen, an dem sie Virginia verlassen hatten: 22. April 1844. Jetzt stickte sie das ›A‹ von April mit grellrotem Faden. 65
Bonnie Sue saß mit dem Rücken an die Seitenwand des Wagens gelehnt, ihr Tagebuch auf den Knien, und versuchte sich etwas einfallen zu lassen, das sie hineinschreiben konnte. Sie hatte das Notizbuch in Evansville gekauft, weil sie dachte, vielleicht gebe es Indianer oder dergleichen in Illinois, und sie könnte aufschreiben, wie sie aussähen, was sie aßen und so fort. Aber ihr Vater zeigte ihr auf der Karte, daß es keine Indianer geben würde, bis sie über Independence hinaus wären, das auf der anderen Seite von Missouri lag. Zuerst mußte man Illinois durchqueren. Und Illinois war nichts als Regen und ein Land so flach wie die Hinterseite einer Scheune. Der Regen zerstörte das Wagendach; sie blickte besorgt auf einen immer größer werdenden nassen Fleck. Der Wagen rollte eintönig dahin, rumpelte in alle Schlaglöcher, Bodenwellen und Furchen. Annabels Nadel rutschte ab, sie stach sich, murmelte »Verdammt« und warf sofort einen Blick auf ihre Mutter, die noch immer die Augen geschlossen hatte. An ihrem Zeigefinger trat ein Blutstropfen zutage. Sie sog ärgerlich daran. Von vorne, durch das offene, gefaltete Wagendach hörte Bonnie Sue die einschläfernden Stimmen Lesters und ihres Vaters, die sich mit dem stetigen Rauschen des Regens mengten. »…Galena im Jahr 1822«, sagte Lester, »als ich acht war.« »Damals noch der Westen«, sagte Hadley. »Mein Vater ging in der Hoffnung hin, im Bleibergbau ein Vermögen zu machen. Die Indianer hatten dort seit Menschengedenken Blei aus dem Sandstein gewonnen. Sie holten es in Hirschledersäcken heraus. Ich erinnere mich, daß sie es noch so hielten, als ich ein kleiner Junge war. Die Große Panik war noch nicht vorbei…« »Das waren schreckliche Jahre«, sagte Hadley. »Ich möchte so etwas nicht nochmals erleben.« »Das war der Grund, weshalb mein Vater Boston verließ«, sagte Lester. »Seine Schmiede ging zugrunde, und er glaubte, er brauchte es nur anderswo nochmals zu versuchen.« »Hatte er damit Erfolg?« 66
»Anfangs nicht. Dort gruben zu viele Menschen in der Erde herum. Aber er stieg ins Möbelgeschäft ein und da hätte er Erfolg gehabt, wenn er nicht eines Tages plötzlich einem Schlaganfall erlegen wäre.« »Ihre Mutter lebt noch?« fragte Hadley. »Ja, Sir. Sie wohnt in Carthage.« »Ich hab' meine Mutter, Gott hab' sie selig, begraben, kurz bevor wir Virginia verließen. Mein Pa ist schon seit achtzehnhundertdrei tot – wurde von den Indianern getötet.« »Ich wußte nicht, daß es so spät noch Indianerkriege gab«, sagte Lester. »Es gab auch keine. Die Kriege endeten faktisch fast zehn Jahre vorher. Die Stadtbewohner hatten die Pfähle rund um das alte Fort bereits niedergerissen. Mein Pa war betrunken, das war alles«, sagte Hadley. Im Wageninneren blickte Bonnie Sue hoch. In der gefalteten Öffnung des Wagendachs konnte sie Lester im Profil sehen und den naßgrauen Himmel hinter ihm. Sie hatte nicht gewußt, daß ihr Großvater, William Allyn Chisholm, betrunken gewesen war, als der Chikkasaw ihn erschlug. Sie hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, er sei als Held in dem einen oder anderen Gefecht mit den dortigen Indianern gefallen. »Der Chickasaw war ein Taugenichts von einer Rothaut, der immer beim Mietstall herumlungerte. Er und mein Vater betranken sich eines Abends und gingen hinüber auf die Pflanzung – die Pflanzung der Baileys, die dem Mann gehört, der uns diesen Wagen verkauft hat.« »Ein guter Wagen«, sagte Lester. »Hat neunzig Dollar gekostet.« »Ein angemessener Preis.« »Dieser Bailey hat zweiundsiebzig Sklaven. Sie müssen an die fünfzigtausend Dollar wert sein, meinen Sie nicht?« »So viel nicht. Sie kennen doch die, die Jackson nach New Orleans gebracht hat?« 67
»Was ist mit denen?« »Er sagte, die Burschen bringen je sechshundert ein und die Mädchen ungefähr dreihundert das Stück.« »Dann ist der Squire nicht so reich, wie ich dachte«, sagte Hadley. »Obwohl er immer noch reich genug ist, nehme ich an. Gott weiß, wie viele Sklaven sein Vater früher hatte. Bailey ist ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein bißchen älter. Er hat mit einem neunzehnjährigen Niggermädchen, das bei ihm im Dienst stand, einen Bastard gezeugt. Er hat Weiber gern, der Squire. Besonders farbige.« Auch das hatte Bonnie Sue nicht gewußt. Sie legte ihr Notizbuch weg. »Jedenfalls, mein Pa und der nichtsnutzige Chickasaw betranken sich eines Abends und gingen auf Baileys Pflanzung und wollten heimlich ins Hühnerhaus schleichen, Sie verstehen, was ich meine. Dort war eine Magd aus Barbados, so weiß wie Sie oder ich, die muß 'ne Menge spanisches Blut in den Adern gehabt haben. Mein Pa und der Chickasaw begannen zu streiten, wer sie als erster besteigen sollte. Der Chickasaw stach ihn vierzehnmal in die Brust, und als Draufgabe vergewaltigte er noch die Sklavin. Sie war es, die erzählte, wer meinen Pa umgebracht hatte, nicht weil sie ihn so gern mochte, sondern weil sie sich an dem Indianerbastard rächen wollte, der sie so brutal vergewaltigt hatte.« »Hat man ihn jemals erwischt?« »Zwei Wochen später fanden sie ihn in einer Höhle in Tennessee. Wissen Sie, wo der Große Kriegspfad die Schlucht kreuzt?« »Dort kenne ich mich nicht aus, nein.« »Da haben sie ihn geschnappt. Brachten ihn zurück nach Virginia und hängten ihn vor dem Platz, wo das alte Fort gestanden hatte.« Nach einer Pause sagte er: »Komisch, ich wollte diese Geschichte die längste Zeit nicht glauben. Ich war fünfzehn, als mein Pa umgebracht wurde, und erst Jahre später glaubte ich das, was alle in der Stadt über ihn sagten. Faktisch erst, als mein erster Sohn geboren wurde. Will dort draußen. Mein Sohn Will. Gab ihm den 68
Namen von meinem Pa.« Hadley schwieg eine Weile. Der Regen trommelte auf das Wagendach. »Ha-ya!« schrie er den Maultieren zu. Lester hatte die Entfernung von Evansville nach St. Louis auf zweihundertvierzig Kilometer geschätzt. Die Straße war breit und stark befahren; sie hätten, sogar ohne sich zu beeilen, durchschnittlich über dreißig Kilometer am Tag schaffen müssen. Aber der Regen behinderte sie, und obwohl sie am siebten Mai von Evansville losgefahren waren, hatten sie bis zum vierzehnten nur hundertzwanzig Kilometer zurückgelegt, so daß noch die Hälfte der Reise vor ihnen lag. Der aufklarende Himmel besserte ihre düstere Stimmung keineswegs. Im Süden lag das Ozark-Plateau, eine wilde Gegend mit steilen Flußufern, grünenden Tälern und bewaldeten Hügeln, wo sie sich eher zu Hause gefühlt hätten. Hier jedoch gab es nur Flachland. »Wie buchstabiert man ›langweilig‹?« fragte Bonnie Sue. Bei ihnen zu Hause war es nie langweilig. Wenn nicht gerade auf Bobbo geschossen wurde, während er Whiskey in die Stadt lieferte, dann war es etwas anderes. Es gab immer etwas. An dem Tag, an dem er nach Hause lief, war Gideon dabei, eines der Maultiere vor den Pflug zu spannen. Er zog eben die Gurte fest. Bonnie Sue saß im Eingang des Hauses und enthülste Erbsen. Sie sah Bobbo, der über den Hügelkamm gelaufen kam und den felsigen Pfad, der zu ihrem Haus führte, hinaufrannte. Das Haus stand auf der Anhöhe, denn William Allyn, der es errichtet hatte, wollte vor Indianern sicher sein. Nur einmal hatte er seine Familie hinunter ins alte Fort bringen müssen, und das war, als tausend oder mehr von ihnen – weiß Gott woher die kamen – die Siedlung überfielen: Chickasaws, Choctaws, Chikkamangas, Cherokees oder Creeks, es konnte einer der Stämme sein oder alle zusammen; in der Nacht schienen alle Indianer der Welt zu brennen und zu rauben, zumindest demzufolge, was ihr Pa erzählte.
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Hadley war damals acht Jahre alt. Oma Chisholm packte ihn und trug ihn hinunter ins Fort. Die Hälfte der Bewohner der Siedlung brachte sich dort in Sicherheit. Der Rest, mit Ausnahme einer Handvoll, die beim Melken erwischt wurde, lief zu der alten Bailey-Pflanzung, die groß genug war, um eine befestigte Station zu bilden. Am Morgen war der größte Teil der Siedlung eine schwelende Ruine, aber William Allyns Haus auf dem Berg und das der Cassadas nebenan blieben unversehrt. Das war beinahe ein halbes Jahrhundert bevor die Fehde zwischen ihnen begann; beide Familien hatten ihre Türen geöffnet und boten allen jenen, die weniger vom Glück begünstigt waren als sie, Essen und Trinken an. Nun aber kam Bobbo die Straße heraufgerannt und schrie: »Wo ist Pa? Man hat mich fast erschossen!« »Was ist geschehen?« fragte Gideon. »Sie haben aus den Büschen auf mich geschossen!« »Wer? Beruhige dich, hörst du?« sagte Gideon und schüttelte seinen jüngeren Bruder. Bonnie Sue war nur einmal im Leben von Gideon geschüttelt worden, als sie ihn wegen Rachel Lowery geneckt hatte… Gideon hatte sie hochgehoben und sie geschüttelt, als hätte sie ein Tornado erfaßt. Er schüttelte Bobbo jetzt nicht ganz so heftig – nur stark genug, um ihm den Kopf zurechtzusetzen. »Wer hat auf dich geschossen?« »Die Cassadas.« »Wo?« »Auf dem Weg zur Stadt. Du weißt, wo die alte Siedlungsstraße nach Abingdon abzweigt?« »Ja.« »Wo der Wald ist. Auf der Nordseite der Straße.« »Ja.« »Von dort haben sie auf mich geschossen. Pa wird ganz bestimmt einen Anfall kriegen, Gideon. Ich habe zwei ganze Gallonen Whiskey fallenlassen und zerbrochen.« »Hast du gesehen, wer geschossen hat?« »Die Cassadas, ich hab's dir doch gesagt.« 70
»Welcher von ihnen, Bobbo? Es sind zehn dort drüben; welcher hat auf dich geschossen?« »Es waren zwei, Gid.« »Welche zwei?« Hoffentlich ist es nicht Sean, dachte Bonnie Sue, schlitzte eine Hülse mit ihrem Daumennagel auf und sah zu, wie die Erbsen in das Sieb rollten. Sie hielt den Atem an. »Philip und Brian«, sagte er. »Jedenfalls war es sicher Brian, und ich glaube Philip. Genau sah ich nur Brian.« »Wir gehen sofort hinüber«, sagte Gideon. »Ich wollte Brian schon immer den Schädel einschlagen.« Und verdammt, er hätte es auch fast getan. Die beiden gingen hinüber zu den Cassadas, ohne auf Pa oder Will zu warten, und das hätte sie an dem Nachmittag selbst das Leben kosten können. Sie fanden Brian allein im Haus der Cassadas, schleppten ihn ins Freie und prügelten ihn fast zu Tode. Philip kam, wie Bobbo später erzählte, aus dem Wald angerannt, wo er sich hingehockt hatte, und hatte noch nicht mal die Hose ganz raufgezogen; sie schlugen ihn auch zu Boden und traten ihn, bis er grün und blau war. Minerva erfuhr kein Wort davon. Sie war drüben in der Kirche bei einem Kuchenverkauf, und als sie heimkam, saßen Bobbo und Gideon vor dem Feuer, Bobbo schnippelte an einem Holz, Gideon las Annabel aus der Bibel vor. Die ganze Familie wußte, was an dem Tag vorgefallen war, nur Minerva nicht. Als sie später das Kornfeld pflügten, konnte sie nicht verstehen, warum die Cassadas plötzlich so aufgebracht waren. Die drei Brüder mußten das Feld rund um Hadley hinter dem Pflug mit ihren Gewehren sichern. Zu Hause war es nie langweilig, das war sicher. Sie mußte eingenickt sein. Sie hörte etwas, das so klang, als wäre eine Kanone losgegangen, und riß die Augen auf. Sie war allein im Wagen. Sie setzte sich auf.
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Ihr Tagebuch lag auf ihrem Schoß. Ein Blitz zuckte über den dunklen Himmel. Sie zwinkerte. Wieder das tiefe Donnergrollen. Wo…? Sie hatten in einem Gehölz neben der Kirche gegessen, einem Ziegelbau mit weißem Schindeldach. Sie erinnerte sich, daß sie Würste und Brot gegessen hatte, die sie fünfzehn Kilometer früher bei einem Farmer gekauft hatten. Will stand im Regen und feilschte mit dem Mann. Er habe keine Eier zu verkaufen, sagte er ihrem Bruder. Sie half ihrer Mutter beim Zubereiten des Mittagessens, kletterte danach in den Wagen und schrieb in ihr Tagebuch: »Es hat aufgehört zu regnen. Hier blühen Blutwurz und Zahnwurz und Blumen, deren Namen ich nicht kenne. Es wird also doch ein schöner Tag.« Sehr hübsch geschrieben, aber es machte sie bald schläfrig. Noch ein Blitz. Wieder Donner. Die Maultiere wieherten, scheuten und gingen durch. Sie fiel zurück und schlug heftig auf den Holzboden auf. Sie schrie »Au!« und wälzte sich auf die Hinterfläche des Wagens. Dicke Regentropfen, groß wie Melonen, klatschten auf das Wagendach und wurden durch die Vorderöffnung hereingeweht. Das Butterfaß rollte nach hinten, wo Bonnie Sue unweit der hinteren Wagenklappe auf dem Rücken lag, und sie versuchte hochzukommen, fiel jedoch wieder der Länge nach hin und schlug mit der Schulter auf den Boden des Wagenkastens. Die Kaminuhr riß sich von den Hickorybügeln los, wo sie angebunden war; ihr Vorderglas wurde zertrümmert. Eine von Annabels Stoffpuppen aus der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war, kam durch die Luft gesegelt, ganz wie ein Luftakrobat, den Bonnie Sue einmal in Bristol gesehen hatte. Konservenbüchsen hüpften im Wagen umher wie Kröten, die über die Straße springen, wenn es heftig zu regnen beginnt, und das war bei Gott der Fall. Plötzlich erhob sich auch ein starker Wind, der beinahe das panische Wiehern der Maultiere übertönte. Sie versuchte eine Holztruhe festzuhalten, die sich losgerissen hatte und auf ihren Fußknöchel fiel. Eine Bratpfanne kam klirrend über den Wagenkasten herunter, auf und nieder hopsend, als wäre sie lebendig. Ein Fäßchen roll72
te krachend von einer Wagenseite zur anderen und zerbarst schließlich. Maismehl flog wie Schnee durch die Luft. Sie wälzte sich zur Seite und kroch auf Händen und Knien zum Hinterende des Wagens. Über die Hinterplanke kam Regen herein, der das Maismehl in Brei verwandelte. Durch das flatternde offene Ende, wo das Dach mit der Hinterplanke zusammenstieß, konnte sie einen Mann sehen, der dem Wagen nachritt. Sie erkannte das Pferd, es war Wills gefleckter Wallach, ein sechzehn Fäuste hoher Appaloosa mit schwarzen Leopardenflecken auf rötlichgrauem Grund, ein wirklich hübsches Tier mit weiß umrandeten Augen und schwarzweiß gestreiften Hufen. Der Reiter war Lester Hackett. Er warf kaum einen Blick in den Wagen, als er an der Hinterplanke vorbei und dann nach links ritt. Sie drehte sich um und blickte durch das Vorderende, konnte aber nichts sehen als den blauen Himmel vor sich, so blau wie ein Drosselei, während es hinter ihr noch immer düster und schwarz war und der Regen niederströmte, daß ein Mensch darin ertrinken konnte. Lester schrie: »Hoo, ihr widerspenstigen Bastarde!«, und der Wagen kam holpernd, halsbrecherisch zum Stehen. Sie wurde wieder gegen die Hinterplanke geschleudert und schlug heftig mit dem Ellbogen dagegen. Ein Nachttopf, der zwischen Steppdecken und Kissen gesteckt hatte, kam geflogen und zerschellte auf dem Boden des Wagens in tausend Stücke, ein guter Porzellantopf aus England, mit Gänseblümchen und Vergißmeinnicht verziert. Sie lag schwer atmend auf dem rauhen Holzboden. Der Regen trommelte unentwegt auf das Stoffdach. »Bonnie Sue? Bist du verletzt?« Er kletterte in den Wagen. Er war bis auf die Haut durchnäßt, sein Haar hing in nassen Strähnen herab, seine Wangen waren rot von Wind und Wasser. Er kam schnell auf sie zu und sagte wieder: »Bist du verletzt?« Und dann nahm er sie in die Arme und wiegte sie, als ob sie ein Kind wäre. Ihre Brüder ritten heran. 73
»Sie ist unverletzt«, sagte Lester und legte beim Aufstehen seine Hand auf ihr Knie. Er blickte nicht zurück, als er aus dem Wagen kletterte. Bonnie Sues Herz pochte. Endlich hatten sie den Regen hinter sich, der Wagen fuhr wieder auf einer verkehrsfähigen, festen Straße. Doppelsporn und Hundszahn blühten neben dem Weg. Am Himmel schwebten Wolken, so weiß wie ihr breitkrempiger Sonnenhut. Sie saß neben Lester auf der Wagenbank, das Gesicht im Schatten der Hutkrempe. Im Wageninneren schliefen Vater und Mutter. Annabel ritt mit Will auf seinem Wallach, sie saß im Damensattel vor ihm. Sie zeigte auf etwas am Horizont, und Bonnie Sue wandte sich um, um es auch zu sehen. Eine Herde Schafe, einige Ziegen, genau konnte sie es auf die Entfernung nicht sehen. Auf den Rücken der Maultiere saßen Fliegen, die bissen. Lester knallte mit den Zügeln, und sie flogen wütend summend hoch. »Was ist das für ein Buch, in das ich dich die ganze Zeit schreiben sehe?« fragte er. »Bloß ein Merkbuch«, sagte sie und zog die Schultern hoch. »Wozu ist das gut?« »Damit ich, wenn wir nach Kalifornien kommen, mir die Seiten wieder ansehen und mich deutlich an alles erinnern kann.« »Kannst du dich ohne ein Tagebuch nicht erinnern?« »Es ist kein Tagebuch, sondern ein Merkbuch.« »Das ist doch das gleiche, oder?« »Ein Tagebuch ist persönlicher.« »Dann ist also dein Merkbuch nicht persönlich, meinst du das?« fragte er und lächelte. »Nicht so persönlich wie ein Tagebuch.« »Schreibst du über Virginia?« fragte er. »Nicht viel.« »Sehnst du dich nicht nach Hause?« 74
»Wir fahren in ein neues Zuhause«, sagte sie. »Hast du Freunde in Virginia?« »Ja, die hab' ich.« »Und die fehlen dir nicht?« »Nur meine Freundin«, sagte sie. »Wer ist das?« »Rebecca Hanson.« »Hast du auch einen Freund?« »Nein«, sagte Bonnie Sue. »Ich wette, du hast einen.« »Nein, ganz bestimmt, ich hab' keinen!« »Ein hübsches Mädchen wie du«, sagte er. »Danke«, sagte sie. »Ein reizendes Mädchen wie du«, sagte er. Sie schrieb in ihr Tagebuch: »Wir tun nichts als im Wagen sitzen. Ma und ich und Annabel. Mir tut der Rücken weh, und Ma beklagt sich, daß sie die ganze Zeit Pipi machen muß. Wir müssen oft stehenbleiben. Weil Ma pinkeln muß. Unlängst sagte Pa, wenn wir nach Saint Louis kommen, wird er ihr einen Korken kaufen. Das fand Ma gar nicht komisch. Lester spricht manchmal mit mir. Ich möchte wissen warum er !« Daheim in Virginia ging sie hinunter zum Clinch, setzte sich dort mit ihren Lesebüchern oder ihrem Tagebuch hin – das war ein richtiges Tagebuch, kein Merkbuch wie das, in dem sie hier schrieb. Sie war der Ansicht, ein Tagebuch sei etwas, dem man viel Zeit und Gedanken widmen mußte. Man schrieb nicht einfach von Blumen hinein, die man auf dem Weg sah, wie sie es hier tat. Oder davon, daß Ma die ganze Zeit pinkeln mußte. In ein Tagebuch schrieb man Dinge, die einem wichtig waren. Deshalb pflegte sie es zum Fluß mitzunehmen. Dort saß sie und lauschte dem Wasser, sah dann und wann Fische springen. Eine Wildente kam heran, blickte sie an, such75
te unter einem Flügel nach einem Insekt. Das hohe Gras am Flußufer schwankte im Wind. Dort unten fühlte sie sich geborgen, fühlte, daß sie Geheimnisse schreiben konnte. In Wahrheit gab es nicht viel Geheimes zu schreiben, es sei denn, daß sie Sean küßte und ihn ihre Brüste betasten ließ. Das schrieb sie verschlüsselt, denn wenn es etwas gab, das Bonnie Sue in ihren fünfzehn Jahren gelernt hatte, war es, daß man niemandem auf der Welt trauen kann, besonders nicht seiner jüngeren Schwester. Sie verschloß ihr Tagebuch mit einer Schleife, die sie jeden Abend anders knotete, nur um dafür zu sorgen, daß keine kleinen Finger es aufschlugen – und auch keine großen ungeschickten, die ihren großen Lümmeln von Brüdern gehörten, die Sean ebenso leicht den Schädel einschlagen würden wie jedem anderen der Cassadas. Dennoch war eine Schleife kein Schutz, wenn jemand auf den Gedanken kam, das Ding aufzumachen und zu lesen, was darin stand. Deshalb wurde alles über Sean verschlüsselt geschrieben. Als er das erstemal ihre Brust betastete, schrieb sie in ihr Tagebuch was so ähnlich aussah wie die ägyptischen Hieroglyphen, die sie auf einem Bild in der Bibel gesehen hatte, was aber nur bedeutete ›Sean hat mich betastet‹. Der Schlüssel zu der Geheimschrift war in einer Konfektdose versteckt, in der sie andere geheime kleine Dinge verwahrte. Sie nahm an, jemand, der die beiden Dinge kombinieren würde, müßte neugierig genug sein, um das Tagebuch und die Konfektdose aufzumachen – was sie Annabel durchaus zutraute, doch zugleich hoffte sie, daß es ihre Schwester nicht tun würde. Der Rest ihres Tagebuchs, die Teile, die gewissermaßen geheim waren, aber nicht schrecklich geheim, schrieb sie in einfachem Englisch. Sie ging nur dann und wann zur Schule, weil es in den Bergen daheim schwierig war, Lehrerinnen, besonders zur Winterzeit, zu halten. Meist hatte man Lehrer im Herbst und Frühjahr, wenn es in den Bergen schön war. Kaum näherte sich der November, verschwanden die Lehrer wie die Blätter von den Bäumen, und man 76
sah keine Spur von ihnen, bis der Clinch wieder eisfrei war. Eine der Lehrerinnen sagte Bonnie Sue, sie schreibe wirklich gut, müsse jedoch ihre Rechtschreibung verbessern. Bonnie Sue fand, daß alle anderen so gut oder so schlecht in der Rechtschreibung waren wie sie, und konnte nicht verstehen, warum es eine so große Rolle spielte. Solange jemand seine Absicht klarmachte, genügte das doch. Manchmal saß sie neben dem Clinch und dachte, sie könnte vielleicht Schriftstellerin werden. Nur fielen ihr leider keine Geschichten ein, die sie schreiben könnte. Ja, sie konnte bestimmt Dinge niederschreiben, die tatsächlich vorgefallen waren, aber das war kein Erfinden von Geschichten, das war ein bloßes Niederschreiben. Es war Zeit, daß Gideon das Schwein aufhob und ins Haus trug. Er hatte mit Bobbo gewettet, er könne das alte Schwein aufheben und glatt ins Haus hineintragen. Ma stand dort und richtete die Uhr, sie wandte sich um und sah Gideon mit dem Schwein auf den Armen durch die Tür hereinstolpern. Sie ergriff den Besen und begann damit auf ihn loszuschlagen. Gideon ließ das Schwein fallen und haute ab durch die Tür, das Schwein rannte über alle Möbel im Haus, bis Minerva es endlich hinausbrachte. Am Abend ließ sie Gideon nicht am Tisch sitzen. Sie sagte, er müsse draußen mit seinem Freund essen, den er am Nachmittag mitgebracht hatte. Aber das hatte sich wirklich zugetragen. »Guten Morgen«, sagte Lester. Sie wusch ihr Haar in einem seichten, glitzernden Wasserlauf mit Seife, die sie daheim selbst gemacht hatten; sie trug nur einen Unterrock und hatte gehofft, allein zu bleiben. Es war noch morgendlich feucht, sie war vor den anderen aufgewacht. Sie warf die seifigen Zöpfe zurück und blickte zu ihm hoch. Hinter ihm stand die frühmorgendliche Sonne. Er lächelte. »Hab' ich dich erschreckt?« fragte er. »Nein«, sagte sie. »Es ist nur…« 77
»Du bist nicht für Besucher angezogen.« »Nun ja…«, sagte sie und stockte. »Du kannst doch wohl nichts sehen.« Sie wand ihr Haar aus. Das Seifenwasser wurde im Strom fortgeschwemmt. »Gibt es nichts, das ich sonst sehen könnte?« fragte er. Sie gab ihm keine Antwort und spülte weiter ihr Haar. Dann rollte sie es oben auf ihrem Kopf zusammen, hielt das Ganze dort fest, wand ein Handtuch darum, stand auf und erklomm das Ufer, um zum Wagen zu gehen. In der Entfernung sah sie ihren Bruder Will, in Unterwäsche, der die Arme über den Kopf streckte. »Nein, warte«, sagte Lester. Sie wandte sich um. »Weißt du, wie alt ich bin?« fragte er. »Nun, sag schon.« »Fast dreißig. Im nächsten September werde ich dreißig.« »Aha.« »Du bist erst fünfzehn.« »Im Juli werde ich sechzehn«, sagte sie. »Dennoch.« Er zögerte. »Bonnie Sue…« Sie wartete. »Überleg' es dir«, sagte er, wandte sich um und ging vor ihr die Uferböschung hinauf. Sie sah zu ihm empor, wie er ging, seufzte dann, hob den Saum ihres Unterrocks hoch, damit ihn der Morgentau nicht benetzte, und stieg die Böschung hinauf. Alle waren jetzt aufgestanden. »Welcher Tag ist heute?« fragte Annabel und gähnte. Daheim hatte es ein Klosett außerhalb des Hauses gegeben, in das man gehen und sich nachher mit Seiten der Bristoler Zeitung abwischen konnte. Hier ging man in den Wald und säuberte sich mit Blättern, es sei denn, man hatte nicht vergessen, sich aus der Stadt, durch die man eben kam, die Lokalzeitung mitzunehmen. Die Städte sahen alle gleich aus, die Farmen auch. Manchmal ging sie ne78
ben dem Wagen her, weil ihr übel wurde, das Ding schaukelte vorund rückwärts, und die Räder quietschten, wieviel Schmiere man auch verwendete. Sie wußte nicht, wie Annabel es aushalten konnte, dort in der Gluthitze unter dem Dach, in der totenstillen Luft, von Fliegen umschwirrt, an ihrem Sticktuch zu arbeiten. Man ging neben dem Wagen her, mußte mit den Maultieren Schritt halten, aber sie würden sich nicht übereilen, nach Kalifornien zu kommen, da sie bereits losgezogen waren. Beim Gehen dachte sie daran, wie Lester ihr die Hand aufs Knie gelegt hatte. Vielleicht hatte sie sich das nur vorgestellt. Die Maultiere trotteten dahin. Will und Gideon streiften aus purer Langeweile neben der Straße umher. Bobbo war auf der Jagd nach Wachteln oder Kaninchen. Vor ihr auf dem Wagensitz hockten Ma und Pa. »Ha-ya!« schrie er den Maultieren zu. Die kümmerten sich nicht um ihn. Trotteten einfach weiter. Annabel hatte im Wageninneren sich bereits durch den ›22. April‹ durchgestickt und arbeitete jetzt an dem ›1844‹. Plötzlich kam Lester zu ihr. Sie hatte gedacht, er sei mit Bobbo, sie hatte gedacht … doch nein, es gab ja nur drei Pferde. Sie wußte nicht, was sie gedacht hatte; jetzt ging er neben ihr, im gleichen Schritt mit ihr. »Ich gäb' was dafür, wenn ich wüßte, woran du jetzt denkst.« »Ahhh«, sagte sie und lächelte. »Private Gedanken, geheime Gedanken?« »Alberne Gedanken.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, was so ein fünfzehnjähriges Mädchen denkt«, sagte sie und blickte verstohlen zu ihm herüber. »Fast sechzehn«, erinnerte er sie. »Oh ja, fast.« »Hast du dich gefragt, wo ich war?« »Nein.« »Ich hab' im Wagen geschlafen.« »Ist sie mit dem ›1844‹ schon fertig?« »Ich versteh' nicht, was du meinst«, sagte Lester. 79
»Meine Schwester. Ihr Sticktuch.« »Ach, darauf hab' ich nicht geachtet.« Sie gingen schweigend weiter. Sie bückte sich, um eine Blume zu pflücken, und roch daran. Sie duftete nicht. »Ist das wahr, was mir Bobbo über dich erzählt hat?« fragte sie. »Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat.« »Daß du ein großer Flußdampferspieler bist…« »Hah!« sagte Lester. »Und ein Scharfschütze, der ein eigenes Kentuckygewehr und zwei spanische Pistolen hatte.« »Das ist tatsächlich wahr, die hatte ich«, sagte Lester. »Aber ich konnte mit ihnen nicht mal eine Scheunenwand treffen.« »Und du warst im Schwarzfalkenkrieg…« »Ja, das stimmt.« »Welcher Krieg war das?« fragte Bonnie Sue. »Nun ja, der Krieg gegen den schwarzen Falken«, sagte er und lächelte. »Ein Indianer?« »Ein Indianer.« »Ich hab' noch nie von ihm gehört«, sagte sie. »Du warst damals noch ein Baby. Ich war selbst erst siebzehn«, sagte Lester. »Hast du jemanden getötet?« »Meinen Teil.« »Wie viele?« »Drei Krieger und eine Frau.« Sie blickte ihn an. »Eine Indianerin, genau wie die anderen«, sagte Lester entschieden. »Als ich sie erschoß, war sie dabei, einen Soldaten auf dem Boden zu erstechen.« Bonnie Sue sagte nichts. Sie standen auf der Straße, Bonnie Sue blickte zu seinem Gesicht auf. In dem hohen Gras zirpte eine Grille. Vor ihnen knarrte und schaukelte der Wagen, die Hufe der Maultiere stampften in stetigem Rhythmus auf dem hartgetrockneten Stra80
ßenschlamm. Eine Wolke verdunkelte die Sonne. Sie waren plötzlich im Schatten. Er küßte sie. Einen Augenblick lang klammerte sie sich an ihn, dann riß sie sich los. »Nein, bitte«, sagte sie, warf sich ihm jedoch wieder in die Arme, küßte ihn mehrmals, warf einen raschen Blick zu dem Wagen vor ihnen und suchte rasch den Horizont nach einem Anzeichen ihrer Brüder im Sattel ab. Dann küßte sie ihn wieder stürmisch. Wenn es regnete, schliefen die Frauen im Wagen, die Männer schliefen darunter auf Zeltplanen. An den Seiten des Wagens hingen Dekken nach unten, um Wind und Wasser abzuhalten. Der Wagen war lang genug und breit genug, um vier Männern darunter Platz zu bieten. Zwei lagen nebeneinander und waren durch die Wagenfläche über ihnen völlig geschützt. Zwei andere lagen mit den Köpfen unterhalb der Füße des ersten Paares, ihre eigenen Füße ragten unter der Heckplanke hervor. Lester eingerechnet waren es fünf Männer; wenn es regnete, losten sie mit Strohhalmen, wer von ihnen sich aus Schößlingen einen Unterstand bauen mußte, in dem er schlief. Wenn das Wetter gut war, schliefen alle – Männer und Frauen – rund um das Feuer auf der Erde, wie die Speichen eines Rades um dessen Nabe gruppiert. Bevor sie sich hinlegten, versorgten sie das Feuer, so daß es loderte, und am Morgen war es dann zu Asche oder zu einer kaum noch schwelenden Glut niedergebrannt. Gewöhnlich gingen die Frauen als erste schlafen. Während die Männer über Sattelwunden und Blasen am Hintern brummten, waren die Frauen am Ende des Tages todmüde. Gewöhnlich blieben die Männer, nachdem die Frauen eingeschlafen waren, noch eine Stunde oder länger rund um das Feuer sitzen. Sie lag unter ihrer Decke und lauschte auf Lesters Stimme. Daheim im Haus konnte man jedes Geräusch hören. Es gab zwei Räume und einen Dachboden zum Schlafen. Ihre Eltern schliefen in dem größeren Raum, sie und Annabel schliefen in dem Raum 81
nebenan. Ihre drei Brüder teilten sich den Dachboden. Nachts hörte man Wispern. Geräusche. Jemand stand auf, um den Nachttopf zu benutzen. Betten krachten. Als Elizabeth noch lebte, schliefen sie und Will in der Bettlade des größeren Zimmers. Jeden Abend zogen sie sie heraus, quer durch den Raum ans andere Ende, dorthin, wo Minervas gute Frisierkommode an der Wand stand. Sie gehörte zu ihrer Mitgift, das einzige kunstvoll gearbeitete Möbelstück im Haus, acht dicke Kirschholzbretter mit an der Unterseite der Deckplatte versteckten Scharnieren. Elizabeth hatte sehr viel gestöhnt. Bonnie Sue war noch ein kleines Mädchen und dachte, ihre Schwägerin sei krank, als sie sie zum erstenmal nachts stöhnen hörte. Als Elizabeth im Kindbett starb, ging Will zum Schlafen wieder nach oben auf den Dachboden. Dort standen drei Betten, alle ohne Kopf- oder Fußbrett, aber dennoch bequem. Nachts hörte sie ihre Brüder oben sprechen, bevor sie einschliefen. Einmal neckten Gideon und Will Bobbo, sie wollten ihn zu einer Frau mitnehmen. Sie sagten, sie hätten mit Squire Bailey alles abgemacht, damit er ihn das nächste Mal bei seiner Fahrt flußabwärts nach New Orleans mitnähme. Sie erzählten ihm, der Squire kenne eine nette kleine Rothaarige, die Bobbo alles beibringen würde, was es zu wissen gäbe. »Ach, hört doch auf«, sagte Bobbo. »Oder er kennt auch ein paar nette Blondinen«, sagte Gideon. »Ach, hör' doch auf«, sagte Bobbo. Jetzt hörte sie ihnen zu. Obwohl die Maultiere schon vor drei Tagen durchgegangen waren, diskutierten sie noch immer darüber; Lester behauptete entschieden, daß Ochsen nicht so leicht durchgingen wie Maultiere, während Will widersprach, daß Ochsen, wenn sie durchgingen, viel wilder rannten. Ihr Vater fragte, woher Will das wissen wollte, wo sie doch in der Familie Chisholm, seit sie von Delaware nach Virginia gezogen war, niemals Ochsen gehabt hätten. Nach einiger Zeit schlief sie ein.
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In ihren Träumen liebte Lester Hackett sie leidenschaftlich. Nicht so wie es Sean Cassada getan hatte, der nur die Hände in ihr Leibchen oder unter ihren Rock gesteckt hatte, sondern indem er sie gründlich und hitzig wie alle Feuer der Hölle besaß. In ihren Träumen waren ihre Lippen ein scharlachroter Strich, ihre Brüste wie zwei junge Rehzwillinge, die zwischen den Lilien weiden. In ihren Träumen war Lester ein Myrrhenbündel, das zwischen ihren Brüsten lag, oder ein Hennabüschel; in ihren Träumen sprang Lester auf die Berge und hüpfte auf die Hügel, waren Lesters Hände wie goldene, mit Beryll besetzte Ringe, war sein Leib wie reines Elfenbein, übersät mit Saphiren. Seine Beine wie Marmorsäulen, seine Lippen süß wie Honigwein – er war im ganzen herrlich. Sie sehnte sich, mit ihm früh in den Weingarten zu gehen, um zu sehen, ob die Weinstöcke geblüht oder die Granatäpfel ausgeschlagen hatten. Sie sehnte sich, mit ihm in seinen Garten zu gehen, zu den Gewürzbeeten, um in den Gärten zu weiden und Lilien zu pflücken. »Ich gehöre meinem Geliebten«, sagte sie in ihren Träumen, »und mein Geliebter ist mein: er weidet zwischen den Lilien.« Am neunzehnten Mai, einem Sonntag, kamen sie an einen Ort, der kaum eine halbe Tagesreise von St. Louis entfernt lag, und besuchten die Messe in einem kleinen Schindelhaus, das auf einem grasbewachsenen Hügel stand. In der Kirche gab es eine Orgel. Sonore Töne fluteten durch das Tor, als sie die Kirchentreppe hinunter und über den steilen Pfad zu der Stelle gingen, wo der Wagen angebunden war. »Feine Predigt«, sagte Lester. »Ja«, sagte Bonnie Sue. »Sie schien auch deinem Vater zu gefallen.« »Es gibt nichts, was er lieber hat«, sagte sie. »Und nichts, was er mehr haßt als eine schlechte«, fügte sie hinzu und lächelte. »Morgen werden wir uns trennen«, sagte er. »Ich nehme an, das weißt du.« 83
»Ja, Lester.« »Ich habe das Gefühl, ich kenne dich kaum«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, ich kenne dich gut.« »Jetzt?« »Ja, Lester.« »Und doch…« Er zögerte. Sie wartete. Er schüttelte den Kopf. »Es macht nichts aus«, sagte er. »Was wolltest du sagen?« »Ich habe kein Recht dazu; du bist noch ein Kind.« »Ich bin eine Frau.« »Dann…« »Ja?« »Wenn sie heute nacht schlafen – nein, kümmere dich nicht darum.« »Lester…« Plötzlich entfernte er sich von ihr, schritt vor ihr auf den Wagen zu. Annabel kam gelaufen und faßte ihre Hand. »Bonnie Sue«, sagte sie, »gefällt dir die Fahrt nach Westen?« »Ja«, sagte Bonnie und starrte Lester nach. »Wirklich?« »Was?« sagte Bonnie Sue. »Ach, entschuldige.« »Ich dachte, es würde aufregender sein«, sagte Annabel. Bei Sonnenuntergang fuhren sie den Wagen von der Straße weg, spannten die Maultiere aus und pflockten sie und die Pferde auf gutem Grasboden an. Dann machten sie ein loderndes Feuer und nahmen ihr Abendbrot in der beginnenden Dämmerung ein. Noch bevor der Himmel dunkel war, zeigte sich die Mondsichel. Sterne begannen zu schimmern. Bonnie Sue lag im Dunkel wach, die Füße dem Feuer zugewandt, die Decke bis ans Kinn gezogen. Sie hatte Leibchen, Rock und Schuhe ausgezogen und trug nur den Unterrock und die Unterhose. Sie hatte, seit sie in Evansville gelandet waren, keine Strümpfe mehr ge84
tragen, da ihre Mutter sagte, die offene Straße sei kein Ort für gute Baumwollstrümpfe, vor allem wenn das Wetter so warm war. Das war noch, bevor sie in den Regen kamen. Allerdings hatte sich das Wetter nachher auch wieder gebessert. Sie lauschte den Geräuschen rundum und hatte den Eindruck, daß alle schliefen, doch sie wartete, da sie keine Bewegung machen wollte, die von jemand, der wach war, richtig hätte gedeutet werden können. Sie hoffte, sie betete, daß Lester allein wach sei und sie auch noch begehre. Sie wartete. Als ihrer Ansicht nach fünfzehn Minuten vergangen waren – sie zählte ihre Herzschläge, sechzig pro Minute, neunhundert im ganzen –, erschrak sie, als sie sich verzählte und sich einen Augenblick nicht entsinnen konnte, ob der letzte Schlag dreihundertvier oder zweihundertvier gewesen war, und sie entschloß sich in ihrer Gier, daß die Zeit schnell vergehen solle, für die höhere Zahl – als sie schließlich auf neunhundert gekommen war, erhob sie sich auf einen Ellbogen und blickte von einer zusammengekauerten Gestalt im Schein des Feuers zur anderen. Ihr Vater schlief ganz sicher, und ihre Mutter und ihr Bruder Will auch, der beinahe so laut schnarchte wie ihr Vater. Auf der anderen Seite des Feuers lagen Gideon und Bobbo – sein Mund stand weit offen –, beide schliefen. Und dort Annabel, auch sie schlief – »Wir haben ein Schwesterchen und es hat keine Brüste: was sollen wir für unsere Schwester tun an dem Tag, an dem sie drankommen soll?« –, doch drei Meter weiter auf dem Kreisumfang, wo Lester hätte liegen sollen, lagen nur seine Unterlage und seine Decke. Ihr Herz wankte. Sie erhob sich, dachte daran, ihre Decke mitzunehmen, und lief barfuß zu einer kleinen Birkengruppe, wo die Maultiere und Pferde angepflockt waren. Einmal warf sie einen Blick über die Schulter zurück, bevor sie in den Wald trat. Niemand rührte sich. Sie war sicher, daß Lester sie hier erwarten würde, so sicher, daß sie beinahe seinen Namen rief. Aber der Wald 85
war leer, das Mondlicht fiel auf fahle, dünne Stämme. Im Gebüsch summte ein Insekt, dann verstummte es. Sie konnte die Maultiere und Pferde auf dem Feld nebenan hören. Ein Holzscheit zischte und sprühte im Feuer, dann war alles wieder still. Sein Arm kam aus dem Dunkel und umfaßte von hinten ihre Taille. Er zog sie an sich, und sie spürte sofort sein steifes Glied in seiner Hose und an ihren Hinterbacken. Noch hinter ihr, langte er nun mit beiden Händen nach oben und umfaßte ihre Brüste, dann schob er die Träger ihres Rocks nach unten, um sie freizulegen. Er hielt sie nackt in seinen gewölbten Händen, senkte den Kopf und küßte sie seitlich auf den Hals. Sie zitterte heftig, wandte sich ihm zu, umfaßte ihn mit beiden Armen und drückte ihn leidenschaftlich an sich, als könnte sie so zu zittern aufhören. Doch das, was sie früher gespürt hatte, als es an ihre runden Hinterbacken gedrückt wurde, stieß nun hart gegen den Hügel zwischen ihren Schenkeln, und die Hände, die eben noch ihre nackten Brüste gehalten hatten, faßten jetzt ihre Hinterbacken, die Fingerspitzen stießen leise von hinten an ihre Spalte. Sie wußte, daß sie ohnmächtig werden würde. Er beugte sich eilig nieder, schob seinen linken Arm hinter ihre Knie und hob sie, mit dem rechten hinter ihrem Rücken, vom Boden hoch und trug sie durch die Birkengruppe dorthin, wo der Wald dichter wurde. Hier war es beinahe stockdunkel. Das Feuer war zu weit entfernt, als daß man es auch nur gesehen hätte, und nur ein wenig Mondlicht sickerte durch die dichtbelaubten Äste der gewaltigen alten Bäume. Lester trug sie, ihren Kopf an seiner Schulter, zu einer blaßgrünen Lichtung und ließ sie dann sanft auf den Boden nieder. Der Boden war feucht, plötzlich merkte sie, daß sie die Decke irgendwo zwischen den Birken hatte fallenlassen. Sie spürte die Feuchtigkeit durch den dünnen Baumwollunterrock und an der Rückseite ihrer nackten Beine, als er den Unterrock über ihre Taille hochschlug. Sie wehrte sich nicht, als er ihre Unterhose bis zu ihren Knien hinunterzog, sie dann über die Fesseln schob und ganz wegnahm, um sie mit seltsamer Zartheit neben sie auf den Boden zu legen, als ob 86
er eine kostspielige Uhr auf die polierte Edelholzplatte einer Anrichte stellte. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt, und sie fragte sich, wann er sagen würde: »Du bist schön, o du meine Liebste, Tirzah«, irgendwas, »Die Gelenke deiner Schenkel sind wie Juwelen«, einfach irgend etwas. Doch seine Hände suchten sanft drängend diese juwelengleichen Schenkel zu öffnen, und sie wurde sich plötzlich, doch ohne besonderen Schreck klar, daß er seine Hose aufgeknöpft hatte. »Mach auf«, sagte er, was sie für einigermaßen poetisch hielt, doch für nicht so blumenreich wie das, was sie erwartete. Er drückte nun gegen sie, in diesem Augenblick, und bemühte sich, sein Vögelchen in den Spalten des Felsens unterzubringen, in den geheimen Stellen der Treppe, und sie verspürte eine unbändige Lust zu kichern. Und dann plötzlich erfolgte eine Vereinigung seines Fleisches mit dem ihren, ihre Schamlippen, die fest zusammenhafteten, empfingen ihn zugleich, so daß sein Eindringen wie eine unerwartete Überraschung schien. Sie öffnete sich ihm völlig, mit auseinandergebreiteten Beinen, den Unterrock wollüstig hochgeschlagen, die Arme weit geöffnet wie die einer gekreuzigten Hure. Seine Hände lagen unter ihr, seine Finger waren auf ihren Hinterbacken ausgebreitet, mit jedem Stoß hob er sie zu sich hoch, bis sie – die Bewegung lernend und entdeckend, daß sogar das geringste Hochbäumen gegen ihn sie unter ihm erzittern ließ – selbst seine Stöße zu erwidern begann und sie gemeinsam in einen Rhythmus verfielen, der sicher Possentanz des Teufels, gespielt auf einer verstimmten Fiedel, war. »Liebst du mich?« flüsterte er. »Sag mir, daß du mich liebst, mein Herzchen«, die Worte glitten so leicht wie irischer Whiskey von seiner Zunge. Sie flüsterte an seinem Ohr, in sein Ohr hinein, vorsichtig zuerst, obgleich ihre Leidenschaft es ihr anders eingab: »Ich liebe dich.« »Lauter«, sagte er. »Ja, ich liebe dich.« »Sag es noch mal!« 87
»Ich liebe dich«, sagte sie, diesmal voll Inbrunst. »Ich liebe dich, ja, ich liebe dich«, knirschend sagte sie: »O Jesus, o Lester, ich liebe, o Jesus, o ja, ich liebe dich, ich liebe dich.« Am Morgen war Lester fort. Und mit ihm Wills Pferd. Zuerst dachte sie, die Aufregung habe damit zu tun, daß jemand sie in der Nacht vorher mit Lester im Wald gesehen hatte. Als sie die zornigen Stimmen hörte, war sie sicher, daß ihre Brüder Lester unter seiner Decke herausgezerrt hätten und ihn nun bei lebendigem Leib rösten würden. Es war das erste Licht des Morgens, das Feuer hatte sich in Asche verwandelt, die von dem leichten, schwachen Ostwind davongeweht wurde. Sie blinzelte durch den Aschenschleier hinüber, wo ihre Brüder bei den Pferden und Maultieren standen, und suchte Lester, da sie glaubte, sie hätten ihn an der Kehle oder im Nacken gefaßt, doch Lester war nirgends zu sehen. Da begriff sie den Kern dessen, was sie sagten. Lester war in der Nacht davongeritten. Lester hatte Wills gefleckten Wallach gestohlen. »Vom Augenblick an, da ich ihn sah, hatte ich kein Vertrauen zu ihm«, sagte Hadley. »Was hältst du von diesen Spuren?« »Nach Westen führen sie nicht, das ist sicher.« »Trotz allem, was er von Schlangen versteht«, sagte Hadley und spuckte auf die Erde. »Wie lang ist er deiner Meinung nach fort?« »Läßt sich nicht sagen.« »Hat jemand während der Nacht etwas gehört?« »Ich hörte draußen im Wald irgend etwas schlagen«, sagte Bobbo, »aber ich dachte, es ist irgendein Viehzeug.« Bonnie Sue erhob sich und glättete ihren Unterrock. Ihre Schwester Annabel beobachtete sie scharf, so kam es ihr wenigstens vor. Hatte sie auch Geräusche im Wald gehört und war sie nachsehen 88
gegangen? Sie hatten die halbe Nacht dort draußen gelegen, Lester hielt sie in den Armen, bis er wieder bereit war, das zu verlangen, was sie bereits als seinen Besitz erklärt hatte. Nun war er fort. Und sie nannten ihn einen Pferdedieb. Sie zog sich schnell an. »Man sollte ihn aufhängen«, sagte Hadley. »Zuerst muß man ihn erwischen, Pa.« »Er weiß, daß wir spät dran sind, und meint, wir können keine Zeit damit verlieren, ihm nachzujagen.« »Ein prima Pferd, das er gestohlen hat.« »Wenn wir uns auf die Suche nach ihm machen, erreichen wir Independence am Sankt Nimmerleinstag. Ich finde, wir sollten den Schweinehund vergessen.« »Und mein Pferd auch? Es ist hundertfünfzig Dollar wert, mein Pferd, oder noch mehr.« »Die Spuren führen klar genug nach Norden«, sagte Bobbo. »Höchstwahrscheinlich nach Carthage«, sagte Gideon. »Dort wohnt seine Mutter, in Carthage, hat er das nicht gesagt?« »Wie weit ist Carthage von hier?« »Etwa hundertsechzig Kilometer«, sagte Will. »Mehr als das«, sagte Hadley, »zumindest hundertneunzig.« »Das schaffe ich in vier, fünf Tagen«, sagte Will. »Wenn er nach Carthage reitet, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Der Mann erzählt dir, daß seine Mutter irgendwo wohnt, und wird dann nicht ein Pferd stehlen und geradeaus dorthin reiten.« »Keiner sagt, daß ein Pferdedieb schlau sein muß, Pa.« »Auch nicht unbedingt blöde. Lester schien mir kein Narr zu sein.« »Auf jeden Fall hätte ich eine gute Chance, euch in Independence einzuholen.« »Wie stellst du dir das vor, mein Sohn?« »Ich komme schnell vorwärts, allein zu Pferd.« »Ist dennoch eine harte Schinderei.« »Ich würde ihn gern verfolgen.« »Und was tust du, wenn du ihn erwischst?« »Ich bring' ihn vor Gericht.« 89
»Wo?« »In Carthage, wenn ich ihn dort finde.« »Angenommen, du findest ihn irgendwo im Wald, während er sein Essen kocht oder einer Katze das Fell abzieht.« »Dann schleppe ich ihn zum nächsten Ort, wo es ein Gericht gibt.« »Mir gefällt es nicht, daß du allein einem Pferdedieb nachjagst.« »Ich gehe mit ihm«, sagte Gideon. »Und du läßt mich allein mit Bobbo und den Maultieren, wie? Ich sag' euch, Jungs, die ganze Idee gefällt mir nicht. Wenn es in Independence noch Wagen gibt, müssen wir mit ihnen zusammen losziehen. Und wenn sie nicht mehr dort sind, müssen wir sofort losziehen und versuchen, die anderen einzuholen. Und wenn ihr dann noch nicht zurück seid?« »Dann fahrt ihr eben ohne uns voraus«, sagte Will. »Wir holen euch schon irgendwo ein.« »Ich weiß nicht«, sagte Hadley kopfschüttelnd. »Der Mann hat mein Pferd gestohlen«, sagte Will. »Verdammt noch mal, ich weiß, was er getan hat!« Bonnie Sue wünschte, sie könnte Lester nachreiten und ihn hierher zurückbringen. Dann würde sie ihre Liebe zu ihm erklären und sein Leben retten. Gleichzeitig wünschte sie, die anderen sollten ihm nachreiten und ihn auf der Stelle hängen, nicht als Bestrafung für den Diebstahl von Wills Pferd, sondern deswegen, weil er sie verlassen hatte. Ihre Wangen brannten noch in Erinnerung an ihre Leidenschaft, aber auch vor Zorn und etwas, das sie für Scham hielt – bildete sie sich Annabels intensiv forschende Blicke bloß ein? Oder war ihre Unzucht so augenfällig wie der Nebel drüben, wo die angepflockten Maultiere und Pferde die Morgenluft atmeten und mit den Hufen auf dem Boden scharrten? »Pa?« sagte Will. Hadley nickte. »Können wir gehen?« fragte Gideon. »Ich glaube, ja«, sagte Hadley, doch er wirkte bekümmert. 90
Minerva drückte ihre Söhne an sich. »Seid vorsichtig«, sagte sie. »Er ist nicht mal bewaffnet, Ma«, sagte Gideon. »Hat all seine Schießeisen bei der Pokerpartie verloren.« »Hat er gesagt. Doch nach meiner Erfahrung lügt ein Pferdedieb in allem, sogar was seinen eigenen Namen angeht. Ihr könnt nicht wissen, ob er nicht irgendwo in seinen Stiefeln eine kleine Pistole stecken hat.« »Wir werden schon auf die kleinen Pistolen achtgeben«, sagte Will und grinste. »Sei du bloß nicht so klug«, sagte Minerva. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, Ma. Wir sind doch zu zweit.« »Gebt auf euch acht«, sagte sie, küßte ihre beiden Söhne und kletterte dann nach oben auf den Wagensitz. Das einzige, was ihr Sorgen bereitete, war Lester. Sie wußte, ihre Söhne konnten überall auf sich achtgeben, und Illinois war ein so zivilisiertes Gebiet, wie man es sich nur wünschen konnte. Nur Lester machte ihr Sorgen. Wills gefleckter Wallach trug das Brandzeichen und die Ohrmarke. Wenn sie Lester fingen, konnte er ihren Anspruch auf das Tier nicht widerlegen. Er war ein Mann, dem die Schlinge drohte, und das machte ihn gefährlich. Schweigend sah sie zu, wie ihre Söhne wieder die Spuren prüften und dann aufs Pferd stiegen. Will winkte ihr und machte mit dem Gaul, den er ritt, Bobbos schwarzer Stute, kehrt. Gideon rief aus dem Sattel seines Schecken »Wiedersehen in Independence!«, und dann ritten beide in Richtung Norden davon. Sie blickte ihnen durch den von den Pferdehufen aufgewirbelten Staub nach, bis sie nichts mehr sah als Staub, und dann nicht einmal das. Aus dem Wageninneren sagte Bobbo: »Eines der Gewehre ist auch fort, Pa.« »Dann ist er bewaffnet«, sagte Minerva fast zu sich selbst. Bonnie Sue, die neben ihr auf der Wagenbank saß, brach in Tränen aus. Minerva blickte sie erstaunt an, legte dann den Arm um sie und drückte sie an sich. Etwas später knallte Hadley mit der Peitsche über die Maultierrücken, schrie »Ha-ya!«, und der Wagen 91
schwankte dahin, auf das entfernte St. Louis und das noch viel weiter entfernte Independence zu. Bonnie Sue weinte noch immer.
Bobbo
E
r mußte seinen Vater finden. Dieses verdammte Independence war nicht so groß, daß ein Mann einen anderen nicht ausfindig machen konnte, wenn er ihm etwas sagen mußte. Er mußte ihn schnell finden, bevor die Gelegenheit dahin war wie der Nebel am frühen Morgen daheim. Diese Stadt hatte viel Ähnlichkeit mit daheim. Größer und weiter, und natürlich keine Berge, aber das gleiche Gemisch von Häusern und Läden, das gleiche Rasterschema von Straßen und Querstraßen. Überall, wo Bobbo ging, gab es massive Ziegelhäuser, Kamine, aus denen jetzt im Juni kein Rauch stieg, Türme und Stufen, bogenförmige Eingänge aus Stein – eine richtige, normale Stadt, nur daß vor ihren Toren die Wildnis lag, was alle Karten als Indianerterritorium oder als unorganisiertes Territorium bezeichneten. Das hieß, es gab zwischen hier und dem Pazifischen Ozean nichts als ein paar Handelsniederlassungen und eine Menge – »Sie haben meine Schlange erschlagen, Sie dreckiges Schwein!« Das war seines Vaters Stimme, und sie kam aus dem Inneren einer Kneipe, die so dunkel war wie ein Kerkerverlies. Bobbo stieß die Türen zu dem Lokal auf und sah als erstes seinen Vater, der an dem langen Schanktisch stand, und dann den Barmann mit einem blutbefleckten Fleisch-Hackmesser in der Faust. Hadleys Klapperschlange wand sich, in drei Teile zerhackt, auf der Platte der Theke.
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»Sie können nicht hier reinkommen und eine verdammte Giftschlange mitbringen!« sagte der Barmann. Er war ein vierschrötiger, kräftiger Mann in gestreiften Hemdsärmeln und einer Schürze; ein dichter Schnauzbart kräuselte sich um seine Lippen, die Spitzen hingen nach unten. »Jetzt nehmen Sie dieses Scheißding und dann zum Teufel mit Ihnen.« Auf der Theke lag reglos der Schlangenkopf, doch die anderen zwei abgehackten Teile wanden sich noch. Hadley blickte auf alle drei Teile nieder, dann langte er über die Theke und faßte den Barmann an der Vorderseite seines Hemdes. Die Schürze des Barmanns war mit dem Klapperschlangenblut befleckt, das blutige Hackmesser lag noch in seiner Hand. Als Bobbo schnell vorwärts trat, hob der Barmann das Hackmesser über seinen Kopf, und Bobbo stieg das Herz in die Kehle. »Was!« sagte Hadley. In seiner Stimme lag genug Empörung, um eine durchgehende Rinderherde aufzuhalten, ganz zu schweigen von einem einfachen Barmann mit einem Hackmesser in der Faust. Diese Stimme kannte Bobbo. Sie hatte ihn all die Jahre seiner Jugend verfolgt, er hatte sie schneidend über Bergspitzen und Wiesen, Wasserläufe und Schluchten dröhnen hören. Es war die Stimme von Hadley Chisholm selbst, dessen Vorfahren gegen Kolosse in Irland gekämpft hatten, die einen mit der eisigen Schneide, schärfer als an dem Hackmesser in der Hand des Barmanns, zu Boden strecken konnten. Das Hackmesser zögerte jetzt irgendwo hinter dem Ohr des Mannes. Er riß seine Augen weit auf und zog die Brauen hoch, so daß ihre Bögen den Bogen seines Schnurrbartes nachäfften. »Du wagst es, eine Waffe zu erheben?« fragte Hadley. Das Hackmesser hing noch immer unentschlossen dort. Der Barmann war der Ansicht, er habe mit Fug und Recht ein wildes Tier erschlagen, das ohne einen für ihn ersichtlichen Grund auf seine Theke gelegt worden war. Er hatte mit einer Reflexbewegung nach dem Hackmesser unter dem Tisch gegriffen, und schnick-schnack war der Kopf ab und der Körper sauber entzweigetrennt. Er war nicht 93
gewohnt, daß die Hand eines Fremden an seine Hemdbrust faßte. Er genoß den Ruf, einen abscheulichen Charakter zu haben und das Hackmesser, das er unter der Theke versteckt hielt, äußerst bösartig einzusetzen. Jetzt aber hielt er das Messer zurück und starrte in Hadleys empörte blaue Augen; er zögerte. Er hatte keine Angst vor dem Mann, bestimmt hatte er vor ihm keine Angst – aber etwas sagte ihm, er solle seinen Kopf noch nicht von seinem Körper trennen, wie er es mit der Schlange gemacht hatte. »Leg das Hackmesser weg!« sagte Hadley. »Sofort.« Da kam ein zweiter Mann durch das Lokal, breiter und größer, aber unverkennbar ein Verwandter, mit den gleichen blauen Augen und einem scharfen Blick, der einen Mann durchschneiden konnte wie eine Sense den Weizen. Der Barmann beschloß, das Hackmesser sinken zu lassen. Er ließ es hinter sich auf den Boden fallen und fragte sich sofort, wer die Schweinerei auf seiner verdammten Bartheke beseitigen würde. »Alles in Ordnung, Pa?« fragte Bobbo. »Ja«, sagte Hadley. »Komm her, mein Sohn. Der Mann hier wollte uns gerade einen Whiskey einschenken.« Er blickte dem Barmann ins Gesicht, dann ließ er seine Hemdbrust los. Die versammelten Gäste brachen in Applaus aus, angeführt von einem Mann, der an einem Tisch bei der Wand saß. Über dem Tisch hing ein gerahmtes Bild von Präsident Tyler. Darüber steckten zwei gekreuzte Fahnen der Vereinigten Staaten. »Pa«, sagte Bobbo, »ich habe beim Haarschneiden Leute getroffen, die mir erzählten…« Sein Vater hörte ihm nicht zu, sondern starrte auf den Mann, der unter dem Porträt von Präsident Tyler saß. Der Mann klatschte noch immer, obwohl alle anderen im Lokal bereits aufgehört hatten. Er trug einen flachen schwarzen Hut und eine Brille mit Stahlrahmen. Sein Bart hatte die Farbe von Rost an einem Regentonnenreifen, ein rotbuschiges Ding, das von seinen Wangen und seinem Kinn abstand und wild bis in seine Brauen zu wuchern schien. Mit ihm am Tisch saß eine Indianerin. Der Mann erhob sich, weiter klat94
schend, und ging auf Hadley zu, der darauf wartete, daß der Whiskey eingegossen wurde. Vor ihm applaudierend, sagte er grinsend: »Bravo, Sir, gut gemacht«, und streckte die Hand aus. »Timothy Oakes«, sagte er. »Hadley Chisholm«, sagte Hadley und ergriff die dargebotene Hand. »Bobbo Chisholm«, sagte Bobbo und schüttelte dem Mann ebenfalls die Hand. »Trinken Sie ein Glas mit uns, bitte?« sagte Hadley und goß Whiskey aus der Flasche ein, die der Barmann auf die Theke gestellt hatte. Der Barmann runzelte die Stirn. »Ich überlegte, das Tier loszulassen«, sagte Hadley. »Sie hatten keinen Grund, es derart zu zerstückeln.« »Sie haben es losgelassen«, sagte der Barmann. »Es kroch aus dem Sack, das war nicht meine Schuld.« »Eine verdammte Giftschlange in eine Kneipe zubringen«, sagte der Barmann. »Trinken Sie ein Glas mit uns«, sagte Hadley und grinste. »Wer bezahlt das?« fragte der Barmann und goß sich selbst ein Glas Whiskey voll. »Sie haben eine tadellose Schlange zerschnitten, oder?« sagte Hadley. »Was soll das heißen?« fragte der Barmann. »Es gibt keine Schlange auf Erden, die einen Haufen Kaninchendreck wert ist.« »Die war ein Schoßtier«, sagte Hadley und zwinkerte seinem Sohn zu. »Also, da können Sie gleich außerhalb der Stadt ein anderes Schoßtier finden. Dort draußen gibt es Hunderte davon. Manchmal winden sie sich mitten auf der Straße.« »Die sollten besser nicht hier reinkommen«, sagte Hadley. »Hier gibt es einen Mann, der hackt sie in Stücke wie grüne Bohnen.« Der Barmann lächelte mit gerunzelter Stirn. »Prost«, sagte Hadley und hob sein Glas. »Pa«, sagte Bobbo, »die Männer, mit denen ich sprach, wollen…« 95
»Wohnen Sie hier in der Gegend?« fragte Hadley den Bärtigen, und Bobbo seufzte. Manchmal hätte er seinen Vater gern niedergebrüllt, genauso wie er es tat, wenn ihn jemand anders ärgerte. Würde es natürlich nicht tun, hatte zu viel Respekt vor ihm. Aber da stand er und platzte geradezu, um zu erzählen, was er erfahren hatte, mußte aber still bleiben, bis das Familienoberhaupt genug Dampf abgelassen hatte. In solchen Augenblicken, wenn ihn sein Vater behandelte, als trüge er noch einen Strampelanzug, kam er sich wie eine ungeschickte Puppe vor. Alle hielten ihn ohnedies für doof. Schuld daran war, daß er erst siebzehn war. Und Pickel hatte. Sein Vater und Timothy Oates hatten einander erzählt, woher sie kamen, und nun erzählten sie einander, wohin sie gingen. Bobbo wartete geduldig auf eine Pause in ihrem Gespräch, aber es sah nicht so aus, als würde die noch vor Weihnachten kommen. »…sind schon abgefahren, wissen Sie«, sagte Timothy. »Jedenfalls die meisten. Es kommen aber noch vereinzelte an, so wie Sie, und ich hoffe, mich einem Wagenzug anschließen zu können, der vielleicht zusammengestellt wird.« »Dann wollen Sie also auch nach Kalifornien?« »Nicht so weit«, sagte Timothy. »Ich will nur bis an die Nebraskaküste, um meine Frau nach Hause zu bringen, bevor ihr das Herz bricht.« Er zeigte mit der Hand hinüber, wo die Indianerin unter dem Porträt von Präsident Tyler saß. »Sie ist eine Pawnee«, sagte er, »und weit weg von daheim.« Bobbo blickte zu ihr hinüber. Das Gesicht der Frau war breit und massig, sie trug ihr dichtes schwarzes Haar glatt zum Hinterkopf gezogen, wo es zu beiden Seiten geflochten war. Ihr zweiteiliges graues Kleid war abgetragen, Rock und Umhang aus Elchleder, geschmückt mit Stachelschweindornen, von denen viele abgefallen waren. Auch Hadley blickte sie über den Rand seines Glases an. Bobbo stürzte sich in die momentane Stille.
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»Ich hab' auch noch andere gefunden«, sagte er eilig. »Zwei Familien, die nach dem Westen wollen, Pa. Ein Tischler aus Baltimore mit seiner Frau und drei Kindern, ein Mann aus…« »Wir brauchen keine kleinen Kinder, die uns zwischen den Füßen herumlaufen, danke«, sagte Hadley. »Die Söhne sind sechzehn und vierzehn; die können soviel ziehen, wie sie wiegen.« »Soll das heißen, das dritte Kind ist eine Tochter, wie?« »Also…« »Ist es so?« »Sie ist ein Kind in den Armen der Mutter«, gab Bobbo zu. »Aber, Pa…« »Genau, was wir brauchen, ein Kleinkind.« »Die Söhne können mit Pistolen so gut umgehen wie ich«, sagte Bobbo. »Der Wagen wird von Ochsen gezogen, und sie reiten noch außerdem mit vier guten Pferden. Mr. Comyns sagte, wir könnten eines seiner Extrapferde reiten, wenn wir wollten. So heißt er, der Tischler, Pa. Jonah Comyns.« »Hat ein Extrapferd, wie?« »Ja, Pa.« »Mm«, sagte Hadley. »Und die andere Familie?« »Scheint dir das interessant, Pa?« »Du hast gesagt, es sind zwei Familien.« »Genau. Der andere Mann heißt Willoughby und hat zwei Töchter. Er ist Witwer, Pa, und beschloß, aus Pennsylvanien auszuwandern, als seine Frau starb.« »Wie alt sind die Töchter?« »Die eine ist genauso alt wie Annabel. Das wäre jemand für sie zum Spielen, Pa. Sie sehnt sich doch nach Gesellschaft.« »Und die andere?« »Ein Mädchen, zwei oder drei Jahre alt.« »Ohne eine Mutter, die für sie sorgt.«
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»Das bravste Kleinkind, das ich je gesehen habe«, sagte Bobbo. »Saß auf einer Bank an der Wand, die ganze Zeit, als ihr Vater rasiert wurde, und gab keinen Laut von sich.« »Mm«, sagte Hadley. »Wir müssen an das Extrapferd denken, Pa. Bedeutet weniger Gewicht im Wagen; da haben es die Maultiere leichter.« »Die Maultiere haben den ganzen Weg von Virginia hierher geschafft, und ich glaube, sie werden es auch weiter schaffen. Außerdem sind deine Brüder noch nicht hier.« Das also war es. »Pa«, sagte Bobbo, »wir sagten ihnen doch…« »Ohne sie will ich nicht losfahren«, sagte Hadley. »Wir sagten, wir würden nur so lange warten, bis wir andere Wagen finden, die wegfahren. Entweder das oder…« »Sie müssen jetzt jeden Tag eintreffen«, sagte Hadley. »Pa, wir wissen nicht, wann sie hier sein werden – das ist die einfache Wahrheit. Ich habe zwei Wagen gefunden, denen wir uns anschließen können…« »Drei, wenn Sie mich und meinen Wagen mitzählen«, sagte Timothy. »Ich habe nur einen kleinen, der von einem Paar Maultiere gezogen wird, und kann kein Pferd beisteuern. Aber ich bin ein guter Schütze und besitze einen Hall-Perkussionskarabiner. Ich kenne die Indianer gut, Sir, die guten und die bösen. Ich war so oft in den Rockies, wie ich Finger und Daumen habe. Ich kenne das Gebiet und ich weiß, was…« »Wir trafen einen Burschen in Louisville, der auch kein Pferd hatte«, sagte Hadley. »Jetzt hat er eines.« »Wie?« sagte Timothy. »Wie weit, haben Sie gesagt, wollen Sie fahren?« fragte Bobbo. »An die Nebraskaküste.« »Wo liegt das?« »Diesseits vom Plattefluß.« »Pa?« fragte Bobbo. 98
Hadley kannte die Entfernung von Carthage auswendig – Gideon und Will hätten nun schon hier sein müssen. Es war der neunte Juni; sie hatten sich am zwanzigsten Mai vor St. Louis getrennt. Sein Instinkt sagte ihm, er solle hier auf seine Söhne warten, er wußte aber, daß er den Rest seiner Familie nicht länger aufhalten durfte. Bobbo hatte recht, es war eine gute Gelegenheit. Mit Oates eingerechnet würden sie vier Wagen sein, was vielleicht kein richtiger Wagenzug war, aber doch genügte, um nachts eine Art Kreis zu bilden, der verhindern würde, daß sie skalpiert wurden. Der Gedanke, einen Indianer, ob weiblich oder nicht, in ihrer Mitte zu haben, gefiel ihm nicht sehr, doch Oates schien ein ganz anständiger Bursche zu sein, und Hadley fand, man könne nicht herumgehen und jeder Rothaut in der Welt die Schuld geben für etwas, das seinem Vater vor einundvierzig Jahren passiert war. Außerdem war es nicht barmherzig, einen Mann ganz allein mit seiner Frau in einem kleinen alten Wagen sich quer durch die Prärien quälen zu lassen. Sicher hätte er gewünscht, daß Gideon und Will dagewesen wären. Anscheinend mußte er die ganze Zeit nichts anderes tun, als Entscheidungen treffen, deren eine immer noch härter war als die vorhergehende. Daheim erwachte er am Morgen, und der Tag schien sich ganz von selbst zu entwickeln, man brauchte sich nicht jedesmal zu entscheiden, wenn man einen Atemzug machte. »Pa?« sagte Bobbo wieder. »Ja, mein Sohn, ja«, sagte Hadley müde. Sie verließen Independence am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang. Als sie hintereinander losfuhren, sah Bobbo, wie seine Mutter über die Schulter zurückblickte. In dieser Minute schien es ihm, als blicke sie deutlich nach St. Louis oder darüber hinaus. Vielleicht Evansville oder Louisville oder geradeaus durch die Schlucht nach Virginia. Timothys Wagen fuhr als erster; sie hatten zwar Landkarten, aber Timothy allein hatte die Fahrt schon gemacht. Der Wagen hinter Timothy war der des Tischlers Jonah Comyns, gefolgt von dem Witwer aus Pennsylvanien und seinen zwei jungen Töchtern. Der letzte in der Reihe war der Chisholm-Wagen. Bobbo ritt auf dem 99
geborgten Pferd daneben. Sie hätten sich kein besseres Wetter wünschen können. Sie konnten Independence lange Zeit hinter sich sehen. Dann war die Stadt plötzlich verschwunden. Das war die Wildnis. Keineswegs das, was Bobbo erwartete. Keine dichten Wälder, durch die man sich den Weg bahnen mußte, kein Unterholz, das Kleider und Fleisch aufriß, keine zum Angriff geduckten wilden Tiere. Einfach … nichts. Keine Häuser, keine Zäune, keine Scheunen. Leere. Außer dann und wann ein Indianer, der am Horizont vorbeizog. Bobbo ritt nach vorn zu Timothys Wagen, dann ließ er sein Pferd im Schritt gehen. »Ist das derselbe Indianer, den ich die ganze Zeit dort sehe?« fragte er. »Welcher?« sagte Timothy. »Die ganze Zeit seh' ich dort einen Indianer vorbeiziehen, ich dachte, vielleicht ist er ein Späher, und die wollen uns massakrieren.« Bobbo lächelte, aber es war ihm ernst. »Ich glaube, du siehst dort verschiedene Indianer«, sagte Timothy. »Sie sind friedliche Bauern. Du brauchst dich nicht zu beunruhigen.« »Mm«, sagte Bobbo. Er nahm an, daß Timothy Bescheid wußte; er hatte die Reise nach Westen oft genug gemacht. Weiter hinten in Oates Wagen lag die Indianerin zusammengekauert, als wäre ihr kalt. »Ist deine Frau nicht gesund?« fragte Bobbo. »Geht es ihr nicht gut, oder?« »Nein, danke, es geht ihr gut.« »Sie sieht die ganze Zeit so traurig aus«, sagte Bobbo. »Sie ist die ganze Zeit traurig«, sagte Timothy. »Warum denn?« »Ihre Verwandten fehlen ihr.« »Du hast sie im Westen kennengelernt, nicht wahr?« 100
»Ja, das stimmt.« »Also, ich hoffe, sie wird sich bald besser fühlen«, sagte Bobbo. »Das wird sie, ich bin sicher«, sagte Timothy und lächelte. Bobbo machte kehrt und ritt zurück zu dem Wagen, in dem sein Vater und seine Schwester vorn auf der Bank saßen. »Pa«, sagte er, »willst du für eine Weile mit mir den Platz tauschen?« »Ich habe nichts dagegen«, sagte Hadley, zog an den Zügeln und hielt die Maultiere an. »Allmählich wird mein Rücken schwächer. Wie ist das Pferd, mein Sohn?« »Es ist gut, Pa.« »Also, dann steig ab«, sagte Hadley. Bobbo saß ab und reichte seinem Vater die Zügel. Hadley schwang sich in den Sattel und rückte sich darin zurecht. Er sagte: »Vorwärts, Pferd«, und schnalzte leicht mit der Zunge. Bobbo beobachtete ihn, wie er nach vorne zum ersten Wagen ritt, kletterte nach oben auf die Bank und ergriff die Zügel. »Ha-ya!« schrie er, und der Wagen rollte wieder vorwärts. Bonnie Sue neben ihm schwieg. »Was bereitet dir Kummer?« fragte er. »Mir bereitet nichts Kummer.« »Wie kommt es dann, daß du zu keinem ein Wort sagst, bloß herumsitzt und die ganze Zeit Trübsal bläst?« »Ich blase nicht Trübsal«, sagte sie. »Es sieht aber genau aus wie Trübsalblasen«, sagte er. »Sieht aus wie Kopfhängenlassen, wenn du's wissen willst.« »Bobbo, es geht dich nichts an«, sagte sie. »Doch, es geht mich an«, sagte er. »Nein.« »Weil ich dich irre liebhabe und nicht ertragen kann, daß du unglücklich bist.« Sie blickte ihn an. »Das ist wahr«, sagte er. »Also, ich bin nicht unglücklich«, sagte sie. »Es ist nur … ich fürchte mich, das ist es.« »Wovor?« 101
»Dort drüben, in der Ferne, steigt Rauch auf. Ich bin sicher, es sind Indianer, die sich Botschaften schicken, einander sagen, sie sollen kommen und uns skalpieren.« »Bonnie Sue, das ist es nicht«, sagte Bobbo, »das ist es ganz einfach nicht, Bonnie Sue. Ich kenne dich besser als mich selbst, und es sind nicht die Indianer, die dir Kummer machen. Also, Bonnie Sue, was ist es?« Sie antwortete nicht. »Bitte, Bonnie Sue, sag' es mir. Ich will dir helfen, Schwester. Bitte.« »Du kannst mir nicht helfen«, sagte sie. »Was?« Er hatte sie kaum gehört. »Ich sagte, du kannst mir nicht helfen.« »Früher konnte ich dir immer helfen«, sagte er. »Aber jetzt nicht«, war die Antwort. Er hatte ihr wirklich immer helfen können. Stand ihr näher als sonst jemand in der ganzen Familie, im Alter am nächsten und ihr auch im Temperament am nächsten. Es gab eine Zeit, als sie beide bloß kleine Kinder waren, da konnte sich keiner von der Familie in eines ihrer Gespräche mischen. Wenn man sie antraf, als sie miteinander sprachen, hätte man meinen können, eine Person spreche laut mit sich selbst. Sie schwatzten wie Elstern. Wenn Pa Bobbo verprügelte, was oft genug vorkam, begann Bonnie Sue zu weinen. Umgekehrt war es ebenso. Ma sagte, wenn Bonnie Sue ihre Hose naß machte, mußte man die Bobbos wechseln. In der Familie nannte man sie einfach ›die zwei‹. Man sagte ›die zwei‹ und wußte, daß von Bobbo und Bonnie Sue die Rede war, nicht von Will und Gideon oder von einem Paar Maultiere. Damals gab es, als die beiden – Bobbo war achtzehn Monate älter als seine Schwester – heranwuchsen, keinen in der Familie, der ihnen entgegentreten konnte. Es war unmöglich. Wenn man mit den beiden in Streit geriet, war es so, als versuchte man, mit einem Bärenpaar anzubän102
deln. Der eine gab nur solange nach, bis der andere eine Möglichkeit gefunden hatte, dich zu fassen; dann drehte er dich herum in den Griff des anderen. Das war damals. Als die beiden heranwuchsen. Nun sah sie noch trauriger aus als sogar Timothys Frau, und sie hatte ihm gesagt, er könne ihr nicht helfen. Er hätte sein Leben dafür gegeben, ihr zu helfen. So viel hätte er dafür gegeben. »Ich habe diese Reise nie anders als in Begleitung von Militär gemacht«, sagte Timothy. »Vor dem Abendessen stellten wir die Wagen und Karren immer in einem groben Kreis von ungefähr fünfzig bis sechzig Meter Durchmesser auf. Innerhalb dieses Kreises schlugen wir unsere Zelte auf. Den Tieren fesselten wir die Vorderbeine und ließen sie außerhalb grasen.« Es war ihre erste Nacht seit der Abfahrt von Independence. Die Männer standen rund um das Feuer. Comyns und seine zwei Söhne. Willoughby. Bobbo und sein Vater. Dort stand auch Timothy, dem Feuer am nächsten, dessen Licht in seinem roten Bart glühte und den Eindruck erweckte, als brenne sein Kinn. Bobbo mochte den Mann gern, ihm gefiel die nette Art, wie er mit seiner Frau in der Indianersprache redete, ihm gefiel seine sichere Kenntnis des Wegs. Bobbo hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit einem von den anderen zu sprechen, und er war nicht sicher, ob er es wirklich tun wollte. Im Blick des Tischlers Comyns lag etwas Wildes, und seine beiden Söhne waren für Bobbo ein bißchen zu jung. Willoughby war im ganzen genommen ein zu trauriger Mann; wenn man in seiner Nähe blieb, mußte man in Tränen ausbrechen. »Wenn es dunkel wurde«, sagte Timothy, »führten wir die Tiere ins Innere des Kreises und pflockten sie dann an langen Halftern an. Das ließ ihnen die Freiheit, nachts nach Futter zu suchen, und hielt sie in Sicherheit vor den Indianern. Also, ich weiß nicht ganz, wie wir es mit dieser Gruppe machen sollen«, sagte er und lächelte. »Das ist nicht ganz, was man einen Wagenzug nennen würde,
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wenn man die Phantasie noch so sehr anstrengt, und ich denke, wie immer wir die Sache einrichten, wir werden ja doch angreifbar sein.« Der Tischler Comyns hörte aufmerksam zu. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, hatte einen massigen Kopf, eine Mähne wie ein älterer Löwe, braune Augen, leidenschaftlich wie die eines Propheten, unter buschigen weißen Brauen, eine Nase wie ein Keil, dicke Lippen, so rot wie Kalbsleber. Es war etwas Erschreckendes an ihm, es erinnerte Bobbo daran, wenn sein Vater mit seinen verdammten Schlangen hantierte, doch bei Comyns schien es das Übliche zu sein und nicht das Besondere. Seine Söhne stammten von seiner ersten Frau. Sie sahen ihrem Vater in jeder Hinsicht ähnlich, ausgenommen die weißen Haare und Brauen. »Ich möchte es also mit eurer Einwilligung so halten«, sagte Timothy, »daß wir das Lager jeden Abend mit einem Feuer in der Mitte und einem Wagen an jeder der vier Himmelsrichtungen aufschlagen. Die Tiere behalten wir innerhalb des Lagers, wie es das Militär tat, und beginnen die erste Wache um neun Uhr.« »Bis wann?« fragte Comyns. »Bis zum Sonnenaufgang.« »Das sind gute neun Stunden.« »Ja, und wir sind hier sieben Mann«, sagte Timothy. »Ich dachte, wir lösen einander alle drei Stunden ab, zwei Mann pro Wache, jeder von uns hat eine Nacht in der Woche frei. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.« »Das erscheint mir richtig«, sagte Comyns. »Glauben Sie, daß wir in diesem Stadium der Reise so vorsichtig sein müssen?« fragte Willoughby. Er war ein großgewachsener, dünner Mann mit einem gebräunten und vom Wetter zerfurchten Gesicht. In seiner braunen, erdfarbenen Kleidung sah er genauso aus wie das, was er war, ein einfacher, schlichter Farmer. Der Feuerschein flackerte auf seinen Händen. Er drückte sie aneinander und drehte sie beim Sprechen, aber auch jetzt, als er auf Timothys Antwort wartete. Es machte Timothy nervös, wie er die ganze Zeit an seinen Händen herumfummelte. 104
»Also, im Augenblick besteht keine große Gefahr für einen Indianerangriff«, sagte Timothy. »Es könnte jedoch einen ehrgeizigen Krieger geben, den es juckt, ein paar Pferde in die Hände zu bekommen, deshalb schadet eine gewisse Vorsicht nicht. Außerdem wird es eine gute Übung für später sein«, sagte er und lächelte wieder. Sie stellten die Wagen auf und postierten die erste Wache, die zwei jungen Comynsburschen, die den Auftrag hatten, um das Lager herumzugehen. Die Nacht war still, abgesehen vom Knistern des Feuers und vom leisen Murmeln des Windes. Am Feuer saß Willoughby neben Hadley und starrte in die Flammen. Er sprach lange Zeit kein Wort, bewegte nur weiter seine Hände, als wollte er sie waschen. Fünf oder sechs Meter weit entfernt starrte Minerva auf die Prärie hinaus, ihre Arme waren schützend um ihre Taille gelegt, so wie der Wagenring um das Feuer. Schließlich seufzte Willoughby und nickte in sich hinein. Hadley wußte, daß er irgendeinen Entschluß gefaßt hatte. Er nahm nicht an, daß der Mann darüber sprechen würde, und war erstaunt, als er es doch tat. »Ich weiß nicht, ob ich weitermachen soll«, sagte Willoughby. Es schien ihm Schmerzen zu bereiten, die Worte auszusprechen. Sie kamen mit einiger Anstrengung von seinen Lippen, als ob er sich bemühte, sie zu unterdrücken. Er rang weiter die Hände im Feuerschein, doch sein übriger Körper war reglos wie Granit. Nur die Hände bewegten sich. »Ich bin besorgt um meine jüngere Tochter«, sagte er. »Meine ältere Tochter und ich, wir können es ertragen. Aber bei der jüngeren bin ich nicht so sicher.« Er nickte wieder, seinen Entschluß bestätigend, bestärkend. »Ich hätte bis zum nächsten Jahr warten sollen. Ich wußte, die verdammten Wagen würden nun schon fort sein, aber ich hoffte, sie einzuholen. Ich mußte weg von Pennsylvanien, verstehen Sie. Meine Frau starb vor nicht langer Zeit; ich mußte fort. Wußten Sie, daß meine Frau gestorben war?« 105
»Ja«, sagte Hadley, »das wußte ich.« »Und sehen Sie, ich dachte, ich müsse fort. Das Haus dort und die Farm, waren zu groß nur für die zwei Mädchen und mich; ich mußte von dort fortkommen. Und nun mache ich mir Sorgen um die jüngere. Übrigens, Ihre ältere Tochter ist großartig zu ihr, ich bin Ihnen dankbar, sie erleichtert die Bürde. Aber sehen Sie, es ist nur… Ich stelle mir dauernd vor, daß die Indianer sie in die Hände bekommen. Sie wie ihre eigenen Kinder aufziehen. Ich habe Geschichten darüber gelesen, Sie nicht? In fünfzehn Jahren würde ich sie nicht mehr als meine Tochter erkennen. Sie würde genauso aussehen wie Oates' Squaw dort drüben in dem Wagen«, sagte Willoughby, mit dem Kopf dorthin zeigend. »Und ich muß immer daran denken, daß meine ältere Tochter auch nicht sicher ist, wenn die Indianer uns angreifen. Wir sind eine kleine Gruppe, das kann ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen, wenn sie darauf aus sind, uns zu überfallen. Sie haben die Männer und Tiere gezählt, sie wissen bestimmt, daß wir verwundbar sind. Wenn sie all die jungen Mädchen sehen – es gibt in dieser Gruppe mehrere junge Mädchen –, könnten sie es als eine verlockende Sache ansehen. Aber das mag ihnen auch so schon erscheinen, sogar ohne größere Aussichten als den Gewinn von Tieren. Ich mache mir aufrichtig Sorgen. Ich denke daran, umzukehren.« »Allein?« fragte Hadley. »Oder mit denen, die mit mir kommen wollen. Wir sind kaum mehr als fünfzehn Meilen von Independence entfernt, und die Indianer hinter uns sind freundlich gesinnt, das hat zumindest Oates gesagt. Ich habe keine Angst, es auch allein zu riskieren, wenn ich muß. Ich halte es für das Klügste.« Willoughby zögerte, dann wandte er sich Hadley zu und blickte ihm ins Gesicht. »Was meinen Sie?« »Ich möchte Ihnen keinen Rat geben«, sagte Hadley. »Wenn Sie auf dem Rückweg nach Independence skalpiert würden, möchte ich die Verantwortung dafür nicht zu tragen haben.« »Also, die Gefahr ist nicht sehr groß.« 106
»Stimmt, die wahre Gefahr liegt vor, nicht hinter uns.« »Das ist es ja eben«, sagte Willoughby. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Sie werden mich für einen Feigling halten.« »Wer wird das tun?« »Die anderen. Und Sie vielleicht auch.« »Ich verurteile nicht, um nicht selbst verurteilt zu werden«, sagte Hadley. »Sie sollten tun, was Sie für richtig halten, Willoughby. Wenn es hier einen Mann gibt, der sagen kann, wie er handeln würde, wenn eine Bande wilder Indianer aus der Prärie angeritten kommt, möchte ich ihn kennenlernen.« »Für mich selbst hab' ich keine Angst, wissen Sie«, sagte Willoughby, »nur der Mädchen wegen würde ich es tun. Besonders wegen des jüngeren.« »Klar«, sagte Hadley, und die Männer verstummten. Willoughby rang wieder die Hände. »Ich nehme an, ich muß noch etwas mehr darüber nachdenken«, sagte er. »Wie Sie wollen«, sagte Hadley. »Möchte aber nicht warten, bis es zu spät ist.« »Nein.« »Dann wäre ich schon wieder weiter entfernt von Independence…« Er ließ den Satz in Schwebe und erhob sich seufzend. »Gute Nacht, Chisholm«, sagte er, und Hadley sagte: »Gute Nacht, Willoughby«, und sah dem Mann nach, wie er zu seinem Wagen ging und dort hineinblickte, wo die Kleine schlief. Dann kam er zurück zum Feuer, zog seine Stiefel aus und kroch unter eine Decke. Hadley sah im flackernden Licht, wie er betend seine Hände faltete, seine Augen waren geschlossen. Die Nacht war kühl, kein Stern war zu sehen, der Mond war durch dichte Wolken verhüllt, die von der Prärie herüberkamen. Hadley erhob sich, streckte sich und ging zu der Stelle, wo Minerva stand, groß und stumm, und auf die Prärie vor sich hinausstarrte. »Sieh doch«, sagte sie, »sie erstreckt sich bis ins Unendliche.« 107
»Bis nach Kalifornien.« »Danke, mir ist Virginia lieber.« »Willoughby spricht davon, umzukehren«, sagte Hadley. »Dann laß uns mit ihm gehen«, sagte Minerva sofort. »Ich glaube nicht.« »Fehlt dir die Heimat nicht?« »Sie fehlt mir.« »Sehnst du dich nicht nach Virginia?« »Aus vollem Herzen, Min.« »Dann, Hadley, Liebster…« »Ich glaube, Min, wir müssen diese Reise machen, sonst müßten wir lernen, auf einem Land zu sterben, das uns nicht ernährt.« »Werden wir nicht dort draußen auch sterben lernen?« fragte Minerva und wandte sich wieder der leeren Prärie zu. Der Wind wehte von Westen herüber, er brachte das niedrige Gebüsch zum Rauschen. Sie blinzelten beide bei dem plötzlichen Windstoß und wandten ihm den Rücken zu. Die Wagendächer flatterten, über dem Feuer tanzten Funken in der Luft. Hadley legte seinen Arm um sie, und sie gingen zusammen zum Feuer. Von dem offenen Wagen Oates' hörten sie die Indianerin im Schlaf murmeln. Hadley zog die Stiefel aus und beobachtete Minerva, die vorsichtig den Saum ihres Rocks zurückschlug und ihre Schuhe aufzuschnüren begann. Ihre Beine waren noch immer so schön wie damals, als er sie in der Hochzeitsnacht zum erstenmal gesehen hatte und Minerva groß, ruhig und in strahlender Erwartung dort gestanden hatte. Ihre schlanken Fesseln kamen zum Vorschein, als sie einen Schuh und dann den anderen auf den Boden fallen ließ, ihren Rock wieder nach unten strich und die Augen hob, um seinem Blick zu begegnen. Ein schwaches, wissendes Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie knöpfte das Leibchen über ihrer noch immer festen und stattlichen Brust auf. Es gab Dinge bei einer Frau, die sich nie änderten, dachte Hadley: Beine, Hüften und Brust; das war Tatsache. Nun ja, vielleicht änderten sie sich doch ein wenig. 108
Als sie zusammen unter der Decke lagen, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und ihre Hand auf seine Brust, wie sie es schon so lange tat, als sie sich erinnern konnte. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte sie leise: »Was hältst du von der Frau des Tischlers?« »Was ist mit ihr?« »Sie stillt ihr Kind weiter«, sagte Minerva. »Sie nimmt zehn-, zwölf mal im Tag ihre Brust heraus, gleichgültig, wer zusieht.« »Es sieht keiner zu«, sagte Hadley. »Bobbo sieht zu. Du mußt ihm sagen, er soll damit aufhören, Hadley.« »Zum Teufel, Min, sie stillt bloß das Baby, sonst nichts.« »Es gibt kein Baby auf der Welt, das so viel Milch trinken kann, ohne ein Kalb zu werden«, sagte Minerva, und Hadley lachte unbändig. Sie versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, lachte aber jetzt selbst. Sie schmiegten sich im Dunkel der Nacht aneinander und wieherten vor Lachen, während der Wind über die Prärie heranwehte. Und als sie sich beide wieder beruhigt hatten, da ihm Minerva sagte, er solle nun schon still sein, sonst werde er noch alle aufwecken, behauptete Hadley, schuld sei ihr Hühnergegacker. Sie drängte ihn wieder wegen Bobbo, und er versprach, dem Jungen aufzutragen, er solle Mrs. Comyns nicht nachspionieren. »Obwohl sie ein hübsches Paar Melonen hat«, sagte Hadley, und Minerva begann wieder zu lachen, bis jemand von den Wagen – sie meinten, es sei die Indianerin gewesen, aber »St!« klang in allen Sprachen gleich – ihnen auf diese Weise nahelegte, still zu sein. Sie waren Meister darin, sich zu lieben, wenn andere keinen Steinwurf weit entfernt waren. Das besorgten sie schweigend. Und wie immer mußte Hadley Minervas Mund mit seiner Hand verschließen, um den Schrei zu unterdrücken, der Tote wie Lebende aufgeweckt hätte und den heiligen Petrus im Himmel mit Sicherheit glauben ließe, Sünder hätten von der Erde Besitz ergriffen und sich den Freuden des Fleisches hingegeben. Nach einer Weile begann es leise zu regnen. 109
Um zwei Uhr morgens war das Lager eine Schlammwüste. Was als sanftes Nieseln begonnen hatte, wurde zu einem tobenden, schrecklichen Sturm, der die ganze Gesellschaft weckte und sie veranlaßte, eiligst in oder unter den Wagen Deckung zu suchen. Bobbo, der mit Timothy Wache stand, ging rund um das Lager von einem Wagen zum anderen, spähte durch den heftigen Regen und lauschte auf andere Geräusche als die, die er erkennen konnte, ohne zu wissen, wie in aller Welt ein Indianer im Dunkel sich anhören würde. Wahrscheinlich nach gar nichts, er würde keinen Mucks machen, bloß zzzzzzzt, und man hatte die Kehle durchschnitten, und zzzzzzzt, und man war seinen Skalp los. Er ging am Comyns-Wagen vorbei, dachte an Sarah Comyns dort drinnen und fragte sich, ob sie nackt sei. Bobbo fand, daß sie ihre kleine Tochter viel zu oft stillte, als daß es für das Wohlbefinden der Männer in der Gesellschaft gut sein konnte, wenn auch das Säugen keine Sünde und eine Brust nichts war, das man verbergen mußte. Er hatte sich selbst dabei ertappt, wie er heute mehr als einmal verstohlen nach ihr geblickt hatte, und fürchtete, der Tischler könnte es gemerkt haben. Dieser Comyns hatte riesige Hände, Bobbo konnte sich vorstellen, wie er einen Hammer packte und einen Nagel einschlug. Bobbo hatte zu Hause genug Frauen gesehen, die ihre Babys stillten; es war nicht recht, jedesmal so hinzustarren, wenn Sarah ihre Brust aus dem Leibchen holte und sie zu drücken begann. Blondhaarig war sie, genau wie Rachel Lowery, die sein Bruder Gideon gebumst hatte. Sommersprossen auf der Haut ihrer vollen Brüste. Bobbo schätzte sie auf vier- oder fünfundzwanzig, die zweite Frau des Tischlers. Bobbo machte weiter die Runde, seine Hose bekam eine Ausbuchtung, er dachte an Sarah Comyns, dachte an Rachel Lowery, dachte sogar an die Indianerin, Timothys Frau; er hätte gern gewußt, wie sie unter dem langen Elchlederrock aussah, indianerschwarz und indianisch verflochten, nahm er an, so dicht wie das Haar auf – Er hörte etwas. Blieb wie angewurzelt stehen, hob die Flinte. 110
Da. Wieder. Das Geräusch kam aus dem Inneren des Kreises. Er drehte sich blitzschnell um, den Finger am Abzug. Timothy Oates lag zusammengekauert unter seinem Wagen, eine Decke über dem Kopf, sein Gewehr auf dem Schoß. Er soff Whiskey aus einer Flasche. Bobbo starrte ihn ungläubig an. Timothy war mit dem Militär gefahren; er war doch wohl nicht so dumm, seinen Posten zu verlassen, ob Regen oder nicht! Ein Mann, der Wache stand, legte sich nicht unter einen Wagen, wenn ein paar Regentropfen fielen. Er legte sein Gewehr nicht in den Schoß. Und insbesondere soff er nicht Schnaps aus einer Flasche. Bobbo lief rund um den Kreis. Es regnete auf die Umzäunung. Überall, wo die Tropfen fielen, spritzten nasse Schlammblasen hoch. Der Regen trommelte auf die Planen, sickerte durch den offenen Wagen, unter dem Timothy Oates kauerte, mit seiner Frau neben sich. Bobbo kniete nieder und schaute unter den Wagen. »Ich weiß«, sagte Timothy, »ich trinke zuviel.« »Wir müssen hier Wache stehen«, sagte Bobbo. »Komm raus!« »Es regnet«, sagte Timothy. »Das weiß ich«, sagte Bobbo, »ich steh' ja hier im Regen. Nun komm aber raus, bevor wir im Schlaf skalpiert werden.« »Keiner von uns beiden wird im Schlaf skalpiert werden«, sagte Timothy, »weil nämlich, wie du feststellen kannst, keiner von uns schläft.« »Ich rede von den anderen. Vorwärts – komm unter dem Wagen hervor.« »Ich glaube, mir gefällt es hier besser als dort.« »Bist du betrunken, Mann?« »Ja, ich bin betrunken«, sagte Timothy und nickte. »Dann wird dich ein kaltes Bad nüchtern machen«, sagte Bobbo und zog ihn unter dem Wagen hervor, während die Indianerin in die Nacht hinausschrie und heulte, als ob ihr Mann zu einem Galgenbaum geschleppt würde. Es war das äußerste, was Bobbo von ihr gehört hatte, seit sie Independence verlassen hatten, aber er war 111
nicht in Stimmung für ihr Schreien, insbesondere da er kein Wort davon verstand. Er sagte ihr, sie solle still sein, und war erstaunt, als sie gehorchte. Aus dem Comyns-Wagen fragte Sarah: »Sind es Indianer? Ist es ein Überfall?«, und Timothy antwortete in seiner trunkenen Benommenheit: »Es ist eine Indianerin, aber kein Überfall«, und Sarah sagte: »Was? Was sagte er, Jonah?« Und Comyns sagte: »Still!« Im Regen führte Bobbo Timothy rund um die Peripherie von einem Wagen zum anderen. Er stützte ihn, einen Arm um die Taille gelegt, und hielt mit der Hand den Ledergürtel fest. In der anderen Hand hielt er das Gewehr mit dem Lauf nach unten, damit der Regen nicht eindrang. Timothy begann zu singen. »Still«, sagte Bobbo. »Was hat dich so betrunken gemacht, Mann?« »Das Trinken«, sagte Timothy, der seinen Gesang nur für einen Augenblick unterbrach und dann wieder in den Regen hinausbrüllte. Er sang, wie es zuerst schien, in einem Kauderwelsch, bis Bobbo klar wurde, daß es eine Indianersprache, vermutlich die seiner Frau, war. »Halt den Mund, Mann«, sagte Bobbo, »du weckst das Lager auf.« »Ist ein Schönwetterlied«, sagte Timothy und taumelte, daß Bobbo fast in den Schlamm gefallen wäre. »Hab' ich von den Sioux gelernt«, sagte Timothy und begann plötzlich in seiner Muttersprache zu singen, brüllend wie vorher, aber jetzt war es wenigstens verständlich. »Mög' die Sonne schön aufgehen«, sang er, »und die Erde hell beleuchten.« Plötzlich verstummte er, während es weiter in Strömen regnete. Na, sein Schönwetterlied hatte viel geholfen! Bobbo wanderte im Sturm mit ihm umher. Er schaute jetzt kaum nach Indianern aus, obwohl er halb überzeugt war, daß Timothys Gesang Plünderergruppen irgendwelcher Stämme angelockt hätte, die laufend mit den Sioux Krieg führten. Bobbo hatte keine Ahnung, wer sie sein konnten, und auch keine Ahnung, ob das Land den Sioux oder den Cheyennes oder einem anderen Stamm gehörte; die einzigen Indianer, die er je gesehen hatte, waren die Handvoll Cherokees, 112
Cheyennes oder Creeks in Virginia. Die und die schweigsame Frau dort unter Timothys Wagen. »Weißt du, warum ich trinke?« fragte Timothy. »Warum?« »Ich trinke, das stimmt, Bobbo.« »Das seh' ich.« »Weißt du, warum?« »Warum?« »Catlin«, sagte Timothy. »Was ist Catlin?« »Es ist ein wer«, sagte Timothy. »Rede vernünftig, Mann.« »George Catlin.« »Wer ist George Catlin?« »Ein Künstler.« »Was hat der mit deinem Trinken zu schaffen?« »Mach dir nichts draus«, sagte Timothy. »Gehen wir wieder unter den Wagen. Hier draußen ist es naß, Bobbo.« »Timothy, du hast die Gruppe in Gefahr gebracht, indem du dich so betrunken hast.« »Stimmt. Ich bin ein Säufer.« »Ich weiß nicht, ob du ein Säufer bist, aber heute nacht bist du sicher betrunken.« »Schuld ist Catlin.« »Sicher, sicher«, sagte Bobbo. »Wer ist besser?« fragte Timothy. »Catlin oder ich?« »Ich kenn' den Mann nicht. Jetzt hör mir gut zu, denn…« »Bobbo, komm weg aus dem Regen. Hier draußen ist es kalt, Bobbo. Wozu gehen wir hier in den Pfützen herum?« »Wir wollen, daß du nüchtern wirst, deswegen. Jetzt hör mich an, Timothy. Wenn wir dir vertrauen sollen, daß du uns nach Westen führst…« »Ihr könnt mir vertrauen. Weißt du, wie oft ich zu den Rocky Mountains und wieder zurück gefahren bin?« 113
»Wie oft?« »Zehnmal, das stimmt. Mit dem Militär«, sagte Timothy und nickte. »Aber nicht als Soldat, nein, mein Lieber. Als Künstler!« schrie er, hob die rechte Hand und streckte den Zeigefinger aus, als wollte er der Nacht seinen Beruf verkünden und dem tobenden Sturm und vielleicht Gott dem Allmächtigen selbst. »Besser als Catlin, wenn du's wissen willst. Gleichgültig, was du sagen oder denken magst, ich bin der bessere Künstler. Das ist Tatsache, Bobbo.« Sie trotteten weiter im Regen von einem Wagen zum anderen, naß bis auf die Knochen, Stiefel und Hosen voll dickem Schlamm, ihre Kleidung war vom Regen vollgesogen und hing schlaff an ihnen herunter, die gewöhnlich steife Krempe von Timothys flachem schwarzem Hut hing rund um seine Ohren, seine Stirn und seinen Hinterkopf, sein rostroter Bart war durchnäßt. »Kenne diesen Weg wie meinen eigenen Hintern«, sagte er, »kann ihn mit verbundenen Augen befahren, hab' ihn schon zehnmal zurückgelegt. Kenn' auch die Indianer besser als dieser Scheiß-Catlin, kann sie besser zeichnen und malen als er. Wer aber kriegt den ganzen Ruhm, ha?« »Catlin«, sagte Bobbo. »Richtig, Catlin.« Catlin war sein Thema, seine Triebkraft und seine Leidenschaft. Es war Catlin, der ihn schließlich nüchtern machte, aber es war auch ohne Zweifel Catlin, der ihn veranlaßte, sich wieder zu betrinken. Nun begriff Bobbo, daß Catlin ein Künstler war, der Indianer malte, ebenso wie Timothy. Er hatte in Philadelphia ein paar Jahre lang Jura studiert und es dann aufgegeben, um sich der Malerei zu widmen. Wurde Porträtmaler in New York, bevor er vor etwa zwölf Jahren in den Westen ging, um bei den Indianern zu leben und sie zu malen. Das war zwei Jahre bevor Timothy den Einfall hatte, das gleiche zu tun. »Zu spät«, sagte er. »Ich kam zurück nach Philadelphia, da sagten die Kunsthändler, es sei widersprechend. Mein Werk! Widersprechend. Ein Verleger… Mein Gott! Sagte, ich hätte Catlins Bild von 114
Laramie kopiert! Mehr Fehler darin … lächerlich! Sagte, ich hätte es kopiert! Hatte den Mann nie im Leben gesehen! Wußte nicht, daß er existierte! Ach, Scheiße, Bobbo«, sagte er und begann zu weinen. Seine Wut war erschöpft, ehe es noch an der Zeit war, die nächste Wache zu wecken. Erschöpft, aber nicht überwunden; das würde nie der Fall sein, das ahnte Bobbo, wenn Timothy sie auch immer wieder ertränken mochte. Er half dem Mann zurück zu seinem Wagen, wo ihn die Indianerin entkleidete, abtrocknete und schlafen legte. Der Regen hatte aufgehört, die Wagendecken waren klitschnaß. Der Boden, auf dem er und Timothy die halbe Nacht hin und her gegangen waren, sah aus, als hätte eine Viehherde ihn in panischer Flucht überquert. Bobbo ging zu seinem Vater, weckte ihn und den Tischler aus Baltimore, dann ging er selbst schlafen. Als er bei Sonnenaufgang erwachte, dachte er als erstes daran, daß er sich einmal Timothys Bilder ansehen müsse. Die Comyns-Jungen, deren Aufgabe das war, führten die Tiere aus dem Wagenkreis und fesselten ihnen die Vorderbeine, damit sie grasen konnten, bis es Zeit war, weiterzufahren. Der Kaffeeduft erfüllte die Morgenluft und ließ die leeren Mägen knurren. In Independence hatte die Gesellschaft ihre Mittel zusammengelegt, um die für die lange Reise erforderlichen Vorräte zu kaufen. Es würde Wild auf der Reise geben, sagte ihnen Timothy, und freundliche Indianer würden frisches Gemüse und Obst eintauschen wollen. Dennoch füllten sie die Wagen mit Rohstoffen und nahmen außerdem solche Luxusartikel wie Kaffee, Speck und Eier mit. Der Speck war in Fäßchen mit Kleie verpackt, um ihn vor Verderb in der Junihitze zu schützen. Die Eier waren in Mehl verpackt, das man, sobald die Eier verzehrt waren, zum Brotbacken verwenden würde. Kaffee war der kostspieligste Luxus, doch Timothy sagte ihnen, er würde den bitteren Geschmack des Wassers verbergen, das Alkali enthielt. Nun brutzelte Speck in den Pfannen, Eier wurden darüber geschlagen und prasselten bald im siedenden Fett. Sie beendeten das Frühstück 115
an diesem Morgen des elften um Viertel nach sechs und waren zehn Minuten später wieder auf dem Weg. Minerva war sich nicht darüber im klaren gewesen, wie sehr ihr die Gesellschaft einer anderen Frau gefehlt hatte. Sie hatten Independence erst am Morgen vorher verlassen, doch als sich nun der neue Tag so endlos wie die Prärie selbst ausdehnte, wandte sie sich begierig an Sarah Comyns. »Ich war nie in Baltimore«, sagte sie. »Was ist das für eine Stadt?« »Oh, sehr nett«, sagte Sarah. Stille. Sie saßen zusammen in Comyns Wagen, die Sonne schien auf das Dach, so daß alles im Inneren golden glühte. Der Wagen war sogar noch dichter vollgepackt als der der Chisholms. Sie saßen auf Schemeln, die der Tischler selbst gemacht hatte, schaukelten mit der Bewegung des Wagens, wurden durchgeschüttelt, wann immer er an eine Bodenwelle oder eine Furche stieß. Das Baby schlief auf Sarahs Schoß. An diesem Morgen hatte sie das Kind in der Ungestörtheit ihres eigenen Wagens gestillt. Minerva erriet, daß der Tischler ihr gesagt hatte, sie solle ihre Brüste nicht vor jedermann entblößen. »Eine große Stadt, nicht wahr?« »O ja«, sagte Sarah. »Ungefähr so wie Louisville?« »Ich schätze, ja«, sagte Sarah. Stille. »Wohnen Sie in der Stadt selbst?« fragte Minerva. »Oder außerhalb?« »Ja.« »In der Stadt?« »Ja.« Stille. »Hat Ihr Mann dort einen Laden?« »Ja«, sagte Sarah. 116
»Muß interessant sein, mit einem Mann verheiratet zu sein, der Dinge mit seinen eigenen Händen herstellen kann.« »Ja, das ist es«, sagte Sarah. »Wenn Hadley mit seinen eigenen Händen einen Tisch oder einen Stuhl zu machen versucht, kommt etwas ganz Verdrehtes heraus.« »Ach, wirklich?« sagte Sarah und lachte. »Mein Gideon ist der, der eine sichere Hand mit Hammer und Nägeln hat«, sagte Minerva. »Sie kennen ihn nicht; er ist mit seinem Bruder nach Illinois geritten. Ein Mann hat das Pferd meines Ältesten gestohlen, einen großen gefleckten Wallach, ein prächtiges Pferd. Ist ganz einfach eines Nachts damit fortgeritten. Mein Sohn fehlt mir schrecklich«, sagte sie, und dann vertraute sie Sarah an, daß Gideon ihr Lieblingssohn war, von dem Augenblick an, an dem ihn die Oma schwächlich und naß auf ihren Bauch gelegt hatte. Sie liebte sie alle unsäglich, sicher, aber für Gideon empfand sie etwas Besonderes, eine Art von … Freude, so schien es ihr, jedesmal wenn sie ihn sah. Sie wußte, es war nicht richtig, sich so viel Sorgen wegen der beiden zu machen; sie waren erwachsene Männer und wußten, wie sie auf sich aufpassen mußten. Aber sie waren nun schon seit über drei Wochen fort. Das letztemal hatte sie sie am zwanzigsten Mai gesehen, als Gideon aus seinem Sattel gewinkt und breit gegrinst hatte. »Ich glaube, das liegt eben in der Natur der Sache«, sagte Minerva, »daß man sich Sorgen um seine Kinder macht, auch wenn sie erwachsen sind.« »Ach ja«, sagte Sarah. Minerva kam zu dem Schluß, daß Sarah eine taube Nuß war. Als sie an diesem Tag Mittagsrast hielten, schien es wie eine Unterbrechung der Routine, obwohl es ein Teil dieser Routine war. Der Himmel war durch den Sturm in der Nacht vorher klargefegt worden; sie konnten kilometerweit sehen. Ein Strom floß durch das Ge117
biet. Sie tränkten die Tiere und löschten selbst ihren Durst, dann füllten sie Fässer und Fäßchen. Bobbo und die Brüder Comyns machten Feuer zum Kochen, die Frauen brieten das Fleisch und kochten das Gemüse, das sie in Independence gekauft hatten. Es duftete nach Kaffee und heißem Maisbrot. Nach dem Mittagessen schlummerten sie ein wenig. Nur die Stimmen von Annabel und Willoughbys ältester Tochter durchbrachen die Stille. »Begreifst du es jetzt?« »Nein.« Sie hatte strähniges braunes Haar und Katzenaugen, gelb mit grünen Flecken. Es mußten die Augen ihrer Mutter sein; diejenigen Willoughbys waren braun wie ein Weihnachtspudding. Sie hieß Julia. »Es ist eine Geheimschrift, sonst nichts«, sagte Annabel. »Aber wozu dient es?« »Nehmen wir an, ich will dir einen Brief nach Lancaster schicken –« »Ich wohne nicht mehr in Lancaster.« »Nehmen wir nur an. Und ich will dir etwas Geheimes mitteilen.« »Was würdest du mir mitteilen wollen?« »Also … ich weiß es nicht«, sagte Annabel. »Angenommen, ich wollte fluchen oder dergleichen.« »Würdest du das?« »Natürlich nicht, wir nehmen es nur an. Dann würde ich diesen Geheimschlüssel hier aufzeichnen, und keiner außer dir und mir könnte es lesen.« »Laß ihn mich noch mal sehen«, sagte Julia. Annabel zeigte ihr das Blatt Papier.
»Angenommen, du willst ein A schreiben«, sagte Annabel. »Ja, wie mach' ich das?« 118
»Siehst du die Linien dort um das A?« »Welche Linien?« »Die eine darunter und die andere, die sie von oben nach unten kreuzt. Statt des A zeichnest du bloß die zwei Linien«, sagte Annabel. »Die zwei Linien stehen also anstelle des A – verstanden?« Julia betrachtete den Geheimschlüssel noch mal. »Aber dann ist es doch das gleiche für J, oder?« »Nein, das hat einen Punkt.« »Ach ja«, sagte Julia. »Verstehst du es jetzt?« »Ja«, sagte Julia und nickte. »Ist doch prima, nicht?« »Es ist wirklich gut«, sagte Julia. »Wo hast du es gelernt?« »Bei uns daheim kennt das jeder«, sagte Annabel. Was im südlichen Illinois langweilig geschienen hatte, war jetzt in der Erinnerung aufregend. Dort zeigte sich zumindest gelegentlich eine Hügelkette, eine Kuppe, eine Anhöhe und überraschte das unvorbereitete Auge. Hier gab es eine weite, von der Straße durchzogene Ebene, zu beiden Seiten war das Land so flach wie die Straße selbst und erstreckte sich bis an den Horizont, wohin immer man sich wandte. Die Wirkung war geisttötend. Die Wagen fuhren in der Mitte eines vollkommenen Kreises, die Landschaft blieb ewig gleich, die Maultiere und Ochsen und Pferde trotteten vorwärts, brachten es jedoch nur zustande, den vollkommenen Kreis, Mittelpunkt und Umfang, fortzubewegen, so daß man eher das Gefühl hatte, zu stehen, als vorwärts zu kommen. Am zweiten Tag legten sie zweiundzwanzig Kilometer zurück. Am Tag vorher waren es laut Karte fünfundzwanzig gewesen. Sie waren todmüde, als sie bei Sonnenuntergang wieder den Kreis bildeten. Sie machten ihre Feuer, stellten ihre Wachen auf. Sie aßen. Sie schliefen. Am Morgen zogen sie weiter. 119
Sie waren offenbar Auswanderer. Du freust dich auf die Mittagspause. Das verdammteste Ding, das es je gab. Steig ab von deinem Pferd, streck deine Knochen, iß was Gutes, Warmes. Dann sitzt du rum und tust nichts. Siehst dich nur um. Döst. Siehst wieder rundum. Drüben am hinteren Ende von dem Oates-Karren saß Timothys Indianerfrau. Rührte sich nie aus dem Karren. Saß dort Tag und Nacht, man konnte meinen, ihr Hintern sei dort angeleimt. Schien genauso traurig wie der Witwer, starrte hinaus auf die Prärie. Schaute immer nach Westen. Einmal folgte Bobbo ihrem Blick. Dachte, vielleicht sehe sie etwas, das er nicht ausmachen konnte. Nichts war dort. Rein gar nichts. Timothy brachte ihr was zu essen, dann nahm er sein Skizzenbuch und eine Schachtel voll Bleistifte aus dem Karren. Er redete von Malen und Zeichnen so, als wäre es Arbeit wie das Pflügen eines Feldes oder das Beschlagen eines Pferdes. Das konnte Bobbo nicht verstehen. Einer seiner Freunde daheim, Roger Colby, zeichnete auch immerfort Bilder, manche davon waren so hübsch, daß man sie mit einem Rahmen versah. Bobbo selbst konnte keine gerade Linie zeichnen, aber er bewunderte Leute, denen so etwas gelang. Bilder zeichnen, einen Hartriegelbaum oder dergleichen. Aber Arbeit? Zum Teufel, das war keine Arbeit. Er hatte noch keines von Timothys Bildern gesehen, wußte nicht, ob der Mann wirklich zeichnen konnte oder bloß seine eigene und Gottes liebe Zeit vergeudete. Jetzt saß er auf einem großen Steinblock und beobachtete jede Bewegung, die der Tischler machte. Er versuchte die Ähnlichkeit rauszukriegen, nahm Bobbo an. Da war der Witwer, Willoughby, so traurig wie einer nur sein konnte. Man wußte nie, wann er in Tränen ausbrechen würde. Gestern abend knapp vor dem Essen sagte Annabel etwas über die hübsche Stickerei auf dem Lätzchen, das seine kleine Tochter trug. Willoughby verbarg das Gesicht in seinen Händen und begann zu heulen. Wahr120
scheinlich hatte seine Frau das Lätzchen gestickt. Er ging zurück zu seinem Wagen, kletterte auf die Bank, saß dort, das Gesicht in den Händen, und flennte. Er rührte keinen Bissen an. Seine Tochter Julia ging zu ihm und berührte seine Schulter. »Pa«, sagte sie. »Ja, Liebling.« »Pa?« »Ja, Liebling, ist schon gut, Liebling.« Timothy war noch immer bemüht, den Tischler zu zeichnen. Es mußte ein Wunder sein, wenn er irgendwas aufs Papier brachte, denn der Tischler lief herum wie ein Mann, der halb so alt war wie er. Vielleicht mußte er sich so beeilen, um seine vollbusige Frau zu befriedigen. Bobbo erhob sich von dem Platz, wo er saß, und ging zu Timothy hinüber. Der kritzelte weiter mit dem Bleistift und hatte den Kopf über sein Skizzenbuch gebeugt. Bobbo stellte sich unmittelbar vor ihn hin und versuchte heimlich, einen Blick auf den Block zu werfen. Er wollte nicht, daß der Mann meinte, er sei neugierig. »Was glaubst du, wie viele Kilometer werden wir heute zurücklegen?« fragte er. »Ach, drei-, vierundzwanzig«, sagte Timothy, ohne aufzublicken. »Hat Willoughby dir gesagt, daß er vielleicht umkehrt?« »Ja, das hat er«, antwortete Timothy. »Glaubst du, daß er's tun wird?« »Ich hoffe, nicht«, sagte Timothy. »Mir scheint, ein Mann, der so viel davon redet, wird es auch tun. Meinst du nicht auch?« »Möglich«, sagte Timothy. »Wie gefällt dir das?« fragte er plötzlich und drehte den Block so, daß Bobbo ihn sehen konnte. Da stand Jonah Comyns leibhaftig auf dem Papier. Schnelle sichere Bleistiftstriche zeigten den langen, knochigen Körper mit seiner massiven Brust und den Schultern, den übergroßen Händen und den dicken Fingern. Ein dichter Haarwald wucherte auf dem Kopf der gezeichneten Figur, ebenso wild und unregelmäßig 121
wie Comyns' wirkliches Haar. Da waren auch die sonderbaren Brauen und die leidenschaftlich glühenden Augen, die Nase, die ein Stück Holz spalten konnte, die dicklichen Lippen und noch etwas – Timothy hatte die ruhelose Energie des Mannes auf das Papier gebannt. Als Bobbo auf die Bleistiftskizze sah, war er sicher, der Mann würde jeden Augenblick vom Papier springen, zu den Tieren oder zum Feuer laufen, um nach dem Rechten zu sehen oder einem Sohn einen Befehl zuzurufen. Er hatte nicht gewußt, daß Bleistiftstriche auf Papier solchen Eindruck auf ihn machen konnten. Sprachlos starrte er die Zeichnung an und merkte dann, daß Timothy auf seine Reaktion wartete. »Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe«, sagte Bobbo. Einen Augenblick lang blieb es still. Timothy blickte Bobbos Gesicht scharf an, um zu prüfen, ob es aufrichtig gemeint war. Dann sagte er, so leise, daß Bobbo ihn beinahe nicht hören konnte: »Danke.« Sarah Comyns stillte ihr Baby, als der Indianer erschien. Sie kampierten am Abend des dreizehnten auf den Felsen, die Aussicht auf den Kansas gewährten, der dort fünf bis sechs Kilometer breit und dessen Flußtal dicht mit Bäumen bestanden war. Die Hügel, so grün wie Minervas Augen, stiegen aus dem Prärieland empor. Am Morgen fuhren sie weiter zu einem Mittagsrastplatz, wo der Fluß gelb schäumte. Ihre Ruhezeit schien friedlicher als sonst, die Stille des Lagers wurde durch das ständige Brausen des Flusses noch betont. Die Männer sprachen darüber, wie sie auf die andere Flußseite gelangen wollten. Timothy schlug vor, sie sollten die Räder von den Wagen abnehmen und auf den Wagen wie auf Kähnen hinüberfahren. Aber sie hatten keine Häute, die sie an die Bodenflächen nageln konnten, und Comyns befürchtete, die Wagen würden sinken, wenn sie nicht wasserdicht gemacht wurden. Hadley war der Ansicht, sie sollten ein Floß bauen. Es gab genug Holz, das man fällen konnte, und das Bauen eines Floßes war ganz ein122
fach. Die Frauen hatten das Geschirr bereits abgewaschen und eingepackt. Minerva und die Mädchen ruhten im Schatten unter den Bäumen. Im Comyns-Wagen holte Sarah munter eine Brust aus dem aufgeknöpften engen Leibchen, machte den Mund des Babys wieder mit der feuchten Brustwarze vertraut, nahm die Brust dann in die hohle Hand, knetete sie und schloß die Augen, als das Kleine zu saugen begann. Als sie ihre Augen langsam wieder aufschlug, starrte sie der Indianer von der Hinterseite des Wagens an. Er war mindestens einsachtzig groß, sein Gesicht war oval, mit vorstehenden Backenknochen, seine Augen hatten fast die gleiche Farbe wie seine Haut und sein langes schwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Er sagte etwas zu ihr, Sarah wußte nicht, was, und sie kümmerte sich auch nicht darum. Sie riß ihre Brust aus dem Mund des Babys und begann zu schreien. Der Indianer drehte sich um und lief von dem Wagen fort. Er kam keine drei Meter weit in Richtung Wald, da riß ihn Comyns mit den Füßen zu Boden; in Comyns Hand lag eine Pistole, die er sofort auf den Kopf des Indianers richtete. In diesem Augenblick kam Timothy um die Ecke des Wagens gelaufen. »Nicht schießen!« schrie er und umklammerte mit beiden Händen die Faust des Tischlers. »Laß los!« schrie Comyns. »Ich schieß den Bastard tot!« Im Wageninneren begann das Baby zu weinen. Der Indianer stammelte jetzt ungestüm, als die Pistole sich immer drohender seinem Kopf näherte. Timothy bemühte sich verzweifelt, die Worte zu verstehen, die durch das Weinen des Babys und Comyns' Gebrüll übertönt wurden. Der Witwer Willoughby kam mit hängenden Hosenträgern, einem Gewehr in der Hand und mit bleichem Gesicht zu dem Wagen gerannt. Der jüngste Comyns-Junge lief herbei und begann vor Angst herumzutanzen. »Laß ihn los!« schrie Timothy. »Er will uns über den Fluß bringen!« Aus dem Wageninneren sagte Sarah: »Er hat mich nackt gesehen.« 123
Der Indianer war ein Delaware. Er kam als Sprecher für seinen Stamm, suchte jemand, mit dem er verhandeln konnte, und hatte in den ersten besten Wagen geblickt, da fand er sich einer verrückt gewordenen Weißen gegenüber. Nun, da sich alle beruhigt hatten, erklärte er, daß sein Stamm zusammen mit seinen Shawneefreunden ein Floß gebaut habe, das kräftig genug war, um die Gesellschaft über den Fluß zu bringen, und zwar für einen Preis, den der weiße Mann sicher für angemessen halten werde. All das sagte er in Algonkin, einer Sprache, die Timothy nur unvollständig verstand. Er nahm an, der Delaware heiße ›Grausamer Sturm‹, es konnte aber auch ›Furchtbarer Sturm‹ oder gar ›Furcht vor Stürmen‹ bedeuten; der Indianer sprach ziemlich schnell, ohne im geringsten auf Timothy Rücksicht zu nehmen, der in einer Sprache zu verhandeln versuchte, die nicht die seine war. ›Grausamer Sturm‹ verlangte je eine Gallonenkanne – 3,78 Liter – Whiskey für jeden Wagen, den sein Stamm über den Fluß brachte. Außerdem wollte er vier Eier für jeden und drei Fäßchen Mehl. Und ein Dutzend Schmuckstücke, die er selbst aus dem Schmuck auswählen wollte, den die Frauen besaßen, sowie dreizehn Meter blauen Wolltweed. Sie feilschten fast eine Stunde lang. Nach dieser Zeit hatte ›Grausamer Sturm‹ seinen Gesamtpreis auf eine Gallonenkanne Whiskey, ein halbes Dutzend Eier, zwei Fäßchen Mehl, zwei Baumwollmützen, die er bei den Frauen im Lager gesehen hatte, und sechs Speckseiten statt des Schmucks und der dreizehn Meter Tweed reduziert. Timothy sagte, sie würden den Indianern alles geben, außer dem Whiskey und dem Fleisch. »Dann will ich Süßwerk haben«, sagte ›Grausamer Sturm‹. »Was für Süßwerk?« fragte Timothy. »Eingemachtes.« »Wieviel?« »Drei Töpfe Früchte.« »Unsinn.« 124
»Das ist mein Preis«, sagte ›Grausamer Sturm‹ und erhob sich zum Gehen. »Zwei Töpfe, und wir sind uns einig.« »Der Fluß hat Hochwasser; wir werden es schwer haben, gegen ihn anzukämpfen. Drei Töpfe.« »Und wenn wir im Fluß Tiere oder Hab und Gut verlieren?« fragte Timothy. »Dann braucht ihr nichts zu bezahlen. Ihr habt die Überfahrt gemacht, ohne daß es euch einen Cent kostet.« ›Grausamer Sturm‹ grinste plötzlich. Seine Zähne waren dunkler gefleckt als seine Haut, einige fehlten, die übrigen waren verwachsen. Doch sein Lächeln war so ansteckend fröhlich, daß alle Männer rundum es erwiderten. »Und wenn einer von euch ertrinken sollte, bezahlen wir euch den abgemachten Preis.« Timothy lachte. Die anderen, die nicht wußten, was er gesagt hatte, lachten auch. Der Handel war damit abgeschlossen. Die Indianer hatten ihren Anlegeplatz an einer Krümmung flußabwärts gebaut, wo eine mit Felsen bedeckte Bucht aus Schlick und grobem Sand einen kleinen Naturhafen bildete. Ihr Fahrzeug war ein etwa viereinhalb Meter breites und neun Meter langes Floß. Es lag jetzt an der Anlegestelle, das Vorderende war an jeder Ecke an dem Behelfsdock festgebunden, sein Heck – wenn man überhaupt ein Ende vom anderen unterscheiden konnte – wurde in der unruhigen Strömung hin und her gerissen und tauchte auf und nieder. Das Floß sah schwach und primitiv aus, seine Laschungen waren abgenutzt, seine Stämme ungleich lang, durch Zusammenstöße mit Felsen im Fluß und schwimmende Baumstämme arg mitgenommen und entrindet. In der Nähe des Anlegeplatzes war ein Weißer über eine kleine Grube gebeugt und schlug aus seinem Feuerstein Funken in einen Haufen Zunder. Er war braungebrannt und grauhaarig, die Gelenke an seinen Fingern übergroß, die Handgelenke knochig; er schien 125
ganz aus Sehnen zu bestehen. Eine Frau, vermutlich sein Weib, kam vom Fluß herauf, sie trug Fleisch, von dem Wasser tropfte. Sie war ebenso groß, so mager und braungebrannt wie er. Ihr geblümtes Kleid und die Sonnenmütze waren ausgebleicht, fast weiß, und einer ihrer Schuhe war an der kleinen Zehe durchgescheuert. In geringer Entfernung stand ein gedeckter Wagen auf einem grasbewachsenen, flachen Stückchen Land. Daneben grasten zwei Ochsen mit gefesselten Vorderbeinen. Zwei Knaben mit blassen, abgezehrten Gesichtern lugten durch die Öffnung des Daches. Die Frau tat das Fleisch in die Bratpfanne. Ihr Mann sagte ihr, sie solle aus dem Wagen etwas getrockneten Büffelmist bringen; sie ging hin und kam gleich darauf mit einer Handvoll getrocknetem Mist zurück. Hadley wußte, daß es diesseits von Kansas so wenig wie sonst in der Nähe auf der anderen Seite Büffel gab. Woher also kam der Büffelmist? »Guten Morgen, Sir«, sagte er. »Guten Tag, Sir«, sagte der Mann, blickte einen Augenblick auf Hadley und ging dann wieder hin zum Feuer. »Hadley Chisholm«, sagte Hadley. »Ralph Hutchinson.« Die Frau stellte er nicht vor. Sie wartete darauf, daß der Zunder Feuer fing. Als es so weit war, ließ sie den Büffelmist darauf fallen und fachte ihn mit ihrer Mütze zu Glut an. »Darf ich fragen, Sir«, sagte Hadley, »wohin Sie reisen?« »Ostwärts, nach Council Bluffs«, sagte Hutchinson. Hadley sah aus dem Augenwinkel, daß Jonah Comyns von der Anlegestelle am Fluß herüberkam, wo er sich das Floß angesehen hatte. »Und Sie reisen allein?« fragte er. »Nur ich und meine Frau«, sagte Hutchinson. »Wir haben einen Zug mit elf Wagen verlassen, der nach Oregon ging.« Nun war Comyns bei dem Feuer angelangt. Er nickte Hutchinson einen kurzen Gruß zu. Hutchinson erwiderte diesen Gruß. »Wie weit sind sie voraus?« fragte Hadley. »Wir haben sie vor einer Woche verlassen.« »Gab es einen Grund?« 126
»Die Kinder sind erkrankt«, sagte Hutchinson. »Woran?« fragte Comyns sofort. »Zuerst dachten wir, es sei Cholera, wie die Epidemie im Jahr '32.« »Was war es denn?« »Weiß nicht«, sagte Hutchinson und schüttelte den Kopf. »Nehme an, Lagerfieber. Mehr als ein Dutzend von unserer Gruppe erkrankten daran.« Comyns Blick war besorgt; er sah hinüber, wo Sarah mit Bonnie Sue plauderte und das Baby in den Armen hielt. Hadley gefiel das nicht, was hier vorging. Er wußte, daß der Witwer aus Pennsylvanien allen, die ihm zuhören wollten, predigte, sie sollten umkehren. Da war nun ein Mann, der von Fieber auf dem vor ihnen liegenden Weg erzählte, und Comyns nahm das alles für bare Münze. Willoughby kam ans Feuer, stand dort wie ein Gespenst, groß und traurig, und sperrte die Ohren auf wie eine Fledermaus. »Gibt es auf dem weiteren Weg Wild?« fragte Comyns. »Jede Menge Wild«, sagte Hutchinson. »Hungern braucht man nicht auf der Prärie, es sei denn, man ist faul. Das hier ist Büffelfleisch. Die Frau war eben unten am Fluß, um die Maden rauszuschneiden und es zu spülen.« »Und gibt es auf dem Weg Indianer?« fragte Willoughby. »Ja«, sagte Hutchinson, »das ist es, dort draußen: Indianerterritorium.« Er brachte die Pfanne zum Feuer und stellte sie auf die Steinblöcke, die Grube und Feuer umgaben. Sofort begann das Fleisch zu brutzeln. Es hatte einen anderen Duft als alles, was Hadley bisher gerochen hatte. Er hatte vor kaum anderthalb Stunden gefrühstückt, doch der Duft des bratenden Fleisches brachte seinen Magen zum Knurren. »Aber einen Indianer kann man mit einer Kugel erschießen«, sagte Hutchinson. »Ich kenne keine Methode, ein Ding umzubringen, das man nicht sehen kann und das bei meinen Söhnen ein rasendes Fieber hervorruft. Vor Krankheit habe ich Angst«, sagte er einfach. »Ich auch«, sagte Comyns. 127
»Wie ist der Weg nach Council Bluffs? Hat es geregnet, ist er aufgeweicht?« »Wir kommen aus Independence«, sagte Comyns. »Dort hat es Montagnacht geregnet, doch seither schien die Sonne.« »Ah, dann ist es gut«, sagte Hutchinson. »Ich kann es nicht riskieren«, sagte Comyns plötzlich. »Tut mir leid, Chisholm, ich kann es nicht riskieren. Ich trau mich über den Fluß, ich schieße wilde Indianer, aber ich kann nicht riskieren, daß mein Kind ein Fieber bekommt, durch das es zugrunde gehen kann. Tut mir leid«, sagte er und schüttelte den Kopf; dann wandte er sich wieder an Hutchinson. »Wenn Sie für den Rückweg Begleitung haben wollen«, sagte er. »Ich und meine Familie können sie Ihnen bieten.« »Dann sind Sie willkommen«, sagte Hutchinson. Hadley wartete. »Ich komme mit Ihnen«, sagte Willoughby und nickte. Bobbo sah, wie Wagen und Floß vom Anlegeplatz wirbelnd davontrieben. Er war überzeugt, daß all ihr Besitz zurück nach Westport befördert werden würde, wo der Fluß mitten im Land in den Missouri mündete. Die Indianer, in Lendenschurz und Mokassins, riefen einander Anweisungen in der Sprache zu, die beide Stämme sprachen, und stakten das Floß über den Fluß, als wäre es ein Pony, das jeder von ihnen schon einzeln geritten hatte. Als sie zum rechten Ufer zurückkamen, um die Menschen und Tiere zu holen, hatte Bobbo allmählich mehr Vertrauen zu ihrer Geschicklichkeit. Dieses Vertrauen schwand allerdings, als das Floß von der Anlegestelle davonschwankte, von der Strömung erfaßt und mit dem Vorderende für dreißig beängstigende Sekunden unter die Wasserfläche getaucht wurde. Es war schlimmer als die Wasserfälle von Ohio. Die Maultiere begannen sofort auszuschlagen, sie zerrten an den in die Balken eingeschlagenen Pflöcken und schrien, wie auf der Tal128
fahrt durch den Wasserfall in Kentucky. Das Floß tauchte wieder ein, Wasser spülte über das Vorderende, es drohte zu versinken, die Fluten klatschten schmerzend gegen Bobbos Gesicht. Er schloß die Augen, dann öffnete er sie gleich wieder, aus Furcht zu ertrinken, ohne die Ursache zu wissen. Auf den braunen Rücken der Indianer traten die Muskeln wie Weißleder hervor. Ihr Bizeps schwoll an, ihr Lendenschurz klatschte um die Beine. Sie traten ununterbrochen von einem Fuß auf den anderen, um das Gleichgewicht zu halten, so als tanzten sie eine Gigue auf der Fahrt über den Fluß. Als das Floß endlich das andere Ufer erreichte, wandte Bobbo sich um, verwundert, daß er noch lebte. Timothy begann wieder mit ›Grausamer Sturm‹ zu feilschen, der auf Bezahlung des vereinbarten Preises bestand, obgleich die Indianer statt vier Wagen nur zwei über den Fluß geschafft hatten. Timothy hielt unerschütterlich daran fest, daß der Preis halbiert werden müsse. Sie einigten sich auf einen Kompromiß, der ›Grausamer Sturm‹ anscheinend keine Freude machte. Er murmelte etwas in seiner Muttersprache, dann trug er die durch das Geschäft erworbenen Waren auf das Floß, band sie dort fest und fuhr mit seinen Begleitern wieder über den Fluß, ohne ein einziges Mal zu den Weißen zurückzublicken, die durchnäßt und schmutzig am Ufer standen. Sie kampierten für die Nacht an einer Flußkrümmung, achtzehn oder zwanzig Kilometer weiter stromaufwärts. Der Sonnenuntergang war kräftiger in den Farben, als sie ihn zu Hause je gesehen hatten. Der ganze Horizont glühte in Orange und Gold, das immer dunkler rot wurde und dann scharlachrot wie eine Geranie. Dann blau. Und schwarz. Es war die schwärzeste Nacht, kein einziger Stern war zu sehen. Nun waren es nur noch zwei Wagen. Man hockte auf der Wagenbank, bis der Hintern schmerzte und wund war, die Sonne brannte auf einen nieder, die Maultiere verrichteten 129
ihre Notdurft – man konnte den verdammten Weg nach Westen finden, indem man einfach dem Mist der Tiere der vorausfahrenden Gruppe folgte. Man hatte den Mistgeruch in der Nase. Man konnte meinen, dort draußen im Freien würde der Gestank in einer Minute fortgeweht, doch man fuhr die ganze Zeit so langsam, dieses stetige Maultiertempo, daß man, wann immer eines der Tiere seine Notdurft verrichtete, die Nase von dem Geruch vollbekam, daß es einen von der Bank warf. Manchmal ging man neben dem Wagen, stieg runter von der Bank und ging zu Fuß. Man konnte ganz leicht mitkommen, so langsam fuhr der Wagen. Dann stieg man wieder auf, tauschte vielleicht mit Pa den Platz und übernahm für eine Zeitlang die Zügel, oder man kroch nach hinten ins Wageninnere und setzte sich zu Ma und den Mädchen. Und die ganze Zeit rüttelte es einem das Hirn durcheinander. Man fuhr dahin. Durch ein Tal, dicht mit Gras bewachsen, das einem bis zur Taille ging. Von dem Fluß gingen Gewässer aus wie die Adern auf dem Handrücken, über die waldbedeckten Hügel hinten zogen Wolken herauf. Wenn man die Maultiere lenkte, schrie man »Ha-ya!« Ein Riesenspaß, diese Fahrt nach Westen. »Ich habe Angst hier«, sagte Annabel. »Es gibt nichts, wovor man Angst haben sollte.« »Doch, Indianer«, sagte sie. Am Morgen des Siebzehnten kamen sie zu Besuch. Im ganzen waren es sechs – vier Kansas-Vollblutkrieger, eine Frau – die Squaw eines von ihnen – und ein Halbblut, das eine Kuh führte. Timothy versteckte seine Frau in dem gedeckten Chisholm-Wagen und ging hinaus, um sie zu begrüßen. Ihre Sprache war Sioux, das Timothy nur singen konnte. Aber das Halbblut konnte ein wenig Englisch, und sie konnten sich unterhalten. Er wollte die Kuh gegen ein Pferd eintauschen. Er sah sich dauernd nach der Stelle um, wo sie ihre Pferde angepflockt hatten. 130
»Für Kuh, Pferd«, sagte er. »Wir haben keine Pferde«, sagte Timothy. Das Halbblut sah sich um. »Kein Pferd«, sagte der Mann. »Stimmt. Kein Pferd.« »Dann Maultier. Zwei Maultiere. Für Kuh.« Er hielt zwei Finger empor. »Zwei.« »Wir brauchen die Maultiere«, sagte Timothy. »Dann was?« fragte das Halbblut. Die Squaw fragte auf französisch, ob es denn kein Pferd gebe. Das Halbblut zwinkerte. »Keine Pferde«, sagte Timothy. »Also dann«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge. Sie hatten frisches Gemüse, Butter und Milch einzutauschen. Sie zeigten die Produkte – Zwiebeln, Salat, Kürbis, Mais – und ließen Milch und Butter kosten, um zu beweisen, daß die Milch nicht sauer und die Butter kremig glatt war. Als sie das Lager verließen, trugen sie eine Glasperlenkette mit, die Annabel gehört hatte, und eine Taschenuhr, von der Timothy sagte, er werde sie nicht mehr brauchen, sobald sie einmal den Platte erreicht hätten. Minerva war auch bereit gewesen, die Hälfte ihrer Kaffeedose für die gute frische Milch und die gute Butter herzugeben. Die Squaw rief »Auf Wiedersehn«, und die Gruppe ritt durch die Bäume davon. Dann erklärte Timothy, warum er seine Frau versteckt hatte. »Seit dem vorigen Frühjahr sind zwei Stämme mit den Pawnees im Krieg«, sagte er. »Die einen sind die Dakotas, drüben und im Norden. Die anderen sind die Kansas, die hier leben.« »Glaubst du, daß sie sie gesehen haben?« fragte Bobbo. »Ich weiß nicht«, sagte Hadley. »Denn, Pa, wenn sie sie gesehen haben…« »Ich weiß, was du denkst.«
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Die Wagen wurden zu beiden Seiten an das Feuer herangeschoben, mit neun Meter Entfernung dazwischen. Ein Ende des Lagers grenzte an den Fluß, das Geräusch von plätscherndem Wasser sollte als Warnung dienen, falls jemand sich von dieser Seite näherte. In dem offenen Ende des ›U‹, das die Wagen und der Fluß bildeten, standen Bobbo und Hadley Wache. »Sie werden kommen, Pa, um sie zu holen. Das sind Feinde.« »Genau wie wir und die Cassadas.« »Schlimmer, Pa.« »Mir fiel der auf, der ein wenig Englisch sprach«, sagte Hadley. »Er schien die Maultiere unbedingt haben zu wollen. Er starrte sie die ganze Zeit an, während wir den Tauschhandel für Butter und Milch besprachen.« »Ich habe ihn gesehen«, sagte Bobbo. »Er muß gesehen haben, wie klein unsere Gruppe ist.« »Das hätte ein Blinder gesehen«, sagte Bobbo. »Pa, vielleicht kommt er heute nacht mit seinem ganzen verdammten Stamm.« Hadley antwortete nicht. »Pa?« »Ja, das wäre möglich«, sagte Hadley. Am Feuer las Timothy den Frauen vor. Er flüsterte mit absichtlich heiserer Stimme: »An einem langweiligen, düsteren und regungslosen Tag im Herbst des Jahres, als die Wolken bedrückend tief hingen…« Am Morgen des Neunzehnten verließen sie das Flußbett und folgten dem Weg in höher gelegenes Gebiet. In der Ferne, fünfzehn oder mehr Kilometer weit, konnten sie noch den Kansas sehen, der, blau gegen das üppige ihn umgebende Grün, ostwärts zum Missouri floß. Die Hügel, durch die sie nun fuhren, waren durchwegs grün. Aus der Vegetation ragten rote Sandsteinblöcke wie riesige Blasen empor. Die Schluchten waren voll von Weidendickicht. Sogar in aus-
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getrockneten Wasserläufen gab es natürliche Quellen. In den Wäldern lebten Antilopen. Jedesmal wenn eine über den Weg kreuzte, dachte Bobbo, es seien Indianer. Zufällig kamen sie zu einem Dorf. Es war niedergebrannt worden. Die Wildnis nahm alles in Besitz, was durch das Feuer vernichtet worden war. Unkraut und Gras griffen auf die Schwellen der brandgeschwärzten Hütten über. »Ein Kansasdorf?«, sagte Timothy. Auf dem Boden lagen Schilde mit den Pawneezeichen, Pawneespeere. Überall verstreut lagen Skelette von Kansasfrauen und -kindern in versengten Kleidern. Der Himmel war grau. Es gab Geister an diesem Ort. Sie fuhren schnell durch das Dorf und weiter. Die Straße nach Nordwesten zum Platte führte sie durch schattige Wälder mit glänzenden, seichten Teichen, und sie überquerten Wasserläufe, die so schnell strömten wie Flüsse oder rieselnd versickerten. Überall auf den sonnenbeschienenen Hügelhängen stand der Bastardindigo in Blüte, purpurrote Haufen hoben sich scharf von der fast schwarzen Erde ab … und nun gab es Rosen! Rosen blühten auf der Prärie in kleinen Gruppen, wie unerwartete Willkommrufe. Rosen – dichter jedoch – wucherten auf den Wiesen und schickten ihren intensiven süßen Duft mit dem Südwind. Hadley pflückte einen Strauß für Minerva, und ihre Wangen färbten sich wie die Blüten, die sie in ihren zitternden Händen hielt – Rosen. Nirgends jedoch eine Spur von einem Indianer. Timothy sagte, die Indianer hätten ihre eigenen Sorgen, aber Bobbo fürchtete noch immer, daß die Rothäute, die zum Tauschhandel gekommen waren, Timothys Frau im Wagen gesehen hätten und schließlich kommen würden, um sie zu holen. Vielleicht auch glaub133
ten ihre verdammten Stammesgenossen, daß man sie gefangenhalte, und machten einen Überfall, um sie zu befreien. Das sei Pawneeland, sagte Timothy, als ob sie das vor einem Überfall schützen würde. Das Landschaftsbild änderte sich ständig. Der Boden wurde gröber, rote Felsblöcke mischten sich mit solchen von trübem Gelb und anderen, von tödlichem Grau. Aus den Bächen ragten große schwarze Felsen. Bobbo sorgte sich ständig wegen der Indianer, aber er fragte sich auch, wann sie endlich den Wagenzug nach Oregon einholen würden. Wenn sie ihn bloß einholen konnten, hätte er sich gar keine Sorgen mehr wegen der Indianer gemacht. Aber der Zug war immer knapp vor ihnen. »Sie sind knapp vor uns«, sagte sein Vater immer wieder. Knapp vor ihnen. Sie fanden Spuren der Feuer. Eine Brille in einem eingetrockneten Bach. Aber niemals sie. Wie wenn man einem Traum nachjagt, dachte Bobbo. Man streckt die Hand nach ihm aus, aber es geschieht sonst nichts, als daß man darüber aufwacht. Am Fünfundzwanzigsten schlugen sie das Lager unweit einer Stelle auf, wo eine Abteilung Pawnees vor einiger Zeit gejagt hatte. Es lagen noch Büffelknochen auf dem Boden, und der Geruch von etwas Süßlichem erfüllte den Wald. »Pa«, sagte Bobbo, »ich muß dir sagen, was mir Sorgen macht.« »Ich mach mir die gleichen Sorgen«, sagte Hadley. »Irgendwann morgen kommen wir an den Platte«, sagte Bobbo. »In Ordnung.« »Timothy wird uns verlassen.« »Das weiß ich.« »Wir werden allein bleiben, Pa.« »Wir sind auch jetzt fast allein«, sagte Hadley. »Pa, wie sollen wir zwei allein die endlose Nacht hindurch Wache stehen?«
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»Mein Sohn«, sagte Hadley, »was soll ich dir sagen? Glaubst du, ich weiß nicht, daß wir hier draußen mitten im gottverdammten Nirgends sind? Glaubst du, ich weiß das nicht?« »Es ist… Pa, ich habe Angst.« Hadley legte ihm den Arm um die Schultern. »Bobbo«, sagte er, »vielleicht hat Timothy recht – vielleicht haben sie zuviel damit zu tun, einander zu bekämpfen, um auf uns zu achten. Wir werden eben jeden Tag etwas Tempo zulegen, was meinst du? Werden jeden Tag versuchen, ein paar Kilometer zu gewinnen, um die Entfernung zwischen uns und dem Zug vor uns zu verkürzen. Sie sind knapp vor uns, mein Sohn«, sagte er. »Wir werden sie einholen, keine Sorge.« Timothys Frau kam vom Fluß herauf. Sie sang. Es war das erste Mal, daß jemand von ihnen sie singen hörte. Die Stimme war schwach, das Pawneelied kaum melodisch. Sie hatte unten Wolfsmilch gepflückt. Nun kochte sie die Hülsen und bot sie den anderen an. Sie ging von einem zum anderen, lächelte und sagte immer wieder auf englisch: »Koste, bitte.« Ihr Gesicht strahlte. Sie war beinahe daheim. Vor ihnen lag die Nebraskaküste. »Es kommt aus dem Französischen«, sagte Timothy. »Nebraska ist der Fluß, der auch unter dem Namen Platte bekannt ist. Diese Felsen kennzeichnen das diesseitige Ufer – die Franzosen sagten ›die Hügel des Nebraska‹.« Auf den Felsen wuchs Kaktus, ein borstiges Hellgrün gegen den Königspurpur des Bastardindigos. Die Felsen waren vielleicht fünfzehn Meter hoch, das Gras darauf dicht und üppig. Ein morgendlicher Regen hatte den Himmel sauber gewaschen. Sie fuhren durch das weite, flache Tal und kamen schließlich ans Flußufer, wo sie aus den Wagen stiegen. »Also…«, sagte Timothy. 135
»Also dann«, sagte Hadley, »du hast uns hierher gebracht. Wir danken dir, Timothy.« »Ich habe etwas für euch«, sagte Timothy und ging zu seinem Wagen. Seine Frau sah zu, wie er in seinen Sachen kramte. »Ich hoffe, die gefallen euch«, sagte er. »Ich weiß, sie sind nicht viel wert.« Er hatte sie alle gezeichnet auf dem Weg hierher. Er überreichte ihnen die Zeichnungen beinahe feierlich, anscheinend verlegen, und schüttelte jedem einzelnen gleich nachher die Hand. Seine Frau folgte ihm, wobei sie ungeschickt den Brauch des weißen Mannes nachahmte und jedesmal nickte und lächelte, wenn sie jedem Familienmitglied die Hand schüttelte. Dann drängte sie Timothy, er solle schnell wieder in den Wagen steigen, denn sie war begierig, weiterzufahren. Timothy winkte von der Wagenbank. »Lebt wohl!« rief er. »Viel Glück!« »Euch auch!« rief Hadley. »Kannte nicht mal ihren Namen«, sagte Minerva fast zu sich selbst. »Hoffentlich findet sie ihre Leute«, sagte Annabel. »Sie wird sie finden«, sagte Bobbo. »Das ist Pawneeland, dort zu beiden Seiten des Flusses.« Er blickte seinen Vater an. »Vorwärts; fahren wir weiter«, sagte Hadley. Sie sahen noch einen Augenblick hinüber. Dann stieg Hadley auf die Wagenbank, Minerva saß neben ihm, Bobbo und die Mädchen waren hinten im Wagen. Minerva hatte ein Gewehr auf dem Schoß, und Bobbo hatte eines, dessen Mündung auf der hinteren Wagenklappe ruhte. Er wünschte, Gideon und Will wären dagewesen.
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Annabel
D
ie Büffel standen auf einer der Inseln mitten im Fluß. Als sie sie sah, dachte sie zuerst, es seien bloß einige Büsche, die dort auf der Insel beisammenstanden, fast zwei Meter hoch. Dann bewegte sich einer von ihnen, und sie erkannte sie nach den Zeichnungen, die sie gesehen hatte. Sie sagte zu Bonnie Sue: »Schau, dort gibt es Büffel.« Bonnie Sue blickte nur hin und sagte nichts. Annabel wußte nicht, was eigentlich mit ihr los war. Vielleicht sehnte sie sich zurück nach der Heimat, so wie alle anderen, oder vielleicht nur nach Sean Cassada, der sie immer im Maisfeld geküßt hatte, bevor es zu der Familienfehde gekommen war. Die Büffel zeigten keine Furcht. Sie standen bloß dort, es waren fünf, und kauten Gras. Sahen aus wie große, zottige Kühe, sonst nichts. Einer äugte über den Fluß, vermutlich roch er die Menschen oder hörte sie, doch dann fraß er wieder weiter. Alle fünf würdigten den Wagen keines Blickes, als er vorbeirumpelte. »Ich möcht' mir einen von denen zum Abendessen schießen«, sagte Bobbo. »Wie willst du auf die Insel hinüberkommen, ohne sie zu erschrecken«, fragte sein Vater. »Weiß ich nicht«, sagte Bobbo. »Das Wasser ist hier seicht, kaum einen Meter tief.« »Ich wette, das geringste Geräusch im Wasser würde sie in die Flucht jagen.« »Ja«, sagte Bobbo und beobachtete weiter die Büffel. Später machten sie halt, um wieder auf die Karte zu sehen. Seit sie sich von Timothy und seiner Frau getrennt hatten, betrachteten sie diese Karte wie die Bibel. Sie näherten sich South Fork, meinte Annabel, das war die Stelle, wo Vater sagte, sie müßten über den Fluß setzen. »In etwa ein oder zwei Tagen müßten wir dort sein«, sagte er, »bis dahin folgen wir weiter diesem Fluß.« Auf der Karte 137
war zu beiden Seiten des Flusses das Wort Pawnee eingezeichnet, doch Annabel hatte noch keinen einzigen von ihnen gesehen. Weiter westlich, wo sich der Fluß teilte, stand am südlichen Arm Cheyenne, am nördlichen Arapaho und am nordöstlichen Dakota. Wie immer man es betrachtete, es schien dort alle möglichen Indianer zu geben. Jedesmal wenn sie auf Büffelknochen stießen, betrachteten sie Bobbo und ihr Vater wirklich genau und versuchten, aus den Fleischresten, die die Wölfe zurückgelassen hatten, zu ergründen, vor wie langer Zeit das Wild erlegt worden war. Wo es Büffel gab, gab es Indianer, die sie jagten. Doch von den fünf auf der Insel im Fluß grasenden Tieren abgesehen, sahen sie von beiden bis zum vierten Juli weder Haut noch Haar. Am Unabhängigkeitstag waren sie alle nahezu betrunken. »Du bist zu jung für Schnaps«, sagte ihr Vater. »Sie ist jetzt eine Frau, Hadley«, sagte Minerva. »Gib dem Kind einen Schluck.« »Frau oder Kind, was also ist sie?« fragte Hadley und reichte Annabel den Krug. Sie trank daraus und gab ihn dann Bonnie Sue weiter, die vor sich hinstarrte… Annabel wußte nicht, warum. Zornig oder so was. Minerva kicherte. »So wie wir uns mit dem Zeug da vollaufen lassen«, sagte sie, »werden die Pawnees sicher über uns herfallen. Die werden eine betrunkene Bande von Taugenichtsen vorfinden.« »Wir werden sie einladen, einen Schluck mit uns zu trinken«, sagte Hadley und zwinkerte. »In welchen Raum sollen wir sie einladen?« fragte Minerva. »Nun, in den Familienkreis«, sagte Hadley und schlug Bobbo plötzlich und so gewaltig auf den Rücken, daß er beinahe ins Feuer gestürzt wäre. »Dachte, wir machten bloß 'ne Mittagsrast«, sagte Minerva und kicherte wieder. »Statt dessen feiern wir eine Party.« »Stimmt«, sagte Hadley. »Heute ist Unabhängigkeitstag, der Geburtstag unserer großen Nation…« »Okay, Pa«, sagte Bobbo grinsend. 138
»Müßte mich schämen, mich Amerikaner zu nennen, wenn wir das nicht auf die eine oder andere Weise feierten.« »Richtig, Pa.« »Wo ist mein Gewehr?« »Wozu brauchst du ein Gewehr?« »Muß in die Luft schießen, um hier 'n bißchen Krach zu machen.« »Hadley, fang nicht an zu schießen –« »Weißt du, was ich hier draußen hasse? Es ist die ganze Zeit hier so ruhig.« »Wenn du schießt, werden Indianer angelockt«, sagte Bobbo. »Dann zum Teufel mit ihnen.« »Kein Grund zum Fluchen, Had.« »Trinken wir weiter. Zum Teufel mit ihnen.« Die Sonne war ein verschwommener Ball am Himmel, die Landschaft schien zu flimmern. Annabel blickte in die Ferne. Zuerst war nur Staub zu sehen, eine sich bewegende Staubwolke, die höher stieg, als ob die Erde selbst himmelwärts stiege. Und dann schien es, als bewegten sich die Bäume. Ihr Mund öffnete sich. Das waren Büffel dort draußen. Tausende und aber Tausende von ihnen. Sie erstreckten sich von einem Ende des Horizonts zum anderen. Während der erste Anblick der fünf bewegungslos grasenden Büffel vor kaum einer Woche irgendwie einer Zeichnung in einem Buch ähnlich gewesen war, machte sie nun diese Menge sprachlos vor Schrecken und Unglauben. Sie hatte noch nie so viele Lebewesen auf einem Platz oder unter einem Himmel gesehen, weder Menschen zusammen in einem Zirkuszelt in Bristol, noch Pferde oder Kühe auf einer Weide oder auch nur schwärmende Bienen oder wimmelnde Ameisen, wenn sie mit einem Stock in einem Ameisenhaufen bohrte, noch sonst etwas auf Gottes grüner Erde in solchen Massen wie jetzt diese Büffel auf der verdunkelten Prärie. Sie galoppierten von den Hügeln herunter und durch die Schluchten zum Fluß, ihr Gebrüll verursachte einen Lärm, der alles andere als chorähnlich klang, das Donnern ihrer Hufe war wie 139
ein Trommelschlag, der diese Disharmonie begleitete. Sie waren braun, so braun, daß es fast schon schwarz wirkte, als sie aus dem schimmernden Dunst kamen, so daß es schien, als brächte ihre Bewegung selbst den Boden zum Beben und verschiebe sie aus dem Brennpunkt. Staub und Dunst und Nebel zusammen erzeugten eine Meeresdünung von pelzig gebuckeltem Fleisch und fliegenden Hufen. Minerva riß die Augen weit auf, als sie in der Ferne das Murmeln hörte, das von einer Menschenmenge zu kommen schien, während es nur zottige Tiere waren, die bei ihrem Lauf zum Flußufer aneinanderstießen und brummten. Sogar Bonnie Sue, an die Annabel schon die Frage hatte richten wollen: »Verzeih, aber bist du tot?«, bewegte sich so, daß sie hinüberblicken konnte, wo sich das ganze Weltall in Bewegung befand. Bobbo hob sein Gewehr. Ein dünnes, scharfes Krachen. Rauch stieg aus dem Lauf, dunkler als der verhängte Himmel, und schwebte mit dem Wind davon. Ein Tier stürzte vornüber und rutschte in die lockere Erde. Bobbos jubelnder Schrei verhallte so schnell wie der sich zerstreuende Rauch. Sie kümmerten sich nicht um die Teile des Büffels, von denen Timothy gesagt hatte, daß sie von den Indianern besonders geschätzt und gewöhnlich gegessen wurden, während sie das Tier in Stücke schnitten und die Organe noch frisch waren. Timothy hatte Szenen beigewohnt, erzählte er, bei denen Krieger die Schädel geschlachteter Kühe oder Stiere einschlugen, um an das saftige Gehirn zu kommen, Bäuche aufschnitten und das Blut mit den hohlen Händen herausschöpften. Nieren, Augen, Hoden und Schnauzen, die Hufe noch ungeborener Kälber, Euter mit noch warmer Milch, Lebern, Zungen – all das waren Leckerbissen. Er sagte, er habe sich einmal einen rohen Pudding aus Leber und Hirn schmekken lassen, den ihm sein Schwiegervater in einer Schale aus den Rippen des getöteten Büffels noch rauchend angeboten hatte. Das genügte, um Annabel so weit zu bringen, daß sie sich am liebsten erbrochen hätte. Er hatte ihnen aber nie gesagt, wie sie einen Büffel 140
abhäuten sollten, so daß sie ihn nun auf die gleiche Weise zerlegten, wie sie daheim einen Hirsch zerteilt hätten. Bobbo schnitt die Hoden ab, dann durchtrennte er die Halsschlagader und ließ das Blut ausströmen. Er schnitt einen Ring rund um jedes der Hinterbeine, schlitzte dann beide Beine bis nach oben auf und zog die Haut ab. Mit den Vorderbeinen verfuhr er genauso. Hier führte er die Schnitte bis zu der massiven Brust. Er kam ins Schwitzen, obwohl er mit dem Abziehen aller vier Beine noch lange nicht fertig war, und gelangte allmählich zu der Ansicht, es müsse eine leichtere Methode geben. Er würde jemand fragen müssen, sobald sie nach Fort Laramie kämen, doch vorerst lag das tote Tier vor ihm auf dem Boden, und er mußte mit der Aufgabe fertig werden. Das zottige Tier wog mindestens siebenhundert Kilogramm, die ganze Familie mußte anfassen, um es herumzuwälzen, damit Bobbo einen Schnitt vom Bauch zur Brust ausführen konnte. Es wurde ihm klar, daß er die Haut nie in einem Stück loskriegen würde, daher wälzten sie das Tier wieder herum, und Bobbo machte einen zweiten Schnitt vom Nacken über den Höcker bis zum Schwanz. Nun lag der Bulle auf dem Bauch am Boden, seine Beine waren gespreizt und bereits enthäutet, er sah aus, als hätte jemand ihm seine schwarzen Wollstrümpfe ausgezogen, ihm aber seinen schwarzen Pelz am Leib gelassen. Bobbo vermutete nun, daß es unnötig gewesen war, ihm die Beine überhaupt abzuziehen, er hatte es aber nun schon getan, so daß es sinnlos war, sich darüber zu ärgern. Mit Hadleys Hilfe zog und schnitt und riß er beide Hälften des Fells von dem Tier, dann schlug Hadley dem Büffel mit einer Axt den Kopf knapp hinter den Ohren ab, so wie er es bei einem Hirsch getan hätte. Das war aber kein niedlicher kleiner Hirsch, den sie da zerteilten, sondern ein Biest, mit dem man ein ganzes Regiment verköstigen konnte, und sie wurden auf der Stelle überlegende Schlachter; sie hackten das Tier mit der Axt in der Mitte auseinander, teilten es dann in Viertel und suchten aus, was sie für die besten Stücke hiel141
ten. Minerva stand daneben und gab Ratschläge, sagte ihnen, sie sollten dieses oder jenes Organ aufbewahren, bis sie eigentlich alles, was die Indianer genommen hätten, mit Ausnahme der Augen und Hoden, die Bobbo zuerst abgeschnitten hatte, als Nahrung behielten. Minerva war sogar dafür, die Knochen der Beine wegen des Marks zu behalten – Bobbo hatte sie sorgfältig abgeschabt, als er noch dachte, er müsse so verfahren wie bei einem Reh oder Hirsch. Sie bat ihn auch, er solle zusehen, daß kein Blut mehr in die Erde versickere, denn das würde später einen guten, nahrhaften Fleischsaft ergeben. Nun lagen überall zwischen den hellgelben Sonnenblumen Büffelstücke umher. Sie machten Feuer, das sie mit dem getrockneten und verwitterten Büffelmist unterhielten, und bereiteten Steaks, acht Zentimeter dick, zum Braten vor. Hadley hob seinen Becher und sagte: »Gott segne dieses unser Land, Gott segne es.« Auf einem Hügel, ungefähr hundert Meter über der Stelle, wo sie um das Feuer saßen, ihre Becher hoben und Hadleys Trinkspruch wiederholten, beobachtete sie, teilweise verborgen durch einen von Wind und Regen geformten Erdkegel, ein Indianer. Der Späher hieß Otaktay. Er war einer von vier Dakotas auf dem Kriegspfad. Der Anführer und Organisator der Gruppe war ein Achtzehnjähriger namens Teetonkah. Er war der älteste der vier, der jüngste war erst sechzehn. Teetonkah war noch ein kleiner Junge gewesen, als vor vielen Jahren, im Mond der Enteneier, eine Abteilung Pawnees auf dem Kriegspfad sein Dorf angegriffen und ein halbes Dutzend Dakotafrauen gefangengenommen hatte, die angeblich später die Pockenepidemie beim Stamm der Pawnees verursachten, bei der zahllose Kinder umkamen. Teetonkah hatte seither an vielen Kriegszügen teilgenommen, es gab ständig Überfälle, der Krieg zwischen den Stämmen nahm kein Ende.
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Als er beschloß, diesen Kriegszug zu organisieren, tat er es, weil er für sich mehr Ehre erringen wollte, indem er Pferde von den Pawnees erbeutete. Und Pawneefrauen. Ihm gefielen Pawneefrauen. Seine ersten Erfahrungen hatte er bei einer von seinem Onkel erbeuteten Pawneefrau gesammelt. Teetonkah hatte sie stürmisch und stolz genommen. Sie hatte bei seinem Angriff gewimmert. Es gab nur vier Pawneefrauen im Dorf, und er fand sie alle hübscher als irgendeine der Frauen seines Stammes. Er wünschte sich, eine Pawneefrau zu besitzen. Vielleicht zwei. Und auch Pferde. Vielleicht ein Dutzend Pferde und drei oder vier Pawneefrauen. Nun saß er am Feuer und lauschte überrascht Otaktays Bericht. Otaktay hatte die weiße Späherkleidung von seinem Kopf und den Schultern genommen und saß rechts von Teetonkah, der sein Vetter war. Im ersten Viertel des Mondes der Federmauser hatte Teetonkah ihn und die zwei anderen in seinen Wigwam eingeladen. Zuerst erzählte er ihnen, daß er sie alle als mutig und verwegen kannte und daß er jedem von ihnen vollauf vertraute. Dann erklärte er ihnen, daß eine Bande von Pawnees auf dem Kriegspfad im vorigen Jahr im Holzspaltmonat seiner älteren Schwester Talutah ein Pony gestohlen hatte, das sie innig liebte. Sie habe den ganzen vergangenen Winter über den Diebstahl geweint, und das habe Teetonkahs Herz sehr traurig gemacht. Nun wünsche er, gegen die Pawnees zu reiten, ihre Pferde zu finden und sie ihnen wegzunehmen, wie sie Talutahs Pony genommen hatten. Er sagte, es sei eine günstige Zeit für einen solchen Überfall, denn genau in diesem Mond im Vorjahr hätte der Stamm die Pawnees in großer Zahl angegriffen und viele Skalps und viele Pferde erbeutet. Teetonkah forderte seinen Vetter und seine Freunde auf, sich ihm bei diesem Auszug anzuschließen, der das gebrochene Herz seiner Schwester heilen würde. Er wolle auch einige Pawneefrauen erbeuten, deren Geschicklichkeit beim Pflanzen von Samen vergeudet wurde, während es starke Dakotakrieger gab, die begierig waren, ihnen Samen von ganz anderer Art einzupflanzen. Alle jungen Männer 143
lachten. Sie alle hatten die Schätze der von Teetonkahs Onkel erbeuteten Pawneefrau erprobt. Die jungen Männer sprachen bis tief in die Nacht über die Route, die sie zu dem Pawneedorf einschlagen würden, obwohl sie ihnen allen vertraut war. Teetonkah, als Organisator und Anführer, kratzte eine Landkarte in den Erdfußboden und versprach, seinem Onkel eine Zeichnung ihres genauen Weges auf Büffelhaut zurückzulassen, auf der Flüsse und Hügel eingezeichnet wären, die sie überqueren oder ersteigen würden, damit sie jederzeit von anderen Mitgliedern des Stammes gefunden werden konnten. Als Zeichen des Einverständnisses rauchten sie die von Teetonkah angebotene Pfeife und verließen früh am nächsten Morgen zu Pferd das Dorf. Es gab keinen großen Abschied, als sie nach Süden davonritten. Es würde Zeit genug zum Feiern geben, wenn sie siegreich zurückkehrten. Mit Pferden. Mit Frauen. Teetonkah hatte mehrere Paare Mokassins dabei und eine mit einem Lederriemen an seinem Gürtel befestigte Holzschüssel; auf dem Kriegspfad aß und trank jeder Mann aus seiner eigenen Schale. Er führte auch einen Lederbeutel mit zinnoberroter Farbe und Schmierfett mit, um sich und sein Pferd zu schmücken, bevor er in den Kampf ritt. Über seiner linken Schulter hing ein Wolfsfell, die Nüstern des Tieres waren mit dem Lederriemen am Ende von Teetonkahs Kriegspfeife genäht. Am Zügel seines Pferdes war ein Medizinbeutel befestigt. In diesem Lederbeutel waren Kräuter, die vom Pferd ebenso wie vom Mann geschluckt werden konnten, um Zahnschmerzen oder Lahmheit, einen verdorbenen Magen oder Herzschmerzen zu kurieren. Keiner der vier, die an diesem Morgen ausritten, hatte die Absicht, mit dem weißen Mann zusammenzutreffen oder mit ihm zu kämpfen. Sie waren darauf aus, Pawneepferde und Pawneefrauen zu stehlen; das war der einzige Krieg, den sie zu führen erwarteten. »Ein Wagen allein«, sagte Otaktay. Die anderen blickten ihn an. »Allein«, wiederholte er. 144
»Das ist eine List«, sagte Teetonkah. »Ich sah sonst nichts, wohin ich auch blickte. Wenn es andere gibt, sind sie so gut versteckt, daß ich sie nicht finden kann.« »Ja, aber es ist doch eine List«, sagte Teetonkah, dann fragte er sofort: »Aus wieviel Personen besteht die Gruppe?« »Fünf, die ich sehen konnte.« »Und wie setzt sie sich zusammen?« »Zwei Männer und drei Frauen.« »Pferde?« »Keine. Aber zwei Maultiere ziehen den Wagen.« »Wir sind weit weg von daheim«, sagte einer der anderen. Er hieß Enapay und hatte den Namen wegen seines Mutes erhalten. »Wenn wir den weißen Mann angreifen sollten, müßten wir unseren Plan mit den Pawnees fallenlassen.« »Warum sagst du das?« »Wir würden Gefangene haben«, sagte Enapay. »Die Frauen würden wir doch gefangennehmen, oder?« »Ja«, sagte Teetonkah. »Dann würden wir sie bei uns haben, wenn wir gegen die Pawnees reiten.« »Nein«, sagte Teetonkah. »Wir würden zuerst mit ihnen nach Hause reiten. Dann später…« »Während andere im Dorf…« »…würden wir gegen die Pawnees reiten.« »Während andere im Dorf sich an dem erfreuen, wofür wir unser Leben gewagt haben«, sagte Enapay. »Es gibt die, denen wir vertrauen.« »Ich vertraue keinem, wo es um den Unterleib einer Frau geht«, sagte Enapay. »Weiße Frauen scheiden einen Geruch aus, den sogar Pferde riechen können. Ich habe Pferde gesehen, die bei Hütten ausschlugen, in denen weiße Frauen gefangengehalten wurden.« Teetonkah lachte. »Es ist wahr«, sagte Enapay. 145
»Es wird nicht gefährlich sein, sie ins Dorf mitzunehmen. Mein Onkel wird sie bewachen.« »So wie er seine Pawneefrau bewachte«, sagte Enapay ärgerlich. »Wenn es einen im Dorf gibt, der sie nicht gehabt hat, will ich ihm alle Pferde schenken, die ich bei den Pawnees erbeute.« Er starrte finster ins Feuer und sagte dann: »Wenn wir jemals wieder ausreiten.« »Wir werden das mit dem weißen Mann zuerst erledigen. Und wenn wir die drei Frauen nach Hause gebracht haben, reiten wir wieder aus.« »Das war nicht unser Plan«, sagte Enapay. »Ich ändere meine Pläne nicht gern.« »Aber der Wagen ist allein«, sagte Teetonkah einfach. »Es sind zwei Männer«, sagte Enapay. »Die nicht wissen, daß wir hier sind.« Darüber dachte Enapay nach. Es stimmte, daß vier Mann, die eine geringere Zahl von Männern überfielen, so viel zählten wie acht oder sogar zehn. Aber die weißen Männer hatten Gewehre, und diese Gruppe auf dem Kriegspfad besaß keine. Das erwähnte er nun. »Es gibt Gewehre«, sagte er. »Otaktay, haben sie Gewehre?« »Ja, sie haben Gewehre.« »Und wir haben keine.« »Im Lauf der heutigen Nacht werden wir Gewehre haben«, sagte Teetonkah. »Alle drei Frauen haben Haar von blonder Farbe«, sagte Otaktay. »Diese Frauen sind manchmal sehr wild«, sagte Enapay finster. »Ein Grund mehr, sie zu erbeuten«, sagte Teetonkah und grinste. Unweit des Feuers lag der Wolfspelz, den er früher auf der Schulter getragen hatte, mit dem Kopf in der Richtung, die ihr ursprüngliches Ziel gewesen war: das Pawneedorf. Nun hob er den Pelz auf und legte ihn so hin, daß die Nase dorthin deutete, wo Otaktay, wie er sagte, den einzelnen Wagen gesehen hatte. »Hat jemand von einem Wolf geträumt?« fragte er. 146
Howahkan, der bis jetzt geschwiegen hatte, sagte »ich«. Er war der jüngste unter ihnen und schien beunruhigt. Zwei seiner Brüder waren bei Zusammenstößen mit dem weißen Mann erschlagen worden. Obgleich er begierig war, ihre Ermordung zu rächen, hatte er auch Angst. Er nahm von Teetonkah die Pfeife, die dieser ihm anbot, hielt den Kopf in der linken Hand, den Stiel in der rechten und sagte mit der seltsam rauhen Stimme, nach der er seinen Namen erhalten hatte: »Wakang' tangka, sieh diese Pfeife, sieh sie an. Ich fordere dich auf, sie zu rauchen. Wir wollen Pferde. Ich bitte dich, uns zu helfen. Deshalb spreche ich zu dir mit dieser Pfeife.« Er änderte den Griff an der Pfeife, hielt nun den Kopf in der rechten und den Stiel in der linken Hand, so daß er zu seiner linken Schulter nach oben stand. »Also, Wolf«, sagte er, »sieh diese Pfeife. Rauch sie und bring uns Pferde.« »Es gibt keine Pferde«, sagte Otaktay. »Das weiß ich«, sagte Howahkan. »Dann bete nicht um Pferde, wenn wir wissen, daß es nur Maultiere gibt.« »Bete auch um Hilfe beim Erbeuten der Frauen«, sagte Teetonkah. »Mir wäre es lieber, du stopfst die Pfeife«, sagte Howahkan beleidigt und wollte Teetonkah die Pfeife zurückgeben. »Du bist es, der vom Wolf geträumt hat«, sagte Teetonkah. Howahkan nickte verdrossen, nahm die kalte Pfeife in den Mund und sagte: »Wakang' tangka, ich werde jetzt dir zu Ehren diese Pfeife rauchen. Ich bitte dich, daß keinem von uns im Kampf etwas zustoßen möge. Ich bitte dich, daß wir viele Pferde erbeuten.« »Wieder die Pferde«, sagte Otaktay. »Er weiß, daß es nur Maultiere gibt.« »Und viele Frauen«, sagte Howahkan mit einem Zustimmung heischenden Blick auf Teetonkah. Er zündete die Pfeife an, zog dann daran und faßte den Kopf mit beiden Händen. »Sieh diese Pfeife«, sagte er, »und sieh uns. Wir haben viel Blut vergossen. Wir haben Brüder und Freunde im Kampf verloren. Ich bitte dich, schütze uns 147
vor mehr Blutvergießen und schenke uns langes Leben.« Wieder zog er an der Pfeife und reichte sie dann Teetonkah. Teetonkah rauchte die Pfeife feierlich und schweigend, dann reichte er sie Otaktay, der daran zog und sie Enapay reichte, der noch immer zu zweifeln schien. Er nahm die Pfeife in Empfang, doch bevor er sie rauchte, sagte er wieder: »Ich ändere ungern Pläne. Der Plan richtete sich gegen die Pawnees.« Er nahm den Stiel zwischen die Zähne, zog an der Pfeife und stieß den Rauch aus. Es war kein Medizinmann unter ihnen, der Wasser auf das Wolfsfell gesprengt, ein Lied gesungen und zu Wakang' tangka um Regen gebetet hätte, der sie verbarg, wenn sie angriffen. Aber Howahkan hatte in der Nacht vorher von dem Kriegerwolf geträumt, und sie baten ihn nun, ein Lied um Regen zu singen. Er war kein Medizinmann; er kannte keine Gebete um Regen. Er sang ein Lied, von dem er glaubte, es passe für den Überfall, den sie ausführen würden, sobald es dunkel war. Sie umstanden ihn, als er heiser in der beginnenden Dämmerung sang; Enapay, neben ihm, ahmte den Ruf einer Eule nach. »Jemand wie der«, sang Howahkan, »wird wahrscheinlich nirgends eintreffen, sagst du. Hinter Pferden bin ich her.« Enapay langte in den Lederbeutel an seiner Taille und tauchte seine Finger in rote Farbe. Er malte eine Mondsichel auf seinen Mund, so daß er aussah wie eine grinsende rote Wunde, die sich nach oben zu seinen Backenknochen zog. Er färbte seine Hände und Füße rot. Aus einer ungegerbten Lederschachtel nahm er eine einzelne Feder und befestigte sie an seinem Hinterkopf, so daß sie aufrecht stand; denn er hatte Anspruch darauf, da er einen Feind getötet hatte, ohne selbst verletzt worden zu sein. Unterhalb dieser einzelnen senkrechten Feder befestigte er zwei andere Federn horizontal, um kundzutun, daß er am Tod zweier Feinde in derselben Schlacht beteiligt war. Die anderen steckten nun ebenfalls Federn an und legten Farbe auf. Otaktay schlüpfte in ein geschmücktes Kriegshemd. Howahkan, der erwartet hatte, sie würden am Morgen Pawnees angreifen, hatte den ganzen Tag nach Erde gesucht, die ein Maulwurf aufgeworfen hat148
te. Nun mischte er sie mit blauer Farbe und einem pulverisierten Kraut, und verrieb die Medizin auf seinem Körper und dem seines Pferdes. Er gab auch den anderen von der Medizin, die sie alle annahmen, um sich Brust und Gliedmaßen damit einzureiben; Teetonkah mischte sie mit roter Farbe, mit der er ein breites Band quer über seine Stirn und über die Brust seines Pferdes schmierte. Otaktay beklagte sich, daß sie alles verkehrt gemacht hätten und noch immer verkehrt machten – angefangen mit Howahkans Gebet um Pferde, als er die Pfeife stopfte, und eben jetzt wieder, als er ›Hinter Pferden bin ich her‹ gesungen hatte, obwohl man ihm wiederholt gesagt hatte, es gebe nur Maultiere. Und nun bemale jeder sein Pferd und sein Gesicht in verschiedenen Farben und Formen, während sie doch sicher an Kriegszügen teilgenommen hatten, bei denen ein Medizinmann die Aufsicht führte und die Pferde und Gesichter einheitlich bemalt wurden. Bei einem solchen Unternehmen hatte vor kurzem ein Mann namens Wambleeskah seinen Zauber gemacht und Otaktays Pferd und die Pferde der anderen mit Blitzen aus weißer Kreide bemalt, vom Maul über die Brust und hinunter über die Vorder- und die Hinterbeine. Dann malte er ein blaues Band quer über die Stirn eines jeden Pferdes und blaue Punkte auf ihre Flanken. Es waren sechs Krieger in der Abteilung, und er malte ihre Gesichter blau, mit weißen Linien auf den Stirnen, die auch über ihre Wangen nach unten verliefen. Otaktay bestand darauf, daß die Krieger in dieser Abteilung ihre Pferde nach ostwärts gewandt besteigen und sie dann hintereinander im Kreis gehen lassen sollten, bevor sie aufbrachen. Teetonkah sagte ihm, er sei ein altes Weib. Howahkan, dessen blaues Gesicht nach Erde und Medizin roch, lachte – aber nur, weil er nervös war. Es war jetzt kurz vor halb acht. Die Nachtluft war kühl. Der Nachmittagsdunst hatte sich vor dem Abendessen verzogen, Sterne und Mond waren herausgekommen. Gelegentlich zogen träge Wolken über den Mond und warfen bewegte Schatten auf die Erde. Das Feu149
er brannte kaum zehn Meter von der Stelle entfernt, wo der Wagen stand. Die Maultiere waren zwischen Wagen und Feuer angepflockt. Die ganze Familie war noch wach, dennoch war eine Wache aufgestellt worden – Bobbo, auf jener Seite des Wagens, die der Prärie zugewandt war. Streunende Wölfe wagten sich immer näher an das Feuer, angelockt durch den Geruch des getöteten Büffels und begierig, an das Gerippe heranzukommen. Sie heulten im Dunkel, um ihre Absicht kundzutun, und umkreisten ruhelos das Lager. Annabel glaubte nicht, daß sie sich direkt heranwagen würden, aber sicher war sie dessen nicht. »Kann ich auf sie schießen, Pa?« rief Bobbo. »Nein, laß sie in Ruhe!« rief Hadley zurück. »Die jammern derart, daß sie Tote aufwecken würden«, sagte Bobbo. Minerva stand zwischen dem Wagen und dem Feuer, bürstete ihr Haar und zählte die Striche. »Mit diesem lauten Zählen machst du einen wahnsinnig«, sagte Hadley. »Dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig…« »Du hast zuviel getrunken, Min.« »Sechsunddreißig, sei still, siebenunddreißig…« Die Wölfe heulten noch immer. »Ich möchte auf sie schießen, Pa!« rief Bobbo. »Laß sie doch, Bobbo«, sagte Hadley. Bonnie Sue war bereits unter ihre Decke gekrochen. »Hat jemand in dieser Familie die Absicht, heute noch zu schlafen?« fragte sie. Annabel kicherte. Sie hatte Leibchen und Rock ausgezogen und ging barfuß im Unterrock zu der unbeleuchteten Seite des Wagens. »Warum läßt du ihn nicht eines der Biester erschießen?« sagte sie. »Sonst heulen sie die ganze Nacht…« »Will denn niemand heute nacht schlafen?« fragte Bonnie Sue. Annabel kicherte wieder. »Siebenundvierzig, achtundvierzig, neunundvierzig«, sagte Minerva. 150
In einiger Entfernung von Feuer und Wagen, von keinem allzu weit, damit die Wölfe sie nicht anfielen, hob Annabel ihren Unterrock, zog ihre Unterhose hinunter und wollte Wasser lassen, da hörte sie etwas, das wie ein Pfiff von einer Holzpfeife klang, wie die, die von den Gebirgsleuten daheim immer geschnitzt wurden. Sie blickte ins Dunkel, konnte aber nichts sehen. Es fiel ihr ein, daß sie kurz vorher die sich bewegenden Schatten der Wölfe, sogar ihre im Dunkel schimmernden Augen gesehen hatte. Jetzt konnte sie keinen einzigen Wolf sehen und hörte sie auch nicht mehr heulen. »Bobbo?« rief sie. »Ja, Schwester?« »Hast du das eben gehört –« Jemand packte sie von hinten. Sie schrie, Urin floß an der Innenseite ihres Beines nach unten und versiegte plötzlich. Er riß sie an den Haaren auf den Boden, ihre Unterhose schlotterte um ihre Fesseln. Sie sah ihn nun verkehrt. Auf sein Gesicht war ein grinsender roter Mund gemalt, er hatte Federn im Haar. In der Hand hielt er einen Tomahawk. Sie schrie wieder und versuchte fortzukriechen, doch er nagelte sie auf dem Boden fest und setzte sich rittlings auf sie wie auf ein Pony, dann legte er den Tomahawk weg und nahm etwas aus seinem Gürtel. Sie streckte sofort die Hand nach dem Tomahawk aus. Ihre Finger schlossen sich um den lederüberzogenen Griff, und sie schwang das Ding wie eine einfache Hacke. Seine Hand kam mit einem Lederriemen aus seinem Gürtel hervor. Er ließ die Riemen fallen, um sein Gesicht mit weit gespreizten Fingern zu schützen. Die scharfe Steinschneide durchschnitt ihm zwei Finger, traf ihn genau mitten zwischen die Augenbrauen und spaltete seine Stirn. Das Blut schoß aus ihm hervor wie ein Springbrunnen. Annabel schrie und ließ das Beil fallen. Sie schrie noch immer, als sie, ihre Unterhose hochziehend, um die Deichsel gelaufen kam. Dort waren noch drei andere, einer war so rot bemalt wie der, dem sie soeben den Schädel gespalten hatte, ein anderer blau, die Farbe des dritten wirkte braun oder schwarz. 151
Ihr Vater lag auf dem Boden neben der Hinterseite des Wagens, Blut strömte aus seinem Kopf. Bonnie Sue lag auf dem Boden, genau wie sie selbst kurz vorher dort gelegen hatte, ein Indianer saß rittlings auf ihr, nur trug dieser ein mit Perlen geschmücktes Hemd. Bonnie trat und schlug auf ihn los, er aber preßte seinen Unterarm heftig gegen ihre Kehle, und sie bekam keine Luft. Annabel lief zum Feuer, riß ein brennendes Scheit heraus und lief zurück zu dem Indianer, der auf Bonnie Sue saß. Er hielt ein Messer in der Hand, er hatte das Messer aus seinem Gürtel gezogen, o Gott, er wollte sie töten! Sie stieß das brennende Scheit gegen seinen nackten Arm, wo das Hemd endete. Der Indianer schrie auf und sprang von Bonnie Sue herunter. Annabel warf das Scheit weg und lief davon. Sie hörte irgendwo draußen Pferde, gleich würden noch mehr Indianer über sie kommen. Der Mann, den sie soeben mit dem Scheit geschlagen hatte, packte ihren Arm, drehte sie herum und schlug sie mitten ins Gesicht. Sie hörte ihre Nase krachen, fiel vor Schmerz auf die Knie und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Blut strömte ihr aus der Nase. Wo war der Indianer, wo hatte er…? Sie wandte sich um und sah, wie er zu der Stelle zurücklief, wo er das Messer hatte fallenlassen. Er hob das Messer auf und kam zurück zu der Stelle, wo sie, den Unterrock über die Knie gezogen, saß. Fast ohne sie anzublicken, stieß er ihr das Messer in den Leib und zog es wieder heraus. Sie fühlte nur einen brennenden Schmerz, dann sah sie Blut, das sich auf ihrem weißen Unterrock ausbreitete, und faßte krampfhaft an die Wunde. Zwischen ihren Fingern quoll Blut hervor. Er zog ihr das Haar aus dem Gesicht zurück und setzte das Messer an ihre Stirn. Annabel dachte: Bitte nicht. Sie versuchte zu schreien, fand aber nicht die Kraft dazu und konnte ihre Hand nicht heben, um ihn aufzuhalten. Er schnitt das Fleisch quer über ihrer Stirn, knapp unter dem Haaransatz auf und begann ihr den Skalp abzuziehen, da schoß ihm Bobbo in den Rücken. Federn und Perlen explodierten zwischen seinen Schulterblättern. Er stürzte vornüber auf Annabel, 152
seine Hand ließ das Messer los, dessen Klinge noch zwischen dem Skalp, den er hochgezogen hatte, und dem Schädel darunter stekkenblieb. Die anderen zwei Indianer hielten Minerva fest, der eine mit dem Wolfsfell und der andere mit dem völlig blau bemalten Gesicht. Bobbo konnte nicht wieder laden, sie ließen ihm dazu keine Zeit. Er rannte dahin, wo seine Mutter sich gegen die beiden Indianer wehrte, und schwang den Kolben seines Gewehrs gegen den Rücken des Mannes mit dem Wolfsfell. Doch der Indianer war stark und wild und schüttelte die Schläge ab, als ob es lästige Fliegen wären. Minerva hielt sich mit einer Hand am Wagenrand fest und schlug mit der anderen, in der sie die Haarbürste hielt, auf sie los. Die Indianer redeten die ganze Zeit weiter miteinander, während sie versuchten, sie von dem Wagenrad loszureißen. Schließlich schlug sie der mit dem Wolfsfell wiederholt auf die Brust, und der mit dem blauen Gesicht ging mit einem Messer auf Bobbo los, um ihm mit der Klinge den Bauch aufzuschlitzen. Instinktiv faßte Bobbo nach der vorgehaltenen Hand des Indianers, ohne sich im Augenblick um das Messer zu kümmern, das sie hielt, und packte das Handgelenk, wie er das Wills oder Gideons beim Ringen gepackt hätte, zog den Indianer zu sich, nützte die Kraft seines eigenen Schwungs und stieß zugleich sein Knie dem Indianer in den Unterleib. Die Augen in dem bemalten Gesicht des Indianers wurden weit aufgerissen. Bobbo sah das Gesicht einen Augenblick, bevor der Mann das Messer fallenließ. Als sich Bobbo bückte, um es aufzuheben, dachte er: Er ist nicht älter als ich. Seine Hand schloß sich um den Knochengriff. Vielleicht jünger, dachte er. Der Indianer krümmte sich vor Schmerz auf dem Boden und hielt mit den Händen seine Hoden umfaßt. Bobbo stieß ihm die Messerklinge tief in die Brust. Er hob das Messer hoch und stach noch einmal zu. Und dann noch mal. Dann wandte er sich ab und erbrach in seine Hände. Hinter ihm riß der Indianer mit dem Wolfsfell Minerva von dem Wagenrad los, legte einen Arm um ihre Taille und zog sie zu der 153
Stelle, wo sie Pferde wiehern und stampfen hörte. Sie hatten ihr bei dem Kampf den Unterrock vorne aufgerissen, und ihre Brüste lagen frei. Sie war bestürzt, daß ihr Sohn sie so sehen würde. Seltsamerweise empfand sie weder Furcht noch Zorn. Sie wußte nur, daß dieser rotbemalte Indianer versuchte, sie irgendwohin zu schleppen, wohin sie nicht gehen wollte. Sie wehrte sich verbissen, sie stieß mit den Füßen, schlug mit den geballten Fäusten, wo immer sie ihn erreichen konnte, sie leistete Widerstand mit jeder Unze Kraft, die sie besaß. Sie spürte noch den Schmerz von seinem Schlag zwischen ihre Brüste, wehrte sich jedoch heftig, bis er sie wieder mitten auf den Mund schlug. Dabei spaltete er ihre Lippe, die zu bluten begann, und schlug ihr zwei Zähne aus, die sie mit Blut in ihre Hand spie. Er schlug ihr die Hand vom Mund weg, und die Zähne flogen davon. Er packte ihr Handgelenk und schleppte sie ins Dunkel hinaus. Sie konnte vier bemalte Pferde sehen. Er nahm einem von ihnen die Fesseln ab, warf Minerva über eine nach Schweiß und Pisse stinkende Decke, schwang sich dann selbst auf den Pferderücken und schnalzte mit der Zunge. Da wußte sie, wenn sie nicht sofort etwas tat, wenn sie nicht die Willenskraft aufbrachte, ihn abzuwehren, würde er sie mitnehmen, wohin er wollte. Plötzlich dachte sie an den Käpt'n Jimmy Jackson. Das Pferd setzte sich in Gang. Minerva wälzte sich herum und richtete sich auf, so daß sie wie im Damensattel saß. Der Indianer mußte glauben, sie habe die Absicht, vom Pferd zu springen, deshalb legte er sofort den linken Arm um sie und schob seine Hand in ihren zerrissenen Unterrock, seine rechte Hand hielt sie in der Nierengegend. Das Wolfsfell auf seiner Schulter stank so arg wie die Decke vorhin. Da schlug sie ihm ihre Nägel ins Gesicht und fuhr ihm in die Augen. Er schrie laut, das Pferd wechselte die Richtung, da er an den Zügeln riß. Ihre gespreizte rechte Hand fand etwas Weiches, Gallertiges, ihre Finger schlossen sich um sein rechtes Auge, sie würde ihm den Augapfel wie ein hartgekochtes Ei aus der Höhlung reißen, im nächsten Augenblick würde sie ihn blenden. 154
Er warf sie vom Pferd, schleuderte sie fort, als wäre sie ein Fluch. Er wandte sich nicht um, sondern galoppierte davon, während sie hinter ihm zitternd auf dem Boden lag und an das dachte, was sie beinahe getan hätte. Nach ihrer Rechnung waren sie noch über dreihundert Kilometer von Fort Laramie entfernt. Sie fürchteten, Annabel würde sterben, ehe sie das Fort erreichten. Sie hatten Umschläge mit Terpentinöl und Zucker gemacht, legten einen davon auf die Kopfwunde und verbanden ihn fest mit einem sauberen Baumwollunterrock, den sie zu Bandagen zerrissen hatten. Der zweite Umschlag war größer; sie legten ihn über die klaffende Wunde in ihrer Seite, aber diese hörte nicht zu bluten auf, das Blut sickerte immer wieder durch den Umschlag. Sie wechselten den Umschlag drei-, viermal in dieser Nacht, so oft das Blut wieder durchkam, und sie wußten nicht, was sie noch tun könnten, um es zu stillen. Es fehlte ihnen an jenen Mitteln, die ihnen bekannt waren: Kaminruß vermengt mit Speck und Kiefernharz. Sie konnten nichts tun, als den Umschlag wechseln, wenn er wieder von Blut durchtränkt war. Die ganze Zeit warteten sie darauf, daß die Indianer wiederkämen. Sie glaubten, der Mann, der geflohen war, der mit dem Wolfsfell, werde diesmal mit einer größeren Schar wiederkommen, schon um die Pferde zurückzuholen. Minervas Brüste zeigten böse schwarze und blaue Flecken, wo der Indianer sie geschlagen hatte, und jeder Atemzug, den sie tat, schmerzte. Hadley hatte ihr die Stummel der abgebrochenen Zähne gezogen, und sie hatte sich einen Lappen in den Mund gestopft, um das Blut zu stillen. Ihre Kinnbacken und Lippen waren jedoch geschwollen, außerdem war die Lippe von dem harten Schlag des Indianers gespalten. Sie schwor Hadley, sie hätte ihn, wäre noch ein Augenblick Zeit gewesen, geblendet wie Samson. Er sagte: »Nein, das hättest du nicht getan, Min.«
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Die Pferde waren prächtige Tiere, ein Hengst und zwei Stuten, sie sahen aus wie die Waldläuferpferde der Chickasaws, die sie daheim gekannt hatten, spanisches Blut gekreuzt mit Pferden, die die Kolonisten aus England gebracht hatten. Bobbo wollte auf einem davon vorausreiten und versuchen, den Wagenzug einzuholen. Wenn bei der Gruppe ein Arzt war… »Nein«, sagte Minerva. »Ich könnte ihn mit zurückbringen, Ma«, sagte er. »Ich hätte Angst um dein Leben«, sagte Minerva leise. Am Morgen hatte Annabels Blutung aufgehört. Sie legten einen neuen Umschlag auf die Wunde an ihrem Körper, bandagierten sie fest, und wechselten auch den Umschlag und den Verband an ihrem Kopf. Um sechs Uhr brachen sie das Lager ab und fuhren weiter in Richtung des South Fork, des südlichen Arms des Platte. Annabel hatte hohes Fieber, als sie am Morgen des Siebenten den Fluß überquerten. Das Wetter war stickig und heiß geworden, was ihr Befinden noch verschlimmerte. Sie lag auf einer Steppdecke auf dem Wagenboden, zugedeckt mit einem Leinenlaken, das zu Großmutter Chisholms Mitgift gehört hatte. In diesem Gebiet des Landes hatte es wenig geregnet, der Fluß war seicht und der Boden hart. Dafür waren sie dankbar; mit Verhältnissen wie in Kansas hätten sie nicht fertig werden können. »Haben sie mich skalpiert, Pa?« fragte Annabel. Er lächelte und tätschelte ihre Hand. »Nein, mein Liebling«, sagte er. »Du hast noch all dein schönes Haar auf dem Kopf, wo es sein soll.« »Was ist mit deinem Ohr geschehen, das ganz verbunden ist?« »Ein Indianer war der Meinung, ich würde mit nur einem Ohr besser aussehen.« Er hatte den Indianer erblickt, knapp bevor er zuschlug, sah den runden Steinkopf der Waffe in seiner Hand und wußte, es war keine Hacke. Zuerst war der Pfiff ertönt, dann kam das Geräusch hinter ihm, und als er sich umwandte, sah er den Indianer mit dem bemalten Gesicht, denselben, den Bobbo später erstach, und den 156
für seinen Hinterkopf bestimmten Schlegel. Er wandte sich ab und duckte sich, doch der Schlag traf voll sein Ohr, und das war das letzte, wovon er wußte, bis er Minervas sanfte Hände fühlte, als sie das Blut abwusch und die Wunde verband. Er hatte Kopfschmerzen wie nie zuvor im Leben. »Hat er es dir denn vom Kopf gerissen, Pa?« fragte Annabel. »Nein, Liebling, es ist noch dran«, sagte Hadley, und beide lachten. »Ist meine Nase gebrochen? Sie fühlt sich gebrochen an.« »Ja, Liebling«, sagte er. Er wußte, sie würde sterben. Einen Arzt würden sie frühestens in Fort Laramie finden, es sei denn, es war einer bei dem Wagenzug vor ihnen, der nach Oregon ging. Da aber Annabel so krank war, konnte Hadley sich nicht beeilen, er legte längere und häufigere Ruhepausen ein. Er hatte auch Angst, daß das Rütteln des Wagens ihre Wunden stärker bluten lassen würde. Sie waren wieder aufgebrochen, und Minerva befürchtete, sie würden bald zu eitern beginnen. Auf dem Hochplateau zwischen den beiden Flußarmen fanden sie einen Kiefernwald, fällten einige Bäume und bereiteten Umschläge mit Harz, die sie für den Fall bereithielten, daß die Blutung schlimmer werden sollte. Als sie aus der engen Gabelung kamen, wo sich der Fluß teilte, konnten sie beide Flußarme meilenweit sehen. Der im Süden wurde immer breiter, der andere, zu ihrer Rechten, blieb gleich. Sie hielten oft an, um die Kompressen, die sie auf Annabels glühende Stirn legten, zu befeuchten. Daheim hätten sie Schlangenwurzeltee aufgebrüht oder wilde Ingwerwurzeln oder Poleiminzeblätter gekocht, um das Fieber zu senken. Aber sie waren nicht daheim. Der Kiefernwald war der letzte richtige Forst, den sie für einige Tage zu Gesicht bekamen. Da und dort stand wie ein Gespenst ein einsamer Baum am Flußufer, aber die Prärie war zumeist baumlos. Das dichte, üppige Gras, das früher die Wiesen bedeckt hatte, war nun fast verschwunden. Die Tiere schienen den Unterschied nicht zu merken und fraßen das gelbe Gras mit großem Appetit. Für die 157
Familie war jedoch die ganze Landschaft plötzlich öde und trocken geworden. Sie hielten sie für die wahre Landschaft des Westens und waren neugierig, ob es so bleiben würde, bis sie die Rockies erreichten. Es gab bereits Felsen, die zutage traten und darauf hindeuteten, daß es in einiger Entfernung Berge geben würde. Immer öfter fanden sie Gegenstände, die von der Gruppe vor ihnen weggeworfen worden waren. Es war, als mißbillige das ausgedörrte, leere Land die Errungenschaften der Zivilisation, ließe Butterfässer und Spinnrocken überflüssig oder gar lächerlich erscheinen. Es gab keine Milch zu buttern, kein Garn zu spinnen in diesem Land aus Sandstein, Granit und Mergel. Die weggeworfenen Haushaltsgegenstände machten den Oregonzug wirklicher, beinahe greifbar. Wenn sie nur ein bißchen schneller vorwärtskämen, wenn die vor ihnen nur ein wenig länger rasteten, ja, dann konnten sie sie einholen. Und, wenn Gott wollte, gab es einen Arzt bei der Gruppe, der Annabel behandeln, ihre Schmerzen lindern und sie wieder gesund machen würde. Die zwei indianischen Stuten waren an kurzen Halftern hinten an den Wagen gebunden. Rechts vom Wagen ritt Bobbo auf dem Hengst, er hatte, als sie das letztemal zum Tränken anhielten, die Farbe von ihm abgewaschen. Es fiel ihm schwer, in dem Rahmensattel zu bleiben, und er fluchte mit dem Tier, als ob es seine Sprache verstünde. Vorn auf der Wagenbank schnalzte Hadley mit der Zunge, um die Maultiere anzutreiben, und Minerva suchte den Horizont nach Indianern ab. Auf ihrem Schoß lag ein Gewehr. Sie hörte, wie Annabel im Wageninnern wieder fragte, ob sie skalpiert worden sei, und hörte Bonnie Sues Antwort: »Nein, du hast deine Kopfhaut noch immer dort, wo sie sein soll.« Minerva wandte ihr Gesicht von Hadley ab, sonst hätte er gesehen, daß sie den Tränen nahe war. Nun lag das Tal des Nord-Platte vor ihnen.
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Es war der sechzehnte Juli, und sie hofften, am achtzehnten oder neunzehnten in Fort Laramie einzutreffen. Es spielte nun keine Rolle mehr, ob sie den für Oregon bestimmten Wagenzug einholten oder nicht. Sie hatten die Hoffnung darauf aufgegeben, so leicht wie ein Armer die Hoffnung aufgibt, einmal reich zu werden. Nun war Fort Laramie ihre Rettung; in Fort Laramie würde es einen Arzt geben, in Fort Laramie gab es auch Medizin. Das Fort bedeutete Zivilisation; sie wußten, ohne die Hilfe, die sie dort erwarteten, würde Annabel sterben. Sie wunderten sich, daß sie noch nicht tot war, und priesen Gott für seine Gnade. Ihre Haut fühlte sich glühend heiß an. Weder die klaffende Wunde in ihrer Seite noch der Schnitt, wo sie beinahe skalpiert worden wäre, hatten auch nur begonnen zu heilen, sondern waren zerfressen von Eiter. Ihre Augen waren glänzend und rund, glühend vom Fieber, das in ihr brannte. Sie sprach von Spielgefährtinnen, die keiner von ihnen kannte, und einmal schrie sie laut, daß ihre Schädeldecke fort sei, und bat Bobbo, der neben ihr saß, er möge ihren Kopf finden, der verschwunden sei, ohne ihren Bruder zu erkennen, obgleich sie ihm mit weit aufgerissenen, feuchten Augen ins Gesicht starrte. Sie fuhren interesselos an Marksteinen vorbei, die normalerweise ihre Begeisterung hervorgerufen hätten. In Ash Hollow fanden sie nach kilometerlanger schattenloser Reise den Wald mit den herrlichen Bäumen, die der Talsohle ihren Namen gegeben hatten, Unterholz mit Rosen und anderen wilden Blumen, bewässert von einer Quelle mit eiskaltem Wasser. Court House Rock, von dem behauptet wurde, er sehe tatsächlich dem Gerichtsgebäude in St. Louis ähnlich – woran sie sich keineswegs erinnern konnten, obgleich sie dort gewesen waren –, hundertdreißig Meter hoch, schichtenweise aus Kreide und vulkanischer Asche, erhob sich neben der Straße. Daneben stand auch der Felsen, den man ›Gefängnis‹ nannte und der ihnen nicht wie ein Gefängnis erschien, aber das war ihnen egal. 159
Dreiundzwanzig Kilometer weiter erhob sich der berühmte Kaminfelsen, von dem sie in Independence so viel gehört hatten. Annabel sah ihn nicht, als sie jetzt daran vorbeifuhren. Sie plapperte im Delirium von einem roten Teufel mit hellen roten Punkten, und Bonnie Sue erinnerte sich, daß die Arme des Indianers, der sie gestochen hatte, auf diese Weise bemalt gewesen waren. »Dort ist der Felsen, der aussieht wie ein Schornstein«, sagte Hadley. »Ja«, sagte Minerva und befühlte die Stirn ihrer Tochter. Annabel starb, während sie die dahinter liegende Ebene durchquerten. Hier war der Boden mit Treibholz übersät. Sie konnten Annabel nicht auf dieser holzbedeckten Ebene begraben, wo alles aus verfaulten Trümmern zu bestehen schien. Bobbo erinnerte sich, daß er in Independence gehört hatte, es habe vor Jahren dort eine Überschwemmung gegeben, und das Wasser habe Holz aus den Schwarzen Hügeln mitgeführt. Hadley sagte, das erscheine ihm plausibel. Sie standen dort, die Hände in den Taschen. Minerva schluchzte im Inneren des Wagens. Sie durchquerten die Zedernebene in Richtung des Ortes, der auf ihrer Karte als Scotts' Bluff eingezeichnet war. Unweit der Flußböschung fanden sie einen Fleck ebenes Land, der spärlich mit bräunlichem Gras bewachsen war. Es gab nicht so viel Blumen, wie sie im vorigen Monat gesehen hatten, doch Bonnie Sue fand am Fluß wilde Blumen, deren Namen sie nicht kannte, und wand sie zu einem Kranz, den sie auf Annabels Kopf legten, über den Verband, der ihre Wunde bedeckte. Es gab kein zersägtes Holz, aus dem sie einen Sarg hätten zimmern können. Sie hüllten sie in Decken, als wäre sie ein Baby in Windeln, und senkten sie dann sanft in die Erde. Hadley sprach am Grab seiner toten Tochter. Er las nicht aus der Bibel, er kannte die Worte auswendig; er hätte sie auch ohnedies
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nicht sehen können, denn seine Augen waren voller Tränen. Minerva stand neben ihm und klammerte sich fest an seine Hand. »Die Ernte ist vorbei«, sagte er, »der Sommer ist zu Ende, und wir sind nicht gerettet. Verletzt bin ich über die Verletzung der Tochter meines Volkes; düster bin ich, Schrecken und Furcht haben mich ergriffen. Gibt es keinen Balsam in Gilead?« fragte er leise. »Gibt es hier keinen Arzt? Warum konnte die Gesundheit der Tochter meines Volkes nicht gerettet werden? Oh, daß mein Kopf ein Gewässer wäre und meine Augen eine Tränenquelle, daß ich weinen könnte Tag und Nacht um die Erschlagenen…« Seine Stimme brach. Er begann offen zu weinen. »…der Tochter meines Volkes«, sagte er: »Amen.« Sie standen mit gesenkten Köpfen, während Bobbo Erde in das Grab schaufelte. Dann deckten sie die Stelle wieder mit der braunen Grasnarbe zu und fuhren den Wagen darauf hin und her, damit die Indianer sie nicht finden und aufgraben konnten. Diese Nacht kampierten sie unweit der Stelle, wo sie Annabel begraben hatten, da sie sie nicht so früh in der Wildnis allein lassen wollten. In der Ferne konnten sie die schneebedeckten Gipfel der Laramieberge sehen. Am zwanzigsten Juli erreichten sie Fort Laramie. Minervas Kinn war noch immer geschwollen, ihre gespaltene Lippe war verheilt. Unter dem Verband auf Hadleys Kopf war sein Ohr verkrustet und schorfig, wo es vom Schlegel des Indianers getroffen worden war. Doch das Ohr war verdeckt, und bei keinem von ihnen hätte etwas an der äußeren Erscheinung darauf hingewiesen, daß sie vor zwei Wochen von Indianern überfallen worden waren. Es sei denn, man blickte ihnen in die Augen. Über ein Dutzend Wigwams bildeten auf dem ebenen Stück Grund hinter einer der Fortmauern praktisch ein Indianerdorf. Weitere Wigwams lagen überall auf dem Gelände verstreut. Die Chisholms fuhren bei ihrer Ankunft durch das Dorf. Bobbo ritt auf dem india161
nischen Hengst, die Stuten gingen an Halftern hinter dem Wagen. Auf der Brust der einen Stute befand sich noch Kriegsfarbe, wo es ihnen nicht gelungen war, sie am Morgen am Fluß oberhalb des Forts sauberzuschrubben. Indianische Hunde bellten und schnappten nach den Wagenrädern und den Hufen der Pferde. Indianerkinder liefen halbnackt vor den Maultieren her und neckten sie mit Stöcken. Hochgewachsene Indianer in weißen Büffelfellen musterten die Pferde und bemerkten die bemalte Brust einer Stute. Squaws standen über kochenden Kesseln, rührten darin um und beobachteten wortlos, wie der Wagen durchfuhr. Am Haupteingang zum Fort ließen sie Bobbo als Wächter für die Tiere und den Wagen zurück, gingen zuerst durch ein Tor und dann durch einen überwölbten Durchgang. Ein zweites Tor dahinter führte in einen Hof, der ungefähr dreißig Meter im Quadrat maß. Im Inneren des Forts befanden sich so viele Indianer wie außerhalb, sie hockten auf dem Boden oder in Eingängen von Räumen, die an die Mauern angebaut waren. Die Mauern waren mindestens viereinhalb Meter hoch, gekrönt von einem Palisadenzaun, der kürzer und nicht so fest war wie auf den Bildern, die sie zu Hause von dem alten Fort gesehen hatten, bevor die Pfähle niedergerissen wurden. Es gab hier drinnen Indianersquaws und -kinder, die plapperten und stritten, Indianer, die bei dem einen oder anderen Kessel stehenblieben und ein Stück fettes Fleisch herausfischten. Am hinteren Ende des Forts, gegenüber dem Haupteingang, sah man ein Tor und ein Geländer, an dem ein halbes Dutzend Maultiere und ebenso viele Pferde angebunden waren. Eine Treppe führte nach oben zu einer Galerie. Als sie näher kamen, stieg ein Mann diese Treppe nach unten und streckte ihnen die Hand entgegen. »Ich heiße Lucien Orliac«, sagte er. Seine Stimme ließ einen leisen französischen Akzent erkennen. »Ich bin der Kommandant des Forts.« »Hadley Chisholm«, sagte Hadley und ergriff seine Hand. »Meine Familie.« 162
»Guten Tag«, sagte Orliac. Er schüttelte kurz Hadleys Hand und sagte dann »meine Damen« und nickte Minerva und Bonnie Sue grüßend zu. Er trug einen breitkrempigen schwarzen Hut, eine ärmellose Büffellederjacke über einem blauen, an den Handgelenken gestreiften Homespunhemd. Seine Hose war braun, und er trug Lederleggings und mit Perlen besetzte indianische Mokassins. Er hatte einen dichten schwarzen Bart und schwarze Augenbrauen, sein schwarzes Haar ringelte sich unter dem flachen schwarzen Hut bis zum Hals. Vom Hals aufwärts sah er aus wie eine von Timothys Kohlezeichnungen. »Sie reisen allein?« fragte er erstaunt. »Ja, Sir«, sagte Hadley. »Sie haben Glück, daß Sie unverletzt so weit gekommen sind.« Hadley sagte nichts. »Die Wohnungen im Fort sind im Augenblick besetzt –« »Wir brauchen nur einen Platz, um –« »Personal der Gesellschaft«, sagte Orliac, »ihre Frauen, ihre Kinder. Sie verstehen.« »Wir brauchen Ruhe«, sagte Hadley. Orliac blickte ihm in die Augen. »Sie sind willkommen, innerhalb der Mauern zu bleiben«, sagte er. »Ich danke Ihnen«, sagte Hadley. »Ich werde meinen Sohn holen.« Er ging auf den Hauptausgang zu. Orliac schloß sich ihm an. Minerva zögerte, ob sie ihnen folgen solle oder nicht. Sie nahm Bonnie Sue an der Hand, und die beiden blieben neben der Innenmauer stehen, beobachteten die Indianer und lauschten ihrem fremdartigen Geplapper. »Der Verwalter ist im Augenblick in Winnipeg«, sagte Orliac. »Ich hätte Ihnen seine Wohnung angeboten, aber sie ist besetzt.« »Das macht nichts«, sagte Hadley. »Vor zehn Tagen war ein Wagenzug hier; er ist jetzt nach Oregon abgereist. Alle sind abgereist mit Ausnahme einiger Leute, die an Fieber erkrankt sind. Die befinden sich in der Wohnung des Verwalters.« 163
»Dennoch besten Dank«, sagte Hadley. »Sie werden hier innerhalb des Forts sicherer sein«, sagte Orliac, »oder jedenfalls überall in der Nähe.« »Dann sind also Soldaten hier?« fragte Hadley. »Soldaten? Nein, nein.« Orliac schüttelte den Kopf. »Das hier ist die Amerikanische Pelzgesellschaft, müssen Sie wissen. Wir sind hier, um Handel zu treiben, sonst nichts. Nein, nein, das ist kein Armeevorposten.« Sie waren nun beim Haupttor angekommen. Draußen saß Bobbo noch auf der Wagenbank und blickte besorgt auf die Indianer rundum. Orliac bemerkte sofort die Pferde. »Sie haben Indianer getroffen?« fragte er. »Ja«, sagte Hadley. »Ich würde die Pferde ins Innere bringen«, sagte Orliac. »Ich glaube nicht, daß ein Indianer hier ein Pferd stehlen würde, das einem Weißen gehört, oder? Aber diese…« Er zog überlegend die Schultern hoch. »Die Sättel, die Zügel, die Farbe…« Er zog wieder die Schultern hoch. »Es sind ohne Zweifel Indianerpferde. Ich würde alles ins Innere schaffen: den Wagen, die Maultiere und besonders die Pferde. Ja«, sagte er und streckte Bobbo die Hand entgegen. »Guten Tag, junger Mann. Ich bin Lucien Orliac.« »Bobbo Chisholm.« »Kommen Sie, kommen Sie herein. Wo trafen Sie die Indianer?« fragte er Hadley. »Bobbo, bringen Sie sie herein. Kommen Sie.« Bobbo legte das Gewehr neben sich auf die Bank und ergriff dann die Zügel. Er rief den Maultieren zu, und der Wagen holperte durch das Tor, die Pferde folgten. Orliac trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Wo, sagten Sie?« fragte er Hadley. »Vierzig bis sechzig Kilometer vor dem Platte.« »Ah? Waren es Pawnees?« »Ich weiß es nicht«, sagte Hadley. »Spielt keine Rolle, Sie sind jetzt in Sicherheit«, sagte Orliac und lächelte. »Hier interessieren sich die Indianer nur für den Handel, 164
verstehen Sie? Sie bringen uns Felle, dafür geben wir ihnen Gewehre, Pulver und Blei…« Hadley blickte ihn an. »…Decken«, fuhr Orliac fort, »Tuch, Spiegel, Perlen, Tabak – aber nie Whiskey. Es ist die Politik der Gesellschaft, den Indianern niemals Whiskey in Zahlung zu geben. Kommen Sie. Ah, dort ist Gracieuse«, sagte er, »meine Frau.« Die Frau war eine Indianerin. Drall, barfuß, mit langem, schmalem Gesicht, einer Adlernase und vorstehenden Backenknochen, geschmückt mit hellroten Farbkreisen. Sie schleppte einen Stoß Büffelfelle über den Hof. Ein gefleckter Hund folgte ihr, der an ihren Beinen schnüffelte. Sie trat nach dem Hund, strauchelte beinahe und gab ihm dann noch einen Tritt. Der Hund entfernte sich jaulend durch den Hof. »In der Siouxsprache heißt sie Kahgahskahwee«, sagte Orliac und lachte. »Das heißt Schwanenjungfrau. Ich nenne sie Gracieuse… Sprechen Sie Französisch?« »Nein«, sagte Hadley. »Das bedeutet ›anmutig‹. Könnte auch noch einen zweiten Sinn haben, meinen Sie nicht? Gracieuse!« rief er, und seine Frau ließ die Felle neben der Mauer sinken und lief zu ihm. Er sprach zu ihr in einem, wie Hadley annahm, Gemisch von Indianisch und Französisch, und die Frau eilte wieder fort. »Ich sagte ihr, sie soll Wasser für einige Wannenbäder vorbereiten«, sagte Orliac. »Ich bin sicher, Sie werden baden wollen.« »Besten Dank«, sagte Hadley. »Wir werden auch Nahrungsmittel für Sie besorgen. Sie brauchen vor keinem der Indianer im Inneren des Forts Angst zu haben. Die Frauen sind entweder mit unseren Leuten verheiratet oder Schwestern oder Kusinen der Frauen. Die Männer sind auch irgendwie mit ihnen verwandt. Es ist wie eine große Familie – Väter, Vettern, Onkel. Wirklich, da braucht man sich keine Sorgen zu machen.« »Wo wollen Sie, daß wir…« 165
»Dort an der Mauer. Wo Gracieuse die Felle hingelegt hat. Wird Ihnen das passen?« »Ja, ausgezeichnet.« »Ich weiß, Sie sind dort nicht ganz ungestört…« »Es ist prima«, sagte Hadley. »Wenn Sie wünschen, können wir den Wagen ausladen und irgendwo einen Platz finden, wo wir Ihre Sachen einlagern können. Dann könnten die Frauen vielleicht im Wagen schlafen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Wir sind es gewohnt, auf dem Boden zu schlafen«, sagte Hadley. »Es hat sehr wenig geregnet, vielleicht haben wir noch weiter Glück, wie?« sagte Orliac, entschuldigte sich mit einem Lächeln, machte einen Buckel und streckte seine Hände aus, daß die Handflächen zu sehen waren. »Sie wärmt das Wasser. Sie werden in der Küche baden können. Ich werde den Koch ersuchen, anderswohin zu gehen«, sagte Orliac, zog eine Uhr aus der Tasche und sah darauf. »Ja, es ist noch Zeit, bis er das Essen zubereitet.« »Besten Dank«, sagte Hadley wieder. »Ich habe Ihnen den Platz bei den Büros und dem Lagerraum angewiesen, wo es nachts nicht viel Verkehr gibt. Er liegt auch weit vom Korral.« Er warf einen Blick über den Hof zu Bobbo, der die Maultiere ausspannte. Fünf oder sechs Indianer hatten sich rund um den Wagen gesammelt und betrachteten die Pferde. »Ah, Bobbo!« rief er. »Sie haben Platz gefunden, wo Sie sie unterbringen, das ist gut!« Er wandte sich wieder an Hadley. »Wie viele waren es? Indianer?« »Vier«, sagte Hadley. »Pawnees?« »Ich weiß es nicht.« »Aber Sie haben ihnen drei Pferde abgenommen, wie? Gut.« »Sie haben meine Tochter getötet«, sagte Hadley. Orliac blickte ihm ins Gesicht. »Das tut mir sehr leid«, sagte er. 166
Am nächsten Tag traf eine Gruppe von Weißen ein. Sie waren staubig und bärtig, und sie trugen blaue Armeeuniformen. Sie kamen in einem Konvoi, der aus zwei von Maultieren gezogenen Wagen und acht Pferden bestand. Minerva beobachtete sie, als sie den Hof durchquerten und auf die Treppe am anderen Ende zusteuerten. Sie trugen Lederkoffer, die, nach der Art zu schließen, wie die Männer unter ihrer Last gebeugt waren, schwer zu sein schienen. Wahrscheinlich waren sie auch wertvoll, sonst hätten sie sie in den Wagen vor dem Haupteingang gelassen. Nun waren sie auf der Galerie. Einer von ihnen klopfte an Orliacs Tür. Minerva hörte hinter sich das Geräusch von Schritten. Sie wandte sich um. Der Indianer trug eine weiße Büffeldecke. Er war hochgewachsen und hielt sich aufrecht, sein Gesicht war schwarzbemalt. In seinen Ohren steckten Muscheln, und er trug eine Muschelkette um den Hals. »Un p'ti plis«, sagte er zu ihr. »Was willst du?« sagte sie. »Un p'ti plis«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Fort von mir!« sagte sie, rannte zur Mauer und ergriff das Gewehr, das dort angelehnt stand. »Geh fort!« sagte sie scharf und hielt ihm die Mündung entgegen. Ihr Finger lag im Abzugsbügel, um den Abzug gekrümmt. Der Indianer blickte sie finster an. Dann nahm er seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und schneuzte sich auf den Boden zu ihren Füßen. Er drehte sich um und stelzte majestätisch quer durch den Hof. Minerva zitterte. Die Männer waren Landvermesser, die von South Pass zurückkehrten, wo sie den Sommer verbracht hatten. Der Führer der Expedition war ein Major namens Abner Duggan, ein untersetzter Mann mit einem gebräunten, faltigen Gesicht und weißem Schnurrbart unter einer Knollennase. Er mußte etwa in Hadleys Alter sein, nahm Minerva an, sah aber viel älter aus. Er trank zu viel Wein, schenkte für 167
Hadley ein, neigte sich vor und sprach ihm direkt ins Gesicht. Er war nicht blau, aber seine Zunge war so gelöst, daß es ein wenig respektlos klang. Sie saßen in Orliacs Wohnung zu sechst rund um einen großen Holztisch. Orliac und seine Frau Gracieuse, Hadley und Minerva, Duggan und sein Adjutant. Bonnie Sue und Bobbo waren nicht eingeladen worden. Das schien Minerva merkwürdig, da sie es gewohnt war, daß in einer Familie alle gleichzeitig aßen. Die beiden waren jetzt in der Küche des Forts, aber sie hätte sie lieber hier neben sich gehabt. Beinahe hätte sie tatsächlich die Einladung nicht angenommen, aber Hadley hatte sie überzeugt, daß sie von den beiden Inspektoren Dinge über den Weg erfahren könnten, den sie noch vor sich hatten. »Wann wollen Sie von hier aufbrechen?« fragte Duggan. »Sobald meine Söhne eintreffen«, sagte Hadley. »Wo sind sie jetzt?« »Ich weiß es nicht. Wir trennten uns von ihnen gegen Ende Mai vor St. Louis.« »Sind die beiden allein?« fragte Duggan. »Ja.« »Nun«, sagte Duggan, »die Pawnees haben derzeit selbst genügend Schwierigkeiten, vielleicht werden Ihre Söhne nicht belästigt.« Orliac warf Minerva einen raschen Blick zu und sagte sofort: »Major Duggan, die Familie Chisholm hat in letzter Zeit…« »Lassen Sie mich Ihnen erzählen, was Sie westlich von hier vorfinden werden«, sagte Duggan, hob sein Glas, nahm einen Schluck und schmatzte. In einem überrascht klingenden Ton sagte er: »Sehr delikat, Orliac«, wischte sich dann mit dem Handrücken über den weinbefleckten weißen Schnurrbart und wandte sich an Hadley: »Was Sie finden werden – das heißt, außer Indianern…« »Cheyenne, Sioux und Gros Ventres«, sagte Duggans Adjutant, ein Hauptmann namens Howard Kelsey, sehr mager, mit blaß weißer Haut, zart wie die einer Frau. Auch er trug einen Schnurrbart, doch seiner war schmal und schwarz. Er lieferte die Information über die 168
Indianer, als ob Duggan es verlangt hätte. Duggan bestätigte sie gleichzeitig durch Schlagen mit dem Zeigefinger in die Luft. »Richtig«, sagte er, und der Zeigefinger machte ›klapp‹! »Dort draußen streifen sie in Abteilungen umher, von denen manche tausend Mann stark sind.« »Major Duggan«, sagte Orliac, »ich muß Ihnen sagen…« »Viertausend Mann war eine Abteilung stark«, sagte Kelsey. »Stimmt«, sagte Duggan und schlug in die Luft. »Haben Sie schon jemals viertausend Sioux oder Dakotas oder wie immer sie sich nennen wollen…« »Dakotas«, sagte Kelsey. »…in Kriegsbemalung durch die Prärie reiten sehen?« »Beängstigend«, sagte Kelsey. »Aber das ist nicht alles, worüber Sie sich Sorgen machen müssen, Chisholm. In den letzten zwei Monaten hat es dort draußen nicht geregnet –« »Ernste Dürre«, sagte Kelsey. »Indianer schneiden Pappelzweige ab, um ihre Pferde zu füttern.« »Es gibt kein Gras.« »Oder wenn man welches findet, ist es verbrannt.« »Da ist auch noch die Heuschreckenplage«, sagte Kelsey. »Was die Trockenheit nicht zugrunde gerichtet hatte, besorgten die Heuschrecken«, sagte Duggan und goß sich noch ein Glas Wein ein. »Das ist wirklich ein vorzüglicher Wein, Orliac«, sagte er. »Wie?« fragte Gracieuse auf französisch. »Der Wein ist gut«, antwortete ihr Orliac ebenfalls auf französisch. Dann sagte er: »Sie spricht nicht Englisch.« Er schien das mehr sich selbst zu erklären als jemandem, der am Tisch saß. »Kein Wasser, kein Gras«, sagte Kelsey. »Und kein Wild«, sagte Duggan. »Dort draußen essen die Indianer ihre eigenen Pferde. So sieht es dort aus, Chisholm«, sagte er und nickte zur Bestätigung. »Hatten Sie die Absicht, nach Fort Hall zu fahren?« fragte Kelsey. 169
»Von hier bis Fort Hall sind es über achthundert Kilometer«, sagte Duggan. »Viel weiter als dorthin könnten Sie nicht kommen«, sagte Kelsey. »In den Rockies wird es schon Schnee geben.« »Sie würden für den ganzen Winter in Fort Hall festsitzen«, sagte Duggan. »Das wäre vielleicht ein Zuckerlecken«, sagte Kelsey und verdrehte die Augen. »Es ist ein noch kleinerer Handelsposten als dieser hier, wissen Sie.« »Wenn Sie Wildnis suchen«, sagte Duggan, »dort ist Wildnis.« »Die verschneiten Rockies vor Ihnen.« »Feindliche Indianer hinter Ihnen.« »Die Wildnis«, sagte Kelsey. Duggan schlug mit dem Finger in die Luft. »Was meinen Sie, Bobbo?« fragte Orliac. »Wollen Sie ins Pelzgeschäft einsteigen? Wir dürften in diesem Jahr allein über fünfzigtausend Felle handeln. Ich habe noch Platz für einen weiteren Angestellten, wie?« »Ich glaube nicht«, sagte Bobbo. Die Felle waren in der Mitte des Hofs hoch aufgeschichtet, ihr Pelz war durch und durch schwarz. Für Bobbo sahen sie alle gleich aus, aber Orliac sortierte sie nach ihrer Qualität. Überall rund um sie herrschte geschäftiges Treiben. Frauen keiften und Kinder hetzten herum, Babys schrien. Kompanieangestellte brüllten Befehle auf französisch. Trapper stelzten in Leggings und Lederanzügen durch das Fort. Durch den Haupteingang konnte Bobbo sehen, wie Wigwams abgebrochen, Travois mit Gütern gepackt wurden, die man im Handel erstanden hatte. In der Ferne kamen noch andere Indianer zum Fort, beladen mit Fellen, die sie zum Tausch anbieten wollten. Für ihn sahen alle Indianer gleich aus, so wie die Felle. »Wissen Sie, wie sie diese Felle behandeln?« fragte Orliac. »Nein, Sir.« 170
Wann immer er an seine Schwester dachte, wann immer er sich ihrer zu erinnern versuchte, wie sie gewesen war, konnte er sich nur den Indianer mit dem blauen Gesicht und den sich vor Schmerz krümmenden Indianer vorstellen, als Bobbo ihm das Messer immer und immer wieder… »Sie nehmen das Hirn des Tieres, und das vermengen sie mit Asche. Das geschieht, nachdem die Haut vom Fleisch saubergekratzt wurde. Die Arbeit besorgen die Frauen. Deshalb haben sie so viele Frauen. Ein Mann kann ein Dutzend Büffel in ebenso viel Minuten schießen, oder? Wieviel Zeit braucht man aber, um die Häute aufzubereiten? Das ist etwas ganz anderes. Dazu braucht man den ganzen Frühling und den halben Sommer.« Er senkte die Stimme. »Ich habe von einem Stamm gehört, der die Häute mit Pisse gerbt. Pisse! Halten Sie das für wahr?« »Verzeihen Sie«, sagte Bobbo. »Was sagten Sie?« Er hatte wieder an Annabel gedacht und wieder den Indianer mit dem blauen Gesicht gesehen. Hier war der Fluß kalt und klar und strömte schnell. Er erinnerte Bonnie Sue an den Clinch daheim – nur daß sie in Virginia zum Fluß gegangen war, um in ihrem Tagebuch zu schreiben oder sich Geschichten auszudenken. Hier kam sie zum Fluß, um zu weinen. Sie weinte um Annabel, und sie weinte um sich selbst. Sie weinte um ihre kleine Schwester, weil sie sich an sie noch in der Holzwiege erinnern konnte, als ihre Augen alles absuchten und sie ihren Finger im Mund hatte und ihr Kissen vom ausfließenden Speichel feucht war. Man beugte sich über die Wiege, und das runde Gesichtchen begann zu lächeln, daß man Lust bekam, loszulachen. Sie konnte sich erinnern, wie sie Annabels pummelige, klebrige Hand hielt und sie zu Spaziergängen in den Wald mitnahm, ihr zeigte, daß da ein Kaninchenloch und dort ein Wespennest war, wie Klein-Annabel nickte, als wüßte sie genau, was über dies oder jenes gesagt wurde, wahrscheinlich aber nichts davon verstand. Sie 171
sah so lieb aus, daß Bonnie Sue sie auf ihren Armen hochhob und fest an sich drückte und küßte. Sie konnte sich auch erinnern, daß Annabel ein Quälgeist war und die ganze Zeit Fragen stellte, was die Katze zum Miauen, ein Schwein zum Grunzen und einen Hund zum Bellen veranlaßte, anstatt zu reden wie Menschen, oder daß sie wissen wollte, wie man eine Gigue tanzte oder strickte und linksstrickte, oder Kuchen backte oder den Buchstaben ›m‹ schrieb, mit dem sie immer Schwierigkeiten hatte, und der bei ihr immer aussah wie ein ›n‹. Bonnie Sue sagte ihr dauernd, sie solle noch eine Schlinge anfügen, und wann immer Annabel es tat, kam etwas heraus, das aussah wie ein dahinkriechender Wurm, Schlinge um Schlinge um Schlinge. Sie liebte das Kind. Allein am Fluß weinte sie um Annabel. Und sie wußte – o Gott – wußte, daß, wenn ihre Schwester nicht mit dem brennenden Holzscheit in der Hand auf den Indianer losgegangen wäre, es ihm in den Arm gestoßen und ihn veranlaßt hätte, von Bonnie Sue zu springen, als er auf ihr gesessen und sie gewürgt hatte… Sie preßte die Augen zusammen. Sie konnte den schnell strömenden Fluß hören. Sie konnte ihren eigenen Pulsschlag fühlen. Sie begann wieder zu weinen. Um ihre Schwester, um sich selbst. Am siebenundzwanzigsten Juli, eine Woche nach Ankunft der Chisholms im Fort, tauchte die Familie aus dem nach Oregon fahrenden Wagenzug endlich aus der Wohnung des abwesenden Verwalters auf. Sie waren zu sechst: ein Ehepaar, das etwa so alt zu sein schien wie Hadley, drei Töchter unter zwanzig und ein außergewöhnlich kräftiger Sohn, der Minerva an Gideon erinnerte. Blaß und mager, in die Sonne blinzelnd, kamen sie über die Galerietreppe nach unten. Eine Schar kreischender Indianerbälger folgte ihnen quer durch den Hof zu der Stelle, wo Minerva und Bonnie Sue auf Fellen an der Mauer saßen. Die Mauer und der Wagen daneben wa172
ren ihr Heim geworden. Die Felle waren ihre Betten und ihre Decken, die Mauer war ihr Schutz gegen alle Gefahren, die es außerhalb des Forts gab, der Wagen enthielt ihre Kleidung, die Werkzeuge und Geräte, die sie für diesen und den nächsten Tag brauchten. Minerva sah, wie die Frau sich jäh umwandte und ihre Hände gegen die Indianerkinder schwang, die lachend davonrannten. Dann kam sie auf Minerva zu und streckte die Hand aus. »Tag«, sagte sie. »Ich bin Martha Hasty. Ich habe von Ihrem Unglück gehört, Ma'am, und ich und die meinen möchten Ihnen unser Beileid ausdrücken.« »Danke«, sagte Minerva leise und ergriff Marthas Hand. »Ich bin Minerva Chisholm, das ist meine Tochter Bonnie Sue. Ich freue mich, Sie wieder wohlauf zu sehen.« »Das ist mein Mann, Jeb…« »Ma'am«, sagte er und nahm seinen Hut ab. »Meine Töchter Mary Louise, Ellie Jean und Josie…« Die Mädchen knicksten. »Und das ist mein Sohn Tom.« »Ma'am«, sagte er. Genau dieselbe Haarfarbe wie die Gideons, auch so lockig. Nicht ganz so groß. Grinste. Wußte nicht, was er mit den Händen anfangen sollte, steckte sie schließlich in die Tasche. »Mrs. Chisholm, hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee?« fragte Martha. Die zwei Frauen saßen in der Küche des Forts auf Schemeln an dem riesigen Tisch, den der Koch zum Gemüseschneiden und Fleisch tranchieren benutzte. Es war acht Uhr morgens. Er hatte schon lange das Frühstück beendet und würde erst in einigen Stunden mit dem Mittagessen beginnen. Er hörte zu, während die Frauen plauderten und den Tee tranken, den sie auf seinem Herd zubereitet hatten. Er konnte kein Wort von dem verstehen, was sie sagten, aber der Ton ihrer Stimmen gefiel ihm. Er mochte die amerikanischen Frauen gern. Sie waren mager. Er hatte etwas übrig für magere Frau173
en. Aber auch für einen schönen Busen. Mager, aber weich. Das gefiel ihm. »Wir hätten nicht so weit kommen sollen«, sagte Martha und lachte. Sie hatte ein Lachen, das wie Silber klingelte und bis hinauf in ihre blauen Augen flimmerte. Sie hatte Sommersprossen auf Nase und Wangen. Minerva hatte noch nie eine Frau in ihrem Alter mit Sommersprossen gesehen. Sie hatte immer gedacht, Sommersprossen seien für junge Leute. Diese Martha Hasty gefiel ihr. Sie mochte sie von dem Augenblick an, da sie einander die Hände geschüttelt hatten, sie ihr Mitgefühl ausgedrückt, ihr Mann wie ein Gentleman den Hut abgenommen hatte, die kleinen Mädchen sich als wohlerzogen, der Junge als Ebenbild von Gideon erwiesen hatten. Sie waren alle blaß, so blaß. »Wir hätten umkehren sollen, so wie Mary Hutchinson…« Hutchinsons Frau, die Große, Magere mit sonnengebleichter Kleidung. Minerva nickte. »…gleich nachdem die Kinder krank wurden. Aber Jeb sagte, wir seien schon so weit gekommen, und wir waren eine große Gruppe, da meinte er, es sei sicherer. Mein Gedanke war, wenn in einer Gesellschaft rundum die Menschen erkrankten, ist es am besten, man verläßt sie, meinen Sie nicht?« »Ich hätte sie gleich verlassen«, sagte Minerva. »Denn wenn Sie es richtig überlegen, kehren wir nun ohnedies zurück, oder?« sagte Martha. »Die Landvermesser verlassen das Fort übermorgen, und wir gehen mit ihnen, auch wenn's stürmt und schneit«, sagte Martha. »Bis Independence sind es über neunhundert Kilometer, das ist nicht gerade ein Spaziergang im Park, aber es sind acht Bewaffnete zu Pferd und zwei Mann, die die Wagen kutschieren, dazu noch Jeb und mein Tommy. Das ergibt ein Dutzend Männer mit Gewehren, das sollte doch genügen, um alle Rothäute zwischen hier und Independence abzuschrecken, meinen Sie nicht –« Minerva brach in Tränen aus. 174
Martha zwinkerte ihr zu. Der Koch blickte hoch, als er Weinen hörte. »Was ist los?« fragte er. »Warum weint sie?« »O mein Gott, es tut mir leid«, sagte Martha. »Mrs. Chisholm? Ist Ihnen nicht gut?« Sie machte sich Vorwürfe. Sie hätte mit Hadley energischer sein sollen, hätte noch drüben in Louisville darauf bestehen müssen, ihn zwingen müssen, gleich dort noch umzukehren. Oder bestimmt in Kansas, als Ralph Hutchinson erzählt hatte, es gebe Fieber dort, als seine zwei Kinder so mitgenommen von der Anstrengung waren und der Fluß außerdem tobte. Dort hätte sie ihm sagen müssen, daß es keinen Sinn hatte weiterzufahren, daß sie nicht weitermachen wollte, bloß sie und die Oates', wo die Frau noch dazu kein Wort Englisch sprach. Sie hätte sagen sollen: ›Hadley, laß uns doch mit den anderen umkehren. Hadley, fahren wir nach Hause.‹ Statt dessen hatte sie geschwiegen, weil sie wußte, es hatte keinen Sinn, noch ein Wort zu sagen. Er war störrisch wie ein Maulesel, wenn er sich mal zu etwas entschlossen hatte. Sie wußte, es gab nichts, das sie hätte sagen können, das ihn zum Umkehren gebracht hätte. Sie gab ihm die Schuld. Die Schuld für seinen Entschluß – was immer ihn dazu verleitet hatte –, Virginia zu verlassen. Es gab nichts auszusetzen an Virginia. Dort hatten sie ein gutes Heim, ein Leben. Es war kein Leben mehr, seit dem Augenblick, da sie fortgezogen waren. Sie gab ihm die Schuld, daß er damals seinen Söhnen ebenso wie seinen Töchtern in Louisville nicht gleichermaßen gesagt hatte, sie sollten den Mund halten. Er war der Vater, er war das Oberhaupt dieser Familie; wenn er seinen Whiskey teuer verkaufen und nach Hause zurückkehren wollte, dann war das eben seine Angelegenheit, und da gab es nichts abzustimmen. Das hätte er damals tun müssen, einen Standpunkt einnehmen und den Jungen sagen, wenn ihnen die Art nicht gefiel, wie die Familie geführt wurde, dann sollten sie eben gehen und sich eine bessere suchen. Doch nein, er hatte sich dazu verleiten lassen, weiterzumachen. Sie gab ihm auch 175
die Schuld für das, was am Fluß vorgefallen war, als sie darauf warteten, über den Fluß gebracht zu werden, und jeder mit einem Funken Menschenverstand nach Hause umkehrte. Er hätte sich klarwerden müssen, daß es keine Rückkehr mehr geben würde, wenn sie ihre Chance dort am Kansas einmal versäumt hätten. An der Küste des Nebraska würden sie allein gelassen werden, und die Indianer würden sie schon finden, das war so sicher wie der nächste Regen. Auch Bobbo gab sie die Schuld. Er hätte in jener Nacht Wache stehen müssen, statt dessen schrie er die ganze Zeit, er wolle Wölfe schießen, als ob er auf einem Jagdausflug wäre und nicht in der Wildnis, umgeben von anschleichenden Indianern. Schrie seinem Vater zu, sein Vater schrie zurück, Hadley war wieder betrunken, wahrscheinlich beide betrunken, der eine sollte vor Gefahr auf der Hut sein, und der andere sollte sein Vater sein. Ein Paar wertlose… Warum schoß er nicht früher? Warum schoß er erst, nachdem der Mann… O Gott. Konnte er nicht sehen, daß der Mann… Gott, o Gott. Er hätte auf ihn schießen, ihn umbringen müssen, bevor er … lieber, lieber Gott. Sie verurteilte Bobbo und verurteilte Bonnie Sue, weil sie die ganze Zeit Heimweh hatte und schwermütig war; wenn sie nicht so eingehüllt gewesen wäre in ihre eigene Trübsal und ihre Sehnsucht nach Sean Cassada, wäre sie vielleicht imstande gewesen, in jener Nacht etwas zu tun, Bobbo zu helfen, ihrer Schwester zu helfen. Sie verurteilte sie alle. Sie verurteilte sich selbst. In ihrer Ecke des Hofs, mit einem Büffelfell unter sich, zugedeckt mit einer leichten Tagesdecke, flüsterten sie in der Kühle der Nacht. »Morgen früh fahren die Hastys nach Independence ab«, sagte Minerva. »Das weiß ich«, sagte er.
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»Sie fahren mit Major Duggan und seinen Leuten…Was hältst du von ihm, Hadley?« »Er redet laut.« »Ja, aber von dem, was er sagt.« »Er schien zu wissen, wovon er sprach.« »Hadley, ich will mit ihnen fahren«, sagte sie, hielt den Atem an und wartete. »Wir könnten noch vor Ende des Sommers wieder in Independence sein«, sagte sie und wartete wieder. »Und wenn wir weiter bis nach Virginia gehen wollten…« »Min, es ist…« »…könnten wir bis zum November durch die Schlucht kommen.« Hadley schwieg. »Ich will eine Antwort«, sagte sie. »Min«, sagte er, »bis Independence sind es über neunhundert Kilometer.« »Ja, und bis Fort Hall sind es achthundert.« »Wir sind in der Mitte zwischen Nichts und Nirgends«, sagte er. »Ich habe Angst, Min. Ich will nicht weiterfahren, und ich will nicht zurück, wo mein Töchterchen…« Er verstummte wieder. Dann sagte er: »Verzeih mir, Min, ich glaubte, ich tue das Richtige. Ich wollte Land für uns finden, wo wir anbauen und ernten können, ich wollte ein besseres Leben anstreben als daheim. Statt dessen scheint es, als hätte ich alles falsch gemacht. Meine zwei Söhne ließ ich fortreiten, weiß Gott wohin, meine Familie führte ich in die Wildnis, wo – wo meine Tochter…« Er brachte die Worte nicht heraus, würgte sie zurück. »Min«, sagte er, »ich bin ein Mann, der sich aus Furcht und Schmerz nicht rühren kann. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Min. Ich hatte nie in meinem Leben vor etwas Angst, ich habe mich noch nie über jemanden so gegrämt. Sie fehlt mir so sehr, sie fehlt mir unsäglich.« »Was willst du tun, Hadley. Was immer du tun willst…« »Ich will hierbleiben, Min. Zumindest über den Winter.« Sie sagte nichts. Er wartete, aber sie sagte nichts… 177
»Es gibt Land drüben am Fluß, Holz genug, um ein schönes Häuschen zu bauen. Wir könnten ein Feld für den Anbau roden, der Boden ist gut, Min.« »Ja«, sagte sie. »Sehnst du dich nicht nach einem Fußboden, Min, zum Ausfegen?« »Doch, Hadley.« »Ich weiß nicht, Min, wem das Land dort gehört. Wenn es die Amerikanische Pelzgesellschaft ist, werde ich mit Orliac sprechen, um das, was wir brauchen, für einen angemessenen Preis zu bekommen. Wenn es öffentliches Land ist, müssen wir an die Regierung schreiben, nehme ich an, unsere Absicht kundtun und nach dem Preis fragen. Ich schätze ihn auf zweieinhalb, drei Dollar pro Hektar, ich glaube, man muß eine Mindestmenge kaufen, wahrscheinlich hundertfünfundzwanzig Hektar. Inzwischen könnten wir uns darauf niederlassen, wenn es der Regierung gehört. Es wird uns niemand von dort vertreiben. Min?« »Ja, Hadley?« »Würde dir das passen, Min?« »Wenn es dir hilft, es wieder gutzumachen, paßt es mir.« »Ich weiß nur, daß ich jetzt nicht von hier fortgehen kann«, sagte er. »Dann bleiben wir, Hadley.« »Ich werde mit Orliac sprechen.« »Ja«, sagte sie. »Min«, sagte er. »Ich liebe dich, Min.« »Und ich liebe dich auch«, erwiderte sie. Die Landvermesser hatten ihr Werkzeug in die Wagen gepackt und warteten nun im morgendlichen Sonnenschein, bis die Hastys sich verabschiedet hatten. Es war ein klarer, heißer Tag. Hauptmann Kelsey hatte den Hut abgenommen und trug ein blaues Tuch um die Stirn. Es verlieh ihm ein verwegenes Aussehen, das gar nicht zu sei178
ner pedantischen Wesensart paßte. Major Duggan stand mit einer Hand am Zügel seines Pferdes dort und plauderte wartend mit Orliac. Ein gutes Dutzend Indianer stand bei der Adobemauer und sah dem Abschied zu. Minerva erkannte unter ihnen den Mann, der sie kurz nach ihrer Ankunft im Fort angesprochen hatte. Trotz der Hitze trug er noch immer das weiße Büffelfell. Sein Gesicht war schwarz bemalt, es glänzte fettig im hellen Sonnenschein. Sein Blick kreuzte den ihren. Er grinste mit allen Zähnen, dann verließ er die Mauer und ging auf die Stelle zu, wo sie mit Martha sprach. Minerva wollte schon zurückweichen, doch der Indianer streckte die Hand Martha entgegen. »Un p'ti plis«, sagte er, seine Stimme klang fordernd und irgendwie drohend. Martha kicherte nervös, dann zog sie die Schultern hoch. Orliac drehte sich um. »Geh fort! Geh fort!« rief er und schob den Indianer mit den Händen weg. Der Indianer nahm seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann besann er sich offenkundig eines besseren, wandte sich mürrisch ab, ging zurück und stellte sich wieder an die Mauer. »Er will eine kleine Gabe, eine kleine Gefälligkeit«, sagte Orliac und zog die Schultern hoch. »Sie werden die ganze Zeit von Auswanderern verdorben, nicht wahr? Sie wollen nur einen Keks oder zwei, eine Tasse Kaffee – aber sie gehen einem auf die Nerven. Man darf ihnen nie zeigen, daß man im geringsten Angst hat. Sie können Gesichter lesen; manchmal glaube ich, daß sie Gedanken lesen können.« »Minerva, werden Sie es schaffen?« fragte Martha und faßte ihre Hand mit beiden Händen. »Ich glaube, ja.« »Wir haben uns eben erst kennengelernt«, sagte Martha. »Sie werden mir fehlen«, sagte Minerva. Die Frauen küßten einander. Jeb Hasty schüttelte Hadley die Hand und kletterte dann auf die Wagenbank. »Tommy?« sagte er. »Ja, Pa.« 179
Wie ähnlich er doch Gideon sah. Minerva war nah daran, wieder zu weinen; wenn sie doch nur lernen könnte, diese plötzlichen Weinanfälle zu beherrschen, die sie überkamen. Sie biß sich auf die Lippe. Kelsey wendete sein Pferd; die Menge der Indianer wich zurück. »Dann also vorwärts!« sagte Major Duggan und wies nach Osten, mit demselben Zeigefinger, mit dem er in die Luft zu schlagen pflegte. Sie blickten den abziehenden Wagen und Pferden nach. Martha winkte von ihrem Sitz aus. Der Indianer mit dem schwarzbemalten Gesicht trat überraschend und unerwartet aus den anderen vor und erwiderte ihr Winken. Er winkte weiter. Die Wagen fuhren davon. Weit draußen am Horizont sah Minerva Staub aufsteigen, der sich bewegte. Sie wartete. Pferde und Reiter kamen dort aus dem Osten und verringerten die Entfernung zwischen sich und den Wagen. Die Pferde hielten neben dem ersten Wagen an. Der Staub legte sich. Und nun bewegten sich die Pferde wieder. Es waren zwei Reiter. Einer von ihnen saß auf einem Schecken. Der andere auf einem Rappen… Gideon, dachte sie. Will, dachte sie. Sie rief laut: »Sie sind es, Hadley, sie sind hier!« Mit ausgebreiteten Armen und fliegenden Röcken rannte sie vorwärts, um ihre Söhne zu begrüßen.
Will
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ie Nacht war kalt geworden. Vor dem Fort glühten die offenen Spitzen der Indianerwigwams von den darin brennenden Feuern, dreieckige Lichtflecke auf dem 180
welligen Abhang. Gelegentlich bellte ein Hund, erhielt Antwort von einem zweiten, dann von einem anderen, das letzte Bellen erklang, ehe das Echo des ersten verklungen war. Will war betrunken. Er saß an die Außenmauer des Forts gelehnt, die gebrannten Tonziegel waren noch warm von der Sonnenbestrahlung des Tages. Er hielt eine Weinflasche in der Hand – heute die dritte –, deren Inhalt größtenteils zwischen seinen Lippen verschwunden war. Er hob die Flasche an den Mund und trank daraus; er versuchte sich das zusammenzureimen, was geschehen war, und konnte es nicht begreifen. Zum Teufel damit, dachte er, trank wieder, schüttelte den Kopf und sagte »Sei still«, als ein Baby weiter unten zu weinen begann. Er lauschte dem weinenden Baby. Er hatte selbst geweint wie ein Baby, als sie es ihm erzählt hatten. Zunächst ahnte er nichts. Gideon und er kamen am Morgen angeritten, Ma lief ihnen vom Fort entgegen, sah aus wie eine Frau, die nicht halb so alt war wie sie, er erkannte sie gar nicht. Sie zog Gideon an sich und streckte dann die Hand aus: »Will, Will, Liebling!« Später waren sie alle zusammen im Fort. Pa sah ein wenig fremd aus. Bobbo hielt sich irgendwie beiseite. Bonnie Sue umarmte sie beide. Dann sagte Gideon: »Wo ist Annabel?« Er hob die Flasche wieder an die Lippen. Er erinnerte sich, daß Annabel ihn gefragt hatte, wie sich der Kampf in Texas abgespielt habe. Er war dabei, draußen eine Tür abzuhobeln. Er hatte sie ausgehängt, weil sie in der Augusthitze klemmte. Hatte sie zwischen zwei große Felsblöcke gestellt und hobelte sie ab. Weiße Holzkringel fielen zu Boden. »Also, es war nicht besonders«, sagte er. »Was hast du dort gemacht?« »Bloß geschrien und gebrüllt und auf Menschen geschossen.« »Das klingt nicht sehr spaßig, Will.« »War es auch nicht«, sagte er. »Ich hätte viel lieber im Clinch gefischt.« »Warum tun wir's nicht?« sagte Annabel. 181
Er grinste breit. »Warum eigentlich nicht«, sagte er und legte den Hobel weg. Scheiße. Du… Du kommst her, und sie erzählen dir, daß deine kleine Schwester… Die Indianerin kam lautlos aus der Nacht, erschreckte ihn. Seine Hand zuckte. Aus der an seinen Mund geneigten Flasche floß Wein, tropfte über sein Kinn, spritzte auf sein Hemd. Er wischte über das Hemd und blickte zu ihr hoch. »Was willst du?« sagte er. Sie war groß und schlank, trug ein Kleid aus Elchleder, die Ärmel offen, keine Perlen oder Federn oder Schmuck irgendwelcher Art, das Kleid war unten, wo es über ihre Knie reichte, gefranst. Sie trug Mokassins ohne Perlen, deren weiche obere Patten wie Manschetten zurückgeschlagen waren. Darüber schwarze Baumwollstrümpfe. Der eine Strumpf war über ihr Schienbein hochgezogen, der andere fiel auf ihr Fußgelenk und lag zusammengerollt über dem Mokassinaufschlag. Ihr schwarzes Haar war zu beiden Seiten des Kopfes flachgezogen, die Zöpfe wurden von Lederriemen zusammengehalten. Ihre hohen Backenknochen waren mit kräftigen roten Kreisen bemalt. Ihre Augen glänzten schwarz im Mondlicht. Sie näherte sich ihm schweigend, blieb vor ihm stehen und grinste, ihr Kopf war seitlich ein wenig geneigt, ihre Zähne blitzten. Sie legte ihre Hände auf ihre Schenkel, als wollte sie die Handflächen an der gegerbten Haut trocknen, beugte sich dann jedoch ein wenig in die Knie und faßte den gefransten Rand ihres Rocks mit beiden Händen. Sie richtete sich wieder auf und zog den Rock über ihre Taille hoch. Sie war darunter nackt, er sah einen Augenblick lang ihre schwarz behaarte Schamgegend, bevor sie den Rock wieder fallenließ. Sie lächelte einladend und zog die Brauen wortlos fragend hoch. Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen, ihre Finger hielten einen Bettlernapf umfaßt. »Warum nicht, zum Teufel?« sagte er.
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Außerhalb des Wigwams bellten Hunde. Müde beobachtete er sie. Einem Hund soll man nie die Zähne zeigen. Auch sonst keinem wilden Tier. Es glaubt, du willst angreifen. Darfst sie nie anlächeln. Bist ein braver Hund, aber nicht lächeln. Sie war schon vier, fünf Minuten dort drinnen. Er würde sich Zeit lassen, bis er den Wein ausgetrunken hatte, dann würde er losgehen. Kalt war's hier draußen; sinnlos, wegen einer Hure in der Kälte zu warten. Hatte überhaupt keinen Sinn, wenn man's genau nehmen will. Jetzt kam sie aus dem Wigwam und mit ihr eine dicke Squaw. Die Squaw sah verärgert aus, als wollte sie nicht hier in die Kälte rausgejagt werden, während die Hure einen Kunden empfing. Tut mir leid für dich, dachte Will, und grinste beinahe, dann erinnerte er sich der Hunde. Die Hunde kläfften noch immer. Die Squaw sagte etwas zu ihnen, das störte sie kein bißchen, sie bellten weiter. Sie schlug einem auf die Schnauze. Der begann zu jaulen und wurde dann still. Die Squaw sagte etwas auf indianisch zu der Hure, und die nickte. Die fette Squaw zog ihren Mantel zurecht, rief die Hunde und ging langsam zu einem anderen Wigwam. Sie sagte noch etwas auf indianisch, dann ging sie in den Wigwam. Die Hure hielt die Klappe ihres Wigwams offen. Will nickte, trank den Wein aus, bückte sich und ging hinein. In der Mitte brannte ein Feuer, er ging hin und hielt seine Hände an die Flammen. Der Rauch stieg nach oben und aus dem Loch in der Decke, oder wie immer sie das nannten. An einer der Stangen hingen ein bemalter Schild und zwei Lanzen. Der Erdboden war mit Büffelfellen bedeckt. »Wieviel wird mich das kosten?« fragte Will. Die Frau hielt einen Finger hoch. »Scheiße«, sagte er. »Dafür krieg ich eine weiße Frau.« Im Licht sah sie gar nicht schlecht aus. Auch nicht besonders gut. Braun wie jede andere Indianerin, die er gesehen hatte, trockene und gesprungene Lippen, eine wunde Stelle in einem Mundwinkel. Die Titten unter dem Elchkleid waren ganz ordentlich. »Ich werde dir einen halben Dollar geben«, sagte er. 183
Sie schüttelte den Kopf. »Dann zum Teufel damit«, sagte er und wandte sich zum Gehen, konnte aber die Klappe nicht finden, durch die er eingetreten war. »Also wo…«, sagte er und merkte, daß er die leere Weinflasche noch in der Hand hielt, und warf sie ärgerlich weg. Er tastete sich Hand über Hand rund um den Wigwam, berührte die warmen Lederwände und fand schließlich die Öffnung, bückte sich, um hinauszugehen, und spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Er blickte hoch. Sie nickte. »Ja«, sagte er und ließ die Klappe wieder fallen. Er richtete sich unsicher auf und hielt sich an einer der langen Stangen fest. »Ein halber Dollar, in Ordnung?« sagte er. Sie nickte wieder. »Du verstehst Englisch, wie?« sagte er. »Wie viele weiße Männer haben dich in deinem Leben gebumst, ha? Hast du diese Wunde von einem Weißen?« Sie berührte ihre Lippe und schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Wunde da?« Sie hob die Hände mit weit gespreizten Fingern, schüttelte sie und zugleich auch den Kopf. »Ich brauch' mir keine Sorgen zu machen, stimmt's?« sagte er. »Noch nie eine Hure getroffen, bei der ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Wo hab ich nur dieses verdammte…?« Er suchte in seiner Tasche nach einem Fünfzig-Cent-Stück, konnte aber keines finden und nahm eine Handvoll Kleingeld heraus. Er öffnete die Handfläche, hielt ihr die Geldstücke hin und sagte: »Vorwärts, nimm dir einen halben Dollar.« Sie nahm eine Münze aus seiner Hand. »So ist's recht«, sagte er und steckte das übrige Geld wieder in die Tasche. »Wie heißt du?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du's nicht auf englisch weißt, sag's auf indianisch!« Sie schüttelte wieder den Kopf. Er zog die Schultern hoch. Das erstemal in seinem Leben, daß er eine Hure nach ihrem Namen fragte und sie ihn nicht sagen woll184
te. Wieder zog er die Schultern hoch. Zum Teufel mit ihr, dachte er. »Ich heiße Will Chisholm«, sagte er. »Hol dich der Teufel. Hast du hier einen Mann vorbeireiten sehen auf einem Appaloosa?« Er begann zu lachen und ließ sich auf eines der Büffelfelle neben dem Feuer fallen. »Ah«, sagte er, »fein«, und schloß die Augen. »Hab' ihn in der ganzen Welt gesucht«, sagte er. »Allein in Carthage dreimal im Juni. Dreimal«, sagte er, öffnete die Augen und hielt ihr drei Finger entgegen. Sie stand neben dem Feuer. Sie hatte das Kleid ausgezogen. Ihr Gesicht, ihr Hals, ihre Arme, wo die Ärmel endeten, schienen dunkler als ihr übriger Körper zu sein. Bauch, Brüste und Beine schienen fast weiß im Feuerschein. »Den Mann, der mein Pferd stahl.« Sie zog erstaunt die Brauen hoch. »Bin auf der Suche nach ihm«, sagte er. Sie nickte und kam zu dem Fell. An ihren Beinen waren blaue Flecken, getrockneter Schorf. Sie war eine dreckige, indianische Hure, was zum Teufel suchte er in einem Zelt, das nach Hundescheiße und Indianerfett stank? Der Geruch der dicken Squaw hier auf dem Fell, auch der Geruch von der da mit ihrem Hurenlächeln im Gesicht, starr, gefroren; er hatte noch nie eine Hure gekannt, die nicht genau dieses Lächeln im Gesicht gehabt hätte. »Du kennst mich ja nicht einmal«, sagte er. Sie sah ihn merkwürdig an. »Wozu trägst du die Bemalung?« sagte er. »Guter Gott!« Sie erhob sich sofort und ging quer durch das Zelt zu einem Haufen Lappen neben einem aufgerichteten Travois. Sie begann kräftig an der Farbe zu reiben. Will ließ sich auf das Fell zurücksinken, seufzte schwer und legte den Handrücken über die geschlossenen Augen. »Immer war er fort«, sagte er. »Wir erzählten seiner Mutter, wir hätten Geld für ihn, das wir ihm schuldeten. Sie wußte, daß wir logen. Gideon mit seinem Engelsgesicht konnte aber die Witwe Hakkett nicht täuschen, nein. Er sagte: ›Wir schulden ihm Geld, Ma'am‹, dabei riß er seine blauen Augen groß auf, der gute alte Gideon, der 185
liebe Lügner«, sagte er und lachte laut. »Mein Bruder Gideon. Was treibst du dort? Reibst du dir die Farbe runter? Was zum Teufel…?« Er erhob sich auf einen Ellbogen und blickte zu ihr hinüber, während sie mit einem trockenen Lappen ihr Gesicht abrieb. »Sie nimmt die Farbe ab«, sagte er erstaunt und fiel wieder auf das Fell zurück. »Schlau wie ein Wiesel, die alte Dame. Ihr habt ihn gerade verfehlt, Jungs. War vor ungefähr einem Tag hier und ist jetzt eben fort. Schlau. Wir verfolgten ihn das erstemal tief ins Gebiet von Iowa – weißt du, wo das ist? Iowa? Hallo, du! Heda, Schöne!« rief er und lachte. »Weißt du, wo das Gebiet von Iowa ist?« Sie wandte sich verdutzt zu ihm um. Der Lappen in ihrer Hand war mit hell-blutroter Farbe bedeckt. »Ja, sicher weißt du's«, sagte er und lachte wieder. »Haben ihn auch dort wieder verloren und gingen zurück nach Carthage. Da steht wieder die alte Gänsemutter«, sagte er und lachte, »die alte Mutter Hackett in der Tür, die Hände an den Hüften. Also, Jungs, ich muß euch sagen, ihr habt ihn wieder verpaßt. Er war hier, und jetzt ist er fort. Warum gebt ihr nicht einfach mir das Geld, das ihr ihm schuldet. Ich sehe zu, daß er's bekommt. Sicher. Ganz sicher. Wieder fort – das wurde zu einer Gewohnheit, wie der Kirchgang am Sonntag. Weg von Carthage, zurück nach Carthage. Diesmal ging's nach Westen. Kennst du den Mississippi? Den Fluß. Du kennst Fluß? Wasser? Kanu – du kennst Kanu. Scheiße, nichts kennst du…« Wochenlanger Regen entlang dem Mississippi, Hütten voller Schlamm, andere völlig weggewaschen, Einrichtung zerschlagen, der Fluß ein Gewirr von treibenden Baumstämmen – wir konnten ihn auch in Illinois nicht finden, überquerten den Fluß wieder nach Iowa, suchten ihn dort. Wir verbrachten Wochen damit, durch Städte zu reisen, die aussahen, als wären sie in zehn Minuten aufgestellt worden. O ja, ein Mann auf einem Appaloosa ist hier vorbeigekommen, ganz sicher. Ja, schwarzes Haar und braune Augen, ganz in Blau gekleidet, das ist der Kerl. Zu spät. War hier und ist fort. Gideon wollte es noch einmal in Carthage versuchen. Wir ritten dorthin zurück, durch Städte, die alle gleich aussahen. Eines kannst du diesem Ame186
rika hier nicht vorwerfen: daß ein Ort anders aussieht als der andere. Diesmal wartet sie in der Tür mit einem Gewehr in den Händen. »Ist Ihr Sohn zurück gewesen, Ma'am?« frag' ich sie, und sie sagt: »Haut ab«, und schwenkt das Gewehr gegen uns. Die Indianerin stand neben ihm. Sie hatte sich die Farbe aus dem Gesicht gerieben und streckte sich nun neben ihm aus. Er nahm sie in die Arme. Er wollte sie nicht küssen, wegen der Wunde an ihrem Mund; er hatte nie eine Hure geküßt. Er berührte ihr Gesicht. Streichelte ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Die wunde Stelle war genau in ihrem Mundwinkel auf der rechten Seite ihres Gesichts. Sie hatte gesagt, er brauche sich darüber keine Sorgen zu machen. Er wollte sie aber doch nicht küssen, streichelte ihre Brustwarzen, streichelte sie unten. Strohtrocken, wie bei jeder Hure. Kein Gefühl, die Huren. Taten es für Geld, sonst nichts. Streichelte wieder ihre Backen. Fuhr ihr mit den Händen über den Rücken. Spürte – Befühlte noch mal ihren Rücken, verdutzt. Schob sie von sich weg, wälzte sie auf den Bauch. Ihr Rücken war bedeckt mit abgeheilten Striemen, dick wie Taue. Die Narben waren verzerrt und braun. Die Haut rundum war so weiß wie seine eigene. Am Morgen suchte er Orliac, konnte ihn aber nirgends im Fort und in der Umgebung finden. Statt dessen sprach er mit Orliacs erstem Angestellten, einem Mann namens Schwarzenbacher. Er war ein kleiner Blonder mit nervös zuckendem blonden Schnurrbart, blauen, ständig umherirrenden Augen, wachsam, auf der Hut, als erwarte er jeden Augenblick, daß Indianer das Fort angreifen würden. Will schätzte ihn auf etwa gleichaltrig wie Gideon, dreiundzwanzig, vielleicht ein bißchen älter. Er saß an seinem Schreibtisch und trug Zahlen in ein Hauptbuch ein. Als Will herankam, blickte er hoch. »Ich möchte Sie nicht stören«, sagte Will. »Keine Störung«, sagte Schwarzenbacher und lächelte. 187
»Ich wollte nur wissen, ob es hier jemand gibt, der Englisch und Indianisch spricht.« »An welche Art von Indianisch denken Sie?« fragte Schwarzenbacher, noch immer lächelnd. »Also, was meinen Sie?« »Es gibt verschiedene Indianersprachen.« »Ach so«, sagte Will. Auf die Idee war er nie gekommen. Er hatte sich vorgestellt, Indianisch sei Indianisch, und das verstünden sie alle. »Was reden die dort draußen?« fragte er. »Die vor dem Fort?« »Dort gibt es verschiedene Stämme«, sagte Schwarzenbacher. »Wollten Sie mit jemand Bestimmten sprechen?« »Also … ja.« »Ich spreche ein wenig Algonkin und Sioux; vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ist diese Person…« »Ich weiß nicht, was sie ist.« »Eine Frau. Ah.« »Ich glaube, daß sie in Wirklichkeit eine Weiße ist«, sagte Will. »Sie ist gekleidet wie eine Indianerin, und ihr Gesicht und ihre Arme sind braun, aber darunter ist sie…« »Sie meinen Catherine?« fragte Schwarzenbacher. »Ist das ihr Name?« »Die Hure?« »Nun … ja.« »Die heißt Catherine.« »Ist sie weiß?« »Ja, sie ist weiß.« »Ich dachte es mir, aber…« Er machte eine vage Gebärde. Er war an diesem Morgen erwacht, niemand war in dem Wigwam außer der dicken Squaw, die ihn von dem Büffelfell stieß. Ein ekelhafter alter gelber Hund knurrte ihn an, während er sich die Stiefel anzog. Er konnte sich nicht erinnern, ob er die Hure gebumst hatte, machte sich aber doch allmählich Sorgen wegen der wunden Stelle an ihrer Lippe. Deshalb sprach er jetzt mit diesem nervösen Schwarzenbacher, dessen Schnurrbart eine Meile in der Minute zurücklegte, 188
dessen Augen hin und her gingen und dessen Kopf von der Sonne beleuchtet wurde, als ob Gott ihn für ein Wunder auserkoren hätte. Er hatte geglaubt, sie sei weiß, war aber in der vorigen Nacht nicht mal seines eigenen Namens sicher gewesen, ganz zu schweigen von der Hautfarbe der Hure. Wenn sie aber wirklich weiß war … wenn sie verstanden hatte, was er sagte… »Sie hat mir nicht geantwortet«, sagte er verblüfft. »Sie sagte kein Wort.« Er starrte Schwarzenbacher ins Gesicht. »Warum denn?« »Sie hat keine Zunge«, sagte Schwarzenbacher. »Man hat ihr die Zunge herausgeschnitten.« »Wer hat das getan?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht die Ojibwas. Sie soll einige Zeit bei ihnen gelebt haben. Ich weiß, daß sie Algonkin versteht. Warum sind Sie so interessiert?« »Bin ich gar nicht«, sagte Will. »Ich wollte nur rausfinden, was die wunde Stelle an ihrer Lippe zu bedeuten hat.« »Wahrscheinlich die spanische Krankheit«, sagte Schwarzenbacher. »Glauben Sie das?« fragte Will. »Sie schläft oft mit Indianern, wissen Sie.« »Ach so.« »Sie ist eine gewöhnliche Hure.« »Ja. Verstehen Sie … ich dachte, wenn ich mit ihr reden könnte, könnte ich sie wegen der Wunde fragen.« »Also, sie versteht die Zeichensprache. Ich habe sie reden sehen mit…« »Denn ich möchte wirklich herausfinden, ob sie etwas hat.« »Ich verstehe.« »Ich habe eine Medizin, die ich in Texas gekauft habe…« »Ich würde Ihnen raten, sie zu gebrauchen«, sagte Schwarzenbacher. »Also, man soll sie nicht leichtfertig verwenden«, sagte Will. »Sie brennt wie der Teufel, schlimmer als die Krankheit, wenn Sie's wissen wollen. Deshalb dachte ich, wenn ich mit ihr reden könnte…« 189
»Sie werden es ohnedies früh genug herausfinden, nicht?« sagte Schwarzenbacher. »Nun … sicher. Bestimmt. Wenn … gewiß.« »Wenn es anfängt zu tropfen«, sagte Schwarzenbacher. »Sicher. Ich dachte bloß…« Will zog die Schultern hoch. »Natürlich, wenn es Sie beruhigen würde…« »Ja?« »Ich verstehe tatsächlich die Gebärden, die bei den verschiedenen Stämmen auf der Prärie allgemein als Sprachersatz verwendet werden…« »Ja?« »Und wenn Sie wollen, daß ich…« »Ich will«, sagte Will. »Ja. Ja, gerne. Danke. Das möchte ich.« Sie saß mit gekreuzten Beinen vor dem Wigwam, als sie hinkamen. Die fette Squaw warf einem halben Dutzend Hunden Fleischstücke hin. Jedesmal, wenn ein Stück geworfen wurde, sprangen die Hunde in die Luft. Die Squaw erblickte Will als erste. Sie rief Catherine etwas zu, die sofort hochblickte und lächelte. Sie sah indianischer aus als die verdammte Squaw. Ihr schwarzes, glänzendes Haar, ihre fast ebenso schwarzen Augen, wieder die rote Farbe auf ihren Wangen; ging sie irgendwohin auf den Kriegspfad? Schwarze Strümpfe hingen an ihren Knien nach unten; wahrscheinlich hatte sie sie oder sich überhaupt schon seit Monaten nicht mehr gewaschen. Mein Gott, hatte er wirklich seinen Pimmel da reingesteckt? »Ich muß mit dir sprechen«, sagte er. Die Squaw stellte den leeren Eimer nieder. Die Hände an den Hüften, sah sie zu. Rund um sie fraßen die Hunde, knurrten, wenn ein anderer zu nahe kam. Fliegen summten um den Eimer. Catherine zeigte noch immer ihr starres Lächeln. Die Squaw nickte ihr ermutigend zu. Plötzlich fragte sich Will, wieviel Catherine von den fünfzig Cents gestern nacht hatte behalten können.
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»Ich möchte dich wegen der Wunde an deiner Lippe fragen«, sagte er. »Ist es…?« Sie schüttelte den Kopf. »Dieser Mann hier versteht die Zeichensprache. Ich hätte gern, daß du ihm erzählst, wo du sie bekommen hast und wie lang du sie schon hast.« Catherine nickte. Die Squaw sah noch immer zu, die Hände an den Hüften. Catherine fing an, ihre Hände zu bewegen. »Das ist das Zeichen für Feuer«, sagte Schwarzenbacher. »Ah«, sagte er nickend, »sie sagt, es ist eine Brandwunde.« Unaufgefordert begann die Squaw Schwarzenbacher in einer Sprache, die er vermutlich verstand, etwas zu erklären. Catherines Hände bewegten sich weiter. Schwarzenbacher beobachtete ihre Hände und hörte zugleich der Squaw zu. »Ja, es scheint wahr zu sein«, sagte er. »Heißes Fett von einem Kessel. Das an ihrer Lippe ist eine Verbrennung.« »Also, das ist gut«, sagte Will. »Ich bin wirklich froh, daß…« »Natürlich könnte die Squaw lügen«, sagte Schwarzenbacher sofort. »Ja, aber –« »Die lügen jede Menge.« »Ja.« »Aber vielleicht sagt sie die Wahrheit.« »Ja«, sagte Will und seufzte schwer. »Ich nehme an, sie sagt die Wahrheit«, meinte Schwarzenbacher. Catherine nickte. Sie nickte Will zu, sie nickte Schwarzenbacher zu. Auch die Squaw nickte. Jetzt nickten sie beide. Catherine lächelte ihr Hurenlächeln. Die Squaw blickte Will Anerkennung heischend an. »Fragen Sie sie nach ihrem Familiennamen«, sagte Will. »Sie hört tadellos, wissen Sie«, sagte Schwarzenbacher. »Wie lautet dein Familienname?« Dafür gab es kein Wort in ihrer Zeichensprache. Sie hob die Hände und blickte Schwarzenbacher ratlos an. 191
»Woher kommst du?« fragte Will. Ihre Hände bewegten sich. Fingerspitzen aneinander, so daß sie ein Dreieck bildeten… »Wigwam«, sagte Schwarzenbacher. Die Arme bildeten einen Kreis… »Nein, Lager. Ah, Dorf. Ja, Dorf.« Er beobachtete ihre Hände. Ein Dorf im Norden. Die Squaw sagte etwas. Schwarzenbacher wandte für einen Moment den Kopf ab. »Ein Ojibwadorf im Norden«, sagte er zu Will, nickte und betrachtete wieder Catherines Hände. Sie machte jetzt das Zeichen für Frühling, buchstäblich ›kleines Gras‹, die Hände auswärts mit den Handflächen nach oben, die rechte Hand bewegte sich vor ihrem Körper, die Finger schlossen sich langsam, bis nur der Zeigefinger ein wenig höher war als die anderen. »Sie sagt, sie ging im Frühjahr von dort weg, das dürfte so ziemlich stimmen«, sagte Schwarzenbacher. »Sie kam irgendwann im Mai hierher.« Er blickte wieder auf ihre Hände. Sie kreuzte ihre Arme über ihren Brüsten, das Zeichen für Liebe. Sie faltete ihre Hände vor dem Körper, das Zeichen für Frieden. Sie machte die Gestenverbindung, die Sonne im Herzen bedeutete. »Sie war dort sehr glücklich«, sagte Schwarzenbacher. »Warum ging sie dann fort?« fragte Will. Ihre Hände bewegten sich. »Ihr Mann starb«, sagte Schwarzenbacher. Es war kurz vor Mitternacht, als er wieder zum Lager hinunterging. Er ging auf den Zehenspitzen hindurch, als ob er auf einem Friedhof wäre. Die verdammten Wigwams sahen im Dunkel alle gleich aus. Endlich fand er den, von dem er annahm, er gehöre Catherine. Keine Tür, um anzuklopfen. Wie zum Teufel teilte man jemandem mit, daß man da draußen in der Kälte stand? Er hatte wieder eine Menge getrunken. Diesmal nicht Orliacs Wein, sondern den guten
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Maisschnaps seines Vaters. Er mußte blau sein, um auch nur daran zu denken, eine solche Sau wie die da zu bumsen. »Hallo, jemand daheim?« rief er. Ein Hund begann zu bellen. Will zog sein mexikanisches Messer aus der Scheide an seinem Gürtel. Wenn der verdammte Hund da rauskam, würde er ihm die Kehle durchschneiden. Weiter unten fing jemand an, auf indianisch zu schreien. »Halt's Maul«, brummte Will. Die dicke Squaw steckte den Kopf heraus und runzelte die Stirn. Dann sah sie, daß es Will war, und sie sah auch das Messer. »Komm raus da«, sagte er. Sie nickte und kam sofort lächelnd heraus. Sie war halbnackt, trug nur eine lederne Kniehose, die wie eine Pumphose aussah, mußte einmal einem dicken alten Indianerkrieger gehört haben. Die Kniehose, und ein Band mit Perlen um die Stirn. Sonst hatte sie nichts an. Ihre Titten hingen bis zur Taille hinunter, eine wahre Pracht, das große Los. »Wo ist Catherine?« fragte er. Sie nickte und ging zurück in den Wigwam. Er hörte, wie sie dort drinnen etwas sagte, dann wurde ihre Stimme lauter und etwas gereizt. Catherine kam gähnend heraus, in eine Art Armeedecke gehüllt. »Hallo, wie geht's dir?« sagte Will und grinste. Sie erwiderte sein Grinsen. Das starre Hurenlächeln. Die Farbe war noch auf ihren Wangen. Sie schlief ja sogar mit der Scheißfarbe auf den Wangen! Sie streckte die Hand aus. »Kein Geld mehr«, sagte er. »M-mm.« Die Squaw kam wieder aus dem Wigwam. Sie trug einen Mantel über der Hose, sie war also angezogen, um in den nächsten Wigwam zu gehen. »Erklär deiner Freundin dort«, sagte Will, »es gibt kein Geld mehr. Ich habe Essen für dich.«
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Catherine drehte sich zu der Squaw um und sprach mit den Händen zu ihr. Die Squaw wandte sich Will zu. Sie runzelte wieder die Stirn. »Schon gut, du Fettsack«, sagte Will. »Da, schau her.« Er langte in seine Jackentasche. »Getrocknetes Büffelfleisch. Sehr gut.« Er griff in eine andere Tasche. »Steckrüben. Rohe Steckrüben.« Sie warteten. »Das wär's«, sagte er. »Sonst gibt es nichts.« Die Squaw blickte ihn noch immer finster an. Sie nahm Catherine beiseite und flüsterte ihr etwas zu. Catherine nickte. Die Squaw nickte. »Da wird eine große Transaktion abgeschlossen«, sagte Will. Dann kam die Squaw zu ihm und nahm ihm das Fleisch und die Rüben aus den Händen. Catherine schlug die Zeltklappe zurück, und Will ging hinein. Das Feuer brannte noch, aber nur spärlich. Er nahm ein Scheit von einem aufgestapelten Stoß und legte es auf die glimmende Asche, dann fachte er das Feuer mit seinem Hut zu helleren Flammen an. »Komm da herüber«, sagte er. Sie kam zum Feuer. »Laß mich diese Wunde noch mal ansehen«, sagte er. Sie kniete neben dem Feuer nieder. Er nahm ihr Kinn in seine hohle Hand und betrachtete ihre Lippe genau. »Ja, ich glaub's dir«, sagte er zweifelnd. Er ließ ihr Kinn los, ging zu dem Büffelfell, ließ sich darauffallen und begann seine Stiefel auszuziehen. Sie stand noch neben dem Feuer, in die Armeedecke gehüllt. Er hätte gern gewußt, mit wie vielen Soldaten sie für diese Decke hatte ficken müssen. »Wer ist die Squaw?« fragte er. »Dein Manager?« Ihre Hände kamen unter der Decke hervor. Die Decke hing auf ihren Schultern, offen über ihren nackten Brüsten. Ihre Hände bewegten sich im Feuerschein, Schatten tanzten. Er verstand kein Scheißwort von dem, was sie sagen wollte. »Kannst du schreiben?« fragte er. Sie nickte. 194
»Ich werde dir was zum Schreiben bringen«, sagte er. »Morgen.« Die Pappel war enorm. Wahrscheinlich stand sie schon seit hundert Jahren hier am Flußufer. Sie saßen nebeneinander unter dem Baum, geschützt vor der heißen Julisonne. Will hatte sich aus der Küche ein Schneidbrett geliehen, das lag nun auf ihren Knien. Mit der linken Hand hielt sie darauf ein Dutzend Blatt Schreibpapier fest, in der rechten hielt sie einen Drehbleistift, den er sich von Schwarzenbacher geliehen hatte. »Du schreibst immer nur die Antworten auf, ja?« sagte er. Sie nickte. »Also gut. Wie lautet dein voller Name?« Sie schrieb ›Catherine Parrish‹. Darunter schrieb sie ›Kewedinok‹. Und wieder darunter ›Frau vom Wind‹. »Frau vom Wind?« fragte er. Sie nickte. »Das bedeutet also… Kewe… Ke… wie immer du es aussprichst? Heißt das ›Frau vom Wind‹?« Sie nickte wieder. »Also…«, sagte er und sah sich noch mal das an, was sie geschrieben hatte. »Wo bist du geboren, Catherine?« »Boston«, schrieb sie. »Wie kamst du hierher?« »Ich kam mit meinem Vater und Bruder nach Westen.« »Wann?« »1837.« »Wie alt warst du?« »14.« »Das heißt, du … du bist einundzwanzig, nicht wahr?« »Im Oktober«, schrieb sie.
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»Du hattest also einen Indianer zum Mann, ha? Wie ist das passiert? Ich meine, wo hast du einen Indianer kennengelernt … um ihn zu heiraten? Verstehst du, was ich sage?« »Danach«, schrieb sie. »Nach was?« fragte er. »Trapper.« »Trapper?« sagte er. »Versteh' ich nicht. Waren dein Vater und dein Bruder Trapper?« Sie schüttelte den Kopf. »Allein«, schrieb sie. »Ließen mich allein. Trapper kamen.« Sie waren auf die Jagd gegangen, hofften im Wald in der Umgebung Wild zu finden. Doch die Nachmittagsschatten wurden länger, und sie war noch immer allein im Wagen, begann sich zu fürchten. Sie hörte das Geräusch von Pferdehufen, dachte zuerst, es seien Vater und Bruder, die zurückkamen. Stimmen. Berittene Männer kamen aus dem Wald. Sechs. Der auf dem ersten Pferd hatte eine Klappe über dem rechten Auge. Aus schwarzem Leder. Sie brauchten kaum eine Minute, um sich klar zu sein, daß sie allein in der Wildnis war. Der mit der Augenklappe schleppte sie aus dem Wagen. Sie bat ihn aufzuhören, bettelte ihn, doch er drückte sie weiter an sich und küßte sie, sprach Französisch zu ihr und sagte immer wieder: »Je t'adore.« Diese Worte vergaß sie nie, obwohl sie kein Französisch verstand. Er vergewaltigte sie, sie schrie vor Schmerz. Die anderen lachten. Dann nahmen sie sie nacheinander, die anderen fünf, dann noch einmal der mit der Augenklappe. Sie lag blutend auf der Erde. Sie hörte, wie sie miteinander auf französisch sprachen. Ihre Stimmen klangen besorgt. Der mit der Klappe kam zu ihr, drückte mit der Hand stark auf ihr Kinn und sagte ihr etwas. Sie wußte, es war eine Warnung. Sie nickte. Ja. Bitte. Ja. Geht. Geht fort. Bitte. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel. Er zwang sie, den Mund zu öffnen. ›Und er schnitt mir die Zunge heraus.‹
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Ihre Hand bebte nicht, als sie das schrieb. Ihre Augen waren trokken. Sie saß steif unter der Pappel, und der Bleistift kratzte in der Stille. Im Fluß sprang ein Fisch. Die Krieger, die sie später im Wald fanden, halb irr und verhungert, waren eine Abteilung von acht Ojibwa-Kriegern, weit weg von daheim auf der Suche nach Pferden und Skalps. Sie schienen beides bekommen zu haben, wenn auch nicht die Art von ›geringeren Feinden‹, die sie suchten; das waren keine Dakotapferde, die sie mitführten, sechs Stück mit Ledersätteln. Catherine erkannte sie sofort als die der Trapper wieder, die sie vergewaltigt hatten. An den Gürteln der Krieger hingen frische, blutige Skalps. Fast wäre sie bei deren Anblick in Ohnmacht gefallen, obwohl sie selbst noch blutete – vom Mund, aus dem ihre Zunge geschnitten worden war, und am Unterleib, wo die Trapper sie brutal verletzt hatten. Der Anführer der Kriegerabteilung warf sie über seinen Sattel und ritt mit ihr in sein Dorf, wo sie die zweite Frau in seinem Wigwam wurde. Dort war sie glücklich, bis er später im Kampf getötet wurde. Dann nahm sein Bruder nicht nur Catherine, sondern auch die andere Frau in seinen Besitz. »Ist das die Squaw, mit der du jetzt lebst?« fragte Will. Sie nickte. »Von wem stammen die Wunden auf deinem Rücken. Wer hat dich geschlagen, Catherine?« »Bruder«, schrieb sie. »Dein Bruder? Ich dachte…« Sie schüttelte den Kopf. »Mann-Bruder.« »Dein Schwager, meinst du? Also der, welcher…« Sie nickte. »Und du gingst im Frühling fort, nicht wahr? Ihr beide, du und die Squaw. Der Schweinehund ließ euch fort?« ›Tot, Große Schlacht‹, schrieb sie. ›Dakotas.‹ »Und so kamst du hierher?« Sie nickte. 197
Auf das Papier schrieb sie: ›Es ist eine Brandwunde, keine Angst.‹ »Ich wünschte, ich könnte es so machen wie du«, sagte Gideon. »Mich vollaufen lassen und es auf diese Weise aus meinem Kopf kriegen.« »Es hilft einem nichts«, sagte Will. Sie saßen hoch über dem Fort, mit dem Fluß im Rücken, das Indianerdorf weiter unten. Es war der erste August. Sie waren nun seit drei Tagen und drei Nächten im Fort, hatten aber noch nicht miteinander darüber gesprochen, was sie hier erwartet hatte, als sie ankamen. Es lag eine erstaunliche Kühle in der frühen Morgenluft, und Will hockte dort in seinem Mantel, die Arme über der Brust verschränkt, den Rücken am Felsenrand hinter sich. »Es sieht gar nicht mehr aus, als wären das wir«, sagte Gideon. »Ich weiß.« »Ohne sie, meine ich. Es scheint nicht mehr die Familie zu sein, Will.« »Wird nie mehr die Familie sein, Gid«, sagte er. »Jedenfalls nicht mehr dieselbe Familie.« »Wenn wir sie nur dazu bringen könnten, weiterzufahren«, sagte Gideon. »Ich habe das Gefühl, das hier ist nicht gut für sie. Zu viele verdammte Indianer hier. Das erinnert sie die ganze Zeit an das, was geschehen ist. Meinst du nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Will. »Wir könnten es noch vor dem Winter bis Fort Hall schaffen, oder?« »Ich nehme es an. Es würde aber schwierig sein, sie auf den Weg zu bringen. Pa hat der Regierung schon geschrieben, daß er hundertfünfundzwanzig Hektar am Fluß kaufen will. Er beabsichtigt, sich hier niederzulassen, bis er Antwort bekommt. Da wird ein Häuschen gebaut, ehe du dich's versiehst, Gid.« »Will…«, sagte Gideon und zögerte. »Ich würde nicht davon sprechen, wenn ich nicht der Meinung wäre, daß sie hier sicher sind. Aber sie sind jetzt in die leere Wohnung eingezogen und könnten 198
dort bleiben, bis das Haus gebaut ist, Will. Ich sehe gar nicht ein, wozu wir hier gebraucht werden. Und du?« »Pa wird Hilfe brauchen, um das Haus zu bauen.« »Bobbo ist schon ein Mann.« »Dennoch…« »Will, ich weiß nicht genau, wie ich das sagen soll, aber ich glaube, du und ich, wir sind spät in diese Sache hineingekommen und werden uns wahrscheinlich länger grämen. Ich weiß, es ist nicht die richtige Art und Weise, es zu sagen. Nachts weine ich die ganze Zeit, Will. Ich liege auf dem Büffelfell und weine einfach. Denn ich hatte sie sehr lieb.« »Ja«, sagte Will und nickte. »Und ich glaube, wir werden die anderen behindern. Ich glaube, sie haben dadurch, daß sie es erlebt haben, eine Art Frieden innerlich damit abgeschlossen, Will. Bei mir ist es noch nicht soweit, und ich glaube, bei dir auch nicht.« »Nein, bei mir auch nicht.« »Ich würde vorschlagen, wir reiten voraus und treffen die anderen nächstes Jahr in Kalifornien, wenn sie Lust haben, uns nachzukommen.« »Ich glaube, wenn das Haus erst einmal steht, bleiben sie hier.« »Das wäre nur ein Grund mehr für uns, jetzt gleich loszuziehen. Willst du hierbleiben?« »Nein, eigentlich nicht«, sagte Will. Aber er dachte an Catherine und fragte sich, weshalb er sich wegen einer Hure Sorgen machte. Wenn man das tat, fand er, dann war es wirklich an der Zeit, abzuhauen. Er mußte sich dauernd sagen, sie war eine Hure. Er wußte, daß es so war, verdammt, aber er mußte sich dennoch selbst immerzu daran erinnern. Catherine Parrish – ›Frau vom Wind‹ – zum Teufel, wer immer – war eine Hure, die sich mit jedem hinlegte, der das Geld hatte. Seemann, Kriegsmann, Indianerhäuptling, schmeiß ihr'n paar Stück Fleisch hin und sie wälzt sich für dich auf den Rükken. Sie war eine Hure, das ließ sich nicht bestreiten. Es war an der Zeit, von hier zu verschwinden, nach Westen, wie Gideon sagte. 199
»Mir scheint, die Indianer draußen haben Schwierigkeiten genug, Nahrung aufzutreiben, und werden sich nicht damit abgeben, jemanden auf dem Weg nach Fort Hall zu belästigen.« »Also, wenn man Orliac glaubt…« »Du hast mit ihm gesprochen, wie?« sagte Gideon. »Ich hab ihm ein paar Fragen gestellt.« »Was hat er gesagt?« »In bezug worauf?« »Darüber, ob…« »Ob die Indianer zwischen hier und Fort Hall bösartig sind? Er sagte, ja, das sind sie.« »Mir sagte er das gleiche. Glaubst du das?« »Also, die hier in Laramie scheinen in Ordnung zu sein, und von denen sind doch viele Sioux, oder?« »Ich verstehe diesen ganzen Indianermist nicht. Verstehst du ihn?« »Nein, ich verstehe ihn auch nicht«, sagte Will. Er verstand den Indianermist nicht und den Weißenmist ebensowenig. Hurensöhne, es geschah ihnen recht, daß sie nachher skalpiert wurden. Hätte sie selbst skalpiert, wenn er sie getroffen hätte. Schlimm genug, daß sie sie vergewaltigt hatten, ihr aber dann noch die Zunge herauszuschneiden – mein Gott! Vierzehn Jahre war sie alt, man würde doch glauben, ihr Vater und Bruder würden nicht so dumm sein, sie allein zu lassen. Zumindest einer von ihnen hätte doch bei ihr bleiben können. Hätten nicht die Trapper sie erwischt, so wären es die Indianer gewesen. Sie bekamen sie ohnedies in die Hand, ein Indianer warf sie auf sein Pferd und nahm sie nach Hause mit, wo er bereits eine andere Frau hatte. Verdammte Scheiße, eine Squaw war sie gewesen, ungeachtet des Unsinns mit der ›Frau vom Wind‹. Aus der Ferne sah er den Reiter näherkommen. Er kam von Osten, hatte die Sonne im Rücken und ritt so in einem schimmernden Dunst. Er trug eine Pelzmütze wie Dave Crockett auf den Bildern, die zeigten, wie er bei Alamo getötet wurde, und eine Lederhose wie Dan'l Boone. Er hatte langes schwarzes Haar und einen schwar200
zen Bart. Will hätte ihn nicht erkannt, wenn nicht der Appaloosa gewesen wäre, auf dem er ritt, ein ganz auffallend gefleckter Wallach, sechzehn Faust hoch, mit schwarzen Leopardenflecken. Er schob sich vom Felsrand hoch und lief den Hügel hinab, seine Absätze in den Grund bohrend, mit schwingenden Armen, wie ein großer Vogel. Gideon war knapp hinter ihm. Er verlor den Hut, blieb aber nicht stehen, um ihn aufzuheben, sondern rannte weiter hinter Will holterdiepolter quer durch das Indianerlager. Hunde rannten ihnen nach und schnappten nach ihren Fersen. Lester Hackett ritt, ohne etwas zu merken, gemächlich zum Haupteingang des Forts. Sie kamen schnaufend hinter dem Wallach her, und Lester hörte die kläffenden Hunde einen Augenblick zu spät. Will kam an der einen Seite des Pferdes heran, Gideon an der anderen. Lester versuchte, das Pferd vorwärtszutreiben, doch Will packte ihn im Sattel und riß ihn zu Boden. Das Pferd bäumte sich auf und schwenkte erschrocken zur Fortmauer ab. Geduckt im Staub zog Lester einen Dolch aus der Scheide. Er sprang aus der geduckten Stellung auf Will los, da stieß ihm Gideon von hinten den Fuß an den Kopf. Lester lag flach ausgestreckt im Staub. Gideon trat ihm auf die Hand und bohrte seinen Absatz in den Handrücken. Lester schrie und ließ den Dolch los. Will kam auf ihn los. Lester sprang auf und lief zu seinem Pferd. Beinahe hätte er das Gewehr erwischt, da faßte ihn Will von hinten, eine Hand am Kragen des Lederhemdes. Lester fiel auf den Rücken, und Gideon versetzte ihm wieder einen Tritt, diesmal in den Brustkorb. Lester spürte noch einen Tritt, der Schweinehund wußte nichts Besseres zu tun, als mit den Füßen zu kämpfen. Will zwängte eine Hand in die Brust seines Lederhemdes und hob ihn vom Boden hoch. Jetzt hatten sie ihn beide gefaßt, einer auf jeder Seite, und schleppten ihn zur Fortmauer. Heiliger Jesus, sie würden – o Gott – seinen Kopf wie einen Rammbock gegen die Lehmziegel schlagen. »Heda, hört mal«, sagte er, und plötzlich drehten sie ihn um, stellten ihn an die Mauer und begannen ihn in Gesicht und Brust zu 201
schlagen. Lester Hackett war bewußtlos, als sie ihn ins Fort schleppten und Orliac sagten, er sei der Pferdedieb. Sie schlossen ihn in einem Lagerraum auf der Galerie ein. Dorthin kam sie am nächsten Tag, um mit ihm zu reden. In dem Raum wurden Fäßchen und Tonnen, aufgeschichtete Holzkisten, ausgebauchte Hanfsäcke und Büffelfell aufbewahrt. Ein einziges Fenster ging auf den Hof, und vor diesem Fenster stand die ganze Zeit, während sie miteinander sprachen, ein Mann mit einem Gewehr. Bonnie Sue nahm an, daß er jedes Wort hörte, das sie sagten. Lester sagte: »Ach, es ist schön, dich wiederzusehen, Bonnie Sue«, und breitete die Arme aus, um sie aufzunehmen. Doch sie blieb stehen, wo sie war, knapp hinter der von außen abgeschlossenen Tür, blickte ihn an und versuchte, durch den Bart hindurch das Gesicht zu erkennen, das sie kannte und liebte. Er schien älter als in ihrer Erinnerung. Sie selbst war sechzehn geworden, seit sie ihn zum letztenmal gesehen hatte, ihr Geburtstag fiel auf den zwölften Juli, damals war Annabel dem Tode nahe, und keiner hatte im Traum daran gedacht, Bonnie Sues Geburtstag zu feiern. Sie dachte, sie würde ihm sagen, daß sie jetzt sechzehn war, und ihm auch das Geheimnis erzählen, das er bestimmt erfahren sollte. Sie sagte ihm jedoch weder das eine noch das andere. »Du bist plötzlich fortgegangen«, sagte sie. »Das stimmt«, antwortete er. »Und hast Wills Pferd mitgenommen.« »Stimmt«, sagte er. »Dafür wird man dich hängen.« »Ich habe das Pferd nicht gestohlen«, sagte er. »Ach, wirklich nicht? Sie scheinen zu glauben, du hast es gestohlen.« »Ich ritt Straßenräubern nach.« »Und hast du sie gefunden?« fragte sie. »Du hast mir gefehlt, Bonnie Sue«, sagte er und öffnete wieder die Arme. Sie ging nicht zu ihm. »Ich dachte in diesen zwei Mo202
naten oft an dich. Ich wußte, daß deine Brüder hinter mir her waren; meine Mutter erzählte mir von ihren Besuchen. Und ich wußte, daß sie dachten, ich hätte den Appaloosa gestohlen, aber ich hatte keine Möglichkeit, ihnen zu sagen…« »Du hast ihn gestohlen, Lester«, sagte sie fest. Ihre Blicke trafen sich. »Sicher habe ich ihn gestohlen«, sagte er. »Warum?« »Weil ich nach Carthage mußte und ein Pferd brauchte, um hinzukommen.« »Du sagtest, du hättest Freunde in St. Louis, die…« »Nirgends habe ich Freunde«, sagte er. »Nicht einmal hier, obwohl ich hoffte, hier würde mich jemand lieben.« »Nicht ich«, sagte sie. »Ich nehme an, du nicht«, antwortete er. »Sie werden dich hängen«, sagte sie. »Das Pferd hat unser Zeichen eingebrannt und die Ohrmarke. Du warst ein Narr, hierherzukommen.« »Ich dachte, ihr würdet längst fort sein. Ich wußte, daß ich deinen Brüdern entkommen war…« »Wohin willst du denn?« »Nach Kalifornien«, sagte er und grinste. »Dort will ich mein Glück machen.« »Aha, dein Glück«, sagte sie. »Man wird dich bestimmt hängen.« »Dann wird man mich hängen«, sagte er, und sie wäre in diesem Moment beinahe zu ihm gegangen, doch sie schob es noch hinaus. »Würde es dir etwas ausmachen, Bonnie Sue? Würde es dir leid tun?« »Warum bist du von mir fortgelaufen?« fragte sie. »Ich hatte Angst.« »Wovor?« »Dich zu lieben«, sagte er. »Ich bin doppelt so alt wie du.«
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»Ich bin jetzt sechzehn«, sagte sie. Und fast hätte sie ihm das andere auch gesagt. Tat es aber nicht. Konnte nicht. Konnte sich nicht dazu entschließen. »Sechzehn«, sagte er. »Lester, hast du schon die ganze Zeit vorgehabt, Wills Pferd zu stehlen?« »Es waren Geräusche, die ich in der Nacht hörte. Ich sprang auf den Pferderücken und ritt davon, um nachzusehen, was es damit auf sich hatte. Ich nahm auch mein Gewehr mit, für den Fall, daß der Lärm, den ich hörte…« »Eben erst sagtest du mir, du hättest das Pferd gestohlen.« »Ja«, sagte er, »aber das war ein Geheimnis zwischen Liebenden, nicht für die Ohren jener bestimmt, die mich hängen würden.« »Wir sind jetzt keine Liebenden«, sagte sie. »Wir sind Mann und Frau, die hier stehen, mit nichts zwischen uns als das, was vor langer Zeit geschah.« »Bist du dessen sicher, Bonnie Sue?« »So sicher wie meines eigenen Namens.« »Dann gibt es wenig zu sagen außer Lebewohl. Willst du mir einen Abschiedskuß geben, Liebste? Willst du mir gestatten, dich noch einmal in die Arme zu nehmen, bevor…« »Hör auf damit«, sagte sie. »Ich bin nicht mehr die Närrin, die ich war.« »Und ich werde nicht mehr der Mann sein, der ich war, wenn die Sonne untergeht. Du wirst mich beim Fluß hängend finden, ich werde im Wind baumeln. Die Indianer werden sich über das Ganze wundern. Sie werden fragen, welches Verbrechen ich begangen habe, und wenn man ihnen sagt, ich habe ein Pferd gestohlen, werden sie sich über die Bräuche des weißen Mannes wundern. Die Indianer glauben, daß das Stehlen von Pferden bei einem Feind eine Ehre ist. Doch es wird ein Mann an einem Baum hängen, der…« »Mein Bruder war nicht dein Feind. Du hättest sein Pferd nicht zu stehlen brauchen. Wenn du es so dringend brauchtest, hätte er es dir gegeben.« 204
»Ja, bestimmt.« »Du kennst Will nicht.« »Ich kenne seine Schwester, sie verweigert mir jetzt die letzte Chance, diesen Tag noch zu überleben.« »Ich verweigere dir nichts.« »Du weigerst dich, ihnen zu sagen, was du in der Nacht sahst und hörtest, in der ich floh – oder zu fliehen schien.« »Du bist tatsächlich geflohen.« »Ich jagte Stimmen nach, die ich hörte.« »Es gab keine Stimmen…« »Es sei denn, du schwörst, daß es sie gab.« »Keine Stimmen außer deiner und meiner.« »Du hörtest, was ich hörte, Bonnie Sue. Stimmen, die von Straßenräubern stammen konnten. Du hörtest sie.« »Ich hörte nur einen Lügner, der mir erzählte, er liebe mich.« »Das stimmte.« »Sicher. Liebtest mich so innig, daß du am Morgen davongingst. Wirklich die wahre Liebe.« »Laß mich dich küssen, Bonnie Sue.« »Lieber würde ich eine Schlange küssen.« »Laß mich dich berühren.« »Nein«, sagte sie, ließ sich aber von ihm in die Arme nehmen. Er zog sie eng an sich und küßte ihr Gesicht. Sie erinnerte sich an jene Juninacht und sank ihm plötzlich kraftlos in die Arme. Seine Lippen berührten leise die ihren, seine Hände griffen sofort an ihre Taille, die gespreizten Finger umspannten ihren Bauch. Sie löste ihren Mund von dem seinen und flüsterte: »Lester…«, während er sie auf eines der Büffelfelle niederzog. Dann wandte sie ängstlich den Kopf hinüber zum Fenster des Raumes, da sie befürchtete, daß der Wachposten zusah. Doch das Büffelfell lag in einem Teil des Raumes außerhalb seiner Sicht; er hätte sie nicht sehen können, es sei denn, er steckte den Kopf ganz in die schmale Öffnung. Lester hatte bereits ihren Rock über ihre Taille nach oben geschoben, und zog ihr die Unterhose über ihren gerundeten Bauch nach unten. Sie frag205
te sich, ob er sie hier ebenso zart auf den Boden legen werde, wie er sie in jener Nacht auf den Waldboden gelegt hatte. »Lüge für mich«, flüsterte er. »Nein«, erwiderte sie, war aber kaum sicher, daß das Wort neben ihrem eigenen heiseren Keuchen vernehmbar war. Sie versuchte sich gegen ihn zu verschließen und preßte ihre Schenkel zusammen, damit er ihr die Unterhose nicht ganz hinunterziehen konnte. Statt dessen zerfetzte er sie, riß sie in der Mitte auseinander, so daß sie nun an jedem Oberschenkel und jeder Hinterbacke eine Hälfte trug, aber nichts dazwischen. Er sagte, was er in jener Nacht vor St. Louis gesagt hatte: »Mach auf«, und sie antwortete, »Nein, verdammt!«, denn wenn sie aufmachte, war sie verloren. Er packte sie, wo der Stoff ihrer Beinkleider noch um jeden Schenkel hing, und spreizte sie mit Gewalt. Sie spürte seine Hand auf ihrem nackten Fleisch dazwischen, seine Finger teilten sanft ihre Schamlippen. »Lüg für mich«, sagte er wieder, und sie schüttelte den Kopf, und er sagte, »Lüg für mich, Bonnie Sue«, und sie spürte sein mächtiges Ding, das Einlaß forderte, öffnete sich weit, um ihn aufzunehmen, und sagte »Ja« und dachte, sie hörte die Wache husten oder lachen, aber das war ihr nun egal. Es war Orliacs Idee, den Prozeß im Hof des Forts abzuhalten, wo alle – auch die Indianer – das Verfahren sehen und hören konnten. »Ein Gerichtshof auf einem Hof«, sagte er und zwinkerte Will zu, der an der Sache nichts amüsant fand. Lester Hackett war des Pferdediebstahls angeklagt. Vor siebzig Jahren, vor der Unabhängigkeitserklärung, wäre ein Mann, der eines solchen Verbrechens überführt wurde, vielleicht so nachsichtig behandelt worden, als lebte er noch im Mutterland. Man hätte seine Ohren an ein Brett genagelt, auf die eine Wange den Buchstaben P, auf die andere den Buchstaben D gebrannt. Jetzt gab es für Pferdediebe keine so freundliche Rücksichtnahme.
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Es gab drei Richter bei der Verhandlung im Hof – Orliac selbst, Schwarzenbacher und einen Trapper namens Sebilleau, der weder lesen noch schreiben konnte. Man hatte aus einer der Erdgeschoßwohnungen einen langen Tisch gebracht, hinter dem jetzt die drei Amtspersonen saßen, die den Vorsitz führten; der Angeklagte und sein Ankläger saßen nebeneinander vor ihnen auf einer roh behauenen Holzbank. Der Hof und die um das obere Stockwerk des Forts laufende Galerie waren mit Leuten der Pelzgesellschaft besetzt, die begierig darauf warteten, welche leichte Zerstreuung die Verhandlung wohl bringen würde, und mit Indianern, die neugierig waren, den Methoden des weißen Mannes bei der Rechtsprechung beizuwohnen. Die Verhandlung begann damit, daß Orliac allen Anwesenden erklärte, der Mann Hackett sei angeklagt, ein Pferd gestohlen zu haben, und diese Richter seien zusammengetreten, um seine Schuld oder Unschuld zu ermitteln. Die Strafe für Pferdediebstahl, erklärte er weiter, sei der Tod durch den Strang. Darüber wunderten sich die Indianer. Bei ihren Stämmen war Selbstmord durch Erhängen üblich, aber Hängen als Strafe für Diebstahl kannten sie nicht. Oder war das eine Art Zeremonie? Beim Sonnenbetrachtungstanz erfüllten Krieger gewisse Gelübde, indem sie sich freiwillig an einen heiligen Pfahl hängten, mit Hilfe von Stricken, die an bemalten Stöcken befestigt und durch das Fleisch an ihrer Brust hindurchgezogen wurden. Aber das Hängen des weißen Mannes war ein Hängen bis zum Eintritt des Todes. Eine derartige Zeremonie hatten die Indianer noch nie gesehen. Würde der weiße Mann zuerst den Hals mit einem blauen Stock durchbohren und dann einen Strick daran befestigen? »Mr. Chisholm«, sagte Orliac, »wollen Sie bitte dem Gericht sagen, warum Sie glauben, daß der nun im Korral der Gesellschaft befindliche Appaloosa von dem Angeklagten gestohlen wurde?« Will erhob sich verlegen, räusperte sich und blickte hinaus auf die Indianer und Weißen, die im Hof und auf der Galerie standen. »Also«, sagte er, »dieser Hackett führte uns nach St. Louis und war mit uns zusammen, seit wir ihn in Louisville getroffen hatten. 207
Knapp vor St. Louis verschwand er, ebenso der Wallach. Deshalb glaube ich folgern zu können, daß er es war, der mit dem Pferd fortritt, denn nur die Spuren des Pferdes führten nach Norden und das Land war so flach, daß man meilenweit sehen konnte, wenn ein Mann draußen zu Fuß ging, was Hackett nicht tat. Jedenfalls kam er heute auf dem Pferd hier angeritten, deshalb ist er es, der auch damals mit ihm davonritt.« »Woher wissen Sie, daß es Ihr Pferd ist?« fragte Orliac. »Das Tier trägt unser Brandzeichen und die Ohrmarke«, sagte Will. »Beschreiben Sie dieses Zeichen.« »Auf dem linken Schenkel ist ein Schnörkelbrandzeichen, ungefähr zwanzig Zentimeter oberhalb der Kniescheibe. Und das rechte Ohr ist mit zwei vertikalen Schnitten zu beiden Seiten der Spitze markiert. Ohrmarke sowie Brandzeichen sind bei uns daheim beim Kreisbeamten registriert«, sagte Will. »Emile«, sagte Orliac zu einem Mann, der gleich neben dem Tisch stand, »würden Sie bitte das Pferd hierher bringen, damit wir es ansehen können?« Das Pferd wurde aus dem Korral gebracht. Nervös und ungebärdig versuchte es dauernd auszubrechen, als die Richter ihre Untersuchung anstellten. Es hatte ein Schnörkelbrandmal am linken Oberschenkel, genau wie Will behauptet hatte. Das rechte Ohr war mit zwei vertikalen Schnitten, je einer auf jeder Seite der Spitze, markiert. »Es scheint Ihr Pferd zu sein«, sagte Orliac und ging wieder zu seinem Sitz hinter dem langen Tisch. »Sicher ist es mein Pferd«, sagte Will. »Mr. Hackett«, sagte Orliac, und Lester erhob sich. »Mr. Hackett, ist dies das Pferd, das Sie heute morgen ritten, als Sie zum Fort kamen?« »Ja«, sagte Hackett. »Aber lassen Sie mich gleich sagen, ich weiß, daß es Will Chisholms Pferd ist, und ich ritt auch auf ihm kurz vor St. Louis fort, wie Will es behauptet. Aber ich stahl das Pferd nicht.« »Sie ritten mit dem Pferd fort«, sagte Orliac. »Das ist richtig, Sir.« 208
»Aber Sie stahlen es nicht.« »Nein, Sir.« »Wie denn nennen Sie es, wenn jemand mit dem Pferd eines anderen fortreitet?« »Ich führte die Chisholms nach St. Louis, wie ich versprochen hatte, und ich glaube, ich nahm den Job ernst und führte ihn gut durch; ich glaube nicht, daß jemand von der Familie das bestreitet. In der Nacht, in der ich mit Wills Pferd fortritt, hörte ich Stimmen und wußte nicht, wer dort draußen im Dunkel war. Ich ritt also los, um der Sache nachzugehen, wie es meine Pflicht war. Ich hatte kein eigenes Pferd. Ich mußte eines nehmen, das verfügbar war, und Wills Appaloosa war am nächsten. Es waren fünf Mann dort draußen; sie stellten mir einen Hinterhalt und zwangen mich, mit ihnen zu reiten. In Illinois gelang es mir schließlich, ihnen zu entkommen, und ich habe seither die Chisholms gesucht. Das ist die Wahrheit.« »Mr. Orliac«, sagte Will, »mein Bruder und ich, wir ritten nach Illinois und suchten diesen Mann; wir sprachen mit seiner Mutter –« »Davon hat sie mir erzählt«, sagte Lester. »Deshalb ging ich immer wieder zurück nach Carthage und versuchte euch zu finden. Doch jedesmal, wenn ich hinkam, wart ihr vor einem oder vor zwei Tagen fortgeritten, und ich bewegte mich sinnlos im Kreis. Du hast dein Pferd zurück, Will. Willst du mich noch dazu hängen, weil ich Männern nachgeritten bin, von denen ich dachte, sie würden eine Gefahr für deine Familie bedeuten?« »Es gab keine verdammten Männer, und du weißt es«, sagte Will. »Du bist ganz einfach ein Pferdedieb.« »Nein, er sagt die Wahrheit«, sagte eine Stimme, und alle im Hof sahen sich um, wo denn diese Stimme herkam, ohne es feststellen zu können, bis Bonnie Sue sich von dem Platz erhob, wo sie mit Minerva auf einem Büffelfell an der Mauer saß. Die Indianer beobachteten sie, wie sie zu dem langen Tisch ging, an dem Orliac und die anderen Richter saßen. Sogar Sebilleau, der Analphabet, den Orliac als Richter nominiert hatte, schien zumindest zur Hälfte wach zu werden, als er die Erklärung hörte. Nun stand sie vor dem Tisch 209
und blickte Orliac direkt ins Gesicht, als fordere sie ihn heraus, Einwendungen gegen das zu erheben, was sie da eben gesagt hatte. Er indessen ersuchte sie, ihre Worte zu wiederholen, was überflüssig war, da alle sie deutlich gehört hatten. »Was sagten Sie«, fragte er. »Ich sagte, daß Lester Hackett die Wahrheit spricht. Es gab Stimmen in der Nacht.« »Bonnie Sue…« »Es ist die Wahrheit, Will!« sagte sie, sich rasch zu ihm umwendend. »Es ist die Wahrheit«, sagte sie leiser und blickte wieder Orliac und die anderen an. Mit derselben leisen Stimme sagte sie: »Ich war wach. Wir waren beide wach, Lester und ich. Wir hörten gemeinsam die Stimmen. Er sagte, er wolle feststellen, wer das sei, nahm Wills Pferd und ritt davon.« Will erhob sich von der Bank, ging zu seiner Schwester, blickte ihr fest in die Augen und fragte: »Warum hast du bisher kein Wort davon gesagt?« »Ich hatte Angst, ihr würdet mich fragen, was ich tat, als ich wach war«, sagte Bonnie Sue. »Was taten Sie, als Sie wach waren?« fragte Orliac. »Ich küßte Lester. Ich saß mit Lester am Feuer und küßte ihn«, sagte sie. Schwarzenbacher sah Hackett an, der aufmerksam auf der Holzbank saß, und versuchte sich vorzustellen, wie Bonnie Sue diesen Mann küßte, der gut und gern doppelt so alt war wie sie. Er fand den Gedanken beunruhigend und fand es sogar noch beunruhigender, daß sie es in der Öffentlichkeit zugab. Überall rund um sich hörte er auf französisch murmeln: »Sie hat mit ihm geschlafen«, und sah, wie die Indianer deutlich die Gesten für Hurerei machten, bei denen der ausgestreckte Mittelfinger der rechten Hand in eine durch den Daumen und die gekrümmten Finger der anderen Hand gebildete Höhlung gesteckt wurde. Er wußte, daß alle hier – ausgenommen vielleicht die Chisholms selbst – dasselbe glaubten wie er, und zwar, daß das Küssen, zu dem sich Bonnie Sue da eben bekannt hatte, 210
eine freundliche Umschreibung für das war, was sie und Lester Hakkett tatsächlich getrieben hatten. Warum sonst hatte sie diese entscheidende Information ihrer Familie nicht am nächsten Morgen enthüllt? »Diese Reiter«, sagte Orliac. »Wie viele, sagten Sie, waren es?« »Sprechen Sie zu mir, Sir?« fragte Lester. »Ja, ich sehe Sie doch an, oder?« sagte Orliac lächelnd und dann »Danke« zu Bonnie Sue, die er mit einer Handbewegung entließ. Schwarzenbacher erschien diese Geste durchaus französisch und wahrscheinlich dekadent, gleichbedeutend mit einem differenzierten gallischen Achselzucken. In Wirklichkeit zeigte Orliac damit an, daß sie nicht hier waren, um festzustellen, was sich zwischen einem Mann und einer Frau bei einem Feuer abgespielt hatte, sondern nur um zu entscheiden, ob ein Pferd gestohlen worden war. Entweder hatte Lester das Pferd gestohlen oder er hatte es genommen, um Männer zu verfolgen, die Unheil im Sinn hatten. »Es waren fünf, Sir«, sagte Lester und erhob sich von der Bank. Seine Miene schien verdutzt. Er sah Bonnie Sue nach, als sie zu ihrer Mutter zurückging, und blickte dann wieder Orliac an. »Was wollten diese Männer?« fragte Orliac. »Sir?« »Was taten sie dort draußen im Dunkel?« »Also, das weiß ich nicht, Sir«, sagte Lester. »Sie zogen mich nie in ihr Vertrauen. Ich nehme an, sie waren dort, um Pferde zu stehlen. Oder … also, ich weiß es wirklich nicht.« »Ritten Sie vom Lager weg, als Sie sie verfolgten?« »Nun, ja.« »Warum haben Sie sie dann verfolgt?« »Nun ja, wir hörten ihre Stimmen…« »Ja, ja«, sagte Orliac. »Sie küßten sich beim Feuer und hörten Stimmen, dann bestiegen Sie Mr. Chisholms Pferd…« »Ja, Sir, so war es.« »Und ritten ihnen nach.« »Ja, Sir.« 211
»Warum?« »Warum?« fragte Lester. »So lautet meine Frage.« »Nun ja, weil … weil ich sehen wollte, was sie machten.« »Sie ritten fort. Ist es nicht das, was sie taten?« »Ja, Sir.« »Glaubten Sie, daß sie bewaffnet waren?« »Vermutlich.« »Dennoch ritten Sie ihnen nach. Sie verfolgten fünf bewaffnete Männer, die bereits davonritten.« »Also, vorerst wußte ich nicht, daß es fünf waren.« »Das entdeckten Sie erst später.« »Ja.« »Aber Sie wußten schon anfangs, daß es mindestens zwei waren, nicht wahr?« »Sir?« »Weil Sie Stimmen hörten. Sie hörten mehr als eine Stimme.« »Ja, Sir, das stimmt«, sagte Lester. »Sie wußten also, daß dort draußen zumindest zwei Männer waren.« »Ja.« »Oder vielleicht mehr.« »Also, ich…« »Und möglicherweise bewaffnet.« »Nun ja, ich nahm ein Gewehr mit, Sir, für alle Fälle.« »Hmm«, sagte Orliac. »Du kannst all dem folgen, Henri?« fragte er Sebilleau, der nun, seit Bonnie Sue zurückgegangen war und sich zu ihrer Mutter gesetzt hatte, wieder zu dösen schien. »Ich höre zu«, sagte Sebilleau und nickte ernst. »Sie sagen, diese Männer hätten Sie später gefangengenommen?« fragte Orliac. »Ja, sie warteten weiter vorne. Sie stellten mir einen Hinterhalt.« »Und nahmen Sie mit?« »Ja, Sir.« 212
»Nach Illinois?« »Ja, Sir.« »Wo sie Sie später freiließen.« »Nein, ich entfloh.« »Warum haben diese Männer Sie mitgenommen?« »Ich bin nicht sicher. Ich nehme an…« »Mr. Hackett, warum haben sie Sie nicht einfach erschossen?« »Nun ja, wie ich vorhin sagte, ich erfuhr wirklich nicht viel über sie. Ich weiß nicht, warum sie…« »Ich glaube, sie hätten Sie erschießen sollen«, sagte Orliac. »Sir?« »Es hätte uns die Mühe erspart, Sie zu hängen, Mr. Hackett«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben das Pferd gestohlen, oder? Ich würde nun befürworten…« »Warten Sie doch bloß eine Minute«, sagte Lester. »…daß Sie gehängt werden, bis der Tod eintritt. Mr. Schwarzenbacher…« »Das gottverdammte Mädchen erzählte Ihnen doch eben erst…« »Was ist Ihre Ansicht?« »Ich glaube, er ist schuldig und sollte gehängt werden«, sagte Schwarzenbacher. »Mr. Sebilleau?« »Ja«, sagte Sebilleau. »Hängt ihn.« Am Fluß oberhalb des Forts stand eine kräftige Pappel, doch Sebilleau machte den Vorschlag, der Gerechtigkeit werde am besten Genüge getan, wenn man Hackett im Hof hängte. Die anderen Richter sagten, das wäre eine gute Idee, und sie gingen umher, um einen Pfosten zu finden, der für den Zweck geeignet war. Es folgten ihnen mehr als ein Dutzend Indianer, deren Neugierde mehr dem Umstand galt, wie das Hängen vor sich gehen werde, als wo. Schließlich kam man überein, daß ein Baum besser geeignet wäre als irgendeiner der Pfosten, die die Galerie rund um den Hof stützten. Au213
ßerdem, wenn ein Mann nicht in der Mitte des Hofs gehängt werden konnte, so daß alle ihn sahen, welchen Zweck sollte es haben, ihn überhaupt innerhalb des Forts zu hängen? Sebilleau ließ sich überzeugen, und die anderen zogen sich zum Mittagessen zurück, nachdem angeordnet worden war, daß Hackett gefesselt und bis zwei Uhr nachmittags in der leeren Wohnung des Verwalters eingeschlossen werden sollte; dann sollte er zum Fluß gebracht und gehängt werden. Zehn Minuten vor zwei schleppten die Richter, ein halbes Dutzend weitere Männer der Pelzgesellschaft und eine große Abordnung Indianer Hackett aus der Wohnung, um ihn zu seiner Hinrichtung zu führen. Sebilleau konnte zwar weder lesen noch schreiben, schien aber dessenungeachtet ein feines Gefühl für poetische Gerechtigkeit zu haben. Er schlug vor, man solle Hackett auf das Pferd setzen, wegen dessen Diebstahl er verurteilt worden war. Will verweigerte ihnen die Benutzung des gefleckten Wallachs. Seine Einstellung zu der Hinrichtung durch den Strang war ziemlich die gleiche wie die der ganzen Familie mit Ausnahme von Bonnie Sue. Lester Hackett hatte ein Pferd gestohlen und sollte für das Verbrechen so bestraft werden, wie es das Gesetz vorsah. Sie gingen zum Fluß hinunter, um der Hinrichtung beizuwohnen, nicht weil sie neugierig waren – sie hatten in Virginia genug solche Hinrichtungen gesehen – und nicht, weil sie rachsüchtig oder böse oder in der Tat alles andere als gehorsam waren; es war ein Chisholmpferd, das gestohlen worden war, und nun sollte ein Mann für den Diebstahl gehängt werden, und sie hielten es für ihre Pflicht, dabei zu sein. Ein Mann von der Gesellschaft namens Bertaut wußte, wie man eine Henkerschlinge machte. Er hatte diese Feinheiten als Junge gelernt: jemand hatte ihm als eine Art Spiel gezeigt, wie man dabei vorging. Die Indianer standen am Fluß, umringten die riesige Pappel, die als Galgenbaum gewählt worden war, und schauten zu, während Bertaut das schwere Seil zusammenrollte. Er erklärte, der Zweck der Schlinge bestehe nicht darin, dem Mann die Luft abzuschnüren und ihn so durch Erwürgen zu töten. Statt dessen würde, wenn 214
der Verurteilte von dem Pferd gerissen wurde, auf dem er saß – ein grauer Hengst, der dem Koch der Gesellschaft gehörte –, der große Knoten hinter seinem Kopf nach oben schnappen und ihm das Genick brechen, wodurch er sofort getötet wurde. Das hoffte Bertaut zumindest. Er hatte noch nie eine Henkerschlinge für eine echte Hinrichtung fabriziert. Ein Indianer, der seine Erklärung auf französisch angehört hatte, wandte sich nun an mehrere andere Indianer und begann es ihnen in der Siouxsprache zu erklären. Die anderen nickten ernst. Sie verstanden die Feierlichkeit dieses Vorgangs am Fluß und schauten nun in ehrfürchtigem Schweigen zu. Der Hengst wollte nicht ruhig stehen und vereitelte ihre Versuche, die Schlinge über Lesters Kopf zu ziehen. Jedesmal wenn ein anderes Pferd an seine Seite kam, bäumte sich der Hengst von dem Mann weg, der seine Zügel hielt. Schließlich setzten sie Lester auf einen zahmeren Gaul, und es gelang ihnen, ihm die Schlinge um den Hals zu legen. Jemand fragte ihn, ob er ein Gebet sprechen wolle, und er sagte, »Geh zum Teufel, Mann«, ohne zu wissen, wem er die Worte sagte, weil man ihm als Gnadenakt die Augen verbunden hatte. Sebilleau schlug einigermaßen fröhlich mit der Peitsche auf die linke Hinterbacke des Pferdes und schrie beim Auftreffen: »Los!« Das Pferd sprang vorwärts, und Lester wurde aus dem Sattel gerissen – nur um allmählich zu ersticken. Die Indianer, die verstanden hatten, daß Lester sofort sterben würde, glaubten nun, sie hätten es falsch gehört, und wandten sich um Erklärung an denjenigen unter ihnen, der Französisch sprach. Schwarzenbacher erkannte sofort das Problem; Bertauts verdammter Knoten hatte nicht funktioniert, und Hackett war im Begriff, langsam zu ersticken. »Der Mann erstickt!« schrie Schwarzenbacher, mehr zu sich selbst als zu einem der Anwesenden. Er sprang auf den Rücken des grauen Hengstes, der vorher so gescheut hatte, zog einen Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel und ritt zu der Stelle, wo Lester am Ende des Seils mit den Füßen schlug, hustete und sich wand. Er stand in den Steigbügeln auf und hackte das dicke Hanfseil Fa215
ser um Faser durch, bis es sich schließlich auflöste und zerriß, so daß Lester zur Erde fiel. Orliac fragte Schwarzenbacher, warum er die Hinrichtung unterbrochen habe, und Schwarzenbacher antwortete einigermaßen gereizt: »Der Mann hat ein Pferd gestohlen, kein schlafendes Baby ermordet!« Darauf befahl Orliac eine neue Schlinge zu knüpfen, doch diesmal eine bessere, die dem Verurteilten auch tatsächlich das Genick brechen würde. Bertaut gab zu verstehen, daß er einer so fürchterlichen Verantwortung nicht gewachsen sei, überlegte es sich aber dann sofort wieder. Vermutlich spürte er den Unwillen und wachsenden Ärger seines Vorgesetzten. Er lief zum Fort, um ein neues Henkerseil zu holen, und bald waren sie bereit, es nochmal zu versuchen. Zuerst wußte Will nicht, was sie sagen wollte. Es klang so, als stammelte sie. Sie kam aus dem Wald gerannt, zu der Stelle, wo er abseits von den anderen auf dem Hügel über dem Fluß saß. Tränen strömten über ihre Wangen, ihre Nase war rot und lief, sie sagte etwas von Verstecken, Zuschauen, konnte nicht ertragen, es zu sehen, von erhörten Gebeten, Gott habe ihre Gebete erhört. »Jetzt mußt du ihn endgültig retten, Will, bitte.« Sie lag auf den Knien und drückte seine beiden Hände zwischen den ihren zusammen. Er befreite sanft eine Hand und schob ihr nasses Haar aus ihren Wangen. »Es ist dein Pferd, Will«, sagte sie. »Du könntest sie zurückhalten, wenn du wolltest. Sie haben zum zweitenmal das Seil aufgehängt, Will. Du mußt nach unten gehen und sie zurückhalten.« »Bonnie Sue…« »Ich liebe ihn, Will. Bitte tu, was ich von dir verlange. Ich flehe dich an.« »Ich kann nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Der Mann stahl…« »Ich trage ein Kind von ihm«, sagte Bonnie Sue. 216
»Nein«, sagte Will. »Ich bin von ihm schwanger. Seit zwei Monaten…« »Nein«, sagte er, »das bist du nicht, Bonnie Sue.« »Will…« »Du bist es nicht, verdammt noch mal!« Sie starrten einander schweigend an. Über Bonnie Sues Wangen strömten Tränen. Sie kniete vor ihm, und er blickte auf sie nieder, dann wandte er sein Gesicht ab. Er wollte ihrem Blick nicht begegnen, um nicht die Augen einer Frau dort zu finden. »Nein«, sagte er wieder, und im nächsten Augenblick tat es ihm leid. Er hörte den Ruf »Los!« von unten, wandte sich um, um hinzusehen und erkannte, daß es zu spät war. Er konnte es nicht mehr aufhalten. Das Pferd lief am Flußufer entlang. Lesters Körper hing in der Luft, seine Stiefel anderthalb Meter über der Erde, sein Kopf war in einem sonderbaren Winkel verdreht, seine Zunge hing ihm grotesk aus dem Mund. Sein Hut war ihm vom Kopf gefallen, als ihn der Knoten von hinten heftig getroffen hatte, und lag nun unter seinen schwingenden Stiefeln auf der Erde. Bertaut blickte zu ihm hoch und nickte kurz als Zeichen seiner Zufriedenheit. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zu seiner indianischen Frau, die ihn auf französisch etwas fragte. Bertaut nickte. Neben Will schrie Bonnie Sue auf, sie erhob sich und lief, immer noch schreiend, dorthin, wo Lesters Leiche sich langsam am Seilende drehte. Sie umfaßte seine Knie und hielt seine Beine eng umfaßt, klagend, während die Indianer verwundert zuschauten. In dieser Nacht ging er wieder zu dem Wigwam hinunter. Diesmal war er nüchtern. Hob die Klappe hoch und trat gleich ein. Er hatte Lebensmittel bei sich, die er Catherine und der Squaw gab. Draußen war es kalt geworden; sie hatten noch immer das Feuer an. Er fragte, ob sie schon Abendbrot gegessen hätten. Catherine nickte bejahend und sprach dann mit ihren Händen zu der Squaw. Die
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Squaw seufzte und machte sich zum Gehen bereit, indem sie sich die Armeedecke um die Schultern legte. »Du kannst bleiben, wenn du willst«, sagte Will. Catherine sah ihn an. »Sag ihr, sie kann bleiben. Macht keinen Unterschied«, sagte er und zog wieder die Schultern hoch. Die Frauen sprachen miteinander. Catherine erklärte mit ihren Händen, die Squaw sah zu und wandte sich dann erstaunt zu Will. Er nickte. Dann nahm sie die Decke ab und ging zu dem Fell neben dem Feuer. Sie kniete darauf nieder und begann ihr Haar aufzulösen, um sich zum Schlafen vorzubereiten. »Nimm auch die Farbe ab«, sagte er. Die Squaw wandte sich an Catherine, damit sie es übersetzte. Catherines Hände bewegten sich. Die Squaw nickte und begann schweigend, sich die Farbe aus dem Gesicht zu reiben. Sie entkleidete sich ohne Verlegenheit und kam dann nackt zu dem Fell zurück, legte sich darauf und zog ein zweites Fell über sich. Nach einiger Zeit legten sich Catherine und Will zu ihr unter das Fell, Will lag zwischen den zwei Frauen. Die Squaw schlief beinahe. Ihre Hand fand seinen Pimmel. Sie ließ sie leicht darauf liegen und schlief so ein. Schnarchte leise. Catherine machte Geräusche, leise, ängstliche Geräusche. Die ganze Nacht hindurch. Er lag wach zwischen ihnen. Er mußte an Lester Hackett denken. Immer wieder daran denken, daß er die Hinrichtung hätte abbrechen können, wenn er einen Augenblick früher gehandelt hätte. Er hätte sofort aufspringen müssen, als Bonnie Sue ihm erzählte, daß sie schwanger war. Es spielte keine Rolle, daß Lester ein Pferdedieb war, der es verdiente, gehängt zu werden. Das hier war seine Schwester, die ihm sagte, daß sie das Kind des Mannes trug, und dort war er mit einer Schlinge um den Hals. Er hätte tun sollen, was Schwarzenbacher schon einmal getan hatte, hinüberlaufen und den Mann losschneiden. Ihm die Hand schütteln. Gratuliere, Lester, du hast ein Pferd gestohlen und bist ungestraft davongekommen. Was nun diese andere Sache anlangt, Lester, diese Angelegenheit, daß du auch die Ehre meiner Schwester gestohlen hast: Ich halte 218
es für das beste, wenn wir über eine Hochzeit sprechen, meinst du nicht, bevor mein Vater dich erschießt? Statt dessen saß er dort und blickte sie an. Wußte nicht, was er sagen oder tun solle, als ihm seine kleine Schwester erzählte, sie habe sich aufgeführt wie irgendeine Hure… Catherine bewegte sich neben ihm auf dem Fell. »Bist du wach?« fragte er. Sie brummte und wälzte sich herum, mit dem Rücken zu ihm. Zwei Huren, dachte er. Hier liege ich mit zwei Huren, dachte er. Hier liege ich mit zwei Huren, eine sieht aus wie eine Kuh und kann nicht Englisch sprechen, die andere ist stumm wie ein Stein. Es gab eine Zeit … verdammt, er konnte sich gar keiner Zeit erinnern, zu der er Elizabeth nicht geliebt hatte. Er war vier Jahre alt, als er sie zum erstenmal in ihrer Wiege gesehen hatte. Gleich hatte er sich in sie verliebt und seine Ma gefragt, wer die Kleine dort in der Wiege beim Feuer war. Minerva hatte geantwortet, das sei die neue Tochter von Mrs. Donnely, die weiter drüben auf dem Kamm wohnte. Er gab auf sie acht, während sie in der Stadt waren. »Sie ist wirklich eine Sonnenblume«, hatte Will gesagt. Er war vier, liebte sie unsterblich, als er sie zum erstenmal sah. Jetzt war er einunddreißig – nein, schon zweiunddreißig, und lag da zwischen zwei Huren, kriegte einen Ständer, ohne es zu wollen, die Hand der Squaw zuckte im Schlaf. Zweiunddreißig, dachte er. Weiß nicht, wo ich bin oder was ich vorhabe. Stellte mir vor, wenn wir Virginia verlassen… Hätte Lester retten müssen, verdammt noch mal! Denn wenn man darüber nachdachte … also, er wurde wegen eines Pferdes umgebracht, das war doch der Kern der Sache, oder? Ein Mann stahl ein Scheißpferd, man hängte ihn auf. Die Indianer, die Annabel umgebracht hatten … o Gott, dachte er, du lieber Gott, und lag regungslos mit weit geöffneten Augen dort. Er konnte die Sterne droben durch das Loch in der Zeltspitze sehen. Rauch stieg von dem glimmenden Feuer hoch. Wie Bobbo es beschrieb, waren sie hingekommen, bereit, 219
zu töten. Vielleicht wollten sie es nicht, waren aber dazu bereit. Sie mußten dem Wagen gefolgt sein, hatten die Frauen gesehen und gemerkt, daß Bobbo und Pa allein waren, und wollten die Frauen und die Maultiere erbeuten. Bobbo und Pa erschlagen, die Frauen und Maultiere fortschleppen. Die dreizehnjährige Annabel hielten sie für eine Frau, so wie Ma und Bonnie Sue. Kamen daher, bereit, zu töten für das, was sie haben wollten, bereit sogar, gerade das zu töten, was sie haben wollten. Das ergab keinen beschissenen Sinn. Nichts davon. Nicht, daß die Indianer Annabel töteten, und nicht daß die weißen Männer heute Lester töteten. Denn das hatten sie getan, sie hatten ihn umgebracht, laut Gesetz gehängt, aber eben doch getötet, wie immer man es betrachtete. Es war nicht das, was Bonnie Sue wollte, war nicht mal das, was Will wollte, wenn man es genau betrachtete. Er hätte es tausendmal besser gefunden, wenn Lester noch am Leben gewesen wäre und seine verdammte, alberne Schwester geheiratet hätte, die zugelassen hatte, daß ein Pferdedieb sie… Er gab den Gedanken auf, ließ ihn davongleiten. Es hatte mit Pferden zu tun. Das Pferd, das Lester stahl, und die Pferde, die Bobbo und Pa den drei Indianern abnahmen, zwei prächtige Stuten und ein Hengst. Wenn man einen weißen Mann hängt, der dich bestohlen hatte, und Indianer tötete, die dich zu bestehlen versucht hatten… Und… Und wenn du die Pferde als deine eigenen betrachtest, die den Indianern gehört hatten, was sollte dann den, der davongeritten war, hindern, zurückzukommen und alle Scheißpferde zu beanspruchen – die, die ihm gehört hatten und die, die rechtmäßig dir gehörten und mit Ohrmarken und Brandzeichen versehen waren? Was sollte irgend jemanden in dieser Scheißwelt daran hindern, alles, was er wollte, irgend jemand anderem wegzunehmen? Zu nehmen oder zu nehmen versuchen. Dafür töten oder getötet werden. Weißer Mann oder Indianer, was machte es für einen Unterschied? Es gab nur so 220
und so viele Pferde, nur so und so viele Büffel, nur so und so viel Land… Zitternd in der Nacht, vor Sorgen geplagt, rückte er näher an die Squaw, um sich zu wärmen, und schlief schließlich ein. Am Morgen hatte er vergessen, was er beinahe verstanden hatte.
Gideon
W
ill saß dort mit seinen zwei Frauen, auf jeder Seite eine. Ein Feuer in der Mitte des Zeltes. Es stank entsetzlich, am liebsten hatte sich Gideon übergeben. Dort in dem Topf kochte irgendwas zu essen. Irgendein Tier. Massenhaft Indianer aßen Hundefleisch. Er sah seinen Bruder an und fragte sich, ob er sich angewöhnt habe, Hundefleisch zu essen, da er nun mit Indianerinnen schlief. Die Squaw sah aus wie das Schwein, das Gideon damals ins Haus getragen hatte. Die andere sollte eine Weiße sein. Sie trug ein altes Kattunkleid, das Will einem Trapper abgekauft hatte, der vorbeikam. Der Saum war ausgelassen worden, weil sie so groß war; man konnte ganz deutlich sehen, wo das verschossene Kleid verändert worden war. Sie trug es mit schwarzen Baumwollstrümpfen und Mokassins. Sah dennoch aus wie eine Indianerin. Gideon konnte nicht glauben, daß sie eine Weiße war. »Du erinnerst dich, Will«, sagte er, »wir sprachen über Fort Hall.« »Ich erinnere mich«, sagte Will. »Wenn wir hinüber wollen«, sagte Gideon, »müßten wir es am besten bald tun. Wir haben jetzt Mitte August. Wir…« »Ich glaube, ich warte bis zum Frühjahr«, sagte Will. »Wir könnten es noch immer schaffen, bevor…«
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»Nein. Ich glaube, wir sind zu spät. Der Schnee wird uns erwischen. Jedenfalls hat Orliac wahrscheinlich recht bezüglich der Indianer dort drüben. Und das will ich nicht riskieren, Gideon.« Es hatte nichts zu tun mit Schnee, auch nicht mit Indianern, es sei denn mit den zwei Indianerinnen da drüben – wenn sie weiß war, war Gideon ein Chinese. Die Dicke beugte sich vor und sagte etwas zu der anderen. Ihre Hände begannen sich zu bewegen. Will sah zu, als ob er es verstünde. Gideon sagte: »Also dann…« zog die Schultern hoch und verließ das Zelt. Draußen roch er noch immer das, was in dem Topf kochte. Oben, über dem Fort, sah er seinen Vater und Bobbo, die an dem Häuschen arbeiteten. Die Bäume verloren schon ihre Blätter. Er dachte: »ich sitze also hier fest«, dann seufzte er und ging nach oben, um ihnen zu helfen. Sie brauchten keine zwei Wochen, um das Häuschen zu errichten. Anfang September zogen sie mit allem Drum und Dran ein, machten es zu einem Gegenstück ihres Hauses daheim. Minervas Kirschholzkommode kam dort an die Wand, Stühle mit Spaltsitzen wurden an dieselbe Wand hingestellt, und an die gegenüberliegende Wand kamen Bänke zu beiden Seiten des Tisches. Auf Regalen in allen Ecken standen die Zinnteller und -geräte der Familie, Zinntassen und Wassereimer und Holzschalen. Überall im Raum hingen an Haken Kleider und Gewehre, Baumwollkarden, Handsägen und Zügel. Genau wie zu Hause, einschließlich der Uhr auf dem Kamin. Ihr Kristallglas war zerschlagen worden, als die Maultiere mit Bonnie Sue scheuten, aber ansonsten tickte sie genauso die Minuten herunter. Tickte und tickte. Er saß am Feuer und paffte an seiner Pfeife. Er hatte angefangen, Pfeife zu rauchen; das hinderte ihn daran, allzu nervös zu werden. Es gab da einen Indianer im Fort, der immer Tabak abzugeben hatte. Er mußte irgendwo auf den Hügeln ein Versteck haben. Wann immer er Gideon sah, machte er mit seiner Faust einen Pfeifenkopf und tat so, als fülle er ihn mit Tabak. 222
»Tabak?« fragte er grinsend, als wäre er eine Verkäuferin. »Wollen Sie?« »Tabak, ja«, sagte Gideon. Er saß vor dem Kamin und wippte hin und her. Bonnie Sue saß auf der anderen Seite, einen Schal auf dem Schoß. Gideon paffte an seiner Pfeife und blickte in die Flammen. Auf dem Kamin tickte die Uhr. Und tickte. »Tja«, sagte Gideon. Auf der anderen Seite des Raumes machte sich Minerva hinter der Decke zum Schlafengehen bereit. Er hörte sie rumoren. »Tja«, sagte er wieder. Bonnie Sue blickte ihn ärgerlich an und schrieb dann weiter in ihrem Tagebuch oder wie immer sie es nannte. Ihr Bleistift kratzte in der Stille. Das Feuer prasselte. Die Uhr tickte. Gideon seufzte. »Hier könnte man wirklich dick und faul werden«, sagte er. Bonnie Sue sprang von ihrem Stuhl auf. Sein Unterkiefer fiel nach unten. Die Pfeife glitt ihm aus dem Mund und verschüttete etwas glühende Tabakasche auf die Vorderseite seines Hemdes. Er faßte nach der Pfeife, verfehlte sie, und sie fiel krachend zu Boden. Er wischte sein Hemd ab, sprang auf und trat die glühende Asche auf dem Fußboden aus; er fragte sich, was denn nur in sie gefahren sei. »Du kümm're dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten«, sagte sie. »Was?« sagte er. »Du hast mich gehört! Es geht dich nichts an, wie dick ich bin, auch nicht, wie faul. Steck nur deine Nase nicht…« »Was?« sagte Gideon. »Was?« »Da – halt' nur den Mund!« sagte Bonnie Sue und brach in Tränen aus. Seine Mutter steckte den Kopf hinter der Decke hervor. Mit eigenartiger Miene ging sie an Gideon vorbei zu Bonnie Sue, die heulend am Tisch saß, den Kopf in den Armen. Gideon stand dort und 223
fühlte sich wie ein Dummkopf. Er hob seine Pfeife auf. Seine Mutter streichelte Bonnie Sues Haar. »Ich habe nichts gesagt, Ma«, sagte er. »Geh draußen spazieren.« »Ma, ich habe wirklich…« »Ich weiß, mein Sohn. Geh spazieren.« Es gab Zeiten, da wußte er nicht, was zum Teufel hier vorging. Am nächsten Tag schickte sie ihn hinunter zu den Indianerzelten und sagte ihm, er solle seinen Bruder Will holen. Es gab dort unten jetzt nur noch eine Handvoll Zelte. Die meisten der Indianer, die vom Tauschhandel lebten, waren bereits auf der Suche nach weiteren Büffeln wieder abgezogen. Will kam in einem Büffellederhemd und Lederhose, Mokassins und einem mit Perlen geschmückten Band um die Stirn heraus. Er ließ sich einen Bart wachsen, der zottig und unregelmäßig sproß. Er fragte Gideon, was Ma wollte. Gideon sagte, das wisse er eigentlich nicht. Es war ein strahlender, windiger Tag. Blätter flogen durch die Luft, raschelten unter den Füßen. Ma saß mit einem Schal um die Schultern auf der Veranda und schien in Gedanken verloren, als sie herankamen. Sie winkte Will, sich einen Stuhl zu nehmen, und sagte dann Gideon, er solle ins Haus gehen. Er trat ein, konnte aber jedes Wort hören, das sie sagte. »Ich hatte gestern abend ein längeres Gespräch mit Bonnie Sue«, sagte seine Mutter. »Sie erzählte mir, sie trage ein Kind von Hackett, und sagte, du wüßtest es seit dem Tag, an dem er gehängt wurde.« »Das stimmt«, sagte Will. »Warum hast du es niemandem gesagt?« »Ich dachte, ihr hättet es gemerkt, Ma.« »Sie ist erst im vierten Monat, und da ist das Kind kaum faustgroß.« »Jedenfalls, Ma, ist es doch Bonnie Sues eigene Angelegenheit, oder?« 224
In seiner Stimme war ein warnender Ton. Gideon merkte das und nahm an, auch seine Mutter habe ihn gehört. Sie schwieg eine Minute, vielleicht überlegte sie, ob sie die Herausforderung übergehen solle. Doch sie sagte: »Es scheint jeder in unserer Familie nur noch seine eigenen Angelegenheiten zu haben.« »Was meinst du damit?« fragte Will. »Überleg dir mal, was ich meine, mein Sohn«, sagte sie. Gideon hörte, wie sie ihren Stuhl zurückschob. Gleich darauf kam sie ins Haus und ging geradewegs zum Feuer. Sie nahm den Schürhaken, schien aber nicht zu wissen, was sie damit tun wollte, und legte ihn wieder hin. Will kam herein und blieb neben der Tür stehen. »Du hast mir etwas zu sagen, Ma. Ich wäre dir dankbar…« »Mehr hab ich dir nicht zu sagen«, antwortete sie. »Geh zurück, hinunter zu deinen Squaws, vorwärts.« Will blickte sie an. »Ma…«, sagte er. »Geh nur«, sagte sie. »Ich bin ein erwachsener Mann.« »Das weiß ich.« »Wenn ich mich entschlossen habe, mich für…« »Deine Schwester wurde von einem Indianer getötet.« »Catherine ist keine Indianerin.« »Sie ist ebenso eine Indianerin wie die andere. Ich sehe da kaum einen Unterschied.« »Jedenfalls, das ist gar nicht das Entscheidende. Sie würden sterben, wenn ich mich nicht um sie kümmere. Die beiden sind ganz allein…« »Es schien ihnen ganz gut zu gehen, bevor du hierher kamst.« »Ma, sie sind Menschen, genau wie du und ich.« »Sie sind genau solche Menschen wie der, der deine Schwester getötet hat!« sagte sie. »Will, es ist besser, du gehst, bevor wir Dinge sagen, bei denen es keine Umkehr mehr gibt.« »Dann laß sie uns sagen.« 225
»Ich sagte alles, was ich zu sagen habe. Deine Schwester wurde von einem Indianer ermordet, und du lebst mit zwei Indianerfrauen.« »Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun«, sagte Will. »Auch mein Großvater wurde von einem Indianer getötet. Was ist…« »Ja!« »Was zum Teufel hat das eine…« »Du fluchst in diesem Haus!« »Scheiße, Ma!« »Geh und fluche bei deinen Squaws!« sagte Minerva. »Geh, fluch bei ihnen…« Sie preßte die Lippen zusammen, verschränkte ihre Arme um die Taille und wandte ihm den Rücken zu. »Mir fehlt Annabel ebenso wie dir«, sagte er. »Ich liebte sie auch«, sagte er und ging aus dem Haus. Sie stand noch am Kamin, mit dem Rücken zur Tür. Gideon trat schnell ans Fenster. Sein Bruder ging wieder hinunter zu den Zelten. Er hatte die Hände in den Taschen. Seine Schultern waren gegen den Wind vorgewölbt. Es wurde Winter. Der erste Schnee fiel Anfang November. Die Wälder waren still und weiß. Gideon arbeitete den ganzen Vormittag dort und hatte bis Mittag genug Holz gehackt, um jedenfalls über Weihnachten hinwegzukommen. Als er fertig war, fühlte er sich hundemüde, hängte sich seine Axt über die Schulter und ging über das gerodete Feld hinunter zum Haus. Sein Vater war dort mitten auf dem Feld und sprach mit Schwarzenbacher. Rundum fiel der Schnee. Schwarzenbacher war von Kopf bis Fuß in Pelzwerk gehüllt, Pelzhut, Pelzmantel, Pelzstiefel und Fausthandschuhe aus Pelz. Er sah mehr wie ein Waldtier aus als die lebenden Tiere, von denen die Felle stammten. Er winkte. Gideon erwiderte sein Winken und ging auf die beiden zu. »Ich habe Ihnen Tabak gebracht«, sagte Schwarzenbacher. »Besten Dank«, sagte Gideon.
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Schwarzenbacher zog einen seiner Fausthandschuhe aus und begann in der riesigen Tasche seines Mantels zu suchen. Hadley sah ihm ungeduldig zu; Gideon hatte den Eindruck, er sei mitten in einer bestimmten Sache gewesen. »Er soll sehr gut sein«, sagte Schwarzenbacher und reichte ihm ein zusammengefaltetes Öltuch. Gideon lehnte die Axt an sein Bein, schlug das Öltuch auf und schnupperte an dem Tabak. »Ahhh«, sagte er und nickte anerkennend. »Ja?« fragte Schwarzenbacher mit hochgezogenen Brauen. »Ja«, sagte Gideon, »ich bin Ihnen sehr dankbar.« Plötzlich erschauerte er. »Der Schweiß macht einen frösteln«, sagte er. »Ihr werdet mich entschuldigen müssen.« Er nickte Schwarzenbacher sowie seinem Vater zu und ging hinüber zum Haus. Seine Mutter stand am Tisch und knetete Teig. »Du wirst ein heißes Bad wollen«, sagte sie. »Ja.« »Ich habe Wasser gewärmt; das Bad ist hinter der Decke bereit.« »Danke«, sagte er und ging, um sich auszuziehen. Der Baderaum war angenehm warm, rund um die Deckenränder flackerte der Feuerschein, aus dem Wasser in der Holzwanne stieg Dampf hoch. Er stieg hinein, und die Hälfte des Wassers schwappte über den Fußboden – niemand von ihnen konnte es je in den Kopf kriegen, wie mächtig er wirklich gebaut war. Manchmal kam er sich wie ein Tolpatsch vor, weil er so groß war. »Wann wirst du endlich aufhören zu wachsen, Gideon?« Hahaha, ein leichter Rippenstoß. »Gideon, du siehst jeden Tag noch mehr aus wie ein Eichenwald.« Hahaha. Hoffentlich waren die Männer drüben im Westen groß, wenn er je dorthin kam. Bei großen Männern fühlte er sich wohl. Er balgte sich gern mit seinen Brüdern. Besonders mit Will, obgleich der etwas kleiner war als Bobbo. Er kannte mehr Tricks, dieser Will. Packte deinen Kopf, daß du glauben konntest, du seist in eine Bärenfalle geraten. Aber Will, der hatte keine Lust, in den Westen zu gehen. Er gehörte nicht zu ihnen, falls Sie es wissen wollen. Die hatten sich bestimmt angesiedelt. Sie würden im nächsten Frühjahr und 227
auch später hier sein, für immer. Keiner von ihnen würde von hier fortgehen. Auf der anderen Seite der Decke summte Minerva und schlug mit dem Teig auf die Tischplatte. Gideon seufzte, er genoß den Dampf, der ihn umgab. Er hörte, wie die Vordertür geöffnet wurde, hörte Hadley und Schwarzenbacher hereinkommen und den Schnee von ihren Stiefeln stampfen. »Huuuu!« sagte Hadley. »Huu-iiii!« sagte Schwarzenbacher. »Was machst du da, Min?« sagte Hadley. »Bring uns doch Whiskey.« »Hol dir deinen Whiskey selbst«, sagte Minerva. »Wollen Sie Whiskey, Schwarzenbacher?« »Ja, danke«, sagte Schwarzenbacher. »Hab ihn selbst gebrannt. Werde hier den gleichen brennen, sobald mein Mais gepflanzt und gepflückt ist.« Gideon hörte, wie die Zinnbecher auf den Tisch gestellt wurden, wie der Pfropfen aus der Kanne gezogen und der Whiskey eingegossen wurde. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte Hadley. »Ihre Gesundheit, Sir.« »Gieß mir auch einen ein, Pa«, rief Gideon hinter der Decke hervor. »Was war das? Hast du was gehört, Min? Da muß noch einer im Haus sein.« Gideon lachte. »Haben Sie's gehört, Schwarzenbacher?« »Ja, Sir«, sagte Schwarzenbacher. »Wie gut man auch ein Haus verrammelt, die kommen doch rein«, sagte Hadley. »Na, na, Pa!« sagte Gideon lachend. »Da ist es wieder!« sagte Hadley. »Du meine Güte, Schwarzenbacher, als ich jung war, stahlen die Indianer den Mais, sobald er reif war. Werden sie hier das gleiche tun?« »Ich weiß es nicht, Sir.« 228
»Es gibt doch Vorbilder, meinen Sie nicht?« »Pa?« »Hol dir doch deinen verdammten Whiskey selbst, mein Sohn! Was treibst du eigentlich hinter der Decke?« »Ich bade«, sagte Gideon. »Also, trockne dich ab, komm her und trink einen Tropfen Whiskey. Ich finde, hier ist es kalt, Schwarzenbacher. Um diese Jahreszeit war es bei uns daheim nicht so kalt. Ich frage mich also, ob die richtige Zeit zum Anpflanzen hier anders ist? Wissen Sie etwas darüber?« »Nein, Sir, tut mir leid.« »Woher stammen Sie denn?« »Aus Yonkers, New York.« »Da hast du, du Schafskopf«, sagte Hadley und reichte einen Becher mit Whiskey hinter die Decke. »Ah, danke, Pa«, sagte Gideon. Der Whiskey war gut. Er floß heiß durch die Kehle in den Magen. Der Dampf stieg hoch und verzog sich. Vor dem Fenster schneite es in dichten Flocken. »Es wäre besser, du gingest deine Tochter holen«, sagte Minerva. »Wo ist sie denn?« »Im Fort, um das zu verkaufen, was ihr gestern geschossen habt, du und deine Söhne.« »Da brauch' ich bei dem Wetter einen Schlitten.« »Dann wirst du dir einen bauen müssen«, sagte Minerva und lachte. »Ich gehe mit Ihnen, Sir«, sagte Schwarzenbacher. »Bleiben Sie und trinken Sie Ihren Whiskey zu Ende. Der Rauchfang wird bald aus der Badewanne steigen. Stimmt das, Rauchfang?« Gideon grinste und trank von seinem Whiskey. Bald darauf hörte er, wie die Vordertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ein kalter Wind fegte über den Boden der Hütte und in den Raum hinter der Decke. Er kauerte sich tiefer in die Wanne hinein. »…in Yonkers um diese Jahreszeit«, sagte Schwarzenbacher. 229
»Ja. Jetzt müssen Sie mir nur aus dem Weg gehen«, sagte Minerva, »wenn ich dieses Brot backen soll.« »Verzeihen Sie, Ma'am«, sagte er. »Ich wollte nur sagen, wie anders es in Yonkers ist. Um diese Jahreszeit.« »Ja, das stimmt, da bin ich sicher«, sagte Minerva. »Nicht, daß es mir fehlen würde«, sagte Schwarzenbacher. »Fehlt Ihnen Virginia, Ma'am?« »Es fehlt mir«, sagte sie. »Ja.« »Eigentlich war ich froh, Yonkers zu verlassen«, sagte er. »Ich kam hierher, um einen Beruf zu erlernen, Ma'am. Drüben im Osten gibt es einen lebhaften Markt für Pelze, wissen Sie. Mein Vater ist Anwalt, er wollte, daß ich Jura studierte. Ich sagte ihm, ich würde lieber Geschäftsmann werden. Er war sehr anständig diesbezüglich, wandte sich an einen Kunden in Winnipeg…« Gideon stieg aus der Wanne. Er fühlte sich durchwärmt und faul, angenehm und entspannt. Er trocknete sich ab, dann zog er die sauberen Kleider an, die ihm seine Mutter vorbereitet hatte. Als er hinter der Decke hervorkam, trug sie ihr Backblech zum Herd. Die Kohlen, die sie darauf geschichtet hatte, waren rotglühend. »Jetzt müssen Sie ganz vom Feuer weggehen«, sagte sie zu Schwarzenbacher. »Du auch«, sagte sie zu Gideon, obwohl er gar nicht in der Nähe war. »Meine Verlobte ist noch dort, wissen Sie, in Yonkers.« »Ich wußte nicht, daß Sie verlobt sind«, sagte Minerva. »Ja, ich bin es.« »Nun, das ist nett«, sagte Minerva und stellte Backrohr und Deckel auf die Kohlen. »Miss Loretta Hazlitt.« »Wie?« »Meine Verlobte.« »Wie war dein Bad, Gideon?« »Fein, Ma.« »Du wirst doch nicht wieder diese Pfeife anzünden, oder?« fragte sie und schüttelte den Kopf. 230
»Schwarzenbacher hat mir Tabak gebracht.« »Jetzt eben?« fragte sie. »Ja, Ma'am«, sagte er. »Sie ist einundzwanzig.« »Wer?« »Loretta. Sie ist mir altersmäßig näher als … nun … zum Beispiel Bonnie Sue.« »Ja, das stimmt.« »Ich finde, Ihre Tochter ist sehr tapfer«, sagte Schwarzenbacher und räusperte sich. »Sehr tapfer, Ma'am.« »Meinen Sie das?« »Ja, Ma'am. Ihn so verteidigt zu haben. Das kann ihr nicht leicht gefallen sein, Ma'am. Ich bewundere sie dafür – für das, was sie tat, Ma'am. Wirklich.« Minerva blickte zu ihm empor. »Wirklich, Ma'am.« Sie sah ihn noch immer an. »Sie ist erst sechzehn, wissen Sie«, sagte Schwarzenbacher. »Ja, das weiß ich.« Es lag etwas in ihrer Stimme, irgend etwas… Gideon konnte nicht ergründen, was. Er zog die Schultern hoch und zündete seine Pfeife an. Irgendwie mochte er Schwarzenbacher. Der Mann hatte keine Ahnung von dem, was ein Körper wissen mußte, aber ihm gefiel er doch. Es machte ihm gewissermaßen Vergnügen, ihm kleine Dinge beizubringen. »Sie haben niemals Eichhörnchen gegessen, wie?« fragte Gideon. »Nein, nie. Und ich habe auch nicht vor, es zu tun.« »Da entgeht Ihnen aber etwas Feines, Schwarzenbacher.« Das tote Eichhörnchen lag draußen auf einem flachen Felsblock. Gideon hatte den Felsen vom Schnee gesäubert, häutete das Tier nun ab und machte es zurecht. Schwarzenbacher sah zu, wie er mit
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seinem Messer rund um die Hinterbeine und dann um die Schwanzwurzel schnitt. »Sie sollten lernen, wie man das macht«, sagte Gideon. »Warum?« fragte Schwarzenbacher. »Nun ja … hier draußen«, sagte Gideon und wälzte das Tier auf den Rücken. »Ich beabsichtige nicht, noch viel länger hier draußen zu bleiben«, sagte Schwarzenbacher und senkte sofort die Stimme. »Aber das bleibt unter uns, Gideon.« Gideon nickte. Nichts hatte er lieber als ein Geheimnis. Er trat mit dem Fuß auf den Schwanz des Eichhörnchens, dann zog er an den Hinterbeinen. Das Tier kam fast völlig aus seinem Fell. Er schnitt die Pfoten ab und dann die restliche Haut vom Hals los. »Ich dachte daran, nach Kalifornien zu gehen«, sagte Schwarzenbacher. »Ich habe den Eindruck, dort gibt es mehr Möglichkeiten für mich.« »Ich werde selbst im kommenden Frühjahr dorthin gehen«, sagte Gideon und schnitt den Kopf ab. »Wann glauben Sie, daß die Wagenzüge hier wieder durchkommen?« »Irgendwann im Juni.« »Wird es viele geben?« »Genug.« »Glauben Sie, daß sie bereit sein werden, jemanden mitzunehmen?« »Sie würden sicher bei jeder Gruppe willkommen sein.« »Also erst im Juni, wie?« sagte Gideon, schnitt die Hinterbeine ab und begann das Tier auszunehmen. Schwarzenbacher wandte den Kopf ab. »Ich hatte gehofft, schon früher loszuziehen.« »Juni ist die Zeit, in der sie kommen.« »Mhmmm«, sagte Gideon. »Sie schneiden es einfach in kleine Stükke, tauchen diese in Mehl, Salz und ein wenig Pfeffer. Gebacken schmecken sie wirklich köstlich.« »Glauben Sie, Bonnie Sue würde es in Kalifornien gefallen?« fragte Schwarzenbacher. »Bonnie Sue?« 232
»Ja, Ihre Schwester.« »Also, was…« »Ich meine, wenn das Baby geboren ist. Glauben Sie, sie würde bereit sein, in den Westen zu gehen?« Gideon sah ihn an. »Nun ja, ich weiß wirklich nicht«, sagte er. »Ich dachte, ich würde dort ins Eisenwarengeschäft einsteigen«, sagte Schwarzenbacher. »Eisenwaren sind ein gutes Geschäft«, sagte Gideon und fragte sich, was zum Teufel Eisenwaren mit Bonnie Sue zu tun hatten. Ja, war denn…? Ach so, dachte er. Sie hatten im Wald eine Fichte gefällt und sie mit Beeren und Kerzen geschmückt. Der Duft erfüllte das Haus. Unter dem Baum lagen Geschenke, die in bunten Stoff gepackt und mit Bändern verschnürt waren. Im Kamin brannte ein helles Feuer. Es roch nach frisch gebackenem Brot; plötzlich bekam Schwarzenbacher Heimweh nach dem Haus in Yonkers. Bonnie Sue werkte im Haus herum, sie war hochschwanger, und Minerva rief ihr zu, sie solle nach dem Schneehuhn und dem Steppenhuhn sehen, die Gideon am Tag vorher geschossen hatte. Die Geschenke hatten sie selbst gebastelt oder von den Indianern im Tauschhandel erworben. Schwarzenbacher war beladen mit Geschenken, die er gehortet hatte wie ein Eichhörnchen, und er verteilte sie wie ein blonder Weihnachtsmann, strahlend bei jedem Empfänger. Als er Bonnie Sue sein Geschenk gab, sagte er: »Es ist nicht viel«, und sie antwortete: »Aber ich habe keines für Sie, Schwarzenbacher.« »Macht nichts«, sagte er. »Bitte machen Sie es auf«, und beobachtete sie, während sie das Geschenk auspackte. Es war ein Krötensteinring aus dem 17. Jahrhundert, der seiner Mutter vor ihrem Tod gehört hatte. »Hoffentlich paßt er«, sagte er. 233
»Danke«, sagte sie, und blickte nicht hoch von dem in den Ring gemeißelten Frosch und probierte den Ring nicht an. »Er hat meiner Mutter gehört«, sagte er. »Er ist schön«, sagte sie. Und steckte den Ring noch immer nicht an ihren Finger. Minerva packte ihr Geschenk von Hadley aus. Er hatte es von den Indianern gekauft, ein ganz aus Muscheln bestehendes Halsband. Sie dankte ihm, küßte ihn und zog es über den Kopf. Da war auch eine mit Perlen bestickte Jacke für Bobbo und eine Pfeife, die ein Indianer im Auftrag Bonnie Sues für Gideon geschnitzt hatte. Es gab auch Lederwesten und Gürtel, Schnallen und handgenähte Mützen und Kleider, und eine Klapper, die Bobbo aus einem Kürbis gemacht und Bonnie Sue für das Baby geschenkt hatte, das kommen würde. Schwarzenbacher konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Sie hatte den Ring noch immer nicht an ihren Finger gesteckt. Einen Augenblick lang dachte er, sie würde ihn zurückgeben, aber dann sah er, daß sie ihn in die Tasche ihres Rocks steckte. Er erinnerte sich ihrer Herkunft und wußte, sie würde nicht so taktlos sein und ein Geschenk zurückgeben. Sie war nun beim Feuer und hantierte mit dem Geflügel, die Flammen spielten in ihrem goldenen Haar. »Wollen Sie nun nicht Ihr Geschenk von den Chisholms aufmachen?« fragte Hadley. »Sir?« »Es liegt dort auf dem Kamin, Schwarzenbacher. Wenn es eine Schlange wäre, würde sie Sie beißen.« »Danke«, sagte Schwarzenbacher und ging zum Kamin, wo neben einem Kerzenleuchter aus Zinn ein kleines Paket lag. Es war in grünes Tuch gewickelt und mit einem roten Band verschnürt. Sein Name stand darauf, Schwarzenbacher, und darunter ›frohe Weihnachten‹. Nach der Schwere und der Form nahm er an, es sei eine Taschenuhr. Er fürchtete schon, sie hätten ihm etwas zu Wertvolles geschenkt, vielleicht ein Erbstück, etwas, das er nicht verdiente, etwas, das ihn in Verlegenheit bringen würde. Seine Hände zitterten. Er schob das 234
Band von dem Paket, ohne den Knoten zu öffnen, und wickelte das Geschenk dann aus dem Tuch. In einen kleinen ovalen Messingrahmen, der zweifellos den ganzen Weg von Virginia bis hierher mitgeführt worden war, hatten sie eine zarte Bleistiftzeichnung von Bonnie Sue geschoben. »Das hat der Mann gezeichnet, der uns zum Platte führte«, sagte Hadley. »Er hieß Timothy Oates.« »Ein besserer Künstler als George Catlin«, sagte Bobbo. Er war ja gut unterrichtet. Schwarzenbachers Herz machte vor Freude einen Sprung; damit sagten sie ihm, daß sie mit ihm einverstanden waren. Und plötzlich begann er innerlich zu beben. Noch fehlte Bonnie Sues Einverständnis. Sein sorgfältig einstudierter Antrag war in seinem Kopf so gut wie nicht mehr vorhanden. Er wollte gleich jetzt damit herausplatzen, bevor er ganz verschwand – »Heiraten Sie mich, ich liebe Sie!« Statt dessen wandte er sich ihr zu, während sie den Tisch mit Zinngeschirr deckte, und sagte: »Haben Sie das gesehen, Bonnie Sue?«, und sie blickte auf die gerahmte Bleistiftszeichnung und sagte: »Ja. Es sieht mir ähnlich, meinen Sie nicht?« »Ja«, sagte er. »Bonnie Sue, könnte ich vielleicht privat ein Wort mit Ihnen sprechen?« »Worüber?« »Nun, könnten wir uns dort in die Ecke setzen? Ich möchte nicht, daß Sie herumwerken, während ich meine Rede halte.« »Soll es eine Rede werden?« fragte sie. »Gewissermaßen.« »Dann bitte, setzen wir uns hin«, sagte sie, stellte die Zinnteller hin und ging voraus zu der Holzbank an der Wand. Sie setzte sich, glättete ihren Rock und wandte sich ihm zu. Schwarzenbacher setzte sich neben sie. Er räusperte sich. »Bonnie Sue«, sagte er, oder glaubte er zu sagen, darauf räusperte er sich nochmals und sagte, diesmal zu laut: »Bonnie Sue«, dann senkte er seine Stimme. »Zuerst möchte ich Ihnen ein wenig über mich selbst erzählen.« 235
»In Ordnung«, sagte sie. »Vielleicht wissen Sie es oder vielleicht wissen Sie es nicht«, sagte er, seine eingelernte Rede beginnend, »und vermutlich liegt Ihnen gar nichts daran zu wissen, daß ich hierher nach Fort Laramie mit der Absicht kam, das Pelzgeschäft zu lernen, wobei ich auf der untersten Stufe anfing, dem Kauf der Felle von Jägern und Trappern. Ich habe meine Ansicht über Pelze geändert, denn um Ihnen die Wahrheit zu sagen, an den Fellen toter Tiere ist nichts allzu Anregendes, und mir wäre es lieber, sie behielten ihre Felle, als daß sie sie verlieren.« Er nickte, ziemlich befriedigt von dem, was er eben gesagt hatte. Er sah ihr in die Augen. Sie waren groß und grün, intelligent und lebhaft, und sie hingen an seinem Gesicht. Er ahnte, daß sie ihm bereits weit voraus war, und verfluchte die lästige Rede, die er auswendig gelernt hatte, setzte sie aber dennoch fort. »Ich habe die Absicht, im Frühjahr nach Kalifornien zu gehen«, sagte er, »sobald mein Vertrag mit der Amerikanischen Pelzgesellschaft abgelaufen ist. Ich beabsichtige, mein Glück im Westen zu machen. Ich habe mit Gideon gesprochen, Ihrem Bruder Gideon…« »Ja«, sagte Bonnie Sue. »Ja, und ich weiß von seinem eigenen Plan, nach Kalifornien zu gehen, und ich dachte, wir könnten die Reise gemeinsam machen. Ich dachte auch daran, Bobbo gleichfalls zu überreden, mitzukommen und das Haus hier Ihren Eltern zu überlassen…« Er war von der geplanten Rede abgewichen; er schweifte ab. »Mit dieser einen Sache hat Orliac recht, Bonnie Sue…« »Welche Sache ist das?« fragte sie. »Daß hier nur geringe Gefahr für einen Angriff der Indianer besteht, da das Fort ein Ort ist, wo Geschäfte gemacht werden, und Indianer sind, wenn es sich um Geschäfte handelt, genauso schlau wie andere Menschen. Ich will damit sagen, Ihre Eltern wären hier in Sicherheit, falls Ihre beiden Brüder sich zu der Reise entschließen, und – und Sie und das Baby mit ihnen. Das Baby kommt im März…« »Ich glaube, im Februar«, sagte Bonnie Sue. 236
»Das ist noch besser«, sagte er, »das heißt, Sie werden im Juni kräftig genug für die Reise sein, Sie und das Baby. Ich bitte Sie, mit mir zu kommen, wenn ich fortgehe, Bonnie Sue. Als meine Frau, Bonnie Sue. Kommen Sie mit mir nach Kalifornien.« Er kehrte wieder zu der vorbereiteten Rede zurück, nahm sie nicht ganz dort wieder auf, wo er sie verloren hatte, sondern erzählte ihr, wie sehr er sie bewundere und wie seine Bewunderung an jenem Tag des Prozesses im Hof begonnen hatte, als sie so großartig Lester Hakkett verteidigt hatte; all das hatte er gründlich geprobt und erzählte es ihr jetzt mit geübter Leichtigkeit und wohlüberlegter Aufrichtigkeit, obwohl es ihm mit jedem Wort auch ernst war. Er sagte ihr, daß er sie mehr liebe, als er jemals in seinem Leben jemanden geliebt habe, daß er sie mehr liebe als das Leben selbst – ja, er würde ihr sein Leben sofort zu Füßen legen, wenn sie das von ihm verlangte, ohne Zögern und ohne Reue. Er sagte ihr, er habe seine Verlobung mit Miss Loretta Hazlitt in Yonkers (New York) gelöst, habe ihr mit einigen Trappern, die im Fort gewesen waren – vielleicht erinnere sie sich, die Trapper gesehen zu haben, der eine hatte nur ein Ohr, der andere war ständig betrunken – einen Brief geschickt, von dem er sicher war, daß ihn Loretta nun bereits erhalten habe. Kurz, er hatte seine Pflicht als Gentleman erfüllt, indem er sie ihrer Schwüre entbunden habe, und war nun frei, Bonnie Sue um ihre Hand zur Ehe zu bitten, was er hiermit tue. Er versicherte ihr, er werde das Baby als sein eigenes annehmen und wie sein eigenes lieben; ob es ein Junge oder ein Mädchen sein würde, das spiele keine Rolle, er würde das Baby ebenso herzlich lieben wie er jetzt seine Mutter liebe. »Wenn Sie mich haben wollen«, sagte er, »könnten wir sofort heiraten und in meine Wohnung im Fort ziehen, die weder luxuriös noch groß ist, die uns aber gut dienen wird, bis wir im Juni nach Kalifornien gehen. Willst du mich heiraten, Bonnie Sue?« »Ich liebe Sie nicht«, sagte sie. »Das wird kommen«, sagte er. »Mit der Zeit.« »Nein«, sagte sie. 237
Die Nacht war schneidend kalt. Dampfwolken stiegen aus ihrem Mund, als sie den Hügel zum Fort hinunterkamen, die Arme beladen mit Geschenken für Will. Bobbo war blau und sang. Gideon versuchte dauernd, ihn zum Schweigen zu bringen. Es standen jetzt nur zwei Zelte vor dem Fort, aus beiden stieg Rauch in die kristallklare Nacht. Will hörte sie kommen, steckte den Kopf hinaus und trat dann in die Kälte. »Hallo, wie geht's euch?« sagte er. »Frohe Weihnachten!« »Frohe Weihnachten«, sagte Gideon und ergriff seine Hand. »Hallo, du!« schrie Bobbo und drückte seinen Bruder an sich. »Frohe Weihnachten, Will!« »Kommt rein, ihr zwei! He, Catherine!« schrie er und warf die Zeltklappe zurück. »Schau, wer da ist!« Im Inneren brannte ein Feuer. Die zwei Frauen saßen daneben. Sie erhoben sich sofort, beide lächelten zur Begrüßung. Catherine wies auf eines der Felle, Gideon sagte »Danke« und legte die Geschenke, die er trug, darauf. Bobbo setzte sich mit gekreuzten Beinen nieder. Einen Augenblick herrschte gespannte Stille, dann sagte Gideon: »Hör mal, Will, du hast uns heute gefehlt.« »Ja, ihr alle habt mir auch gefehlt. Hör mal, warte nur, was wir für euch haben. Wie geht es Ma, ist sie gesund?« »Es geht ihr prima«, sagte Gideon. »Pa hat dir diese Kanne Whiskey geschickt. Es ist so ziemlich der letzte, Will. Er teilt ihn in der letzten Zeit so sparsam aus, als wäre es Gold.« »Also laßt uns jetzt alle Whiskey trinken«, sagte Will. »Schwester, trink einen Whiskey. Sag ihr Whiskey, Catherine.« »Heißt sie so?« fragte Gideon. »Schwester?« »Nun ja, Catherine nennt sie so«, sagte Will. »In Wirklichkeit ist sie ihre Schwägerin. Sie waren mit demselben Mann verheiratet. Also dann los – ah, gut«, sagte Will und nahm einen von den Trinkbechern, die Catherine neben ihm auf den Boden gestellt hatte. »Wir haben ein paar nette Dinge für euch gemacht«, sagte er und dann zu Catherine, die wieder aufstehen wollte: »Nein, Liebste, laß dir Zeit, trink zuerst ein wenig Whiskey. Frag Schwester, ob sie ein we238
nig trinken will. Whiskey«, sagte er zu Schwester und nickte. Catherine bewegte ihre Hände. Will reichte die gefüllten Trinkbecher herum. »Frohe Weihnachten«, sagte er. »Frohe Weihnachten«, sagten seine Brüder, fast zugleich. Catherine nickte. »Fro-Weihnacht…«, sagte Schwester und trank. »Bonnie Sue wäre mit uns herunter gekommen, Will, aber der Schnee ist tief, und sie ist so dick wie eine Tonne.« »Ist gut«, sagte er. »Schwester hat einen hübschen Kamm für sie gemacht, nicht wahr, Schwester?« sagte er und machte ein Zeichen mit seinen Händen. »Kamm«, sagte Schwester und nickte. »Sie lernt ein wenig Englisch. Catherine kann nicht sprechen, wißt ihr, Hurensöhne haben ihr die Zunge herausgeschnitten, als sie noch kaum erwachsen war.« »Mach das noch mal, Will«, sagte Bobbo. »Was meinst du? Das mit den Händen? Das bedeutet Kamm«, sagte er und machte das Zeichen wieder. »Sicher, sieht auch aus wie ein Kamm«, sagte Gideon. »Tatsächlich«, sagte Bobbo. »Will, wie heißt sie?« »Schwester«, sagte Will. »Tag, Schwester, wie geht's dir?« sagte Bobbo und streckte ihr die Hand entgegen. Schwester ergriff die Hand. »Sie kann Hände schütteln«, sagte Will. »Schütteln«, sagte Schwester und nickte. »Richtig«, sagte Bobbo. »Willst du das nicht aufmachen, was wir gebracht haben, Will?« »Natürlich mach' ich es auf. Moment mal, laßt mich – nein, setzt euch hin. Catherine, ich werde es holen. Wie war euer Weihnachtsmahl? War es schön?« »O ja, wirklich fein«, sagte Gideon. »Und eures?« »Ich hab' uns ein paar prima Vögel geschossen…« 239
»Na hörst du, ich auch«, sagte Gideon. »Ja?« sagte Will. »Also wie gefällt euch das?« Er lachte und ging auf die andere Seite des Zeltes, wo er einen Korb aufhob, der übervoll von Geschenken war. Er trug ihn zu dem Fell zurück, stellte ihn vor seine Brüder und sagte: »Ich habe auf jedes den Namen des Empfängers geschrieben. Das hier ist für dich, Gideon, und laß mich sehen… Catherine, wo ist – Augenblick mal. Ist das hier für Bobbo? Hier in dem Fell? Das mit dem blauen Riemen da?« Catherine nickte. »Ja, sieh mal, Bobbo«, sagte er. »Catherine hat es gemacht. Vorwärts, schaus dir an. Gideon, mach deines auf, komm.« »Wir haben Verschiedenes für euch gebracht – auch für die Frauen«, sagte Gideon. »Danke, ich weiß es zu schätzen«, sagte Will. Bobbo öffnete sein Paket. Die Holzflöte war zierlich geschnitzt, in Orange und Blau verziert. Er sah sie an und hatte das gleiche Gefühl wie damals, als er Timothys Zeichnung gesehen hatte. Plötzlich standen Tränen in seinen Augen. »Na, hör mal«, sagte Will. »Sie ist so schön«, sagte Bobbo. »Danke, Will. Danke, Catherine. Schwester.« »Will, du mußt es Ma verzeihen, daß sie nicht…« »Ich verstehe«, sagte Will. »Wirklich.« »Packt eure Geschenke aus, Will. Bitte, wir möchten, daß ihr eure Geschenke aufmacht.« »Ja«, sagte Will und hob wieder seinen Becher. »Frohe Weihnachten«, sagte er. »Frohe Weihnachten«, sagte Gideon. »Dir auch, Catherine. Das ist für dich, das mit den Tupfen. Und Schwester…« »Fro-Weihnach…«, sagte Schwester wieder und trank. »Falls du es nicht wissen solltest«, sagte Will, »es heißt ›frohe Weihnachten‹.« »Auf indianisch?« fragte Bobbo. »Zum Teufel, nein. Auf englisch!« sagte Will. 240
Catherine lachte. Schwester lachte mit ihr. Und plötzlich lachten sie alle. Gideon war allein mit Bonnie Sue, als die ersten Wehen kamen. Er hatte sich am Tag vorher im Wald den Knöchel verstaucht, als er über eine im Schnee verborgene, verflixte Wurzel stolperte. Tat jetzt verdammt weh. Bonnie Sue saß im Schaukelstuhl neben dem Feuer. Auf dem Kamin tickte die Uhr. Es gab Zeiten, da wollte er die verdammte Uhr nehmen und sie quer durch den Raum schleudern, um das von den Maultieren begonnene Stück Arbeit zu vollenden. »Du würdest doch glauben, er hätte sich entmutigen lassen«, sagte Bonnie Sue. »Ja«, sagte Gideon, erhob sich und begann umherzuhinken. »Oder wäre böse oder sonst was.« Es schmerzte noch immer teuflisch. »Aber nein, seit Weihnachten kommt er jeden Tag wieder herauf.« »Nun ja, vielleicht ist er verrückt«, sagte Gideon. »Weißt du, was er mir zuletzt sagte?« »Nein, was sagte er?« fragte Gideon. Er haßte es, daß er sich nicht so bewegen konnte wie üblich. »Er sagte, es sei mein Stolz, der mich dazu bringt, ihn abzuweisen.« »Ja, der ist verrückt«, sagte Gideon. »Sagte, ich glaube, er habe mir aus Mitleid den Antrag gemacht, und mein Stolz lasse nicht zu, daß ich ihn annehme. Ich sagte ihm, es habe nichts mit meinem Stolz zu tun, sondern nur damit, daß ich ihn nicht liebe. Glaubst du, daß es etwas mit Stolz zu tun hat, Gideon?« »Ich weiß nicht, womit es etwas zu tun hat. Er will doch dich heiraten, wie also soll ich es wissen.« »Wenn du so herumhumpelst, wird es deinem Knöchel nicht helfen«, sagte Bonnie Sue.
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»Also, dein Geplauder hilft ihm auch nicht«, sagte Gideon. »Du willst den Mann heiraten, warum gehst du dann nicht hin und heiratest ihn, anstatt…« »Ich will ihn nicht heiraten. Ich frage nur, ob du glaubst, daß es Stolz ist oder nicht.« »Was hat meine Ansicht damit zu tun?« sagte Gideon. »Ich brauche ihn ja nicht zu lieben, sondern…« »Oh!« sagte Bonnie Sue. Er wandte sich sofort zu ihr. Ihre Augen waren vor Überraschung weit offen. Sie verzog das Gesicht, faßte dann an ihren Bauch, sagte wieder »Oh!« und setzte sich mit über dem Bauch verschränkten Armen hin; sie blickte gerade vor sich in den Raum. »Bonnie Sue?« »Schon gut«, sagte sie. »Schwesterlein?« »Schon gut, Gideon. Lauf hinunter zum Fort und hol Mama.« »Bonnie Sue?« sagte er. Er war nun am Rand einer Panik. »Tu, was ich sage, Gideon! Schnell!« Er ging hinaus, ohne eine Jacke anzuziehen. Er hinkte auf seinem geschwollenen Knöchel durch den Wald, stechender Schmerz durchzuckte jedesmal sein Bein, wenn er den Fuß aufsetzte, einmal stolperte er im Schnee und verstauchte sich beinahe den anderen Knöchel, ging in die Knie, schnappte nach Luft, erhob sich dann wieder und untersuchte den Knöchel, dann lief er weiter zum Fort. Er kam an dem Baum vorbei, wo man Lester Hackett gehängt hatte, dessen Kind jetzt auf die Welt kam, die Äste streckten sich nackt und schwarz in den grauen Winterhimmel, die Sonne war kaum als weißer Ball durch das Grau des Himmels zu sehen. Der Fluß war fast völlig zugefroren, mit Ausnahme einiger Flecken da und dort, wo das Wasser schwarz durch die Eisblöcke strömte. Die Bäume sahen aus wie Bleistiftskizzen, wie schwarz hingekritzelte Linien gegen das Grau. Rund um ihn war alles still. Seine Schritte wurden durch den Schnee gedämpft, bis er einen kleinen Hügel emporzuklettern begann, bei dem ihn der Wind voll traf; dort brach 242
er bei jedem Schritt in die Schneekruste ein, es krachte in der Stille. Er kam zur Spitze des Hügels und eilte dann wieder hinunter zum Fort. Sein Knöchel schmerzte heftig, sein Herz klopfte in seiner Brust, als wollte es die Rippen sprengen. Das hintere Tor war offen. Er betrat das Fort, lief an den Maultieren und Pferden vorbei und dann quer über den Hof zur anderen Seite, wo die Küche lag und wo er seine Mutter zu finden hoffte. Der Koch schlummerte auf einem umgekehrten Faß, mit dem Rücken gegen die Küchenwand, die Füße auf einem kleineren Fäßchen. Gideon kam schreiend herein, der Koch setzte sich auf und sagte erschrocken: »Was ist los?« Seine Stimme klang wie ein Quietschen, er riß vor Angst die Augen weit auf, als glaube er von plündernden Indianern zu träumen. »Wo ist meine Mutter?« sagte Gideon. »Deine Mutter?« sagte der Koch. »Meine Schwester bekommt ihr Kind!« sagte Gideon. »Deine Schwester?« sagte der Koch, und dann ging ihm endlich ein Licht auf. Das war der Bruder von der, die von dem Pferdedieb geschwängert worden war. Sofort erhob er sich von dem Faß und sah sich verdutzt in der Küche um, als ob er Minerva irgendwohin gelegt hätte, vielleicht in einen Verschlag oder eine Schublade, sich aber nicht genau erinnern könne, wohin. Gideon atmete stoßweise, seine Brust brannte, sein geschwollener Knöchel pochte schmerzhaft. Er sah den Mann hilflos an, in der Erwartung, er werde etwas sagen, etwas tun. In diesem Augenblick kam Schwarzenbacher in die Küche gestürmt. Er hatte in seinem Büro nebenan den Lärm gehört. Als er Gideon sah, fragte er sofort: »Handelt es sich um Bonnie Sue?« »Ja!« sagte Gideon. Schwarzenbacher lief aus der Küche. Draußen auf dem Hof stand Will und hielt einer Indianerin, die mit gekreuzten Beinen vor einer Ziege saß, zwei tote Ratten entgegen. Die Frau hatte Milch und Käse zu verkaufen, und Schwester verhandelte mit ihr. Die Frau schüttelte den Kopf, sagte etwas zu Schwe243
ster und schüttelte wieder den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wurde plötzlich abgelenkt; die beiden folgten ihrem Blick. Schwarzenbacher rannte ungestüm über den Hof, Gideon hinkte hinter ihm her. »Will!« schrie Schwarzenbacher. »Wo ist Ihre Mutter?« »Was?« sagte Will. »Ihre Mutter, Ihre Mutter! Sie war vor kurzem hier. Wohin…?« Verdutzt breitete Will die Hände aus, schüttelte den Kopf. »Bonnie Sue bekommt ihr Baby!« schrie Schwarzenbacher, faßte Schwesters Hand und zog sie zum Hauptausgang. Es hätte eine vom Haus getrennte Hütte geben müssen; dort hätte das Baby geboren werden sollen. In Ermangelung einer solchen Hütte hätte es einen Teil im Haus geben sollen, der vom Rest des Hauses abgetrennt war, mit einer Schutzwand aus Holz und Fellen, um die anderen daran zu hindern, der gebärenden Frau zuzuschauen. Es war für Männer nicht zulässig, in der Hütte oder im Haus anwesend zu sein, doch hier im Haus befanden sich Will, sein Bruder und der Mann aus dem Fort. Das wollte Schwester nicht gestatten. Sie ging zu ihnen, schob sie hinaus und schloß die Tür hinter ihnen. Bonnie Sue lag auf dem Bett an der Ostwand auf dem Rücken. Auch das war falsch. Die richtige Stellung für eine Frau in Wehen war nicht flach auf dem Rücken, wo sie gegen die Schmerzen, die sie in Wellen durchfuhren, nichts tun konnte als sich winden und krümmen. Sie hätte statt dessen knien sollen, damit sie das Kind aus ihren Lenden pressen konnte. Es hätte ein Seil an einem der Deckenbalken angebunden sein sollen, und an dem sollte sie sich festhalten, um nicht vornüber zu fallen. Oder man hätte zwei Pfosten in den Boden schlagen sollen, einen für jede Hand, an denen sie sich festhalten konnte, während sie dort kauerte. Doch nein, sie lag auf dem Rücken und zuckte bei jeder neuen Wehe zusammen. Schwester wunderte sich über diese Dummheit. Sie ging zu ihr und faßte ihre Hand. 244
»Was gibt es? Was…?« sagte Bonnie Sue. »Oh, heiliger Jesus!« schrie sie und wand sich wieder in Schmerzen. »Auf«, sagte Schwester. »Was?« »Auf!« sagte sie und machte mit den Händen eine Bewegung nach oben, wobei sie ihre Handflächen zur Decke hob. »Komm, auf.« »Du willst – au!« sagte sie »Au!« und kniff die Augen zusammen. »Komm!« sagte Schwester, faßte ihre beiden Hände und zog sie vom Bett hoch. Bonnie Sue klammerte sich verdutzt an sie, dann begriff sie, daß die Frau wollte, sie solle sich niederhocken, und daß sie ihr sanft in eine kauernde Stellung verhalf. Schluchzend, mit rinnender Nase, das Haar naß von Tränen und Schweiß kniete sie vor ihr nieder. Schwester zog an ihren Armen, brummte, schnitt Grimassen und versuchte ihr zu zeigen, was sie tun solle, um das Kind aus sich herauszupressen. Bonnie Sue sagte, »Jesus!« und dann »O Gott!« und dann »O süße Mutter Gottes…«, und Schwester drückte fest ihre Hände und sagte »Du!« »Was?« sagte Bonnie Sue und blickte ihr ins Gesicht. »Wo ist meine Mama? Bitte hol meine – o Jesus! Jesus!« »Du!« sagte Schwester wieder, schüttelte ärgerlich immer wieder den Kopf, zerrte an Bonnie Sues Händen, bis Bonnie Sue endlich selbst dagegen zog. »Ah!« sagte Schwester laut und wieder »Ah!«, preßte das Gesicht zusammen, stieß wieder den Grunzlaut aus und sagte »Du, du«, und nun begann Bonnie Sue zu pressen, schrie »Jesus, Jesus« und drückte. »Ah«, sagte Schwester und nickte ermutigend, »Ah, ah« und Bonnie Sue sagte, »Ja, bitte hilf mir«, und preßte wieder, diesmal stärker. Schwester kniete vor ihr, mit einer ausgestreckten Hand hielt sie beide Hände Bonnie Sues, die andere hielt sie unter sie, um den Kopf des Babys zu stützen, das aus ihrem Schoß zu gleiten begann. »Du!« schrie Schwester, und Bonnie Sue preßte so heftig, daß sie fürchtete, sie würde sich in die Hose machen. Verwirrt, schluchzend klammerte sie sich fest an Schwesters Hand und spürte, wie das Baby aus ihren Lenden glitt. Plötzlich war sie 245
überschäumend fröhlich und hörte das Triumphgeschrei des Babys, schmetternd wie Trompetenschall. Als Minerva ins Haus kam, fand sie Bonnie Sue im Bett, mit dem Baby auf ihrem Bauch. Wills Indianerin reichte ihr einen Fetzen, auf dem die Nachgeburt lag, die Minerva sofort in einen Abfalleimer warf. Die Indianerin schüttelte heftig den Kopf. Minerva wußte nicht, was sie ihr sagen wollte. Sie wußte nur, daß Bonnie Sue und das Baby dringend gewaschen werden mußten, und das tat sie sofort. Die Indianerin stand dabei, sah ihr zu und schüttelte, sichtlich entsetzt, den Kopf. Minerva zog die blutbefleckten Laken vom Bett und ersetzte sie durch saubere. Die Frau runzelte die Stirn. Minerva wickelte das Baby in eine Decke und reichte es ihr. »Hier«, sagte sie, »halte das Kind.« Dann half sie Bonnie Sue in ein sauberes Nachthemd und kämmte ihr Haar. Sie nahm das Kind aus den Armen der Indianerin und legte es in Bonnie Sues Arme. Bonnie Sue lächelte müde. »Das war das Schwierigste, was ich je im Leben getan habe«, sagte sie. »Und ich war nicht hier, um dir zu helfen«, sagte Minerva und schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Ich habe mich wirklich gefragt, wo du warst«, sagte Bonnie Sue. »Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, den Umweg zu machen. Ich kam über den Hügel hinter der Stelle, wo der Fluß…« »Ma«, sagte Bonnie Sue, »ist das Baby…« »So gesund, wie es nur sein kann, mein Kind.« »Gott sei Dank«, sagte Bonnie Sue und wandte sich zu Schwester um. »Ich danke dir«, sagte sie. Schwester blickte sie ausdruckslos an. »Danke für das, was du getan hast«, sagte Bonnie Sue. Minerva ging zur Tür und öffnete sie. Schwarzenbacher sah zu Tode erschrocken aus. Gideon und Will standen dort, die Hände in den Taschen. »Es ist ein Mädchen«, sagte Minerva. 246
Schwarzenbacher nickte. »Ist Bonnie Sue…« »Es geht ihr ausgezeichnet«, sagte Minerva. »Kommt herein.« Will blieb zurück. »Komm doch«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. »Du mußt mir helfen, Schwester zu danken – heißt sie so, nennt ihr sie so?« »Ja, Ma«, sagte Will. »Bitte, komm herein, mein Sohn«, sagte sie. Er ging ins Haus, und seine Mutter drückte ihn an sich. Am nächsten Tag war Schwarzenbacher wieder da. Bonnie Sue saß aufrecht im Bett mit dem Baby in ihren Armen. Durch das Fenster schien die Sonne herein und umfing ihr goldenes Haar mit einem blassen winterlichen Licht. Sie fragte, ob er glaube, das Kind sei schön, und er sagte, ja, das glaube er. Sie fragte, ob er glaube, daß ihr das Kind ähnlich sehe, wobei sie schnell hinzufügte, sie strebe nicht nach Schmeichelei, sondern denke nur an das blonde Haar und die blauen Augen; sie hatte selbst bei der Geburt blaue Augen gehabt. Er sagte, er finde tatsächlich, daß ihr das Kind ähnlich sehe, in den Farben und in der Schönheit, und dann fragte er, welchen Namen sie dem Mädchen geben wolle. Sie sagte: »Was meinen Sie?« Er sagte: »Ich dachte, nach Ihrer Schwester, es sei denn, es bereitet der Familie Kummer.« »Ich werde sie fragen«, sagte sie. Dann sprachen sie über das Wetter, wie mild es für diese letzte Februarwoche war. Er erzählte ihr, er habe im Schnee am Fluß wilde Blumen in Blüte gesehen und äußerte die Ansicht, daß der Frühling in diesem Jahr frühzeitig kommen werde. »Bonnie Sue«, sagte er schließlich, »haben Sie noch weiter darüber nachgedacht…?« »Ich weiß Ihren Namen noch gar nicht«, sagte sie. »Was?« »Ihren Vornamen.« 247
»Ach so«, sagte er. »Wie lautet er denn?« »Franz.« »Franz«, sagte sie. »Ja.« »Franz Schwarzenbacher«, sagte sie. »Genau.« Aus irgendeinem Grund lachten sie beide. Und dann schwiegen sie. »Weiter nachgedacht…«, sagte sie. »Ja, das wollte ich wissen…« »Worüber?« »Über das, worüber wir zu Weihnachten sprachen.« Sie schwieg eine Weile. Sie streichelte das an ihrer Brust schlafende Kind. Dann sagte sie: »Das ist nicht Ihr Kind. Ich sehe nicht ein, wie Sie…« »Ich kann«, sagte er bestimmt. »Wird es Sie nicht stören?« »Doch«, sagte er. »Es stört mich sogar jetzt, daß es jemand vorher gab. Und ich werde dir etwas sagen, Bonnie Sue, sollte es nachher jemand geben, bring ich ihn um und dich dazu. Aber ich liebe dich, und ich würde dich nehmen, wenn vor mir eine Armee gewesen wäre, das ist die Wahrheit. Was sagst du jetzt? Ich habe dich einmal gefragt, und ich frage dich wieder. Wenn du mich diesmal ablehnst…« Er zögerte. Dann sagte er: »Werde ich dich nächste Woche wieder fragen«, und lächelte so jungenhaft, daß er in diesem Augenblick ihr Herz eroberte. »Willst du mich heiraten?« »Ich glaube, ja«, sagte sie. Die Art, wie sie ständig aus ihren Karten lasen, kam Hadley beinahe religiös vor. Wie bei der Genesis, wo alle Nachkommen von diesem oder jenem aufgezählt wurden. Seine Söhne lasen nicht Namen vor wie Schechem und Schobal, sondern sie nannten Orte und 248
Entfernungen von einem Ort zum anderen, als ob sie die Reise in Abschnitte teilen wollten und sie dadurch kürzer würde, als sie war. Es waren zweitausendeinhundert Kilometer, das war sicher. Daran konnte man nichts ändern, auch wenn man es in die Hälfte oder in Vierteln oder in kleine Stückchen teilte. Es blieben immer zweitausendeinhundert Kilometer bis Kalifornien, und das war doppelt soviel wie von Independence bis hierher. Als er dann hörte, wie Gideon sagte, es seien nur zweihundertzehn oder zweihundertzwanzig Kilometer bis zum Nordarm des Platte, und Bobbo sagte, sie könnten in zehn Tagen oder etwas mehr zum oberen Flußübergang kommen, dachte er: »Dann bleiben aber noch immer neunzehnhundert Kilometer zurückzulegen, Jungs.« Und wenn sie davon sprachen, der Unabhängigkeitsfelsen liege kaum achtzig Kilometer jenseits des Flusses, und der Südpaß nur hundertsechzig danach, wurde ihm klar, daß sie in Gedanken den Paß bereits überquert und die rund fünfhundert Kilometer bis Fort Hall zurückgelegt hatten und über den Raft River und den Goose Creek und Mary's River hinaus waren – und dort begann es für Hadley biblisch zu werden. Nicht wegen des Mary's River, von dem er nicht glaubte, er habe seinen Namen von der Jungfrau Maria, sondern nur wegen der Namen und Entfernungen, die hintereinander herstolperten wie alle Söhne Jakobs und Leas: achtzig Kilometer bis zum Truckee, dann quer durch die Vierzig-Meilen-Wüste, durch Dog Valley, Emigrant Gap, das Sakramen – total, Sutter's Fort … ah, dort wär' es zu Ende, der Herr sei gepriesen. Aber dort ging es wieder los, diesmal nannten sie Indianer, die sie vielleicht auf dem Weg treffen würden, Sioux und Snakes in der Wüste hinter der Großen Sandwüste, feindselige Bannocks hinter Fort Hall, Schoschonen auf dem Weg zum Mary's River, dann Paiutes, und der Teufel wußte, welche noch. Zuerst hatte Gideon allein die Reise machen wollen, und später erzählte Schwarzenbacher ihnen allen, daß er und Bonnie Sue (als ob sie nicht gewußt hätten, daß es ohnedies so kommen würde) heiraten und nach dem Westen ziehen würden; dann erwähnte Bob249
bo, er werde vielleicht auch mitgehen. In der zweiten Märzwoche waren sie alle vier schon so weit, daß sie die Route und die Entfernungen von allen Teilstücken aufsagen konnten, ebenso die Namen der Indianer, und Hadley sagte zu Minerva, zum Teufel, er wünschte, sie würden sich beeilen und abhauen. »Nein, das wünschst du keineswegs«, sagte sie. In den Wäldern begann der Schnee zu schmelzen. Schneefreie Stellen erschienen und breiteten sich wie Flecken aus. Das Eis im Fluß brach in Brocken ab, die auf Wasser, das schwarz, schnell und eiskalt dahinströmte, flußabwärts schwammen. Im Winter konnte man die Pappel deutlich sehen, an der Lester Hackett gehängt worden war, doch nun waren die Bäume rundum hellgrün belaubt, der Baum verschmolz mit dem Rest des Waldes und war nicht mehr sichtbar. Sie ging mit Hadley unten am Fluß spazieren. »Had«, sagte sie, »ich mache mir ständig Sorgen, ob ich bezüglich des Namens der Kleinen das richtige getan habe. Immerfort denke ich mir, ich habe in letzter Zeit alles falsch gemacht. Ich bin ganz unglücklich, vielleicht habe ich Bonnie Sues Gefühle verletzt. Ich versuchte es ihr zu erklären, bin aber nicht sicher, ob ich… Had, ich konnte nicht zulassen, daß sie das Kind Annabel nennt.« »Ich glaube, das hat sie verstanden.« »Glaubst du das? Sie hat es mit Franz besprochen … kannst du dich übrigens an seinen Namen gewöhnen?« »Leicht ist es nicht«, sagte Hadley und lächelte. »Ja, das stimmt. Franz«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist doch eine bessere Idee, das Kind nach deiner Mutter zu taufen, oder?« »Ja, Min.« »Aber ich glaube ständig, ich habe ihre Gefühle verletzt. Ich sagte ihr, ich will sie um nichts in der Welt verletzen, aber es wäre mir lieber, wenn sie dem Kind nicht den Namen ihrer Schwester gäbe…
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Hadley, mein Schmerz ist noch immer… Had, ich kann noch immer nicht an sie denken, ohne daß ich weinen muß.« Schweigend gingen sie am Fluß entlang. An den Ufern wuchsen Malven, rot und rosa, purpurn und weiß. Es gab Sauerklee so gelb wie Evas feines Haar, Hyazinthen so blau wie ihre Augen. Der sanfte frische Wind trug die Vogelrufe sanft dahin. »Ich wünschte, sie würden nicht fortgehen«, sagte Minerva. »Ich habe das Gefühl, ich werde keinen wiedersehen.« Sie wandte sich um und blickte ihm direkt in die Augen. »Had«, sagte sie, »glaubst du, wir könnten mit ihnen gehen?« »Nach Westen?« sagte er verwundert. »In den Westen, Min?« »Ja. Ich glaube, vielleicht hattest du recht. Ich glaube, dort ist der Traum, im Westen. Wir sind schon zu alt, um ihm nachzujagen, Had?« »Manchmal fühle ich mich hundert Jahre alt«, sagte er. »Ich weiß, das Feld muß gepflügt werden…« »Stimmt«, sagte er. »Und ich weiß, du willst wieder säen und pflanzen…« »Richtig.« »Aber ich möchte mit ihnen fahren, Hadley. Ich möchte weiterfahren.« »Ich glaube auch, es ist an der Zeit«, sagte er und nickte. Sie kamen mit Büffelfellen, um Tauschhandel zu treiben. Sie kamen zu Hunderten, zu Pferde und zu Fuß, die Hügel wimmelten von ihnen. Sie kamen lärmend, ganze Familien, ganze Dörfer, Krieger mit ihren bemalten Squaws, kleine Kinder, alte Männer, streunende Pferde und Hengste, Hunde und Junge kamen ans gegenüberliegende Ufer und überquerten dann den Fluß unweit vom Haus der Chisholms, zeigten mit den Fingern, wandten die Köpfe – im Vorjahr hatte das Haus noch nicht dort gestanden. Hinter ihren Pferden wurden ausgetrocknete Zeltstangen gezogen, zwischen 251
denen geflochtene Körbe mit hoch aufgestapelten Fellen hingen. Der Fluß strömte schnell, Kinder purzelten von ihrem hohen Sitz auf Pyramiden von Fellen und wurden von Müttern, Tanten oder schimpfenden älteren Schwestern gerettet. Kläffende Hunde kamen an das Ufer, auf dem das Chisholm-Haus stand, urinierten an Bäume und Büsche und liefen bellend wieder an den Uferrand, um auf den Rest der Karawane zu warten. Die Indianer schwirrten wie ein Bienenschwarm durch die Wälder, ihr Lärmen entfernte sich immer wieder, bis sie – noch immer lärmend, aber aus der Entfernung scheinbar lautlos – auf der Ebene hinter dem Fort auftauchten. Die Wigwams wurden aufgestellt, zuerst die Zeltstangen, deren drei immer einen Dreifuß bildeten, die anderen wurden in einem Kreis um den stützenden Dreifuß angeordnet. Über das Gerüst wurden Büffeldecken gehängt, geflochtene Matten verteilt, Feuer angezündet, Kessel zum Kochen gestellt. Wo eine Stunde vorher eine leere Ebene gewesen war, erhob sich nun ein von Leben pulsierendes Dorf. Unter den Indianern, die zum Verkauf von Büffelfellen kamen, befand sich in diesem Frühjahr ein junger Krieger des Dakotastammes. Er hielt sich volle drei Tage beim Fort auf, ehe er das Pferd erblickte. Es trug jetzt den Sattel eines weißen Mannes, doch Teetonkah erkannte den Hengst sofort. Er hatte seinem Vetter Otaktay gehört, der im vorigen Jahr im Mond der Federmauser getötet worden war. Unter den Indianern, die hinter dem Fort ihr Zelt aufgeschlagen hatten, gab es mehrere Stammesbrüder. Nun ging er zu ihnen und forderte sie auf, ihn anzuhören. Er sprach von einem Kriegszug. Er sprach beredt und ernst, und sie hörten ihm respektvoll zu. Er erzählte ihnen, was im vorigen Jahr vorgefallen war, als er und drei andere einem einsamen Wagen begegnet waren, während sie auf dem Kriegspfad gegen die Pawnees ritten. Er sprach offen und ehrlich von Niederlage und Schande, sein Vetter und seine zwei besten Freunde waren erschlagen, drei Pferde erbeutet worden, er selbst konnte entfliehen, obwohl sie versucht hatten, ihm beide Augen aus dem 252
Kopf zu reißen. In seinem Dorf war er lächerlich gemacht worden und hatte mehr als einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, so beschämt war er über seinen Mißerfolg. Nun wollte er seine verlorene Ehre wiedergewinnen. Er hatte den Hengst seines Vetters gesehen und auch die anderen Pferde, die in jener Nacht erbeutet worden waren. Es gab noch mehr Pferde dort, drei gehörten dem weißen Mann, es waren also sechs im ganzen, die man erbeuten konnte. Er verlangte nun, daß diese Krieger seines Stammes, obwohl sie nicht aus seinem Dorf kamen, ihm dabei halfen, seine Ehre wiederherzustellen. Sie hörten ihm feierlich zu. Es war nicht einer unter ihnen, der kein Verständnis für sein Ersuchen gehabt hätte. Alle zehn erklärten sich bereit, ihn gegen den weißen Mann zu begleiten, und rauchten die Pfeife zum Zeichen ihrer Zustimmung. In den Wäldern herrschte ein ständiges Schwirren von Insekten. Es war zu heiß für Anfang April. Schwester tauchte ihre Hand ins Wasser und befeuchtete ihr Gesicht und ihren Nacken. Sie hatte Will aus den Augen verloren, der noch vor kurzem stromabwärts von ihr gefischt hatte. Ein Insekt biß sie in den Arm; sie schlug es tot und wünschte, sie wäre mit Catherine im Wigwam geblieben. Sie ließ ihre Angelleine im Wasser hüpfen und sah müde zum Haus hinüber. Wills Familie war im Fort bei der Sonntagsmesse. Das verstand sie nicht. Es war nicht ihre Religion, aber sie gingen jeden Sonntag zur Messe. Sie schüttelte den Kopf, schöpfte wieder Wasser aus dem Fluß und benetzte ihren Arm, wo das Insekt sie gestochen hatte. Als sie das nächste Mal zum Haus sah, stieg dort eine schwarze Rauchfahne zum Himmel. Sie ließ die Angelleine fallen und sprang auf. Aus dem Fenster auf der Flußseite schlugen Flammen. Ein Indianer mit einem Wolfsfell über der Schulter lief zum Zaun auf der Hinterseite des Hauses. Dort standen sechs Pferde innerhalb der Umzäunung. Ein zweiter Indianer kam aus dem Haus, in einer Hand 253
eine Fackel, in der anderen eine Uhr. Hinter ihm kam noch einer, der die Jacke eines weißen Mannes trug, und dann kam noch einer mit einer Tonpfeife im Mund heraus. Es waren also vier. Schwester hatte vier gezählt und glaubte, das seien alle, bis sie merkte, daß noch mindestens ein halbes Dutzend mehr die Hütte umzingelt hatten oder aus ihr herauskamen und über die Umzäunung sprangen, um die Pferde von allen Seiten zu überfallen. Plötzlich bekam sie Angst, wandte sich um und wollte zum Fort zurücklaufen, um Hilfe zu holen, als jemand sie von hinten packte und ihr den linken Arm um die Kehle legte. Sie sah die Farbe auf seinem Arm, schwarze Farbe bedeckte wie ein langer Handschuh Hand und Gelenk des Mannes bis hinauf zum Oberarm. Als er ihr seinen Arm um den Hals legte, wußte sie sofort, sie mußte ihn töten. Sie langte mit ihrer rechten Hand hinter sich, ertastete seinen Gürtel über dem hängenden Lendenschurz, fand den Knochengriff seines Messers und riß es heraus. Er wußte nicht einmal, daß sie es in der Hand hatte, bis sie es ihm in den Arm stieß, der ihren Hals umschlang, und es immer wieder hineinstieß, bis er sie, vor Schmerz brüllend, losließ. Er langte mit der rechten Hand nach seinem Tomahawk, da stieß sie ihm die Klinge in die Kehle. Sein linker Arm hing in Fetzen nach unten; er stürzte auf sie, Blut spritzte aus der offenen Wunde in seinem Hals, in der sie das Messer gedreht und es dann herausgerissen hatte. Schwester wich von ihm zurück und lief wieder zum Fort, da sah sie Will von der anderen Seite herankommen. Er hatte kein Gewehr, sie waren nicht gewohnt, hier in Fortnähe Waffen zu tragen. Sie erkannte die Indianer nun als Dakotas, die sie haßte und fürchtete. Sie sah, wie jenseits der Umzäunung einer der Indianer einen Elchgeweihsattel auf den Rücken einer Stute warf und sich auf das Tier schwang. Ein anderer öffnete das Tor, dann ritten sie alle hinaus, außer dem mit dem Wolfsfell, der noch immer versuchte, dem Hengst einen Lederzaum über das Maul zu ziehen. Das Pferd drehte sich herum, bäumte sich auf und schlug mit den Hufen in der Luft. Will packte den Mann an der Schulter. Er 254
drehte sich jäh um und schlug Will mit der geballten Faust, so daß er zu Boden stürzte. Schwester raste zur Umzäunung und sprang darüber. Der Dakota schwang seinen Tomahawk gegen Wills Kopf, als sie ihm das Messer in den Rücken stieß und die Klinge nach unten zu seiner Taille drückte. Sie stach ihn noch einmal mit dem Messer, diesmal durchschnitt sie sein Lederhemd, als er sich umdrehte. Sein Gesicht war mit einem breiten roten Band quer über der Stirn bemalt, sie roch die mit dem Fett vermengte Medizin. Die Riemen seiner Kriegspfeife waren durch die Nüstern der Wolfsnase gefädelt, die Pfeife war aus Adlerknochen, sie pendelte vor seiner glänzenden Brust, als er den Tomahawk gegen sie schwang. Sie schrie und zog ihre Hand zurück, dann starrte sie entsetzt auf ihr Handgelenk, aus dem das Blut schoß. Sie hörte Will schreien, »Schwester, o mein Gott!« da traf sie der Dakota wieder, spaltete mit der scharfen Klinge seiner Hacke ihre Wange, und dann noch einmal ihre Schulter, zerschlug ihr das Schlüsselbein und öffnete ihr eine acht Zentimeter tiefe Wunde. Er riß den Tomahawk heraus und wollte sie wieder schlagen, da faßte ihn Will an der Kehle. Sie stürzte blutend zu Boden. Über ihr rangen sie, als ob sie nicht mehr existierte, und das war vielleicht tatsächlich so. Sie wußte, daß sie starb. Sie hörte den Hengst in seiner Angst wiehern, konnte den Himmel oben sehen, tiefblau, mit schwarzen Rauchwolken, die darüber hinzogen, stiegen, trieben. Die zwei Männer bewegten sich wie Schatten. Sie hörte sie über sich ringen, ächzen, das träge Klopfen ihres eigenen Blutes, das verströmte. In Minuten wußte sie nicht mehr, wer von den Männern weiß und wer Indianer war. Bald darauf war sie tot. Sie standen an dem offenen Grab auf dem Feld, das sie gerodet und von Baumstümpfen befreit hatten. Hadley sprach die Worte. Seine Stimme war leise, fast ein Flüstern. Er sagte, er habe in seinem Gedächtnis und in der Heiligen Bibel nach den richtigen Worten 255
gesucht, um sie über diese Frau zu sagen, die sie kaum kannten, und hatte sich von Gott dem Herrn verlassen gefühlt, denn er war nicht imstande zu finden, was er suchte, obwohl er die ganze Nacht wach geblieben war. Und dann hatte er erkannt, daß der Herr von ihm nur wollte, er solle selbst finden, was in seinem eigenen Kopf und seinem eigenen Herzen war. So hatte er denn versucht, das zu tun, hatte versucht, Worte zu finden, die seinen Schmerz bei diesem neuen Tod ausdrücken würden, in seinem Herzen danach gesucht und in seinem Kopf nach dem Sinn davon gesucht – er konnte jedoch nur den Schmerz finden und nicht den Sinn. Er wußte, es stand geschrieben, daß alle Dinge voll sind von Müdigkeit und daß ein Mensch sie nicht auszudrücken vermag, daß das Auge nicht befriedigt ist vom Sehen und nicht das Ohr vom Hören. Und er wußte auch, daß das, was war, das ist, was sein wird, und was getan wurde, das ist, was getan werden wird. Nichts von all dem bezweifelte er, all das stand geschrieben, ebenso wie die Worte »Es gibt weder eine Erinnerung an Vergangenes, noch wird es eine Erinnerung an Dinge, die geschehen werden, bei denen geben, die nachher kommen werden.« Aber es hätte ihn sehr betrübt, wenn diese Frau, die sie heute bestatteten, so vergessen werden könnte, als hätte sie nie gelebt. Wenn das geschähe, dann würde das wahr sein, was darüber geschrieben stand, daß es keine Erinnerung an Vergangenes gebe, woran er nicht zweifle, was er nun ein wenig besser zu verstehen hoffe. Seine Stimme erstarb. Er schien für einen Augenblick vergessen zu haben, was er sagen wollte. Er blickte in das Grab, schüttelte den Kopf, legte den Arm um Will und sagte sehr leise: »O Gott, bitte segne diese gute Frau und gib uns die Kraft und den Mut, weiterzumachen.« Dann drückte er seinen weinenden Sohn sanft an sich, sagte »Amen« und wischte sich die Tränen aus den Augen. Erst nachdem man sie mit Erde bedeckt hatte, nahm Gracieuse ihren Mann beiseite und erinnerte ihn in stockendem Französisch daran, daß es indianischer Brauch war, die Leiche der Dahinge256
gangenen auf ein erhöhtes Gerüst oder in die Äste eines Baumes zu legen. Das hätte Schwester vermutlich dieser Art von Bestattung vorgezogen, sagte sie, da das Begraben der Leiche es dem Geist unmöglich mache, in die andere Welt zu gelangen. Orliac verzichtete darauf, das den anderen zu übersetzen. Am sechzehnten Juni verließen die Chisholms Fort Laramie in Begleitung von zwanzig anderen Wagen, die nach Westen zogen. Die Straße bog scharf vom Flußufer ab, an dem die verkohlten Ruinen des Hauses standen. Gideon ritt voraus auf dem Hengst, den sie vor fast einem Jahr den Indianern abgenommen hatten. Hadley und Minerva saßen auf der Wagenbank, und Will saß mit Catherine auf der hinteren Wagenklappe. Unmittelbar dahinter fuhr der Wagen, der Franz und Bonnie Sue gehörte. Bobbo ritt neben ihnen. KleinEva Schwarzenbacher saß auf dem Schoß ihrer Mutter, mit einer Sonnenmütze, die ihre blauen Augen schützte, und blickte in die Ferne. »Siehst du?« sagte Bonnie Sue und zeigte vage nach Westen. »Dort drüben liegt Kalifornien.«
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