Willst du meinen Daddy küssen? Anne Peters
Bianca 1103
11/2 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Spacy74
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Willst du meinen Daddy küssen? Anne Peters
Bianca 1103
11/2 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Spacy74
1. KAPITEL Mr. Michael John Parker war fünfzehn Minuten zu spät. Durch das Fenster des Lehrerzimmers sah Halloran McKenzie auf die große Uhr an der gegenüberliegenden Wand der Turnhalle und trommelte mit den Fingern auf dem alten Metallschreibtisch. Sie hatte Besseres zu tun, als nach dem Unterricht noch hier herumzusitzen. Heute begann ihr Aerobickurs, und er sollte in fünfundvierzig Minuten anfangen. Zum Glück hatte sie sich schon umgezogen und konnte aufbrechen, sobald sie Mr. Parker klargemacht hatte, daß seine Tochter zum wiederholten Male die Schule geschwänzt hatte. Vorausgesetzt, er tauchte innerhalb der nächsten Minuten ... Hallys finstere Gedanken brachen schlagartig ab, als sie den Mann sah, der auf seinem Weg durch die Halle den Trainingswürfen der Basketball-Schulmannschaft auswich. Junge, Junge, dachte sie. Wenn das Mr. Parker war, und wer sollte es sonst sein, dann war er alles, was sie sich je unter einem Topmanager vorgestellt hatte: grimmig und entschlossen. Mit anderen Worten, er war ein Vater, gegen den jeder normale Teenager rebelliert hätte. Nicht, daß das Corinne Parkers Schwänzerei und dauerndes Zuspätkommen entschuldigte. Aber es erklärte, warum das Mädchen GrungeMode trug und ihr kurzes Haar bleichte - um einem Vater zu
trotzen, der seine Vierzehnjährige am liebsten in Trägerkleid und Lackschuhen sah. Wer wüßte das besser als sie selbst? Hally machte einen Schritt vom Fenster weg, damit der Mann nicht merkte, daß sie ihn beobachtete. Daß sie einen Mann, den sie gar nicht kannte, auf den ersten Blick so unsympathisch fand, entsetzte sie. Schließlich war es Jahre her, daß sie eine rebellische Vierzehnjährige gewesen war. Und ihr eigener Vater hatte mit dem Mann, der durch die Halle eilte, nur die strenge Miene, den tadellos sitzenden Anzug und den korrekten Haarschnitt gemeinsam gehabt. All das gab einen ziemlichen Kontrast zu den schwitzenden Jugendlichen ab, denen er geschickt auswich. Und zu deren Coach. O nein! Hally fragte sich, wie sie dazu kam, die beiden Männer miteinander zu vergleichen. Schließlich war der Coach Gilbert Smith, ihr ... na ja, ihr Freund - so nannte man das wohl. Und wenn Gilbert nicht gerade einen Trainingsanzug trug und vom Schreien einen roten Kopf hatte, war er recht ansehnlich. Sie selbst dagegen ... Hally schaute an sich herab, und plötzlich wurde ihr bewußt, wie unattraktiv sie aussah. Sie wünschte, sie hätte sich doch nicht umgezogen. Mehr noch wünschte sie, sie würde bereits fünf Pfund weniger wiegen und nicht wirken, als hätte man sie in ihren Bodysuit gestopft wie ein ein Meter fünfundsiebzig großes Würstchen in seine Haut. Obwohl sie es kindisch und idiotisch fand, sich ihres Aussehens zu schämen, suchte sie hastig nach etwas, womit sie ihre alles andere als perfekte Figur verhüllen konnte. Sie entdeckte ein Jeanshemd und riß es vom Stuhl. Sie hatte einen Arm im Ärmel, als es kurz klopfte und die Tür geöffnet wurde.
"Miss McKenzie?" Natürlich, es war der Typ aus dem Modejournal. "Mike Parker. Tut mir leid, daß ich zu spät komme. Der Verkehr..." "Schon gut." Hally versuchte, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen und den anderen Arm in das störrische Hemd zu stecken. "Kommen Sie, lassen Sie mich ..." Höflich und geschickt half Mike Parker ihr in das Hemd, bevor Hally mehr als ein hilfloses "Danke" stammeln konnte. Aus der Nähe wirkte der Mann noch imponierender. Er war nicht nur einen Kopf größer als sie, er verströmte eine erregende Hitze. Mittags hatten mindestens dreißig Grad geherrscht, und jetzt war es bestimmt noch heißer. Der Duft seines Aftershave stieg ihr in die Nase, und sie wich zurück, sobald sie das Hemd an ihren Schultern fühlte. Sie spürte seinen Blick an ihrem Körper, als sie sich hinter den Schreibtisch zurückzog. Da sie nicht besonders groß und noch dazu blond war, verbarg sie ihre Unsicherheit meistens hinter einem besonders korrekten und unnahbarem Äußeren und benahm sich, vor allem bei einem Erstgespräch mit Eltern, sehr ruhig und gelassen. Da ihr das diesmal nicht zu gelingen schien, beschränkte sie sich auf ein kühles Lächeln und eine einladende Handbewegung in Richtung des zweiten Stuhls. Er setzte sich nicht, sondern brachte sie erneut aus der Fassung, indem er zur Pinnwand schlenderte und ihre dort ausgehängten Diplome studierte. Soll er doch, dachte sie. Schließlich hatte sie alle Prüfungen mit Auszeichnung bestanden. Außerdem ging es bei dieser Besprechung um ihn, nicht um sie! "Mr. Parker." Hally faltete die Hände auf dem Schreibtisch und saß so aufrecht und gerade da, daß selbst ihre Mutter nichts daran auszusetzen hätte. "Ich fürchte, ich habe in einigen
Minuten den nächsten Termin, also komme ich sofort zur Sache. Ihre Tochter Corinne ..." "Kann sich glücklich schätzen, Sie als Lehrerin zu haben", unterbrach ihr Besucher sie mit einem entwaffnenden Lächeln. "Jedenfalls nach Ihren Urkunden zu urteilen:" Er ging zum Stuhl und setzte sich. Hally wußte nicht recht, wie sie auf sein zweideutiges Kompliment reagieren sollte, und starrte auf ihre Hände. "Corinne macht mir große Sorgen. Sie wirkt verstört", begann sie und sah ihm in die Augen. Bei ihren Worten flackerte darin so etwas wie Schmerz auf, doch sein Blick wurde sofort wieder abwartend, und Hally fragte sich, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Seine Stimme klang jedenfalls nicht sonderlich betroffen. "Sind zwei Wochen nicht etwas zu früh, um zu einem solchen Urteil zu gelangen, Miss McKenzie? Schließlich ist Cory nicht nur neu an der Ben-Franklin-High-School, sondern auch neu in Long Beach. Wir sind erst vor einem Monat hergezogen." "Das ist mir durchaus bekannt", sagte Hally. "Und glauben Sie mir, ich gehöre nicht zu den Lehrern, die sich als erstes bei den Eltern ihrer Schüler über sie beschweren." "Darauf habe ich nur Ihr Wort, nicht wahr?" "Nein, Mr. Parker, es steht Ihnen frei, sich an die Schulleitung zu wenden." Hally blieb freundlich, aber bestimmt. "Ich unterrichte seit sieben Jahren hier an der Ben-Franklin..." "Das ist nicht der Punkt, Miss McKenzie. Hier geht es nicht um Ihre Berufserfahrung", unterbrach Michael Parker sie spitz. "Es geht darum, daß Sie eine neue Schülerin psychoanalysieren und..." "Mr. Parker, ganz abgesehen davon, daß ich einen Abschluß in Psychologie habe ..." "Bei allem Respekt, Miss McKenzie, aber diese Art von Abschluß bekommt man an den Universitäten nachgeworfen", erwiderte er abfällig.
"Wenn Sie meinen", erwiderte Hally und fand den Mann immer unsympathischer. Da er ihre Urkunden studiert hatte, verzichtete sie darauf, ihn auf ihre anderen Abschlüsse hinzuweisen. "Aber wie gesagt, ich arbeite seit sieben Jahren als Lehrerin und muß keine Psychotherapeutin sein, um zu erkennen, daß Corinne gewaltige emotionale Probleme hat, die nicht nur mit dem Umzug zu tun haben." Sie beugte sich vor. "Wissen Sie eigentlich, daß Ihre Tochter von den neun Schultagen vier versäumt hat und an den restlichen fünf verspätet erschienen ist?" "Unmöglich." Parker sprang auf. "Ich setze sie jeden Morgen höchstpersönlich vor dem Eingang ab." Hally wich unwillkürlich zurück, als er über den Schreibtisch hinweg nach Corinnes Akte griff, sagte jedoch nichts. Soll er mit eigenen Augen sehen, wie weit ein Kind geht, das sich gegen einen übermächtigen Vater wehrt, dachte sie schadenfroh. Doch als sie sah, wie entsetzt er auf die offensichtlich gefälschten Entschuldigungen starrte, schämte sie sich. Michael Parker schwieg minutenlang, bevor er etwas nicht Druckreifes murmelte und die Akte auf den Schreibtisch warf. Er wich Hallys Blick aus und rieb sich mit der einen Hand das Kinn, mit der anderen den Nacken. Nach einem Moment ließ er beide sinken und seufzte hörbar. "Es tut mir leid", sagte er und warf Hally einen betrübten Blick zu, der ihr zusammen mit seiner plötzlich rauhen Stimme mehr unter die Haut ging, als er es unter diesen Umständen tun sollte. "Ich hatte keine Ahnung ..." "Ich verstehe", antwortete Hally verlegen, und mit einem Mal war es ihr peinlich, diesen selbstbewußten Mann so tief erschüttert zu haben. Seine Trauer war spürbar, und die Ähnlichkeit, die sie zwischen ihm und ihrem Vater festgestellt hatte, war längst verschwunden. Sie wußte jetzt, daß Mike Parker ganz anders war. Was immer man gegen ihn haben
mochte, er sorgte sich um seine Tochter. James McKenzie dagegen ... Hally wollte nicht länger darüber nachdenken. Sie kannte den Mann erst seit ein paar Minuten. Mit einer matten Handbewegung zeigte sie auf die Entschuldigungen. "Könnte jemand anders sie geschrieben haben? Eine Großmutter oder ..." "Nein." Mike Parker setzte sich. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, senkte den Kopf und betrachtete mit starrer Miene seine verschränkten Hände. Da sie auffallend groß waren, mußte auch Hally hinsehen. Es waren rauhe Farmerhände, die nicht zu dem Maßanzug paßten. Die ihres Vaters waren schmal und feingliedrig, die Hände eines Chirurgen. "Cory und ich sind allein, Miss McKenzie." Das stand in der Akte. Sie sah ihn an. Sein Gesicht war verschlossen, ausdruckslos. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wenn sie rechtzeitig zu ihrem Aerobickurs erscheinen wollte, mußte sie gleich aufbrechen. Aber sie konnte ihn nicht einfach wegschicken, denn sie hatten noch gar nichts geklärt. "Das tut mir leid." "Ja." Er lächelte, doch sein Tonfall signalisierte, daß er kein Mitleid wollte. Natürlich nicht. Michael John Parker sah nicht aus wie ein Mann, der Mitgefühl brauchte oder auch nur zu schätzen wußte. Seine Nase war irgendwann einmal gebrochen und nicht richtig behandelt worden. Das machte sein Gesicht interessant. Es fiel auf, aber es strahlte keine Wärme aus. Und doch empfand Hally Mitgefühl mit diesem Mann. "Wie lange ist es her, daß ..." "Ein Jahr", erwiderte er knapp, ohne den Blick von seinen Händen zu nehmen. Hally unterdrückte den Wunsch, sich bei ihm zu entschuldigen. Schließlich fragte sie ihn das nicht aus reiner Neugier, sondern weil sie ihren Beruf ernst nahm. Auch wenn es
Michael Parker nicht gefiel, als Corinnes Lehrerin mußte sie mehr über das Mädchen erfahren. "Corinne ist Ihr einziges Kind?" Ein Nicken bestätigte, was Hally längst aus der Akte wußte. Außerdem ließ die zurückhaltende, fast erwachsen wirkende Art des Mädchens vermuten, daß es keine Geschwister besaß. "Und vor Ihrem Umzug nach Long Beach gab es keinerlei Probleme?" "Das habe ich nicht gesagt." "Also hatten Sie welche?" "Hat die nicht jede Familie?" Mike warf ihr einen abweisenden Blick zu. "Mr. Parker." Sie versuchte, geduldig zu bleiben. "Mir ist durchaus bewußt, wie schwierig dies für Sie sein muß ..." "So?" "Na ja, ich ..." Hally verlor den Faden. Angesichts seiner spitzen Gegenfragen schmolz ihr Mitgefühl dahin. "Wollen Sie mich herausfordern, Mr. Parker?" "Keineswegs." "Worauf wollen Sie dann hinaus?" "Ich will darauf hinaus, daß Sie keine Ahnung von meiner Lage haben, Miss McKenzie. Sie dürften kaum wissen, wie es ist, seine Partnerin zu verlieren und allein für ein Kind verantwortlich zu sein, von dem man nur glaubte, es zu kennen." Mike stand auf und ging mit wütenden Schritten in Hallys engem Büro hin und her. Seine aufgestaute Aggressivität erinnerte sie an ihren Kater Chaucer, der sich bei jeder Fahrt zum Tierarzt in seinem Transportkorb ähnlich aufführte. "Ich bin mit meinem Latein am Ende, Miss McKenzie", gab Parker zu. "Und was ich von Ihnen brauche, ist Hilfe. Daß Sie angeblich wissen, wie ich mich fühle, nützt mir absolut nichts." Er packte die Schreibtischkante. "Sie haben nicht die leiseste Ahnung von meinen Gefühlen."
"Ich weiß, daß Sie zornig sind und daß das nichts mit mir zu tun hat", erwiderte Hally ruhig. Der Mann war nicht gewalttätig, sondern einfach nur frustriert. "Auch Sie machen sich um Corinne Sorgen ..." "Haben Sie etwa daran gezweifelt?" fragte er ungläubig und richtete sich mit erstaunter Miene auf. Hally zuckte mit den Schultern. "Corinne ist eine neue Schülerin, die im Moment... verzeihen Sie meine Offenheit... keinen sehr guten Eindruck hinterläßt. Und Sie ..." "Was ist mit mir?" "Um ehrlich zu sein, Sie wirken auf mich wie ein sehr ehrgeiziger Manager, und ich frage mich, ob Ihnen genug Zeit für Ihre Aufgaben als Vater bleibt." "Ich kann mir alles an Zeit nehmen, was ich dafür brauche", knurrte Mike. "Aber ich muß auch unseren Lebensunterhalt verdienen. Bis Sie Ihren Job gemacht und mich endlich informiert haben, konnte ich nicht wissen, daß meine Tochter die Schule schwänzt, oder?" Sein Blick wurde noch bohrender. Seine Logik war bestechend, und Hally widersprach nicht, aber das bedeutete noch lange nicht, daß sie klein beigeben würde. Schweigend sah sie ihn an und wartete ruhig, bis er sich wieder setzte. "Danke", sagte sie so kühl wie zu einem widerborstigen Schüler, nachdem sie ihn ohne Worte zur Ordnung gerufen hatte. Ihr kleiner Sieg über Michael J. Parker machte sie so stolz, daß sie gar nicht mehr an die überflüssigen Zentimeter an ihren Hüften dachte. Und auch nicht daran, daß die Strumpfhose, die sie unter dem Bodysuit trug, nicht die geringste Tarnung bot. "Jetzt, da das geklärt wäre", begann sie forsch, "lassen Sie uns darüber sprechen, wie wir Ihrer Tochter helfen können ..." Mit schweren Schritten ging Mike über den leeren Parkplatz der Schule zu seinem Wagen. Eine seltsame Frau, diese
Halloran McKenzie, dachte er. Intelligent, ein Gesicht wie Shirley Temple und eine Figur wie Marilyn Monroe, was für eine verlockende Mischung. Er bezweifelte, daß viele Jungs ihren Englischunterricht schwänzten. Das ließ ihn wieder an seine Probleme denken, denn es erinnerte ihn daran, daß seine Tochter offenbar nicht nur in Englisch, sondern auch in anderen Fächern erschreckend häufig schwänzte. Grimmig startete er den Wagen und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Er würde mit Cory ein ernstes Gespräch führen müssen. Ihm graute davor. Es schien kein Tag mehr zu vergehen, an dem sie nicht wegen irgend etwas aneinandergerieten. Und er war es leid. Für einen widerspenstigen Teenager Vater und Mutter, Haushälterin, Ernährer und Dompteur zu spielen raubte ihm die Kraft. Den Weg nach Hause kannte er fast im Schlaf, und mit jeder Meile und Minute, die er Miss McKenzie und ihre eindringliche Mahnung zur Geduld hinter sich ließ, fand er seine ursprüngliche Idee reizvoller. Vielleicht sollte er Corys Verlangen nachgeben und sie endlich wegziehen lassen. Zurück dorthin, wo sie sich zu Hause fühlte. Nach Idaho, nach Marble Ridge, zu Beckys Familie. Die Eltern seiner verstorbenen Frau baten ihn immer wieder darum. Die Campbells waren der unerschütterlichen Ansicht, daß ein Mann unmöglich allein eine Tochter im Teenageralter großziehen konnte. Vielleicht war das der Grund, aus dem er Cory nicht gehen ließ - weil seine Schwiegereltern recht hatten und er ihnen das Gegenteil beweisen wollte. Ganz abgesehen davon ließ er sich ungern zu etwas zwingen. Mike wußte nur zu gut, daß das nicht der wahre Grund war. Jedenfalls nicht allein. Seine Frau hatte, als sie noch lebte, viel zu sehr an ihren Eltern geklebt, selbst an seinen, die nur drei Meilen entfernt wohnten. Beckys Abhängigkeit hatte den Eltern
gestattet, sich einzumischen, wann immer sie es wollten. Das hatte Mike nicht gefallen. Aber selbst das war nicht der Hauptgrund dafür, daß er Cory allein aufziehen wollte. Sie war seine Tochter, sein Kind. Sie war das Baby, dessen Geburt Becky und ihn überglücklich gemacht hatte. Aber je älter Cory geworden war, desto fremder war sie ihm erschienen. Das war seine eigene Schuld. Ein Mann, der überall auf der Welt nach Öl bohrte, hatte nicht viel Zeit für seine Familie. Und drei Wochen Urlaub alle vier Monate reichten bei weitem nicht aus, um eine echte Beziehung zwischen Vater und Kind zu schaffen. Zu einem Kind, das nicht verstand, warum der Vater nicht immer da war wie andere Daddys. Natürlich hatte er versucht, Cory zu verstehen. Immer wieder hatte er sich gefragt, was er tun konnte. Wie sollte ein kleines Kind denn auch begreifen, daß seine Eltern von einer Ranch mit Pferden träumten? Es war ihr Traum, Beckys und seiner. So, wie es auch ihre Entscheidung gewesen war, das Leben zu führen, unter dem Corinne litt. Er in Übersee auf der Suche nach Öl, Becky mit Corinne zu Hause in Marble Ridge. Aber eines Tages würden sie ihren Traum verwirklichen. Wo, wenn nicht auf den Ölfeldern in aller Welt, sollte ein Geologe das Geld verdienen, das er nach Hause schickte? Geld, von dem sie jeden Monat einen Teil sparten. Das machte die Trennung erträglich, denn mit jedem Dollar und jedem Cent, um den die Ersparnisse wuchsen, wuchs auch die Chance, bald wieder eine richtige Familie zu sein. Aber dann war ihnen die Zeit ausgegangen. Zuerst hatte Becky sich von ihm abgewandt. Dann hatte ihre Krankheit die Ersparnisse so unbarmherzig aufgefressen, wie der Krebs ihr die Kraft geraubt hatte. Beckys Tod machte ihren gemeinsamen Traum endgültig zunichte.
Corys Trauer war so tief wie Mikes Verzweiflung. Der Verlust hätte sie einander näherbringen müssen, aber er vertiefte den Riß nur. Drei Tage nach der Beisetzung flog er nach Saudi-Arabien. Cory war vor Zorn und Enttäuschung außer sich. Sie hatte kaum noch mit ihm gesprochen und lebte bei den Großeltern, dennoch entsetzte es sie, daß er sie so kurz nach dem Tod ihrer Mutter allein in Marble Ridge zurückließ. Mikes Arbeitsvertrag war ihr egal, und sie wollte nicht hören, daß sie so gut wie bankrott waren und daß er in den nächsten sechs Monaten eine Menge Geld verdienen würde. Geld, das ihm erlauben würde, auf eine Stelle zu wechseln, die zwar schlechter bezahlt wurde, aber mit fast keinerlei Reisen verbunden war. Das war der Job, den er jetzt hier in Long Beach, Kalifornien, machte. Die Stadt war zwar Welten entfernt von Marble Ridge, Idaho, aber Mike hoffte inständig, hier mit seiner Tochter ein neues Leben beginnen und endlich eine Familie werden zu können. Bisher konnte davon keine Rede sein. Seufzend bog Mike auf den Parkplatz des Supermarkts ein, dessen Sortiment er inzwischen besser kannte, als er je erwartet hatte. Einkaufen gehörte zu den vielen neuen Dingen in seinem Leben. Er schob den Wagen durch die Gänge und hoffte, die Sachen zu entdecken, die zu Hause fehlten. Natürlich hatte er wieder einmal vergessen, die Einkaufsliste mitzunehmen. Als er die rothaarige Frau sah, die zwei Häuser weiter wohnte, bog er abrupt ab. Pamela Swigert, die etwa vierzigjährige und noch immer attraktive Nachbarin, war geschieden und hatte Corinne und ihn als erste in der Straße willkommen geheißen. Sie besaß zwei Kinder, die Mike so fremd und seltsam vorkamen wie die schrille Kleidung ihrer
Mutter. Latisha, die Tochter, war in Corinnes Alter, der Junge namens Warlock zwölf. Latisha ging nicht auf Corinnes Schule, aber die beiden waren Freundinnen geworden. Mike war nicht sicher, ob ihm das gefiel, denn die Mädchen waren grundverschieden. Was ihn jedoch zutiefst beunruhigte, war die Veränderung, die Corinne Seitdem durchgemacht hatte. Aus dem hübschen Mädchen mit braunen Haaren, das für Laura Ashley schwärmte, war ein Teenager mit kurzem weiß gebleichtem Haar geworden, der aussah, als stamme seine Garderobe aus der Altkleidersammlung. Seit Pamela Swigert wußte, daß es keine Mrs. Parker gab, stand sie immer öfter mit Lebensmitteln und elterlichem Rat vor Mikes Haustür. Darauf konnte er ebenso verzichten wie auf Pamelas Flirtversuche. Er hatte weder Zeit noch Lust auf ein Abenteuer mit einer Nachbarin, selbst wenn sie sein Typ gewesen wäre, was Pamela mit Sicherheit nicht war. Deshalb ging Mike ihr so oft wie möglich aus dem Weg, auch wenn das manchmal sehr mühsam war. Wie jetzt, denn Pamela Swigert hielt sich in der Tiefkühlabteilung auf, in die Mike unbedingt mußte. Zum Beispiel, um eine Pizza zu kaufen. Das war Corinnes Lieblingsessen, und Mike hoffte, eine mit ihr teilen zu können. Vielleicht würden sie dabei ein wenig reden können. Wenn es half, würde er seiner Tochter sogar RockyRoad-Eiscreme mitbringen. Sobald der Weg zum Kühlregal frei war. Mike ließ den Wagen stehen, lugte vorsichtig um eine Ecke und unterdrückte eine Verwünschung, als Pamela Swigert vor ihm stand. "Mike!" rief sie und klimperte mit den pechschwarzen Wimpern, die Mike jedesmal faszinierten, weil sie so unglaublich lang und kräftig waren. Die sind falsch, hatte Corinne voller Verachtung verkündet. "Dachte ich mir doch, daß
Sie es sind, der da durch die Gänge schleicht", sagte Pamela lächelnd. Mit verführerisch gespitzten Lippen tätschelte sie seinen Arm. "Sie gehen mir doch nicht etwa aus dem Weg, oder?" "O nein", protestierte Mike. "Ich war wohl nur etwas in Gedanken." "Probleme?" fragte Pam mitfühlend. "Kann ich helfen?" "Nein, nein." Alles, bloß das nicht. Mike schaute an ihr vorbei. "Dies ist doch die Tiefkühlabteilung, nicht wahr? Ich dachte mir, ich hole uns eine Pizza ..." "Pizza?" rief Pam mit freudiger Begeisterung und zeigte auf die beiden großen Kartons in, ihrem Einkaufswagen. "Wie finden Sie das? Da hatten wir doch glatt denselben Gedanken, ist das nicht toll? Meine reichen für drei. Warly und ich wollten auch Pizza essen. Kommen Sie doch herüber", sagte sie und griff nach seinem Arm. Mike wich zurück. "Seien Sie kein Spielverderber." Mike schüttelte den Kopf und lächelte verlegen, während er Pams Finger behutsam von seinem Arm löste. Er starrte kurz auf die glitzernden Herzen auf ihren ultralangen Nägeln, bevor er ihr in das sorgfältig geschminkte Gesicht sah. "Danke für die Einladung, Pam", sagte er. "Aber ich fürchte, dies ist kein guter Zeitpunkt für uns, um unter die Leute zu gehen." Pam hörte nicht auf zu lächeln, zog jedoch eine ihrer kräftig nachgezogenen Augenbrauen hoch. "Mit uns meinen Sie offenbar sich selbst und Corinne, ja? Du meine Güte, also wissen Sie es wohl doch nicht." "Was weiß ich nicht?" Die Angst traf Mike wie ein Faustschlag in den Magen. Pamela lachte unsicher. "Daß im Milton Stadion ein Rockkonzert stattfindet. Ich habe die Mädchen vor einer halben Stunde dort abgesetzt."
"Was?" Mike umklammerte den Griff des Einkaufswagens mit beiden Händen. "Sie haben Corinne ohne meine Erlaubnis zu einem Rockkonzert gefahren?" Pamela starrte in sein zorniges Gesicht und erblaßte. "Na ... ja", stammelte sie. "Ich dachte, sie hätte Ihre Erlaubnis." "Hat sie das behauptet?" "Nicht ausdrücklich, nein." Pam warf ihr schimmerndes Haar über, die Schulter. "Aber sie hatte genug Geld für die Eintrittskarte." "Geld?" Erst heute morgen hatte Corinne um ihre fünfzehn Dollar Taschengeld gebeten, weil sie angeblich keins mehr hatte. Mike hatte versprochen, es ihr zu geben, sobald sie ihre Pflichten im Haushalt erledigt hatte. "Wieviel Geld hatte sie denn?" fragte er mit einem unguten Gefühl im Bauch. "Einen Fünfzigdollarschein." Einen Fünfzigdollarschein. Noch als er sein Haus betrat, gingen ihm Pamela Swigerts Worte und das, was sie bedeuteten, durch den Kopf. Sein Tochter war nicht nur rebellisch und unzufrieden mit sich selbst, ihrem Vater und ihrem Leben, sie war eine Diebin. Eine Diebin! In der Küche ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Auf dem Tisch zeugten zwei Schüsseln und eine Cornflakes-Schachtel vom hastigen Aufbruch am Morgen. Er stützte die Arme auf den Tisch, raufte sich das Haar und fragte sich voller Verzweiflung, ob er seine Tochter jetzt für immer verloren hatte. Was hatte die Lehrerin gesagt? Zeit, Geduld und Liebe, Mr. Parker. Das ist es, was Ihre Tochter jetzt von Ihnen braucht. Abgesehen von den Pflichten, die Corinne zu Hause übernommen hat, überlassen Sie es mir und der Schule, ihr Regeln und Disziplin beizubringen ... Und was schlagen Sie vor, wie ich mit dem hier umgehen soll, Miss McKenzie?
Nach einer Weile hob Mike den Kopf. Er sah sich in der gemütlichen Küche um. Als hätte er sie nie zuvor gesehen, ließ er den Blick über all die vertrauten Dinge wandern, die sie aus Idaho mitgebracht hatten. Er starrte auf die weiße Porzellankatze mit der erhobenen schwarzen Pfote, an der die Glasur abgeplatzt war. Das war Beckys Keksdose gewesen und diente jetzt als Aufbewahrungsort für den Notgroschen. Ein paar hundert Dollar für unerwartete Ausgaben. So war es in seiner Kindheit gewesen, und er hatte es einfach übernommen, auch wenn es im Zeitalter der Kreditkarten und Geldautomaten nicht mehr nötig war. Langsam und ohne den Blick von der albernen Katze zu nehmen, stand Mike auf und ging an das Regal, in dem sie stand. Eine Minute lang stand er davor, starrte sie an und rang mit sich. Feigling? Nein. Mike biß die Zähne zusammen und griff nach der Keksdose. Er hob den Deckel. Dann stellte er die Dose auf die Arbeitsfläche, legte den Deckel daneben und schob die Finger hinein. Sein Herz schlug ein wenig schneller, als er mehrere Geldscheine ertastete. Er breitete sie aus. Drei Zwanziger und ein Zehner. Er ließ das Kinn auf die Brust sinken, ballte die Faust um die Scheine und zerknüllte sie. Wie gebannt starrte er auf das Geld und stieß den angehaltenen Atem aus. Insgesamt fehlten aus der Keksdose genau einhundertdreißig Dollar.
2. KAPITEL Es war schon nach achtzehn Uhr, als Hally ihr altes VWCabrio neben dem Doppelhaus parkte, das ihr gemeinsam mit ihrer Mutter gehörte. Das Haus war vor dem Krieg gebaut worden, hatte eine weiße Stuckfassade, und an jeder Hälfte führten breite Stufen auf eine Säulenveranda. Ein schmaler Rasen trennte die beiden von Blumenbeeten gesäumten Treppen. An beiden Seiten lag am Ende einer Einfahrt eine Garage, aber weder Hally noch ihre Mutter nutzten sie, um ihren Wagen unterzustellen. Hally diente sie als Lagerraum, während Edith Halloran McKenzie ihre Garage in ein Atelier umgebaut hatte, in dem sie ihrer geliebten Glaskunst nachging. Durch das Fenster konnte Hally ihr Telefon läuten hören. Sie eilte hinein, wobei sie über Chaucer stolperte, der wie immer aus dem Nichts auftauchte. Der Kater jaulte empört auf. In der Küche hechtete Hally nach dem Hörer, doch in genau dem Moment verstummte das Läuten. Seufzend stellte sie die volle Umhängetasche auf einen Stuhl und warf die Schlüssel auf den Küchentisch. Gedankenverloren beugte Hally sich zu Chaucer hinab und streichelte ihn, während er sich an ihren Beinen rieb. Sie ärgerte sich. Das Treffen mit Michael J. Parker war notwendig gewesen, aber dieses Schuljahr hatte für sie ein völlig neues Kapitel in
ihrem Leben sein sollen. Der Juni war der Monat, in dem sie mit den alten Gewohnheiten brechen und sich einen Traum verwirklichen wollte. Das hieß, daß sie ihre Koffer packen, das Haus vermieten und sich auf den Weg nach Florenz machen wollte, um dort ein ganzes Jahr zu verbringen. Das war schon immer ihr Traum gewesen. Nun ja, nicht immer, aber spätestens seit ein bestimmter Medizinstudent ihr auf dem College die romantischen Ideen nachhaltig ausgetrieben hatte. Aber bevor sie die Reise begann, wollte sie ein vollkommen anderer Mensch werden. Sie wollte wesentlich schlanker werden und ihr Haar wachsen lassen, um es zu einer schlichten, klassischen Frisur zusammenzubinden. Außerdem hatte sie vor, eine ebenso schlichte, klassische Garderobe in Schwarz, Beige und Taupe zu kaufen. "Ich werde mir meine Zeit besser einteilen müssen, Chaucer", murmelte sie und prustete verärgert, als sie sich aufrichtete. Die heutige Aerobicstunde hatte eigentlich der erste Schritt auf dem Weg nach Firenze sein sollen. Der Italienischkurs, der morgen abend begann, war der zweite. Der Kater jaulte unaufhörlich, also gab Hally nach. Sie nahm eine Dose Futter aus dem Schrank und füllte seinen Napf. "Hier. Gib endlich Ruhe." Während Chaucer über seinen Fraß herfiel, als hätte er seit Jahren nichts mehr bekommen, tat sie Wasser in eine zweite Schüssel, stellte sie daneben und schaltete das Radio ein. "Die Polizei mußte Tränengas und Wasserwerfer einsetzen, um Hunderte von randalierenden Teenagern zurückzudrängen, nachdem die Leapin Lizards, eine beliebte Rockgruppe, ihr Konzert im Milton Stadion in letzter Minute abgesagt hatten..." Wie gelähmt vor Entsetzen stand Hally an der Spüle. Mit dem Teekessel in der Hand starrte sie auf das Radio und war sicher, daß sich unter den Jugendlichen, die bei dem Aufruhr
mitgemacht hatten oder hineingeraten waren, auch einige ihrer Schüler befanden. "Ein Teenager kam dabei ums Leben, viele wurden verletzt. Nähere Einzelheiten sind noch nicht..." Hally wartete das Ende der Meldung nicht ab. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an ihre Kurse zu verschwenden, riß sie die Schlüssel vom Tisch und rannte aus der Küche. Das Stadion war nicht weit von ihrem Haus entfernt, nur etwa zehn Minuten mit dem Auto. Hally mißachtete Stoppschilder und Tempobegrenzungen. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie gebraucht wurde. Auf der Straße vor dem Stadion herrschte das reinste Chaos. Hally parkte einige Blocks entfernt. Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern bildeten eine Sperre um die wütende Menge, die zudem noch von Polizisten mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken umringt war. Am Rand des Tumults standen mehrere Krankenwagen. Die Luft roch nach Schwefel, und über der alptraumhaften Szenerie schwebten noch immer Tränengaswolken. Der Lärm war unglaublich. Schrille, verzweifelte und wütende Stimmen versuchten, die Schreie, das Schluchzen, die Flüche und die Polizeisirenen zu übertönen. Schlagstöcke landeten mit dumpfem Geräusch auf den Rücken derjenigen, die sich nicht beruhigen ließen. Hally drängte sich durch die Zuschauer, die sich selbst von der Barriere der kriegerisch aussehenden Polizisten kaum zurückdrängen ließen. Sie wußte nicht, nach wem sie suchte. Sie wußte nur, daß sie hiersein wollte, um zu helfen, falls ... Plötzlich entdeckte sie Mike Parker, der mit grimmigem, aschfahlem Gesicht in vorderster Reihe stand, und schlagartig wurde ihr bewußt, daß sie hergekommen war, um ihn zu finden. Die Erkenntnis traf sie wie eine Ohrfeige. O nein ... Wütend auf sich selbst, machte Hally kehrt und versuchte sich wieder nach hinten durchzukämpfen. Doch das erwies sich als unmöglich. Also tat sie das einzige, was ihr einfiel: Sie
wandte das Gesicht ab, damit Mike Parker sie nicht erkannte. Aber zuvor fiel ihr auf, daß der Mann, der vor weniger als zwei Stunden das Lehrerzimmer in der Sporthalle verlassen hatte, in der Zwischenzeit um zehn Jahre gealtert zu sein schien. Sein zuvor sorgfältig gestyltes Haar war zerzaust, die Anzugjacke offen, die gelockerte Krawatte schief. Er sah aus, als wäre er mitten in den Tumult geraten. Ihr Edelmut drängte sie mit aller Macht, zu ihm zu eilen und ihm zu helfen, aber sie wehrte sich verzweifelt dagegen und versuchte, dort zu bleiben, wo sie war. Nicht nur der innere Kampf, sondern auch die schmerzhaften Rippenstöße, die sie von den Umstehenden bekam, zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Sie sagte sich, daß das, was Michael Parker und seine Tochter brauchten, mehr war als das, was sie zu geben bereit war. Sie hatte ihr eigenes Leben zu führen, ihre eigenen Pläne und Ziele, und ein schwieriger Witwer mit seiner ebenso schwierigen Tochter gehörte nicht dazu. Sie hatte ihm schon den besten Rat gegeben, den er von ihr als Lehrerin erwarten konnte. Oh, verdammt! Fast hätte sie aufgeschrien, als ein besonders spitzer Ellbogen sie in die Rippen traf und ein Absatz auf ihrem Fuß landete. Sie wirbelte herum, und ihr Blick fiel wieder auf Michael Parker. Er sah schrecklich einsam und verlassen aus, während er in der wogenden Menge nach seiner Tochter Ausschau hielt. "Michael!" rief Hally. Es geschah nicht bewußt, der Name entrang sich ihr wie von selbst. Als ihr klar wurde, daß er sie unmöglich hören konnte, drängte sie sich in seine Richtung. "Mr. Parker!" Es war, als würde sie gegen eine aufkommende Flut schwimmen. Schlimmer noch, es war eine immerwährende Reihe von Zusammenstößen mit anderen Menschen, und bald war sie atemlos und fühlte sich völlig zerschlagen. Dennoch kämpfte sie sich weiter, wie angezogen von irgend etwas an diesem Mann, den sie kaum kannte. Bei jedem mühsamen Schritt wehrte sie sich dagegen. Trotzdem hörte sie
nicht auf, seinen Namen zu rufen, und schaffte es sogar, einen Arm über den Kopf zu heben und zu winken, während sie sich mit dem anderen einen Weg bahnte. Und die ganze Zeit kam sie sich idiotisch vor. Als Mike sie endlich bemerkte, verwandelte sich der Ausdruck von Verzweiflung und Wut auf seinem Gesicht einen Moment lang in so etwas wie Freude und Erleichterung. Hally spürte, wie auch in ihr Freude aufkeimte, und ihre Antwort darauf fiel streng und unerbittlich aus. Du wirst ihm nur helfen, seine Tochter zu finden, mehr nicht! Sie sah, wie er sich in ihre Richtung kämpfte. Seine Kraft und Größe ermöglichten es ihm, ihr auf halber Strecke entgegenzukommen. Er hatte sie fast erreicht, als etwas Hally zwischen den Schulterblättern traf. Zugleich gerieten ihre Beine zwischen die eines anderen. Sie verlor den Halt, und der Schlag von hinten raubte ihr den Atem. Hally stolperte, fiel auf die Knie, und die Menschenmenge schlug wie ein Meer über ihr zusammen. Sie versuchte wieder auf die Beine zu kommen, schaffte es jedoch nicht. Sie konnte nicht aufstehen. Sie konnte nicht um Hilfe rufen. Füße traten sie, landeten auf ihr. Sie schrie verzweifelt. "Halloran! Halloran McKenzie!" Hally konnte Mike Parkers Stimme hören, aber die Dunkelheit um sie herum wurde immer undurchdringlicher. Sie hatte Angst, zertrampelt zu werden, und bekam kaum noch Luft. "O Gott, da sind Sie." Starke Hände zogen sie auf die Füße und stützten sie, als sie schwankend durchatmete. "Sind Sie in Ordnung?" Hally blinzelte, bis der Nebel um sie herum sich langsam aufklarte. Mike Parkers Gesicht tauchte kurz darin auf und verblaßte wieder. Sie wehrte sich gegen die aufsteigende Übelkeit und grub die Fingernägel in seine Ärmel. "Ich ... bin ... in Ordnung." "Das bezweifle ich", hörte sie Mike sagen, bevor er sie mit sich zog. Halb zerrte er, halb trug er sie an den Rand der
Menschenmenge. Wie aus weiter Ferne sah sie, wie er ihr den Schmutz aus dem Gesicht wischte und ihre Kleidung glatt strich. Seine großen Hände waren unglaublich zärtlich. Kaum wurde ihr das bewußt, löste sie sich von ihm. "Danke", brachte sie heraus. Mike ließ die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. "Was tun Sie hier?" Sein Gesicht war grau. "Sie hätten getötet werden können." "Ja ... das stimmt." Langsam bekam Hally wieder einen klaren Kopf. Sie schaute ihm in die kühl forschenden Augen. Mit zitternden Fingern fuhr sie sich durch die kurzen Locken. Sie räusperte sich. "Co... Corinne?" krächzte sie. Mikes Gesicht wurde noch grauer, falls das überhaupt möglich war. "Ich weiß nur, daß sie hier ist. Irgendwo ..." "Das habe ich befürchtet." Einen Moment starrten sie einander an und registrierten eine emotionale Verbundenheit, die jeder von ihnen energisch abgewehrt hätte, wäre sie ihnen bewußt geworden. Aber sie verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, als Hally hörte, wie jemand ihren Namen rief. "Miss McKenzie! Miss McKenzie!" Sie schaute sich um und entdeckte eine Frau, die mitten im Gewühl stand, mit beiden Händen winkte und auf und ab sprang, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie war nur etwa zehn Meter entfernt, geriet aber immer wieder außer Sicht. Hally kannte sie. Es war die Mutter einer Schülerin. Hally hatte schon die Geschwister unterrichtet und kannte die Familie gut. "Mrs. Undser!" "Haben Sie Susan gesehen?" rief die Frau, während die wogende Menge sie von Hally und Mike trennte. Hally schüttelte den Kopf. "Nein. Aber ich werde mich nach ihr umsehen, okay?"
Die Frau nickte, war aber kaum noch zu erkennen. Wie ein Korken auf den Wellen verschwand sie immer wieder inmitten der wogenden Menschenmasse. "Sehen Sie." Mikes Hand legte sich fest um Hallys Arm. "Dort drüben. Dort ist Corinne." Hally wirbelte herum und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Tatsächlich, zwischen den wütend protestierenden Jugendlichen, die die Polizei eingekesselt hatte, war sekundenlang Corinne Parkers gebleichte Igelfrisur zu sehen. "Kommen Sie." Mike ergriff Hallys Hand und drängte sich entschlossen in Richtung der Polizeikette. Mit ihrem freien Arm half Hally ihm, ihnen einen Weg nach vorn zu bahnen. "Sie wollen sie in den Polizeitransporter dort hinten schieben!" rief sie, obwohl Mike es vermutlich längst mitbekommen hatte. "Officer!" Inzwischen hatten sie die Absperrung erreicht, und Mike wandte sich an einen der bewaffneten Polizisten. "Bitte", flehte er ihn an. "Lassen Sie mich durch. Das ist meine Tochter dort drüben. Sie ist erst vierzehn und hat bestimmt nichts getan. Ich weiß, daß sie nichts getan hat." Außer mich zu bestehlen. "Gehen Sie weiter, Sir", erwiderte der umlagerte Polizist scharf. "Aber sie hat doch nichts getan!" wiederholte Mike beschwörend und zornig zugleich. "Wenn Sie mich einfach durchlassen, damit ich sie holen kann ..." "Ich sage es Ihnen nur noch einmal", schrie der Polizist ihn an. "Gehen Sie weiter! Die behaupten alle, daß sie nichts getan hat." Er funkelte Mike an und hob den Schlagstock. "Gehen Sie weiter. Sofort!" "Kommen Sie, Mike." Hally zog an Mikes Arm. Die beiden Männer standen sich wie zwei Boxer gegenüber, aber Mike hatte keine Chance, den Kampf zu gewinnen. Das Recht war auf der Seite seines Gegners.
"Wohin bringen Sie die Kinder?" fragte sie den Streifenbeamten. "In die City." "Kommen Sie." Hally zerrte den wutschnaubenden und kämpferischen Mike davon. "Hier können Sie nichts ausrichten", rief sie ihm über die Schulter zu. "Aber Sie können in der City auf sie warten, um sie herauszuholen. Wo steht Ihr Wagen?" "Den habe ich nicht mit", erwiderte Mike grimmig. Hally runzelte die Stirn. "Wie sind Sie dann ..." "Eine Nachbarin hat mich mitgenommen." Mike biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Er verfluchte den starrköpfigen Polizisten. Und er verfluchte Pam Swigert, deren Schuld es war, daß Corinne in diesen Hexenkessel geraten war. Es war ihm egal, daß er unfair war, und er wollte sich auch nicht eingestehen, daß seine Tochter ihm fremd geworden war und auch ohne die Hilfe der gutgläubigen Nachbarin den Weg zum Stadion gefunden hätte. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Und im Moment war er viel zu aufgebracht, um ehrlich zu sein und einzusehen, daß er die Schuld nur bei sich allein suchen durfte. "Wo ist sie?" fragte Hally. Mike sah sich suchend um. Erst jetzt ging ihm auf, daß er im Gewühl von Pam getrennt worden war. "Ich weiß es nicht. Sie ist rothaarig ..." Besorgt ließ er den Blick über die Köpfe der Umstehenden schweifen. Trotz seines Zorns auf sie wollte er nicht, daß seiner Nachbarin etwas zustieß. Wenn Pamela nun gestürzt und in Lebensgefahr geraten war, so wie Halloran McKenzie vorhin auch? Dies war kein Ort, um allein zu sein, schon gar nicht als Frau, "Ist sie das?" Hally zeigte hinüber und wechselte bereits die Richtung.
Mike folgte ihr. "Ja", knurrte er und hielt vor Schreck den Atem an. Pam war von mehreren Frauen umringt. Sie weinte. Schwarze Bäche rannen ihr über die Wangen. Ihr sonst so sorgfältig frisiertes Haar sah aus, als hätte ein Schwarm Vögel darin genistet. Sie wirkte sehr mitgenommen. "Pamela!" Er eilte zu ihr, Hally im Schlepptau. "Um Gottes willen, was ist geschehen?" Seine Nachbarin konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und er ließ Hally los, um sie zu stützen. "Einige Jugendliche haben auf sie eingeschlagen", berichtete eine der anderen Frauen, während Pam nur aufschluchzte und den Kopf an Mikes Brust legte. "Bringen Sie mich nach Hause", rief sie und tastete wie blind um sich. Zu Mikes Erstaunen stand plötzlich Latisha, Corinnes sogenannte Freundin, da und ergriff die Hand ihrer Mutter. Erneut packte ihn der Zorn. "Warum bist du nicht bei Cory?" schrie er das Mädchen an und bemerkte erst jetzt, daß auch Latisha weinte und so zerzaust aussah wie Pam. "Wir ... wir ... wurden ... ge... getrennt, und dann ..." "Schon gut", unterbrach Mike sie müde, als sein Zorn sich schlagartig legte. Es war alles ein solcher Wahnsinn, so hoffnungslos verfahren. Herumzuschreien und das Chaos nur noch zu vergrößern brachte nichts. "Halloran ..." Er führte Pamela und ihre Tochter aus dem Gewühl und drehte sich zu Hally um. "Hören Sie, ich muß die beiden nach Hause bringen. Könnten Sie ... Ich meine, ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten Sie ..." "Zum Polizeirevier fahren und nach Corinne suchen?" beendete Hally seine Frage, als er zögerte. Obwohl alles in ihr nein rief, hörte sie sich antworten: "Sicher. Aber Ihnen ist klar, daß ich sie nicht freibekommen werde?" "Ja, ich weiß. Ich komme, so schnell ich kann. Und Halloran ..." Er hielt sie an der Schulter fest, als sie zu ihrem Wagen eilen wollte. "Danke."
"Kein Problem", sagte Hally und wich seinem Blick aus, denn die Dankbarkeit in seinen Augen ging ihr irgendwie ans Herz. Zur Polizei zu fahren war das letzte, was sie wollte. Sie ging weiter, seine Hand fiel von ihrer Schulter, und Hally fragte sich, wie sie es nur immer wieder schaffte, sich in solche Situationen zu bringen. Es roch nach Staub, .Schweiß und ungewaschenen Menschen. Überall waren Leute. Einige sauber, andere nicht. Einige betrunken. Aber alle schienen unglücklich darüber zu sein, daß sie hier waren, selbst die diensthabenden Polizisten. Jedenfalls kam es Mike so vor. Fest stand, daß die Beamten schon längst nicht mehr versuchten, freundlich oder auch nur höflich zu sein. Auf beiden Seiten des Tresens lagen die Nerven bloß. Wie versprochen, war Hally da und wartete auf ihn. Sie hatte herausbekommen, daß der Transporter mit den protestierenden Jugendlichen bereits eingetroffen war und die Festgenommenen in einer großen Zelle im hinteren Teil des Reviers untergebracht waren. Zornige Eltern verlangten lautstark die Freilassung ihres Nachwuchses. Auch Mike war darunter. Gehetzt wirkende Polizisten beugten sich über die Formulare, die sie erst ausfüllen mußten, wenn sie ihre ungewollten Gäste wieder loswerden wollten. Und mit ihnen die aufgebrachten Bürger, die sich vor dem Tresen drängten. Mike und Hally wechselten nur wenige Worte, während sie darauf warteten, daß Corinne nach vorn gebracht wurde. Auf der Fahrt vom Stadion nach Hause und von dort zum Polizeirevier hatte Mike immer wieder daran denken müssen, daß er im Kampf um und mit seiner Tochter nicht mehr allein war. Das löste in ihm ein eigenartiges Gefühl aus, eine Mischung aus Staunen und Beunruhigung. Und es machte ihm irgendwie angst.
Es machte ihm angst, weil Halloran McKenzie seit Becky die erste Frau war, die in ihm den Wunsch weckte, sie näher kennenzulernen. Viel näher. Das war natürlich vollkommen unmöglich. Er hatte wahrlich genug Probleme und nicht die Absicht, sich zusätzlich noch die Komplikationen aufzuhalsen, die ein romantisches Abenteuer unweigerlich mit sich brachte. Mike wußte, was gut für ihn war, und entschloß sich, ihre Beziehung gleich jetzt wieder auf eine sachliche Ebene zurückzuführen. "Miss McKenzie." Er holte tief Luft und rang sich ein Lächeln ab. "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll." "Dann lassen Sie es einfach", sagte Hally. Sie war erschöpft, und der Mann neben ihr verströmte plötzlich eine Kälte wie aus einem geöffneten Kühlschrank. "Ich fahre jetzt nach Hause, aber ich möchte Corinne morgen früh in meinem Büro sehen. Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn", erwiderte sie streng. . "Ich werde dafür sorgen", versprach Mike. Es tat ihm leid, daß er sie offenbar verletzt hatte, aber er war im Moment nicht in der Verfassung, die Stimmung zwischen ihnen zu entschärfen. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er es nicht gekonnt. Und er wollte es nicht. Die Frau war die Lehrerin und Betreuerin seiner Tochter, und in dieser Eigenschaft war sie zum Stadion geeilt, um ihrem Schützling zu helfen. Es war ihr Beruf, und er war für sie nicht mehr als der Vater einer Schülerin. Dir Gesicht war gezeichnet von dem, was sie gerade durchgemacht hatte, ihre Stimme klang kühl und sachlich. "Das hatten wir vereinbart", sagte sie. "Ich möchte, daß Sie Corinne an den nächsten Tagen zur Schule bringen und sie dort auch abholen, damit sie weiß, daß wir zusammenarbeiten und ein Auge auf sie haben. Bitte verstehen Sie jedoch, daß mein Interesse an Ihrer Tochter sich nur auf schulische Angelegenheiten erstrecken kann. Ich habe außer ihr noch neun andere Schüler zu betreuen und wäre längst ein Nervenbündel,
wenn ich mich auch noch um ihre häusliche Situation kümmern müßte. Das sehen Sie doch sicher ein?" "Natürlich", antwortete Mike und sagte sich, daß er genau das und keinesfalls mehr von ihr erwartete. "Unsere familiären Probleme haben nichts mit Ihnen zu tun." "Nun ja, jedenfalls nicht direkt. Also ..." Hally strich ihr Haar aus dem Gesicht und sah ihn an. "Dann wünsche ich Ihnen beiden eine gute Nacht." "Gute Nacht." Er hob die Hand, als sie zum Ausgang ging. "Nochmals danke." Draußen vor dem Revier gratulierte Hally sich dazu, daß sie ihre Haltung zu Mike Parker und seinen Problemen klargemacht hatte. Für heute hatte sie ihre gute Tat vollbracht, jetzt konnte sie ihr eigenes Leben weiterführen. In Zukunft würde sie den Kontakt zu Corinnes Vater auf ein Minimum beschränken und nur in der Schule stattfinden lassen. Müde bis auf die Knochen und von einem heißen Bad träumend, schob Hally den Schlüssel ins Schloß, um die Beifahrertür zu öffnen. Als sie ihn drehte, wanderte ihr Blick über den rechten Kotflügel zum Pflaster, um sofort zum Reifen zurückzukehren. Er war platt. Der verdammte Reifen war platt! Was jetzt? Das gab ihr den Rest. Niedergeschlagen ließ sie den Kopf aufs Wagendach sinken. Womit habe ich das nur verdient? fragte sie ihr ungnädiges Schicksal, das offenbar nicht zulassen wollte, daß sie nach Hause fuhr. Ich bin hundemüde, ich habe Hunger ... "Miss McKenzie?" Hallys Kopf zuckte hoch. Sie atmete tief durch und drehte sich langsam um. Vor ihr stand mit besorgter Miene Mike Parker. Neben ihm, zugleich reumütig und trotzig wirkend, stand Corinne. "Was ist los?" fragte Mike mit gerunzelter Stirn. "Was ist geschehen?"
Hally zeigte wortlos auf den Reifen, ohne den Blick von ihrer Schülerin zu nehmen. "Bist du in Ordnung, Corinne?" Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und schaute zur Seite, den Mund zu einem Strich zusammengezogen. Aber die Frage hatte etwas in ihren Augen aufflackern lassen, und jetzt schluckte sie. Sie ist nicht so zäh, wie sie uns glauben machen will, dachte Hally. Und plötzlich wußte sie, daß all das, was sie Mike erzählt hatte, nur Gerede gewesen war. Daß sie sich, sosehr sie sich dagegen auch wehren mochte, sehr wohl um Corinne Sorgen machte und nicht so tun konnte, als ginge es sie nichts an, was sich bei ihr zu Hause abspielte. Jetzt, da sie das Mädchen mit gesenktem Kopf vor sich stehen sah, erschien es Hally unausweichlich, daß sie sich einmischen mußte. Seit sie Lehrerin war, war es in jedem Schuljahr bei mindestens einem ihrer Schützlinge so gewesen. Vielleicht lag das daran, daß sie selbst als junges Mädchen eine Vertraute hätte brauchen können. Jemanden, der ihr half, sich in der immer schwieriger werdenden Welt zurechtzufinden. Ihre Mutter war ihr zwar inzwischen eine liebe Freundin geworden, aber damals war sie viel zu sehr in ihrer zerbröckelnden Ehe gefangen gewesen, um ihre verwirrte und unglückliche Tochter stützen zu können. Woran es auch liegen mochte, manche Kinder lösten in Hally etwas aus. Es waren Kinder, die mehr Verständnis und Hilfe brauchten, als sie ihnen während der wenigen Stunden in der Schule bieten konnte. Corinne Parker war eins dieser Kinder. Und das hatte nichts mit dem Vater des Mädchens zu tun. Um das deutlich zu machen, lehnte Hally Mikes Hilfsangebot brüsk ab. "Bringen Sie Ihr Kind nach Hause, Mr. Parker. Ich habe schon einmal einen Reifen gewechselt, vielen Dank." . Sie ignorierte seine gekränkte Miene, wünschte den beiden eine gute
Nacht und ging an den Kofferraum, um den Wagenheber, den Kreuzschlüssel und den Ersatzreifen herauszuholen. Bevor sie die Klappe öffnen konnte, wurde sie zur Seite geschoben, und das nicht gerade sanft. "Miss McKenzie", begann Mike, und ihm war anzuhören, wieviel Überwindung es ihn kostete, sie nach der glatten Abfuhr anzusprechen. "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mit Cory reden würden, während ich Ihren Reifen wechsle. Sie weigert sich, mit mir zu sprechen." Als Hally protestieren wollte, hob er die Hand. "Mir ist klar, daß meine Bitte die Grenzen überschreitet, die Sie für unser Verhältnis aufgestellt haben, aber ..." "Ich hatte nicht vor, mich zu weigern", unterbrach Hally ihn und beschloß, nicht länger mit ihm über den Ersatzreifen zu diskutieren, den er gerade aus dem Kofferraum wuchtete. "Wenn Sie mir Ihre Schlüssel geben und mir zeigen, wo Ihr Wagen steht, werde ich mich mit Corinne hineinsetzen." "Es ist der Buick dort drüben", sagte er und reichte ihr die Schlüssel. "Wie es scheint, muß ich mich wohl nochmals bei Ihnen bedanken." "Nein, das müssen Sie nicht", widersprach Hally. "Noch habe ich nichts getan." Sie ging davon. "Genau da irren Sie sich", hörte sie Mike murmeln. Hally war nicht sicher, wie sie die Bemerkung deuten sollte. Sie berührte Corinne an der Schulter. "Komm schon, Corinne. Setzen wir uns in den Wagen deines Dad." "Während er Ihren Reifen wechselt?" "Stimmt." "Ich dachte, das können Sie selber", antwortete das Mädchen leise und hielt den Blick auf den Boden gerichtet, während Hally sie zum Wagen ihres Vaters schob. "Das kann ich auch", erwiderte Hally ruhig. Mit trotziger Einsilbigkeit konnte sie umgehen. Die meisten Kinder reagierten
zunächst wortkarg und ablehnend. "Aber ich wollte lieber mit dir reden." "Sie meinen, er wollte, daß Sie mit mir reden", sagte Corinne und warf ihrem Vater, der inzwischen vor dem Vorderreifen des VW-Käfers hockte, einen wütenden Blick zu. "Ja, das wollte er." Hally öffnete die Tür des fast neuen Buick, auf den Mike gezeigt hatte. Es gehörte zu ihren Prinzipien, Schülern gegenüber stets ehrlich zu sein. Keine Spielchen, kein Gerede um den heißen Brei herum, keine heimlichen Absprachen mit den Eltern. Und dafür erwartete sie von ihnen nichts als Aufrichtigkeit. "Steig ein." Sie glitt hinter das Lenkrad, beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die andere Tür. Trotz ihrer Erschöpfung mußte sie lächeln, als Corinne sich mit heruntergezogenen Mundwinkeln und gerümpfter Nase auf den Sitz fallen ließ. Es war heiß im Wagen, und wie Hally ließ auch sie die Tür einen Spalt offen. Das Mädchen starrte auf ihre Hände. Im Profil wirkte ihr Gesicht nicht mehr so hart, im Gegenteil, es ließ sie verletzlich und viel jünger wirken. "Hast du zu den Randalierern gehört?" fragte Hally unvermittelt. Das Mädchen zuckte zusammen, sah sie an und blinzelte erstaunt. Aber die Antwort war so unhöflich, wie Hally es erwartet hatte. "Und wenn?" Hally musterte sie gelassen und hielt den Blick des Mädchens fest, obwohl es wegsehen wollte. "Wußtest du, daß heute abend jemand getötet wurde?" Corinne schluckte schwer und hielt den Atem an. Sie mußte wieder blinzeln, aber diesmal sah Hally, wie ihre Augen feucht wurden, bevor sie nach vorn starrte. "Möchtest du wirklich, daß dein Vater und ich annehmen, du hättest etwas damit zu tun?" fragte Hally sanft. Das Mädchen schaute nach unten und schüttelte den Kopf.
"Das habe ich mir gedacht." Hally griff nach Corinnes Hand, um sie zu tätscheln, doch das Mädchen zog sie sofort weg. Hally ignorierte es. Sie hatte mit nichts anderem gerechnet. "Ich möchte helfen", sagte sie. "Wenn du mich läßt." "Hmm." "Dein Vater ist nicht der Feind, weißt du", fuhr Hally leise fort. Sie war einiges gewöhnt, doch diesmal entsetzte Corinnes Antwort sie. "Er haßt mich", stieß sie hervor. Ihr Gesicht verzerrte sich. Als spürte sie, daß Mike neben dem Wagen stand, sah Corinne Hally offen ins Gesicht. "Und ich hasse ihn."
3. KAPITEL Auf Mike Parkers Gesicht hatte sich blanker Schmerz gespiegelt, bevor seine Miene wieder so ausdruckslos wurde, als hätte er seine Gefühle hinter einer Maske verborgen. Hally konnte seinen Anblick nicht vergessen, als sie langsam nach Hause fuhr. Der Ersatzreifen ließ keine schnellere Geschwindigkeit zu, und das war gut so, denn nach den dramatischen Ereignissen der letzten Stunden war sie alles andere als konzentriert. Sie hielt kurz an einer Tankstelle und ließ den kaputten Reifen dort, um ihn reparieren zu lassen. Armer Mike, dachte sie. Und auch Corinne tat ihr leid. Die beiden würden viel Zeit, Geduld und Liebe brauchen, um den Weg zueinander zu finden. Hally kannte sich aus, schließlich hatten sie und ihr Vater diesen Weg noch immer nicht beschritten. Und das nach ... wieviel Jahren? Zehn? Ja, so in etwa. Auch wenn Mikes und Corinnes Situation der von Hally und ihrem Vater ähnelte, so hatten die beiden doch eines, das für sie sprach: Mike war da. Sein Verrat war keine Tatsache, sondern eine fixe Idee, die für Corinne langsam, aber sicher zur Tatsache geworden war. Dr. James McKenzie dagegen hatte seine Frau immer wieder betrogen und bei seinen beiden Töchtern ab und zu den viel zu strengen Vater zu spielen versucht, um sich schließlich scheiden
zu lassen und seine bereits schwangere Sprechstundenhilfe zu heiraten. Hally verzog das Gesicht. Die süße Eva, ihre Stiefmutter, war inzwischen vierunddreißig, also so alt wie Hallys Schwester Morgan und nur zwei Jahre älter als Hally selbst. Es war alles sehr unschön und traurig gewesen, und bis zum heutigen Tag herrschte zwischen Hally und ihrem Vater ein äußerst gespanntes Verhältnis. Kontakt zwischen ihnen gab es praktisch nicht. Die neue Frau ihres Vaters und ihren inzwischen neun Jahre alten Halbbruder hatte Hally nur ein paarmal gesehen, und das auch nur aus der Entfernung. Da sie fest auf der Seite ihrer Mutter stand, tat Hally nichts gegen die feindselige Stimmung und ignorierte James McKenzies gelegentliche Versuche, Frieden zu schließen. Sich mit ihrem Vater auszusöhnen wäre für Hally gleichbedeutend mit Verrat an der Mutter gewesen. Morgan dagegen war immer seine Lieblingstochter gewesen. Natürlich hatte es auch ihr weh getan, daß der Vater die Familie im Stich gelassen hatte, aber jetzt war sie verheiratet und hatte einen kleinen Jungen, den sechs Jahre alten Kenny, und hatte dem Vater offenbar längst verziehen. Wenn sie in Long Beach war, wohnte sie sogar im Haus ihres Vaters. Na ja, das muß jeder selbst wissen, dachte Hally ein wenig selbstgerecht. Doch dann dachte sie daran, wie traurig Mike Parker bei Corinnes haßerfüllten Worten ausgesehen hatte. Und zum erstenmal fragte sie sich, ob auch sie ihrem Vater mit ihrer unnachgiebigen Haltung Schmerz bereitete. Unsinn. Hally bog in ihre Einfahrt ein und verdrängte die beunruhigende Vorstellung. James McKenzie war viel zu arrogant und erfolgreich, um sich durch etwas so Nebensächliches wie den Verlust einer Tochter treffen zu lassen. Daß Hally ihm ihr Vertrauen und ihre Zuneigung versagte, machte ihm bestimmt nichts aus, zumal seine andere Tochter ihn nach wie vor anhimmelte.
Als sie aus dem Wagen stieg, schaute Hally zur anderen Seite des Hauses hinüber. Nirgendwo brannte Licht. Ihre Mutter mußte ausgegangen sein. Ein wenig enttäuscht schloß Hally ihre Tür auf. Etwas Tee und Mitgefühl von ihrer Mutter wären jetzt gut gewesen. Seufzend beschloß sie, eine heiße Dusche zu nehmen und sich selbst Tee zu machen. In der Küche empfing sie ein empörter Chaucer. Sie ging in die Hocke, streichelte den laut miauenden Kater und nahm ihn auf den Arm. "Du konntest nicht aus dem Haus, was? Dummes altes Ding", entschuldigte sie sich für die Verspätung. Chaucer hielt nicht viel von Zärtlichkeit und zappelte, bis sie ihn zu Boden springen ließ. "Na gut, dann verschwinde eben", raunte Hally lächelnd und öffnete ihm die Tür in den Garten. "Viel Spaß..." Das Haus erschien ihr seltsam ruhig und leer, als sie in die Küche zurückkehrte. Unentschlossen blieb sie stehen und sah sich um. War sie hungrig? Sie hatte nichts gegessen und vor einer Weile war sie halb am Verhungern gewesen. Aber irgendwie hatte sie jetzt keinen Appetit mehr. Das war etwas völlig Neues. Vielleicht würde es doch nicht so schwierig werden, die fünf Pfund zu verlieren. Als sie gerade überlegte, ob sie sich eine Tasse Tee machen sollte, fiel ihr Blick auf das rote Blinklicht des Anrufbeantworters. Nein, Tee wollte sie auch nicht. Sie ging hinüber, um das Gerät abzuhören. Wein, dachte sie, während das Band zurückspulte. Ein schönes Glas Chardonnay, das war es, was sie jetzt brauchte. Offenbar befanden sich auf dem Band so viele Nachrichten, daß ihr altertümliches Gerät überfordert war. Es dauerte ewig, das Band an den Anfang zurückzuspulen. Während sie sich den Wein eingoß, beschloß Hally, das Ding abzuschaffen und sich eine Mailbox einrichten zu lassen. "Hally! "Oh, es spricht.
Hally stellte das Glas ab, nahm einen Bleistift und beugte sich über den Schreibtisch, um die Namen und Telefonnummern zu notieren. Die erste Anruferin war Morgan. Sie klang betrübt. Nun ja, das tat sie oft. "Weißt du, wo Mutter heute abend steckt? Ich versuche dauernd, sie zu erreichen. Und wie geht es dir? Ruf mich doch an, ja?" Wie immer, dachte Hally. Morgan lebte jetzt in Detroit und geriet jedesmal in eine Krise, wenn sie das Gefühl hatte, die letzten Familienneuigkeiten zu verpassen. Hally richtete sich auf und warf den Stift hin. Sie rieb sich den schmerzenden Rücken. Als sie die nächste Nachricht hörte, griff sie hastig nach dem Block und dem Stift. "Miss McKenzie, dies ist Sergeant O'Rourke, Polizei von Long Beach. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber bitte rufen Sie mich unter 555-5000, Anschluß 24 an. Es geht um Ihre Mutter. Vielen Dank." O Gott! Hally ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken und mußte sich die Nachricht noch zweimal anhören, bevor sie es schaffte, die Nummer des Sergeants zu Papier zu bringen. Ihre Hand zitterte heftig, während sie die Tasten drückte und den Hörer ans Ohr preßte. Sie nannte die Nummer, als die Zentrale sich meldete. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis eine strenge Männerstimme ertönte. "O'Rourke." Vor Nervosität brachte Hally kaum etwas heraus. Sie holte tief Luft. "Hier ist Hally McKenzie. Ich erwidere Ihren Anruf." "Ach ja", erwiderte der Beamte schon etwas freundlicher. "Miss McKenzie ..." "Ist meiner Mutter etwas zugestoßen?" fragte Hally in die Pause hinein. Bestimmt sucht er jetzt nach den entsprechenden Unterlagen, dachte sie. "Es geht ihr gut", versicherte Sergeant O'Rourke. "Sie hat mich gebeten, Sie anzurufen und Ihnen zu sagen, Sie möchten
ihr eine Tasche mit ein paar Sachen für die Nacht packen und ins Memorial Hospital bringen. Zimmer Nummer ..." "Ins Krankenhaus?" Hally hörte nur dieses schlimme Wort und sprang vom Stuhl auf. "Was ist mit ihr? Was ist passiert? Warum hat man mich nicht..." "Sie sagte, sie hätte versucht, Sie anzurufen. Sie haben sich nicht gemeldet." Der Anruf. "Sie hat aufgelegt, bevor ich abnehmen konnte", erklärte Hally mit ausdrucksloser Stimme. Nahmen die Katastrophen denn heute abend gar kein Ende? "Sie hat keine Nachricht hinterlassen." "Nun ja, sie war in ziemlich übler Verfassung und hat es gerade noch geschafft, den Notruf zu wählen. Sie ist in Glas gefallen und hat Schnittwunden davongetragen ..." "Oh ..." Hally stieß einen Schreckenslaut aus und preßte die Hand an den Mund. Nicht ihre Hände! Ihr wurde schlecht, als sie sich ausmalte, was die Worte des Polizisten bedeuten konnten. "Wie war die Zimmernummer noch gleich?" Mit zitternden Fingern schrieb sie auf, was der Sergeant ihr diktierte. Wie in Trance ging sie hinüber in die Haushälfte ihrer Mutter und stopfte Kosmetika, Wäsche und andere Dinge, die ihr nötig erschienen, in eine Tasche. Und während der ganzen Zeit dankte sie dem Himmel, daß das Atelier ihrer Mutter sich draußen in der Garage befand, so daß sie nicht gezwungen war, die blutigen Spuren des Unfalls anzusehen. Den Anblick von Blut hatte sie noch nie ertragen können. Das gehörte zu den vielen Eigenarten, die ihr Vater, ein Arzt, immerzu an ihr kritisiert hatte. Auf der Fahrt zum Krankenhaus fragte Hally sich, ob sie Morgan hätte anrufen sollen, um ihr zu erzählen, was geschehen war. Doch dann beschloß sie, erst mit ihrer Mutter zu sprechen, bevor sie ihre Schwester anrief. Nach allem, was sie heute durchgemacht hatte, wollte sie es so weit wie möglich
hinausschieben. Morgan stand kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes und war daher noch leichter aus der Fassung zu bringen als ohnehin schon. Daß sie vor dem Zimmer ihrer Mutter James McKenzie begegnete, war noch etwas, was Hally sich heute gern erspart hätte. "Vater", rief sie und war zu müde und verwirrt, um den empörten Ton aus ihrer Stimme herauszuhalten oder diplomatischere Worte zu finden. "Was, um alles in der Welt, tust du denn hier?" "Na ja, ich bin schließlich Arzt", erwiderte er sanft und musterte Hally von Kopf bis Fuß, wie er es immer getan hatte. Auch diesmal kam sie sich irgendwie klein vor. Daß sie es nach all den Jahren noch immer tat, störte sie zutiefst. "Und dies ist immerhin mein Krankenhaus", fuhr er fort. "Jedenfalls bin ich hier der Chefarzt." "Oh. Ich ... das wußte ich nicht..." "Es gibt vieles, was du nicht weißt, Halloran." "Nun ja ..." Sie war wütend auf sich. Warum benahm sie sich auch jetzt wieder so verlegen und hilflos wie früher? Warum machte sie es ihrem Vater so einfach, sie wie ein kleines Mädchen zu behandeln? Hally biß die Zähne zusammen und setzte die trotzige Miene auf, mit der sie sich schon als Teenager gegen seine herablassende Art gewehrt hatte. Dabei war sie so sicher gewesen, daß sie ihm inzwischen gewachsen sein würde. "Würdest du mich bitte vorbeilassen? Ich bin hier, um meine Mutter zu besuchen." "Natürlich." James McKenzie machte einen Schritt zur Seite. "Wie es aussieht, ist deine Mutter gestürzt und mit dem Kopf gegen die Kante ihrer Arbeitsplatte geprallt. Die Wunde hat geblutet, aber es ist nichts Ernstes. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie wird bald wieder in Ordnung sein."
Hally machte sich ganz dünn, um ihn nicht zu streifen, als sie an ihm vorbeiging. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und was sie in seinen Augen erblickte, ließ ihr den Atem stocken. Ihr Vater sah verletzt und traurig aus. Plötzlich war sie auf sich selbst noch wütender als auf ihn und taumelte fast wie blind an ihm vorbei in das Zimmer ihrer Mutter. Die Krankenschwester, die am Bett stand, hob erstaunt den Kopf, als Hally eintrat. Sie legte einen Finger an den Mund. "Sie schläft gerade ein", flüsterte sie in sehr britisch klingendem Englisch, während Hally auf Zehenspitzen näher kam. "Der Doktor hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben." Hally nickte stumm. Die unerwarteten Gefühlsregungen, die sie in den Augen ihres Vaters entdeckt hatte, wirkten noch in ihr nach. Und der Anblick ihrer Mutter, deren verbundene rechte Hand auf der Bettdecke lag, entsetzte sie zutiefst. Sie ließ die Tasche einfach fallen und beugte sich vor, um ihr in das blasse und viel zu leblose Gesicht zu schauen, das sonst so voller Leben war. Eine schlimm aussehende blaurot schillernde Beule verunzierte die hohe Stirn. Ganz vorsichtig, zärtlich und liebevoll berührte Hally die Stelle und strich mit dem Finger über die Wange, bevor sie die Hand wieder fortnahm. Ich liebe dich, Mom, dachte sie. "Gehirnerschütterung?" fragte sie leise. Die Krankenschwester schüttelte den Kopf. "Nein, sonst hätte der Doktor sie nicht ruhiggestellt. Sie sind bestimmt eine Angehörige." Es war eher eine Feststellung als eine Frage. "Ihre Tochter", bestätigte Hally. "Oh." Die Schwester klang plötzlich interessiert. "In dem Fall sind Sie.,." "Auch Dr. McKenzies Tochter", beendete Hally den Satz für sie. "Wird meine Mutter die ganze Nacht hindurch schlafen?" erkundigte sie sich, um weiteren Fragen zuvorzukommen. "Das nehme ich an, ja."
"Ich habe ihr ein paar Sachen mitgebracht." Hally hob die Tasche wieder auf. "Wohin soll ich sie legen?" "Im Nachtschrank müßte genug Platz sein", sagte die Schwester im Hinausgehen. "Ihre Mutter wird morgen früh entlassen." Hally ließ sich Zeit, als sie die Sachen aus der Tasche nahm und verstaute. Sie legte den Bademantel ihrer Mutter über das Fußende des Betts, anstatt ihn aufzuhängen. Die Hausschuhe stellte sie unter das Bett, damit ihre Mutter sie sofort fand, falls sie nachts aufstehen mußte. Immer wieder betrachtete sie die reglose Gestalt unter der Decke und hoffte inständig, daß ihre Mutter aufwachen und ihre Tochter erkennen würde. Als sie mit allem fertig war, fühlte sie sich hilflos und wollte gebraucht werden, doch es gab nichts, was sie noch tun konnte. Hally küßte ihre Mutter behutsam auf die Lippen und verließ leise das Zimmer. "Ich komme wieder, Mom", flüsterte sie. "Gleich morgen früh." Auf der Fahrt nach Hause herrschte zwischen Michael und Corinne Parker ein drückendes Schweigen. Weder Vater noch Tochter waren bereit, es zu brechen. Danach betraten sie hintereinander das Haus, und Corinne wollte sofort auf ihr Zimmer eilen, doch Mike hielt sie zurück. "Ich möchte mit dir reden." Er zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und zeigte darauf. "Setz dich." Corinne verschränkte die Arme vor der Brust, ignorierte die Anweisung ihres Vaters und lehnte sich demonstrativ gegen den Tresen. In Mike hatte sich nach allem, was geschehen war, ein gewaltiger Zorn angestaut. Mit einem langen Schritt war er bei seiner Tochter und packte sie an den Armen.
"Ich sagte, setz dich", schrie er sie an, während er den Stuhl zu sich zog und Corinne zwang, darauf Platz zu nehmen. "Und genau das wirst du auch tun, junge Lady." Er ließ sie so überraschend los, wie er sie gepackt hatte, wirbelte herum und marschierte ans Fenster. Er atmete schwer, während die Wut sich langsam legte und sein Blick wieder klar wurde. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so außer Fassung gewesen zu sein. Seine Hand zitterte heftig, als er sich durchs Haar fuhr. Er atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, bevor er sich zu seiner Tochter umdrehte. "Hier wird sich einiges ändern", verkündete er schließlich, als er das Gefühl hatte, wieder vernünftig zu sein. "Du wirst dich ab jetzt wie ein zivilisierter Mensch benehmen ..." "Ja", unterbrach Corinne ihn gelangweilt. Ihre Stimme und ihr Gesicht verrieten tiefste Verachtung. "So wie du gerade, habe ich recht?" "O nein, das tust du nicht." Mike funkelte sie an. "Du wirst jetzt nicht den Spieß umdrehen und mir ein schlechtes Gewissen machen, weil ich dich eben hart angepackt habe. Zugegeben, ich habe die Beherrschung verloren, aber mit deinem Trotz und deiner rebellischen Haltung würdest du selbst einen Heiligen an den Rand der Raserei treiben. Aber damit ist jetzt endgültig Schluß." "Pah." Corinne verzog den Mund, verschränkte erneut die Arme und drehte sich gelangweilt zur Seite. Mike mußte stumm bis zehn zählen, um nicht wieder zu explodieren. Er wußte, daß er nur dann etwas bei seiner Tochter erreichen konnte, wenn er ruhig blieb und sie nicht anschrie. Andererseits hatte er nicht die Absicht, ihr dieses unmögliche Benehmen durchgehen zu lassen. Sie war eine Lügnerin, eine Diebin und eine Streunerin geworden. Er war fest entschlossen, diesem Verhalten Einhalt zu gebieten, bevor es zur festen Gewohnheit wurde.
Er ging an das Regal, nahm die Porzellankatze heraus, trug sie zu Corinne hinüber und stellte sie auf den Tisch: Als sie sich weigerte, sie anzuschauen, legte er die Hand um ihr Bann und drehte ihr Gesicht fest, aber nicht unsanft nach vorn. "In dieser Dose waren zweihundert Dollar", sagte er. "Jetzt sind es nur noch siebzig. Ich will wissen, was aus dem Rest geworden ist." "Woher soll ich das wissen?" murmelte Corinne. Aber sie sah ihn dabei nicht an und errötete stark. Der Anblick erfüllte Mike mit großer Erleichterung, denn er bewies ihm, daß seine Tochter noch ein Gewissen besaß und sich noch nicht unerreichbar weit von ihm entfernt hatte. "Sieh mich an", befahl er, ohne ihr Kinn loszulassen. Mit trotzigem Blick und so langsam wie möglich gehorchte sie. Er baute sich vor ihr auf, beugte sich herab und starrte ihr in die Augen. "Woher hattest du das Geld für das Konzert?" Sie preßte die Lippen zusammen und antwortete nicht. "Und für diese Fetzen, die du da trägst?" fuhr Mike fort und hielt ihrem feindseligen Blick stand. "Und für das hier?" Mit einer abfälligen Handbewegung zeigte er auf ihr gebleichtes Haar. "Woher hast du das viele Geld, Corinne?" "Was spielt das schon für eine Rolle?" rief sie aufgebracht, und ihr plötzlicher Ausbruch überraschte ihn, denn er hatte damit gerechnet, daß sie weiterhin schweigen würde. "Dir ist doch sowieso alles egal, was ich tue!" Sie befreite sich aus seinem lockeren Griff, sprang auf, ballte die Hände zu Fäusten und wirbelte zu ihm herum. "Es wundert mich, daß du es überhaupt bemerkt hast. Du bist doch dauernd damit beschäftigt, mir vorzuwerfen, daß ich mein Zimmer nicht aufräume, nicht abwasche und den Müll nie hinausbringe. Das ist alles, was ich für dich bin - ein Hausmädchen! Stimmt das etwa nicht? Was ich tue, wohin ich gehe, wie ich mich fühle, das
ist dir doch völlig gleichgültig. Du fragst mich nie, wie es mir hier gefällt oder wie ich die Schule finde. Du haßt mich!" "Das tue ich nicht!" widersprach Mike heftig. "Mein Gott, Cory, ich liebe dich! Du bist mein Kind! Du bist alles, was ich habe!" Aber sie hörte gar nicht zu, sondern wütete weiter."Und ich hasse es hier. Ich hasse diese dämliche Stadt, ich hasse dieses blöde Haus, und ich hasse das Leben mit dir. Ich will nach Hause! Warum läßt du mich nicht einfach nach Hause gehen ..." Die letzten Worte waren ein einziges Schluchzen, und Mike fühlte sich, als würde ihm das Herz brechen. Er stand selbst kurz vor den Tränen, als er Corinne an der Schulter festhielt, um sie daran zu hindern, aus der Küche zu rennen. Sie wehrte sich mit aller Kraft, aber er drehte sie wieder zu sich um, legte die Arme um sie und flüsterte tröstende Worte, während sie den Kopf an seine Brust legte und weinte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie zart und zerbrechlich ihr mädchenhafter Körper war. Diese Zartheit war unter den zahlreichen Schichten viel zu weiter Kleidung nicht zu erkennen, und zudem verbarg Corinne sie hinter ihrer Fassade unnahbarer Überheblichkeit. "Cory, Baby", murmelte er und streichelte ihren Rücken, während er sie behutsam in den Armen wiegte. "Wein doch nicht so. Bitte, hör auf zu weinen. Wir werden eine Lösung finden..." "Ich will gar keine Lösung finden!" Cory riß sich aus seiner Umarmung. Sie stampfte mit dem Fuß auf, hob ihm das tränenüberströmte Gesicht mit dem verschmierten Make-up entgegen und verzog es zu einer häßlichen Grimasse. "Ich will nicht hier sein. Ich will nicht bei dir sein. Und du kannst mich nicht dazu zwingen." Diesmal war Mike zu verblüfft, um sie zurückzuhalten, als sie aus dem Raum stürmte. Reglos und wie gelähmt stand er da
und zuckte nur leicht zusammen, als sie die Tür hinter sich ins Schloß warf. Er, der auf jedem Kontinent der Erde den Elementen der Natur widerstanden, der einige der rauhesten Männer der Welt unter seinem Kommando gehabt, der sich mit Rebellen und Untergrundkämpfern, Scheichs und Wirtschaftsbossen herumgeschlagen hatte, war besiegt. Besiegt durch die giftige Zunge seiner vierzehnjährigen Tochter. Morgen würde er alles in die Wege leiten, um sie wieder nach Hause zu schicken. Hally schaffte es nicht, rechtzeitig zur Verabredung mit Mike und Corinne Parker in die Schule zu kommen. Und um wieder etwas von der Distanz zu gewinnen, die ihr in diesem Fall besonders wichtig erschien, sagte sie auch nicht bei den Parkers ab. Statt dessen rief sie im Büro des Schulleiters an und sorgte dafür, daß eine Vertretung ihre Englischstunde an diesem Morgen übernahm, und bat Gilbert Smith, sich mit Mike zu treffen und ihr Fehlen zu entschuldigen. Außerdem ließ sie Mike durch Gil ausrichten, daß sie nach der Mittagspause mit Corinne sprechen würde. ' Jetzt war sie endlich auf dem Weg zur Schule, nach einem Morgen, der fast so voller Überraschungen gewesen war wie der gestrige Abend, wenn auch nicht so erschütternd. Kurz nach sieben war sie im Krankenhaus eingetroffen, erschöpft von einer Nacht, in der sie keine Ruhe gefunden, sondern immer wieder von ihrem Vater und Mike Parker geträumt hatte. Sigmund Freud hätte seine helle Freude daran gehabt, ihre Träume zu deuten. Als sie das Zimmer ihrer Mutter betrat, starrte sie entsetzt auf den uniformierten Polizisten, der neben dem Bett stand. Ihr erster Gedanke war, daß jemand versucht hatte, sie zu ermorden. Und natürlich hatte sie auch sofort einen Verdächtigen parat: ihren Vater.
Die Vorstellung war gar nicht so abwegig, denn ihre Eltern waren beide willensstarke Persönlichkeiten, und vor ihrer Scheidung war es zwischen ihnen zu recht heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Aber natürlich hatte es keinen Mordversuch gegeben, und von Gewalt konnte gar keine Rede sein. Ganz im Gegenteil. Ihre Mutter war, abgesehen von den Folgen des Sturzes, putzmunter und bei bester Gesundheit. Sie strahlte wie ein junges Mädchen, und ihre unverletzte Hand lag zwischen Sergeant William O'Rourkes kräftigen Fingern. Hastig zog sie sie heraus, als Hally ans Bett trat. "Hally, Liebling", rief sie, und zum Erstaunen ihrer Tochter errötete sie sogar. "Bill ... Ich meine, Sergeant O'Rourke war so nett, vorbeizukommen und nach mir zu schauen." Um sieben Uhr morgens? dachte Hally, sprach es jedoch nicht auf. Statt dessen nickte sie nur und lächelte, als wäre es das Normalste auf der Welt, daß ihre Mutter im Morgengrauen männliche Besucher an ihrem Krankenbett empfing. "Wir haben schon miteinander telefoniert", sagte sie zum Sergeant. ' "Richtig." Er hatte sich bereits ein wenig vom Bett entfernt. Er war ein großer, muskulöser Mann mit ehrlichem Gesicht und vielen Sommersprossen, der ihre Mutter liebevoll ansah. Er ging zur Tür. "Ich rufe dich nachher an, Edith", sagte er. "Es war schön, Sie kennenzulernen", meinte er zu Hally, bevor er leise hinausging. "Ebenfalls", murmelte Hally. Als die Tür sich hinter ihm schloß, drehte sie sich zu ihrer Mutter um. "Möchtest du mir erklären, was hier vor sich geht, liebe Mutter?" bat sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Hally mußte schmunzeln, als sie daran dachte. Kopfschüttelnd bog sie auf ihren reservierten Parkplatz vor der Schule ein. Offenbar hatten ihre Mutter und der nette Sergeant sich vor einigen Wochen kennengelernt, als er ihr einen
Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit verpaßt hatte. Wie ihre Mutter berichtete, war Mr. O'Rourke von ihr so hingerissen gewesen, daß er ganz vergessen hatte, ihr den Führerschein zurückzugeben. Also war er nach Dienstschluß bei ihr vorbeigekommen, und danach hatte - wie Hallys Mutter es ausdrückte - eins zum anderen geführt. Und das war ihr Glück, meinte sie, denn hätte Bill ihr nicht gestern einen seiner häufigen Kurzbesuche abgestattet, hätte der Sturz vielleicht schlimmere Folgen hinterlassen. Sie hatte sich den Kopf gestoßen und das Bewußtsein verloren. Als sie aus der Ohnmacht erwachte, rief sie sofort Hally an. Doch dann sah sie all das Blut, und sofort wurde ihr wieder schwindlig. "Du weißt, bei Blut ergeht es mir so wie dir, Liebes." In genau dem Moment war Bill ins Atelier gekommen. "Die Vorsehung hat ihn mir geschickt, Liebling", erklärte Edith, und die Begeisterung in ihrer Stimme verriet Hally, daß es ihrer Mutter schon viel besserging. "Mein Karma ist mit Bills verschmolzen, glaub mir ..." "Wie schön für dich, Mutter", flüsterte Hally und gestand sich ein, etwas neidisch zu sein, während sie die Stufen zur großen Schultür hinaufeilte. Es gab Zeiten, da hätte auch sie nichts dagegen gehabt, ihr Karma mit dem eines netten Mannes zu verschmelzen. Aus irgendeinem Grund kam ihr ausgerechnet in diesem Moment wieder Michael Parker in den Sinn, und er blieb dort, während sie zum Lehrerzimmer hastete. Nicht etwa deshalb, weil er auf seine natürliche Art sehr attraktiv und noch dazu verwitwet war, sondern weil sie ihn heute morgen versetzt und daher ein schlechtes Gewissen hatte. Und weil die Sache mit seiner Tochter ihr ans Herz ging. Siehst du, dachte sie. Er schien alles so schwer zu nehmen. Er war tief betroffen, verletzt und hilflos, und vermutlich gab er sich mehr Schuld, als er sollte.
Hally war eine Frau und wußte nur zu gut, daß seine Tochter gerissen genug war, die Schuldgefühle ihres Vaters zu wecken und zu ihrem Vorteil auszunutzen. Der. Mann brauchte eine Verbündete. Aber wer konnte das sein? Seufzend unterdrückte Hally den Wunsch, sich freiwillig für diese Aufgabe zu melden. Schließlich hatte sie genug Probleme: ihre Mutter, Gil und dann noch die Vorbereitung ihres Weiterbildungsurlaubs in Italien. Sie würde sich hier in der Schule um das gefährdete Mädchen kümmern, aber darüber hinaus ... Hally betrat das Lehrerzimmer. "Hi, B.J." Birgit James, die junge Kollegin, die sie heute vormittag vertreten hatte, beendete gerade ihre Mittagspause. "Gut, daß ich dich noch erwische. Danke, daß du so kurzfristig für mich eingesprungen bist." "Du würdest das auch für mich tun", wehrte Birgit Hallys Dank ab. "Wie geht es deiner Mutter?" "Inzwischen wieder großartig, danke." Hally hängte ihre Jeansjacke auf. "Gab es Probleme?" Birgit lachte. "Keins, mit dem ich nicht fertig geworden wäre." "Jackie Sims", erwiderte Hally trocken, während sie ihren Taschenspiegel herausholte und ihr Make-up überprüfte. Sie widerstand der Versuchung, den Pickel am Kinn zu verbessern, verzog das Gesicht und klappte den Spiegel wieder zu. "Der Junge macht nichts als Ärger.. Und was war mit der jungen Parker? Corinne?" "Parker? Ooh." Birgit schlug sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe. "Das hätte ich fast vergessen. Er hat nach dir gesucht ... Mr. Parker, meine ich." "So?" Hally runzelte die Stirn. "Ich hatte darum gebeten, daß Gil mit ihm redet und ihm erklärt, daß ich nicht kommen kann." "Gil hat eine Grippe oder so etwas", warf ein anderer Lehrer, ein Kollege von Gilbert Smith aus dem Fachbereich Mathematik, ein. "Er ist heute nicht gekommen."
"Oh, großartig." Hally schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Hatte sich denn heute alles gegen sie verschworen? "War er sauer?" fragte sie. Was mußte Mike jetzt von ihr denken? "Und das Mädchen? War mit ihr alles in Ordnung?" fragte sie weiter, ohne Birgit Gelegenheit zur Antwort zu geben. "Seine Tochter, meine ich." "Nun ja ..." Birgit legte die Stirn in anmutige Falten. "Ich glaube, sie hat mitten in der Stunde gefragt, ob sie mal austreten darf. Aber jetzt, da du mich danach fragst, kommt es mir vor, als wäre sie gar nicht zurückgekommen ..." "O nein." Verzweifelt schloß Hally die Augen. "Sie hat es schon wieder getan." Also gut, junge Lady, dachte Hally grimmig, als sie wenige Minuten später das Lehrerzimmer verließ. Sie hatte Birgit überredet, sie auch am Nachmittag zu vertreten. Der Spaß war vorüber, jetzt wurde es ernst. Sie schaute kurz in ihrem Zimmer vorbei und rief in Mike Parkers Firma an, um auf ein sofortiges Gespräch zu drängen. Eine weibliche Stimme informierte sie darüber, daß Mr. Parker sich zwei Tage freigenommen hatte und in dieser Woche nicht mehr ins Büro kommen würde. Wunderbar. Sie knallte den Hörer auf die Gabel und starrte gedankenverloren auf den altmodischen Apparat. Ihr blieben zwei Möglichkeiten - entweder sie rief Michael Parker zu Hause an, oder sie stattete ihm höchstpersönlich einen Besuch ab. Ihr Instinkt riet ihr, es bei einem Anruf zu belassen. "Ihre Tochter hat mal wieder den Unterricht geschwänzt, Mr. Parker. Kümmern Sie sich darum." Ja, schon gut. Hally seufzte dramatisch. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie steckte mit drin. Und wenn sie heute morgen in der Schule gewesen wäre, hätte Corinne vielleicht nicht...
"Okay, okay", murmelte sie wütend. Ich bin schuld. "Ich gehe ja schon." Noch immer wütend vor sich hin murmelnd, schrieb sie Parkers Adresse und Privatnummer auf. Kurz darauf saß sie im Wagen. Sie hatte keine Mühe, das Haus zu finden. Es lag ein paar Blocks vom Strand entfernt in einem Viertel, das schon bessere Tage gesehen hatte. Viele der alten Stadtvillen dienten jetzt als zweitklassige Pensionen oder waren in Mietwohnungen aufgeteilt worden. Das Haus der Parkers war ein kleiner Bungalow, dessen Fassade pinkfarben gestrichen war, was Hally nicht gerade gelungen fand. Innerlich schaudernd starrte sie es an, während sie am Straßenrand hielt und ausstieg. Irgendwie hoffte sie, daß Mike es nur gemietet hatte. Warum hoffte sie das? Es konnte ihr doch vollkommen gleichgültig sein, ob das Haus ihm gehörte oder nicht. Sein Buick stand zwei Wagen vor ihrem. Das bedeutete, daß er zu Hause war. Wenn sie Glück hatte, war auch seine Tochter daheim, und sie konnte diese Angelegenheit ein für allemal klären. Heute abend fand ihr Italienischkurs statt, und den durfte sie unter keinen Umständen versäumen. Hally straffte die Schulter und tat ihr Bestes, die Schmetterlinge zu ignorieren, die unerklärlicherweise in ihrem Bauch aufgeflogen waren. Sie ging über die schiefen Betonplatten zur rissigen Treppe und klopfte an die Haustür. "Komme gleich", trällerte eine helle Frauenstimme. Hally runzelte die Stirn. Corinne? Niemals. Die Stimme klang viel zu fröhlich. Die Tür öffnete sich, und Hally starrte auf die Rothaarige, die am Abend zuvor vor dem Stadion Mike Parkers Hemd mit ihren heißen Tränen durchnäßt hatte. An ihren bloßen Armen waren blaue Flecken zu erkennen, aber ihr Gesicht sah schon viel
besser aus. Vielleicht lag das an der dicken Schicht Make-up, die sie trug. Doch all das nahm Hally gar nicht richtig wahr, denn sie sah nur den kurvenreichen Körper der Frau, der in einem durchsichtigen Neglige steckte und von einem winzigen Bikini nicht verhüllt, sondern nur noch betont wurde.
4. KAPITEL "Oh, hallo, Honey", schnurrte die Frau ohne jede Spur von Verlegenheit. Ihre Selbstsicherheit war so entwaffnend, daß Hally gegen ihren Willen beeindruckt war, während sich in ihr ein unangenehmes Gefühl ausbreitete. Sie wollte zwar nicht darüber nachdenken, woher es kam, aber sie fragte sich unwillkürlich, in welchem Verhältnis diese Frau zu Michael Parker stand. "Hallo", erwiderte sie und schaffte es nicht, die Kühle aus ihrer Stimme herauszuhalten. So und nicht anders wäre sie jedem Menschen begegnet, der mitten am Tag unbekleidet herumlief. "Kann ich Mr. Parker sprechen?" " "Nun ja, das kommt darauf an", antwortete die Frau mit einem erotischen Unterton, den Hally geflissentlich überhörte, "Ich bin Corinnes Lehrerin", sagte sie scharf. In genau dem Moment kam der Mann, den sie sprechen wollte, in Sicht. Er trug Jeans und ein Polohemd, und sofort legte sich Hallys Anspannung ein wenig. Er hatte sogar Schuhe an, und seine Miene wirkte irgendwie gehetzt, ganz und gar nicht wie die eines Mannes, der sich gerade mit einer attraktiven Besucherin vergnügt hatte. "Hal... Miss McKenzie!" rief er überrascht, aber ohne jedes schlechte Gewissen.
Und während er seinen Blick von der kaum bekleideten Frau zur neuen Besucherin wandern ließ, spiegelten sich in seinem markanten Gesicht eine Reihe von Gefühlen. Nacheinander zeigten sich Entsetzen, Verlegenheit und schließlich Verblüffung. "Du meine Güte, Pamela, was tun Sie hier in dieser Aufmachung?" fragte er und stellte damit genau die Frage, die Hally nur zu gern beantwortet wissen wollte. Pamela blieb ungerührt. Sie zuckte mit den Schultern, und der zarte Stoff glitt an einem Arm hinab. Hally, die sich nicht einmal traute, am Strand einen Bikini zu tragen, beneidete sie um ihre Kühnheit. "Ich bin gekommen, um Ihnen meine blauen Flecken zu zeigen", verkündete die Rothaarige mit einem Schmollmund, der in Hallys Augen an einer so reifen Frau ziemlich lächerlich wirkte. "Da Sie gerade telefoniert haben, habe ich einfach den Mantel ausgezogen und mir im Fernsehen meine Lieblingsserie angesehen, während ich auf Sie wartete." "Hören Sie, falls ich ungelegen komme ..." unterbrach Hally sie spitz. Die Show, die diese ... diese ... Hally fiel keine angemessene Bezeichnung ein, aber hätte sie eine gefunden, wäre sie sicherlich nicht gerade schmeichelhaft ausgefallen. Wie auch immer, Hally wollte weg. Mike beeilte sich, ihr zu versichern, daß sie keineswegs ungelegen kam, sondern der Zeitpunkt geradezu ideal war. "Pam wollte gerade gehen", sagte er und nahm den Regenmantel seiner Nachbarin vom Sofa. Er reichte ihn ihr. "Das wollten Sie doch, nicht wahr, Pamela?" Pamela warf den Kopf nach hinten, als wäre sie eine Vollblutstute, musterte Hally von oben bis unten, bedachte sie mit einem herablassenden Blick und eilte aus dem Haus, den leichten Mantel an einem Finger über die Schulter geworfen.
Hally trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, und Pamelas aufdringliches Parfüm stieg ihr in die Nase, bis sie gleich dreimal hintereinander niesen mußte. "Haben Sie sich erkältet?" fragte Mike Parker und bat sie mit einer Handbewegung herein. Sie zog die Augenbrauen hoch. "Mit scheint, wenn hier jemand Gefahr läuft, sich zu erkälten, dann ist es Ihre Freundin." "Sie ist nicht meine Freundin." Mike schloß die Tür hinter ihr und zeigte einladend auf einen Sessel. "Nur eine Nachbarin." Hally sah sich kurz im Zimmer um. Teure Möbel, lustlos arrangiert, keine Bilder an den Wänden, keine Wärme. Sie setzte sich auf das Sofa, zog den Rock nach unten und fragte sich, wann sie sich zuletzt die Beine rasiert hatte. "Eine recht aufdringliche Nachbarin." "Nun ja ..." Mike ließ sich ihr gegenüber auf die Armlehne eines Sessels sinken. Plötzlich erhellte ein Lächeln sein bisher so ernstes Gesicht. "Ich dachte mir, hier in Südkalifornien ist das, was Pam abgezogen hat, ganz normal", scherzte er. Hally gab sich empört. "Als jemand, der in Südkalifornien geboren und aufgewachsen ist, kann ich Ihnen versichern, daß das Verhalten Ihrer Nachbarin keineswegs normal ist." "Ich werde es mir merken", versicherte er, und sein Lächeln ließ ihn etliche Jahre jünger wirken. Obwohl es schon wieder verschwand, bevor es sich auf dem ganzen Gesicht ausbreiten konnte, schlug Hallys Herz schneller. Hastig senkte sie den Kopf und betrachtete ihre Hände. "Es tut mir leid, daß ich heute vormittag nicht in der Schule war", sagte sie. "Ich bin sicher, Sie sind nicht mitten am Tag hergekommen, um mir das zu sagen", erwiderte er. "Nein, natürlich nicht", bestätigte sie, und als sie ihn ansah, war sein Blick wieder ernst, fast finster. Auch in seinem attraktiven Gesicht zeichneten sich großes Leid und eine unermeßliche Erschöpfung ab. Sie wollte ihm nicht noch
zusätzliche Sorgen bereiten, doch ihr blieb leider keine andere Wahl. "Der Grund, aus dem ich hier bin, ist Corinne. Sie hat uns schon wieder enttäuscht. Sie war heute nicht in der Schule." "Nicht in der Schule?" wiederholte Mike und beugte sich ruckartig vor, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen. Seine Stimme klang ungläubig. "Das ist doch unmöglich. Ich habe sie doch selbst bis zur Tür ihrer Klasse gebracht." "Ich weiß." Hally machte eine ebenso hilflose wie mitfühlende Geste. "Mir wurde gesagt, daß sie in den Waschraum gegangen und nicht wiedergekommen ist. Für jemanden, der so entschlossen ist wie Corinne, ist das ein ganz einfacher Trick, um sich vor dem Unterricht zu drücken." "Wenn Sie heute vormittag dort gewesen wären, um mit ihr zu reden, wäre sie jetzt vielleicht nicht verschwunden", sagte Mike Parker mit unerwartetem Tadel. Gekränkt richtete Hally sich auf. Zwar hatte sie sich genau das auch schon vorgeworfen, aber daß er sie auch noch beschuldigte, paßte ihr ganz und gar nicht. Schließlich war sie nicht nur Lehrerin, sondern besaß ein Privatleben. "Ich war verhindert. Ich hatte eine persönliche Angelegenheit zu erledigen, die sich nicht verschieben ließ", erwiderte sie förmlich und suchte Zuflucht hinter einer unnahbaren Fassade, die leider nicht dem entsprach, was sie in diesem Moment fühlte. "Und der Kollege, der Ihnen das ausrichten sollte, konnte wegen einer Grippe nicht in die Schule kommen." "Persönlich und nicht zu verschieben", wiederholte Mike und zog einen Mundwinkel hoch. "Meine Probleme und die meiner Tochter gehören für Sie offenbar nicht in diese Kategorie. Das hier ist rein beruflich, was?" "Wenn dem so wäre, wäre ich wohl kaum hier", antwortete Hally scharf, obwohl sie fand, daß sie diesem Mann keinerlei Rechenschaft schuldete. "Zu Ihrer Information, ich mußte meine
Mutter aus dem Krankenhaus holen und dafür sorgen, daß sie es zu Hause bequem hat." "Tut mir leid." Betrübt schüttelte Mike den Kopf und seufzte gedehnt. "Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Normalerweise jammere ich meinen Mitmenschen nichts vor. Vermutlich liegt es daran, daß die vergangenen vierundzwanzig Stunden die reine Hölle waren." Sein ehrliches Geständnis rührte sie. "Für mich waren sie auch ziemlich anstrengend." "Ja, ich weiß." Sie schauten einander an, und je länger es dauerte, desto bewußter wurde ihnen beiden, daß zwischen ihnen etwas ablief. Hally schaffte es nicht, den Blickkontakt abzubrechen. Ihr Herz schlug immer schneller, ihr Mund wurde trocken, und sie brachte kein Wort heraus. Nach einer Weile stand Mike abrupt auf. Er räusperte sich geräuschvoll. "Ich ... nun ja, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich weiß zu schätzen, was Sie für uns getan haben." Seine Stimme klang rauh. "Nochmals danke." Hastig erhob Hally sich. Sein Blick war ihr unter die Haut gegangen, aber das hier war zweifellos ein Hinauswurf. Na schön, dachte sie ein wenig enttäuscht. Wenn er es so will, verschwinde ich eben. Als sie nach der Umhängetasche griff, bemerkte sie, wie blaß sein Gesicht war. "Haben Sie eine Idee, wo Ihre Tochter sein könnte?" fragte sie sanft. "Nein." "Wie wollen Sie sie dann finden?" "Ich habe keine Ahnung", gestand er. "Ich bin gekommen, um Ihnen meine Hilfe anzubieten", sagte Hally leise. Mikes Miene blieb verschlossen. "Wie ich bereits sagte, ich weiß es zu schätzen." Er öffnete die Tür und blieb daneben stehen. Er schien es kaum abwarten zu können, daß sie ging.
Sie ging nicht, sondern blieb vor ihm stehen. "Was werden Sie tun, wenn Sie sie gefunden haben?" Er zögerte. "Ich werde sie zurück nach Idaho schicken." "Wie bitte?" Mike tat ihre ungläubige Reaktion mit einem Achselzucken ab. Sein Gesichtsausdruck paßte zu dem grimmigen Ton. "Ich hatte es ohnehin vor. Seit gestern abend. Corinne und ich hatten ein Gespräch, das nicht sehr gut gelaufen ist. Und das ist noch gelinde gesagt", fügte er mit einem bitteren Lachen hinzu. "Sie hat mir Geld gestohlen und empfindet nicht die geringste Reue." "Oh, ich bin sicher, da täuschen Sie sich", erwiderte Hally. Sie war ein Mensch, der seinen Worten gern durch Berührungen Nachdruck verlieh, und mußte sich beherrschen, um ihm nicht die Hand auf den Arm zu legen. Sie hätte ihm gern signalisiert, daß sie ihn verstand und ihm helfen wollte. Irgendwie spürte sie, daß er den Abstand zwischen ihnen wahren wollte und daß es ihm ebenso schwerfiel wie ihr. Über den Grund dafür wollte sie lieber nicht nachdenken. "Sie rebelliert", sagte sie. "Was Sie nicht sagen", erwiderte Mike trocken. Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, erinnerte sie daran, daß er keine Zeit für abgedroschene Phrasen hatte. Sie schämte sich, ihm nicht mehr als das geboten zu haben. "Jedenfalls habe ich die Familie meiner Frau angerufen und alles vorbereitet", fuhr er fort, während Hally noch nach den richtigen Worten suchte. "Also ist es schon entschieden?" fragte Hally verblüfft und wunderte sich darüber, wie enttäuscht sie war. Eigentlich hätte sie froh sein sollen, die Verantwortung für Corinne losgeworden zu sein. "Leider noch nicht ganz", antwortete Mike, und Hally schöpfte wieder ein wenig Hoffnung. "Meine Schwiegereltern machen eine Kreuzfahrt, die einen Monat dauert."
"Nun, dann sollten Sie die verbleibende Zeit vielleicht nutzen, um ..." "Nein", unterbrach Mike sie. Er schien zu wissen, was sie vorschlagen wollte. "Ich werde Corinnes Eskapaden keinen Tag mehr dulden, geschweige denn einen ganzen Monat. Wer weiß, was sie sich in der Zeit alles einbrockt. Nein, es gibt nur eine Lösung: Ich muß sie von hier fortschicken." "Da wäre ich nicht so sicher", wandte Hally ein. Sie hatte den Verdacht, daß Mikes Entscheidung ein Akt der Verzweiflung war und er sie nur ungern traf. "Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Vorausgesetzt, Sie sind bereit, mit mir zusammenzuarbeiten. " "Wobei soll ich mit Ihnen zusammenarbeiten?" fragte Mike voller Skepsis. Aber er schloß die Haustür, und Hally deutete es als ermutigendes Zeichen. "Dabei, Corinne wieder auf den rechten Pfad zu lenken", sagte sie und folgte ihm, als er in die Küche ging. Sie sah ihm zu, während er sich ein Glas mit Leitungswasser füllte, und schüttelte den Kopf, als er es ihr hinhielt, bevor er es selbst austrank. "Tief im Inneren will sie es, das sollten Sie wissen", sagte Hally und versuchte nicht auf Michael Parkers Adamsapfel zu starren, der sich beim Trinken auf und ab bewegte. "Von Ihnen auf den rechten Pfad gebracht werden, meine ich." Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und stellte das Glas hin. Er starrte aus dem Fenster und lachte verbittert. "Wenn sie das wirklich tut, so hat sie eine verdammt seltsame Art, es mir zu zeigen." "Ich weiß." Weil sie sich danach sehnte, ihn zu berühren, riß sie den Blick von seinem eindrucksvollen, von Sorge gezeichnetem Profil los und sah sich in der Küche um. In dem Raum herrschte das reine Chaos. Hally hatte es gern ordentlich und war heilfroh, sich irgendwie ablenken zu können, also
begann sie das schmutzige Geschirr vom Tisch zu räumen. Sie stapelte es im Spülbecken. "Die Gefühle, die Töchter für ihre Väter empfinden, sind meistens sehr kompliziert." "Das habe ich gemerkt." Stirnrunzelnd nahm er ihr die Cornflakes-Schachtel aus der Hand und stellte sie in den Schrank. Hally reichte ihm die Zuckerdose. "Wir müssen herausfinden, warum sie so schrecklich wütend auf Sie ist. Wenn Corinne immerzu von Haß redet, meint sie in Wirklichkeit, daß sie wütend ist. Sie ist wütend auf sich selbst, weil sie Sie liebt und braucht, obwohl Sie sie in ihren Augen im Stich gelassen haben. Das wiederum macht sie wütend auf Sie. Was wir also herausbekommen müssen, ist, warum sie sich von Ihnen im Stich gelassen fühlt. In ihren Augen, meine ich." "Haben Sie auf dem College den Einführungskurs in Psychologie besucht?" Mike knallte die Schranktür zu, als hätte seine Frage nicht schon geringschätzig genug geklungen. Hally schaffte es, eine zornige Erwiderung herunterzuschlucken. Mike Parker war zutiefst verletzt und fühlte sich angegriffen, also ging er zum Gegenangriff über. "Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es ist viel persönlicher", begann sie leise. "Mein Vater und ich haben seit einiger Zeit ein ... na ja, sagen wir ... gespanntes Verhältnis." "Noch immer?" "Ja, noch immer." Hally wich seinem durchdringenden Blick aus und trocknete sich die Hände an dem verwaschenen Tuch ab, das über einem Stuhl hing. Sie wußte genau, was Mike jetzt sagen würde, und bereitete sich innerlich darauf vor. Er sagte es sofort. "Sie werden mit Ihren eigenen Problemen nicht fertig, wollen mir aber vorschreiben, wie ich ..." "Ich will Ihnen gar nichts vorschreiben", fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. "Was ich will, ist, Ihnen zu helfen, Ihre Tochter von dem selbstzerstörerischen Kurs abzubringen, den sie eingeschlagen hat. Mehr nicht. Die emotionale Ebene ist
allein Ihre und Corinnes Angelegenheit. So wie die Gefühle zwischen meinem Vater und mir nur ihn und mich etwas angehen." "Haben Sie versucht, mit ihm darüber zu reden?" fragte er sanft. Seine Frage überraschte Hally. Sie biß sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Damit er nicht sah, wie sehr sie dieses Thema schmerzte, öffnete sie den Geschirrspüler und stellte die Teller und Tassen aus der Spüle hinein. "Hat er es versucht?" Hally mochte es nicht, ausgefragt zu werden, und nickte nur kurz. Sie war dabei, sich in Mike Parkers Privatleben einzumischen, und das gab ihm wohl das Recht, in ihrem herumzuschnüffeln. Aber auch das hatte Grenzen. "Im Unterschied zu Ihnen soll ich also Ihren Worten Taten folgen lassen, ja?" murmelte er und erreichte damit die Grenze. "Ja." Hally schloß die Klappe des Spülers mit Schwung und wirbelte zu ihm herum. "Warum ist Corinne so zornig auf Sie?" Mike starrte in ihr entschlossenes Gesicht und fragte sich, warum diese Frau ihn so neugierig machte. Im Moment sollte ihn nur seine Tochter interessieren, seine verschwundene Tochter. "Sie stellen eine Menge Fragen", sagte er gereizt. "Aber Sie geben nicht sehr viele Antworten." "Das ist wahr." Hally ließ sich nicht aus der Fassung bringen. "Ich bin ja auch nicht diejenige, die Probleme hat." "Nein?". "Nein", erklärte Hally bestimmt. "Jedenfalls nicht solche, die Sie etwas angehen würden." "Ich verstehe." In der drückende Stille, die diesem Wortwechsel folgte, lieferten sich ihre Blicke eine Art Duell, bei dem keiner von ihnen nachgeben und als erster zur Seite schauen wollte.
Hally atmete tief durch und wiederholte ihre Frage. "Was glauben Sie, warum Ihre Tochter so wütend auf Sie ist, Mr. Parker?" "Also gut." Seufzend gab Mike nach. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er brauchte Hilfe, und diese Frau bot sie ihm an. Daher war es besser, einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. "Mein Job in Übersee, zum Beispiel. Ich war nie zu Hause, wenn es wichtig gewesen wäre. Und dann ist da noch die Tatsache, daß ich nicht heimgekehrt bin, als ihre Mutter krank wurde und starb." Er versuchte so zu klingen, als würde es ihn nicht sonderlich treffen, aber er konnte nicht verbergen, daß Corys Vorwürfe ihm sehr weh taten. Inzwischen schien er sich zu fragen, ob die Verpflichtung eines Vaters gegenüber seinem einzigen Kind nicht wichtiger war als seine Träume von einer Ranch mit Pferden. Und auch was Rebecca betraf, quälten ihn unbeantwortete Fragen. Warum war er während ihrer Krankheit im Ausland geblieben? Weil sie es so gewollt hatte? Weil sie sich verändert hatte? Oder weil er einfach nur feige gewesen war? "Im Moment brauchen wir das Geld, das du verdienst, nötiger als deine Anwesenheit zu Hause", hatte sie ihm in jenem schrecklichen Telefongespräch erklärt, das sich als ihr letztes erweisen sollte. Das letzte Mal, daß er ihre Stimme hörte. "Außerdem bin ich eitel und möchte, daß du mich so in Erinnerung behältst, wie ich mal war, nicht so, wie ich jetzt bin ..." "Was ist mit Cory?" hatte er gefragt. "Meine Familie ist bei ihr. Es geht ihr gut..." Aber Cory war es nicht gutgegangen. Sie war zornig auf ihn gewesen, hatte getobt und ihm schlimme Worte an den Kopf geworfen, weil er erst zur Beisetzung nach Hause gekommen war.
"Michael?" Hallys Hand an seinem Arm holte Mike Parker jäh in die Gegenwart zurück. "Cory hat es mir nie verziehen", fuhr er schweren Herzens fort. "Und auch nicht, daß ich anschließend wieder abgereist bin. Hätte ich doch nur ..." Die Angst um seine Tochter verzerrte sein markantes Gesicht. Rasch setzte er wieder eine ausdruckslose Miene auf. "Hätte ich doch nur die Gewißheit, daß sie mir zuhören und sich von mir bekehren läßt..." "Dafür gibt es keine Garantie", sagte Hally, weil sie ihm gegenüber ehrlich sein wollte. "Aber es zu versuchen ist mit Sicherheit besser, als gar nichts zu unternehmen. Und Cory nach Idaho zurückzuschicken ist meiner Meinung nach gleichbedeutend damit, nichts zu tun. Und ihr nachzugeben wäre zu einfach und bequem." Obwohl Hally leise sprach, klang ihre Stimme fest und entschlossen. "Nachsicht und Toleranz sind das letzte, was Ihre Tochter jetzt braucht. Sie müssen hart bleiben. Cory muß wissen, daß Sie nicht kneifen, wenn es brenzlig wird. Daß Sie immer für Sie da sind, egal, was passiert. Sie liebt Sie, Michael, auch wenn sie das Gegenteil behauptet. Aber sie wagt es nicht, Ihnen zu vertrauen. Sie wagt nicht zu glauben, daß Sie zu ihr halten. Indem sie so frech und widerspenstig und unerträglich ist, will Cory Sie auf die Probe stellen. Sie will herausfinden, ob Sie irgendwann aufgeben und ihr den Rücken zukehren." Sie sah Mike in die Augen. "Und genau das tun Sie, wenn Sie sie jetzt zurück nach Idaho verfrachten. Sie glauben vielleicht, daß Sie damit nur das tun, was Cory will, aber in Wirklichkeit fallen Sie bei ihrem Test durch." Es dauerte eine Weile, bis Mike all das verdaut hatte. Er begriff, daß Hally die Wahrheit aussprach, aber er war nicht sicher, ob er diese Wahrheit verkraften konnte. Aber er wußte, daß er es sich niemals verzeihen würde, wenn er jetzt als Vater versagte und sein Kind im Stich ließ.
Es ist alles andere als leicht, ein Kind aufzuziehen. Wer hatte das noch gesagt? Mike konnte sich nicht daran erinnern, aber er wußte, wie das Zitat weiterging. Und genau das macht es so wertvoll. "Wie mache ich also weiter?" fragte er. "Wir finden Corinne." "Wir?" "Ja, wir." Noch während sie es aussprach, ärgerte Hally sich darüber. Für dich sind im Moment andere Dinge wichtiger. Nun ja, gerade eben hatte sich die Rangfolge ihrer Probleme geändert. "Ich helfe Ihnen, wenn Sie wollen." "Ich will es", gestand Mike nach kurzem Zögern. Er steckte in Schwierigkeiten und sank immer tiefer. Es wäre dumm, die Hand auszuschlagen, die diese Frau ihm hinstreckte. Müde rieb er sich das Gesicht. "Was schlagen Sie vor?" "Also ..." Hally holte Luft. "Die Polizei hat Ihre Tochter gestern abend in Ihre Obhut entlassen. In gewisser Weise ist das so, als wäre sie gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Corinne hat gegen diese Auflage verstoßen ..." Mike starrte sie an, während er langsam begriff, was sie damit sagen wollte. "Sie meinen, wir sollten Cory von der Polizei suchen und aufgreifen lassen?" "Genau das." Herausfordernd sah sie ihn an. "Es ist Ihre Entscheidung, Mr. Parker. Haben Sie einen Termin für die Anhörung bekommen?" "Ja. Übermorgen, zehn Uhr vormittags." "Vielleicht wäre es ganz lehrreich für Cory, wenn sie die Nacht im Gefängnis verbringen würde." "Im Gefängnis?" Mike starrte Hally an, als hätte sie den Verstand verloren. "Was, zum Teufel, sollte sie daraus lernen?" "Daß alles, was sie tut, Folgen hat." "Und wie soll ihr das zeigen, daß ich für sie da bin?" "Das tut es nicht. Aber Sie werden es ihr beweisen, indem Sie ihr bei der Anhörung zur Seite stehen und zeigen, daß Sie an
ihre Unschuld glauben. Außerdem werden Sie morgen mit mir zur Polizei gehen und dafür sorgen, daß Cory die zweite Nacht in meiner Obhut verbringen darf. Ich bin sicher, auch das wird ihr zeigen, daß Sie auf ihrer Seite sind." Er antwortete nicht. "Michael", fuhr sie eindringlich fort. "Nur etwas Drastisches wird Corinne so sehr schockieren, daß sie endlich begreift, wie falsch der Weg ist, den sie eingeschlagen hat." "Ich weiß." Mike starrte aus dem Fenster. Er wünschte, Rebecca wäre hier, um ihm zu sagen, was das Beste für ihre Tochter war. Aber Rebecca war nicht hier. Aber diese Frau, diese Halloran McKenzie, war es. Und mehr noch, sie war bereit, ihm zu helfen. Sie war auf seiner Seite. Nach einem Monat, in dem er ganz allein um seine Tochter gekämpft hatte, tat es gut, eine Verbündete zu haben. "Einverstanden." Er stieß sich von der Arbeitsplatte ab und nickte entschlossen. "Wir tun es." Nachdem Hally Mike noch einmal erklärt hatte, wie sie vorgehen wollte, rief sie den neuesten Verehrer ihrer Mutter an, Sergeant William O'Rourke, und führte mit ihm ein langes Gespräch. Er versprach, sich um den Rest zu kümmern. Keine zwei Stunden später wurde Corinne in einem großen Kaufhaus festgenommen, wo sie versucht hatte, einen billigen Lippenstift zu stehlen. Wie üblich hatte der Ladendetektiv sofort die Polizei gerufen, und die Beamten hatten das Mädchen mit auf die Wache genommen. O'Rourke wurde informiert und verständigte Hally, die nach nebenan gegangen war, um nach ihrer Mutter zu sehen. Sie legte kurz auf und wählte Mikes Nummer. "Wir treffen uns auf der Wache", sagte sie zu ihm, bevor sie aus dem Haus eilte. Als sie ihren Käfer vor dem Polizeirevier an genau der Stelle parkte, an der er auch am Vorabend gestanden hatte, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Nach dem Aussteigen warf sie einen
strengen Blick auf den frisch reparierten Vorderreifen und verbot ihm stumm, sie mit einer weiteren Panne für ihre Hilfsbereitschaft zu bestrafen. Sie eilte den Bürgersteig entlang, vorbei an Mikes Wagen, der diesmal ein wenig näher am Eingang stand. Die Luft im Revier war noch so abgestanden wie am Abend zuvor, wenn auch nicht so stickig, denn heute drängten sich nicht so viele Menschen vor dem Pult des Wachhabenden. Mike sprang sofort auf, als er Hally eintreten sah. "Warum haben Sie so lange gebraucht?" Hally war klar, daß die Nervosität ihn so ungeduldig machte. Sie ergriff seine Hand und drückte sie beruhigend, ließ sie, jedoch gleich wieder los, denn als sie seine kühlen Finger an ihren erhitzten Fingern spürte, stieg wieder der Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch auf. "Sergeant O'Rourke, bitte", sagte sie zu dem Wachhabenden. "Wir sind Hally McKenzie und Michael Parker." Der Beamte nahm den Hörer von einem schäbigen schwarzen Apparat, drückte eine Taste, sprach kurz hinein und ließ ihn wieder auf die Gabel fallen. "Dritte Tür links", sagte er nur. Das Gespräch mit dem Sergeant dauerte nicht lange. Corinne war gestattet worden, jemanden anzurufen, aber sie hatte ihr verfassungsmäßiges Recht nicht wahrgenommen. Sie war trotzig und schweigsam. Jetzt, da er das Mädchen selbst kennengelernt hatte, fand O'Rourke Hallys Idee nicht mehr so abwegig. Er war einverstanden, Cory noch eine Nacht in Gewahrsam zu behalten, um ihr eine wichtige Lektion zu erteilen. "Unsere paar Zellen da draußen sind nicht gerade Sing-Sing", sagte er. "Aber bestimmt ganz anders als das, was sie sonst gewöhnt ist. Normalerweise würden wir ein kleines Mädchen wie sie nicht dabehalten, wenn es keine Vorstrafen aufweist. Die Eltern und ihre Anwälte würden uns die Hölle heiß machen, Aber ..."
Er hob die Hände und sah Mike fragend an. Bisher hatte Hally in ihrer Eigenschaft als Corinnes Lehrerin und Tutorin das Gespräch bestimmt. "Könnte ich ... könnten wir sie kurz sehen?" fragte Mike. "Warum nicht?" erwiderte O'Rourke und eilte hinaus. Ihm war anzusehen, daß er hoffte, Mike und Hally würden es sich noch anders überlegen und das Mädchen doch mit nach Hause nehmen. "Der Mann ist nicht annähernd so hart, wie er aussieht", meinte Mike und starrte auf O'Rourkes breiten Rücken. Hally schmunzelte. Sie mußte daran denken, wie der große Mann sich am Krankenbett ihrer Mutter aufgeführt hatte. Wie ein süßer, verliebter Riesenteddy. Mike sprang auf, und sie tat es ihm nach, als O'Rourke Corinne in sein winziges Büro schob, in dem es jetzt, mit vier Personen, drangvoll eng wurde. Mike zuckte zusammen, als hätte man ihn geohrfeigt, und starrte gebannt auf die Handschellen um die schmalen Handgelenke seiner Tochter. Empörung und Schmerz lagen in seinem Blick, als er den Sergeant ansah. "Was, zum Teufel, soll das?" fragte er voller Entrüstung. "Was fällt Ihnen ein, meiner Tochter Handschellen anzulegen, als wäre sie eine gewöhnliche Kriminelle?" "Vorschriften, Sir", erwiderte O'Rourke förmlich, aber ihm war anzusehen, was er dachte. Er bezweifelte, daß Mike noch immer bereit war, Corinne im Polizeigewahrsam zu lassen. Und plötzlich wollte Mike das auch nicht länger. Wie hatte er Hallys Vorschlag bloß zustimmen können? Er schaffte es nicht, den Blick von dem zarten Geschöpf in der viel zu großen Secondhandkleidung loszureißen. Guter Gott, sie war seine Tochter. Und das waren Beckys Augen, auch wenn sie schwarz umrandet waren und ihn aus einem kalkweißen Gesicht müde anstarrten.
"Cory ..." Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand aus. Corinne wich zurück. Ihre Augen erwachten zum Leben, und sie funkelte ihn an, als wäre, er ein Ungeheuer, das gleich über sie herfallen würde. Sie drehte sich zum Sergeant um. "Ich will zurück in meine Zelle." Es war Hally, die zustimmend nickte, als O'Rourke ihnen einen fragenden Blick zuwarf. Mike war von dieser letzten Zurückweisung viel zu erschüttert, um irgend etwas zu sagen. Wie gelähmt stand er da, die Hände noch immer ausgestreckt. Voller Mitgefühl, aber hilflos beobachtete Hally ihn und bohrte die Fingernägel in ihre Handflächen. Sie wollte zu ihm gehen, ihn in die Arme nehmen, ihn trösten, doch die Anspannung, die er ausstrahlte, war so gewaltig, daß sie es nicht wagte. "Mike", flüsterte sie schließlich. Doch er fuhr zusammen, als hätte sie seinen Namen geschrien. Er ließ die Hand sinken und drehte sich langsam zu ihr um. Dann starrte er sie an, als wäre sie eine Fremde. "Es funktioniert nicht", sagte er mit ausdrucksloser Stimme. "Doch, das tut es." Jetzt zögerte Hally nicht mehr, sondern nahm seinen Arm und schüttelte ihn, als müßte sie Mike aufwecken. "Ich habe nie behauptet, daß es leicht sein würde." "Nein, das haben Sie nicht. Aber das hier ..." Seine hilflose Geste schloß das ganze schäbige Büro ein. "Das hier ist alles viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe." "Es ist doch nur für eine Nacht." Sie ließ seinen Arm nicht los, sondern zog daran, bis er sie anschaute. Ihre Blicke verschmolzen, als sie versuchte, ihre eigene Entschlossenheit und Zuversicht irgendwie auf ihn zu übertragen. Nach einem langen Moment senkte er den Kopf und ließ die Schultern fallen. "O Gott", stöhnte er. "Ich kann nur hoffen, daß Sie wissen, was Sie tun."
Als sie schließlich das Polizeirevier verließen, waren Mike und Hally erschöpft und mit den Nerven am Ende. Schweigend standen sie vor Mikes Wagen. Keiner wußte, was er sagen sollte. Sie waren zwei Fremde, die nichts verband als die Sorge um ein zutiefst verwirrtes junges Mädchen. Jedenfalls versuchten sie beide sich einzureden, daß es nicht mehr als das war. "Nun ja." Hally betrachtete ihre Fußspitze und stieß damit gegen das Unkraut, das in einer Spalte im Bürgersteig wucherte. "Ich schätze, mehr können wir heute nicht tun." "Ja, das nehme ich auch an." Mike spitzte die Lippen, runzelte die Stirn und spielte mit seinen Schlüsseln. Sein Kopf schmerzte. Er hatte Hunger. Vor allem aber graute ihm davor, allein in sein Haus zurückzukehren. "Ich ..." In letzter Sekunde hinderte er sich daran, dieser Frau noch mehr Zeit zu stehlen. Sie hatte ihm und seiner Tochter schon so viel davon gewidmet. Bestimmt hatte sie heute abend schon etwas vor. Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben hier verbracht und besaß Freunde, mit denen sie essen gehen konnte. Freunde und eine Familie ... "Wir sehen uns", sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. "Bestimmt", erwiderte Hally nachdrücklicher, als Mike erwartet hatte. "Ich rufe Sie morgen an, sobald ich Corinne bei mir zu Hause untergebracht habe." Sie sah in sein verschlossenes Gesicht. "Sie sind doch noch damit einverstanden, oder? Daß sie bei mir übernachtet, meine ich." "Oh, sicher. Natürlich. Also ..." Er rang sich ein Lächeln ab. "Ich höre dann von Ihnen. Sie haben meine Büronummer?" "Ja, die habe ich." Sie schauten einander an. Hally war klar, daß sie jetzt zu ihrem eigenen Wagen gehen sollte. Heute abend fand ihr Italienischkurs statt. Aber Mike sah irgendwie kaputt aus. So niedergeschlagen. Traurig. Zutiefst traurig.
Und plötzlich wußte sie, daß sie jetzt nicht ohne ihn davonfahren konnte. So durfte sie ihn nicht hier vor dem Polizeirevier zurücklassen. "Sagen Sie, sind Sie auch so hungrig wie ich?" fragte sie und hoffte, daß es so klang, als wäre es ihr gerade erst eingefallen. Mike runzelte die Stirn, als wäre er nicht sicher und müßte erst darüber nachdenken. "Jetzt, da Sie mich fragen", erwiderte er schließlich. "Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt etwas gegessen habe ..." "Ich kenne da ein richtig nettes Restaurant", sagte Hally und beschloß, seine ausweichende Antwort als Zustimmung zu deuten. "Nicht zu laut, nicht zu ruhig. Nicht weit von hier." "Klingt gut." "Angelo's. Es ist italienisch." Sie betrachtete sein noch immer viel zu finsteres Gesicht. "Mögen Sie die italienische Küche?" "Heutzutage esse ich alles, solange es keine Pizza ist." "Die steht nicht einmal auf der Karte", versicherte Hally ihm. Sie zeigte auf seinen Wagen und versuchte, ihn ein wenig aufzuheitern. "Ihren Streitwagen oder meinen?" Mike warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Wollen Sie sich den ganzen Abend so aufführen?" "Wie?" fragte Hally überrascht. "So fröhlich und unbeschwert." Hally wußte nicht, ob sie gekränkt oder belustigt reagieren sollte. Sie entschied sich für letzteres und unterdrückte ein Lachen. "Ich übertreibe es, was?" "Ein wenig, ja." Mike sah eine Frau vor sich, die Humor besaß und sich selbst nicht zu wichtig nahm. Obwohl er niedergeschlagen war und sich große Sorgen um Corinne machte, mußte er Hallys Lächeln einfach erwidern. Hally war überzeugt, noch keinen Mann gesehen zu haben, dessen Lächeln ihr so unter die Haut und ans Herz ging. Es war wirklich schade, daß es so rasch verschwand, wie es gekommen war. Mike lächelte viel zu selten, und sie bedauerte es mehr, als
sie es tun sollte. Sie war die Lehrerin seiner Tochter, warum und wie oft er lächelte, hatte sie nicht weiter zu interessieren. Dieser Mann kann dir den Kopf verdrehen, flüsterte ihre innere Stimme. Nur wenn ich es zulasse, entgegnete Hally stumm. Und das werde ich ganz bestimmt nicht tun. "Warum nimmt nicht jeder seinen eigenen Wagen?" schlug sie vor. Auf diese Weise konnten sie die fast intime Nähe vermeiden, zu der es unweigerlich kommen würde, wenn sie zusammen fuhren. "Wir treffen uns vor dem Restaurant. Sie fahren mir nach. Wenn ich Ihnen den Weg beschreibe, finden Sie es nie." Mike fand das schwer zu glauben, nickte jedoch zustimmend. So, wie er sich jetzt fühlte, wäre er ihr überallhin gefolgt, solange er nicht in sein leeres Zuhause zurückkehren mußte. Zuhause. Fast hätte er gelacht. Wo genau befand sich sein Zuhause? Nicht in Idaho. Nicht in Saudi-Arabien oder einem der anderen Länder, in denen er gearbeitet und jeweils einige Monate oder ein ganzes Jahr gelebt hatte. Und ganz bestimmt war diese pinkfarbene architektonische Häßlichkeit, die er mit Corinne teilte, nicht sein Zuhause. Er zeigte nach vorn. "Ich folge Ihnen bis ans Ende der Welt, wenn es sein muß." Hally verzog das Gesicht. "Wer übertreibt denn jetzt?" "Treffer", sagte er und stieg in seinen Wagen. Während er Halloran McKenzies grellgelbem VW-Käfer folgte, überkam ihn ein Gefühl, dem er zunächst gar nicht traute. Plötzlich fühlte er sich so ausgeglichen und ruhig wie schon lange nicht mehr. Das Gefühl hielt auch dann noch an, als er neben ihr auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Restaurant hielt. Hallys Hand zu nehmen und mit ihr zum Eingang zu gehen erschien ihm ganz natürlich. Und es war herrlich, nicht reden zu müssen. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein leckerer Duft entgegen. Nach viel Knoblauch, warmem Brot und frischen Tomaten. Die
Atmosphäre war einladend, und Mike fühlte sich sofort wohl, als er das Restaurant betrat. "Jetzt verstehe ich, warum es Ihnen hier gefällt", flüsterte er Hally ins Ohr, damit sie ihn verstand, obwohl ein Akkordeonspieler gerade kräftig in die Tasten schlug. "Ich liebe alles Italienische." Hally drehte den Kopf, um ihn anzulächeln, und ihre Nasen berührten sich. Für den Bruchteil einer Sekunde starrten sie einander an, als wäre ihnen gerade etwas bewußt geworden, dann entspannten sie sich wieder und gingen weiter. "Aber vor allem das Essen", sagte Hally so unbeschwert wie möglich, während sie ihre plötzlich feuchte Hand aus seiner zog. Als sie dem Kellner zum Tisch folgten, ging Mike dicht hinter ihr, und sie spürte seine Nähe wie eine Berührung. "Danke", sagten sie gleichzeitig, als der Kellner ihnen die Speisekarten reichte, und wechselten einen kurzen belustigten Blick, bevor sie das Angebot so aufmerksam studierten, als wäre es in einer völlig unbekannten Sprache abgefaßt. Was Hally betraf, so war sie sich noch nie im Leben so sehr der Anwesenheit eines anderen Menschen bewußt gewesen. Obwohl sie auf die Seite mit der Pasta starrte, wußte sie genau, was Mike tat. Er legte die Karte auf den Tisch, sah sich neugierig um, nahm einen Schluck Wasser. Vorsichtig holte sie Luft und hoffte, daß ihr Herz sich ein wenig beruhigen würde, denn im Moment schlug es ihr bis zum Hals. O ja, dachte sie in einem Anflug von Verzweiflung, dieser Mann kann mir tatsächlich den Kopf verdrehen. Sie räusperte sich. "Ich denke, ich werde die Fettucine nehmen", sagte sie, um den Eindruck zu erwecken, sie hätte sorgfältig eine Vorspeise gewählt, anstatt Mike Parkers Nähe auszukosten. Dann klappte sie die Speisekarte zu, legte sie auf den Tisch und hob den Kopf. Und schaute direkt in Gilbert Smiths verwirrtes Gesicht.
5. KAPITEL Im nachhinein fand Hally, daß sie mit der Situation besser hätte fertig werden können. Doch jetzt, im Restaurant, spürte sie, wie sie errötete und damit ein schlechtes Gewissen verriet, das ebenso unwillkommen wie ungerechtfertigt war. Es gab nichts, dessen sie sich schämen müßte. Schließlich tat sie nichts anderes, als mit dem Vater einer Schülerin zu Abend zu essen. Und sie tat es in ihrer Eigenschaft als Lehrerin, war also rein beruflich hier. Aber offensichtlich nahm Gil ihr das nicht ab. Vermutlich deshalb, weil es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ihr Interesse an Michael Parker war nicht nur beruflicher Natur. Doch das galt auch für ihr Interesse an seiner Tochter, wie sie sich rasch einzureden versuchte. Mike und Corinne Parker waren zwei Menschen, denen sie helfen wollte, weil sie ihr leid taten. Daran war absolut nichts Verwerfliches oder Unanständiges. Weshalb stammelte sie dann wie eine Schwachsinnige, während sie die beiden Männer miteinander bekannt machte? Daß Gilbert ihre halbherzige Einladung, sich zu Michael und ihr zu setzen, höflich ablehnte, trübte ihre Stimmung für den Rest des Abends. Sicher, Gil war mit seiner Mutter da, die nie einen Hehl daraus gemacht hatte, daß sie Hally nicht mochte. Wäre Gil
nicht sechsunddreißig, sondern zehn Jahre jünger, so hätte Mrs. Smith ihrem Sohn längst verboten, hin und wieder mit Hally auszugehen. Aber Gil war nun einmal sechsunddreißig und besaß die Ausstrahlung eines vernünftigen, verantwortungsbewußten Mannes, daher tauschten sie und Hally bei ihren zum Glück seltenen Begegnungen belanglose Floskeln und ein gezwungenes Lächeln aus. Nein, der Grund dafür, daß Hally noch nervöser und unsicherer wurde, als sie ohnehin schon gewesen war, lag woanders. Seit sie Gilbert und Mike nebeneinander gesehen hatte, fragte sie sich, was, um alles in der Welt, sie je in Gil gesehen hatte. War er immer so ... empfindlich gewesen? So mimosenhaft? Was hatte er geantwortet, als Hally ihn nach seiner Erkältung fragte? "Du warst offenbar zu beschäftigt, um mich früher anzurufen." Der Ärmste ... Wie konnte ein Mann nur so weinerlich sein? Und dann die andere Bemerkung. "Ich nehme nicht an, daß du morgen Zeit für unser Tennismatch hast?" Was sollte das nur? Sicher, bis zu diesem Moment hatte Hally keinen Gedanken an ihr wöchentliches Spiel verschwendet. Sie hatte ganz andere Dinge im Kopf gehabt. "Oje, Gil, es tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Zeit", hatte sie geantwortet. Was hätte sie sonst sagen sollen? Das gab dem guten Gilbert offenbar den Rest. Er warf Mike einen vernichtenden Blick zu. "Wir sehen uns", knurrte er nur und marschierte davon. Mike hatte dem unschönen Wortwechsel stumm zugehört und die meiste Zeit so getan, als wäre er in die Speisekarte vertieft. Hally vermutete, daß er sie inzwischen auswendig kannte. "Tut mir leid, wenn Sie meinetwegen Probleme mit Ihrem Freund bekommen", sagte er, sobald Gilbert außer Hörweite war.
"Er ist nicht mein Freund", widersprach Hally spitz, obwohl sie Gil noch vor wenigen Tagen so bezeichnet hätte. "Wir sind Kollegen und ... nun ja ... ein paarmal zusammen ausgegangen, das ist alles." "Er war nicht gerade begeistert, Sie hier mit mir zu sehen." "Wenn es so ist, ist das sein Problem", sagte Hally und klang unbeschwerter, als sie sich fühlte. Sie wollte ihren Mitmenschen nicht weh tun, schon gar nicht denen, die ihr etwas bedeuteten. Gil war ein guter Freund, oder jedenfalls war er das gewesen. Daß dieses absolut harmlose Abendessen mit Mike sie seine Freundschaft kostete, stimmte sie traurig. Sie beschloß, gleich morgen mit ihm darüber zu sprechen und ein etwaiges Mißverständnis zu klären. Erst jetzt konnte sie bestellen und sich wieder auf ihre Fettucine freuen, aber ihre Stimmung sank wieder auf den Tiefpunkt, als Gil und seine Mutter wortlos an ihrem Tisch vorbeigingen und sie keines Blickes würdigten. "Auf Sie." Mike versuchte sie aufzumuntern, indem er sein Glas hob, um mit dem Chianti anzustoßen, den sie beide zum Essen gewählt hatten. Hally rang sich ein Lächeln ab, nickte und nahm einen Schluck. "Und auf den erfolgreichen Abschluß unserer Hilfsaktion für Corinne", fügte er hinzu. "Du bist gestern spät nach Hause gekommen", sagte ihre Mutter, als Hally am nächsten Tag nach dem Mittagessen bei ihr vorbeischaute. "Hast du dich amüsiert?" "Wohl kaum." Rasch erzählte Hally ihr, was geschehen war. Edith war schon wieder auf den Beinen, und der Schnitt und der Bluterguß am Kopf verheilten bereits. "Ich hatte heute vormittag Unterricht und werde Corinne in etwa eineinhalb Stunden aus ihrer Zelle holen. Übrigens, Bill O'Rourke hat uns sehr geholfen." Wie sie erhofft hatte, zauberte die Erwähnung des Sergeants ein strahlendes Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter. "Du magst ihn wirklich, nicht wahr, Mom?"
"Ja." Ediths Blick wurde verträumt. "Er gibt mir das Gefühl, eine ganz ... besondere Frau zu sein. So habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt." Sie sah Hally an und, errötete. "Klingt das alles albern?" "Keineswegs." Hally mußte ihre Mutter einfach umarmen. "Es klingt wunderbar, und ich freue mich ja so für dich." "Danke, Liebling", erwiderte Edith mit einem liebevollen Blick, der sich jedoch rasch in einen betrübten verwandelte. "Ich wünschte, ich könnte mich für dich so freuen." "Mutter." Hally ließ ihre Mutter los, nahm ihren Becher und trug ihn zur Spüle. "Fang nicht wieder davon an, okay? Ich habe einen sehr anstrengenden Vormittag hinter mir." Besorgt musterte Edith ihre Tochter. "Du arbeitest zuviel, Hally, wirklich, das tust du. Du verausgabst dich für diese Kinder." "O Mutter." Hally spülte den Becher aus und stellte ihn in den Ständer. Sie trocknete sich die Hände, warf das Tuch auf die Arbeitsplatte und versuchte, nicht ärgerlich zu klingen. "Ich weiß, daß du das findest, und danke dir dafür. Aber ich sehe mich und mein Leben nicht so wie du und wünschte, du würdest dich nicht immer einmischen. Außerdem war es kein Schüler, der mir den Morgen verdorben hat, sondern Gil." "Gil?" wiederholte Edith und beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie Hally sich gegen die Arbeitsplatte lehnte und sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr. "Gilbert Smith?" "Ich kenne keinen anderen Gil", murmelte Hally und war wütend auf sich selbst, weil der Mann es immer wieder schaffte, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. "Ihr habt euch gestritten?" fragte Edith. Hally ließ die Hände sinken und stieß sich von der Arbeitsplatte ab. "Schön wäre es", seufzte sie. "Nein, er schmollt mal wieder." Rastlos nahm sie ihre Handtasche. Gilbert hatte ihr die kalte Schulter gezeigt, als sie ihn heute morgen im Schulfoyer
angesprochen hatte, und das tat ihr noch immer weh. Sie gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange und eilte zur Tür. "Mach dir deswegen keine Sorgen." "Aber..." "Später, Mom." Hally schloß die Haustür, bevor ihre Mutter noch etwas fragen konnte. Es wäre besser gewesen, wenn sie Edith nichts von Gil erzählt hätte. Ihre Mutter machte sich immer Sorgen um sie, denn sie hoffte immerzu, daß Hally einen netten Mann kennenlernen und mit ihm eine Familie gründen würde. Sie sehnte sich nach einem Enkelkind, mit dem sie schmusen konnte. Das war ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen. Hally lehnte die Ehe strikt ab und ließ sich nicht erweichen, obwohl das bedeutete, daß sie Edith nie zur Großmutter machen würde. Ihre Schwester Morgan lebte mehrere Flugstunden entfernt und stand zudem noch auf James McKenzies Seite. Daher war Kenny, Morgans sechsjähriger Sohn, für seine Großmutter praktisch ein Fremder. Das bedauerten alle, aber niemand hatte bisher etwas daran ändern können, und Hally hatte nicht vor, zu heiraten, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun. Ihre Stimmung war im Minusbereich und sank noch tiefer, als sie sah, daß sie schon wieder eine Reifenpanne hatte. Diesmal war es der auf der anderen Seite. Seufzend beschloß sie, sich einen neuen Satz zu gönnen! Es würde eine Menge Geld kosten, ließ sich aber nicht länger hinausschieben. Das Polizeirevier war nicht der ideale Ort für jemanden, der unter Kopfschmerzen litt. Hally hatte ein Taxi zu Mikes Haus genommen und war mit ihm hingefahren. Ihre Schläfen pochten unaufhörlich, und die Augen brannten. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Sie war nicht lange im Haus der Parkers geblieben, gerade lange genug, damit Mike sich umziehen konnte. Sie hatte sich auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt, mit einem Soft Drink, den er ihr aufgedrängt hatte. Sie nippte an der Dose und fand es
irgendwie intim, in der Nähe eines fast fremden Mannes zu sein, der sich hinter einer nur halb geschlossenen Tür auszog. Sie konnte ihn hören. Sie hörte, wie er einen Fuß auf den Boden stellte und den anderen hob, um aus der Hose zu steigen. Dann hörte sie, wie er Schranktüren und Schubladen öffnete und wieder schloß. Dann lief Wasser im Badezimmer. Und die ganze Zeit fand zwischen ihnen ein Gespräch statt, bei dem sie nicht rufen mußte, um von ihm verstanden zu werden. Nun ja, eigentlich war es kein richtiges Gespräch, sondern eine Art Frage-und-Antwort-Spiel, bei dem Mike die Fragen stellte und Hally ein wenig widerwillig antwortete. "Sie sind also in Long Beach geboren und aufgewachsen, ja?" "Mmm." Hally erinnerte sich daran, ihm gestern erzählt zu haben, daß sie in Kalifornien groß geworden war. Das war gewesen, als sie diese .... Nachbarin bei ihm gesehen hatte. Sie sah sich um und überlegte, warum ihr die Einrichtung trotz der geschmackvollen Möbel so leblos erschien. "Aber ich habe nicht dort studiert." "Sondern in Los Angeles? U.C.L.A.?" "Ja, jedenfalls die ersten Semester." Ihr Blick fiel auf ein Foto in einem silbernen Rahmen. Es zeigte eine Frau, die neben einem Pferd stand. "Danach war ich noch in Stanford." "Waren Sie mal verheiratet?" "Nein." Neugierig stand Hally auf, um sich das Foto näher anzusehen. Außer dem Bild stand nur eine Uhr in dem Kirschholzregal. Die wunderschöne Holzmaserung war unter der dicken Staubschicht kaum zu erkennen. Offenbar wurde bei den Parkers nur selten Staub gewischt. "So, wie Sie das sagen", meinte Mike, "klingt es, als hätten Sie etwas gegen die Ehe." "Habe ich nicht." Hally betrachtete das Foto. Die Frau war sehr hübsch, nicht älter als sie selbst. Dunkles Haar, fröhlich
blickende Augen. Enge Jeans und ein T-Shirt betonten den schlanken, wohlgeformten Körper einer Reiterin. Die braucht sich um ihre Oberschenkel keine Sorgen zu machen, dachte Hally ein wenig neidisch und verzog das Gesicht. "Solange genügend Leute heiraten, brauche ich es nicht zu tun", sagte sie. "Sie haben sich die Finger verbrannt, was?" Mike schloß die Schlafzimmertür und stellte sich neben sie. Er trug eine khakifarbene Hose und einen hellblauen Wollpullover. "Kann sein", wich Hally seiner Frage aus und sog den Duft frischer Kleidung und eines herben Aftershave ein, den er bei jeder Bewegung verströmte. Da seine Nähe sie irgendwie verunsicherte, stellte sie den Rahmen wieder hin und machte einen Schritt zurück. "Nach dem bißchen, was ich über Sie und ... Rebecca, nicht wahr? ... gehört habe, müssen Sie gute Erfahrungen gemacht haben. Sie war wirklich schön." "Ja, das war sie." Mikes scharfer Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht über seine verstorbene Frau reden wollte. Jedenfalls dachte Hally das. Doch dann überraschte er sie. "Wissen Sie", begann er nachdenklich. "Ich bin nicht sicher, ob unsere Ehe überlebt hätte, wenn sie nicht gestorben wäre. Bestimmt hätten wir uns beraten lassen müssen. In den letzten Jahren haben Becky und ich uns sehr entfremdet. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, wurde es schlimmer. So zu tun, als wäre es anders, war sehr anstrengend. Wir haben uns oft gestritten." "Hat Corinne es gemerkt?" "Ich glaube schon. Ja." Mike holte tief Luft und stieß sie aus. Er betrachtete seine Hände, spielte mit den Schlüsseln. Er erzählte Hally Dinge, die er noch niemandem erzählt hatte und auf die er nicht gerade stolz war. Er rief sich Gefühle ins Gedächtnis, die er tief in sich vergraben hatte. Natürlich tat er es nur, damit Hally Corinne besser helfen konnte.
Oder gab es einen anderen Grund? Er warf Hally einen Blick zu und sah ihr an, wie besorgt sie war, wie sehr sie sich für ihn und Cory interessierte. Sie war eine einfühlsame Zuhörerin, und das machte es ihm leicht, mit ihr zu reden. Mit ihr zusammenzusein. Außerdem war sie eine attraktive Frau, und es schmeichelte ihm, mit ihr gesehen zu werden. Mike schüttelte innerlich den Kopf, als ihm bewußt wurde, was Hally in ihm auslöste. Werd erwachsen, Parker, tadelte er sich. Du bist kein Teenager mehr, und Hally ist nicht deine Mitschülerin, sondern die Lehrerin deiner Tochter. "Ich gebe es nur ungern zu", sagte er und verringerte den Abstand zwischen Hally und sich, "aber oft war die Anspannung zwischen uns zum Schneiden. Und manche ... Auseinandersetzung wurde ziemlich laut." "Hmm." Hally wehrte sich gegen das persönliche Interesse, das sie an Mikes Vergangenheit hatte, und versuchte sich in Corys Lage zu versetzen. "Ich vermute, Ihre Tochter hat mehr gehört und gesehen, als Sie glauben. Sie hat vieles falsch gedeutet und nicht richtig verarbeitet. Das könnte durchaus der Grund sein, aus dem sie so zornig ist." Sie sah auf die Uhr, stellte fest, daß es Zeit zum Gehen war, und nahm ihre Tasche von der Couch. "Haben Sie und Ihre Frau bei diesen ... Gelegenheiten jemals von Scheidung gesprochen?" "Einmal." Mike hielt die Haustür auf und ließ Hally. den Vortritt. "Kurz bevor Rebecca erfuhr, daß sie ... Krebs hatte ..." Wie immer fiel es ihm schwer, das schreckliche Wort auszusprechen, und sofort überkamen ihn der Schmerz und die Reue, die er inzwischen so gut kannte. Der Eileiterkrebs hatte Rebecca viel zu früh, viel zu schnell aus dem Leben gerissen. Was immer ihre viel zu langen und häufigen Trennungen an Streit und Entfremdung mit sich gebracht hatten, sie war Mikes erste Liebe gewesen. Und er wünschte von ganzem Herzen, sie
hätte ein langes, glückliches und erfülltes Leben führen können. Mit ihm oder ohne ihn. "Sechs Monate später war sie tot", sagte er, so sachlich er konnte, ohne Hally anzusehen, die sich zu ihm umgedreht hatte und ihm mit pochendem Herzen zuhörte. "Ich habe sie nicht mehr lebend gesehen." "Es tut mir so leid." Impulsiv berührte sie seinen Arm. "Es muß die Hölle gewesen sein." "Ja." Mike sah auf ihre Finger an seinem Ärmel hinunter und dann in ihr Gesicht. Hally konnte seine Miene nicht deuten, aber sie löste in ihr ein eigenartiges Gefühl aus, und rasch nahm sie die Hand fort. "Es war die Hölle", gestand er leise. "Jedenfalls bis vorgestern...." Für die meisten Menschen wäre eine Nacht hinter Gittern eine ziemlich unangenehme Erfahrung. Aber offenbar nicht für Corinne Parker. Das Mädchen schien unter dem, was sie durchgemacht hatte, nicht besonders gelitten zu haben. Mit erhobenem Kopf und verächtlicher Miene schlenderte sie aus dem Polizeirevier. Ihren Vater würdigte sie keines einzigen Blickes. Ihr ganzes Verhalten ließ erkennen, daß sie auf die Schau, die er mit Sergeant O'Rourke abgezogen hatte, nicht hereinfiel. Wie abgesprochen, hatte der gute Sergeant sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, Corinne aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen. Und Mike hatte, wie Hally fand, sehr überzeugend den Retter in der Not gespielt. "Ich nehme dich mit zu mir", sagte Hally zu Corinne, als sie auf dem Bürgersteig standen. "Du wirst bei mir übernachten." Ihr Kopf tat noch immer höllisch weh. Sie kann froh sein, daß ich überhaupt mit ihr rede, dachte Hally. Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. Hally ignorierte es und warf Mike einen kurzen Blick zu, bevor sie und Cory in das Taxi stiegen, das Mike gerufen hatte. In seinem Gesicht
spiegelten sich Verzweiflung und Hilflosigkeit. Hally rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. "Wir sehen uns morgen vormittag im Gericht bei der Anhörung", sagte sie. "Pünktlich um zehn." "Um zehn", wiederholte Mike und reichte Hally die Tasche, die er für seine Tochter gepackt hatte. Obwohl sie unter anderem Sachen zum Wechseln und Kosmetika enthielt, würde Cory wahrscheinlich über seine Wahl die Nase rümpfen. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie morgen in dem schäbigen Jeansoverall, dem schwarzen T-Shirt und den Springerstiefeln, die sie jetzt trug, vor dem Richter erschien. "Na, dann viel Spaß", fügte er matt hinzu und winkte ihnen zu. "Danke", erwiderte Hally. Corinne funkelte ihn wortlos an und drehte sich grinsend zu Hally um. "Gut", sagte sie. "Er ist richtig sauer." "Und das gefällt dir?" fragte Hally, als das Taxi anfuhr. Mike ging mit hängenden Schultern zu seinem Wagen. Sein Anblick versetzte ihr einen Stich, und sie schwor sich, diesem Mann zu helfen, was immer sie dazu tun mußte. "Warum?" Sie sah das Mädchen an. "Warum denn nicht?" erwiderte Cory und wandte das Gesicht ab. "Es macht ihm Spaß, mich zu quälen. Jetzt quäle ich ihn." "Quälen?" Hally kannte sich viel zu gut mit Teenagern und ihrer theatralischen, übertriebenen Sprache aus, um Corinne beim Wort zu nehmen. "Und wie bitte quält dein Vater dich, Corinne?" "Na ja." Corinne warf ihr einen Seitenblick zu. Warum rede ich überhaupt mit dir? schien er zu sagen. "Abgesehen davon, daß er mich wegen jeder Kleinigkeit anmacht, hat er mich ins Gefängnis werfen lassen, oder?" "Nein, ganz im Gegenteil", erwiderte Hally ruhig und schlug die Beine übereinander, "Ich habe dich ins Gefängnis werfen
lassen. Er hat dich herausgeholt. Gegen meinen Willen, möchte ich hinzufügen." Die Lüge ging Hally glatt über die Lippen. Es war besser, das Mädchen verachtete ihre Lehrerin als ihren Vater. Wer wußte genauer als sie selbst, wie weh es tat, seinen Vater zu hassen? "Du bist eine Herumtreiberin, Corinne. Und nach der Anhörung morgen könntest du durchaus in einer Jugendstrafanstalt landen, wenn ich nicht aussage, daß du dabei bist, dein Leben zu verändern." Corinne schnaubte abfällig und bedachte Hally mit einem feindseligen Blick, bevor sie wieder durch das Fenster in der Beifahrertür schaute. Hally unternahm keinen Versuch, das drückende Schweigen zu brechen, das ihren Worten folgte. Jetzt war Corinne an der Reihe, fand sie. Sie hatten mehrere Meilen zurückgelegt und das Doppelhaus fast erreicht, als das Mädchen endlich etwas sagte. "Was soll ich denn bei Ihnen tun?" fragte sie in trotzigem Ton. "Oh, ich weiß nicht." Hally rechnete es sich als Erfolg an, daß nicht sie, sondern ihr Schützling das Schweigen gebrochen hatte. Sie griff nach ihrer Tasche, als das Taxi in die Einfahrt einbog. "Uns wird schon etwas einfallen", sagte sie zuversichtlich und öffnete die Tür. Corinne murmelte etwas Unverständliches, während Hally den Fahrer bezahlte. Sie war froh, daß sie es nicht gehört hatte, denn die gerunzelte Stirn und die heruntergezogenen Mundwinkel des Mädchens deuteten nicht gerade auf eine freundliche Erwiderung hin.
Als Corinne Hally zur Haustür folgte, waren ihre Schritte so langsam und schwerfällig, daß man glauben konnte, sie würde zu ihrer Hinrichtung geführt. Hally schloß die Tür auf, öffnete sie und verlor fast das Gleichgewicht, als ein großer grauer
Schatten zwischen ihren Beinen hindurch ins Haus huschte. "Chaucer McKenzie!" rief sie und ärgerte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte, daß der Kater sein Zuhause fast immer so betrat. "Du dummer Kater! Eines Tages werde ich mir deinetwegen noch den Hals brechen!" Sie hielt sich am Türgriff fest und starrte wütend auf den Kater, der laut miaute und sich ohne jedes schlechte Gewissen an ihren Beinen rieb. Als hinter ihr ein leises Geräusch ertönte, drehte Hally sich zu ihrem Gast um. Sie sah, wie Corinne Parker in die Hocke ging und die Arme nach Chaucer ausstreckte. "Komm her, Kätzchen", rief sie sanft. Und so zärtlich, daß Hally erstaunt den Atem anhielt. Ihr Erstaunen verwandelte sich in Verblüffung, als der mürrische alte Kater, der mit niemandem Freundschaft schloß, ohne Zögern zwischen die wartenden Arme des Mädchens marschierte und so laut schnurrte, wie Hally es bei ihm noch nie erlebt hatte.
6. KAPITEL "Wußten Sie, daß Ihre Tochter Katzen liebt?" fragte Hally Mike Parker, sobald sie mit ihm allein war. Sie hatte sich eine Vertretung für ihren Unterricht besorgt und sich mit ihm im Gerichtsgebäude getroffen. Die Anhörung war vorüber. Sie hatte weniger, als eine Stunde gedauert. Die meisten Jugendlichen; auch Corinne, wurden in die Obhut ihrer Eltern oder gesetzlichen Sorgeberechtigten entlassen. Ihnen wurde eine dreimonatige Bewährungsfrist auferlegt, in der sie jeden Abend spätestens um zweiundzwanzig Uhr zu Hause sein mußten. Außerdem mußten sie sich einen Vortrag über die schrecklichen Folgen anhören, die jugendliches Rowdytum, Rockkonzerte im allgemeinen und dieses Konzert im besonderen hatten. Bevor sie heimgeschickt wurden, ermahnte die Richterin sie noch streng, nie wieder vom Pfad der Tugend abzuweichen. Diejenigen, die die Polizei als Anstifter des Krawalls ausgemacht hatte, wurden zur Hauptverhandlung vorgeladen, in der sie das endgültige Urteil erfahren würden. Auch die anwesenden Eltern ermahnte die Richterin, ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern und der Gesellschaft zu erfüllen und dafür zu sorgen, daß ihr Nachwuchs nie wieder einen Gerichtssaal von innen sah. Sie würde jeden einzelnen an seine Verpflichtung erinnern und ihn sein Versagen spüren
lassen, falls sie ihn je wieder zu Gesicht bekam, sagte sie abschließend. Nach dem Schlußwort eilte Corinne in den Waschraum, während Hally und Mike auf einer Bank vor dem Verhandlungssaal auf sie warteten. Das Mädchen war vor der Anhörung auffallend still gewesen, aber am meisten hatte Mike erstaunt und gefreut, wie anders sie an diesem Tag aussah. Sie trug einen schmalen schwarzen Rock, eine schwarze Strumpfhose und einen schwarzweißen Pullover. Sämtliche Sachen waren neu, und Corinne hatte sie, mit Hallys Hilfe, selbst ausgesucht. Das hatte Hally ihm vorhin zugeflüstert. Jetzt schuldete er dieser Frau, die ihn langsam zu faszinieren begann, siebenundachtzig Dollar, aber Corinnes Anblick war ihm jeden Dollar wert. Hally hatte außerdem dafür gesorgt, daß Corinne ein dezentes Make-up trug und ihr unmögliches Haar wenigstens anständig gebürstet war. Mike war ihr sehr dankbar, aber was diese Sache mit den Katzen anging ... Er legte die Stirn in Falten. "Nein, das wußte ich nicht", gestand er. "Ich meine, meine Eltern hatten immer Katzen. Und jetzt, da Sie es erwähnen, fällt mir ein, daß Becky auch immer zwei hatte ..." "Es waren Corinnes." Hally rutschte auf der harten Holzbank hin und her, schlug die Beine übereinander und ermöglichte Mike dadurch einen höchst willkommenen Blick auf äußerst wohlgeformte Waden. "Ihre Namen sind Figaro und Shadow. Fig ist fünf, Shadow drei, und die beiden leben jetzt bei Ihren Eltern." "Soll das etwa heißen, daß Sie all das bei Corys erstem Besuch erfahren haben?" Mike war so verletzt und, ja verdammt, auch eifersüchtig, daß die Frage schärfer klang, als er beabsichtigt hätte. Er konnte kaum fassen, daß er überhaupt nichts davon gewußt hatte! "Und das alles hat sie Ihnen freiwillig erzählt?"
"Nun ja, ich mußte sie nicht an die Wand stellen und ihr eine Pistole an den Kopf halten, falls Sie das meinen", entgegnete Hally trocken. Sie beschloß, die leichte Schärfe in seiner Stimme zu ignorieren, denn sie wußte, daß er emotional ein wenig angeschlagen war. "Wir haben eine ganze Menge geredet", berichtete sie, verschwieg ihm jedoch, daß dem Gespräch ein stundenlanges brütendes Schweigen und einsilbige Antworten vorausgegangen waren. Corinne war erst spät aufgetaut. "Irgendwann legte sie ihre abweisende Haltung ab und wurde zu einem ganz normalen Mädchen." Sie zog ihren Rock herunter und beantwortete Mikes überraschten Blick und stumme Frage mit einem Achselzucken. "Einführung in die Psychologie, schon vergessen?" Sie hatte gehofft, ihm ein Lächeln zu entlocken, indem sie ihn daran erinnerte, was er sie vor vier Tagen gefragt hatte. Aber er war nicht in der Stimmung für derartige Scherze, und sie konnte es ihm nicht verdenken, daß seine Miene noch finsterer wurde. "Tut mir leid", sagte sie. "Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Aber ich bin nun einmal Tutorin und habe einen Abschluß in Psychologie gemacht. Ganz abgesehen davon, daß ich in meiner Ausbildung gelernt habe, wie man mit schweigsamen Kindern umgeht. Meistens braucht man nur ein wenig Zeit und Geduld." "Zeit und Geduld." Mike beugte sich vor und legte die Ellbogen auf die Knie. Seufzend starrte er vor sich hin. "Das haben Sie mir schon mal erklärt." Er warf ihr einen Blick zu. "Erinnern Sie sich?" "O ja." Hally lächelte. "Bei unserer ersten Begegnung." "Genau." Er betrachtete seine Hände. Sie baumelten zwischen den gespreizten Beinen, aber er bewegte die Finger, als wollte er sie aufwärmen, bevor er ein Klavierkonzert gab.
Hally sah ihm dabei zu und staunte einmal mehr darüber, wie groß sie waren. Sie fragte sich, ob er ein Instrument spielte. Bestimmt hatte er in der High-School Basketball gespielt. "Und was habe ich getan, als ich sie endlich von dem verdammten Konzert nach Hause geschafft hatte?" fragte er verbittert. "Anstatt etwas nachsichtig und froh zu sein, daß ihr nichts passiert war, habe ich ihr den Kopf, wegen ein paar magerer Dollar abgerissen." "Einhundertunddreißig gestohlene Dollar würde ich wohl kaum mager nennen", wandte Hally ein. "Außerdem hatte ihr kleiner Liebling gerade dafür gesorgt, daß Sie vor Angst um sie fast den Verstand verloren haben. Also seien Sie nicht so streng zu sich, Mr. Michael J. Parker." Sie haben leicht reden, schien sein Blick zu sagen. "Ich habe alles falsch gemacht." "Sie haben getan, was Sie konnten", tröstete Hally ihn. "Mehr kann man von einem Vater nicht erwarten." Ach, wirklich? Bist du deinen eigenen Eltern gegenüber auch so großzügig? fragte ihre innere Stimme hämisch, und Hally sprang auf., Mike riß seinen Blick vom Fußboden los und erhob sich ebenfalls. Er legte eine Hand auf Hallys Schulter und drehte sie behutsam zu sich um. "Was ist?" Er sah ihr ins Gesicht. "Was ist los?" "Es tut mir leid", erwiderte sie ausweichend und lachte verlegen. "Es ist nichts." "Sie haben doch etwas." Er brauchte keinen Einführungskurs in Psychologie zu besuchen, um jemandem anzusehen, daß er innerlich aufgewühlt war. Erwartungsvoll musterte er sie. Aber Hally schüttelte den Kopf. "Es ist nichts", wiederholte sie. "Wirklich. Mir ist ein Licht aufgegangen, das ist alles." Mit dieser rätselhaften Bemerkung wollte sie dieses Thema offenbar beenden, doch er gab nicht auf, sondern sah ihr weiter
in die Augen. "Es ist etwas Persönliches ... Es tut mir leid", fügte sie entschuldigend hinzu. "Ihnen braucht nichts leid zu tun", sagte Mike ein wenig förmlich. Er wußte, daß es unvernünftig war, aber ihre Verschlossenheit traf ihn. Schließlich war sein Leben für sie ein offenes Buch, ihres dagegen .... Sollte mich nicht interessieren, sagte er sich streng. Hally schnüffelte nicht aus Neugier in seinem Leben herum. "Wie auch immer", murmelte sie. Sie wußte zwar nichts von dem stummen Selbstgespräch, das Mike gerade geführt hatte, aber so etwas Ähnliches hatte sie sich auch gerade gesagt. Alles, was sie im Moment zu interessieren hatte, waren seine Probleme mit Cory. Was die Sache mit ihrem eigenen Vater betraf ... nun ja, vielleicht war es höchste Zeit, mit Edith darüber zu reden. "Ihnen war bisher nicht klar, wie Sie mit Corinne umgehen müssen", sagte sie zu Mike. "Jetzt wissen Sie es und sind bereit, es in die Tat umzusetzen. Das ist ein Anfang." "Ist es wohl." "Mit Sicherheit ist es das", beharrte sie nachdrücklich. "Aber ich wollte Sie etwas fragen ..." Sie schaute den Korridor entlang. Corinne war nirgends zu sehen. Zweifellos ließ sie sich Zeit und genoß es, die Erwachsenen warten zu lassen. "Hätten Sie etwas dagegen, wenn Corinne an den nächsten Samstagen zu mir kommt? Natürlich werde ich auch in der Schule mit ihr arbeiten, aber ich glaube, es wäre gut für sie, ein paar zusätzliche Stunden mit mir zu verbringen." "Inwiefern wäre es gut für sie?" fragte Mike. Das erstaunte sie, denn sie hatte fest damit gerechnet, daß er zustimmen würde, und ihn nur der Form halber um seine Erlaubnis gebeten. "Nun ja." Sie suchte nach einer Antwort, die ihn zufriedenstellen würde. Davon gab es viele, aber ihr fiel beim
besten Willen keine ein. "Zum einen ist da mein Kater", war alles, was ihr schließlich einfiel. "Ich kann ihr eine Katze besorgen." Mike wußte nicht genau, warum er es Hally so schwer machte. Er sollte ihr dankbar sein. Sie hatte viel für ihn und Cory getan, und jetzt auch noch auf ihre freien Samstage zu verzichten war kein geringes Opfer. "Laden Sie alle Ihre Problemschüler zu sich nach Hause ein?" "Nein, natürlich nicht, aber ..." Hally hatte Mühe, gelassen zu klingen. Daß Mike ihren Motiven zu mißtrauen schien, kränkte sie. "Zufällig ist Corinne keine ... na ja, sie ist keine gewöhnliche Problemschülerin." "Nein?" Meinetwegen? hätte Mike am liebsten gefragt, unterdrückte den lächerlichen Anflug von männlicher Eitelkeit aber sofort. "Warum nicht?" "Ich weiß es nicht ..." Irgendwie erinnert sie mich an mich selbst, als ich so alt war, dachte sie. All die Wut und der Weltschmerz .... Doch dieser Gedanke war zu privat, zu intim, um ihn offen einzugestehen. Andererseits wollte sie diesem Mann, diesem Vater, gegenüber ehrlich sein und ihm wenigstens einen kurzen Blick auf ihr eigenes Leben gestatten, damit er einsah, daß er ihr vertrauen durfte. Es gab viele Betrüger, viele Menschen, die unter dem Deckmantel der Nächstenliebe eigene Interessen verfolgten, da hatte er das Recht und die Pflicht, vorsichtig zu sein. Auch wenn sie das nicht gerade schmeichelhaft fand. Sie atmete tief durch. "Nun ja, eigentlich weiß ich es doch", gab sie zu und erzählte ihm davon, was sie als Teenager durchgemacht hatte. Von dem perfektionistischen, arbeitssüchtigen Vater, der nie Zeit für sie hatte und dem sie es selbst dann, wenn er mal zu Hause war, nie recht machen konnte. Sie erzählte, Mike, wie sehr sie sich nach seiner Liebe und seinem Lob gesehnt hatte. Aber sie war ihrem Vater nie klug genug, nie fleißig genug, nie hübsch genug gewesen.
"Damals hat es mir sehr geholfen, daß ich mit meiner Mutter reden konnte", schloß sie. "Mom war eine großartige Zuhörerin. Man sagt, daß das eine Eigenschaft ist, die sich vererbt." "Das kann ich bestätigen", sagte Mike ein wenig verlegen. Er wußte Hallys Offenheit zu schätzen, war jedoch unsicher, wie er es ihr zeigen sollte. Das ist eine meiner größten Schwierigkeiten, dachte er, diese Unfähigkeit, laut auszusprechen, was mir am Herzen liegt. Gib mir ein geschäftliches Problem, das ich unter Zeitdruck lösen muß, eine Rede, die ich halten muß, eine Präsentation vor wichtigen Kunden - schon erledigt. Aber wenn ich einer Frau gegenüberstehe und mit ihr über etwas Persönliches, etwas Emotionales sprechen muß, versage ich kläglich. "Sie ... waren einfach großartig." "Wenn Sie das wirklich glauben", begann Hally, und sein wenn auch nur lauwarmes Lob freute sie zutiefst, "dann erlauben Sie Corinne, mir ein paar Wochen lang ihr Herz auszuschütten. Sie muß über ihre Wut reden, und zwar mit einem verständnisvollen, aber neutralen Zuhörer. Sonst wird sie niemals vernünftig mit Ihnen über alles sprechen können." "Ich nehme an, das macht Sinn." "Aber Sie sind nicht gerade begeistert", stellte Hally fest, als seine mißmutige Stimme verklang. "Sie trauen mir noch immer nicht zu, daß ich weiß, was ich tue, nicht wahr?" "Nein, das ist nicht wahr", widersprach Mike. Er wußte, daß er sich zornig anhörte, aber in Wirklichkeit hatte er nur Angst. Und er haßte es, das zugeben zu müssen. "Der Punkt ist, die Probleme, die Cory und ich miteinander haben, stammen daher, daß sie zu sehr auf ihre Mutter fixiert war und sich von mir entfremdet hat. Was, wenn sie sich nun auf Sie fixiert?" "O Mike ..." Sie verstand seine Befürchtung und empfand sofort Mitgefühl mit ihm. Hätte sie in diesem Moment gewagt, ihrem Impuls nachzugeben, so hätte sie die Hand gehoben und über die Sorgenfalten an seiner Stirn gestrichen. Der arme
Mann, er war so verletzlich und hatte panische Angst davor, erneut verletzt und zurückgewiesen zu werden. Sie gab sich damit zufrieden, den Ärmel des eleganten marineblauen Blazers zu berühren, zu dem er eine graue Hose trug. "Das wird sie nicht", versicherte sie ihm ernst. "Ganz einfach deshalb, weil ich es nie dazu kommen lassen würde. Unsere Gespräche werden sich hauptsächlich um Corinnes Beziehung zu Ihnen drehen. Vertrauen Sie mir", fügte sie leise und eindringlich hinzu und hielt seinem Blick stand, als er ihr in die Augen schaute. "Bitte, Mike ..." "Störe ich?" fragte Corinne voller Sarkasmus, und die Erwachsenen zuckten zusammen, als hätte das Mädchen sie bei etwas Verbotenem ertappt. Hastig zog Hally die Hand zurück und schämte sich sofort dafür, weil sie sich benahm, als hätte sie etwas zu verbergen. Zusammen mit Mike drehte sie sich zu seiner Tochter um, die mit verschränkten Armen hinter ihnen stand. Sie hatte die Zeit im Waschraum dazu genutzt, ihr Haar mit reichlich Gel in die gewohnte Stachelfrisur zu verwandeln und ihr mädchenhaftes Gesicht hinter einer dicken Schicht Make-up zu verstecken. Mit unverhohlenem Spott musterte Corinne Hally und ihren Vater. "Sind Sie etwa scharf auf meinen Vater, Miss McKenzie?" fragte sie grinsend. Mike wurde blaß vor Zorn. Er holte tief Luft, um seine Tochter zurückzuweisen, hielt jedoch den Mund, als Hally unauffällig mit ihrem Fuß gegen seinen stieß. "Corinne", sagte sie, während sie den Arm des Mädchens nahm und es zum Ausgang führte. "Dieses eine Mal werden wir alle so tun, als hättest du nicht gesagt, was du gerade von dir gegeben hast, einverstanden?" Hally ließ ihre Stimme mit Absicht ruhig und gelassen klingen, obwohl sie innerlich vor Empörung zitterte. Das tat sie vor allem deshalb, weil die geschmacklose Frage des Mädchens
der Wahrheit näher kam, als ihr lieb war. "Es sei denn, du möchtest dich bei deinem Vater und mir entschuldigen?" Corinne gab einen geringschätzigen Laut von sich und versuchte, Hallys Hand abzuschütteln. Hally festigte mühelos den Griff um Corys Arm. "Gib es auf, Corinne", sagte sie lächelnd. "Wir zwei werden richtige Busenfreundinnen, ob es dir gefällt oder nicht. Wenigstens während der nächsten zwei Wochen." "Was soll das heißen?" fauchte Corinne. Bestimmt hätte sie sich die Zunge abgebissen, hätte sie geahnt, wie sehr ihre Neugier Hally erfreute und ermutigte. Es bewies, was Hally längst vermutete - hinter der widerborstigen Fassade verbarg sich ein einsames und verstörtes Kind, dessen Rebellion vor allem ein Hilfeschrei war. "Das soll heißen, daß du ab jetzt eine ganze Menge Zeit mit mir verbringen wirst", verkündete Hally fast fröhlich. "In und nach der Schule." "Wirklich?" Zum allerersten Mal verriet Corinnes Stimme so etwas wie Interesse, aber sofort versuchte sie, es durch die alte Frechheit zu kaschieren. "Ich nehme an, Sie lassen mich wieder einsperren, sobald ich keine Lust mehr habe und abhauen will." Hally zuckte mit den Schultern. "Du hast selbst gehört, was die Richterin sagte - Ausgangssperre und Beaufsichtigung. Dein Vater und ich haben vor, uns daran zu halten." "Sie meinen, ich muß auch mit ihm Zeit verbringen?" Verärgert registrierte Hally, daß Corinne mit ihrer gehässigen Frage absichtlich so lange gewartet hatte, bis Mike in Hörweite herangekommen war. Er tat ihr leid, denn obwohl er sich beherrschte und keine Miene verzog, war er blaß geworden. Dieses Mädchen war wirklich ein Quälgeist erster Güte. Plötzlich fragte Hally sich, ob Rebecca Parker vielleicht, bewußt oder unbewußt, die Feindseligkeit ihrer Tochter gegenüber Mike gefördert hatte.
Da ihr keine taktvolle Antwort auf die provozierende Frage des Mädchens einfiel, beschloß sie, sie einfach zu überhören. Sie drehte sich zu Mike um. "Was halten Sie davon, wenn ich Corinne mit in die Schule nehme? Dann können Sie zurück zur Arbeit." Der Reifen war repariert, also war sie wieder unabhängig. Diesmal würde es hoffentlich länger als nur ein paar Tage dauern. "Wir haben beide heute nachmittag Unterricht." "Es ist fast Mittag", sagte Mike und gab sich alle Mühe, unbeschwert zu klingen. Das fiel ihm nicht leicht. Die letzten Tage hatten ihn viel Kraft gekostet, körperlich und emotional. "Wie wäre es, wenn ich die Ladys zum Essen einlade?" "Das ist sehr nett von Ihnen, aber ..." begann Hally. "Bloß nicht", kam Corinne ihr leise zuvor. Hally stellte sich zum zweiten Mal an diesem Tag taub, bat Mike mit einem flehentlichen Blick, das auch zu tun, und beendete ihren Satz. "Wir sollten jetzt besser fahren. Wir holen uns unterwegs einen Hamburger, dann schaffen wir es vielleicht gerade noch zur fünften Stunde. Stimmt's, Corinne?" Corinne starrte gelangweilt vor sich hin. "Wie? O ja, sicher. Was immer Sie wollen", murmelte sie. Hally sah Mike an und zog die Augenbrauen hoch. Tut mir leid, signalisierte sie ihm und wünschte inständig, sie könnte etwas tun oder sagen, um ihm Mut zu machen. Leider fiel ihr nichts ein. "Sie holen sie also wie abgemacht nach der Schule ab?" fragte sie statt dessen. Mike schaute seine Tochter an. Sie wandte das Gesicht ab. Er preßte die Lippen zusammen. Bin ich eigentlich verrückt, daß ich dieser Frau zutraue, meine Tochter wieder zu einem normalen, glücklichen Kind zu machen? Daß ich hoffe, mein Kind wird mich wieder lieben? fragte er sich. Einen Monat, dachte er. Er würde Hally McKenzie einen Monat Zeit geben. Und wenn sich Corys Einstellung bis dahin nicht geändert hatte, würde er tun, was er vielleicht längst hätte
tun sollen: Er würde sie zurück nach Idaho schicken. Dann waren seine Schwiegereltern auch zurück von ihrer Kreuzfahrt. "Ich werde dasein", versprach er. Hallys mitfühlender Gesichtsausdruck erfreute und irritierte ihn zugleich. Er war ein Mann, der stets die Initiative ergriff., Das war er immer gewesen, wenn auch nicht auf machohafte Art. Er war einfach nur eine geborene Führernatur, und es fiel ihm schwer, anderen zu folgen. Doch dann wurde ihm klar, daß es in diesem Fall besser war. Denn das Gebiet, auf das Halloran McKenzie sich mit Corinnes Bekehrung begeben hatte, war ihm völlig fremd. Und nur ein dummer Mensch wagte sich ohne Führer auf unbekanntes Terrain. Es war halb sechs am Samstag nachmittag. Mike hatte mit Hally vereinbart, daß er Corinne um sechs abholen würde. Aber er hatte sich den ganzen Tag hindurch gelangweilt, und bestimmt wäre es nicht schlimm, wenn er ein paar Minuten früher kam. Was ist bloß mit mir los? hatte er sich immer wieder gefragt. Warum vermißte er eine Tochter, die, wenn sie da war, ihm immer nur weh tat? Seit der Anhörung waren mehrere Tage vergangen, aber ihr Verhältnis hatte sich nicht verbessert. Wenigstens hatten sie sich nicht mehr angeschrien, aber nur, weil jeder darauf geachtet hatte, dem anderen aus dem Weg zu gehen. Das Gespräch, das Hally McKenzie mit Cory geführt hatte, war offenbar erfolgreich gewesen. Seine Tochter hatte nicht nur nicht versucht, den Unterricht zu schwänzen, sie hatte sogar sämtliche Hausaufgaben gemacht. Das hatte er natürlich nicht von ihr, sondern von ihrer Lehrerin erfahren, denn Cory ließ sich nicht dazu herab, ihm mehr als einsilbige Antworten zu geben. "Ihre Tochter hat Grips", hatte Hally Mike erzählt und dabei ein wenig überrascht geklungen.
Für ihn war das natürlich nichts Neues. In Idaho hatte Cory immer zu den Besten ihres Jahrgangs gezählt. Wahrscheinlich sollte es ihn aufmuntern, daß seine Tochter endlich wieder bereit war, ihre Fähigkeiten einzusetzen. "Hallo!" Nachdem er beim erstenmal keine Antwort erhalten hatte, klopfte Mike etwas kräftiger gegen die verschlossene Tür von Halloran McKenzies Haus. Er wußte, daß er hier richtig war, denn er hatte Cory heute morgen hier abgesetzt. Nach einer Weile gab er auf und starrte durch das Insektengitter ins Halbdunkel hinter der Tür. "Jemand zu Hause?" rief er. "Miau." "Oh, hallo." Mike senkte den Blick und sah in die zwei bedrohlich funkelnden Augen einer riesigen grauen Katze. Sie hockte auf der anderen Seite der Tür. Ihr buschiger Schwanz zuckte hin und her. "Du bist also der Kater." "Sein Name ist Chaucer." Hallys Stimme kam von hinten, und Mike drehte sich um. Sie stand vor der Eingangstreppe. "Hi", begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, das ihn mehr erwärmte, als es sollte. Plötzlich freute er sich darüber, daß er einen Grund hatte, diese Frau häufiger zu sehen. "Ich dachte mir, ich hätte einen Wagen gehört." "Das ist ja ein prächtiger Kater", sagte Mike und schaffte es nicht, den Blick von ihrem Gesicht zu lösen, als er die Stufen hinunterging. "Er sieht aus, als würde er mich in Stücke reißen, wenn ich es wage, die Tür zu öffnen." "Er blufft, das ist alles." Mike starrte sie noch immer an, und Hally fragte sich, ob sie Schmutz im Gesicht hatte. Sie wünschte, sie hätte sich wenigstens das Haar bürsten können. Daß sie sich so um ihr Äußeres sorgte, verunsicherte sie, und sie weigerte sich, über den Grund nachzudenken. Sie sah auf ihr Handgelenk, stellte fest, daß sie keine Uhr trug, und sah Mike mit gerunzelter Stirn an. "Sind Sie früher gekommen? Haben Sie noch etwas vor? Corinne ist bei meiner Mutter, aber ..."
"Nein, nein." Mike konnte nur hoffen, daß er nicht so verlegen wirkte, wie er sich fühlte. "Nichts Besonderes. Ich ... na ja, um ehrlich zu sein ... ich habe mich gelangweilt. Aber falls ich störe..." "Du meine Güte, nein." Hally hob eine erdige Hand. "Ich war nur gerade im Garten, das ist alles. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich gemacht habe." Sie drehte sich um und ging davon. Wie sie es erwartet hatte, folgte Mike ihr. "Sie halten nichts von Handschuhen?" fragte er. "Die stören nur." Hally zuckte die Achseln. "Außerdem mag ich es, in der Erde zu wühlen und sie an der Haut zu spüren." "Haben Sie denn keine Angst um Ihre zarten Hände?" Becky hatte im Haushalt immer Handschuhe getragen. Sie hatte wunderschöne Hände gehabt. Aber jetzt stellte Mike entsetzt fest, daß sie ihn niemals so sehr fasziniert hatten wie das Lächeln, das Hally ihm zuwarf. "Zarte Hände? Sie sehen vor sich die einzige Frau auf der Welt, die es schafft, selbst künstliche Fingernägel abzubrechen." Was für Rebecca eine Katastrophe gewesen wäre, schien Hally McKenzie nicht im geringsten zu belasten. "Und wie ist es mit Cory gelaufen?" fragte er und starrte dabei auf ihre sanft schwingenden Hüften. Die überraschend schmale Taille ging in Rundungen über, die Mike perfekt fand. Genau so sollte eine Frau aussehen. "Sie hat Ihnen keinen Ärger gemacht?" "Keinen Ärger. Im Gegenteil, wir machen Fortschritte. Sie mag meine Mom." Das wundert mich gar nicht. Wenn sie so ist wie ihre Tochter, dachte Mike. "Das ist ja großartig." Er räusperte sich. Sein Mund war trocken geworden. Was für traumhafte Beine diese Frau besaß. Und dann die Art, wie sich die ultrakurzen Shorts um den hinreißenden Po schmiegten ...
"Sie fahren nicht zufällig Rad?" hörte er sich fragen und stöhnte innerlich auf, als ihm aufging, wie verräterisch diese Frage war. "Ich meine, Ihre Beine sind so ..." Schlank und wohlgeformt hatte er sagen wollen, doch das wäre zu persönlich gewesen. "Durchtrainiert." O Gott. Mike schloß die Augen. Hatte er wirklich durchtrainiert gesagt"? Er kam sich wie ein Idiol vor, als Hally stehenblieb und sich mit geröteten Wangen zu ihm umdrehte. Kein Zweifel, er hatte sie in Verlegenheit gebracht. In Wirklichkeit war Hally mehr als verlegen, sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte nicht daran gedacht, daß sie Mike Parker ihre unvorteilhafteste Seite zeigte, indem sie voranging. Sie hatte ihm ihre Hüften und Oberschenkel präsentiert,! Durchtrainierte Beine! Fette Beine, das hatte er bestimmt sagen wollen. Er war zu höflich, um es auszusprechen, aber er hatte es gedacht, da war sie sicher. "Ich bin Inline-Skaterin", sagte sie und versuchte verzweifelt, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Es schien ihr nicht zu gelingen, denn Mike Parker wirkte peinlich berührt. Daß sie der Grund dafür war, machte alles noch schlimmer. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, gelassen und sogar ein wenig blasiert zu erscheinen. "Außerdem mache ich noch einen Aerobic-Kurs, um meine leidige Gesäßmuskulatur zu straffen." Endlich traute sie sich, Mike anzuschauen. Was sie in seinen Augen sah, verblüffte sie. Schlagartig wurde ihr warm. "Ich finde Ihre Gesäßmuskulatur völlig okay", murmelte er. Wow. Hally wurden die Knie weich, und ihr Herz begann zu rasen, während Mike ihrem Blick standhielt. Und obwohl er kein Wort mehr sagte, ließen seine Augen keinen Zweifel daran, daß er sie leidenschaftlich begehrte. Gnade. Hally tastete hinter sich und hielt sich mit einer Hand an der Hauswand fest. Sie mußte schlucken und hätte sich gern
die plötzlich spröden Lippen mit der Zunge befeuchtet. Aber sie wagte es nicht, sondern stand reglos da, um den Zauber dieses Moments nicht zu brechen. Noch nie hatte ein Mann sie so angesehen, wie Michael J. Parker es jetzt tat. .Sie wollte diesen Augenblick so lange wie möglich auskosten, bevor sie beide wieder in die Realität zurückkehrten. "Mike?" Sie hauchte seinen Namen, und es klang wie ein Seufzen. Er machte einen Schritt auf sie zu. Voller Erwartung öffnete Hally die Lippen. Und schloß sie wieder. Was, um alles in der Welt, tue ich hier eigentlich? Sie schüttelte den Kopf. "Nicht." Mike erstarrte, den Blick noch immer auf ihrem Gesicht. Er spürte, daß er blaß geworden war. Er hatte allen Ernstes vorgehabt, die Lehrerin seiner Tochter zu küssen. Die arme Frau sah aus, als hätte sie Angst vor ihm. "Es tut mir sehr leid." Er wich zurück, schob die Finger ins Haar und stieß den angehaltenen Atem aus. Der Schmerz in seiner Brust legte sich. "Ich wollte nicht ..." "O bitte, nicht." Hally hob eine Hand und mußte sich beherrschen, um ihn nicht zu berühren. ,,Bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Es war meine Schuld. Ich ..." "Unsinn", knurrte Mike unwirsch, um zu verbergen, wie sehr er sich seines Verhaltens schämte. "Ich hätte nicht so ... persönlich werden dürfen. Verzeihen Sie mir, was ich gesagt habe. Sie waren lediglich freundlich und ..." "Und Sie waren keineswegs unverschämt"; unterbrach Hally ihn, denn irgendwie ärgerte es sie, daß er sich bei ihr entschuldigte. Insgeheim wünschte sie, er hätte sich von ihr nicht abhalten lassen. Wovon genau hätte er sich nicht abhalten lassen sollen?
Blöde Frage, dachte sie. Sie wußte genau, daß Mike Parker sie fast geküßt hätte. Was für eine erregende Vorstellung. Unglaublich. Unmöglich. Hally riß sich zusammen und dachte an das, was sie sich vorgenommen hatte. Italien. Bildungsurlaub. Finger weg von Männern. Ganz abgesehen davon, daß eine Affäre mit Mike alles zunichte machen würde, was sie bei Corinne zu bewirken hoffte. Hally beschloß, ehrlich zu sein. "Verstehen Sie mich nicht falsch, Mike", begann sie. "Nicht, daß ich Sie nicht attraktiv finde. Das tue ich." "Ich weiß." Damit hatte sie nicht gerechnet. Verblüfft starrte sie ihn an und wartete darauf, daß sie wütend wurde. Dieser arrogante Kerl... Aber er ist gar nicht arrogant, dachte Hally, während ihre Blicke verschmolzen. Er sprach einfach nur die Wahrheit aus. Er wußte es. Und sie wußte es auch. Vielleicht war das in gewisser Weise arrogant. Vielleicht hätte es sie kränken sollen, doch das tat es nicht. Nein, es gab ihr den Mut, ihm etwas zu antworten, was sie zuvor nicht einmal im Traum zu einem Mann gesagt hätte. "Sie finden mich also anziehend?" "Wie Eisen für einen Magneten", gab er zu, obwohl er nicht sicher war, worauf Hally hinauswollte. "Das finden Sie offenbar nicht gut", stellte er fest, als er das Bedauern in ihren Augen sah. "Es ist mehr als nicht gut", erwiderte sie. "Es ist schlimm. Und unmöglich." Michael nickte. "Wegen Corinne?" "Unter anderem." Hally wich seinem Blick aus. "Wie dieser Kerl namens Smith, zum Beispiel?" fragte Mike, bevor er sich bremsen konnte. Erstaunt musterte er Hally, als sie lachte. "Gil?" Sie wedelte mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen.
"Du meine Güte, nein. Wir sind gute Freunde. Genauer gesagt, wir waren es." Sie ging weiter und vergaß, daß sie Mike nicht ihre Rückseite zukehren wollte. "Seit er uns beide im Restaurant gesehen hat, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen." "Das tut mir leid." Es tat ihm keineswegs leid, aber in Situationen wie dieser hatte auch Ehrlichkeit ihre Grenzen. "Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden ..." "Vergessen Sie es." Hally blieb vor einem niedrigen Zaun stehen, der ein Stück frischer Erde umgab. Sie betrachtete es voller Stolz und wechselte entschlossen das Thema. "Mein Gemüsebeet", verkündete sie. Mike sah nach unten, dann wieder zu Hally hinauf. Zwar wäre er lieber beim bisherigen Thema geblieben, folgte aber ihrem Beispiel und täuschte mit hochgezogenen Augenbrauen Interesse vor. "Und wo ist das Gemüse?" "Dort drüben." Hally zeigte auf eine Wäscheleine, an der Zwiebelbündel in der Sonne trockneten. "Die beste Ernte seit Jahren." "Zwiebeln?" Mike zog die Augenbrauen noch höher. "Das ist alles, was Sie anbauen?" "Nein. Aber es ist alles, was sie mir übriglassen", erklärte Hally. Sie hatte sich längst damit abgefunden, daß sie ihre Erzeugnisse mit den Geschöpfen teilen mußte, die ältere Ansprüche anmelden konnten. "Sie?" fragte Michael. "Wer sind sie?" Hally amüsierte sich köstlich. "Die Kaninchen, wer sonst?" "Die Kaninchen?" "Sicher." Hally mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht über sein verblüfftes Gesicht zu lachen. Der arme Mann, meistens war er viel zu ernst. "Sie scheinen Zwiebeln zu hassen." Sie hob die Hände. "Ich leider auch."
Er schien nicht recht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte. Sie lachte schallend, und. nach kurzem Zögern schmunzelte auch er. "Miss McKenzie", sagte er und drohte in gespieltem Tadel mit dem Zeigefinger. "Ich glaube, Sie machen sich über mich lustig."
7. KAPITEL "Das hätte ich Ihnen auch sagen können", meldete sich plötzlich eine neue Stimme zu Wort. Hastig legte Mike mehr Abstand zwischen sich und Hally, die die herzugekommene Frau fröhlich begrüßte. "Hi", Mom. Bist du für heute fertig?" "Ich glaube, ja." Neugierig betrachtete Edith Halloran Mike. "Sie sind Corinnes Vater." "Ich bekenne mich schuldig." Lächelnd gab er ihr die Hand. "Mike Parker." "Ihre Tochter sieht Ihnen ähnlich." Sie schüttelte seine Hand mit ihrer Linken, und er dachte daran, daß sie kürzlich einen Unfall gehabt hatte. Für eine Frau, die fast zerbrechlich wirkte, war ihr Griff überraschend fest. "Ich bin Edith Halloran." "Es ist mir ein Vergnügen." Edith Halloran. Mike fragte sich, warum er die Verbindung nicht eher hergestellt hatte. Halloran war kein Allerweltsname. "Meine Mutter besitzt mehrere Ihrer Werke." "Tatsächlich?" Sie freute sich mehr darüber, als Mike bei einer Künstlerin ihres Rufs erwartet hatte, und drehte sich lächelnd zu Corinne um, die im Hintergrund geblieben war. "Du hast mir nicht erzählt, daß deine Großmutter etwas von mir hat", sagte sie und zog das sich leicht sträubende Mädchen in ihren Kreis.
"Ich wußte es nicht." Corinne warf ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätte er sie absichtlich als unwissend dargestellt. "Wo genau hat sie sie denn, Dad?" "Nun ja ..." Mike ließ sich nicht anmerken, daß Corinne ihn mit ihrer harmlos klingenden Frage in Verlegenheit bringen wollte. "Da wären die beiden Schmuckfenster links und rechts der Haustür." Er sah Edith an. "Meine Mutter heißt Iris, deshalb hat jede Scheibe in der Mitte eine einzelne Iris." "Wie schön." Edith schlug beide Hände vor den Mund und freute sich wie ein Kind, das gerade ein Geschenk bekommen hatte. "Ich kann mich ganz genau an sie erinnern. Sie waren eine meiner ersten Auftragsarbeiten." Sie legte die Stirn in Falten. "Ich sollte mich an die Firma erinnern, die die Scheiben bestellt hat. Wissen Sie, in geschäftlichen Dingen bin ich einfach hoffnungslos ... Irgendeine Architekturfirma ..." "McManus und Partner", half Mike ihr, und sie strahlte ihn dankbar an. "Richtig. McManus. Erinnerst du dich, Liebling?" sagte sie zu Hally, die still zugesehen und zugehört hatte und höchst erfreut darüber war, wie gut alle sich verstanden. "Die TiffanyLampen?" Hally erinnerte sich nicht, gab es jedoch nicht zu. Edith erwartete von jedem Menschen, der sie kannte, daß er auf jedes ihrer Stücke genauso stolz war sie. Also begnügte Hally sich mit einem unverbindlichen "Hmm", denn sie wußte, daß ihre Mutter das als "Ja" deuten würde. Mikes belustigter Blick ließ keinen Zweifel daran, daß sie ihn nicht hatte täuschen können. Als sie errötete, zwinkerte er ihr zu und konzentrierte sich wieder auf Edith. Hally tat es ihm nach, aber nur insoweit, als sie den Kopf in Richtung ihrer Mutter drehte. In Gedanken blieb sie bei Mike Parker, und zwar so intensiv, daß es sie zutiefst beunruhigte. Sie konnte einfach nicht vergessen, wie er sie vorhin angeschaut,
ihre Hand genommen und wie die Luft zwischen ihnen förmlich geknistert hatte. Er hatte sie küssen wollen. Und einen Moment lang war sie so unvernünftig gewesen, mit aller Kraft zu hoffen, daß er es auch tun würde. Sie fühlten sich voneinander angezogen. Sie hatten es sogar offen zugegeben. Und, so rief sie sich jetzt streng ins Gedächtnis, sie waren sich darin einig gewesen, daß sie dieser Anziehung nicht nachgeben würden. Aber diese Entscheidung hinterließ in ihr das schmerzhafte Gefühl, etwas versäumt zu haben. Deshalb mußte Hally sich geradezu zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren und zu Corinne hinüberzuschauen. Das Mädchen stand mit gesenktem Kopf da und starrte zu Boden, wo sie mit der Fußspitze einen Kieselstein hin und her schob. Cory hatte sich offenbar über Nacht vom Grunge-Stil verabschiedet und kleidete sich jetzt sehr unauffällig. Es schien ihr äußerst unangenehm zu sein, daß ihr Vater Edith von den beiden Tiffanys seiner Mutter erzählte. "Eine davon hängt im Spielzimmer", berichtete er. "Über Grandpas Billardtisch", meinte er zu Corinne. "Ach ja", murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. Das Ganze war ihr sichtlich peinlich. Ihre Stimme klang trotzig, und wie die meisten Teenager verbarg sie ihre wahren Gefühle, indem sie so tat, als würde sie sich grenzenlos langweilen. "Ich glaube, das wußte ich nicht ..." "Und es gibt auch keinen Grund warum du das wissen solltest", kam Edith ihr zur Hilfe. "Als du die Stücke im Haus deiner Großmutter gesehen hast, kanntest du mich noch nicht. Vor allem hattest du noch keine Ahnung von Glaskunst, und natürlich war dir noch nicht bewußt, daß du ein ganz besonderes Talent besitzt." "Talent?" Mike klang ungläubiger, als er gewollt hatte. Aber warum, um alles in der Welt, mußte er Neuigkeiten über seine
Tochter immer von anderen erfahren? "Was für eine Begabung?" fragte er Corinne. Cory blieb stumm, und als nach einem Moment klar wurde, daß sie nicht antworten würde, sprang Hally in die Bresche. "Mutter findet, daß Ihre Tochter eine ausgesprochen künstlerische Begabung hat." "Wirklich?" Mike war verblüfft. Plötzlich fiel ihm ein, daß er sich auf dem College auch sehr für Kunst interessiert hatte. Er hatte sogar daran gedacht, ein Jahr in Europa zu verbringen, um die Alten Meister zu studieren und sich in Florenz, Wien oder in Paris am linken Ufer der Seine von der dortigen Kunst und Kultur inspirieren zu lassen. Aber die Realität, seine Liebe zu Rebecca und die Notwendigkeit, das Geld für ein Leben zu zweit zu verdienen, hatten ihn zur Vernunft gebracht. Vielleicht freute es ihn deshalb so sehr, daß sich sein alter Traum vielleicht für seine Tochter verwirklichte. Er sah Corinne an, die bei Hallys Worten noch mehr errötet war. Er hoffte, daß sie aufsehen würde, damit er ihr zeigen konnte, wie stolz er auf sie war. Aber das tat sie nicht. "Ich wäre nie darauf gekommen, daß du ..." "Wie denn auch?" unterbrach sie ihn. Mike beherrschte sich mit Mühe. Er holte tief Luft und wandte sich an Edith. "Könnte ich mir etwas von dem ansehen, was sie gemacht hat?" "Natürlich", erwiderte Hallys Mutter, während Corinne aufstöhnte. Edith warf ihr einen strengen Blick zu. "Regel Nummer eins", sagte sie und zog das Mädchen mit sich. "Wenn du von jemandem etwas willst, mußt du ihm auch etwas geben ..." Als die beiden im Atelier verschwanden, drehte Mike sich kopfschüttelnd zu Hally um. "Ich weiß nicht recht", seufzte er. Hally wußte, daß er nicht am Talent seiner Tochter zweifelte, sondern einfach nur seine Hilflosigkeit ausdrückte. "Geben Sie
ihr eine Chance", bat sie. "Und glauben Sie mir, Corinne versucht mit ihrer Frechheit nur ihre Unsicherheit zu tarnen. Wenn sie Ihnen ihre Skizzen zeigt, fühlt sie sich verletzlich. Sie hat Angst, daß sie Ihnen nicht gefallen." "Mir ist es völlig egal, wie gut sie sind", entgegnete Mike. "Solange es Corinne glücklich macht..." "Genau das ist der Punkt", erwiderte Hally eindringlich. "Daß Sie ihr neues Hobby nur dulden, reicht ihr nicht. Sie braucht Ihr Lob, Ihre Ermutigung und echte Anerkennung ..." "Und die bekommt sie." Mike wußte, daß Hally recht hatte. Nur zu gut erinnerte er sich an die Mischung aus Stolz und Angst, mit der er seinem Vater seine Arbeit gezeigt hatte. Seine beste Arbeit. Die, die ihm viel Lob von seinem Lehrer eingebracht hatte. Sein Vater und, wie ihm jetzt einfiel, auch Rebecca hatten erst seine Arbeit, dann ihn erstaunt gemustert. "Was, zum Teufel, ist das?" hatte sein Vater gefragt. "Ich glaube, du bleibst besser bei der Geologie, mein Sohn", hatte er mit freundlicher Herablassung hinzugefügt. Vier Wochen nachdem Mike Parker und seine Probleme in Hallys Leben getreten waren, lief sie endlich Garnet Bloomfield über den Weg. Der September war vergangen, aber der Oktober hatte nicht die ersehnte Abkühlung gebracht. Die Tagestemperaturen schwankten noch immer um die dreißig Grad. Die beiden Frauen saßen auf der Terrasse des Blue Lagoon Diner. Ein riesiger Sonnenschirm spendete Schatten, eine Brise vom Wasser frische Luft. "Du warst beschäftigt", meinte Hallys Freundin. Sie saß stocksteif da und hielt den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Hally beobachtete sie schweigend und nippte an ihrem Drink. Oho, dachte sie, sie ist sauer auf mich.
"Ich habe dich immer wieder angerufen", fuhr Garnet in gekränktem Ton fort. "Du hättest mich wenigstens zurückrufen können." "Das habe ich." Hally war ziemlich sicher, daß sie es getan hatte. Aber, wie gesagt, sie war ziemlich beschäftigt gewesen ... "Ich habe dir auf Band gesprochen, oder?" "Zweimal. In drei Wochen!" Endlich sah sie Hally an. "Und beide Male hast du versprochen, mich wieder anzurufen, aber das hast du nicht getan." "Es tut mir leid." Hally setzte ihr Glas ab. "Mir ist in letzter Zeit viel im Kopf herumgegangen." "Was du nicht sagst." Garnet rümpfte die Nase. "Laß mich raten. Es ist ein Mann." "Ist es nicht." Hallys Schuldgefühl wich Verärgerung, als sie spürte, wie sie errötete. "Warum denken alle immer zuerst daran? Als ob es im Leben keine Schwierigkeiten gäbe, die nicht mit dem anderen Geschlecht zu tun haben." "Meistens haben sie damit zu tun." Garnet probierte ihre geeiste Margarita und verzog den Mund. "Außerdem bin ich vor kurzem Gilbert Smith begegnet." Sie warf Hally einen Blick zu. "Er hat mir erzählt, daß du ihm den Laufpaß gegeben hast." "Ihm den Laufpaß gegeben?" wiederholte Hally ungläubig. Garnet zuckte mit den Schultern. "Na ja, so hat er sich nicht ausgedrückt, aber gemeint hat er es." Sie rührte mit dem Strohhalm im Glas und musterte dabei Hally mit halbgesenktem Blick. "Er sagte, es gäbe einen anderen Mann." "Oh, sagte er das, ja?" Hally war entrüstet darüber, daß die beiden hinter ihrem Rücken über sie getuschelt hatten. Wäre Gilbert Smith jetzt hiergewesen, hätte sie ihn geohrfeigt. "Er sagte, es sei der Vater einer deiner Schülerinnen." Garnet warf den Strohhalm wie einen Fehdehandschuh auf den Tisch und durchbohrte Hally mit ihrem Blick. "Und?" "Gilbert Smith geht mir langsam ..."
"Ganz meine Meinung", unterbrach Garnet sie grinsend. "Du weißt, daß ich den Mann nie ausstehen konnte. Also komm zur Sache." "Es gibt keine Sache." Es gibt wirklich keine, sagte Hally sich nachdrücklich, wich jedoch dem forschenden Blick ihrer Freundin aus, indem sie aufs Wasser starrte. Sie kannte Garnet seit der Grundschule und hatte ihr nie etwas vormachen können. Zwar stimmte es, daß zwischen ihr und Mike Parker nichts "lief", aber sie ertappte sich immer häufiger dabei, das zu bedauern. Doch wann immer sie in Mike Parkers Nähe kam und spürte, daß er dieses Gefühl erwiderte, geriet sie in Panik und wäre am liebsten davongerannt wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. Gebranntes Kind ... "O verdammt." Hally rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an Greg Stahl gedacht, und jetzt... "Was denn?" Garnet klang so besorgt, daß Hally die Hand sinken ließ und ihre Freundin ansah. "Erinnerst du dich an Greg?" "Damals auf dem College? Der Typ, mit dem du dich verlobt hast? Dieser Widerling?" Garnet wirkte schockiert. "Erzähl mir nicht, er ist es." "Um Himmels willen, nein!" Daß ihre Freundin das annehmen konnte, entsetzte Hally. "Ich bin, was Männer betrifft, ziemlich dumm, aber so dumm nun auch wieder nicht." "Was ist es dann?" "Ich weiß es nicht." Hally spielte mit ihrem Glas. Sie war versucht, sich Garnet anzuvertrauen, doch zugleich fiel es ihr schwer, ihre widersprüchlichen Gefühle in Worte zu fassen. Wenn sie sie aussprach, gab sie ihnen Gewicht und machte sie ... wirklich, aber leider nicht akzeptabler. "Du bist unglücklich", sagte Garnet sanft und wurde wieder zu der verständnisvollen Freundin, die sie immer gewesen war.
Genau das war Hally für Garnet auch gewesen. In all den Jahren hatten sie so manches Geheimnis miteinander geteilt und kannten sich gut. Zu gut, um etwas voreinander zu verbergen. Deshalb hatte Hally sich auch gesträubt, die Anrufe ihrer Freundin zu erwidern. Und deshalb wich sie ihren Fragen jetzt auch nicht mehr aus. "Verwirrt wäre ein besseres Wort", gestand sie seufzend. "Verwirrt und verärgert." "Verärgert? Über wen?" "Über mich selbst." Sie nahm einen Schluck Wein, wärmte ihn im Mund, bevor sie ihn herunterschluckte, und zeigte Garnet mit Daumen und Zeigefinger, wie dramatisch ihre Lage war. "Ich bin so dicht davor, den zweitgrößten Fehler meines Lebens zu begehen." "Was war der größte?" "Mich in Gregory Stahl zu verlieben, ihn bei mir einziehen zu lassen und drei Jahre lang die Rechnungen zu bezahlen, während er studierte. Studierte, ha!" Sie schnaubte verächtlich, und Garnet lächelte mitfühlend. "Mein Gott, war ich naiv." "Das waren wir alle", sagte Garnet. "Aber du warst auch verletzlich. Diese Sache mit deinem Dad ..." "Richtig." Damals war es eine schmerzhafte Sache gewesen, jetzt eine unerledigte. Hally hatte noch immer nicht den Mut aufgebracht, mit Edith darüber zu sprechen. Damals, vor zehn Jahren, war ihr Vater der Feind gewesen. Der Schuft in dem Familiendrama, das ihrer Mutter und ihr das Glück geraubt hatte. Hally wollte damals nur weg von ihm, weg von dem, was sie als grausamen Verrat empfand, so weit weg wie möglich. Deshalb war sie für Greg Stahl ein leichtes Opfer, Mit achtundzwanzig war er vier Jahre älter als sie, aber um Jahrzehnte erfahrener, und er schaffte es mühelos, daß sie sich in ihn verliebte.
Greg war so, wie sie es sich von James McKenzie erträumt hatte - freundlich, liebevoll, aufmerksam. Und er war immer für sie da. Sie hätte alles für ihn getan und tat es auch. Bis zu dem Tag, an dem sie ihn in ihrer gemeinsamen Wohnung mit einer anderen Frau erwischte. Er hatte nicht einmal so getan, als täte es ihm leid. Im Gegenteil, er hatte Hally vorgeworfen, ihn mit ihrer langweiligen Art dazu getrieben zu haben. Langweilig! Sie verdiente das Geld, studierte für ihren Abschluß, kochte ihm seine Mahlzeiten, wusch seine Wäsche ... All das hatte sie gern getan. Sie hatte an eine gemeinsame Zukunft geglaubt. Gregs Studium war viel schwerer und anstrengender als ihres. Er wollte seinen Doktor machen ... Sie hatte sogar für die Frau gekocht, mit der er sie jetzt betrog. Candace Laroux, seine angebliche Studienkollegin. Wie hatte sie nur so dumm sein können ... Sie hatte ihn aus der Wohnung und seine Sachen aus dem Fenster geworfen und sich geschworen, daß sie niemals wieder einem Mann vertrauen und sich ihm ausliefern würde. Aber in letzter Zeit hatte sie sich häufig gefragt, ob der Schwur nicht etwas übertrieben gewesen war. Die Dinge waren nicht so klar und eindeutig, wie sie geglaubt hatte. Zwischen Schwarz und Weiß gab es viele Schattierungen. Das hatte ihr Verstand ihr zwar immer gesagt, aber erst seit sie Mike Parker kannte, nahm sie diese Wahrheit auch ernst. Vielleicht war ihr Vater gar nicht der Schuft, für den sie ihn immer gehalten hatte. Und Greg? "Kaum hatte er seinen Abschluß, hat er Candy Laroux geheiratet", sagte sie jetzt nachdenklich zu Garnet. "Wußtest du das?" "Ja, das wußte ich. Und die beiden haben einander verdient", erwiderte Garnet so wütend, daß Hally lachen mußte. "Ich frage mich, ob ich ihn wirklich geliebt habe", gestand Hally ein wenig verlegen.
Das, was sie für ihn empfunden hatte, war nie so intensiv gewesen wie das, was Mike Parker mit einem einzigen Blick in ihr auslösen konnte. "Das habe ich mich damals schon gefragt", gab Garnet zu. "Er war ein mieser Kerl. Er hat dich wie einen Fußabtreter behandelt." "Ich habe mich wie ein Fußabtreter benommen. Ich wollte so sein, wie er mich wollte, und sagte immer nur das, was er hören wollte. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, wenn ich meine eigene Meinung äußere." "Ich weiß." Garnet lächelte betrübt. "Manchmal wollte ich dich packen und schütteln, bis du endlich die Augen öffnest." "Damals hätte ich nicht auf dich gehört." "Ich weiß." Garnet winkte dem Kellner und deutete auf die leeren Gläser. "Wahrscheinlich wirst du auch jetzt nicht auf mich hören, wenn ich dir sage: Na los, begeh den zweiten großen Fehler, von dem du vorhin gesprochen hast." Am 26. Oktober war Corinnes fünfzehnter Geburtstag. Er fiel auf einen Samstag. Geplant war ein Nachmittag am Strand mit einem von Hally vorbereiteten Picknick. Corinne überraschte ihren Vater, indem sie zum Frühstück, in Shorts und einem schulterfreien Oberteil erschien, das zwar nicht ganz bis zur Taille reichte, ihm aber dennoch gefiel. Zwei Abende zuvor hatte Corinne die letzte Rate des Geldes, das sie aus der Keksdose "geborgt" hatte, zurückgezahlt. Sie hatte es damit verdient, daß sie Ediths Studio aufräumte, einmal in der Woche ihren Wagen wusch und montags nach der Schule auf den kleinen Warlock Swigert aufpaßte. Obwohl sie ihm das Geld mit gewohnt trotzigem Ausdruck gab, schöpfte Mike Mut. Corinne fügte sich ein, hielt sich an die Auflagen ihrer Bewährung und sah dem jungen Mädchen, das er sich vorstellte, schon viel ähnlicher. All das war Halloran zu verdanken. Die Frau wurde auf unaufdringliche Art, aber äußerst nachhaltig zu einem wichtigen
Bestandteil ihres Lebens. Und für seine Tochter zu einer guten Freundin. Aber was würde sie für ihn? Das war eine Frage, die ihm in letzter Zeit häufig den Schlaf raubte. Was sollte sie seiner Ansicht nach für ihn werden? Er war sicher, Corinne würde es verstehen, wenn er und Halloran einander ... näherkamen. Sie mochte Halloran. Sie vergötterte Edith. Ihre Zuneigung würde noch wachsen, wenn die beiden zur Familie gehörten. Wie kam er denn auf so etwas? Dachte er etwa an ... Heirat? Mike schluckte. Ihm brach der Schweiß aus. Allein bei dem Wort bekam er ein flaues Gefühl im Magen. Okay, also keine Heirat. Was dann? Eine heiße Affäre? O ja, sicher. Selbst wenn Hally dazu bereit wäre, was höchst unwahrscheinlich war, was für Vorbilder würden sie Corinne abgeben? Was dachte er also? "Ich denke, daß du den zweiten Schritt vor dem ersten machst, mein Freund." Eigenartig, manchmal war es gut, wenn man einen Gedanken laut aussprach. In diesem Fall machte Mike sich klar, daß man erst einige Male mit einer Frau ausging, bevor man sich mehr ausmalte als ... Freundschaft. Man ging zusammen ins Kino. Oder in ein nettes Restaurant. Solche Sachen. Genau. Sie einladen, das würde er tun. Und sie würde ablehnen. Okay. Wenn er darauf vorbereitet war, konnte er sich überlegen, wie er sie umstimmen würde. Die Frage war, wie sollte er das tun? Wie konnte er Halloran McKenzie dazu bewegen, etwas Intimeres als ein Lächeln zuzulassen? Dazu, ihn zu mögen, zu begehren, ihn so sehr zu lieben, daß sie ihm vertraute und ihm eine Chance gab? In den vergangenen sieben Wochen hatte er genug über sie erfahren, um zu wissen, daß sie verletzt worden war, daß irgend jemand ihr Vertrauen mißbraucht hatte.
Nur sieben Wochen. Aber ihm erschien es, als würde er sie schon immer kennen. Es kam ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her, daß sie in sein Leben getreten war. Einen Monat hatte er ihr geben wollen, mehr nicht. Nun ja, aus dem Monat waren mittlerweile fast zwei geworden, und er hatte noch immer nicht die Geduld verloren ... Hally hatte vergessen, daß ihre Einzelgespräche mit Corinne nur auf kurze Dauer angelegt waren. Sie hatte sich einen Italienischkurs auf Kassette gekauft und lernte während der Fahrten von und zur Schule, damit sie abends frei hatte. Sie hatte sich einen Heimtrainer zugelegt und strampelte sich jeden zweiten Morgen vor der Schule vierzig Minuten darauf ab. Das war bequemer, als sich abends abzuhetzen, um rechtzeitig beim Aerobic zu sein. Außerdem wirkte es bereits. Noch im August waren die Shorts, die sie zu Corinnes Geburtstagspicknick getragen hatte, ziemlich eng um die Hüften gewesen, aber jetzt... "Tolles Outfit", meinte Mike mit einem anerkennenden Blick, als Hally die gekürzten Shorts und das T-Shirt auszog und der schwarze Badeanzug zum Vorschein kam. "Danke", erwiderte Hally und legte ihre Sachen sorgfältig zusammen, um Mike nicht ansehen zu müssen. Seinen Blick an ihrem Körper zu spüren reichte ihr. "Den hat übrigens Corinne ausgesucht." "Dann bin ich doppelt beeindruckt", sagte Mike. Er war weit mehr als beeindruckt, er war fasziniert, denn Halloran McKenzies schlanker, aber wohlgeformter Körper sah so aus, wie er es sich erträumt hatte. Hally ging ihm nicht nur unter die Haut, sondern auch ans Herz. Sie ließ ihn an eine gemeinsame Zukunft denken. Sie war eine Frau, die er am liebsten an sich gezogen und voller Leidenschaft geküßt hätte.
Aber hier in der Öffentlichkeit mußte er sich beherrschen, also sprang er auf und ergriff ihre Hand. "Kommen Sie, gehen wir schwimmen." "Das können wir nicht." Hally blieb stehen. "Corinne kommt gleich mit den Getränken zurück." "Irgendwie bezweifle ich das." Mike zeigte dorthin, wo seine Tochter - mit noch immer leeren Händen - bei einem braungebrannten jungen Mann stand. Er runzelte die Stirn. "Ist das nicht der Bursche, der Ihren Rasen mäht?" "Joey Gonzales?" Hally blinzelte in die Sonne. "Ja, das ist er. Oh, sie bringt ihn her." Die Art, wie der Junge seine Tochter ansah, gefiel Mike überhaupt nicht, aber er riß sich zusammen und begrüßte Joey mit einem kurzen Nicken. "Darf Corinne mitkommen und Volleyball spielen?" fragte Joey und warf Hally einen Blick zu, als würde er sich von ihr Unterstützung versprechen. "Es ist Corys Geburtstag", erwiderte er ausweichend. "Wir wollen picknicken." "Joey könnte doch nachher mit uns essen", sagte Cory zu Mikes Verblüffung. Es war das erste Mal, daß sie ihn ansprach und dabei nicht aggressiv klang. "Jetzt, da Edith nicht mitgekommen ist, haben wir doch genug." Flehentlich sah sie Hally an. "Nicht wahr, Miss McKenzie?" "Nun ja ... Aber ..." Hally wandte sich an Mike. Sein Gesicht war verschlossen. "Das muß dein Vater entscheiden." "Bitte, Dad" Es waren ihr sanfter Tonfall und ihre irgendwie hoffnungsvolle Miene, die seinen letzten Widerstand brachen. "Warum nicht?" murmelte er. "Na los, amüsier dich", sagte er mürrisch, um seine Rührung zu verbergen. "Danke, Dad", rief seine Tochter begeistert und warf ihm eine Kußhand zu, bevor sie mit Joey davonrannte. Hastig verbarg er sein Gesicht vor Hally, denn sie sollte nicht sehen, daß seine Augen feucht geworden waren. Er ballte die
Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Er wünschte, er könnte ... Gäbe es doch nur ... Er wußte nicht genau, was ihm fehlte, bis Hally sich vor ihn stellte und die Arme ausbreitete. Ohne Zögern trat er dazwischen, und sie hielt ihn einfach nur fest, während er versuchte, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Obwohl er das Gesicht an Hallys Hals legte und ihre Körper sich berührten, hatte die Umarmung nichts Sexuelles. Zunächst nicht. Keiner von ihnen hätte sagen können, wann sich das änderte, wann aus freundschaftlich tröstender Nähe Erregung wurde. Es geschah einfach, und sie spürten es beide. Langsam lösten sie sich voneinander und schauten einander in die Augen. Mike hob die Hand und nahm Hally die Sonnenbrille ab. Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen, warf er die Brille auf die Decke. Das Verlangen, das ihm entgegenschlug, raubte ihm den Atem. Es war genau das, was auch er fühlte. Aber er fühlte noch etwas - Dankbarkeit. Und dann sah er, wie Hallys Blick wieder vorsichtig und verschlossen wurde. Rasch unterdrückte er alle anderen Empfindungen und ließ nur noch die Dankbarkeit zu. "Danke", flüsterte er und rang sich ein verlegenes Lächeln ab. "Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben und weiß, daß Corinnes verändertes Verhalten allein Ihr Verdienst ist." Er griff nach der Sonnencreme und rieb sich Brust und Arme ein. Hallys Mund wurde trocken, während sie ihm zusah. Fast hätte sie ihm angeboten, den Rücken einzucremen ... "Ihres und das Ihrer Mutter", sagte Mike und malte sich aus, wie er ihr den Rücken einrieb ... "Vergessen Sie Joey nicht. In diesem Fall liegt es wohl eher an ihm und der Liebe als an Mom und mir."
"Liebe?" wiederholte Mike entsetzt. "Mein Gott, sie ist noch so jung." "Sie ist fünfzehn. Wie alt waren Sie, als Sie zum erstenmal verliebt waren?" fragte sie lächelnd. "Dreizehn", gestand er widerwillig. "Und Sie?" "Ich war eine Spätentwicklerin." Hally lehnte sich zurück, zog die Beine zur Lotusblütenposition an und dachte daran, wie sehr sie in Chuck Alberton, das Football-As der Oberstufe, verknallt gewesen war. "Ich war siebzehn. Und er hat mich gar nicht wahrgenommen." "Kommen Sie." Mike stand auf und streckte ihr die Hand hin. Hally tat, als sähe sie sie nicht, während sie sich ohne seine Hilfe erhob. "Wohin gegen wir?" "Wir sehen uns ein Volleyballspiel an, was sonst?" Aber sie blieben nicht lange Zuschauer, sondern mußten mitspielen. Mike und Hally standen auf verschiedenen Seiten des Netzes, und Corinne konnte nicht verbergen, wie stolz sie war, als ihr Vater zum Star seines Teams wurde. Hallys Mannschaft erlitt eine saftige Niederlage. Beim anschließenden Wasserballmatch standen sie kurz vor einer Revanche, als Mike bemerkte, daß Hally trotz ihrer Sportlichkeit in Schwierigkeiten geraten war. Sie hatte Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Ihr Gesicht war verzerrt, die Augen groß und voller Panik. Verzweifelt schlug sie mit den Armen aufs Wasser. Mit kräftigen Zügen schwamm er zu ihr, ohne zu merken, daß auch Corinne ihr zur Hilfe eilte. In diesem Moment ging Hally unter. Später konnte Hally sich kaum noch daran erinnern, wie sie gerettet worden war. Sie wußte nur noch, daß sie plötzlich einen Wadenkrampf bekommen hatte. Der Schmerz war so heftig gewesen, daß sie sich zusammengekrümmt hatte. Salzwasser strömte in den aufgerissenen Mund, sie schluckte und würgte
und bekam keine Luft, um nach den anderen zu rufen. Sie schaffte es nicht, oben zu bleiben. Als sie zum zweiten Mal auftauchte, traf ihr Blick, sich mit Mikes. Besorgt starrte er zu ihr hinüber, doch bevor sie ihm etwas zurufen konnte, versank sie wieder. Als sie zum dritten Mal unter die Oberfläche geriet, war es fast eine Erleichterung. Das rechte Bein war vor Schmerz wie gelähmt, doch sie spürte es kaum noch. Die Erschöpfung war zu groß. Aber sie schaffte es, sich mit letzter Kraft an die Gestalt zu klammern, die zu ihr hinabgetaucht war und sie gepackt hatte. Erst einige Zeit später, als sie das Wasser von sich gegeben hatte und in eine wärmende Decke gehüllt worden war, erfuhr sie, wem sie ihr Leben verdankte. Corinne, die in Idaho zum Schwimmteam ihrer Schule gehört hatte, war Sekundenbruchteile vor Mike bei ihr gewesen. Zusammen hatten sie Hally ans Ufer gebracht, wo Mike sich sofort um sie kümmerte. Hally wollte nicht nach Hause. "Es geht mir gut", beharrte sie, und das tat es auch. Vor allem, nachdem Mike ihr das Bein massiert und die verkrampfte Wadenmuskulatur gelockert und gewärmt hatte - und nicht nur die. "Ich muß nur wieder etwas zu Atem kommen", sagte sie. Mike hatte ihr eine Liege besorgt, und auf der lag sie nun und sah dem halben Dutzend junger Leute zu, das Corinne Parker umschwärmte und sie sehr in Ordnung zu finden schien. Auch Hally war dieser Meinung und konnte nur hoffen, daß Mike Parker ein wenig stolz auf seine Tochter war. Corinne jedenfalls strahlte und wirkte so, wie Hally sie noch nie erlebt hatte. Glücklich und selbstsicher. Nachdem sie Hally abgesetzt hatten, warf Mike einen verstohlenen Blick auf seine Tochter. Mit gesenktem Kopf saß sie da und wirkte ... traurig. "Cory?" Zaghaft strich er ihr über das Haar. "Bist du okay?"
Ein Kopfschütteln. Ein kurzes Schluchzen. Guter Gott, sie weinte. Was sollte er tun? "Was ist los, Honey?" Verlegen tätschelte er ihre Schulter und zog die Hand zurück, als sie erstarrte. "Möchtest du darüber reden?" Cory zuckte mit den Schulten!. "Ich vermisse meine Mom", sagte sie mit tränenerstickter Stimme. "Heute ist mein Geburtstag..." "Mom wäre stolz auf dich gewesen", erwiderte Mike. "Ich bin es jedenfalls. Was du getan hast, war unglaublich. Ich hatte keine Ahnung, daß du so gut schwimmen kannst." "Weil du mich nicht kennst." Ihr tränennasses Gesicht brach ihm fast das Herz, als sie ihn ansah. "Du hast dir nie die Zeit dafür genommen ..." Sie schrie ihn nicht an. Sie fauchte nicht. Sie sprach leise, und das tat Mike besonders weh. Entschuldigungen lagen ihm auf der Zunge. Erklärungen, vernünftige Begründungen. Doch er sprach sie nicht aus. "Ich wollte nicht so oft fort sein", sagte er statt dessen. "Es ging nicht anders, weil ich Geld verdienen mußte, Corinne. Ich dachte, du bist inzwischen alt genug, um das zu verstehen." "Und wenn du zu Hause warst?" "Wenn ich zu Hause war, hast du dich von mir zurückgezogen, als wäre ich ein Fremder." "Weil du ein Fremder warst", rief sie mit blitzenden Augen. "Du kamst nach Hause, und alles wurde anders. Mom veränderte sich, wurde mürrisch und war nicht mehr lustig. Nie hatte sie Zeit für mich. Wenn du weg warst und ich mich nicht mit meinen Freunden treffen konnte, hat sie immer etwas mit mir unternommen. Sie gehörte mir, wir waren Freundinnen. Das hat sie immer gesagt. Außer, wenn..." "Wenn ich zu Hause war", beendete Mike den Satz, während Corinne wieder nach vorn starrte. "Mir scheint, mein kleines
Mädchen, daß das Problem nicht darin lag, daß ich dich nicht wollte, sondern du mich nicht." Und darin, daß deine Mutter nichts getan hat, um daran etwas zu ändern, dachte Mike bitter. Ganz im Gegenteil... Corinne antwortete nicht. Kaum hielt er am Straßenrand, öffnete sie die Beifahrertür. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. "Ob es dir gefällt oder nicht", sagte er leise. "Mom ist fort, und ich bin alles, was du hast." Er drehte ihr Gesicht zu sich, doch sie sah ihn nicht an. "Meinst du nicht, es ist an der Zeit, daß du uns beiden eine Chance gibst?" Sie schwieg, sah ihn noch immer nicht an, versuchte aber nicht, sich von ihm loszureißen. Mike wartete, hoffte, betete. Er hatte sein Bestes gegeben und wußte nicht, was er noch sagen konnte, es sei denn ... "Ich liebe dich, Baby." Die Worte kamen wie von selbst. Und als Corinne schluchzend den Kopf an seine Schulter legte, sprach er sie noch einmal aus. Er legte die Arme um Cory und drückte sein weinendes Kind ans Herz.
8. KAPITEL Es war ein Anfang. Ein Wendepunkt. Mike hatte keine wundersame Verwandlung erwartet, und das war gut so, denn er wäre enttäuscht worden. An den folgenden Tagen legte sich die Spannung zwischen Corinne und ihm immer mehr. Sie rebellierte nicht mehr, erledigte ihre häuslichen Pflichten, arbeitete in der Schule und in Ediths Atelier und war sogar nett zu ihm. Manchmal. "Sie ist ein Teenager", erklärte Hally, als er sich über die Launenhaftigkeit seiner Tochter beschwerte. "In dem Alter sind Kinder immer unberechenbar. Am besten nimmst du alles einfach so, wie es kommt." "Bei Joey ist sie nie launisch." "Natürlich nicht", sagte Hally lachend. "Ihn will sie ja auch beeindrucken." "Hmm." Stirnrunzelnd betrachtete Mike die aus der Schule strömenden Schüler. "Wo bleibt sie denn?" knurrte er mit einem Blick auf die Uhr. Kurz darauf erschien seine Tochter. Sie war allein. "Hi, Miss McKenzie. Hi, Dad. Hast du mit ihr gesprochen?" Mit ihr gesprochen? Fragend sah Hally Mike an. "Wir haben miteinander gesprochen, aber nicht darüber", sagte er. "Worüber?" wollte Hally von Corinne wissen.
Das Mädchen warf ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu. "Aber du hast es doch versprochen." "Stimmt. Hier." Er reichte Cory die Wagenschlüssel. "Geh schon vor. Ich begleite Miss McKenzie zu ihrem Wagen und rede mit ihr." Corinne nahm die Schlüssel. Der Blick, den sie Hally im Davongehen zuwarf, war hoffnungsvoll und flehentlich zugleich. "Bis dann", sagte sie zaghaft. Hally ging mit Mike die Treppe hinunter. "Worum geht es?" "Um eine Verabredung." "Eine Verabredung?" wiederholte Hally aufgeregt. Konnte es sein, daß Corinne ihre Lehrerin und ihren Vater miteinander ... "Joey will mit Corinne ins Kino", holte Mike sie jäh aus ihrem Traum. Sie war heilfroh, daß er keine Gedanken lesen könnte. "Heute abend." "Ich verstehe." Das tat sie keineswegs. "Und was hat das mit mir zu tun?" "Na ja ..." Mike ließ ihr den Vortritt, als sie zwischen den Wagen auf dem Lehrerparkplatz hindurchgingen. "Da ich ... um es mal so auszudrücken ... nicht gerade begeistert war, meinte Corinne, ich sollte mit Ihnen darüber sprechen. Sie findet Sie irgendwie ... cool... oder wie immer man das heute nennt. Ich übrigens auch." "Danke", murmelte sie und schloß die Fahrertür ihres VWKäfers auf. Als sie sich wieder aufrichtete, stand sie direkt vor Mike. Mit einem nervösen Lachen sah sie sich um und wich zurück. "Also fragen Sie mich, ob Sie es Corinne erlauben sollen?" "Ja. Außerdem frage ich mich, wie vertrauenswürdig dieser Gonzales-Junge ist." "Also, erst einmal heißt der Gonzales-Junge Joey", erwiderte Hally. Mikes herablassender Tonfall ärgerte sie. "Und ob er vertrauenswürdig ist? Mal sehen. Er ist das älteste von vier Kindern. Die Mutter ist Witwe. Er ist ein guter Schüler, geht auf
die Garibaldi-High-School und hat nach der Schule gleich zwei Jobs. Er mäht nicht nur unsere Rasen, sondern hütet hin und wieder auch das Haus bei mir und meiner Mutter, und Chaucer findet ihn toll." Sie schob das Kinn vor und sah in Mikes zutiefst erstauntes Gesicht. "Vertrauenswürdig genug für Sie, Mr. Parker?" "Ja, Ma'am." Er unterdrückte ein Schmunzeln und widerstand der Versuchung, ihr eine Locke aus der Stirn zu schieben. "Offenbar habe ich einen wunden Punkt getroffen." "Ja, das haben Sie. Ich kann Arroganz nicht ausstehen." "Und Sie halten mich für arrogant, weil ich mir um das Wohlergehen meiner Tochter Sorgen mache." Es überraschte Mike, wie sehr ihn ihre Kritik traf. "Was wäre ich für ein Vater, wenn ich das nicht täte?" "So habe ich es nicht gemeint. Es war nur die Art, wie Sie seinen Namen aussprachen." Mike runzelte die Stirn. "Irgendwie ... verächtlich." Sie lachte entschuldigend. "Vielleicht habe ich überreagiert. Joey ist ein guter Junge, manchmal ein wenig ungeschliffen, sicher, aber nur weil er einen Latino-Namen hat, denken manche Leute ... Mikes Blick ließ sie verstummen. "Und Sie halten mich für einen von diesen Leuten?" fragte er gekränkter, als er sich je zuvor gefühlt hatte. "Ich hatte gehofft, daß Sie mich inzwischen besser kennen." Er drängte sich an ihr vorbei und ging davon. "Mike!" rief Hally. "Was soll das?" "Liebeskummer?" Es war Gilbert Smith. Hally schloß die Augen und zählte stumm bis zehn, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Er lehnte an seinem alten Subaru, ein schadenfrohes Grinsen auf dem Gesicht. Sie fragte sich, wie sie diesen Mann je hatte anziehend finden können. Sie öffnete den Mund, um etwas Schnippisches
zu erwidern, schloß ihn jedoch wieder, ließ Gilbert einfach stehen und stieg in ihren Wagen. Als Hally in ihre Einfahrt fuhr, stand Edith gerade vor ihrer Haushälfte und gab Bill O'Rourke einen zärtlichen Abschiedskuß. Hally stieg aus, winkte den beiden kurz zu und eilte hinein. Sekunden später stand Edith in der Küche. "Du warst sehr unfreundlich zu Bill, Halloran." "War ich nicht." Hally warf die Schlüssel hin und stellte den Kessel auf den Herd. "Ich wollte nur nicht stören." Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme. "Bist du in ihn verliebt, Mutter?" "Hast du etwas dagegen?" fragte Edith leise. "Natürlich nicht." Hally schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, was mit mir los ist..." "Aber ich weiß es", sagte ihre Mutter sanft. Sie ging zu Hally und strich ihr das Haar aus der Stirn. "Ich glaube, du bist einsam. Ich glaube, du ..." "Nein." Wütend rückte Hally von Edith ab. "Fang nicht wieder davon an, Mom. Bitte ..." "Warum denn nicht?" Diesmal ließ Edith sich nicht einschüchtern. "Soll ich untätig zusehen, wie du dich in deiner Arbeit vergräbst, dich für anderer Leute Kinder aufreibst, anstatt eigene aufzuziehen? Anstatt dich zu verlieben und eine glückliche Ehe zu führen?" entgegnete sie mit hochrotem Kopf. "Eine glückliche Ehe?" Mit einem bitteren Lachen wirbelte Hally herum. "Mutter, du solltest am besten wissen, daß das ein Widerspruch in sich selbst ist." "Unsinn!" rief Edith entsetzt. "Dein Vater und ich hatten viele glückliche Jahre ..." "Ha!" "Und es war eher meine als seine Schuld, daß sie zu Ende gingen."
"Was?" Hally starrte ihre Mutter an. "Ich war dabei, hast du das vergessen?" "Keineswegs, Halloran. Aber du warst ein Band." "Ein Kind?" Was war nur in ihre Mutter gefahren? "Ich war fünfzehn, kein Kind mehr. Und ich war einundzwanzig, als es zum großen Knall kam." Ihre Mutter zögerte. "Du weißt nicht alles, Halloran", flüsterte sie schließlich. "Ach, wirklich?" erwiderte Hally sarkastisch. "Was weiß ich denn nicht, zum Beispiel?" "Ich habe gegen den Willen deines Vaters eine Abtreibung vornehmen lassen." "Was?" Mit offenem Mund starrte Hally ihre Mutter an. "Aber..." Edith ließ sich auf einen Stuhl sinken, legte die Hände in den Schoß und betrachtete sie. "Ich habe ihn angelogen", erzählte sie mit ausdrucksloser Stimme, "Ich hatte ihm versprochen, daß ich es nicht tun würde. Er wollte das Kind so sehr ..." "Aber..." wiederholte Hally und schloß den Mund, als ihr fast übel wurde. Sie war entsetzt. Nicht, weil sie gegen Abtreibungen war. Aber wenn eine Frau wußte, daß der eigene Ehemann ... "Du warst krank", wisperte Hally, während sie die Schultern ihrer Mutter umklammerte und ihr ins Gesicht sah. Es war blaß, und der Kratzer, den der Unfall an der Stirn hinterlassen hatte, trat deutlicher als sonst hervor. "Deshalb hast du es getan, Mom. Ich erinnere mich jetzt genau. Du mußtest sogar ins Krankenhaus und ..." "Nein." Edith legte die Hand auf Hallys, als ihre Tochter sie fortnehmen wollte, und schaute ihr in die Augen. "Das war danach. Damit niemand etwas merkt. Weil dein Vater ein bekannter Arzt war, mußte ich anderswo ..." "Nein", stöhnte Hally. "O Mom, warum?"
"Weil ich egoistisch war." Edith biß sich auf die Lippe und wurde noch blasser, aber sie hielt Hallys Blick stand und versuchte nicht, Schuld und Reue zu verbergen. "Ich wollte meine Kunst. Ich hatte Morgan und dich fast allein aufgezogen. Dein Vater hatte seinen Beruf, und ihr Mädchen wart schon fast mit der High-School fertig. Ich wollte nicht noch einmal ganz von vorn anfangen." Erst jetzt sah sie zur Seite, und Hally richtete sich langsam auf. Sie starrte auf den gesenkten Kopf ihrer Mutter, in deren blondem Haar sich noch kein Grau zeigte. "Dein Vater begriff das nicht", fuhr Edith fort. "Er hatte immer ein drittes Kind gewollt. Als ich schwanger wurde, war ich verzweifelt. Er hat sich so gefreut und hoffte, daß es ein Junge werden würde." Hally kamen die Tränen. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, sie wollte kein Wort mehr hören. Aber ihre Mutter schien sich alles von der Seele reden zu wollen. "Er schwor mir, daß er sich um das Kind kümmern würde. Seine Praxis würde endlich laufen, und er habe genug Zeit. Wahrscheinlich wäre er wirklich ein guter Vater geworden. Deine Schwester erzählt jedenfalls, daß er sich rührend um den kleinen ... Na ja, du weißt schon." "Um den Sohn, den er mit Eva hat, kümmert", schloß Hally leise. Sie setzte sich Edith gegenüber hin und legte den Kopf in die Hände. "Weiß Morgan davon?" "Von mir nicht, aber sie steht ihrem Vater sehr nah, und vielleicht hat er es ihr erzählt." Hally sah zur Seite. Sie ertrug es nicht mehr, in das tiefbetrübte Gesicht ihrer Mutter zu schauen. "Und all die Jahre hindurch habe ich ihm allein die Schuld gegeben", sagte sie müde. "Und du hast es zugelassen." "Ich weiß." "Ich weiß?" Entrüstet fuhr Hally herum. "Mehr hast du nicht zu sagen?" Sie wurde lauter. "Mutter, du hast mich angelogen!"
"Ich habe dir etwas verschwiegen", verteidigte sich Edith. "Aus Feigheit, aus Angst. Ich hatte deinen Vater verloren und wollte nicht auch noch meine Töchter verlieren." Beschwörend hob sie die Hände. "Ich habe nie schlecht über deinen Vater gesprochen." "Das stimmt, das hast du nicht. Du brauchtest es auch nicht. Du hast geschwiegen und das unschuldige Opfer gespielt, während Ich meinen Vater aus meinem Leben verbannt habe." Zutiefst verletzt preßte Hally die Hand auf den Mund, als sich ihr ein Schluchzen entrang. "Wie konntest du nur?" fragte sie, bevor sie nach ihrer Tasche griff und aufsprang. Ziellos fuhr Hally durch die Gegend. Es war Mittag, und zum Glück herrschte nicht viel Verkehr. Ihr war, als hätte sie den Boden unter den Füßen verloren. Ihr Leben ... Ihre Mutter ... Hally wurde schlecht, als sie daran dachte, daß sie fast ihr ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut hatte. Sie preßte eine Hand an den Bauch und hielt am Straßenrand. Sie schaltete den Motor aus und legte die Stirn ans Lenkrad. Ihr Vater. Du weißt nicht alles, Halloran. O Gott. Sie biß sich auf die Lippe, um nicht laut aufzuschluchzen, und atmete tief durch. Sie öffnete das Fenster. Zusammen mit der Hitze drang auch ein wenig frische Luft herein. "Halloran?" Mike mußte ihren Namen wiederholen und ihre Schulter berühren, bevor Hally den Kopf hob. Blinzelnd und mit geröteten Augen Sah sie ihn an. "Was ist passiert?" fragte er besorgt. "Ist es Cory?" "Cory?" sagte Hally verwirrt. Wo war Mike Parker plötzlich hergekommen? "Was ist passiert?" Am liebsten hätte er die Wagentür aufgerissen und Hally tröstend an sich gezogen. "Wie kann ich helfen?"
"Helfen?" Sie starrte zu ihm hinauf. "Wie kommen Sie hierher?" fragte sie heiser. Ihr Hals schmerzte von den Tränen, die sie nur mit Mühe unterdrückte. "Was tun Sie hier?" "Ich wohne hier." Mike zeigte auf ein Haus. Es war seins. "Sie sind hergefahren", erklärte er und sah ihr ins Gesicht. "Haben Sie das nicht gewußt?" "Nein." "Kommen Sie herein. Gut, daß ich aus dem Büro gekommen bin, um mich umzuziehen", sagte er, während er die Tür öffnete und ihr heraushalf. Wie benommen ließ sie sich ins Haus führen und aufs Sofa setzen. Er nahm neben ihr Platz und wärmte ihre eiskalten Hände in seinen. "Tut mir leid", krächzte sie und sah ihn nicht an, während sie sich gegen die Tränen wehrte. "Ich sollte nicht ... hiersein. Sie ... Ich meine, Ich ... Wir sind ..." Ihre Stimme versagte. "Sie sind genau dort, wo Sie sein sollten", erwiderte Mike, und sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Schluchzend verbarg sie das Gesicht an seiner Brust und weinte. Mike hielt sie fest, tröstete sie, streichelte sie. Und später, als Hally vom Weinen erschöpft war, aber reden wollte, rückte er ein wenig von ihr ab und hörte aufmerksam zu. "Bestimmt finden Sie es seltsam, daß ausgerechnet eine Frau, die Probleme mit ihrem Vater hat, Ihnen und Cory Ratschläge erteilen will", sagte sie, nachdem sie ihm alles erzählt hatte. Daran hatte Mike gar nicht gedacht, und das sagte er ihr. "Im Gegenteil. Wer könnte uns besser führen als jemand, der sich verirrt, aber wieder auf den rechten Weg zurückgefunden hat?" "Genau das ist es", rief Hally verzweifelt. "Ich habe den Weg nicht gefunden." "Doch, das haben Sie." Vorsichtig und behutsam zog Mike sie an sich. "Sie haben den Weg zu mir gefunden."
Er schaute auf ihre Lippen hinab, und sie öffneten sich. "Ich werde dich jetzt küssen, Halloran", flüsterte er. "Ja", hauchte sie, und ihr Seufzen verstummte, als seine Lippen ihre berührten. Sie fing gerade an, den Kuß zu genießen, als er auch schon endete. Mike löste sich ein wenig, und sie öffnete die Augen. "Das war für später. Für danach." "Danach?" "Ja, danach." Er stand auf und zog sie mit sich. "Nachdem du getan hast, was du Cory und mir geraten hast - mit der Vergangenheit Frieden zu schließen, sie zu akzeptieren und einen neuen Anfang zu wagen." Er, führte sie zur Tür und zu ihrem Wagen. Als sie am Steuer saß, beugte er sich hinein und küßte sie noch einmal. "Ich würde sehr gern ein Teil deines neuen Anfangs sein." Edith war nicht daheim. Obwohl Hally sich gern mit ihrer Mutter ausgesprochen hätte, war sie doch erleichtert. Am nächsten Tag ging sie nach der Schule sofort nach nebenan. Die Tür zum Atelier stand offen, also klopfte sie nicht. Edith saß auf dem Hocker vor dem Zeichentisch und drehte sich nicht um. Hally blieb einen Moment in der Tür stehen, bevor sie hinüberging, Edith die Hände auf die Schultern legte und sie auf den Kopf küßte. "Ich liebe dich, Mom." Schluchzend warf Edith die Zeichenkohle hin und wandte sich um. "O Hally." Sie preßte die Wange an Hallys Brust. "Verzeih mir. Bitte, verzeih mir." "Psst." Hally strich ihr über den Kopf. "Es gibt nichts zu verzeihen, Mom. Nichts." "O doch", rief Edith und bog sich nach hinten, um ihre Tochter anzusehen. "Ich war feige und dumm. Ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du mich verachtest. Ich verachte mich nämlich selbst."
"Hör auf, Mom." Hally beugte sich vor. "Ich war verletzt, verwirrt und ... ja, ich war auch wütend. Ich mußte erst einmal über alles nachdenken. Du kennst mich ja ..." "Du willst immer perfekt sein", meinte ihre Mutter und tupfte sich, wie Hally jetzt auch, die Augenwinkel ab. "Ich habe dich nicht verdient, wirklich nicht." Hally schmunzelte. "O Mom ..." Sie umarmte Edith. "Langsam glaube ich, wir beide haben einander verdient." Danach redeten sie, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatten. Edith goß ihnen ein Glas Weißwein ein, und sie tranken es im Schatten des riesigen Banyan-Baums, der sich wie ein grünes Dach über den gesamten Garten erhob. Irgendwann sprach Hally über Corinne. Und über Mike Parker. Es dauerte noch einige Tage, bis Hally den Mut aufbrachte, ihren Vater aufzusuchen. Sie hätte gern mit Mike darüber gesprochen, aber sie hatte ihn seit dem Nachmittag in seinem Haus nicht mehr gesehen. Corinne kam vorbei, um ihr dafür zu danken, daß sie ein gutes Wort für Joey eingelegt hatte. Als Hally schließlich vor dem schmiedeeisernen Gitter stand, das den Eingang zur Villa ihres Vaters verschloß, wischte sie sich die vor Aufregung feuchten Hände an der Hose ab. Bevor sie auf den Klingelknopf drücken konnte, kam ein kleiner Junge in den Hof gerannt. Hally erstarrte. Das mußte der Sohn ihres Vaters sein. Er sah aus wie der Junge auf den Kinderfotos von James McKenzie. Der Kleine versteckte sich hinter dem Springbrunnen in der Mitte des Hofs und signalisierte ihr mit an den Mund gelegtem Finger, sie nicht zu verraten. Eva, James McKenzies junge Frau, eilte ins Freie. "Sean McKenzie", rief sie atemlos. "Du kommst sofort her, oder du wirst es bereuen."
Der Junge rührte sich nicht vom Fleck, während der suchende Blick seiner Mutter Hally erfaßte. "Ja?" fragte sie ein wenig hochnäsig. "Ich würde gern Dr. McKenzie sprechen", erwiderte Hally so kühl wie möglich. "Es tut mir leid, aber mein Mann empfängt zu Hause keine Patienten. Sie werden einen Termin ..." "Ich bin keine Patientin", unterbrach Hally sie verärgert. "Ich bin seine Tochter. Seine andere Tochter", fügte sie hinzu. "Ich verstehe", antwortete Eva McKenzie nach kurzem Zögern, und Hally freute sich über ihre Verblüffung. Aus Freude wurde Belustigung, als Eva sie nervös musterte. "Sean", rief sie noch einmal. "Ab ins Haus. Sofort." Der Junge rannte davon, aber nicht bevor er Hally einen halb neugierigen, halb ängstlichen Blick zugeworfen hatte. Hally fragte sich, was man dem Jungen über sie erzählt hatte. Wohl nichts Gutes, dachte sie, als Eva mit feindselig funkelnden Augen näher kam. "Wie können Sie es wagen, hier aufzutauchen? Nach allem, was Sie uns angetan haben?" fauchte die Frau ihres Vaters. "Aber ich ..." Hally war sicher, nicht richtig verstanden zu haben. "Wovon reden Sie? Ich kenne Sie ja nicht einmal." "Genau." Die Stimme der Frau zitterte. "Und doch besitzen Sie seit Jahren die Unverschämtheit, mich zu verurteilen." Sie straffte die Schultern. "Was wollen Sie?" "Ich will meinen Vater sprechen." "Er will Sie aber nicht sprechen." "Das würde ich gern von ihm selbst hören", erwiderte Hally. "Gern." Mit einem Lächeln, bei dem es Hally kalt den Rücken hinunterlief, winkte Eva in den Hof. "Jim!" Hally erstarrte, als ihr Vater aus dem Schatten des Springbrunnens trat. Er sprach mit abgewandtem Gesicht und ohne die Hände zu heben, doch jedes Wort traf sie wie eine Ohrfeige.
"Geh nach Hause, Halloran. Du hast hier nichts zu suchen."
9. KAPITEL Irgendwann später fand Hally sich erneut vor Michael Parkers pinkfarbenem Haus wieder. Ohne groß darüber nachzudenken, war sie hergefahren, und jetzt saß sie wie gelähmt in ihrem Wagen und starrte vor sich hin. Du hast hier nichts verloren ... Die Worte ihres Vaters waren wie ein Peitschenhieb gewesen und hallten ihr noch immer in den Ohren, bis sie mit einem leisen Aufschrei den Kopf senkte und sich zusammenkrümmte. Sie wollte ihn nicht mehr hören, wollte nicht mehr denken, nicht mehr leiden ... Nach einer Weile stieg sie aus. Sie stolperte den Weg entlang und hämmerte mit den Fäusten an die Haustür. "Mike!" Sie preßte die Stirn gegen das verwitterte Holz. "Mike, bitte!" Mike riß die Tür auf. "Halloran!" rief er überrascht, als Hally ihm fast in die Arme taumelte. "O Mike..." Ihr Wimmern brach ihm fast das Herz. "Hally ..." Er zog sie an sich und spürte, wie sehr sie zitterte. "Wer hat dir weh getan?" fragte er und küßte sie auf die Schläfe, die Stirn, das Haar, während sie sich trostsuchend an ihn schmiegte.
"Halt mich fest", flüsterte sie mühsam, denn der grausame Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. "Bitte ... halt mich einfach nur fest..." "Das tue ich, Liebling, das tue ich." Mike strich ihr über den Rücken. "Ich bin da." Liebling. Hallys wundes Herz sog das Wort auf wie einen heilenden Balsam. "Ich wollte immer nur seine Liebe", sagte sie. "Mehr nicht. Und er ... er hat mich weggeschickt..." Mike erstarrte. Wovon redete sie? War sie hier, damit er sie tröstete, nachdem ein anderer Mann sie abgewiesen hatte? "Ich dachte, er wollte sich mit mir aussöhnen", fuhr Hally fort. "Als ich ihn im Krankenhaus traf ..." Mike war sich zu schade, für eine sitzengelassene Frau den Tröster zu spielen. "Was soll das? Glaubst du etwa, ich habe keine Gefühle?" Abrupt ließ er sich los und funkelte sie an. "Für wen hältst du mich? Für eine gute Freundin, bei der du dich ausweinen kannst? Ich bin ein Mann, verdammt!" Wie vom Blitz getroffen, mit offenem Mund sah Hally ihn an. Bevor sie etwas sagen konnte, küßte er sie. "Ich bin ein Mann", wiederholte er, während er ihre Schultern packte und sie schüttelte. "Ich weiß." Hally wußte nicht, worauf er hinauswollte. "Ich habe nie ..." "Stimmt." Er ließ sie los. "Du hast nie ... Weil für dich alles nur ein Job ist. Du hilfst einer Schülerin in Not und würzt das Ganze mit einem kleinen Flirt mit ihrem Trottel von Vater ..." "Trottel von Vater?" wiederholte Hally entgeistert. "Um Himmels willen, Mike, was ist in dich gefahren?" "Ich weiß, ich bin dir etwas schuldig, Halloran McKenzie, aber..." "Du bist mir gar nichts schuldig."
"Mir reicht es." Er ging zu der Tür, die, wie Hally sich erinnerte, in sein Schlafzimmer führte. Dort drehte er sich um. "Wenn du soweit bist, daß du meine Liebe willst, können wir vielleicht reden. Bis dahin verschwinde aus meinem Leben." Hally zuckte zusammen, als er die Tür hinter sich ins Schloß warf. Wenn du soweit bist, daß du meine Liebe willst... Was meinte er damit? Sie war hergekommen, um ... Warum war sie hergekommen? Bestimmt nicht, um sich so behandeln zu lassen, dachte sie voller Empörung. "Mike Parker, komm heraus, und erklär mir, was los ist!" Die Tür flog auf. Er mußte dahinter gewartet haben. "Du zuerst", knurrte er und verschränkte die Arme. "Dieser Typ, der dich so aus der Fassung gebracht hat, wer ist er?" "Mein Vater." Hally genoß sein verblüfftes Gesicht. Zugleich stieg in ihr eine zaghafte Freude auf, als ihr klar wurde, daß Mike angenommen haben mußte ... Wenn du soweit bist, daß du meine Liebe willst... Bedeutete das ... Hatte er gemeint, daß er ... "Michael?" Sie machte einen zaghaften Schritt auf ihn zu. "Sag doch etwas. Bitte." "Dein Vater." Aufstöhnend rieb er sich die Augen. Was war er doch für ein Esel! Kein Wunder, daß Cory und er Probleme hatten - bei einem so gefühllosen Vater. "Ich bin wirklich ein Riesentrottel." "Ja, das bist du." Hally ging zu ihm, nahm seine Hände von seinem Gesicht und hielt sie fest, während sie ihm in die Augen sah. "Ich bin verrückt nach dir", gestand Mike leise. "Ich bin eifersüchtig, ich bin mißtrauisch, und ich habe eine Heidenangst davor, daß du irgendwann beschließt, daß Cory dich nicht mehr braucht." Er lächelte wehmütig. "Weil ich dich brauche,
Halloran. Mehr, als ich jemals einen Menschen gebraucht habe oder brauchen werde." Hallys Herz schlug wie wild, und die Welt schien nur noch aus den Gefühlen zu bestehen, die sie in Mikes Augen las. Leidenschaft, Verlangen, Reue, Sehnsucht. Und Liebe? Sag es mir, dachte sie, atemlos vor Hoffnung und Vorfreude. Sie ließ den Blick über seine markanten Züge wandern, bis er auf dem Mund ruhte. Küß mich. "Zeig es mir ..." Mikes Antwort auf Hallys- Einladung war ein Kuß, so heiß und gierig, so stürmisch und intensiv, daß ihre Knie weich wurden. Seine Zunge tastete nach ihrer, verlockte sie, spielte mit ihr, bis in ihnen beiden aufloderte, was viel zu lange nur geglüht hatte. Mike hatte nicht mehr geglaubt, so etwas je wieder zu erleben, je wieder eine Frau zu finden, die er besitzen und beschützen wollte. Er zog seine Halloran an sich. Sie paßte perfekt in seine Arme, und die leisen Laute, die sie ausstieß, waren Musik in seinen Ohren. "Ich will dich", flüsterte er. Hally legte den Kopf in den Nacken, als er ihren Hals küßte und sie sein Verlangen spürte. Ihr eigenes Verlangen stand seinem in nichts nach. Es war durchdringend, berauschend und aufregend neu. Sie konnte Mike nicht nah genug sein und drängte sich gegen seine Hand, als sie seine an ihrem bloßen Rücken fühlte. Und dann schob er die Finger unter ihren BH, und sein Daumen fand eine Knospe und streichelte sie, während er mit Lippen und Zunge wieder ihren Mund eroberte. Sie schmiegten und klammerten sich aneinander und kosteten das Wunder ihrer Leidenschaft füreinander so sehr aus, daß sie alles um sich herum vergaßen. Daher hörten sie auch nicht, wie die Haustür aufging und Cory und Joey hereinkamen. Erst als die Tür nach dem eiligen Rückzug der beiden laut ins Schloß fiel, lösten sie sich hastig voneinander.
"Corinne!" Mike warf Hally einen entsetzten Blick zu und rannte ins Freie. Seine Tochter stand auf dem Weg und versuchte sich von Joey loszureißen, der sie an den Schultern festhielt und beruhigend auf sie einredete. "Cory, komm ins Haus." Mike ergriff ihren Arm. "Danke, Joey. Wir sehen uns, okay?" "Sicher", erwiderte der Junge ohne jede Verlegenheit, während Cory ihren Vater anschrie. "Nein! Laß mich los!" rief sie fast hysterisch. "Joey!" Mike drehte sie mit sanfter Gewalt zum Haus. Joey eilte mit gesenktem Kopf davon. "Ich hasse dich", wütete Cory, als ihr Vater sie zur Tür führte. "Nein, das tust du nicht", sagte Mike, war aber keineswegs davon überzeugt. Der Blick, den seine Tochter ihm zuwarf, erinnerte ihn schmerzhaft an Zeiten, von denen er gehofft hatte, sie nie wieder erleben zu müssen. "Wir reden jetzt über alles, und du wirst sehen ..." "Nein, werde ich nicht", unterbrach sie ihn und hielt sich am Rahmen der Haustür fest. In ihrem verzerrten Gesicht spiegelte sich tiefe Verachtung. "Ich habe genug gesehen. Mom hatte recht - du bist ein Schürzenjäger!" "Corinne!" entfuhr es Hally. Das Mädchen rannte an ihr vorbei. "Die Bemerkung wirst du mir erklären, junge Lady!" dröhnte Mike und folgte ihr. Besorgt ging Hally hinterher. Die Zukunft, die ihr eben gerade noch so rosig erschienen war, kam ihr jetzt trübe vor. Sie hatten Corinne vergessen. Corinne, die zu vertrauen begonnen hatte, die mehr als alles andere Stabilität brauchte, damit aus diesem Vertrauen eine enge und feste Bindung zwischen Vater und Tochter werden konnte.
Wie konnte ich das nur aus den Augen verlieren? fragte Hally sich. Unsere ganze Beziehung, die zwischen ihr und mir ebenso wie die zwischen Mike und mir, beruht darauf. Was hatte Corinne ihrem Vater an den Kopf geworfen? Schürzenjäger. Nicht gerade ein Wort, das zum Standardvokabular einer Fünfzehnjährigen gehörte, aber eins, mit dem eine verbitterte Ehefrau ihren dauernd abwesenden Mann bezeichnete. Aber was für eine Frau nannte ihren Mann in Gegenwart des gemeinsamen Kindes so? Die Antwort auf diese Frage schockierte Hally bis ins Mark. Es war die Art von Frau, die den Vater ihres Kindes durch Schweigen in den Schmutz zog. So, wie Edith es getan hatte ... Offenbar war jede Frau unter bestimmten Umständen zu einem gewissen Maß an Grausamkeit fähig. Aus Corinnes Zimmer drangen laute Stimmen. Mike verlangte erneut eine Erklärung von seiner Tochter. "Was soll ich dir erklären?" antwortete Corinne aufgebracht. "Es ging dir die ganze Zeit nicht um mich, sondern um Miss McKenzie! Das war alles nur Schau!" Gütiger Himmel, bitte ... Hally lehnte sich gegen die Wand und wehrte sich gegen die Übelkeit, die in ihr aufstieg. Es kam ihr vor, als würde sie sich selbst hören. Sich selbst, vor zehn oder fünfzehn Jahren, wie sie ihrem eigenen Vater heftige Vorwürfe machte. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ein anderes junges Mädchen die nächsten zehn oder mehr Jahre damit verbrachte, eine Lüge zu leben, die ihr eine rachsüchtige Mutter eingeflößt hatte. "Hört auf!" Sie stürmte in das Zimmer, und die Streitenden verstummten verblüfft. "Ihr kämpft den Kampf einer toten Frau. Ihr lebt in der Vergangenheit anstatt in der Gegenwart, in der euch nichts trennt. Corinne ..."
Beschwörend sah sie ihre Schülerin an. "Was immer deine Mutter über deinen Vater gesagt hat, es hat nichts mit dir zu tun! Wenn Erwachsene sich streiten, sagen sie viele Dinge, um sich gegenseitig zu verletzen, wie Kinder auch. Das Problem ist ... und ich weiß, wovon ich rede, glaub mir ... Kinder verstehen manches von dem, was in der Hitze des Gefechts gesagt wird, einfach falsch. Sie nehmen es als ewige Wahrheit an und tragen es viel länger mit sich herum als die Erwachsenen." Hally holte tief Luft und hob die Hand, als Mike sich einmischen wollte. "Bitte, ich bin noch nicht zu Ende." Sie schaute Corinne in die verweinten Augen. "Ich bin heute hergekommen, weil ich mich mit meinem Vater aussöhnen wollte. Zehn Jahre lang hatte ich kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Vorhin war ich bei ihm. Er hat mich weggeschickt." Hally mußte sich auf die Lippe beißen, um die Tränen zu unterdrücken. "Ich habe zu lange gewartet", fuhr sie fort. "Mir ist erst heute klargeworden, daß ich ihn so tief verletzt habe, daß er mir nicht mehr verzeihen kann. Mach bitte nicht den gleichen Fehler, Corinne. Du würdest es bereuen, das versichere ich dir. Und dein Vater ..." Endlich sah sie Mike an. "Dein Vater hätte es nicht verdient." Sie drehte sich um und rannte hinaus. Mike warf seiner Tochter einen Blick zu und eilte hinter ihr her. "Halloran!" Hally blieb nicht stehen. Blind vor Tränen schüttelte sie den Kopf. An der Haustür holte Mike sie ein und hielt sie fest. "Wir sind noch nicht fertig", sagte er atemlos. "Ich liebe dich." "Liebe nicht mich", erwiderte sie schluchzend. "Liebe deine Tochter." "Aber ich kann euch beide lieben."
Hally schüttelte den Kopf. "Nicht, wenn du willst, daß Cory deine Liebe erwidert. O Mike ..." Sie mußte ihn einfach berühren und strich ihm federleicht über die Wange. "Verstehst du denn nicht? Sie muß für dich an erster Stelle stehen, wenn sie eine reife, erwachsene Frau werden soll. Das wird sie erst werden können, wenn sie sich deiner Liebe sicher ist." Mike nahm Hallys Hand und preßte sie an seine Wange. "Und wann wird das sein?" "Ich weiß es nicht." Es fiel ihr unendlich schwer, ihre Hand fortzuziehen, aber sie tat es. "Ich wünschte, ich wüßte es." "Und ... wirst du dann dasein?" Mike fühlte sich wie in einem Alptraum. Was hatte er seiner Frau und seinem Kind angetan, um das hier zu verdienen? War es so verwerflich, sich krummzulegen, um den Traum zu verwirklichen, den Becky und er geteilt hatten? Sie hatte ihn als Schürzenjäger beschimpft. Ihn, der sie nicht ein einziges Mal betrogen hatte. Er würde damit fertig werden, das wußte er - aber nur, wenn Hally ihm dabei half. "Wirst du dasein?" fragte er noch einmal. "Ich fürchte, das weiß ich auch nicht", antwortete sie leise. Hally hatte vor, den Sonntag im Bett zu verbringen, und schützte Kopfschmerzen vor, als Edith auf dem Weg zum Brunch und einer Ausstellung bei ihr vorbeischaute. "Fieber hast du nicht", sagte Edith, nachdem sie Hallys Stirn gefühlt hatte, und kochte ihr eine Kanne Kamillentee. "Geh und amüsier dich", erwiderte Hally und brachte sie zur Tür. "Ich komme schon zurecht. Du weißt ja, wie es mir manchmal geht." "Genau." Auf der Veranda drehte ihre Mutter sich noch einmal um. Am Fuß der Treppe wartete Sergeant O'Rourke in Zivil. Verlegen winkte er Hally zu, die sich ihren alten Bademantel übergezogen hatte. "Mach dir eine Wärmflasche", riet Edith.
Hally gab ihr einen Abschiedskuß. Ihre Mutter war manchmal übertrieben fürsorglich, aber sie war ihr dankbar für die Zuwendung. Sie fragte sich, wie Corinne in solchen Situationen zurechtkam. Unter der Dusche wünschte sie plötzlich, sie könnte Corinnes Mutter sein. Eine Ersatzmutter. Oder wenigstens eine mütterliche Freundin. Sie und das Mädchen hatten es fast geschafft. Aber jetzt... Hally schloß die Augen und ließ den Tränen freien Lauf. So gern sie Corys Freundin wäre, noch mehr sehnte sie sich nach Mike Parkers Liebe. Wie es im Moment aussah, würde sie wohl keines von beiden erreichen. Und würde sie untätig zusehen, wie sie alles verlor? Hally war viel zu deprimiert, um den Trotz, der in ihr aufkeimte, in die Tat umzusetzen. Sie wollte in ihren Jogginganzug schlüpfen, ihre Wunden lecken und mit niemandem reden. Ihr Vater hatte sich diesen Sonntag offenbar völlig anders vorgestellt.
10. KAPITEL "Hallo." Als Hally James McKenzie sah, war ihr erster Impuls, ihm die Tür vor der Nase zuzumachen. Sie starrte auf den Mann, der trotz der Bräune und des weißen Tennisoutfits erschöpft aussah. Obwohl sie es nicht wollte, empfand sie Mitgefühl mit ihm. "Darf ich hereinkommen?" fragte ihr Vater. Anstatt zu antworten, machte sie ihm den Weg frei und schaute zu Boden, als ihr der Duft seines teuren Aftershave, den sie aus der Kindheit so gut kannte, in die Nase stieg. Als ihr bewußt wurde, daß er auf sie wartete, hob sie den Kopf und ging vor ins Wohnzimmer. "Schön hast du es hier", sagte er, nachdem er sich kurz umgesehen hatte. "Danke." "Du fragst dich sicher, warum ich gekommen bin." Hally betrachtete ihre Hände. "Ich frage mich, warum du mir gestern so weh getan hast." "Dafür entschuldige ich mich." Ihr Vater seufzte, und auch er schaute auf seine Hände, während er nach den richtigen Worten suchte. "Ich gebe es nur ungern zu", begann er schließlich, "aber ich bin das, was man in meinem Alter als Pantoffelheld bezeichnet. Wahrscheinlich ist das der Preis, den man bezahlen muß, wenn
man eine wesentlich jüngere Frau heiratet. Noch dazu eine Frau, die glaubt, daß die Tochter ihres Mannes sie verachtet. Aber natürlich hast du nicht sie, sondern mich verachtet. Du warst immer mehr das Kind deiner Mutter als meins." "Weil Morgan immer deins war." "Vielleicht." Er seufzte nochmals und ließ sich schwerfällig aufs Sofa sinken. "Es war immer einfacher, Eva nachzugeben, als ihr zu widersprechen. Bis jetzt. Bis gestern." Fasziniert lauschte Hally dem Geständnis ihres Vaters. James McKenzie, das strenge Familienoberhaupt, der angesehene Arzt, ein Pantoffelheld? "Nachdem ich dich weggeschickt hatte, gab es einen furchtbaren Streit zwischen Eva und mir. Ich weiß, es tröstet dich nicht, aber ich habe ihr gesagt, daß sie sich in Zukunft aus dem, was uns beide betrifft, heraushalten soll." "O Dad ..." Hally setzte sich zu ihm. "Ich wollte nicht, daß ihr euch streitet. Ich wollte mich nur mit dir aussprechen und dir sagen, daß ich mich getäuscht habe ..." "Daß du dich getäuscht hast?" James ergriff die Hand seiner Tochter. "Ich habe dir gegenüber so viele Fehler begangen, daß ich sie gar nicht alle aufzählen kann." Sein Blick wirkte gequält, als er den Kopf hob. "Ich wünschte, ich wüßte, wie ich sie wiedergutmachen kann." "Es gibt nichts wiedergutzumachen." Überrascht stellte Hally fest, daß sie das ernst meinte. Sie hatte die Kränkungen ihrer Kindheit überwunden. "Was geschehen ist, ist geschehen", sagte sie. "Ich will darüber nicht richten. Mom hat mir neulich erzählt, warum du sie verlassen hast. Ich wußte es nicht. Ich dachte immer, es wäre meine Schuld gewesen ..." "Das war es nicht", beteuerte James. "Es lag an mir. Du kanntest meine Eltern nicht: Ich wollte nicht, daß du sie kennenlernst. Sie waren Alkoholiker, alle beide, und starben in einem Rattennest am Rand von Las Vegas, als du fünf oder
sechs warst. Woher sollte ich wissen, wie man ein guter Ehemann und Vater wird? Ich hatte kein Vorbild. Ich habe mich selbst großgezogen und mit Händen und Füßen gekämpft, um aus der Gosse zu kommen, eisern und zielstrebig. Das machte mich zu einem guten Arzt, aber zu einem miserablen Ehemann und Vater." "Nicht für Morgan." .. "Morgan war anders als du. Zäher. Sie hat es mir leichtgemacht. Es tut mir leid." "Ja." Durch die Tränen hindurch betrachtete Hally ihre verschränkten Hände. "Mir auch." James McKenzie sah auf die Uhr und stand auf. "Ich möchte, daß wir Freunde werden, Hally, wenn das möglich ist. Daß wir ab und zu zusammen essen gehen und uns langsam besser kennenlernen." "Gern", erwiderte Hally sanft. An der Tür überraschte sie ihn mit einem Kuß auf die Wange. "Auf Wiedersehen, Dad. Wir bleiben in Verbindung ..." Nachdenklich ging Hally in die Küche und setzte Teewasser auf. Die Aussprache mit ihrem Vater war nicht so dramatisch verlaufen, wie sie erwartet hatte, und irgendwie hatte sie sich das Gefühl danach freudiger vorgestellt. Vielleicht lag es daran, daß sie mit Mike ... Hör auf, Mädchen! ermahnte sie sich. Hally schaltete die Herdplatte aus. Was sie jetzt brauchte, war kein Tee, sondern Ablenkung, also machte sie sich daran, ihrem Wagen die längst fällige Wäsche zu verpassen. Aber die Arbeit half nicht, dauernd mußte sie an Mike denken. Er hatte zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich möchte dich sehen und Wir müssen miteinander reden. Beide Male klang er so unglücklich, wie sie sich jetzt fühlte. Früher oder später würde sie mit ihm sprechen müssen.
Schürzenjäger hatte seine Frau ihn genannt. Jetzt war sie tot, und Mike mußte sich seiner Tochter gegenüber rechtfertigen. Was für eine Rache, dachte Hally wütend. Ihr Instinkt verriet ihr, daß Mike alles andere als ein Frauenheld war. Sicher, sie war nicht ganz objektiv, und vermutlich war sie die letzte, die einen Mann beurteilen konnte. Aber sie arbeitete seit zwei Monaten mit ihm zusammen und fand, daß sie ihn gut genug kannte. Warum sprach eine Ehefrau so über ihren Mann? Noch dazu vor ihrem Kind? Vielleicht um eigenes Fehlverhalten zu entschuldigen? Sie würden es wohl nie erfahren. Betrübt schaute Hally zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken ballten sich zusammen. Es würde bald regnen. Heute war wirklich nicht ihr Glückstag - gerade hatte sie den Wagen gewaschen. Das Telefon läutete, als Hally das Haus betrat. Sie wußte, daß es Mike war, und zögerte. Doch dann nahm sie ab. "Hallo?" "Halloran?" Seine Erleichterung war nicht zu überhören, und seine Stimme ging ihr so sehr unter die Haut, daß sie sieh setzen müßte. "Kann ich zu dir kommen?" fragte er. "Bitte ..." "Nein." Sie schüttelte den Kopf. Dann wurde ihr bewußt, daß Mike ihre rasche, spontane Ablehnung falsch deuten mußte. Sie wollte ihm nicht weh tun, sie traute sich nur nicht zu, schon jetzt ein ruhiges Gespräch zu führen. Dazu war sie noch zu aufgewühlt. "Mike", sagte sie so sanft wie möglich. "Was würde es uns nützen?" "Ich finde, es wäre wesentlich besser, als alles so zu lassen, wie es im Moment ist", erwiderte er mit Verzweiflung in der Stimme. "So kannst du es doch nicht beenden wollen." "Man kann nichts beenden, was noch gar nicht begonnen hat." "Für mich hat es begonnen." Mikes Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er wußte nicht, wie lange er noch ruhig
bleiben konnte. "Und als ich dich in meinen Armen hielt, hat es sich verdammt noch mal so angefühlt, als hätte es auch für dich angefangen." Das hatte es. Hally wehrte sich blinzelnd gegen die Tränen. "Es war nur ein Kuß ..." "Du weißt, daß es mehr war." Richtig. Sie schluckte. "Mike, ich will das hier nicht." "Einfach so?" Den Blick auf den Boden gerichtet, ging Mike in seinem Schlafzimmer auf und ab. Mit der einen Hand rieb er sich den verspannten Nacken. "Ich liebe dich, verdammt. Zählt das denn gar nicht?" "Es zählt." "Aber nicht genug, was?" Hally schwieg. Was sollte sie antworten? Ich liebe dich auch? Das tat sie. Aber wenn sie es ihm sagte, würde er gleich vor der Tür stehen. Und was würde seine Tochter davon halten? Mike deutete ihr Schweigen als Zustimmung. "Dann war es das also?" "Es tut mir leid." "Ja." Die Verbitterung schnürte ihm den Hals zu. Kein Wort davon, daß sie dich auch liebt. Kein Wunder, daß sie nicht warten wird ... Na ja. Mühsam holte er Luft. Selbst jetzt brachte er es nicht fertig aufzulegen. "Ich nehme an, das heißt, daß du Corinne nicht mehr helfen wirst." "Nein." Hally konnte kaum noch sprechen. "Jedenfalls nicht außerhalb der Schule. Nach gestern bin ich wohl die letzte, der sie sich anvertrauen würde. Es liegt jetzt bei dir ... bei euch beiden." "Ich verstehe." Hatte er denn aus den letzten Jahren mit Rebecca nichts gelernt? Aber nein, er hatte wieder Hoffnung geschöpft. Nie wieder. Genug war genug. Er war es leid, zu kämpfen, zu bitten.
Halloran McKenzie wollte seine Liebe nicht? Schön. Seine Tochter wollte zurück nach Idaho? Toll. Gleich morgen würde er sich um einen Job in Übersee bemühen. Als er sprach, klang Mike wieder wie der selbstbewußte Manager, der Halloran in der Schule aufgesucht hatte. "Dann bleibt mir nur, mich bei dir zu bedanken." "Mike..." "Es tut mir leid, wenn ich dir Ungelegenheiten bereitet habe. Grüß deine Mutter von mir. Ihr wart beide großartig." O Michael ... Als er auflegte, starb etwas in Hally. Etwas Wichtiges. Etwas Wertvolles. Etwas, von dem sie wußte, daß es sich nicht zum zweiten Mal wiederbeleben lassen würde. Der Traum von einem Mann, einem Heim, einem eigenen Kind. Der Traum, den sie seit dem College nicht mehr zu träumen gewagt hatte. Seit Greg Stahl. Sie legte den Hörer auf und weinte. Thanksgiving kam und ging. Hally verbrachte es ruhig, mit Edith. Bill O'Rourke war natürlich auch da. Oft nahm sie sich vor, nach dem Unterricht mit Corinne zu sprechen, aber bisher hatte sie nicht den Mut dazu aufgebracht. Kurz nach dem Vorfall, wie Hally die unschöne Szene jetzt nannte, hatte das Mädchen eine Entschuldigung gemurmelt. Aber es hatte nichts davon gesagt, daß es Hally wieder in ihrem Leben oder dem ihres Vaters haben wollte. Cory war ein ganz normaler Teenager geworden. Sie kleidete sich zwar noch recht auffällig, aber sie grüßte Hally, nahm aktiv am Unterricht teil und machte die Hausaufgaben. Noch immer kam sie zweimal in der Woche und an manchen Samstagen zu Edith. Aber jetzt fuhr Joey sie, und Edith war, was Corinne betraf, sehr verschlossen. Hin und wieder zeigte sie Hally voller Stolz eine Arbeit ihres Schützlings. An einem trüben Sonntag zwei Wochen vor Weihnachten betrat Edith nach kurzem Klopfen Hallys Haus. Hally benotete
gerade Klassenarbeiten und wäre lieber allein geblieben, denn sie hatte keine Lust, eine fröhliche Miene aufzusetzen. Stumm arbeitete sie weiter, während ihre Mutter erzählte. "Das ist natürlich zum großen Teil Joeys Verdienst", sagte Edith irgendwann. "Was?" fragte Hally, ohne sich umzudrehen. "Hier, sieh dir das an." Edith wickelte eine bemalte Glasscheibe aus. "Das hat Cory gemacht. Es ist Teil einer größeren Arbeit." "Wirklich?" Neugierig nahm Hally das schwere rubinrote, mit einem Bleirand versehene Glas. "Es sieht aus wie das Stück eines Herzens. Was soll es bedeuten?" "Das hat sie mir nicht gesagt. Es ist atemberaubend, nicht?" Atemberaubend? Staunend tastete Hally über die gezackte Kante, die so geschnitten war, als würde Blut aus einer offenen Wunde tropfen. "Es ist außergewöhnlich." "Ja." Ediths Stolz war nicht zu überhören. "Es ist das Beste, was sie je gemacht hat." Seufzend hüllte sie das Stück wieder ins Papier. "Ich werde sie vermissen." "Sie vermissen?" Hally starrte ihre Mutter an. "Was soll das heißen?" "Du weißt es nicht?" "Was weiß ich nicht?" "Daß Corinne nach den Ferien in Idaho leben wird." "Was?" Aber was war mit Mike? Hally heuchelte rein höfliches Interesse. "Seit wann steht das fest?" "Keine Ahnung." Ediths Miene verriet, daß sie sich von Hallys gleichgültigem Ton nicht täuschen ließ. "Du kennst Corinne. Sie verschließt sich, wenn sie aufgebracht ist." "Aber worüber ist sie aufgebracht?" Hally hatte so viele Fragen. "Daß sie nach Idaho muß?"
"Vermutlich. Jedenfalls war sie so unglücklich, daß sie vergessen hat, diese Arbeit mitzunehmen. Ob ich sie ihr schicken soll? Oder soll ich sie ihr vorbeibringen?" "Das kann ich tun." Hally war fest entschlossen, die Parkers nicht ohne eine Erklärung gehen zu lassen. Wenigstens das waren sie ihr schuldig. "Ich kümmere mich darum", versprach sie ihrer Mutter. Edith lächelte. "Das hatte ich gehofft."
11. KAPITEL Hally hatte kaum schlafen können. Endlich besaß sie einen Grund, Corinne anzusprechen. Sie würde dem Mädchen nur etwas geben, das ihm gehörte, und wenn sie ihm anschließend ein paar Fragen stellte ... nun ja, das war doch ganz natürlich, oder? Nachdem sie die Szene mehrmals in Gedanken durchgespielt hatte, war es eine gewaltige Enttäuschung, zu erfahren, daß Corinne nicht in der Schule war. Zumal Hally als Klassenlehrerin und Tutorin vom Büro des Rektors informiert wurde, daß Corinne von der Schule abgegangen war. Nach dem Unterricht fuhr Hally sofort zu den Parkers. Was immer los war, sie wollte es wissen. Mit klopfendem Herzen nahm sie ihre Tasche und Corinnes sorgfältig verpacktes Glasherz vom Sitz und stieg aus. An der Haustür holte sie tief Luft. Nur ihr Trotz gab ihr den Mut zu klopfen. "Oh ... Ich hoffe, ich störe nicht, aber ..." stammelte sie verblüfft, als ein älterer Mann öffnete. Das mußte Mikes Vater sein. "Sie sind bestimmt Miss McKenzie." Parker senior zog sie ins Haus. "Ich habe Sie auf den Fotos gesehen." Fotos. "Mike ist nicht da, aber ... Iris!" rief er. "Wir haben Besuch!"
"Besuch? Wer, um alles in der Welt..." Eine kleine zerbrechliche Frau huschte herbei. "Du meine Güte..." "Es ist Miss McKenzie, Liebes", erklärte Mikes Vater und führte die verwirrte Hally zum Sofa. "Du erinnerst dich ..." "Natürlich." Iris Parker musterte Hally neugierig. "In Natur sind Sie noch hübscher." Hally suchte noch nach einer Antwort, als Corinne in der Tür erschien. "Grandma, ich habe dir doch erzählt, daß sie fast ertrunken wäre." "Und du hast mich gerettet", erwiderte Hally dankbar und drehte sich um. Ihre Blicken trafen sich. Die Augen des Mädchens schimmerten feucht. "Könnte ich einen Moment mit Corinne allein sein?" fragte Hally. "Selbstverständlich", antwortete Mikes Vater. "Sie sind Corinnes Lehrerin, nicht? Lassen Sie sich ruhig Zeit", fügte er hinzu und ging mit seiner zögernden Frau hinaus. "Grandma hat das Foto von Ihnen und Dad gesehen", sagte Corinne. "Das, auf dem er die Arme um Sie legt." "Oh." Hally wurde warm ums Herz, als sie sich daran erinnerte. "Das hat Joey gemacht, nicht wahr?" "Mmm." Corinne setzte sich zu ihr. "Oh, Miss McKenzie ..." schluchzte sie plötzlich. "Was ist denn?" Tröstend zog sie das Mädchen an sich. "Wo ist dein Vater? Was kann ich tun?" "Ich hasse mein Leben! Ich hasse mich selbst!" "Das meinst du doch gar nicht..." "Ich war so gemein", flüsterte Corinne mit tränenerstickter Stimme. "Und er ... ist so ... unglücklich." Wortlos drückte Hally dem Mädchen ihr Taschentuch in die Hand. "Wenn er unglücklich ist, sieht er immer so böse aus. Genau wie nach Moms Tod, nur noch schlimmer. Er lacht gar nicht mehr", erzählte Cory weinend. "Und ich bin schuld daran. Ich
war ... eifersüchtig. Als er mir erzählt hat, daß er sich in Sie ... verliebt hat, da ..." "Er ..." Hally mußte sich räuspem. "Er hat dir erzählt..." "Ja. Er liebt Sie." Corinne putzte sich die Nase, während Hally sie an sich preßte und selbst mit den Tränen kämpfte. "Er hat auch gesagt, daß ... das nichts ändert. Zwischen ihm und mir, meine ich. Daß er mich auch liebt und daß ich das Wichtigste auf der Welt für ihn bin ..." "Das bist und bleibst du", bestätigte Hally nachdrücklich. "O Cory, ich würde mich nie zwischen dich und deinen Dad drängen." "Aber, Miss McKenzie ..." Cory nahm Hallys Hand und sah ihr ins Gesicht. "Genau das will ich doch." "Was willst du?" fragte Hally verwirrt. "Ich verstehe nicht." Corys Blick wurde flehend. Sie packte Hallys Hand noch fester. "Bitte, Miss McKenzie, heiraten Sie ihn. Dann bleibt er hier..." "Aber..." "O bitte. Bitte! Ich will auf gar keinen Fall, daß wir zurück nach Idaho ziehen ..." Wir? Nicht nur das Mädchen, auch Mike. Ruckartig setzte Hally sich auf. "Hat dein Vater das vor?" "Ja", schluchzte Cory. "Grandma und Grandpa nehmen mich morgen mit. Ich will nicht, Miss McKenzie. Grandma haßt meine Haare und meine Kleidung, und ich würde Joey nie wiedersehen. Und Sie auch nicht. Und Edith. Und ... Es tut mir so leid, Miss McKenzie." "Das weiß ich doch." Hally strich ihr über den Rücken. "Hast du es auch deinem Vater gesagt?" "Nein." "Warum nicht?" "Ich habe mich nicht getraut." "Wo ist er jetzt?"
"Auf Geschäftsreise. Irgendwo, wo es Öl gibt. Ich kann den Namen nicht aussprechen. Er kommt von dort direkt nach Idaho. Zu Weihnachten." Ihr Blick wurde noch flehender. "Tun Sie es?" "O Cory ..." Hally lächelte traurig. "Ich wünschte, es wäre so einfach. Wenn es nur nach mir ginge ... Aber das geht es nicht. Außerdem ..." Sie atmete tief durch. "Du bist nicht die einzige, die deinem Vater weh getan hat. Ich habe es auch getan. Deshalb bin ich heute hergekommen. Ich hatte gehofft..." Hilflos zuckte sie die Achseln. Corinne strahlte sie an. "Sie lieben ihn", rief sie. "Nicht wahr?" "Ja", gestand Hally leise. "Ich liebe ihn." "Ich bin so froh", wisperte Corinne und gab ihr einen Kuß auf die Wange, "Dann haben Sie bestimmt nichts dagegen, daß ich ein Stück von diesem Herz in seinen Koffer gelegt habe." Das Herz. Hally hatte es ganz vergessen. Hastig nahm sie es aus der Tasche. "So eins?" "Ja." Verlegen senkte Corinne den Kopf! "Das da ist für Sie." "Für mich?" "Ja." Corinnes Wangen waren rot. "Ich wollte Ihnen schreiben, daß mir alles leid tut. Aber jetzt..." "O Cory ..." Hally umarmte sie. "Ich verstehe dich. Sag mir, was die beiden Stücke bedeuten sollen." Corinne errötete noch mehr. "Ich wollte damit zeigen, daß ich weiß ... daß ich schuld bin ... An den gebrochenen Herzen, meine ich. Ich hatte gehofft, daß ..." Mit zaghafter, aber immer begeisterter klingender Stimme und leuchtenden Augen erzählte sie, was sie sich ausgemalt hatte, während sie das Herz gemacht hatte. Nach einer Woche in Aserbaidschan war Mike dreierlei klar: Das Leben auf einer Ölbohrinsel war nichts für ihn. Selbst wenn er sich nicht schon entschlossen hätte, eine ganz bestimmte
trotzköpfige Frau dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Und auch wenn ihm das halbe Glasherz, das er im Koffer gefunden hatte, nicht ans Herz gegangen wäre. Es war Winter, es war kalt, und auf den stählernen Inseln im Kaspischen Meer war es laut, dreckig und unendlich einsam. Nie wieder. Zweitens begriff Mike endlich, daß seine Tochter ihn liebte. Warum hätte sie ihm sonst ihr gläsernes Kunstwerk mitgegeben? Und vielleicht war es das gebrochene Herz, dem er die dritte wichtige Erkenntnis verdankte. Cory würde es verstehen, wenn er ihr sagte, daß er seinem eigenen Herzen folgen und Miss Halloran McKenzie zu Mrs. Halloran Parker machen würde. Er liebte sie. Sie liebte ihn. Sie würde ihn heiraten, und wenn er sie höchstpersönlich zum Altar schleifen mußte. Es war ein weiter Weg von Baku, Aserbaidschan, über Moskau, Rußland, nach Boise, USA. Die vielen Flüge, Zwischenstops und endlosen Stunden, die Mike brauchte, um rechtzeitig zu Weihnachten ins ländliche Idaho zu gelangen, waren hart, aber nichts hätte ihn aufhalten können. Das Wiedersehen mit Corinne war so, wie er es sich erträumt hatte. Ihre Freude verdrängte die bitteren Erinnerungen an die Zeiten, in denen er zu Hause nicht willkommen gewesen war. Mikes und Rebeccas Eltern gaben sich große Mühe, ihm und seiner Tochter ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten und ihnen zu zeigen, wohin sie gehörten. Aber Marble Ridge war für Mike keine Heimat mehr. Er sehnte sich nach Long Beach, Kalifornien, genauer gesagt, nach Hally. Bei all dem Trubel kam er erst nach einigen Tagen dazu, mit Corinne darüber zu sprechen. Irgendwann warf sie ihm einen verlegenen Blick zu, "Ich vermisse Joey", gestand sie. "Und ich vermisse auch Miss McKenzie."
Mit klopfendem Herzen sah Mike seiner Tochter in die Augen. "Wirklich?" Sie nickte. "O Baby", sagte Mike und umarmte sein Kind. "Wenn du wüßtest, wie sehr ich mir gewünscht habe, du würdest das sagen." Eine Minute lang sagte niemand etwas, dann lehnte Corinne sich nach hinten und schaute ihn voller Hoffnung an. "Du wirst sie heiraten?" Er küßte sie auf die Nase. "Hast du etwas dagegen?" "Nur wenn ich nicht Brautjungfer werde." Sie strahlten einander an, dann liefen sie Hand in Hand durchs Haus und sangen: "Californ-y-a here we come ..." Wie hatte er nur bei Corinnes Plan mitmachen können? Aber sie war so begeistert gewesen. Nervös ging Mike im Wohnzimmer auf und ab und blieb am Tisch stehen, um zum wiederholten Mal seine Hälfte des gläsernen Herzens zu betrachten. Er sah auf die Uhr. Zehn nach zwei. Sie war zehn Minuten überfällig. Sie würde nicht kommen. Er hatte es gewußt. Er hätte zu ihr gehen müssen, sie anflehen, sie bitten ... Als es klopfte, wirbelte er herum. Das Klopfen war zaghaft gewesen, aber es hallte in Mikes Ohren nach wie ein Donnerschlag. Sie war hier. Aber wenn es gar nicht Hally, sondern seine aufdringliche Nachbarin war? Nein, die hätte er längst gerochen. Mike mußte lächeln. Dieses Lächeln. Es war dieses verlegene, unter die Haut gehende Lächeln, das Hally als erstes sah, als Mike die Tür öffnete. "Du siehst wunderschön aus, Halloran." Mike war stolz darauf, wie ruhig er klang.
"Tut mir leid, daß ich zu spät bin." Sein Duft umfing sie, als Hally das Haus betrat. "Eine Reifenpanne?" "Die Zündung", erwiderte Hally atemlos, während sie einander tief in die Augen schauten. "Ich wollte nicht ..." "Aber ich will", unterbrach Mike sie, bevor er sie an sich zog "Ich will dich so sehr, daß es mich zerreißt", sagte er und küßte sie. Hally wollte ihn auch, aber der Traum einer Fünfzehnjährigen wurde nicht allein dadurch wahr, daß das Mädchen es sich inständig wünschte. "Ich kann nicht glauben, daß du wirklich hier bist", murmelte Mike, während er Küsse auf ihr Gesicht regnen ließ und mit beiden Händen über ihren Körper tastete. "Du hast mir gefehlt. Ich dachte schon, ich hätte dich verloren ..." Er schloß die Augen und legte die Stirn an ihre. "Halloran, es war die reine Hölle." "Für mich auch." Mit ihrem Blick und den Fingerspitzen liebkoste sie sein Gesicht, bis sie die Hände an seinen Hinterkopf gleiten ließ und seinen Mund auf ihren preßte. "Ich liebe dich", flüsterte sie. Und als sie sich atemlos voneinander lösten, wiederholte sie es. "Ich liebe dich ... Corinne hat gesagt, ich soll meine Hälfte des Herzens mitbringen. Hast du deine?" "Natürlich." Mike zeigte auf den Tisch. "Genau da. Wie Corinne gesagt hat. Ist es schon halb drei?" Er nahm die Hand von Hallys Gesicht und sah auf die Uhr. "Fast. So schwer es mir fällt, das hier ..." Er küßte sie auf die Nase. "... auf später zu verschieben, wir sollten jetzt unsere Hälften zusammenfügen. Nur eins noch ..." Sein Blick wurde ernst. "Ich liebe dich, Halloran. Und ich will, daß du mir gehörst." "Zu spät", murmelte sie. "Das tue ich bereits, in jeder Hinsicht bis auf eine."
"Ich kann es kaum erwarten, das bis auf eine zu ändern." "Ich auch." Sie zügelten ihre Leidenschaft und begnügten sich mit zärtlichen Küssen, bis sich die Haustür öffnete und Corinne hereinschaute. "Na?" fragte sie ängstlich und begann zu strahlen, als Mike und Hally die Daumen nach oben streckten. "Cool." Sie schloß die Tür und warf einen neugierigen Blick auf den Tisch. "Ihr habt ja eure Hälften noch immer nicht zusammengefügt." "Das wollten wir gerade", versicherte Hally und wickelte ihre Hälfte aus. Ihre Schulter und Mikes berührten sich, als sie sich herunterbeugten und sie ihr Stück neben seins legte. "Aber ..." Sie sah Corinne an, die auf der anderen Seite stand. "Du sagtest doch, die beiden Stücke würden ein ganzes Herz ergeben." "Tun sie auch. Jetzt." Cory holte einen schmalen Glasstreifen heraus und legte ihn in die Lücke zwischen Mikes und Hallys Hälften. "So", sagte sie strahlend. "Seht ihr?" "Ja", hauchte Hally und drückte Mikes Hand, während sie nach Corys griff. "O ja, ich sehe es." Gemeinsam betrachteten sie Corinnes Werk - drei Teile, die zusammen ein ganzes Herz ergaben. Und sie sahen eine Zukunft voller Liebe, Gemeinsamkeit und Versprechen.
-ENDE