Clarice Lispector
Wo warst du in der Nacht
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Band 234 der Bibliothek Suhrkamp
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Clarice Lispector
Wo warst du in der Nacht
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 234 der Bibliothek Suhrkamp
Clarice Lispector Wo warst du in der Nacht Erzählungen Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Sarita Brandt
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien 974 unter dem Titel Onde Estivestes de Noite. © Clarice Lispector 974 Die Übersetzung wurde gefördert von der Stiftung VITAE – Apoio à Cultura, Educação e Promoção Social und dem Instituto Nacional do l.ibro des brasilianischen Kulturministeriums.
Erste Auflage 996 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 996 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Wo warst du in der Nacht
Die Suche nach einer Würde
Frau Jorge B. Xavier hätte einfach nicht zu sagen gewußt, wie sie hineingekommen war. Durch eines der Haupttore jedenfalls nicht. Leicht verträumt, kam es ihr so vor, als sei sie durch eine Art schmale Öffnung in den Trümmern einer halbfertigen Baustelle eingedrungen, habe sich von der Seite durch ein Loch gezwängt, das nur für sie bestimmt war. Tatsache ist, daß sie, als sie es merkte, schon drinnen war. Und als sie es merkte, begriff sie, daß sie schon unglaublich tief hineingeraten war. Endlos irrte sie durch die unterirdischen Gänge des Maracanã-Stadions, zumindest kamen sie ihr so vor wie enge Höhlen, die zu verschlossenen Räumen führten, und sobald sich die Räume öffneten, war da nur ein Fenster, das dem Stadion zugewandt war. Welches, zum Bersten leer um diese Zeit, an diesem Tag mitten im Winter im Licht einer stechenden, ungewöhnlich heißen Sonne flimmerte. Also folgte Frau B. Xavier einem dunklen Gang. Dieser führte sie wiederum zu einem anderen noch dunkleren. Sie hatte das Gefühl, die Decke der unterirdischen Gänge sei niedrig. Und dann führte dieser Gang sie zu einem weiteren, der sie seinerseits zum nächsten führte. Sie bog um eine Ecke des verlassenen Ganges. Und kam an eine andere Ecke. Die sie zu einem anderen Gang leitete, der bis zu einer anderen Ecke führte. Dann fuhr sie automatisch fort, in Gänge einzubiegen, die stets in neue Gänge mündeten. Wo war bloß der Saal der Eröffnungsveranstaltung? Denn dort sollte sie die Leute 7
treffen, mit denen sie verabredet war. Die Konferenz hatte möglicherweise schon begonnen. Sie würde sie verpassen, sie, die solche Anstrengungen machte, um sich nichts Kulturelles entgehen zu lassen, denn so hielt sie sich von innen jung, zumal ihr selbst von außen keiner ansehen konnte, daß sie schon fast siebzig war, alle hielten sie für ungefähr siebenundfünfzig. Doch nun, verloren in den verborgenen und dunklen Mäandern des Maracanã, schleppte Frau B. Xavier sich schon schwerfüßig dahin wie eine Alte. Genau in dem Augenblick traf sie in einem Gang unvermittelt einen Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war und den sie nach der Konferenz fragte, von der er vorgab, nichts zu wissen. Doch dieser Mann bat einen zweiten Mann um Auskunft, der auch plötzlich aus der Biegung eines Ganges aufgetaucht war. Dieser zweite Mann erzählte, er habe in der Nähe der rechten Tribüne, mitten im Stadion, »zwei Damen, eine davon in Rot, und einen Herrn« gesehen. Frau Xavier bezweifelte, daß dies die Gruppe war, mit der sie vor Beginn der Konferenz verabredet war, und in Wirklichkeit hatte sie den Grund, weshalb sie, ohne je wieder haltzumachen, weiterging, schon längst vergessen. Wie dem auch sei, sie folgte dem Mann ins Stadion, wo sie geblendet in dem hohlen Raum klaffenden Lichts und offener Stummheit stehenblieb, in diesem nackten, ausgeweideten Stadion ohne Ball noch Fußball. Vor allem ohne Menschenmengen. Es gab eine Menge, die aufgrund der Leere ihrer absoluten Abwesenheit existent war. Waren die zwei Damen und der Herr schon auf einem der Gänge verschwunden? Da sagte der Mann äußerst herausfordernd: »Hören Sie, ich 8
werde diese Leute für Sie suchen und werde sie finden, egal wie, sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.« Und in der Tat sahen die beiden sie ganz weit hinten. Eine Sekunde später waren sie wieder verschwunden. Es war wie ein Kinderspiel, in dem erstickte Lachsalven Frau Jorge B. Xavier verhöhnten. Da bog sie mit dem Mann in andere Gänge ein. Dann verschwand auch dieser Mann an einer Ecke. Sie hatte die Konferenz, die ihr im Grunde ziemlich egal war, bereits abgeschrieben. Wenn sie nur diesem Gewirr endloser Gänge entkäme. Gab es denn keinen Ausgang? Ein Gefühl, als wäre sie in einem Aufzug zwischen zwei Etagen steckengeblieben, überkam sie. Gab es keinen Ausgang? Da fiel ihr auf einmal die Beschreibung der Freundin am Telefon ein: »… es ist nicht sehr weit vom Maracanã-Stadion entfernt.« Durch die Erinnerung daran begriff sie ihren Irrtum, typisch für ihr verträumtes und zerstreutes Wesen, denn sie horte die Dinge nur zur einen Hälfte, die andere blieb verschüttet. Frau B. Xavier war sehr unachtsam. Sie sollten sich also nicht im Stadion selbst, sondern nur in der näheren Umgebung desselben treffen. Doch ihr geringes Schicksal hatte es gewollt, daß sie sich im Labyrinth verlor. Ja, genau da ging der Kampf noch erbitterter weiter: sie wollte mit aller Gewalt dort heraus und wußte weder wie noch auf welchem Weg. Der Mann, der die Leute suchte, erschien nun von neuem auf dem Gang, und von neuem versicherte er ihr, daß er sie finden werde, koste es, was es wolle, denn sie könnten sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Er sagte wörtlich: »Die Leute können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« Frau Xavier wandte sich an ihn: 9
»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter, ja? Vielen Dank, ja? Denn der Ort, wo ich die Leute treffen soll, ist gar nicht hier im Maracanã.« Abrupt blieb der Mann stehen und sah sie verblüfft an: Ja, und was machen Sie dann in Gottes Namen hier?« Sie wollte erklären, daß solche Dinge in ihrem Leben des öfteren vorkamen, es war eben so, wußte aber nicht einmal, was sie mit ›eben so‹ oder mit ›ihrem Leben‹ sagen wollte, so daß sie ihm die Antwort schuldig blieb. Der Mann wiederholte seine Frage teils mißtrauisch, teils vorsichtig: was also suchte sie hier? Nichts, kam es der Frau in den Sinn, sie war schon nahe daran, vor Müdigkeit umzufallen. Doch sie antwortete ihm nicht, ließ ihn in dem Glauben, sie sei verrückt. Außerdem versuchte sie niemals, sich zu erklären. Sie wußte, daß der Mann sie für übergeschnappt hielt – und wer hätte es leugnen können? denn empfand sie nicht etwa das, was sie verschämt ›dieses Etwas‹ nannte? Obwohl sie wußte, daß ihre sogenannte geistige Verfassung mindestens ebensogut war wie ihre körperliche Verfassung. Eine körperliche Verfassung, die mittlerweile total angeschlagen war, denn sie schleppte die von vielen Jahren des Weges zerschundenen Füße durch das Labyrinth. Ihr Kreuzweg. Sie hatte dicke Wollsachen an und war schon halb erstickt und in Schweiß gebadet wegen der unerwarteten Hitze dieses sommerlichen Höhepunktes, dieses Sommertages inmitten eines lädierten Winters. Die Beine taten ihr weh, sie schmerzten unter dem Gewicht des alten Kreuzes. Irgendwie hatte sie sich schon damit abgefunden, nie mehr aus dem Stadion herauszukommen und dort drinnen erschöpften Herzens zu verenden. Da, wie immer, ging das Gewünschte, nachdem sie es endlich aufgegeben hatte, in Erfüllung. Denn plötzlich durchzuckte 0
sie ein Gedanke: »Was bin ich doch für eine närrische alte Frau.« Warum versuchte sie nicht, anstatt weiter nach Leuten zu suchen, die gar nicht da waren, den Mann zu finden und ihn zu fragen, wie man aus diesen Gängen herausfand? Denn was sie wollte, war nichts weiter, als herauszukommen, und nicht, sich mit irgendwelchen Leuten zu treffen. Endlich stieß sie, als sie an einer Kreuzung abbog, auf den Mann. Und mit einer Stimme, die vor Müdigkeit und der Angst, sich einer irrigen Hoffnung hinzugeben, rauh und etwas zittrig war, sprach sie ihn an. Der mißtrauische Mann stimmte ihr eilends zu, es sei wirklich besser, sie ginge nach Hause, und bemerkte vorsichtig: »Ich glaube, Sie sind etwas durcheinander, vielleicht liegt es an dieser Hitze.« Nachdem es heraus war, nahm der Mann mit ihr einfach den erstbesten Gang, und als sie um die Ecke bogen, waren zwei breite offene Tore zu sehen. So mir nichts, dir nichts? einfach so? Einfach so. Da dachte Frau B. Xavier, ohne zu einem Schluß zu kommen, nur für sie wäre es zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden, den Ausgang zu finden. Frau Xavier war nur ein wenig befremdet und gleichzeitig damit vertraut. Bestimmt mußte jeder einzelne unaufhaltsam den eigenen Weg gehen, das war Teil des Schicksals, von dem sie nicht wußte, ob sie daran glaubte oder nicht. Ein Taxi fuhr vorbei. Sie hielt es an und sagte, ihrer Stimme, die immer älter und müder wurde, Festigkeit verleihend: »Also, junger Mann, die Adresse weiß ich nicht mehr so genau, ich hab sie vergessen. Aber ich weiß, daß das Haus in einer Straße ist – genau erinnere ich mich nicht, aber eine mit ›Gusmão‹, und sie stößt auf eine andere Straße, die, wenn ich mich nicht irre, Coronel-Sowieso heißt.«
Der Fahrer war geduldig wie mit einem Kind: »Nur keine Panik, seien Sie unbesorgt, wir suchen uns in aller Ruhe eine Straße, die in der Mitte ein ›Gusmão‹ und am Ende ein ›Coronel‹ hat«, sagte er, indem er sich lächelnd umdrehte, und ihr dann derart vertraulich zuzwinkerte, daß es fast anzüglich aussah. Beim Losfahren holperte das Taxi so stark, daß es ihr die Eingeweide durchschüttelte. Auf einmal erkannte sie die Leute, die sie suchte, wie sie vor einem großen Haus auf dem Bürgersteig zusammen standen. Es schien nun, als käme es darauf an, dort hinzukommen und nicht den Vortrag zu hören, der mittlerweile völlig vergessen war, denn Frau B. Xavier hatte ihr Ziel aus den Augen verloren, Und wußte nicht, im Namen von was sie so endlos umhergeirrt war. Nun merkte sie, daß sie sich über die eigenen Kräfte hinaus strapaziert hatte, und wollte nichts wie weg, die Konferenz war ein Alptraum. Da bat sie eine wichtige, ihr nur flüchtig bekannte Dame, die einen Wagen mit Chauffeur besaß, sie möge sie nach Hause bringen lassen, denn sie fühle sich bei dieser seltsamen Hitze nicht wohl. Der Chauffeur sei erst in einer Stunde zurück. Da setzte Frau Xavier sich auf einen Stuhl, den man ihr auf den Flur gestellt hatte, steif saß sie da in ihrem engen Hüfthalter, ausgeschlossen von der Kultur, die sich hinter verschlossenen Türen vorne im Saal abspielte. Aus dem auch nicht ein Laut drang. Was ging sie die Kultur an. Da saß sie nun im Labyrinth der 60 Sekunden und 60 Minuten, die sie zu einer Stunde geleiten würden. In diesem Augenblick erschien die wichtige Dame und sagte folgendes: der Wagen warte an der Tür, sie müsse ihr allerdings sagen, daß sie, da der Fahrer Bescheid gesagt habe, es würde ziemlich lange dauern, das erstbeste Taxi angehalten habe, da es ihr, Frau Xavier, nicht besonders gut ginge. 2
Wieso war sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen, ein Taxi anzuhalten, anstatt sich den Mäandern der Wartezeit auszuliefern? Daraufhin bedankte Frau Xavier sich äußerst höflich. Sie war immer sehr höflich und korrekt. Sie stieg in das Taxi ein und sagte: »Zum Leblon, bitte.« Ihr Hirn war völlig leer, der ganze Kopf kam ihr vor wie ein nüchterner Magen. Etwas später merkte sie, daß sie eine Kurve nach der anderen drehten, aber immer wieder zum gleichen Platz zurückkehrten. Wieso kamen sie nicht vom Fleck? Gab es schon wieder keinen Ausweg? Der Taxifahrer gab schließlich zu, er kenne sich im Süden der Stadt nicht aus, er arbeite nur im Norden. Und sie wußte nicht, wie sie ihm den Weg erklären sollte. Das Kreuz der Jahre lastete immer schwerer auf ihr, und das erneute Fehlen eines Auswegs erneuerte nur die schwarze Magie der Gänge des Maracanã. Es gab keine Möglichkeit, diesen Platz zu verlassen! Da meinte der Fahrer, sie solle lieber ein anderes Taxi nehmen, und er winkte sogar selbst eines, das gerade vorbeifuhr, herbei. Sie bedankte sich in angemessener Form, ihr Verhalten war immer sehr formvollendet, selbst Leuten gegenüber, die sie gut kannte. Außerdem war sie ein sehr liebenswürdiger Mensch. In dem zweiten Taxi sagte sie ängstlich: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, zum Leblon, bitte.« Ohne große Umstände ließen sie den Platz hinter sich und bogen in unbekannte Straßen ein. Es geschah in dem Augenblick, als sie den Schlüssel ins Schloß ihrer Wohnungstür steckte, daß sie sich in Gedanken einbildete, sie hätte Lust, laut aufzuschluchzen. Doch sie gehörte nicht zu denen, die weinten und klagten. Beiläufig sagte sie der Hausangestellten, sie werde keine Anrufe ent3
gegennehmen. Sie ging direkt ins Schlafzimmer, zog sämtliche Kleider aus, schluckte ohne Wasser eine Tablette und wartete, bis diese ihre Wirkung tat. In der Zwischenzeit rauchte sie. Ihr fiel ein, daß dies ein Tag im August war, und der Monat August, sagte man, bringe Unglück. Doch eines Tages würde der September als Ausweg kommen. Und aus irgendeinem Grund war September der Monat Mai: ein leichterer und durchsichtigerer Monat. Während sie vage daran dachte, wurden ihre Lider endlich schwer, und sie schlief ein. Als sie Stunden später aufwachte, sah sie, daß ein eisiger Nieselregen fiel, es war messerschneidenkalt. Nackt in ihrem Bett fror sie. Da kam es ihr recht merkwürdig vor, eine Alte, die nackt war. Sie erinnerte sich, daß sie sich vorgenommen hatte, ein Wolltuch zu kaufen. Sie sah auf die Uhr: Die Läden hatten noch auf. Sie nahm ein Taxi und sagte: »Nach Ipanema, bitteschön.« Der Mann fragte: »Wohin wollen Sie? Zum Jardim Botânico?« »Nach Ipanema, bitte«, wiederholte Frau Xavier ziemlich überrascht. Die Absurdität eines totalen Mißverständnisses: denn was konnten Wörter wie Ipanema und Jardim Botânico wohl gemein haben? Und von neuem dachte sie flüchtig, ›ihr Leben sei eben so‹. Schnell erledigte sie den Einkauf, dann stand sie wieder auf der Straße, ohne daß sie etwas zu tun gehabt hätte. Denn Herr Jorge B. Xavier war am Tag zuvor nach São Paulo gefahren und würde erst am nächsten Tag zurückkommen. Etwas später, als sie wieder zu Hause war, vor die Wahl gestellt, eine zweite Schlaftablette zu nehmen oder irgend etwas anderes zu tun, entschied sie sich für die zweite Möglichkeit, denn ihr fiel ein, daß sie nun die Suche nach dem 4
verlorenen Wechsel wiederaufnehmen könnte. Das wenige, was sie verstand, war, daß dieses Stück Papier Geld wert war. Vor zwei Tagen hatte sie die ganze Wohnung danach abgesucht, selbst die Küche hatte sie nicht ausgelassen, doch vergeblich. Jetzt kam ihr der Gedanke: Ja, vielleicht unterm Bett, wieso eigentlich nicht? Ja, vielleicht unterm Bett. Da kniete sie sich auf den Boden. Doch bald wurde es ihr zu unbequem, sich mit dem vollen Gewicht auf die Knie zu stützen, und sie nahm ihre beiden Hände zu Hilfe. Plötzlich merkte sie, daß sie auf allen vieren kroch. Eine Zeitlang verharrte sie in dieser Stellung, vielleicht sann sie über etwas nach, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise hatte Frau Xavier es satt, ein Menschenwesen zu sein. Nun war sie eine vierbeinige Hündin. Ohne jede Würde, Verloren der letzte Stolz. Auf allen vieren, vielleicht über etwas nachsinnend. Aber unter dem Bett lag nur Staub. Unter großer Anstrengung bewegte sie ihre steifen Gelenke, stand auf und sah, daß es nichts weiter zu tun gab, als realistisch – und die Realität zu sehen bedeutete für sie eine beschwerliche Anstrengung –, als realistisch einzuräumen, daß der Wechsel verloren war und ihn weiter zu suchen bedeuten würde, nie mehr dem Maracanã zu entkommen. Und wie immer, wenn sie es aufgegeben hatte, weiterzusuchen, als sie das Schublädchen mit den Taschentüchern aufzog, um sich eins herauszunehmen – lag dort der Wechsel. Erschöpft vom Herumkriechen auf allen vieren, setzte sich die Frau dann aufs Bett und begann leise und gedankenlos vor sich hin zu weinen. Es hörte sich fast wie ein arabischer Singsang an. Seit dreißig Jahren hatte sie nicht geweint, aber jetzt war sie so schrecklich müde. Falls dies überhaupt ein Weinen war. Es war es nicht. Es war irgend etwas. Schließlich schneuzte sie sich. Dann dachte sie folgendes: Sie würde 5
das ›Schicksal‹ beeinflussen und ein bedeutenderes Schicksal erlangen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte sie ohne jede Überzeugung. Und das mit dem Gebundensein an ein Schicksal war ihr durch den Kopf gegangen, weil sie, ohne es zu wollen, schon begonnen hatte, an »dieses Etwas« zu denken. Aber dann geschah es, daß Frau Xavier auch folgendes dachte: Es war zu spät, um ein Schicksal zu erlangen. Sie dachte, daß sie gerne bereit wäre, jede Art von Tausch mit einem anderen Wesen einzugehen. Da wurde sie sich bewußt, daß sie niemanden hatte, mit dem sie hätte tauschen können: was immer sie auch sein mochte, sie war sie selber und konnte sich nicht in ein anderes Einzelwesen verwandeln. Jeder einzelne war einzig. Frau Jorge B. Xavier war es auch. Doch all das, was ihr widerfahren war, war noch besser, als ›dieses Etwas‹ zu spüren. Und es kam mit seinen langen Gängen ohne Ausgang. ›Dieses Etwas‹ war jetzt ohne jede Spur von Scham der schmerzliche Hunger ihrer Eingeweide, der Hunger, von dem unerreichbaren Fernsehstar besessen zu werden. Keine einzige seiner Sendungen ließ sie aus. Dann, zumal sie sich nicht daran hatte hindern können, an ihn zu denken, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an ihn denken zu lassen und sich das jungmädchenhafte Gesicht Roberto Carlos’, mon amour, ins Gedächtnis zu rufen. Sie ging sich die staubbedeckten Hände waschen und sah sich im Spiegel über dem Waschbecken. Da faßte Frau Xavier folgenden Gedanken: »Wenn ich es will, wirklich mit aller Kraft will, dann wird er mir gehören, zumindest für eine einzige Nacht.« Irgendwie glaubte sie an die Kraft des Willens. Wieder verfing sie sich in dem Begehren, das verwikkelt und erstickt war. Doch, wer weiß? Wenn sie auf Roberto Carlos verzichtete, 6
würden die Dinge zwischen ihm und ihr vielleicht ins Rollen kommen. Frau Xavier dachte ein wenig darüber nach. Da tat sie listig so, als würde sie auf Roberto Carlos verzichten. Aber sie wußte sehr wohl, daß der magische Verzicht nur positive Ergebnisse zeitigte, wenn es wahrer Verzicht war, und nicht nur ein Trick, um etwas zu erreichen. Die Wirklichkeit verlangte viel von Frau Xavier. Sie musterte sich im Spiegel, um festzustellen, ob ihr Gesicht unter den Auswirkungen ihrer Gefühle animalische Züge bekäme. Doch es war ein stilles Gesicht, das schon seit langem aufgehört hatte, widerzuspiegeln, was sie fühlte. Ihr Gesicht hatte übrigens nie etwas anderes ausgedrückt als gute Erziehung. Und im Augenblick war es nichts weiter als die Maske einer siebzigjährigen Frau. Da kam ihr dieses zart geschminkte Gesicht vor wie das Gesicht eines Clowns. Lustlos rang sie sich ein Lächeln ab, um zu sehen, ob es besser würde. Es wurde nicht besser. Äußerlich – das sah sie im Spiegel – war sie ein trockenes Etwas, wie eine trockene Feige. Doch innerlich war sie keineswegs ausgetrocknet. Ganz im Gegenteil. Innerlich war sie wie feuchtes Zahnfleisch, genauso weich wie zahnloses Zahnfleisch. Da suchte sie einen Gedanken, der sie entweder mit Geist durchdringen oder ein für allemal austrocknen sollte. Doch geistvoll war sie nie gewesen. Und wegen Roberto Carlos war die Frau eingebettet in das Dunkel der Körperlichkeit, worin sie zutiefst anonym war. Sie stand im Badezimmer und war so anonym wie ein Huhn. Während des Bruchteils einer flüchtigen, nahezu unbewußten Sekunde leuchtete ihr ein, daß alle Menschen anonym sind. Denn niemand ist der andere, und der andere kennt den anderen nicht. Dann also – dann also war der Mensch 7
anonym. Und nun war sie in diesen tiefen tödlichen Brunnen gefallen, in die Rebellion des Körpers. Eines Körpers, dessen Grund nicht zu sehen war und der aus der Finsternis ihrer dunklen bösartigen Instinkte bestand, die so lebendig waren wie Eidechsen und Mäuse. Und alles außerhalb der Zeit, eine Frucht außerhalb der Saison? Wieso hatten ihre Altersgenossinnen sie nicht gewarnt, daß einem das bis zum Ende passieren konnte? Sicher hatte sie die lüsternen Blicke der alten Männer gesehen. Aber die der alten Damen nicht. Außerhalb der Saison. Und sie so lebendig, als wäre sie noch jemand, sie, die sie niemand war. Frau Jorge B. Xavier war niemand. Da wollte sie schöne, romantische Gefühle hinsichtlich der zarten Züge Roberto Carlos’ haben. Aber es gelang ihr nicht: der Feingesichtige führte sie nur auf den dunklen Gang der Sinnlichkeit. Und das Unglück war diese Laszivität. Es war ein niederer Hunger: sie wollte den Mund Roberto Carlos’ verschlingen. Sie war nicht romantisch, in Liebesdingen war sie grob. Hier in diesem Bad, vor dem Spiegel über dem Waschbecken. Mit ihrem unweigerlich befleckten Alter. Ohne auch nur einen erhebenden Gedanken, der ihr als Steuer dienen und ihre Existenz veredeln könnte. Da fing sie an, ihren Haarknoten zu lösen und sich langsam die Haare zu kämmen. Sie mußte sie wieder färben lassen, der weiße Ansatz war nicht mehr zu übersehen. Da dachte die Frau folgendes: In meinem Leben hat es nie einen Höhepunkt gegeben wie in den Geschichten, die man liest. Der Höhepunkt war Roberto Carlos. Nachdenklich kam sie zu dem Schluß, daß sie genau so heimlich sterben würde, wie sie heimlich gelebt hatte. Aber sie wußte auch, daß ein jeder Tod geheim war. 8
Aus der Tiefe ihres zukünftigen Todes heraus bildete sie sich ein, die begehrte Gestalt Roberto Carlos’ im Spiegel zu sehen, mitsamt der seidigen Locken, die sein Gesicht umrahmten. Da stand sie, im Bann ihres Begehrens außerhalb der Saison, genau wie dieser Sommertag mitten im Winter. Im Bann der verwinkelten Gänge des Maracanã-Stadions. Im Bann des tödlichen Geheimnisses älterer Frauen. Nur daß sie nicht daran gewöhnt war, schon beinahe siebzig zu sein, es mangelte ihr an Praxis, und sie hatte nicht die geringste Erfahrung. Da sagte sie laut und ganz allein: »Mein kleiner süßer Roberto Carlos.« Und fügte noch hinzu: Liebster. Sie hörte ihre Stimme mit Befremden, so als beichtete sie zum ersten Mal und ohne jegliche Scham oder Schuldgefühle das, was doch ohne Zweifel beschämend sein mußte. Die Frau dachte versponnen, daß der süße Roberto ihre Liebe möglicherweise nicht annehmen würde, denn ihr selbst war klar, daß diese Liebe viel zu sentimental, schmalzig und gefräßig war. Und Roberto Carlos schien so enthaltsam, so geschlechtslos. Ob ihre leicht geschminkten Lippen noch küßbar waren? Oder war es vielleicht ekelerregend, den Mund einer Alten zu küssen? Sie prüfte ihre Lippen aus nächster Nähe und völlig ungerührt. Und ebenso ungerührt sang sie leise den Refrain des berühmtesten Liedes von Roberto Carlos: »In diesem kalten Winter sei du mein Schal, und der Rest der Welt ist mir egal.« Just in diesem Augenblick beugte sich Frau Jorge B. Xavier plötzlich über das Waschbecken, als müsse sie alles, was sie im Leib hatte, herauswürgen, und unterbrach ihr Leben mit einer zerfleischenden Lautlosigkeit: Es! muß! doch! einen! Ausweg! geeeeeeeben! 9
Die Abfahrt des Zuges
Der Zug fuhr vom Hauptbahnhof ab, diesem mit der großen Uhr, der größten der Welt. Sie zeigte sechs Uhr früh an. Angela Pralini zahlte das Taxi und nahm ihren kleinen Koffer. Dona Maria Rita Alvarenga Chagas Sonza Melo stieg aus dem Opaia ihrer Tochter, und beide steuerten sie auf den Bahnsteig zu. Die Alte in den besten Kleidern und dazu ihren Schmuck. Zwischen den Falten in ihrem Gesicht, die sie kaschierten, trat die reine Form einer dem Alter preisgegebenen Nase hervor und die eines Mundes, der einst voll und sensibel gewesen sein mochte. Doch was soll’s. Man kommt an einem gewissen Punkt an – und das, was einmal war, zählt nicht mehr. Andere haben das Sagen. Eine Alte kann da nicht mehr mitreden. Sie hatte den kühlen Kuß ihrer Tochter hingenommen, die, als der Zug sich in Bewegung setzte, schon längst gegangen war. Davor hatte sie ihr beim Einsteigen geholfen. Da es in dem Wagen keine Mitte gab, hatte die Alte sich auf die Seite gesetzt. Als die Lokomotive anfuhr, war sie etwas überrascht: sie hatte nicht erwartet, daß der Zug in diese Richtung fuhr, und sich mit dem Rükken zur Fahrtrichtung gesetzt. Angela Pralini bemerkte ihre Unruhe und fragte: »Möchten Sie den Platz mit mir tauschen?« Dona Maria Rita wunderte sich höflich, entgegnete nein, dankeschön, für sie sei es ein und dasselbe. Doch sie schien etwas verstört. Sie nestelte an der Kamee mit filigranem Goldrand, die an ihrer Brust steckte, strich über die Brosche, nahm ihre Hand dann weg und befingerte den mit einer Stoffrose verzierten Filzhut, nahm von neuem die Hand 20
weg. Abweisend. Beleidigt? Schließlich sagte sie zu Angela Pralini: »Wollen Sie meinetwegen den Platz wechseln?« Angela Pralini verneinte, wunderte sich, die Alte wunderte sich aus dem gleichen Grund: man läßt sich doch keine Gefälligkeit von einer älteren Dame erweisen. Sie lächelte ein wenig zu breit, und die mit Talkum bestäubten Lippen platzten in trockene Furchen auf: sie war entzückt. Und ein wenig erregt: »Das finde ich aber sehr nett von Ihnen«, sagte sie, »wirklich sehr liebenswürdig.« Es entstand eine gewisse Betroffenheit, denn auch Angela Pralini lächelte, und die Alte hatte noch nicht aufgehört zu lächeln, wobei sie ihr sorgfältig geputztes Gebiß zur Schau stellte. Unauffällig zog sie das Mieder, das sie viel zu sehr einengte, nach unten. »Sehr nett«, wiederholte sie. Ein wenig zu schnell gewann sie ihre Fassung wieder, kreuzte die Hände über der Handtasche, die alles enthielt, was man sich vorstellen konnte. Solange sie gelächelt hatte, dachte Angela Pralini, hatten ihre Falten einen Sinn gehabt. Jetzt waren sie von neuem unergründlich, überschnitten sich in einem Gesicht, das wieder zur Ausdruckslosigkeit zurückgekehrt war. Doch Angela hatte die Alte aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatte schon viele nervöse junge Mädchen gesehen, die sich sagten: Wenn ich jetzt nicht aufhöre zu lächeln, mache ich alles kaputt, es wird lächerlich, ich muß unbedingt aufhören – und es gelang nicht. Die Situation war sehr traurig. Angela sah voll tiefen Mitleids die grausame Warze an ihrem Kinn, eine Warze, aus der ein schwarzes Haar hervorstach. Doch wegen Angela hatte sie die Fassung verloren. Man sah, daß sie jeden Augenblick er2
neut lächeln würde: Angela hatte die Alte in Aufruhr versetzt, diese saß wie auf Nadeln. Jetzt war sie eine dieser älteren Damen, die aussehen, als glaubten sie, ständig zu spät zu kommen, die Zeit längst überschritten zu haben. Eine Sekunde später konnte sie nicht mehr an sich halten, stand auf und sah zum Fenster hinaus, so als wäre es ihr nicht möglich, noch länger sitzen zu bleiben. »Wollen Sie das Fenster zumachen?« fragte ein junger Mann, der aus seinem Kofferradio Händel hörte. »Oh!« entwich es ihr entsetzt. Nein, nicht doch! dachte Angela, es ging alles daneben, das hätte der Mann nicht sagen dürfen, es war zuviel, man durfte nicht noch einmal an die Alte rühren. Denn sie war nahe daran, die Einstellung, die sie am Leben hielt, zu verlieren, nahe daran, eine gewisse Bitterkeit zu verlieren, sie zitterte wie Cembalomusik, zwischen Lächeln und äußerstem Entzücken hin- und hergerissen: »Nein, nein, es bleibt auf«, sagte die alte Frau in gespielt strengem Ton, »danke, ich wollte mir nur ein wenig die Landschaft ansehen.« Unverzüglich setzte sie sich wieder, so als hielte die Liebenswürdigkeit des jungen Mannes und der Frau sie in Schach. Bevor die Alte in den Zug gestiegen war, hatte sie sich dreimal über dem Herzen bekreuzigt und dabei verstohlen ihre Fingerspitzen geküßt. Sie trug ein schwarzes Kleid mit echtem Spitzenkragen und dazu die Brosche mit dem Rand aus purem Gold. An ihrer linken Hand mit den braunen Altersflecken die zwei dicken Eheringe, die sie als Witwe auswiesen, so dick wie es sie schon nicht mehr gab. Aus dem Nebenwagen ertönten die Stimmen von Pfadfindern, die Brasilien in schrillen Tönen besangen. Gott sei Dank waren sie in dem anderen Waggon. Die Musik aus dem Radio des 22
jungen Mannes vermischte sich mit der eines anderen Jungen: der hörte Edith Piaf, die J’attendrai sang. Genau in diesem Moment hatte der Zug einen Ruck getan, und die Räder hatten sich in Bewegung gesetzt. Er fuhr ab. Die Alte sagte leise: Jesus Christus! Sie weidete sich an Christi Namen. Amen. Im Radio einer Dame kam die Zeitansage, sechs Uhr dreißig am Morgen, an einem Morgen, an dem es einen frösteln konnte. Die Alte dachte: Brasilien verbessert seine Straßenbeschilderung. Ein gewisser Herr Kissinger schien der Weit zu sagen, wo es langging. Niemand weiß, wo ich bin, dachte Angela Pralini, und das erschreckte sie ein wenig, sie war eine Entflohene. »Mein Name ist Maria Rita Alvarenga Chagas Souza Melo – Alvarenga Chagas war der Name meines Vaters«, ergänzte die Alte als Entschuldigung dafür, daß sie so viele Wörter sagen mußte, nur um ihren Namen zu nennen. »Chagas«, sagte sie bescheiden, »bedeutet ›Wundmale‹, das waren die Wundmale unseres Herrn. Doch Sie können ruhig Maria Ritinha zu mir sagen. Und Ihr Name? wie heißen Sie?« »Ich heiße Angela Pralini. Ich werde sechs Monate auf der Fazenda meines Onkels verbringen. Und Sie?« »Oh, ich bin auf dem Weg zur Fazenda meines Sohnes, ich werde dort den Rest meines Lebens verbringen, meine Tochter hat mich zum Bahnhof gebracht, und mein Sohn erwartet mich mit der Kutsche bei der Ankunft. Ich bin wie ein Paket, das von Hand zu Hand geht.« Die Ehe von Angelas Onkel war kinderlos geblieben, sie wurde daher wie eine Tochter behandelt. Angela dachte an die Nachricht, die sie Eduardo hinterlassen hatte: »Suche nicht nach mir. Ich werde für immer aus Deinem Leben verschwinden. Ich liebe Dich mehr denn je. Adieu. Deine 23
Angela war nicht länger Dein, weil Du es nicht wolltest.« Sie schwiegen. Angela Pralini gab sich dem gleichmäßigen Rattern des Zuges hin. Dona Maria Ritas Augen ruhten erneut auf dem Brillantring mit der Perle an ihrem Finger, und sie strich über die goldumrahmte Kamee: »Ich bin zwar alt, aber reich, viel reicher als alle anderen hier im Abteil. Reich, jawohl, reich.« Sie warf einen Blick auf die Uhr, mehr um sich des massiven goldenen Gehäuses zu vergewissern, als um nach der Zeit zu sehen. »Ich bin sehr reich, ich bin nicht nur eine x-beliebige alte Frau.« Doch sie wußte wohl, und ob sie es wußte, daß sie nur eine x-beliebige alte Frau war, der jede Kleinigkeit Angst einjagte. Sie erinnerte sich daran, wie sie immer den ganzen Tag über allein in ihrem Schaukelstuhl gesessen hatte, allein mit den Dienstboten, während ihre ›Public-Relations-Tochter‹ die ganze Zeit unterwegs war, sie kam erst abends um acht und begrüßte sie nicht einmal mit einem Küßchen. An diesem Morgen war sie um fünf Uhr aufgewacht, es war noch völlig dunkel und schrecklich kalt gewesen. Nach der gutgemeinten Frage des jungen Mannes war sie äußerst aufgewühlt, und sie strahlte. Sie sah zerbrechlich aus. Wenn sie lächelte, entpuppte sie sich als eine dieser alten Damen voller Zähne. Diese Grausamkeit der Zähne, so fehl am Platz. Der junge Mann hatte sich schon abgewandt. Sie öffnete und schloß wiederholt die Lider. Plötzlich tippte sie Angelas Bein an, blitzschnell und leicht: »Heute sind alle so freundlich, wirklich sehr, sehr freundlich! so liebenswürdig, ausgesprochen liebenswürdig.« Ein Lächeln huschte über Angelas Züge. Die Alte lächelte immer weiter, ohne den tiefen leeren Blick von den Augen der jungen Frau zu wenden. Los, na los, wurde sie von allen 24
Seiten gepeitscht, und sie spähte hierhin und dorthin, als müsse sie sich entscheiden. Na los, los, stieß man sie lachend von allen Seiten, und sie schüttelte sich und machte glucksend mit, aus Höflichkeit. »Wie liebenswürdig alle hier im Zug sind«, sagte sie. Auf einmal versuchte sie, sich zu fassen, sie hüstelte gekünstelt, ganz Contenance. Wahrscheinlich fiel es ihr schwer. Sie fürchtete, einen Punkt erreicht zu haben, an dem sie nicht mehr aufhören könnte. Streng und bebend saß sie da, klappte die Lippen über den zahllosen Zähnen zusammen. Doch sie konnte niemandem etwas vormachen: ihr Gesicht strahlte eine derartige Hoffnung aus, daß diejenigen, die es sahen, verlegen wurden. Sie hing bereits von niemandem mehr ab: nachdem man an sie gerührt hatte, konnte man weggehen – sie verstrahlte sich von alleine, hager, hochgewachsen. Sie schien noch etwas sagen zu wollen und deutete bereits eine einladende Kopfbewegung voll zuvorkommender Grazie an. Angela fragte sich, ob die Alte wohl in der Lage sei, steh mitzuteilen. Sie schien angestrengt nachzudenken, um dann zärtlich einen völlig fertigen Gedanken zu finden, in den sie mehr schlecht als recht ihre Gefühle betten konnte. Mit der Vorsicht und der Weisheit der Älteren, als müsse sie diese Form wählen, um wie eine Alte zu sprechen, sagte sie: »Die Jugend. Die liebe Jugend.« Ihr Lachen klang nicht ganz echt. Ob sie einem Nervenzusammenbruch nahe war? dachte Angela Pralini. Denn sie war so wunderlich. Doch sie räusperte sich von neuem gefaßt und schlug mit den Fingerspitzen kurz auf die Bank, so als gäbe sie dem Orchester dringend das Zeichen für den Einsatz. Dann öffnete sie ihre Handtasche, entnahm ihr ein kleines Zeitungsrechteck, entfaltete es, faltete es so lange 25
auseinander, bis es zu einer großen, normalen, drei Tage alten Zeitung wurde – das konnte Angela anhand des Datums erkennen. Sie begann zu lesen. Angela hatte sieben Kilo abgenommen. Auf der Fazenda würde sie kräftig zulangen: schwarze Bohnen mit Speck und Maniokmehl und dazu Grünkohl, um die verlorenen Pfunde wieder wettzumachen. Sie war so dünn geworden, weil sie versucht hatte, den brillanten Gedankengängen Eduardos zu folgen: pausenlos hatte sie schwarzen Kaffee getrunken, um nicht einzuschlafen. Angela Pralini hatte wunderbare Brüste, damit konnte sie sich sehen lassen. Ihre Ohren waren spitz, und sie hatte einen schönen, geschwungenen Mund, einen Kußmund. Um ihre Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Sie nutzte das Pfeifen der Lokomotive, um es zu ihrem eigenen Schrei zu machen. Es war ein gellender Schrei, nur daß er sich nach innen richtete. In Eduardos Gruppe war sie die Frau gewesen, die den meisten Whiskey trank. Sie schaffte jedesmal sechs oder sieben Gläser und bewahrte dabei eine erschreckende Nüchternheit. Auf der Fazenda würde sie fette Kuhmilch trinken. Eine Sache verband Angela und die Alte: beide würden sie mit offenen Armen empfangen werden, doch das wußte die eine nicht von der anderen. Auf einmal begann Angela zu zittern: wer würde dem Hund nun das letzte Mal die Wurmkur geben. Ach, Ulisses, wandte sie sich in Gedanken an den Hund, ich habe dich nicht verlassen, weil ich es wollte, ich mußte vor Eduardo fliehen, bevor er mich total kaputtgemacht hätte mit seinem erleuchteten Durchblick: ein Durchblick, der zuviel beleuchtete und alles verbrannte. Angela wußte, daß es auf der Fazenda ihres Onkels ein Mittel gegen Schlangenbisse gab: sie hatte vor, sich tief in den dichten, sattgrünen Wald hineinzuwagen, in Stiefeln mit hohem 26
Schaft und dick eingerieben mit einem Mittel gegen Insektenstiche. Als käme sie direkt von der Transamazônica, die Erforscherin, Welchen Tieren würde sie begegnen? Besser wäre es, eine Flinte, Proviant und Wasser mitzunehmen. Und einen Kompaß. Seit sie entdeckt hatte – sie hatte es wirklich mit einem Ausruf der Überraschung entdeckt –, daß sie eines Tages sterben würde, hatte sie die Angst vor dem Leben verloren, der Tod verschaffte ihr totale Rechte: sie riskierte alles. Nach zwei Beziehungen, aus denen nichts geworden war, nun diese dritte, eine abgöttische Liebe, abgebrochen aus der Notwendigkeit zu überleben. Eduardo hatte sie verwandelt: er hatte ihr beigebracht, nach innen zu sehen. Doch jetzt sah sie nach außen. Durch das Fenster sah sie die Brüste der Erde als Berge. Und es gibt Vögel, Eduardo! und Wolken, Eduardo! es gib eine Welt von Hengsten und Stuten und Kühen, Eduardo, und als ich ein kleines Mädchen war, ritt ich im Jagdgalopp auf einem nackten Pferd, ohne Sattel! Ich fliehe vor meinem Selbstmord, Eduardo. Verzeih, Eduardo, aber ich will nicht sterben. Ich möchte frisch und selten sein wie ein Granatapfel. Die Alte tat so, als läse sie die Zeitung. Doch sie dachte: ihre Welt war ein Seufzer. Sie wollte nicht, daß die anderen glaubten, sie sei alleingelassen. Gott hat mir Gesundheit gegeben, daß ich unabhängig reisen kann. Im Kopf bin ich auch klar, ich rede nicht alleine vor mich hin und nehme jeden Tag ohne fremde Hilfe ein Rad. Sie verströmte einen Duft nach welken, zerdrückten Rosen, das war ihr altes, abgestandenes Riechwasser. Gleichmäßig ein- und auszuatmen, dachte Angela von der Alten, das war das Schönste, was geblieben war, seit Dona Maria Rita auf der Welt war. Es war das Leben. Dona Maria Rita dachte: seitdem sie alt war, begann sie für 27
die anderen allmählich zu verschwinden, sie warfen ihr höchstens einen raschen Seitenblick zu. Das Alter: der höchste Augenblick. Sie befand sich jenseits der Gesamtstrategie der Welt und ihre eigene war dürftig. Die weitreichendsten Ziele hatte sie verloren. Sie war bereits die Zukunft. Angela ging es durch den Kopf: ich glaube, ich könnte die Wahrheit, falls ich sie fände, nicht denken. Sie ließe sich gedanklich nicht aussprechen. Die Alte war immer ein wenig, ja, ein klein wenig leer gewesen. Der Tod? seltsam, der kam in ihrem Tagesablauf nicht vor. Und selbst ›nicht existieren‹ existierte nicht, es war unmöglich, nicht zu existieren. Die Nicht-Existenz paßte nicht in das alltägliche Leben. Ihre Tochter war alles andere als zärtlich. Der Sohn hingegen war so lieb, so gutmütig, etwas dick. Die Tochter war trocken und dünn wie ihre flüchtigen Küsse, die ›PR-Frau‹. Die Alte war zum Leben etwas faul. Die Monotonie aber war das, was sie stützte. Eduardo hörte Musik mit dem Kopf. Und verstand die Dissonanzen der modernen Musik, was er konnte, war nur verstehen. Seine Intelligenz, die ihr die Luft abschnürte. Du hast ein überwältigendes Temperament, hatte er einst zu ihr gesagt. Na und? Was war daran so schlimm? Ich bin, was ich bin, und nicht, was du glaubst, das ich bin. Der Beweis, daß ich bin, ist, daß ich in diesem fahrenden Zug sitze. Mein Beweis ist auch Dona Maria Rita, mir gegenüber. Der Beweis wovon? Ja. Sie hatte die Erfüllung schon kennengelernt. Als Eduardo und sie so wahnsinnig ineinander verliebt gewesen waren, daß sie, während sie zusammen Hand in Hand im Bett lagen, das Leben als erfüllt ansahen. Nicht viele Menschen hatten je die Erfüllung kennengelernt. Und da Erfüllung auch Explosion bedeutet, waren Eduardo und sie feige dazu übergegangen, ›normal‹ zu leben. Denn man 28
kann die Ekstase nicht ausdehnen, ohne zu sterben. Ihre Beziehung war aus einem nichtigen, beinahe erfundenen Grund in die Brüche gegangen: sie wollten nicht vor Leidenschaft sterben. Die Erfüllung ist eine der gefundenen Wahrheiten. Doch die notwendige Trennung war für Angela eine Ablation gewesen, wie bei manchen Frauen, denen Gebärmutter und Eierstöcke herausgenommen werden. Innen war sie leer. Dona Maria Rita war so antik, daß im Hause ihrer Tochter alle an sie gewöhnt waren wie an ein altes Möbelstück. Sie war für niemanden etwas Neues. Aber noch nie war ihr der Gedanke gekommen, sie sei eine einsame Frau. Nur daß sie nichts zu tun hatte. Es war eine Zwangsfreizeit, die in manchen Augenblicken zu einem stechenden Schmerz wurde: sie hatte auf der Welt nichts zu tun. Es sei denn, zu leben wie eine Katze, wie ein Hund. Ihr Traum war es, Gesellschafterin einer Dame zu sein, aber so etwas gab es ja heutzutage nicht mehr, und außerdem würde ihr auch keiner die siebenundsiebzig rüstigen Jahre abnehmen, man wäre überzeugt, sie sei zu schwach. Sie tat nichts, tat nur das eine: alt sein. Manchmal war sie niedergeschlagen: sie glaubte, zu nichts nutze zu sein, nicht einmal Gott diente sie zu etwas. Dona Maria Ritinha barg keine Hölle in sich. Weshalb erinnerten die Alten, auch wenn sie nicht zittrig waren, an etwas leicht Bebendes? Dona Maria Rita hatte das brüchige Zittern der Musik einer Drehleier. Doch wenn es um das Leben selbst geht – wer schützt uns da? Denn jeder Einzelne ist einzeln. Und das Leben muß geschützt werden durch das eigene Leben dieses Einen-Einzelnen. Eines jeden Einzelnen von uns: das ist das einzige, womit wir rechnen können. Da Dona Maria Rita stets zu den gewöhnlichen Menschen gehört hatte, glaubte sie, daß Ster29
ben nichts Normales sei. Sterben wäre überraschend. Wäre so, als könne sie dem Todesakt nicht das Wasser reichen, denn in ihrem Leben war bislang noch nie etwas Außergewöhnliches passiert, das plötzlich eine zweite außergewöhnliche Tatsache gerechtfertigt hätte. Sie sprach vom Tod und dachte sogar daran, doch im Grunde war sie skeptisch und mißtrauisch. Sie glaubte, man sterbe bei einem Unfall oder wenn einer einen umbrachte. Die Alte hatte wenig Erfahrung. Manchmal hatte sie Herzrhythmusstörungen: eine Bacchanale des Herzens. Doch das war es auch schon, und sie hatte es bereits als junges Mädchen gehabt. Bei ihrem ersten Kuß zum Beispiel war ihr Herz außer Rand und Band geraten. Und es war etwas Gutes an der Grenze zum Schlechten gewesen. Etwas, das mit ihrer Vergangenheit zusammenhing, nicht als Ansammlung von Fakten sondern als Leben: ein Eindruck wie Pflanzen im Schatten, Heilpflanzen, Farnkraut, Engelsüß, grünliche Frische. Wenn sie dies von neuem spürte, lächelte sie. Eines der gelehrtesten Wörter, die sie benutzte, war ›pittoresk‹. Es war schön. Es war wie das Gurgeln einer Quelle zu hören und nicht zu wissen, wo sie entspringt. Ein Zwiegespräch, das sie mit sich selbst führte: »Machst du gerade irgend etwas?« »Aber gewiß: ich bin traurig.« »Stört es dich nicht, alleine zu bleiben?« »Nein, ich denke.« Manchmal dachte sie nicht. Manchmal war ein Mensch einfach nur. Er mußte nichts tun. Zu sein war schon ein Tun. Man konnte langsam sein oder aber ein bißchen schneller. In der hinteren Sitzreihe saßen zwei Frauen, die unaufhörlich redeten. Ihr ständiges Schwatzen vermischte sich mit dem Rattern der Eisenbahnräder auf den Schienen. 30
Dona Maria Rita hätte es sicher gerne gesehen, wenn ihre Tochter noch auf dem Bahnsteig gewartet hätte, um ihr zum Abschied zuzuwinken, aber das war nicht geschehen. Der Zug hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Bis er den entscheidenden Ruck tat. »Angela«, hob sie an, »eine Frau sagt nie, wie alt sie ist, deshalb kann ich nur sagen, ich bin sehr alt. Doch Ihnen, Angela – ich darf Sie doch so nennen? –, kann ich es, glaube ich, verraten: Ich bin siebenundsiebzig.« »Und ich siebenunddreißig«, entgegnete Angela Pralini. Es war sieben Uhr früh. »Als ich jung war, habe ich manchmal etwas geschummelt. Einfach nur so, ohne böse Absicht.« Später, als hätte die Schummelei ihren Reiz verloren, hatte sie damit aufgehört. Während Angela die alte Dona Maria Rita ansah, bekam sie Angst, alt zu werden und zu sterben. Halte meine Hand fest, Eduardo, damit ich keine Angst vor dem Tod haben muß, Doch er hielt gar nichts fest. Was er machte, war: denken und immer wieder denken. Ach, Eduardo, mich verlangt nach der Sanftheit eines Schumann! Sein Leben war zerstört, es ging zu Ende. Es fehlte ihm ein hartes, rauhes, ein starkes Knochengerüst, gegen das niemand angekommen wäre. Wer könnte solch ein wesentliches Gerüst sein? Um dieses Gefühl großer Bedürftigkeit loszuwerden, dachte sie: Wie sind sie im Mittelalter eigentlich zurechtgekommen ohne Telefon und Flugzeuge? Undenkbar. O Mittelalter, ich liebe Euch und Eure schwarzen, dicken Wolken, die in die klare frische Renaissance mündeten. Was die alte Frau betraf, so wirkte sie abwesend. Sie schaute das Nichts. Angela betrachtete sich in dem kleinen Spiegel in ihrer 3
Handtasche. Ich sehe aus wie eine Ohnmacht. Vorsicht vor dem Abgrund, sage ich der, die aussieht wie eine Ohnmacht. Wenn ich tot bin, werde ich solche Sehnsucht nach dir haben, Eduardo! Der Satz hielt keiner Logik stand, barg aber in sich einen unermeßlichen Sinn. Es war, als wolle sie etwas bestimmtes ausdrücken, drückte aber etwas ganz anderes aus. Die Alte war bereits die Zukunft. Sie schien sich zu schämen. Zu schämen, daß sie alt war? An irgendeinem Punkt ihres Lebens mußte es einen Fehler gegeben haben, und das Resultat war dieser seltsame Lehenszustand. Der sie jedoch nicht zum Tod führte. Der Tod war immer eine solche Überraschung für den, der starb. Doch sie war stolz, weder zu sabbern noch ins Bett zu machen, so als wäre diese robuste Gesundheit das verdienstvolle Ergebnis ihrer eigenen Willenskraft. Sie war nur deshalb keine Dame, keine feine alte Dame, weil sie keinerlei Arroganz zeigte: sie war eine ehrwürdige alte Frau, die auf einmal leicht erschrocken wirkte. Sie – nun ja, sie lobte sich selber, fand, sie sei eine so ausgesprochen frühreife Alte wie ein früh entwickeltes Kind. Doch der wahre Sinn ihres Lebens war ihr nicht bekannt. Angela träumte von der Fazenda: in der Nacht hörte man dort Schreie, Bellen und Jaulen. »Eduardo«, wandte sie ihm ihre Gedanken zu, »dieser ständige Versuch, das zu sein, was du glaubtest, das ich sei, hat mich müde gemacht. Es gibt eine böse Seite – die stärkere und die mächtigere, obwohl ich sie deinetwegen zu verbergen versucht habe –, und auf dieser starken Seite bin ich eine Kuh, eine frei herumlaufende Stute, die mit den Hufen die Erde traktiert, ein Straßenmädchen, eine Landstreicherin – und nicht eine ›Gebildete‹. Ich weiß, daß ich klug bin und daß ich das manchmal verberge, um die anderen nicht vor den Kopf zu stoßen mit 32
meiner Klugheit, ich bin eine Unterbewußte. Ich bin vor dir weggelaufen, Eduardo, weil du mich umbrachtest mit deinen genialen Gedanken, was mich zwang, mir beinahe mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten und vor Entsetzen und Erschöpfung fast zu schreien. Und jetzt werde ich sechs Monate lang auf der Fazenda bleiben, du wirst nicht wissen, wo ich bin, und jeden Tag werde ich im Fluß baden und mit dem lehmigen Grund meinen gesegneten Schlamm vermischen. Ich bin vulgär, Eduardo! und wisse, daß ich gerne Comics lese, mein Lieber, ach Liebster! wie sehr ich dich liebe und deine schrecklichen Untaten, ach, ich bete dich an, deine Sklavin bin ich. Aber ich bin Körper, mein Geliebter, ich bin aus Fleisch und Blut und war gezwungen, diese göttliche Körperlichkeit vor dir zu verbergen. Und du, der du ganz und gar brillantes Denken bist, wurdest, obwohl du es nicht weißt, von mir genährt. Du, superintellektuell und virtuos, vor dem alle bewundernd den Mund aufsperrten.« »Es sieht so aus«, sagte sich allmählich die Alte, »es sieht so aus, als ob diese schöne junge Frau keine Lust hat, sich mit mir zu unterhalten. Ich weiß nicht wieso, aber keiner redet mehr mit mir. Auch wenn ich in Gesellschaft bin, es ist, als ob die anderen mich einfach nicht wahrnehmen. Schließlich kann ich nichts dafür, daß ich alt bin. Aber was soll’s, ich leiste mir eben selber Gesellschaft. Und dann habe ich ja noch Nandinho, meinen lieben Jungen, der mich vergöttert.« »Das perverse Vergnügen, sich zu kratzen!« dachte Angela. »Na, wer sagt’s denn, ich, was, die ich mir kein X für ein U vormachen lasse – ich bin frei!!! Langsam werde ich gesund, o Mensch, ich hätte Lust, ein Schimpfwort herauszuschreien, und zwar so laut, daß alle zusammenfahren. Ob die Alte das verstehen würde? Keine Ahnung, sie hat sicher 33
ein paar Kinder zur Welt gebracht. Ich laß mich nicht darauf ein, von wegen, das Unglück sei des Menschen Bestimmung, Eduardo. Ich will alles bis zur Neige auskosten und dann ins Gras beißen und zur Hölle fahren, zur Hölle, jawohl, zur Hölle! Womöglich ist die Alte unglücklich, ohne es zu wissen. Passivität. Damit will ich auch nichts zu tun haben, nichts da mit Passivität, ich will in einem lehmigen Fluß baden, einem, der genau so ist wie ich, nackt und frei! Hoch soll sie leben! Dreimal hoch! Ich lasse alles! alles! zurück, auf diese Weise werde ich nicht zurückgelassen, ich will nicht von mehr als drei Leuten abhängig sein, und der Rest ist: Guten Morgen, wie geht’s? Na ja, es geht. Weißt du was, Edu? Ich verlasse dich. Du mit deinem tiefgründigen Intellektualismus bist nicht einmal das Leben eines Hundes wert. Also verlasse ich dich. Und ebenso die Gruppe falscher Intellektueller, die von mir verlangte, daß ich ständig vergebliche, nervtötende Denkübungen machte, die falsch und voreilig waren. Erst mußte Gott mich verlassen, damit ich seine Anwesenheit spürte. Ich muß jemanden in mir selbst töten. Du hast meine Intelligenz zerstört mit der deinen, der eines Genies. Und mich zu mehr und mehr und noch mehr Wissen gezwungen. Ach, übrigens, keine Sorge, Eduardo, ich habe die Bücher bei mir, die du mir geschenkt hast, damit ich ein ›Fernstudium‹ absolvieren könnte, wie du es wolltest. Ich werde am Flußufer Philosophie büffeln, bei der Liebe, die ich für dich empfinde.« Angela Pralini hatte so tiefe Gedanken, daß es keine Worte gab, um sie auszudrücken. Zu behaupten, man könne jeweils nur einen Gedanken fassen, war eine glatte Lüge: ihr kamen oft Gedanken, die sich überschnitten, und es waren ihrer nicht wenige. Ganz zu schweigen von dem ›Unterbewußten‹, das in mir explodiert, ob du nun willst oder nicht. 34
Ich bin eine sprudelnde Quelle, dachte Angela, während sie gleichzeitig überlegte, wo sie ihr Kopftuch hingelegt hatte, was der Hund machte und ob er wohl die Milch getrunken hatte, die sie ihm gegeben hatte, an die Hemden Eduardos dachte und an ihre extreme körperliche und geistige Überforderung. Und an die alte Dona Maria Rita. »Nie werde ich dein Gesicht vergessen, Eduardo.« Es war ein Gesicht, das leichtes Erstaunen ausdrückte, Erstaunen über seine eigenen geistigen Fähigkeiten. Er gehörte zu den Naiven. Und liebte, ohne zu wissen, daß er liebte. Er würde seinen Kopf verlieren, nachdem er begriffen hätte, daß sie gegangen war, den Hund und ihn verlassen hatte. Verlassen wegen mangelnder Nahrung, dachte sie. Gleichzeitig dachte sie an die Alte ihr gegenüber. Es stimmte wirklich nicht, daß man nur einen einzigen Gedanken fassen konnte. Sie war beispielsweise in der Lage, einen einwandfreien Scheck auszustellen, ohne einen Fehler, und dabei, sagen wir, an ihr Leben zu denken. Das kein besonders schönes, aber immerhin ihr eigenes war. Von neuem ihr eigenes. Die Kohärenz will ich nicht mehr. Kohärenz ist Verstümmelung. Ich will die Unordnung. Ich erahne nur durch heftige Inkohärenz. Um zu meditieren, habe ich mich zunächst von mir genommen, und ich spüre die Leere. In der Leere verläuft die Zeit. Sie, die sie so gerne am Strand war und die Sonne, den Sand und die Sonne liebte. Der Mensch ist verlassen, er hat den Kontakt zur Erde und zum Himmel verloren. Er lebt nicht mehr, er existiert. Die Luft, die sie und Eduardo Gomes atmeten, war Notluft. Er hatte sie zu einer dringlichen Frau gemacht. Die, um die Dringlichkeit aufrechtzuerhalten, Aufputschmittel nahm, die ihr Gewicht immer mehr verringerten und den Appetit zügelten. Ich will essen, Eduardo, ich habe Hunger, Eduardo, Hunger auf Berge von Essen! Ich bin aus organischem Stoff! 35
»Lernen Sie heute den Superzug von morgen kennen.« Aus dem Reader’s Digest, den sie manchmal las, wenn Eduardo es nicht merkte. Es war wie im Reader’s, wo stand: Lernen Sie heute den Superzug von morgen kennen. Den lernte sie heute nun wirklich nicht kennen. Aber Eduardo war der Superzug. Super in allem. Sie kannte heute den Super von morgen. Und ertrug ihn nicht. Ertrug nicht den fortwährenden Antrieb. Du bist die Wüste und ich gehe nach Ozeanien, an die Südsee, nach Tahiti. Wenn es auch von den Touristen versaut ist. Du bist nichts weiter als ein Tourist, Eduardo. Ich wende mich meinem eigenen Leben zu, Edu. Und sage wie Fellini: In der Dunkelheit und der Unwissenheit schaffe ich mehr. Mit Eduardo zusammenzuleben roch nach neuer, frischgestrichener Apotheke. Sie zog den beißenden Geruch von Mist vor, wenn er auch noch so unangenehm war. Eduardo war korrekt wie ein Tennisplatz. Er spielte übrigens Tennis, um in Form zu bleiben. Nun ja, er war ein Langweiler, den sie liebte und fast schon nicht mehr liebte. Schon hier im Zug gewann sie nach und nach ihr geistiges Gleichgewicht wieder. Sie war immer noch in Eduardo verliebt. Und er, ohne daß er es wußte, in sie. Ich, die ich nichts richtig machen kann, außer einem Omelett. Mit einer einzigen Hand zerbrach sie die Eier, blitzschnell, und gab sie in eine Schüssel, ohne daß ein einziger Tropfen danebenging. Eduardo erblaßte vor Neid bei so viel Eleganz und Geschicklichkeit. Er hielt manchmal Vorträge an den Universitäten, und alle fanden ihn umwerfend. Sie hörte auch zu, fand ihn auch umwerfend. Wie pflegte er doch am Anfang immer zu sagen? »Ich fühle mich nicht unbedingt wohl in meiner Haut, wenn ich sehe, daß die Leute aufstehen, wenn angekündigt wird, daß ich spreche.« Angela hatte ständig Angst, sie könnten gehen und ihn alleine lassen. 36
Als handelte es sich um eine Gedankenübertragung, schoß der Alten ein Gedanke durch den Kopf: Daß sie mich ja nicht alleine lassen. Wie alt bin ich nun genau? Ach, ich weiß es schon nicht mehr. Gleich danach schaltete sie ihre Gedanken auf Leerlauf. Und war gelassen nichts. Sie existierte kaum. Es war angenehm so, wirklich sehr angenehm. Eingetauchtsein in das Nichts. Um sich abzuregen, erzählte Angela Pralini sich eine ganz entspannende, ruhige Geschichte: Es war einmal ein Mann, der aß furchtbar gerne Jabuticabas. Da ging er in einen Obstgarten, in dem es Bäume gab, deren Stämme regelrecht strotzten von den glatten, schwarzen und glänzenden Beeren. Sie fielen ihm hingebungsvoll in die Hände und aus den Händen auf die Füße. Es war eine solche Jabuticabafülle, daß er sich den Luxus erlaubte, sie zu zertreten. Sie gaben ein lustiges Knacken von sich. Sie machten so: plok-plokplok usw. Angela wurde ganz ruhig, genau wie der Mann mit den Jabuticabas. Auf der Fazenda gab es Jabuticabas, und sie würde mit nackten Füßen plok-plok auf den weichen, feuchten Beeren machen. Sie wußte nie, ob sie die Kerne mitessen sollte oder nicht. Wer würde ihr diese Frage beantworten? Niemand. Nur ein Mann vielleicht, der wie Ulisses, der Hund, und gegen Eduardo Antwort gab: »Mangia, bella, che ti fa bene.« Sie konnte ein wenig Italienisch, wußte aber nie hundertprozentig, ob es richtig war. Und nachdem der Mann das gesagt hätte, würde sie die Kerne hinunterschlucken. Ein anderer köstlicher Baum, dessen wissenschaftlichen Namen sie vergessen hatte, den aber in ihrer Kindheit alle direkt und ohne Wissenschaft gekannt hatten, war einer, im Botanischen Garten von Rio de Janeiro, der ein ganz trockenes Plok-plok machte. Siehst du? siehst du, wie du dich wie neugeboren fühlst? Sieben Leben 37
hat die Katze. Die Zahl Sieben begleitete sie, sie war ihr Geheimnis, ihre Stärke. Sie fühlte sich wunderschön. Sie war es nicht. Aber sie fühlte sich so. Sie fühlte sich auch gütig. Voll Zärtlichkeit für die alte Maria Ritinha, die ihre Brille aufgesetzt hatte und die Zeitung las. Alles war gemächlich an der alten Maria Rita. Dem Ende nah? Ach, wie weh es tut zu sterben. Man muß leiden im Leben, aber man hat etwas in der Hand: das unsagbare Leben. Und die Frage nach dem Tod? Man mußte die Angst überwinden: weitermachen, immer weiter. Immer weiter. Wie der Zug. Irgendwo steht etwas auf einer Mauer geschrieben. Und es ist für mich, dachte Angela. Aus der brennenden Hölle wird ein frisches Telegramm für mich ankommen. Und meine Hoffnung wird nie wieder enttäuscht werden. Nie. Nie wieder. Die Alte war anonym wie ein Huhn, wie eine gewisse Clarice gesagt hatte, als sie von einer schamlosen alten Frau sprach, die in Roberto Carlos verliebt war. Diese Clarice konnte einem auf den Geist gehen: Sie ließ die Alte aufschreien: Es! muß! doch! einen! Ausweg! geeeeeeeben! Was auch stimmte. Der Ausweg für besagte Alte war zum Beispiel der Ehemann, der am nächsten Tag zurückkehren würde, die Bekannten, das Dienstmädchen, das innige hilfreiche Gebet angesichts der Verzweiflung. Angela sagte sich mit verbissener Wut: Es muß doch einen Ausweg geben. Sowohl für mich als auch für Dona Maria Rita. Ich konnte die Zeit nicht aufhalten, dachte Maria Rita Alvarenga Chagas Souza Melo. Ich bin gescheitert. Ich bin alt. Und sie tat so, als läse sie die Zeitung, nur um ihre Haltung zu bewahren. 38
Ich möchte Schatten, stöhnte Angela, Schatten und Anonymität. Die Alte dachte: ihr Sohn war so gütig, hatte ein so warmes Herz, war so zärtlich! ›Mamilein‹ nannte er sie. Ja, vielleicht bleibe ich den Rest meines Lebens auf der Fazenda, fern von der ›PR-Frau‹, die mich nicht braucht. Und gewiß werde ich lange leben, wenn man bedenkt, wie alt meine Eltern und Großeltern geworden sind. Sie konnte es ganz leicht auf hundert Jahre bringen, dachte sie behaglich. Und dann ganz plötzlich sterben, damit sie gar nicht erst dazu kam, Angst zu spüren. Verstohlen schlug sie das Kreuz und bat Gott um einen schönen Tod. Ulisses’ Kopf war, unter menschlichen Gesichtspunkten betrachtet, monströs und häßlich. Unter hündischen Gesichtspunkten war er wunderschön. Er war stark wie ein weißes, freilaufendes Pferd, nur daß er hellbraun war, mit einem Stich ins Orange, whiskeyfarben. Doch sein Fell war wunderbar wie das eines energischen, aufgebäumten Pferdes. Die Halsmuskeln waren sehnig, und man konnte diese Muskeln mit wissenden Fingern anfassen. Ulisses war ein Mann. Ohne die schreckliche Welt. Er war zärtlich wie ein Mann. Die Frau soll den Mann gut behandeln. Der Zug fuhr nun über offene Felder: die Grillen zirpten schrill und rauh. Hin und wieder schenkte ihr Eduardo, unbeholfen wie jemand, der gezwungen ist, eine Rolle zu spielen, einen eiskalten Diamanten. Ihr, die sie Brillanten viel lieber mochte. Wie dem auch sei, seufzte sie, die Dinge sind nun mal, wie sie sind. Manchmal, wenn sie aus ihrer Wohnung in dem Hochhaus sah, hatte sie Lust, Selbstmord zu begehen. Nein, nicht wegen Eduardo, eher aufgrund einer Art fataler Neugierde. Das erzählte sie niemandem, aus Angst, einen laten39
ten Selbstmörder zu beeinflussen. Sie wollte das Leben, ein plattes und volles Leben, ein ganz tolles, in dem sie vor aller Augen den Reader’s Digest lesen konnte. Sie wollte erst mit neunzig sterben, mitten in einem Lebensakt, ohne etwas zu merken. Das Phantom des Irrsinns umkreist uns. Was tust du da? Ich warte auf die Zukunft. Als der Zug sich endlich in Bewegung gesetzt hatte, hatte Angela Pralini sich eine Zigarette angesteckt, halleluja: sie hatte befürchtet, daß, solange der Zug noch stand, sie der Mut verlassen könnte und sie am Ende wieder aussteigen würde. Doch kurz danach waren sie bereits den Stoßdämpfern und den ruckenden Bewegungen der Räder ausgesetzt. Der Zug kam in Fahrt. Und die alte Maria Rita seufzte: sie war ihrem geliebten Sohn schon näher. Ihm konnte sie eine Mutter sein, sie, die sie eine kastrierende Tochter hatte. Einmal, als Angela Schmerzen während der Menstruation hatte, hatte Eduardo völlig unbeholfen versucht, zärtlich zu ihr zu sein. Er hatte ihr etwas Schreckliches gesagt: Ha’ du Wehweh, ja? Es trieb einem die Schamröte ins Gesicht. Der Zug fuhr so schnell er konnte. Der Lokomotivführer glücklich: so ist es recht, und in jeder Kurve ein Pfiff. Es war das langgezogene, satte Pfeifen einer Lokomotive in voller Fahrt, Entfernungen zurücklegend. Der Morgen war kühl und übersät mit hohen grünen Gräsern. Jawohl, meine Gute, so kommen wir voran, sagte der Maschinist zu der Maschine. Freudig gab die Maschine Antwort. Die Alte war nichts. Und sah in die Luft, wie man zu Gott aufsieht. Sie war aus Gott gemacht. Das heißt: aus allem oder nichts. Die Alte, dachte Angela, war verwundbar. Verwundbar hinsichtlich der Liebe, der Liebe ihres Sohnes. Die Mutter war eine Franziskanerin, die Tochter eine Umweltbelastung. 40
Gott, dachte Angela, wenn es dich gibt, so zeig dich! Denn es ist soweit. Jetzt, genau in dieser Stunde, in dieser Minute, in dieser Sekunde. Und das Ergebnis war, daß sie sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischen mußte. Gott hatte ihr auf gewisse Weise geantwortet. Sie war zufrieden und schluckte ein ersticktes Schluchzen hinunter. Wie weh das Leben tat. Zu leben war eine offene Wunde. Zu leben ist, wie mein Hund zu sein. Ulisses hat überhaupt nichts mit Ulysses von Joyce zu tun. Ich habe versucht, Joyce zu lesen, dann aber aufgehört, weil ich ihn langweilig fand, entschuldige, Eduardo. Aber er war ein genialer Langweiler. Angela liebte die Alte, die nichts war, die Mutter, die ihr fehlte. Eine süße Mutter, naiv und leidend. Ihre Mutter war gestorben, als sie neun Jahre alt war. Eine kranke Mutter, vorausgesetzt, sie lebte, erfüllte noch ihre Rolle. Selbst eine Mutter im Rollstuhl. Zwischen ihr und Eduardo herrschte ein Samstagsklima. Und plötzlich waren beide selten, die Luft war dünn geworden. Sie fühlten sich selten, gehörten nicht zu den Tausenden von Menschen auf der Straße. Beide waren sie bisweilen nachsichtig, führten ein geheimes Leben, weil niemand sie verstehen würde. Und auch, weil die Seltenen verfolgt werden von der Masse, die die kränkende Beleidigung derjenigen, die sich unterscheiden, nicht hinnimmt. Sie verbargen ihre Liebe, um den Blick der anderen nicht vor Neid zu trüben. Um sie nicht durch einen Funken zu verletzen, der für die Augen zu heil war. Wau, wau, wau, bellte mein Hund. Mein großer Hund. Die Alte dachte: Ich bin ein unfreiwilliger Mensch. So daß man, wenn sie lachte – was selten war –, nicht wußte, ob sie lachte oder weinte. Ja. Sie war unfreiwillig. Während Angela Pralini, sprudelnd wie die Kohlensäure im 4
Mineralwasser von Caxambu, folgendes war: auf einmal. So: auf einmal. Auf einmal was? Nichts, nur auf einmal. Null. Nichts. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und hatte vor, augenblicklich wieder anzufangen zu leben. Wie die sprudelnde Kohlensäure des Caxambuwassers. Die sieben Buchstaben von Pralini gaben ihr Kraft. Die sechs Buchstaben von Angela machten sie anonym. Mit einem langgezogenen traurigen Pfeifen fuhren sie in den kleinen Bahnhof ein, wo Angela Pralini aussteigen würde. Sie nahm ihren Koffer. Durch die Lücke zwischen der Mütze des Schaffners und der Nase eines jungen Mädchens sah sie die Alte, die den Schlaf der Gerechten schlief, erhobenen Hauptes unter dem Filzhut, eine Hand über der Zeitung zur Faust geballt. Angela stieg aus. Natürlich hatte das nicht die geringste Bedeutung: es gibt Leute, die immer glauben, etwas bereuen zu müssen, ein Grundzug dieser schuldbeladenen Naturen. Doch die Vorstellung von der Alten, wenn sie aufwachte, ihr ungläubiges Gesicht vor dem leeren Sitz Angelas, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Wer konnte schon wissen, ob sie vielleicht eingeschlafen war, nur weil sie Angela vertraut hatte. Der Welt vertraut hatte.
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Trockene Studie über Pferde
Entblößung Das Pferd ist nackt. Falsche Zähmung Was ist Pferd? Eine so unzähmbare Freiheit, daß es vergeblich ist, es einzufangen, damit es dem Menschen diene: es läßt sich zähmen, doch mit einem einfachen rebellischen Zurückwerfen seines Kopfes – die Mähne schüttelnd wie einen losen Haarschopf – zeigt es, daß seine intimste Natur stets wild und rein und frei ist. Form Die Form des Pferdes steht für das Beste im Menschen. Ich habe ein Pferd in mir, das selten zum Ausdruck kommt. Doch wenn ich ein anderes Pferd sehe, dann äußert sich meines. Seine Form spricht. Sanftmut Was führt dazu, daß ein Pferd wie aus glänzender Seide ist? Es ist die Sanftmut eines Wesens, das zum Leben und seinem Regenbogen steht. Diese Sanftmut verkörpert sich in dem weichen Fell, das die elastischen Muskeln erraten läßt, die agil und beherrscht sind.
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Die Augen des Pferdes Ich habe einmal ein blindes Pferd gesehen: die Natur hatte sich geirrt. Zu spüren, wie unruhig es war, jedes kleinste Geräusch der Brise im Gras verfolgend, die Nerven zum Zerreißen gespannt, während ein Schauer über seinen wachsamen Körper rann, schmerzte. Was sieht ein Pferd, so daß es sich gleichsam selbst verlorengeht, wenn es seinesgleichen nicht sieht? Es ist so, daß es – wenn es etwas erblickt – in der Außenwelt das sieht, was in seinem Inneren ist. Es ist ein Tier, das sich über die Form ausdrückt. Wenn es Berge, Wiesen, Menschen, den Himmel sieht, beherrscht es Menschen und sogar die Natur. Sensibilität Ein jedes Pferd ist wild und scheu, wenn unsichere Hände es berühren. Das Pferd und ich In dem Versuch, meine verborgensten und subtilsten Eindrücke in Worte zu kleiden – und mein Wahrhaftigkeit erheischendes Bedürfnis mißachtend –, würde ich sagen: Hätte ich die Wahl gehabt, so wäre ich gern als Pferd auf die Welt gekommen. Doch – wer weiß – vielleicht erlebt sich das Pferd selbst gar nicht als das große Symbol des freien Lebens, das wir in ihm sehen. Soll ich also zu dem Schluß kommen, das Pferd sei vor allem da, um von mir erlebt zu werden? Stellt das Pferd die schöne, freie Animalität des Menschen dar? Besitzt das Menschenwesen bereits das Beste vom Pferd? Dann verzichte ich darauf, ein Pferd sein zu 44
wollen, und gehe stolz zu meiner Menschlichkeit über. Das Pferd zeigt mir, was ich bin. Das junge Mädchen / Füllen Einst hatte ich eine vollkommene Beziehung zu Pferden. Ich sehe mich noch deutlich als junges Mädchen vor mir. Stolz stand ich da, mit dem gleichen Selbstbewußtsein wie das Pferd und strich über sein glänzendes Fell. Fuhr durch seine wilde, unbändige Mähne. Ich hatte das Gefühl, etwas von mir sähe uns aus der Ferne – so: »Das Mädchen und das Pferd.« Selbstbewußtsein Auf der Fazenda stieß das weiße Pferd – König der Natur – sein langes, prachtvolles Wiehern hoch in die schneidende Luft. Das gefährliche Pferd In einer Kleinstadt im Landesinnern – die eines Tages zur kleinen Metropole werden sollte – herrschten noch die Pferde gleich prominenten Einwohnern. Wegen des zunehmenden Bedarfs an Transportmitteln hatten Horden von Pferden den Ort eingenommen, und in den noch ungestümen Kindern entstand der geheime Wunsch zu galoppieren. Ein feuriger junger Fuchshengst hatte einem Jungen, der ihn reiten wollte, einen tödlichen Schlag versetzt. Und die Stelle, wo das tollkühne Kind gestorben war, wurde von den Leuten mit einem Vorwurf betrachtet, von dem sie in Wirklichkeit nicht wußten, an wen sie ihn richten sollten. Mit den 45
Einkaufskörben im Arm blieben die Frauen stehen und schauten. Eine Zeitung hatte sich des Falles angenommen, und nicht ohne einen gewissen Stolz war eine Notiz unter der Überschrift ›Das Verbrechen des Pferdes‹ zu lesen. Es war das Verbrechen eines der Sprößlinge des Städtchens. Der Ort mischte seinem Stallgeruch bereits das Bewußtsein der in den Pferden angestauten Kraft bei. Auf der ausgebrannten Straße Doch plötzlich – im Schweigen der Mittagssonne, um zwei Uhr, als kaum ein Mensch auf den Straßen des Vorortes war – tauchte ein Pferdegespann aus einer Querstraße auf. Einen Augenblick verharrten die Tiere reglos. Mit leuchtenden Mäulern, als hätte man ihnen keinen Zaum angelegt. Wie Statuen. Die wenigen mit der Sonnenglut kämpfenden Passanten sahen hin, scharf, vereinzelt, ohne in Worten einzusehen, was sie sahen. Sie sahen nur ein. Die blendende Erscheinung war vorbei – die Pferde neigten die Hälse, senkten die Hufe und setzten ihren Weg fort. Der Augenblick aufblitzenden Erkennens war vorbei. Ein Augenblick, eingefangen wie durch einen Photoapparat, der festzuhalten vermöchte, was Worte niemals aussagten. Der Sonnenuntergang An diesem Tag, als die Sonne sich langsam dem Horizont näherte, ergoß sich das Gold über Wolken und Steine. Die Gesichter der Einwohner schimmerten golden wie Rüstungen, und ebenso leuchteten ihre struppigen Haare. Staubige Fabriken stießen in Abständen Pfiffe aus und kündigten das Ende des Arbeitstages an, das Rad eines Pferdewagens be46
kam einen goldenen Nimbus. In diesem blassen Gold in der Brise gab es etwas Aufsteigendes wie bei einem aus der Scheide gezogenen Schwert. Denn so ragte auf dem Platz die Pferdestatue vor einem zarten Abendhimmel auf. An kalten Morgen Man konnte den warmen, feuchten Atem sehen – diesen schimmernden, gleichmäßigen Atem, der den empfindsamen und bebenden Nüstern der Hengste und Stuten an manch kalten Morgen entwich. Im Mysterium der Nacht Doch in der Nacht galoppierten Pferde, die man von ihren Lasten befreit und auf die Weide getrieben hatte, feingliedrig und zügellos im Dunkeln. Hengste, Mähren, Füchse, schlanke Stuten, harte Hufe – plötzlich ein kühler, dunkler Pferdekopf! – die Hufe stampften, schäumende Mäuler reckten sich in die Luft in zornigem Raunen. Und ab und zu ließ ein langes Schnauben die Gräser vor Kälte erzittern. Dann rückte der helle Fuchshengst vor. In seitlichem Wechselschritt, den Kopf auf die Brust gelegt, bei gleichmäßigem Tempo. Die anderen umringten ihn, ohne aufzublicken. Wenn ich die Pferde hörte, erriet ich, daß die trockenen Hufe vorwärts eilten bis sie auf dem höchsten Punkt des Hügels haltmachten. Und der Kopf beherrschte das Städtchen, stieß das langgezogene Wiehern aus. Angst überkam mich in meinem dunklen Zimmer, es wär die Terrorherrschaft eines Königs, am liebsten hätte ich als Antwort wiehernd die Zähne gefletscht. In neiderfülltem Begehren wies mein Gesicht den nervösen Stolz eines Pferdekopfes auf. 47
Müde, frohlockend, dem somnambulen Traben lauschend. Kaum hätte ich das Zimmer verlassen, veränderten sich Umfang und Form meines Körpers, und, auf der Straße angekommen, galoppierte ich schon mit empfindlichen Füßen los, nachdem ich mit den Hufen die letzten Treppenstufen heruntergerutscht wäre. Auf dem menschenleeren Gehweg würde ich sehen: die eine Straßenecke und zugleich die andere. Und sähe die Dinge, wie ein Pferd sie sieht. Das war es, was ich wollte. Vom Haus aus versuchte ich wenigstens den Geräuschen des Weidebergs zu lauschen, wo die namenlosen Pferde im Dunkel galoppierten, zurückgekehrt zum Zeitalter der Jagd und des Krieges. Die Tiere schworen ihrem geheimen, sich während der Nacht abspielenden Leben nicht ab. Und wenn in der wilden Runde ein weißer Hengst auftauchte – so wirkte es wie eine gespenstische Vision im Dunkeln. Alle standen still. Das wundersame Pferd erschien, war eine Erscheinung. Einen Augenblick zeigte es sich hochaufgebäumt. Reglos warteten die Tiere, ohne sich anzusehen. Doch eines von ihnen schlug mit dem Huf auf – und dieser kurze Schlag unterbrach die Spannung: plötzlich war Bewegung in die aufgescheuchten Tiere gekommen, sie liefen kreuz und quer durcheinander, ohne sich je zu berühren, und in ihrer Mitte verlor sich das weiße Pferd. Bis ein wütendes Wiehern sie warnte – eine Sekunde lang horchten sie auf, dann liefen sie, in neuer Gruppierung trabend, auseinander, den Rücken ohne Reiter, die Hälse gekrümmt, bis das Maul die Brust berührte. Die Mähnen gesträubt. Rhythmisch, unverfälscht. Bei fortgeschrittener Nacht – wenn die Menschen schliefen – standen sie bewegungslos in der Finsternis. Bodenständig und schwerelos. Sie standen da, unsichtbar, und at48
meten. Mit knapp bemessener Intelligenz abwartend. Unten, in dem schlafenden Städtchen, flog ein Hahn auf und setzte sich auf die Fensterbrüstung. Die Hennen guckten. Jenseits der Eisenbahnschienen eine Ratte, bereit, die Flucht zu ergreifen. Dann schlug der Hengst mit dem Huf auf. Er hatte keinen Mund zu sprechen, doch er gab das kleine Zeichen, das sich von Raum zu Raum in der Dunkelheit ausbreitete. Sie guckten. Diese Tiere, die zum Sehen ein Auge auf jeder Seite hatten … nichts mußte von vorne gesehen werden, und dies war die große Nacht. Eine Stute, über deren Flanken in der Stille der Nacht ein kurzer Schauer lief, verdrehte die Augen, als wäre sie von Ewigkeit umgeben. Der unruhigste Hengst hatte die Mähne noch immer in stummem Wiehern gesträubt. Schließlich herrschte vollkommene Stille. Bis die zarte Morgendämmerung sie entblößte. Sie standen auf dem Hügel, voneinander getrennt. Erschöpft, frisch. In der Nacht hatten sie das Geheimnis der Natur der Wesen gelüftet. Studie über das dämonische Pferd Nie mehr werde ich Ruhe finden, denn ich habe das Jagdpferd eines KÖNIGS geraubt. Jetzt bin ich schlechter als ich selbst! Nie mehr werde ich Ruhe finden: ich habe das Jagdpferd des KÖNIGS an dem verhexten Sabbat gestohlen. Schlafe ich eine Sekunde ein, weckt mich das Echo eines Wieherns. Und es ist zwecklos, nicht zu folgen. Im Dunkel der Nacht jagt mir das Schnauben einen Schauer über den Rücken. Ich tue so, als schliefe ich, aber der Hengst atmet in der Stille. Jeden Tag wird es dasselbe sein: schon in der Dämmerstunde beginne ich, melancholisch und nachdenk49
lich zu werden. Ich weiß, daß die erste Trommel auf dem Berg des Bösen die Nacht einleitet, ich weiß, daß die dritte bereits ihr Donnern über mich ausgebreitet haben wird. Und beim fünften Trommelschlag werde ich schon die Begierde eines Phantompferdes zeigen. Bis ich mich bei anbrechendem Morgen, während die letzten leisen Trommeln verklingen, ohne zu wissen, wie mir geschieht, und ohne jemals zu erfahren, was ich getan habe, am Ufer eines frischen Baches und an der Seite eines riesigen, müden Pferdekopfes wiederfinden werde. Müde wovon? Was haben wir getan, das Pferd und ich, wir, die wir in der Freudenhölle von blutsaugenden Gespenstern traben? Er, der Hengst des KÖNIGS, ruft mich. Schweißnaß habe ich mich immer wieder dagegen gewehrt und bin ihm nicht gefolgt. Das letzte Mal, als ich aus seinem silbernen Sattel stieg, war meine Traurigkeit als Mensch, weil ich gewesen war, was ich nicht hätte sein sollen, so groß, daß ich mir geschworen habe, nie wieder. Doch das Traben setzt sich in mir fort. Ich unterhalte mich, räume die Wohnung auf, lächele, doch ich weiß, daß das Traben in mir ist. Vor Sehnsucht danach könnte ich sterben. Nein, ich muß dem Ruf folgen. Ich weiß, daß wenn er in der Nacht ertönt, ich mitgehen werde. Noch ein einziges Mal möchte ich, daß das Pferd mein Denken lenkt. Von ihm habe ich gelernt. Falls diese Zeit von Bellen zu Bellen das Denken ist. Ich werde langsam traurig, denn ich weiß, während meine Augen – ohne es zu wollen! es ist nicht meine Schuld! –, während meine Augen schon unwillentlich in böser Lust funkeln – ich weiß, daß ich ihm folgen werde. Wenn es mich in der Nacht mit der Anziehungskraft der Hölle ruft, folge ich. Wie eine Katze steige ich von den Dä50
chern herab. Niemand weiß es, niemand sieht es. Nur die Hunde bellen, das Übernatürliche vorausahnend. In der Dunkelheit stelle ich mich dem Pferd, das mich erwartet, einem königlichen Pferd, stelle mich ihm strahlend und wortlos. Dem TIER gehorchend. Dreiundfünfzig Flöten folgen uns auf dem Fuße. Vorn leuchtet uns eine Klarinette, uns, den schamlosen Komplizen des Änigmas. Und nichts weiter ist mir zu wissen vergönnt. Im Morgengrauen werde ich uns erschöpft am Ufer des Baches sehen, ohne zu wissen, welche Verbrechen wir begangen haben, bevor wir den unschuldigen Morgen erreichten. In meinem Mund und an seinen Hufen Spuren des großen Blutvergießens. Was haben wir geopfert? Im Morgengrauen werde ich neben dem verstummten Hengst stehen, während die restlichen Flöten mir noch aus den Haaren tropfen. Die ersten Glockenschläge in der Ferne lassen uns erschauern und schlagen uns in die Flucht, wir weichen vor dem Kreuz zurück. Die Nacht ist mein Leben mit dem dämonischen Pferd, ich bin die Zauberin des Schreckens. Die Nacht ist mein Leben, es ist spät, die sündhaft glückliche Nacht ist das traurige Leben, welches mein geheimer, wild verzückter Gottesdienst ist – ach, raube, raube mir doch den Hengst, denn von Raub zu Raub kühner habe ich sogar den Tagesanbruch für mich und meinen phantastischen Partner geraubt, und die Morgendämmerung habe ich bereits in die schreckliche Ahnung einer teuflischen, bösartigen Freude verwandelt. Befreie mich, schnell, raube mir den Hengst, solange es noch Zeit ist, solange es noch nicht dunkelt, während noch hellichter Tag ist, sollte es nicht schon zu spät sein, denn 5
beim Raub des Hengstes mußte ich den KÖNIG töten, und indem ich ihn umbrachte, raubte ich dem KÖNIG den Tod. Und die orgiastische Freude unseres Mordens verzehrt mich in schauriger Wollust. Raube schnell das gefährliche Pferd des KÖNIGS, raube mich, bevor die Nacht hereinbricht und mich ruft.
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Wo warst du in der Nacht »Die Geschichten haben ein offenes Ende.« Alberto Dines »Das Unbekannte macht süchtig.«
Fuazi Arap
»Im Sessel sitzen, den Mund voller Zähne und auf den Tod warten.« Raul Seixas »Was ich ankündige, ist so neu, daß ich befürchte, mir alle Menschen zu Feinden zu machen, so stark sind Vorurteile und Doktrinen, einmal übernommen, in der Welt verwurzelt.« William Harvey
Die Nacht war eine außergewöhnliche Möglichkeit. Mitten in der Nacht eines glühendheißen Sommers krähte ein Hahn außer der Zeit und nur ein einziges Mal, um den Beginn des Aufstiegs zum Gipfel anzukündigen. Unten wartete schweigend die Menge. Er-Sie war schon oben auf dem Berg, und das Sie war verkörpert in dem Er und das Er in dem Sie. Die androgyne Mischung brachte ein so schrecklich schönes, ein so furchtbar berauschendes Wesen hervor, daß die Teilnehmer es nicht mit einem einzigen Blick erfassen konnten: so wie der Mensch sich nach und nach an die Dunkelheit gewöhnen muß, um allmählich etwas unterscheiden zu können. Nach und nach würden sie das Sie-Er erkennen, und wenn das ErSie ihnen mit einer Leuchtkraft erschien, die von ihr-ihm ausging, würden sie, gelähmt von dem, was das Schöne ist, sagen: »Oh, oh«. Dies war ein Ausruf, der im Schweigen der Nacht erlaubt war. Sie schauten die erschreckende Schön53
heit und ihre Gefahr. Aber just um diese Gefahr zu erleiden, waren sie gekommen. Sümpfe verströmten sich. Ein Stern von großer Dichte leitete sie. Sie waren die Kehrseite des Guten. Immer höher stiegen sie, und es vermischten sich Männer, Frauen, Kobolde, Gnome und Zwerge – wie tote Götter. Die goldene Glocke läutete für die Selbstmörder. Außer dem großen Stern kein weiterer. Und es gab kein Meer. Was es oben vom Berg her gab, war Dunkelheit. Aus Nordwest wehte ein Wind. War das Er-Sie ein Leuchtturm? Die Anbetungszeremonie der Verdammten konnte beginnen. Die Menschen wanden sich auf dem Boden wie dicke weiche Würmer: sie krochen hoch. Sie setzten alles aufs Spiel, da sie unweigerlich eines Tages sterben mußten, vielleicht in zwei Monaten, vielleicht in sieben Jahren – das war es, was das Er-Sie in ihnen dachte. Sieh mal die Katze. Sieh mal, was die Katze gesehen hat. Sieh mal, was die Katze gedacht hat. Sieh nur, was da war. Letztendlich, letztendlich gab es kein Symbol – das ›Ding‹ war! das orgiastische Ding. Diejenigen, die hinaufstiegen, waren am Abgrund der Wahrheit. Nebukadnezar. Sie sahen aus wie 20 Nebukadnezare. Und in der Nacht trennten sie sich. Sie warten auf uns. Es war eine Leere – die Reise außerhalb der Zeit. Schallend lachte ein Hund in der Dunkelheit. »Ich habe Angst«, sagte das Kind. »Angst wovor?« fragte die Mutter. »Vor meinem Hund.« »Aber du hast doch gar keinen Hund.« »Doch, ich habe einen.« Etwas später aber weinte laut lachend auch das Kind, seine Lachtränen vermischten sich mit Tränen der Verwunderung. Endlich kamen sie zum Ziel, die Verdammten. Und erschauten die Ewige Witwe, die Große Einsame, die alle faszi54
nierte, und weder Männer noch Frauen konnten widerstehen und sie wollten sich ihr nähern, um sie im Sterben zu lieben, doch mit einer Handbewegung gebot sie ihnen, sich fernzuhalten. Sie wollten sie mit einer seltsamen, todessüchtigen Liebe beglücken. Es machte ihnen nichts aus, sie zu lieben und dabei zu sterben. Der Mantel des Sie-Er war von einer leidgeplagten violetten Farbe. Und die Söldnerinnen des Sex en famille versuchten vergeblich, sie nachzuahmen. Wie spät es wohl war? Niemand konnte in der Zeit leben, die Zeit war indirekt und ließ sich ihrer Natur gemäß niemals einholen. Schon waren ihre Fußgelenke geschwollen, Verdorbenes knurrte in den Mägen voller Erde, die Lippen aufgeworfen und dennoch rissig – sie stiegen den Hang hinauf. Die Finsternis durchtränkt von einem tiefen dunklen Ton wie die dunkelste Note bei einem Cello. Sie kamen an. Das Gemaledeite, das Er-Sie, glänzte angesichts der Anbetung von Königen und Vasallen wie ein angestrahltes gigantisches Wasser. Die Stille quoll über von ihrem keuchenden Atem. Überall Lippen, geöffnet vor Wollust, so feist, daß sie erstarrten. Sie fühlten sich von der Großen Langeweile befreit. Der Berg war aus Schrott. Wenn das Sie-Er einen Augenblick aussetzte, sagten sich Männer und Frauen, für einen Moment sich selbst überlassen, erschrocken: Ich kann nicht denken. Doch das Er-Sie dachte in ihnen. Ein stummer Bote mit einer hohen Klarinette verkündete die Nachricht. Was für eine Nachricht? die der Bestialität? Vielleicht war es aber auch folgendes: Nach dem Boten fing jeder einzelne an, ›sich zu spüren‹, sein Selbst zu spüren. Und es gab keine Repression: sie waren frei! Da fingen sie an zu stammeln, nach innen jedoch, denn das Sie-Er forderte aufs schärfste, daß sie sich nicht gegenseitig in ihrer langsamen Verwandlung störten. »Ich bin Jesus! ich bin 55
Jude!« schrie stumm der arme Jude. Die Annalen der Astronomie haben noch nie etwas Ähnliches wie diesen spektakulären Kometen verzeichnet, der vor kurzem entdeckt wurde – Millionen Kilometer zieht sich sein bauschiger Schweif durch das Weltall. Unbeeinträchtigt von der Zeit. Ein buckliger Zwerg hüpfte umher wie ein Frosch, von einer Wegkreuzung zur anderen – der Ort war voller Wege, die sich kreuzten. Plötzlich erschienen die Sterne und waren Brillanten und Diamanten am dunklen Himmel. Und der Buckelzwerg hopste auf und ab, so hoch er konnte, um die Brillanten, die seine Begierde anfachten, zu erreichen. Kristalle! Kristalle! schrie er in Gedanken, die sich überschlugen wie seine Sprünge. Leicht, gleichmäßig, ununterbrochen pulsierte das Latente. Alle waren alles in einem Zustand der Latenz. »Es gibt keine Sünde, die wir nicht in Gedanken begangen hätten.« Goethe. Eine neue, nicht authentische Geschichte Brasiliens wurde im Ausland geschrieben. Außerdem beklagten sich die brasilianischen Wissenschaftler über mangelnde Arbeitsmittel. Der Berg war vulkanischen Ursprungs. Und urplötzlich das Meer: die sich überstürzenden Wellen des Atlantik dröhnten in ihren Ohren. Und der salzige Geruch des Meeres befruchtete sie und dreiteilte sie in kleine Monster. Kann der menschliche Körper fliegen? Die Levitation. Die heilige Theresia von Avila: »Es schien, als hebe eine gewaltige Kraft mich in die Luft. Das machte mir große Angst.« Für Sekunden schwebte der Zwerg, doch es machte ihm Spaß und er hatte keine Angst. »Wie heißt du«, fragte wortlos der junge Mann, »damit ich dich mein Leben lang rufen kann. Ich werde deinen Namen hinausschreien.« 56
»Dort unten habe ich keinen Namen. Hier heiße ich Xanthippe.« »Ach, ich will Xanthippe brüllen! Xanthippe! Höre, ich brülle nach innen. Und welchen Namen hast du am Tage?« »Ich glaube … ja, ich glaube, ich heiße Maria Luisa.« Und sie erbebte, wie ein Pferd sich sträubt. Kraftlos stürzte sie zu Boden. Keiner brachte den anderen um, denn sie waren schon Mordopfer. Niemand wollte sterben und starb auch tatsächlich nicht. Indessen trug das Er-Sie – zart, ganz zart – einen Klang. Die Klangfarbe. Denn ich will im Überfluß leben und würde meinen besten Freund verraten für etwas mehr Leben, als einem vergönnt ist. Diese Suche, diese Ambition. Ich verachtete die Gebote der Weisen, die Mäßigung empfehlen und Armut der Seele – die Vereinfachung der Seele war nach meiner eigenen Erfahrung die heilige Unschuld. Doch ich kämpfte gegen die Versuchung an. Ja. Ja: fallen, so tief bis zur Niedertracht. Genau das war ihre Ambition. Der Laut war der Bote des Schweigens. Denn keiner konnte es zulassen, von »Diesem-Dieser-Namenlosen« besessen zu werden. Sie wollten dem Verbotenen frönen. Wollten das Leben loben, den Schmerz, der nötig ist, um zu leben, zu fühlen und zu lieben, aber vermeiden. Sie wollten die schreckenerregende Unsterblichkeit spüren. Denn das Verbotene ist immer das Beste. Gleichzeitig machte es ihnen nichts aus, womöglich in das riesige Loch des Todes zu fallen. Und das Leben war ihnen nur kostbar, wenn sie schrien und stöhnten. Die Kraft des Hasses zu verspüren, das war es, was sie am liebsten wollten. Mein Name ist Volk, dachten sie. »Was muß ich tun, um ein Held zu sein? Denn nur Helden haben Zutritt zu den Tempeln.« 57
Und in der Stille plötzlich ihr jaulendes Heulen, keiner wußte, ob vor Liehe oder tödlichem Schmerz, derweil der Held Weihrauch, Myrrhe und Benzoe roch. Er-Sie hüllte ihre-seine Nacktheit in einen wunderschönen Mantel, ein Totenhemd eher, ein purpurnes Totenhemd, kathedralrot nun. In mondlosen Nächten verwandelte Sie-Er sich in eine Eule. Du wirst deinen Bruder verschlingen, sagte es in den Gedanken der anderen, und in der Stunde der Wildheit wird es eine Sonnenfinsternis geben. Um sich nicht zu verraten, ignorierten sie, daß das Heute ein Gestern war und es ein Morgen geben würde. In der Luft wehte eine Durchsichtigkeit, wie sie kein Mensch zuvor je geatmet hatte. Doch sie streuten gemahlenen Pfeffer auf ihre Geschlechtsteile und wanden sich vor Lust. Und plötzlich vor Haß. Sie brachten sich nicht gegenseitig um, empfanden aber einen so unerbittlichen Haß, daß er wie ein tief im Fleisch steckender Pfeil wirkte. Verdammt für das, was sie empfanden, jubilierten sie. Der Haß war wie ein Erbrechen, das sie vor dem größeren Ekel, dem Erbrechen der Seele, bewahrte. Mit den sieben Noten der Musik gelang dem Er-Sie das Heulen. So wie es mit den gleichen sieben Grundtönen Kirchenmusik schaffen konnte. In ihrem Inneren hörten sie das C, D, E, F, G, A, H, das ›H‹ weich und sehr hoch. Sie waren unabhängig und souverän, obgleich von dem Ihm-Ihr geführt. Der Tod brüllte in den dunklen unterirdischen Kammern. Feuer, Aufschrei, Farbe, Laster, Kreuz. Ich halte Augen und Ohren in der Welt auf: ich lebe des Nachts und tagsüber schlafe ich, ziehe mich zurück. Ich, mit dem Geruchssinn eines Hundes, orgiastisch. Was die anderen betrifft, so erfüllten sie die Rituale der Gläubigen, ohne deren Mysterien zu verstehen. Das Zere58
moniell. Mit einer kaum merklichen Geste berührte Sie-Er ein Kind und streckte es nieder, und alle sagten: Amen. Die Mutter heulte auf wie ein Wolf: tot, auch sie. Doch just um Übersinnliches zu spüren, stiegen sie dort hinauf. Und es war ein so geheimnisvolles und tiefes Gefühl, daß der Jubel die Luft durchzuckte. Sie wollten die oberste Gewalt, die seit Jahrhunderten auf der Welt herrscht. Hatten sie Angst? Ja, durchaus. Nichts ersetzte den Reichtum des sprachlosen Schreckens. Angst zu haben war der verfemte Glanz des Dunkels, still wie ein Mond. Allmählich hatten sie sich an das Dunkel gewöhnt, und der Mond, zuvor verborgen, ganz rund und blaß, hatte ihnen den Aufstieg erleichtert. Es war völlig dunkel gewesen, als sie einer nach dem anderen ›den Berg‹, wie sie das etwas höher gelegene Plateau nannten, hinaufgestiegen waren. Sie hatten sich abgestützt, um nicht hinzufallen, waren über trockene, rauhe Stämme gekrochen, auf dornige Kakteen getreten. Es handelte sich um eine unwiderstehliche, anziehende Angst, lieber wären sie gestorben, als darauf zu verzichten. Das Er-Sie war ihnen die GELIEBTE. Doch sollte einer das Bestreben haben, sie zu berühren, erstarrte er auf der Stelle zu Eis. Er-Sie erzählte ihnen in ihren Köpfen – und alle hörten es in ihrem Inneren –, was mit demjenigen passierte, der dem Ruf der Nacht nicht folgte: Es passierte, daß dieser Mensch in dem blind machenden Tageslicht am eigenen Leib und mit von der Sündhaftigkeit des Lichts geblendeten Augen erlebte – ohne Betäubung den Horror erlebte, am Leben zu sein. Es gibt nichts zu befürchten, wenn man keine Angst hat. Es war der Vorabend der Apokalypse. Wer war der König der ERDE? Wenn du die Macht, die du errungen hast, mißbrauchst, werden die Meister dich dafür bestrafen. Er59
füllt von dem Horror einer wilden Freude, bückten sie sich und aßen laut lachend das Unkraut vom Boden, und ihr Lachen hallte von Finsternis zu Finsternis wider mit seinem Echo. Ein erstickender Duft nach Rosen machte die Luft schwer, verdammte Rosen in der Kraft ihrer hemmungslosen Natur, derselben Natur, die die Schlangen und die Ratten und Perlen und Kinder schuf-verrückte Natur, mal finstere Nacht, mal leuchtender Tag. Dieses Fleisch, das sich nur bewegt, weil es einen Geist hat. Aus ihren Mündern lief dicker, bitterer, klebriger Speichel, und sie urinierten, ohne es zu merken. Die Frauen, die vor kurzem entbunden hatten, preßten voller Kraft ihre Brüste zusammen, und aus den Brustwarzen spritzte dicke, schwarze Milch. Eine Frau spuckte einem Mann heftig ins Gesicht, und die beißende Spucke lief ihm von der Backe hinab zum Mund – begierig leckte er sich die Lippen. Alle waren ungebunden. Es herrschte eitle Freude. Sie waren der Harem des Er-Sie. Endlich waren sie in das Unmögliche gefallen. Der Mystizismus war die höchste Form von Aberglauben. Der Millionär schrie: Ich will die Macht! Macht! ich will, daß selbst die Dinge meinen Befehlen gehorchen! Und ich sage dir: Bewege dich hinweg, du Ding! und es wird sich aus eigenem Antrieb fortbewegen. Die alte, zahnlose Frau sagte zu dem Millionär: Weißt du, wie wenig deine Millionen eigentlich zählen? Denn ich sage dir: Du bist noch nicht einmal Herr über die nächste Sekunde deines Lebens, du kannst sterben, ohne es zu merken. Der Tod wird dich erniedrigen. Der Millionär: Ich will die Wahrheit, die reine Wahrheit! Die Journalistin machte eine phantastische Reportage über das schonungslose Leben. Ich werde international berühmt 60
wie der Autor von ›Der Exorzist‹ den ich nicht gelesen habe, um mich nicht beeinflussen zu lassen. Ich sehe das rohe Leben direkt, ich lebe es. Ich bin einsam, sagte sich der Onanierende. Ich warte, ich warte und warte, aber nichts läuft mir je über den Weg, ich habe es aufgegeben. Sie tranken den bitteren Likör aus stachligen Kräutern. »Ich bin ein Prophet! ich sehe das Jenseits!« rief sich ein junger Mann zu. Pater Joaquim Jesus Jacinto – alles mit Jot, weil seine Mutter das Jot so schön fand. Es war der einunddreißigste Dezember 973. Die astronomische Zeit würde nach den Atomuhren eingestellt werden, die in dreitausenddreihundert Jahren nur eine Sekunde nachgehen. Die andere mußte ständig niesen, ein Niesen nach dem anderen, unaufhörlich. Aber es machte ihr nichts aus. Die andere nannte sich J. B. »Mein Leben ist ein wahrer Roman!« schrie die unfähige Schriftstellerin. Die Ekstase war allein dem Er-Sie vorbehalten. Das plötzlich die Lust des Fleisches erlitt, ausgiebig. Sie-Er sagte: Hört auf! Denn es empfing den Teufel, da es der Lust des Bösen frönte. Alle befriedigten sie ihre Gelüste durch Er-Sie: es war das Zelebrieren des Großen Gesetzes. Die Eunuchen machten etwas, das zu sehen verboten war. Die anderen empfingen erregt über das Sie-Er die Wellen des Orgasmus – aber nur die Wellen, denn sie hatten nicht die Kraft, alles zu empfangen, ohne daran zugrunde zu gehen. Die Frauen färbten sich den Mund violett wie eine von ihren scharfen Zähnen zerfleischte Beere. Das Sie-Er erzählte ihnen, was geschah, wenn man sich 6
nicht der Verkündung der Nacht weihte. Schockzustand. Zum Beispiel: Das Mädchen war rothaarig und, als sei das noch nicht genug, war sie auch innerlich rot und außerdem farbenblind. So gab es in ihrer kleinen Wohnung ein grünes Kreuz auf rotem Grund: sie verwechselte die beiden Farben. Wie hatte das Grauen sie heimgesucht? Während sie eine Platte hörte oder das herrschende Schweigen oder Schritte in der Etage über sich – da, plötzlich, hatte sie das Schreckliche übermannt. Sie bekam Angst vor dem Spiegel, der ihr Bild wiedergab. Auf der anderen Seite stand ein Schrank, und sie war sicher, daß die Kleider sich darin bewegten, Nach und nach schränkte sie den Wohnraum des Apartments ein. Bald hatte sie Angst, aus dem Bert zu steigen. Das Gefühl, eine Hand würde von unten nach ihrem Fuß greifen. Sie war spindeldürr. Ihr Name war Psiu, ein roter Name. Sie hatte Angst, im Dunkeln das Licht anzumachen und sich der kalten Echse gegenüberzusehen, die bei ihr wohnte. Am ganzen Leib zitternd, spürte sie die eiskalten kleinen Zehen der Echse. Begierig ging sie die Polizeinachrichten in der Zeitung durch, die Berichte über Dinge, die passierten. Leuten wie ihr passierte ständig Schreckliches, Leuten, die alleine lebten und nachts überfallen wurden. An der Wand hatte sie ein Bild von einem Mann, der ihr mit starrem Blick direkt in die Augen sah, sie beobachtete. Sie stellte sich vor, daß diese Gestalt ihr in alle Ecken der Wohnung folgte. Sie hatte panische Angst vor Mäusen. Lieber wäre sie gestorben, als mit ihnen in Berührung zu kommen. Doch sie hörte ihr Fiepsen. Sie konnte sogar spüren, wie sie an ihren Füßen knabberten. Zu Tode erschrocken, fuhr sie hoch, kalter Schweiß brach aus ihren Poren. Sie war ein in die Enge getriebenes Tier. Normalerweise unterhielt sie sich mit sich selbst. Sie führte Gründe für und gegen etwas an, 62
und immer zog sie den kürzeren. Ihr Leben war ein ständiges Subtrahieren von sich selbst. Und all das, weil sie dem Ruf der Sirene nicht gefolgt war. Das Er-Sie ließ nur das androgyne Gesicht frei. Und das strahlte ein so blindes Irrleuchten aus, daß die anderen sich selbst am Irrsinn laben konnten. Sie war Wahrsagung und Zerfall und bereits gezeichnet auf die Welt gekommen. Die ganze Luft duftete nun nach verhängnisvollem Jasmin und so stark, daß einige ihre eigenen Eingeweide erbrachen. Rund stand am Himmel der Mond. Fünfzehntausend Jugendliche warteten darauf, welche Art Mann oder Frau sie einst sein würden. Da sagte Sie-Er: »Ich werde deinen Bruder verschlingen, und es wird eine totale Sonnenfinsternis kommen und das Ende der Welt.« Manchmal hörte man ein langgezogenes Wiehern, aber kein Pferd war zu sehen. Man wußte nur, daß man mit sieben Grundtönen jede Musik, die es gab oder je gegeben hatte oder geben würde, machen konnte. Das Sie-Er verströmte einen starken Duft nach zerdrücktem Jasmin, denn in dieser Nacht war Vollmond. Zauberei oder Hexerei. Max Ernst wurde, als er klein war, während einer Prozession mit dem Jesuskind verwechselt. Später verursachte er Skandale in der Kunst. Er empfand eine grenzenlose Leidenschaft für die Menschen und eine immense und poetische Freiheit. Aber wieso fällt mir das jetzt ein? Ich weiß es nicht. »Ich weiß es nicht« ist eine hervorragende Antwort. Was tat Thomas Edison, so erfinderisch und frei, inmitten derer, die von ihm-ihr beherrscht wurden? Gregotins, Gekritzel, dachte der Musterstudent, war das schwierigste Wort in seiner Sprache. Hört! die verkündigenden Engel singen! 63
Der arme Jude schrie stumm und niemand hörte ihn, auf der ganzen Welt hörte ihn niemand. Er sagte folgendes: Ich habe Durst, Schweiß und Tränen! und um meinen Durst zu stillen, trinke ich meinen Schweiß und meine eigenen salzigen Tränen. Ich esse kein Schweinefleisch! ich halte mich an die Thora! doch lindere meine Qual, Jehova, der du mir ungaublich ähnelst! Jubileu de Almeida hatte sein Kofferradio eingeschaltet, die ganze Zeit. »Den besten Brei bereiten Sie mit Cremogema zu.« Und dann wurde ein Walzer von Strauß angekündigt, der – es war kaum zu glauben – ›Der Freidenker‹ hieß. Es stimmt. Den gibt es wirklich, ich habe ihn gehört. Jubileu war der Besitzer des ›Zur Goldenen Mandoline‹, ein halb bankrotter Laden für Musikinstrumente, und er war regelrecht süchtig nach den Walzern von Strauß. Er war Witwer, mit er meine ich Jubileu. Sein Rivale war ›Die Klarinette‹, der Konkurrent in der Rua Gomes Freire oder in der Frei Caneca. Jubileu war außerdem Klavierstimmer. Alle dort waren im Begriff, der Leidenschaft zu verfallen. Sex. Purer Sex. Sie bremsten sich. Romanien war ein gefährliches Land: Zigeuner. Auf der Welt fehlte es an Erdöl. Und ohne Erdöl fehlte es an Essen. Vor allem an Fleisch. Und ohne Fleisch wurden sie zu schrecklichen Fleischfressern. »Hier, o Herr, empfehle ich meine Seele«, hatte Kolumbus gesagt, bevor er starb, bekleidet mit der Tracht der Franziskaner. Er aß kein Fleisch. Er, Christoph Kolumbus, Entdekker der Wellen und des Heiligen Franz von Assisi, heiligte sich. Hélas! Er war tot. Wo ist er jetzt? wo? Um Gottes Willen, antworte! Plötzlich und ganz leicht – fiat lux. Aufgescheucht brachen sie auf, wie ein Schwarm Spatzen. 64
Alles so schnell, daß es beinah schien, sie hätten sich in Luft aufgelöst. Im gleichen Moment lagen sie entweder im Bett und schliefen, oder sie waren bereits wach. Das, was gewesen war, war Schweigen. Sie wußten von nichts. Die Schutzengel, die eine Ruhepause eingelegt hatten, zumal alle friedlich in ihren Betten lagen, wachten auf, waren frisch, und während sie noch gähnten, kümmerten sie sich schon um ihre Schützlinge. Morgendämmerung: langsam eierte das Ei vom Horizont in den Weltraum. Es war morgens früh: ein blondes Mädchen, mit einem reichen Mann verheiratet, gebar ein schwarzes Baby. Ein Kind des Dämons der Nacht? Man weiß es nicht. Scherereien, Schamgefühle. Jubileu de Almeida wachte auf wie ein Brötchen von gestern: ausgelaugt. Schon als Kind war er so schlapp gewesen. Er schaltete das Radio ein und hörte: »Schuhladen Morena – wo hohe Preise verboten sind.« Er würde mal vorbeischauen, er brauchte Schuhe. Jubileu war ein Albino, ein farbloser Neger mit gelben, fast weißen Wimpern. Er schlug sich ein Ei in die Pfanne. Währenddessen dachte er: Ach, wenn ich doch eines Tages diesen ›Freidenker‹ von Strauß hören konnte, das würde mich für meine Einsamkeit entschädigen. Er hatte diesen Walzer nur ein einziges Mal gehört, wann, wußte er nicht mehr. Der Mächtige wollte zum Breakfast dänischen Kaviar löffeln, die Kügelchen sollten unter seinen spitzen Zähnen zerplatzen. Er gehörte dem Rotary und dem Diners Club an und war Freimaurer. Feinsinnig verzichtete er auf russischen Kaviar: eine Form, das mächtige Rußland niederzuzwingen. Der arme Jude wird wach und trinkt in gierigen Schlucken Leitungswasser. Es war das einzige Wasser, das es hinten im 65
Hof seiner Billigpension gab. Beim Essen hatte er einmal eine Küchenschabe in der dünnen Bohnensuppe entdeckt. Die Prostituierten, die dort wohnten, beklagten sich nicht einmal. Der Musterstudent, der nicht ahnte, daß er den anderen auf die Nerven ging, überlegte: Welches war das schwierigste Wort, das es gab? War es dieses eine, das Schmuck, Verzierungen, Litzen bedeutete? Nein, nein, es war … gregotins. Er lernte das Wort auswendig, um es bei der nächsten Prüfung gezielt zu verwenden. Als der Tag anbrach, lagen alle im Bett und gähnten ohne Unterbrechung. Nachdem sie aufgestanden waren, war der eine Schuster, der andere saß im Gefängnis wegen Vergewaltigung, eine war Hausfrau und gab der Köchin, die nie zu spät kam, Anweisungen, der andere war Bankier, der nächste Sekretär usw. Sie waren also, als sie aufwachten, etwas müde, froh, in der Nacht so tief geschlafen zu haben. Der Samstag war vorbei, und heute war Sonntag. Und viele gingen in die Kirche, wo Pater Jacinto, der in Mode gekommen war, die Messe las. Doch keiner ging zur Beichte, da sie schließlich nichts zu beichten hatten. Die unfähige Schriftstellerin öffnete ihr rotes, in Leder gebundenes Tagebuch und begann ihre Eintragung wie folgt: »7. Juli 974. Ich, ich, ich, ich, ich, ich, ich! An diesem schönen Sonntagmorgen, nach einer miserablen Nacht, schätze ich nichtsdestotrotz die wunderbare Schönheit von Mutter Natur. An den Strand werde ich nicht gehen, denn ich bin zu dick, und das ist ein wahres Unglück für jemanden, der die glasgrünen Wellen des Meeres so sehr liebt! Ich wehre mich dagegen! Aber eine Diät kriege ich nicht hin: ich sterbe vor Hunger. Ich lebe gerne gefährlich. Deine Vipernzunge wird von der Schere der Willfährigkeit abgeschnitten.« 66
Vormittags: Agnus Dei. Das goldene Kalb? Aasgeier. Der arme Jude: Erlöse mich von dem Stolz, Jude zu sein! Die Journalistin ruft ganz früh ihre Freundin an: »Claudia, entschuldige, daß ich dich so früh am Sonntag anrufe! Doch ich bin wachgeworden und hatte eine glänzende Eingebung: Ich werde ein Buch über schwarze Magie schreiben! Nein, nein, den »Exorzisten« habe ich nicht gelesen, es soll ein schlechtes Buch sein, und ich möchte nicht, daß man glaubt, ich würde in seinem Kielwasser schwimmen. Hast du schon mal darüber nachgedacht? Der Mensch hat immer schon versucht, mit dem Übernatürlichen in Verbindung zu treten, schon im alten Ägypten mit seinen geheimnisvollen Pyramiden, dann in Griechenland mit all den Göttern bis hin zu Shakespeare im Hamlet. Und ich werde mich jetzt auch da einreihen. Und, verdamm mich, ich werde dieses Spiel gewinnen!« In vielen Häusern in Rio de Janeiro duftete es nach Kaffee. Es war Sonntag. Und der junge Mann, noch im Bett, völlig benommen, noch nicht richtig wach, sagte sich: Schon wieder dieser langweilige Sonntag. Was hatte er doch gleich für einen Traum gehabt? Ach, was weiß ich, antwortete er sich, wenn ich geträumt habe, dann sicher von einer Frau. Endlich ist die Luft hell. Und ein Sonntag wie jeder andere beginnt. Der rauhe Sonntag. Das Licht war schädlich: der verhexte alltägliche Tag nahm seinen Lauf. Eine Religion tat not. Eine Religion, die keine Angst vor dem Morgen kannte. Ich möchte beneidet werden. Ich will die Vergewaltigung, den Raub, den Kindsmord, und ich fordere unweigerlich heraus. Gold und Ruhm hätte ich gewollt, sogar auf Sex würde ich verzichten: schnell würde ich lieben und die Liebe nicht kennenlernen. Ich will das böse Gold. Entweihung. Ich gehe bis an meine Grenzen. Nach dem 67
Fest – ein Fest? in der Nacht? –, nach dem Fest die Trostlosigkeit. Es gab auch den Beobachter, der in sein Notizheft schrieb: »Der Fortschritt und all die ihm zugeordneten Phänomene scheinen innig an diesem Gesetz der allgemeinen, kosmischen und zentrifugalen Geschwindigkeitszunahme beteiligt, die die Zivilisation zum ›maximalen Fortschritt‹ treibt, damit anschließend der Zusammenbrach erfolgt. Ein fortdauernder Zusammenbruch oder einer, der sich schnell aufhalten läßt? Da liegt das Problem: Wir können nicht wissen, ob diese Gesellschaft sich vollkommen zerstören wird oder ob sie nur einer zeitweiligen Unterbrechung erliegt und dann ihren Weg wieder fortsetzt.« Und danach: »Die Einwirkung der Sonne auf die Freie würde abnehmen, was zum Beginn einer neuen Eiszeit führte, die mindestens zehntausend Jahre dauern könnte.« Zehntausendjahre, das war erschreckend lang. Genau das ist es, was passiert, wenn einer aus Angst vor der dunklen Nacht beschließt, das oberflächliche Licht des Tages zu leben. Denn das Übernatürliche, Göttliche oder Dämonische war schon eine Versuchung während der Zeit in Ägypten, überdauerte das Mittelalter und lebt fort in den billigen Abenteuerromanen. Der Fleischer, der an diesem Tag nur von acht bis elf Uhr arbeitete, öffnete die Fleischerei: bei dem Geruch von Unmengen rohen, rohen und blutigen Fleisches blieb er trunken vor Lust stehen. Er war der einzige, der tagsüber die Nacht fortsetzte. Pater Jacinto war in Mode gekommen, weil er so sauber wie kein anderer den Kelch hob und mit heiliger und salbungsvoller Reinheit, alle rettend, das Blut Christi trank, welches das Gute war. Zärtlich vollführten seine blassen Hände die Geste der Opfergabe. 68
Wie immer wurde der Bäcker um vier Uhr wach und fing an, den Brotteig zu kneten. In der Nacht den Teufel kneten? Ein von Fra Angelico gemalter Engel aus dem XV. Jahrhundert flog in der Luft herum: es war die Klarinette, die den Morgen ankündigte. Die Straßenbeleuchtung war noch nicht ausgeschaltet, blaß schimmerten die Pfähle. Pfähle. Die Geschwindigkeit frißt die Pfähle auf, wenn man mit dem Auto vorbeirast. Der Onanierer am Morgen: mein einziger treuer Freund ist der Hund. Er schenkt niemandem Vertrauen, vor allem den Frauen nicht. Diejenige, die die ganze Nacht über gegähnt und gesagt hatte: ›Ich beschwöre dich, màe de santo, Heiligenmutter!‹ begann sich zu kratzen und zu gähnen. Zum Teufel, sagte sie. Der Mächtige – der sich mit Orchideen, Cattleyen und anderen Gattungen, beschäftigte – klingelte ungeduldig nach dem Butler, damit er ihm das Breakfast bringe. Der Butler erriet seine Gedanken und wußte, wann er ihm die dänischen Windhunde bringen mußte, damit sie schnell gestreichelt werden konnten. Diejenige, die in der Nacht geschrien hatte ›Ich warte auf dich, ich warte auf dich‹, sagte morgens mit zerzausten Haaren zu der Milch im Milchtopf, der auf dem Feuer stand: »Ich kriege dich, du Luder! Mal sehen, ob du die Dreistigkeit besitzt, mir ins Gesicht zu kochen, mein ganzes Leben ist nichts anderes als warten. Es ist klar wie Kloßbrühe, daß, wenn ich die Milch auch nur eine Sekunde aus den Augen lasse, dieses Biest die Gelegenheit benutzt und überkocht. Wie der Tod, der auch kommt, wenn man es am wenigsten erwartet.« 69
Sie wartete und wartete, doch die Milch kochte nicht. Da drehte sie den Gashahn zu. Am Himmel ein zarter Regenbogen: es war die Verkündung. Der Morgen wie ein weißes Schaf. Eine weiße Taube, lautete die Prophezeiung. Die Krippe. Das Geheimnis. Der vorausbestimmte Morgen. Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum: benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Jesus. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae. Amen. Pater Jacinto hob mit beiden Händen den Kristallkelch, der das scharlachrote Blut Christi enthält. Ein ganz edler Tropfen. Und eine Blume wurde geboren. Eine leichte, rosa Blüte, die nach Gott duftete. Er-Sie war seit langem durch die Luft entschwebt. Der Morgen war glasklar, wie frischgewaschen. AMEN Zerstreut machten die Gläubigen das Zeichen des Kreuzes. AMEN GOTT ENDE Epilog: Alles, was ich geschrieben habe, ist wahr und existiert. Es gibt einen kosmischen Willen, der mich geleitet hat. Wo warst du in der Nacht? Niemand weiß es. Versuche nicht zu antworten – um Gottes Willen. Ich will die Antwort nicht wissen. Adieu. A-Dieu.
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Der Bericht über das Ding
Dieses Ding ist das, welches für den Menschen am schwersten zu begreifen ist. Seien Sie beharrlich. Geben Sie nicht auf. Es scheint auf der Hand zu liegen. Doch es ist außerordentlich schwer, darüber zu wissen. Denn es hat mit der Zeit zu tun. Wir teilen die Zeit ein, obgleich sie in Wirklichkeit nicht teilbar ist. Sie ist immer und unveränderlich. Doch wir müssen sie aufteilen. Und zu diesem Zweck wurde ein monströses Ding erfunden: die Uhr. Ich werde nicht über Uhren sprechen. Aber über eine bestimmte Uhr. Ich lasse mir in die Karten sehen: das, was ich zu sagen habe, sage ich sofort und ohne große Literatur. Dieser Bericht ist die Antiliteratur des Dinges. Die Uhr, von der ich rede, ist eine elektronische Uhr mit Weckfunktion. Die Marke ist Sveglia, das bedeutet ›wach auf‹. Aufwachen wofür, mein Gott? Für die Zeit. Für die Stunde. Für den Augenblick. Diese Uhr gehört nicht mir. Doch ich habe mir ihre tückische, gleichmütige Seele angeeignet. Es ist keine Armbanduhr: eine ungebundene Uhr also. Sie ist zwei Zentimeter groß und steht auf dem Tisch. Mir gefällt es, daß der Wecker Sveglia heißt. Doch seine Besitzerin möchte, daß er Horácio heißt. Egal. Denn das Wichtigste ist, daß er die Zeit ist. Sein Mechanismus ist sehr einfach. Er weist nicht die Komplexität eines Menschenwesens auf, doch er ist menschlicher als der Mensch. Übermenschlich? Nein, er kommt direkt vom Planeten Mars, wie es scheint. Wenn er direkt von 7
dort kommt, wird er eines Tages auch dorthin zurückkehren. Es ist dumm zu erwähnen, daß man ihn nicht aufziehen muß, das ist ja schon bei anderen Uhren der Fall, zum Beispiel bei meiner Armbanduhr, die stoßfest und wasserdicht ist, mit der man also getrost ins Wasser gehen kann. Solche Uhren sind sogar mehr als menschlich. Aber wenigstens sind sie von dieser Welt. Der Sveglia ist von Gott. Göttliche Menschenhirne waren nötig, um zu erkennen, was dieser Wecker im Grunde ist. Ich schreibe über ihn, doch ich habe ihn noch nie gesehen. Es wird die Große Begegnung sein. Sveglia: Wach auf, Frau, wach auf, um zu sehen, was gesehen werden muß. Es ist wichtig, wach zu sein, um zu sehen. Aber es ist auch wichtig zu schlafen, um von der knappen Zeit zu träumen. Sveglia ist der GEGENSTAND, das DING, mit Großbuchstaben. Ob der Sveglia mich sieht? Ohne Zweifel, er sieht mich, als wäre ich ein anderer Gegenstand. Er erkennt, daß Menschen manchmal auch vom Mars kommen. Seitdem ich von Sveglia gehört habe, passieren mir Dinge, die eher wie Träume sind. Wecke mich, Sveglia, ich will die Wirklichkeit sehen. Doch die Wirklichkeit ist wie ein Traum. Ich bin traurig, weil ich glücklich bin. Das ist kein Widerspruch. Nach dem Liebesakt überkommt einen doch auch eine gewisse Traurigkeit, nicht wahr? Die der Erfüllung. Ich habe Lust zu weinen. Ein Sveglia weint nicht. Er kennt übrigens keine Begleitumstände. Ob seine Energie wohl Eigengewicht hat? Schlaf, Sveglia, schlaf ein wenig. Ich kann dein Wachsein nicht ertragen. Du hörst nicht auf zu sein. Du träumst nicht. Man kann nicht behaupten, daß du ›funktionierst‹: du bist kein funktionierendes Ding, du bist einfach nur. Du bist ganz dünn. Und nichts geschieht dir. Aber du bist 72
derjenige, der die Dinge geschehen läßt. Geschehe mir, Sveglia, bitte, geschehe mir. Ich brauche ein gewisses Geschehen, über das ich nicht sprechen kann. Und gib mir das Begehren zurück, das die Triebfeder des tierischen Lebens ist. Ich will dich nicht für mich haben. Ich mag es nicht, überwacht zu werden. Und du bist das einzige, ständig offene und wie frei im Raum schwebende Auge. Du hast nichts gegen mich aber auch nichts für mich übrig. Ob auch ich allmählich so werde, ohne jegliches Liebesempfinden? Bin ich ein Ding? Ich weiß, daß meine Liebesfähigkeit gering ist. Meine Liebesfähigkeit wurde allzusehr mit Füßen getreten, mein Gott. Nur die Spur eines Begehrens ist mir geblieben. Ich brauche unbedingt, daß es stärker wird. Denn es ist nicht so, wie du denkst, daß nur der Tod zählt. Zu leben, etwas, das du nicht kennst, denn es ist vergänglich, es verwest – zu leben und zu verwesen ist unglaublich wichtig. Ganz trocken leben: das Wesentliche leben. Wenn er kaputtgeht, glauben Sie, sei er tot? Nicht doch, er hat sich einfach nur von sich entfernt. Doch du hast deine Schwächen, Sveglia. Ich habe von deiner Besitzerin gehört, daß du ein Lederetui brauchst, das dich gegen Feuchtigkeit schützt. Ich habe auch im geheimen erfahren, daß du einmal stehengeblieben bist. Die Besitzerin aber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie klopfte ein wenig an das Gehäuse und schüttelte dich einfach – und du bist nie mehr stehengeblieben. Ich verstehe dich, ich verzeihe dir: du bist aus Europa gekommen und brauchst eine gewisse Zeit, um dich heimisch zu fühlen, nicht wahr? Heißt das, daß du auch stirbst, Sveglia? Bist du die Zeit, die stehenbleibt? Ich habe schon einmal am Telefon gehört, wie der Sveglia klingelte. Es ist wie im Inneren eines Menschen: man wird von innen nach außen wach. Es sieht so aus, als kommuni73
ziere sein Elektronik-Gott mit unserem elektronisch-göttlichen Gehirn: der Klang ist weich, alles andere als schrill. Sveglia geht wie ein freilaufendes weißes Pferd ohne Sattel. Ich habe von einem Mann gehört, der einen Sveglia besaß und dem Sveglia widerfuhr. Er ging abends mit seinem zehnjährigen Sohn spazieren, als dieser sagte: Paß auf, Papa, da sind die Opfergaben eines Macumba-Rituals. Der Vater versuchte auszuweichen, trat aber direkt in die brennende Kerze, so daß sie ausging. Es war, als sei nichts weiter geschehen, was auch typisch Sveglia ist. Der Mann legte sich schlafen. Als er aufwachte, sah er, daß einer seiner Füße angeschwollen und völlig schwarz war. Er zog ein paar befreundete Ärzte zu Rate, die feststellten, daß es keinerlei Verletzungen gab: der Fuß war unversehrt – nur schwarz und dick angeschwollen, diese Art Geschwulst, die dazu führt, daß die Haut sich richtig spannt. Die Ärzte riefen weitere Kollegen zu Hilfe. Neun Ärzte beschlossen allesamt, es sei eine Gangrän. Der Fuß müsse amputiert werden. Der Termin für den Eingriff wurde für den kommenden Tag festgelegt. Der Mann schlief ein. Und hatte einen schrecklichen Traum. Ein weißes Pferd wollte ihn angreifen, und er lief um sein Leben. Das alles spielte sich in Campo de Santana ab. Das weiße Pferd war wunderschön und mit Silber geschmückt. Doch es gab kein Entkommen. Das Pferd erwischte ihn am Fuß und trat darauf. Da wachte der Mann schreiend auf. Man glaubte, er sei nervös, erklärte, so etwas könne schon mal passieren vor einer Operation, und gab ihm ein Beruhigungsmittel, worauf er wieder einschlief. Als er aufwachte, galt sein erster Blick dem Fuß. Was für eine Überraschung: der Fuß war weiß und kein bißchen geschwollen. Es kamen die neun Ärzte, und 74
keiner wußte es sich zu erklären. Sie kannten das Geheimnis Sveglias nicht, gegen das nur ein weißes Pferd ankämpfen kann. Für einen operativen Eingriff bestand kein Anlaß mehr. Das einzige war, daß der Mann sich nicht auf diesen Fuß stützen konnte: er knickte um. Es war das Zeichen des silbergeschmückten Pferdes, der ausgetretenen Kerze, des Sveglia. Aber Sveglia wollte als Sieger hervorgehen, und es passierte etwas. Die Frau dieses Mannes, die sich bester Gesundheit erfreute, bekam auf einmal während des Abendessens starke Bauchschmerzen. Sie stand vom Tisch auf und legte sich hin. Der besorgte Ehemann sah nach, wie es ihr ging. Sie war weiß im Gesicht, bleich wie der Tod. Er fühlte ihren Puls: nichts. Das einzige Lebenszeichen waren die unzähligen Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn bildeten. Der Arzt wurde gerufen und meinte, vielleicht handele es sich um Katalepsie. Der Mann fand sich nicht damit ab. Er machte ihren Bauch frei und pochte und strich mit einfachen Bewegungen darüber – denselben, die die Frau gemacht hatte, als Sveglia stehengeblieben war, Bewegungen, die er sich nicht zu erklären wußte. Die Frau schlug die Augen auf. Sie war bei perfekter Gesundheit. Und sie lebt bis zum heutigen Tag, Gott schütze sie. All das hängt mit Sveglia zusammen. Wie, weiß ich nicht. Aber es hat etwas damit zu tun, da bin ich mir sicher. Und das weiße Pferd von Campo de Santana, einem Platz voller Singvögel, Tauben und Nasenbären? Über und über geschmückt, mit seinem silbernen Riemenzeug, seiner hochmütig gesträubten Mähne. Rhythmisch gegen den Rhythmus des Sveglia anlaufend. Ohne jede Eile anlaufend. Ich bin bei bester körperlicher und geistiger Gesundheit. Doch eines Nachts, in tiefem Schlaf, hat jemand gehört, wie 75
ich ganz laut sagte: »Ich möchte ein Kind von Sveglia haben!« Ich glaube an Sveglia. Er glaubt nicht an mich. Er glaubt, daß ich lüge wie gedruckt. Was ich auch tue. Es wird viel gelogen auf dieser Welt. Fünf Jahre lang bekam ich keine Grippe: das ist Sveglia. Als ich mich dann doch ansteckte, dauerte sie nur drei Tage. Danach wurde sie zu einem trockenen Husten. Aber der Arzt verschrieb mir ein Antibiotikum, und ich wurde gesund. Antibiotika sind Sveglia. Dies ist ein Bericht. Sveglia läßt weder Erzählung noch Roman noch sonst etwas zu. Er erlaubt mir zu übermitteln. Er erlaubt mir gerade noch, dies als einen Bericht zu bezeichnen. Ich nenne es den Bericht über das Mysterium. Und tue mein Bestes, um einen trockenen Bericht zu erstellen, trokken wie extra trockener Champagner. Doch manchmal – ich bitte um Entschuldigung – wird er naß. Ob ich in Zusammenhang mit Sveglia von Diamanten sprechen könnte? Nein, er ist nur. Und in Wirklichkeit hat Sveglia keinen verborgenen Namen: er bewahrt seine Anonymität. Übrigens, Gott hat keinen Namen: die vollkommene Anonymität: es gibt keine Sprache, die seinen wahren Namen ausspräche. Sveglia ist dumm: er agiert im Untergrund und ohne zu überlegen. Jetzt werde ich etwas sehr Schwerwiegendes sagen, das wie eine Lästerung klingt: Gott ist dumm. Denn Er versteht nicht, Er denkt nicht, Er ist nur. Es stimmt, daß Er von einer Dummheit ist, die sich selbst vollstreckt. Aber Er macht viele Fehler. Und Er weiß, daß Er sie macht. Wir brauchen uns nur selbst anzusehen, die wir ein großer Fehler sind. Es reicht, wenn wir sehen, wie unsere gesellschaftli76
che Organisation aussieht und unsere innere, die zwischen uns und uns selber. Doch einen Fehler macht Er nicht: Er stirbt nicht. Auch Sveglia stirbt nicht. Ich habe Sveglia noch nie gesehen, wie ich bereits erwähnte. Vielleicht ist ihn zu sehen naß. Ich weiß alles über ihn. Aber seine Besitzerin möchte nicht, daß ich ihn sehe. Sie ist eifersüchtig. Eifersucht tropft sogar, so naß ist sie. Übrigens, unsere Erde läuft Gefahr, von Gefühlen überschwemmt zu werden. Der Hahn ist Sveglia. Das Ei ist purer Sveglia. Aber nur das ganze, intakte, weiße Ei mit seiner trockenen Schale, das gänzlich oval ist. Darin ist Leben, nasses Leben. Aber rohen Dotter essen, das ist Sveglia. Soll ich Ihnen sagen, was Sveglia ist? Ein Fußballspiel. Pelé aber schon nicht mehr. Wieso? Unmöglich, es zu erklären. Vielleicht hat er die Anonymität nicht gewahrt. Ein Streit ist Sveglia. Soeben hatte ich einen mit seiner Besitzerin. Ich habe ihr gesagt: Wenn du mich schon Sveglia nicht sehen lassen willst, beschreibe mir wenigstens seine Bestandteile. Da wurde sie wütend – und das ist Sveglia – und sagte, sie wisse vor lauter Problemen nicht ein noch aus – Probleme zu haben ist nicht Sveglia. Ich habe sie zu beruhigen versucht, und alles wurde wieder gut. Morgen rufe ich sie nicht an. Ich lasse sie in Ruhe. Offenbar werde ich über etwas Elektronisches schreiben, ohne es je zu Gesicht zu bekommen. Wahrscheinlich muß es so sein. Schicksal. Ich möchte schlafen. Ob es wohl erlaubt ist? Ich weiß, daß träumen nicht Sveglia ist. Die Zahl ist erlaubt. Obwohl es die Sechs nicht ist. Nur ganz wenige Gedichte sind erlaubt. Von Romanen kann erst recht keine Rede sein. Sieben Tage lang hatte ich ein Dienstmädchen, das sich Severina nannte. 77
Als Kind hatte sie Hunger leiden müssen. Ich fragte sie, ob sie traurig sei. Sie antwortete, weder traurig noch froh: sie sei eben so. Sie war Sveglia. Doch ich war es nicht und konnte die Abwesenheit von Gefühl nicht ertragen. Schweden ist Sveglia. Aber jetzt gehe ich schlafen, wenn ich auch nicht träumen darf. Wasser, obwohl naß par excellence, ist. Zu schreiben ist. Aber Stil ist nicht. Busen zu haben ist. Das männliche Geschlechtsorgan ist zuviel. Güte ist nicht. Doch Un-Güte sowie Hingabe ist. Güte ist nicht das Gegenteil von Schlechtigkeit. Schreibe ich etwa naß? Ich glaube, ja. Mein Name ist. Schon der Vorname ist allzu lieblich, ist für die Liebe. Kein einziges Geheimnis haben und dennoch das Rätsel bewahren ist Sveglia. In der Zeichensetzung sind Auslassungspunkte nicht. Wenn jemand diesen meinen unverblümten und genauen Bericht versteht, dann ist dieser Jemand. Es scheint, daß ich nicht ich bin, so sehr bin ich. Die Sonne ist, der Mond nicht. Mein Gesicht ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit auch Ihres. Whiskey ist. Und, so unglaublich es scheint, ist Coca Cola, während Pepsi Cola niemals war. Ich mache kostenlose Werbung? Das stimmt nicht, hörst du, Coca Cola? Treu sein ist. Der Liebesakt umfaßt eine Verzweiflung, die ist. Nun werde ich eine Geschichte erzählen. Doch zunächst möchte ich sagen, daß derjenige, der mir diese Geschichte erzählt hat, jemand war, der, obwohl unglaublich gütig, Sveglia ist. Jetzt sterbe ich beinahe vor Müdigkeit. Wenn man sich nicht in acht nimmt, ist Sveglia tödlich. Die Geschichte ist folgende: 78
Sie spielt sich an einem Ort namens Coelho Neto ab, in der Guanabara. Die Frau in der Geschichte war sehr unglücklich, denn sie hatte eine Wunde am Bein, die nicht heilte. Sie arbeitete hart, und ihr Mann war Briefträger. Briefträger sein ist Sveglia. Sie hatten viele Kinder. Und fast nichts zu essen. Doch dieser Briefträger fühlte sich für das Glück seiner Frau verantwortlich. Glücklich sein ist Sveglia. Und der Briefträger löste das Problem. Er wies sie auf eine Nachbarin hin, die keine Kinder bekommen konnte und sehr darunter litt. Trotz aller Bemühungen wurde sie nicht schwanger. Der Briefträger zeigte seiner Frau, wie glücklich sie im Grunde war, weil sie Kinder hatte. Da war sie glücklich, auch wenn das Essen nicht reichte. Der Briefträger zeigte ihr auch, daß eine andere Nachbarin zwar Kinder, aber einen Trinker zum Mann hatte, der sie und die Kinder schlug. Wohingegen er keinen Tropfen Alkohol trank und Frau und Kinder niemals geschlagen hatte. Was sie glücklich machte. Jeden Abend tat ihnen die unfruchtbare Nachbarin leid wie auch die, die von ihrem Mann geschlagen wurde. Abend für Abend waren sie sehr glücklich. Und glücklich sein ist Sveglia. Abend für Abend. Ich wollte mit der Schreibmaschine bis zur Seite 9 kommen. Die Zahl neun ist beinahe unerreichbar. Die Zahl 3 ist Gott. Eine Schreibmaschine ist. Die Gefahr, nicht mehr Sveglia zu sein, besteht für sie darin, daß sie sich ein wenig mit den Gefühlen des Menschen, der auf ihr schreibt, vermischt. Ich habe die süßen und nach Pfefferminz schmeckenden Zigaretten der Marke Consul satt. Carlton-Zigaretten hingegen sind trocken, hart, rauh, kommen dem Raucher in keiner Weise entgegen. Da ein jedes Ding entweder ist oder nicht ist, macht es mir nichts aus, Gratiswerbung für Carl79
ton-Zigaretten zu machen. Was jedoch Coca Cola betrifft, lasse ich mich nicht erweichen. Ich möchte diesen Bericht an die Zeitschrift ›Senhor‹ schikken und will, daß sie mich sehr gut bezahlen. Da du bist, kannst du absehen, inwieweit meine Köchin, die ausgezeichnet kocht und den ganzen Tag über singt, ist. Ich glaube, ich beende diesen wesentlichen Bericht, um die energetischen Phänomene der Materie zu erklären. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Ach ja, ich werde mich anziehen. Auf Nimmerwiedersehen, Sveglia. Der tiefblaue Himmel ist. Die weißen Schaumkronen des Meeres sind mehr als das Meer. (Ich habe mich bereits von Sveglia verabschiedet, werde aber aus schlechter Angewohnheit weiterhin von ihm sprechen, bitte nehmen Sie es mir nicht übel.) Der Geruch des Meeres vermischt Männliches und Weibliches, und in der Luft entsteht ein Kind, das ist. Die Besitzerin des Weckers hat mir heute erzählt, daß in Wirklichkeit er sie besitzt. Sie sagte mir, daß er so schwarze kleine Löcher hat, aus denen der Klang weich wie eine Schweigsamkeit dringt, ein seidener Klang. In seinem Bauch hat er ein Schwingrädchen, das vergoldet ist. Das äußere Schwingrädchen ist silbern, farblos beinahe – wie ein Raumschiff im Weltall, fliegendes Metall. Ist Erwartung oder ist sie nicht? Ich kann nicht antworten, da ich an Dringlichkeit leide und unfähig bin, diesen Punkt zu beurteilen, ohne mich emotional zu beteiligen. Ich kann das Warten nicht ausstehen. Ein Quartett ist sehr viel mehr als eine Symphonie. Eine Flöte ist. Das Cembalo birgt ein Element des Grauens: die Töne kommen abgerissen und brüchig daraus hervor. An Seelen aus dem Jenseits erinnernd. 80
Sveglia, wann wirst du mich endlich in Frieden lassen? Du wirst mich doch nicht mein Leben lang verfolgen und dieses in die Helligkeit einer immerwährenden Schlaflosigkeit verwandeln? Langsam hasse ich dich. Schon möchte ich eine Geschichte schreiben können: eine Erzählung oder einen Roman oder ein Feature. Welches wird mein nächster Schritt in der Literatur sein? Ich vermute, daß ich nicht mehr schreiben werde. Aber es stimmt auch, daß ich schon früher ähnliche Vermutungen hatte und dennoch weiter geschrieben habe. Doch was soll ich schreiben, großer Gott? Bin ich von der Mathematik des Sveglia verseucht und kann in Zukunft nur noch Berichte verfassen? Und nun werde ich diesen Bericht über das Mysterium beenden. Ich bin wirklich todmüde. Bevor ich weggehe, werde ich ein Vollbad nehmen und mich dann mit einem Parfüm bestäuben, das mein ureigenes Geheimnis ist. Nur eines sage ich darüber: es ist herb und etwas rauh, seine Lieblichkeit liegt im Verborgenen. Es ist. Adieu, Sveglia. Adieu bis nimmer-immer-mehr. Einen Teil von mir hast du schon getötet. Ich bin tot und verwese. Der Tod ist. Und nun – nun adieu!
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Das Manifest der Stadt
Warum nicht versuchen, in diesem Augenblick, der nicht schwer ist, aus dem Fenster zu sehen? Das ist die Brücke. Das der Fluß. Dort liegt das Gefängnis. Da, die Uhr. Recife. Der Kanal. Wo ist der Stein, den ich spüre? der Stein, der die Stadt erdrückt hat. In der greifbaren Form der Dinge. Denn dies ist eine vollendete Stadt. Ihr letztes Erdbeben verliert sich in den Zeiten. Ich strecke die Hand aus, und ohne Traurigkeit umrande ich aus der Ferne den Stein. Irgend etwas entzieht sich der Windrose noch. Irgend etwas hat sich verhärtet in dem stählernen Pfeil, der in die Richtung einer … ANDEREN STADT zeigt. Dieser Augenblick ist nicht schwer. Ich nutze die Gelegenheit und sehe aus dem Fenster. Da steht ein Haus. Ich ertaste deine Treppen, die Treppen, die ich in Recife hinaufstieg. Dann den niedrigen Wandpfeiler. Ich sehe alles deutlich vor mir. Nichts entgeht mir. Die Stadt auf dem Reißbrett. Mit welch großem Geschick entworfen. Maurer, Bauschreiner, Ingenieure, Steinmetze, Handwerker – die haben mit dem Tod gerechnet. Ich sehe immer klarer: dies ist das Haus, unser Haus, die Brücke, der Fluß, das Gefängnis, die massiven, viereckigen Hochhäuser, das von meiner Abwesenheit zeugende Treppenhaus, der Stein. Doch da erscheint das PFERD. Ein Pferd mit vier Beinen und steinharten Hufen, einem vor Kraft strotzenden Hals und dem Kopf eines PFERDES. Wahrlich, ein Pferd. Falls das ein Wort war, das auf dem harten Boden widerhallte, welche Bedeutung hast du dann? Wie tief doch das Herz in der Brust der Stadt liegt. Ich suche, ich suche. Häu82
ser, Bürgersteige, Treppenstufen, Denkmäler, Pfosten, deine Fabriken. Von der höchsten Mauer aus halte ich Ausschau. Ich suche. Von der höchsten Mauer aus erhalte ich kein einziges Zeichen. Von hier aus kann ich nicht sehen, denn deine Helligkeit ist undurchdringlich. Von hier aus kann ich nicht sehen, aber ich fühle, daß auf einer Wand etwas mit Kohle geschrieben steht. Auf einer Wand in dieser Stadt. Die weiße Rose Schlanke Blütenblätter: Oberfläche bis zum Äußersten. Gläserne Kathedrale, Oberfläche der Oberfläche, für die Stimme unerreichbar. Durch deinen Stengel verschmelzen zwei Stimmen beim dritten, fünften und neunten Mal – weise Kinder öffnen Morgenmünder und singen Geist, Geist, Oberfläche, Geist, o unberührbare Oberfläche einer Rose. Ich strecke die linke – die schwächere – Hand aus, eine dunkle Hand, die ich sofort mit einem verlegenen Lächeln zurückziehe. Ich kann dich nicht berühren. Dein neues, glänzendes Verständnis will mein rüder Geist besingen. Ich versuche, mir die Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, dich zu verstehen, wie man das Morgenrot sieht, einen Stuhl, eine andere Blume. Hab keine Angst, ich will dich nicht in Besitz nehmen. Ich recke und strecke mich nach deiner Oberfläche, die bereits Duft ist. Ich recke und strecke mich, bis ich meine eigene Erscheinung erreiche. Ich erblasse auf diesem erschreckend feinen Gebiet, fast gelange ich zu deiner göttlichen Oberfläche … Die Flügel eines Engels zerbrach ich bei dem lächerlichen Fall. Ich senke den schnaubenden Kopf nicht: wenigstens 83
möchte ich deinen Sieg mit dem engelhaften Schmerz deiner Harmonie, deiner Freude erleiden. Doch mein grobes Herz quält sich wie vor Liehe zu einem Mann. Und aus den unförmigen Händen löst sich das schamhafte Wort.
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Dona Frozina und ihre Kniffe
Na ja, bei diesem bißchen Geld … Das sagt die Witwe Dona Frozina zum Thema Witwenkasse. Aber es reicht, um sich Rosenmilch zu kaufen und regelrecht in dem weißlichen Saft zu baden. Ihre Haut sei wunderbar, heißt es. Schon als junges Mädchen hatte sie das gleiche Mittel benutzt, und sie duftet nach Mutter. Sie ist gläubige Katholikin und geht ständig in die Kirche. Und immer nach Rosenmilch duftend. Wie ein kleines Mädchen. Mit neunundzwanzig Jahren war sie schon Witwe. Und bis auf den heutigen Tag keine Spur von Mann. Eine Witwe der alten Schule. Streng. Mit hochgeschlossenen Kleidern, immer mit langen Ärmeln. »Dona Frozina, wie erklärt es sich, daß Sie im Leben so ganz ohne Mann ausgekommen sind?« würde ich sie gerne fragen. Die Antwort wäre: »Manigances, meine Liebe, nichts weiter als ein paar Kniffe.« Man sagt ihr nach: Viele junge Leute könnten ihr geistig nicht das Wasser reichen. Sie hat die Siebzig überschritten, die sehr verehrte Senhora Dona Frozina. Eine gute Schwiegermutter und die beste Großmutter. Einst gebärfreudige Mutter. Und immer noch fruchtbringend. Ich hätte so gern ein ernstes Wort mit Dona Frozina gesprochen. »Dona Frozina, haben Sie irgend etwas gemein mit Dona Flor und ihren drei Ehemännern?« »Aber ich bitte Sie, Teuerste, was für eine große Sünde! Ich bin eine jungfräuliche Witwe, meine Liebe.« 85
Der Vorname ihres Ehemanns war Epaminondas, sein Spitzname Moço. Sehen Sie, Dona Frozina, es gibt viel schlimmere Namen als Ihren. Eine heißt Flor de Lis, und da man den Namen nicht gut fand, gab man ihr einen Spitznamen, der noch schlimmer ist: Minhora. Hört sich an wie minhoca, Regenwurm. Und diese Eltern, die ihre Kinder auf den Namen Brasil, Argentina, Colômbia, Bélgica und França taufen? Der Kelch, ein Land zu sein, ist an Ihnen vorübergegangen. Sie mit Ihren Kniffen. »Es kommt nicht viel dabei heraus«, sagt sie, »aber es ist lustig.« Lustig – wie denn, meine Gute? Sie haben also den Schmerz nicht kennengelernt? Sie haben den Schmerz Ihr ganzes Leben lang ausgetrickst? Richtig, meine Kniffe erlaubten mir, ihn zu umgehen. Dona Frozina rührt Coca Cola nicht an. Das sei ihr zu neumodisch, meint sie. »Aber alle Welt trinkt doch Cola!« »Alle Welt vielleicht, aber ich nicht, pfui Teufel! Ein Zeug, das nach Wurmkur schmeckt, Gott bewahre und behüte mich davor.« Aber wenn sie meint, daß Cola nach Medizin schmeckt, dann hat sie sie doch wohl schon probiert. Dona Frozina gebraucht den Namen Gottes viel zu oft. Man darf den Namen Gottes nicht mißbrauchen. Aber bei ihr greift dieses Gesetz nicht. Und sie klammert sich an die Heiligen. Die Heiligen haben sie schon satt, so sehr mißbraucht sie sie. Von der Muttergottes ganz zu schweigen; Jesu Mutter hat keine Sekunde Ruhe. Und da Dona Frozina aus dem Norden ist, ruft sie jedesmal, wenn sie sich wundert: Heilige Jungfrau! Und als naive Witwe wundert sie sich oft. 86
Jeden Abend sprach Dona Frozina ein Gebet. Ein Gebet für jeden Heiligen. Da passierte das Unglück: sie schlief mittendrin ein. »Das ist ja furchtbar, Dona Frozina, mitten im Gebet einzuschlafen und die Heiligen ihrem Schicksal zu überlassen!« Sie antwortete mit einer wegwerfenden Geste: »Ach was, Schätzchen, sie werden sich schon zu helfen wissen.« Einmal hatte sie einen ganz seltsamen Traum: sie träumte, sie sehe den Christus oben auf dem Corcovado – und wo waren die ausgebreiteten Arme? Hatte er sie doch tatsächlich verschränkt, dieser Christus, und machte ein Gesicht, als wolle er sagen: Seht zu, wie ihr zurechtkommt, mir reicht’s. Dieser Traum war eine Sünde. Dona Frozina, genug jetzt der manigances. Behalten Sie Ihr Rosenwasser und »io me ne vado«. (Das sagt man doch, wenn man sich aus dem Staub machen möchte, oder?) Dona Frozina, verehrte gnädige Frau, wer die Nase voll hat von Ihnen, das bin ich. Also dann, adieu. Ich bin mitten im Gebet eingeschlafen. P. S.: Schlagen Sie im Französisch-Wörterbuch nach, was manigances bedeutet. Aber ich nehme Ihnen die Arbeit ab: manigance [mani’gã:s] f Kniff m fig.; –s pl. Schliche m/pl.; Tricks m/pl.; (Aus Langenscheidts Taschenwörterbuch der französischen und deutschen Sprache). Ein Hinweis noch, bevor ich zum Schluß komme: Als Dona Frozina klein war, im Norden, in Sergipe, aß sie hinter der Küchentür, auf dem Boden kauernd. Keiner weiß, warum.
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Da komme ich hin
Jenseits des Ohrs gibt es einen Ton, am äußersten Ende des Blickes einen Gesichtspunkt, an den Fingerspitzen einen Gegenstand – da komme ich hin. An der Spitze des Bleistifts der Strich. Wo ein Gedanke abläuft, ist eine Idee, beim letzten Freudenzug eine andere Freude, an der Spitze des Schwertes die Magie – da komme ich hin. An der Spitze des Fußes der Sprung. Es ist wie die Geschichte von jemandem, der ging und nicht mehr zurückkehrte – und genau da komme ich hin. Oder lieber nicht? Doch, ich komme hin. Und kehre zurück, um zu sehen, wie die Dinge stehen. Ob sie noch immer mit dem gleichen Zauber behaftet sind. Wirklichkeit? ich harre Eurer. Da komme ich hin. An der Spitze des Wortes ist das Wort. Ich möchte das Wort ›tertúlia‹, Gesprächsrunde, verwenden und weiß nicht, wo und wann. Am Rande dieses Wortes ist die Familie. Am Rande der Familie bin ich. Am Rande des Ich bin ich selbst. Zu mir selbst komme ich hin. Und von mir selbst gehe ich aus, um zu sehen. Was zu sehen? Zu sehen, was existiert. Wenn ich tot bin, gelange ich zur Wirklichkeit. Noch ist es ein Traum. Ein schicksalsschwerer Traum. Aber danach – danach ist alles wirklich. Und die freigewordene Seele sucht sich ein Eckchen, das sie berge. Das Selbst ist ein Ich, das ich ankündige. Ich weiß nicht, wovon ich rede. Ich rede vom Nichts. Ich bin nichts. Wenn ich tot bin, werde ich wachsen und mich ausdehnen, und jemand wird in Liebe meinen Namen sagen. 88
Zu meinem armen Namen komme ich hin. Und von dort kehre ich zurück, um den Namen meines Liebsten und meiner Kinder zu rufen. Sie werden mir antworten. Letzten Endes werde ich eine Antwort bekommen. Welche Antwort? Die der Liebe. Liebe: ich liebe Euch so sehr. Ich liebe die Liebe. Die Liebe ist rot. Die Eifersucht ist grün. Meine Augen sind grün. Aber sie sind von einem so dunklen Grün, daß sie auf den Fotos schwarz aussehen. Grüne Augen zu haben, ohne daß jemand es weiß, ist mein Geheimnis. Am letzten Ende von mir bin ich. Ich, flehend, ich, diejenige, die braucht, die bittet, die weint, die wehklagt. Aber diejenige, die singt. Die Worte sagt. Worte in den Wind? Was macht es, der Wind trägt sie wieder zurück, und ich nehme sie in Besitz. Ich am Rande des Windes. Der Berg der heulenden Winde ruft mich. Und ich gehe, Hexe, die ich bin. Und transmutiere mich. He, du, Hund, wo ist deine Seele? Ist sie am Rande deines Körpers? Ich bin am Rande meines Körpers. Und sieche langsam dahin. Was sage ich da? Ich sage Liebe. Und am Rande der Liebe sind wir.
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Der Tote im Meer an der Urca
Ich war in der Wohnung der Schneiderin, Dona Lurdes, und probierte das Kleid an, das Olly entworfen hatte – da sagte Dona Lurdes: Im Meer ist ein Mann ertrunken, sehen Sie die Feuerwehr? Ich sah hin und sah nur das Meer, das sehr salzig sein mußte, blaues Meer, weiße Häuser. Und der Tote? Der Tote in einer Salzlauge. Ich will nicht sterben! schrie ich mir erstickt in meinem Kleid zu. Das Kleid ist gelb mit blau. Und ich? sterbe vor Hitze, nicht vor blauen Meeren. Ich werde euch ein Geheimnis verraten: Mein Kleid ist wunderschön, und ich will nicht sterben. Am Freitag ist das Kleid fertig, und am Samstag werde ich es anziehen. Keine Spur von Tod, nur das blaue Meer. Gibt es gelbe Wolken? Goldene gibt es. Ich habe keine Geschichte. Hat der Tote eine? Er hat eine: er wollte an der Urca im Meer baden, der Dummkopf, und kam um, er konnte es wohl nicht lassen! Wenn ich im Meer bade, bin ich vorsichtig, ich bin doch nicht blöde, an der Urca lasse ich mich nur blicken, wenn ich ein Kleid anprobieren muß. Und drei Blusen. S. hat mich begleitet. Bei der Anprobe geht sie in die Einzelheiten. Und der Tote? der in allen Einzelheiten tote? Ich werde euch eine Geschichte erzählen: Es war einmal ein blutjunger Mann, der gerne im Meer badete. An einem Mittwochvormittag fuhr er also hinaus zur Urca. Ich gehe nicht an den Strand der Urca, klettere nicht auf die Felsen der Urca, denn da ist alles voller Ratten. Der junge Mann aber kümmerte sich nicht um die Ratten. Und die Ratten kümmerten sich nicht um ihn. Die weißen Häuser an der Urca. Die erregten seine Aufmerksamkeit. Dann gab es eine 90
Frau, die ein Kleid anprobieren wollte und zu spät kam: der junge Mann war schon tot. Voller Salz. Gab es im Meer etwa Piranhas? Ich tat so, als hätte ich nicht verstanden. Vom Tod verstehe ich wirklich nichts. Ein toter Mann? Tot aus lauter Dummheit. Nach Urca darf man sich nur wagen, um fröhliche Kleider anzuprobieren. Die Frau, nämlich ich, will nichts als Freude. Aber ich verneige mich vor dem Tod. Der bestimmt kommt, o ja, ganz bestimmt. Aber wann? Das ist die Frage, jeden Augenblick kann er kommen. Doch ich, die ich an diesem heißen Vormittag ein Kleid anprobierte, bat Gott, die Probe aufs Exempel zu machen. Da spürte ich etwas unglaublich Starkes, einen berauschenden Duft von Rosen. Das war das Zeichen, die zweimalige Probe; die von Gott und die Anprobe des Kleides. Man darf nur eines natürlichen Todes sterben, nie durch einen Unfall, nie durch Ertrinken im Meer. Ich erflehe Schutz für die Meinen, viele an der Zahl. Und der Schutz, da bin ich mir sicher, wird gewährt. Ja, und der junge Mann? und seine Geschichte? Ein Student vielleicht. Nie werde ich es erfahren. Ich betrachtete nur das Meer und die Häuser, Dona Lurdes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, fragte nur, ob es in der Taille etwas enger sein könnte. Ich sagte ja, die Taille müsse immer eng sein. Doch ich war sprachlos. Sprachlos in meinem wunderschönen Kleid.
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Schweigen
Das Schweigen der Nacht in den Bergen ist so tief. So menschenleer, Vergeblich versucht man zu arbeiten, um es zu überhören, ein paar schnelle Gedanken zu entwerfen, um es zu bemänteln. Oder ein Vorhaben zu erfinden, dieser fragile Punkt, der uns kaum mit dem jäh unwahrscheinlichen Tag von morgen verbindet. Wie diesen Frieden, der uns belauert, überwinden? Ein Schweigen so groß, daß die Verzweiflung sich schämt. Berge so hoch, daß die Verzweiflung sich schämt. Die Ohren gespitzt, den Kopf zur Seite geneigt, horcht der ganze Körper: kein einziges Geräusch. Kein Hahn, der kräht. Wie sich diesem tiefen Nachdenken des Schweigens stellen? diesem Schweigen, das jeglicher Erinnerung an Wörter entbehrt. So du der Tod bist, wie dich erreichen? Es ist ein Schweigen, das nicht schläft: es ist schlaflos: reglos, aber ohne Schlaf. Und ohne Gespenster. Es ist schrecklich – ohne ein einziges Gespenst. Unnütz, es mit der Möglichkeit einer knarrenden Tür, die sich öffnet, eines Vorhangs, der aufgeht und etwas sagt, zu beleben. Es ist leer und birgt keine Versprechungen. Wenn doch wenigstens der Wind wehte. Wind ist Zorn, Zorn ist Leben. Oder wenn es schneite. Der Schnee ist stumm, verzeichnet aber Spuren – alles wird weiß, die Kinder lachen, die Schritte knirschen, und Spuren bleiben zurück. Es gibt eine Kontinuität, die Leben bedeutet. Aber dieses Schweigen liefert keine Beweise. Man kann nicht vom Schweigen sprechen, wie man vom Schnee spricht. Niemanden kann man, wie wenn es geschneit hat, fragen: Hast du gemerkt, daß es heute nacht ge92
schwiegen hat? Wer es vernommen hat, spricht nicht darüber. Die Nacht fällt herab mit ihren kleinen Freuden, wie wenn einer nach der Müdigkeit, die den Tag so erschöpfend rechtfertigt, Lampen anzündet. Die Berner Kinder schlafen ein, es schließen sich die letzten Türen. Das Straßenpflaster glänzt, und es glänzt bereits menschenleer. Dann endlich gehen die entferntesten Lichter aus. Doch dieses erste Schweigen ist noch nicht das Schweigen. Möge man warten, daß die Blätter an den Bäumen sich noch besser zurechtlegen, und vielleicht hört man voller Hoffnung auf der Treppe noch späte Schritte. Aber es kommt der Augenblick, in dem der wache Geist sich in dem entspannten Körper zu regen beginnt und der Mond über der Erde aufgeht. Dann erscheint es, das Schweigen. Dabei schlägt einem das Herz bis zum Halse. Man kann geschwind an den vergangenen Tag denken. Oder an die Freundschaften, die vorbeigingen und sich für immer verloren. Aber es ist sinnlos, sich zu entziehen: das Schweigen ist da. Selbst der größte Schmerz, der Schmerz der verlorenen Freundschaft, ist nichts als Flucht. Denn wenn das Schweigen anfangs eine Antwort zu erwarten scheint – weil man selbst darauf brennt, antworten zu dürfen –, so entdeckt man allzubald, daß es nichts von einem will, außer vielleicht unser Schweigen. Wie viele Stunden gehen in der Dunkelheit verloren in der Annahme, das Schweigen würde uns richten – wie vergeblich wir doch darauf warten, das Urteil des Gottes zu erfahren. Rechtfertigungen werden hervorgebracht, tragische, an den Haaren herbeigezogene Rechtfertigungen, demütige Entschuldigungen bis hin zur Unwürdigkeit. So leicht ist es für den Menschen schließlich, seine Unwürdigkeit offen zu zeigen 93
und Vergebung zu erhalten mit der Begründung, ein von Geburts wegen gedemütigter Mensch zu sein. Bis man entdeckt …, daß es nicht einmal unsere Unwürdigkeit will. Es ist das Schweigen. Man kann auch versuchen, es zu täuschen. Ganz zufällig läßt man beim Einschlafen das Buch, in dem man liest, aus der Hand fallen. Aber – o Schreck – das Buch fällt in das Schweigen und verliert sich in seinem stumm harrenden Schlund. Und wenn ein verrückt gewordener Vogel sänge? Vergebliche Hoffnung. Der Gesang würde das Schweigen nur wie eine leichte Flöte durchdringen. Dann, sofern man den Mut hat, hört man auf, dagegen anzukämpfen. Man begibt sich in das Schweigen hinein, läßt sich von ihm davontragen, wir, die einzigen Geister einer Nacht in Bern. Möge man sich hineinbegeben. Man harre nicht der restlichen Dunkelheit in seinem Angesicht, man harre einzig und allein seiner. Dann ist es, als sei man auf einem so überdimensionalen Schiff, daß man gar nicht merkt, daß es ein Schiff ist. Und dieses Schiff segelt so langsam, daß man nicht spürt, daß es dahinzieht. Mehr als das vermag ein Mensch nicht. An der Grenze zum Tod und zu den Sternen zu leben erzeugt einen stärkeren Druck, als ihn die Adern ertragen können. Nicht einmal der Sohn eines Sterns und einer Frau als barmherzigen Mittler. Das Herz muß ganz allein vor das Nichts treten, allein muß es laut in der Finsternis schlagen. Nur in den Ohren hört man das eigene Herz pochen. Wenn dieses sich in seiner ganzen Nacktheit offenbart, geht es nicht um Verständigung, vielmehr um Unterwerfung. Denn wir sind höchstens für das kleine Schweigen geschaffen. Fehlt aber der Mut, so begebe man sich nicht hinein. Man warte während der ganzen Dunkelheit angesichts des 94
Schweigens, mache sich nur die Füße mit dem Schaum von etwas naß, das sich aus unserem Innern ergießt. Man warte. Eines ist durch das andere nicht lösbar. Eines an der Seite des anderen, zwei Dinge, die man in der Dunkelheit nicht sieht. Man warte. Nicht auf das Ende des Schweigens, sondern auf die gelobte Hilfe eines dritten Elements, auf das Licht der Morgenröte. Danach wird man es nie mehr vergessen. Auch die Flucht in eine andere Stadt ist vergeblich. Denn wenn man es am wenigsten erwartet, begegnet man ihm, und erkennt es wieder – völlig unverhofft. Wenn man sich zwischen hupenden Autos hindurchschlängelt, um die Straße zu überqueren. Zwischen dem ersten grausigen Auflachen und dem zweiten. Nach einem gesagten Wort. Manchmal sogar im Kern des Wortes selbst. Die Ohren fahren erschrocken zusammen, die Augen verdrehen sich – da ist es. Und diesmal tritt es als Phantom auf.
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Verödung
Nicht daß wir langjährige Freunde gewesen wären. Wir hatten uns erst im letzten Studienjahr kennengelernt. Von diesem Zeitpunkt an trafen wir uns, wann immer wir konnten. Seit so langer Zeit hatten wir beide einen Freund gebraucht, daß es nichts gab, das wir einander nicht anvertraut hatten. Wir gelangten zu einem Punkt der Freundschaft, der es unmöglich machte, einen Gedanken für sich zu behalten: sogleich rief einer den anderen an und verabredete sich für sofort. Nach dem Gespräch waren wir so froh, als hätten wir uns gegenseitig ein Geschenk gemacht. Dieser Zustand ständiger Kommunikation gipfelte in einem solchen Überschwang der Gefühle, daß wir an Tagen, an denen wir uns nichts anzuvertrauen hatten, mit einer gewissen Beklommenheit nach Gesprächsstoff suchten. Dieser aber sollte unbedingt schwerwiegend sein, denn ein x-beliebiger Gegenstand hätte die Intensität einer erstmals empfundenen Aufrichtigkeit nicht fassen können. Damals wurden bereits die ersten Zeichen einer Störung zwischen uns offenbar. Manchmal rief einer an, wir trafen uns und hatten uns nichts zu sagen. Wir waren sehr jung und hatten nicht gelernt, einfach zu schweigen. Anfangs, wenn uns der Gesprächsstoff ausging, versuchten wir, über andere zu reden. Doch wir wußten sehr wohl, daß wir den Kern der Freundschaft bereits verfälschten. Über die Mädchen, mit denen wir jeweils befreundet waren, zu reden kam auch nicht in Frage, denn ein Mann spricht nicht über Liebesangelegenheiten. Wir unternahmen den Versuch zu 96
schweigen, wurden aber, sobald wir uns getrennt hatten, von Unruhe geplagt. Nach solchen Begegnungen war meine Einsamkeit groß und öde. Ich begann sogar, Bücher zu lesen, nur, um über sie reden zu können. Doch eine aufrichtige Freundschaft bedurfte einer Aufrichtigkeit ohne Vorbehalte. Auf der Suche nach dieser begann ich, mich leer zu fühlen. Unsere Treffen wurden mit jedem Mal enttäuschender. Meine aufrichtige Armseligkeit kam allmählich zum Vorschein. Auch er, das wußte ich, war in einer Sackgasse seiner selbst gelandet. So lagen die Dinge, als ich ihm vorschlug, nachdem meine Familie nach São Paulo gezogen war und zumal er alleine wohnte, denn seine Angehörigen lebten in Piaui, als ich ihm also den Vorschlag machte, in unsere Wohnung zu ziehen, die ich übernommen hatte. Was für ein Aufruhr der Seele. Strahlend räumten wir unsere Bücher und Schallplatten ein, bereiteten den perfekten Rahmen einer Freundschaft vor. Nachdem alles fertig war, saßen wir auf einmal tatenlos herum, stumm, ausgefüllt von nichts anderem als von Freundschaft. Wie gern wollte einer den anderen retten. Freundschaft schließt Rettung mit ein. Doch sämtliche Probleme waren bereits angesprochen, alle Möglichkeiten durchdacht worden. Wir hatten nur dieses eine, das wir bisher wie Verdurstende gesucht und endlich gefunden hatten: eine aufrichtige Freundschaft. Der einzige Weg, das war uns bewußt, bitter bewußt, der Einsamkeit des Geistes in einem Körper zu entkommen. Doch wie künstlich schien uns die Freundschaft. Als hätten wir in einer langen Rede eine Binsenwahrheit ausweiten wollen, die sich in einem Wort erschöpfte. Unsere Freund97
schaft war so unlösbar wie die Summe zweier Zahlen: unnütz, die Gewißheit, daß zwei und drei fünf sind, über einen Moment hinaus ausdehnen zu wollen. Wir versuchten es mit der einen oder anderen Fete in der Wohnung, doch einerseits beklagten sich die Nachbarn und andererseits brachte es nichts. Hätten wir uns doch wenigstens hin und wieder einen Gefallen tun können. Doch weder hatten wir dazu die Gelegenheit, noch glaubten wir an eine Freundschaft, die derart auf die Probe gestellt werden mußte. Das einzige, was wir tun konnten, war das, was wir taten: zu wissen, daß wir Freunde waren. Was nicht ausreichte, um die Tage zu füllen, vor allem in den großen Ferien nicht. Damals in den Ferien begann die eigentliche Qual. Er, dem ich nichts schenken konnte außer meiner Aufrichtigkeit, er begann, meine Armseligkeit zu entlarven. Außerdem war die Einsamkeit, während wir Seite an Seite Musik hörten oder lasen, viel größer, als wenn wir alleine waren. Und nicht nur größer, sondern auch unbehaglicher. Es gab keinen Frieden. Wenn dann jeder anschließend auf sein Zimmer ging, vermieden wir erleichtert jeden Blick. Es stimmt, daß es im Verlauf der Dinge auch eine Unterbrechung gab, die uns mehr Hoffnungen machte als tatsächlich angebracht war. Mein Freund hatte ein kleines Problem mit der Stadtverwaltung. Nichts Schlimmes, aber wir machten es dazu, um es besser ausschlachten zu können. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon den leichten Weg gewählt, uns gegenseitig Dienste zu erweisen. Begeistert klapperte ich die Büros von Familienfreunden ab und ließ Beziehungen spielen, um meinem Freund zu helfen. Als es dann mit den beglaubigten Dokumenten losging, lief ich mir die Hacken wund – ich kann guten Gewissens behaupten, daß 98
keine einzige Unterschrift ohne mein Dazutun beglaubigt wurde. Damals trafen wir uns abends zu Hause, erschöpft und voller Hoffnung: wir erzählten uns die Heldentaten des Tages und planten die nächsten Angriffe. Das Vorgefallene mußte nicht großartig vertieft werden, es reichte, daß es von Freundschaft geprägt war. Ich glaubte zu verstehen, weshalb Verlobte sich beschenken, wieso ein Ehemann seiner Frau ein bequemes Leben zu bieten versucht und diese ihm eifrig ein schönes Essen kocht, weshalb eine Mutter in übertriebener Weise die Kinder umsorgt. Damals schenkte ich übrigens, was nicht ganz ohne Opfer abging, derjenigen, die heute meine Frau ist, eine kleine goldene Brosche. Erst sehr viel später sollte ich begreifen, daß einfach nur dazusein auch ein Geschenk ist. Nachdem die Angelegenheit mit der Stadtverwaltung – nebenbei bemerkt – erfolgreich für uns ausgegangen war, setzten wir unser Leben Seite an Seite fort, ohne jedoch das geeignete Wort zu finden, die Seele hinzugeben. Die Seele hinzugeben? Aber wer wollte denn letzten Endes seine Seele hingeben? Na, bitte! Also was wollten wir eigentlich? Gar nichts. Wir waren erschöpft, enttäuscht. Unter dem Vorwand, daß ich einen Teil der Ferien mit meiner Familie verbringen würde, trennten wir uns. Er wollte übrigens auch nach Piaui. Ein bewegter Händedruck am Flughafen war unser Abschied. Wir wußten, daß wir uns nicht wiedersehen würden, es sei denn per Zufall. Mehr noch: daß wir uns nicht wiedersehen wollten. Und wir wußten auch, daß wir Freunde waren. Aufrichtige Freunde.
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Ein erfüllter Nachmittag
Das Seidenäffchen ist so klein wie eine Maus und etwa von derselben Farbe. Nachdem die Frau im Bus Platz genommen und einen gelassenen Besitzerblick in die Runde geworfen hatte, stieß sie einen erstickten Schrei aus: dicht neben ihr, auf der Hand eines dicken Mannes, saß dieses Etwas, das wie eine unruhige Ratte schien und in Wirklichkeit ein aufgewecktes Seidenäffchen war. Die ersten Augenblicke dieses ›Frau versus Seidenäffchen‹ gingen bei dem Versuch drauf, sich zu vergewissern, daß es sich nicht um eine verkappte Maus handelte. Nachdem das gelungen war, begannen köstliche und intensive Augenblicke: die Beobachtung des Tierchens. Der ganze Bus tat übrigens das gleiche. Der Frau aber gebührte das Privileg, neben der Hauptfigur zu sitzen. Von dort aus konnte sie zum Beispiel dieses klitzekleine Ding, das die Zunge eines Seidenäffchens ist, in Augenschein nehmen: wie der Strich eines roten Bleistifts. Dann gab es da auch noch die Zähne: man hätte fast an die Tausend Zähne in der Umrahmung seines Mauls zählen können, einer kleiner als der andere und weißer. Das Seidenäffchen machte das Maul keinen Augenblick zu. Seine Augen waren rund, deuteten auf eine Überfunktion der Schilddrüse hin, außerdem stand der Oberkiefer leicht vor – und diese Mischung verlieh ihm einen seltsam unzüchtigen Ausdruck, sein Gesicht wirkte etwas anbiedernd, wie bei diesen Straßenkindern, die ständig eine Rotznase haben und dabei Bonbons lutschen und schniefen. Als das Seidenäffchen der Dame auf den Schoß sprang, 00
konnte diese nur mit Mühe einen frisson unterdrücken, die verlegene Lust einer, die ausgewählt worden war. Doch die anderen Fahrgäste betrachteten sie mit Wohlwollen, schienen das Geschehnis gutzuheißen, und leicht errötend akzeptierte sie es, die schüchterne Favoritin zu sein. Das Tier zu streicheln, unterließ sie, weil sie nicht wußte, ob das die passende Geste gewesen wäre. Und es fehlte ihm auch nicht an Zuwendung. Der Besitzer, der dicke Mann, brachte ihm eine handfeste, strenge Liebe entgegen, wie ein Vater seinem Sohn, ein Herr seiner Frau gegenüber. Er gehörte zu diesen Männern, die, wenn sie auch nie lächelten, das sogenannte goldene Herz hatten. Sein Gesichtsausdruck wirkte sogar tragisch, als wäre er mit einer Mission beauftragt. Einer Liebesmission? Das Seidenäffchen war ihm der Hund im Leben. In der Brise fuhr der Bus wie mit wehenden Fahnen weiter. Das Seidenäffchen fraß einen Keks. Schnell kratzte es sich mit dem dünnen Hinterbein das runde Ohr. Das Seidenäffchen quietschte. Es krallte sich ans Fenster und guckte sich, so schnell es konnte, um – während in anderen vorbeifahrenden Bussen erstaunte Gesichter nicht einmal die Zeit hatten, festzustellen, ob sie das, was sie gesehen hatten, auch wirklich gesehen hatten. Währenddessen erzählte in der Nähe der Dame eine andere Dame einer dritten, sie habe zu Hause eine Katze. Wer etwas zum Liebhaben besaß, erzählte davon. Ausgerechnet in dieser fröhlich familiären Stimmung überholte und schnitt ein Lastwagen den Bus, fast wären sie zusammengestoßen, Schreie ertönten. Schnell stiegen alle aus. Da sie einen Termin hatte und eh schon verspätet war, stieg die Dame in ein Taxi um. Erst im Taxi fiel ihr das Seidenäffchen wieder ein. 0
Mit einem säuerlichen Lächeln bedauerte sie – zumal heutzutage immer so viele Nachrichten in der Zeitung standen, darunter kaum eine für sie –, daß alles sich so zusammengeballt hatte, daß ein Seidenäffchen und ein knapp vermiedener Unfall ihr gleichzeitig passieren mußten. »Ich wette«, dachte sie, »daß mir jetzt wieder ewig lange gar nichts passiert, wahrscheinlich fängt die Zeit der mageren Kühe wieder an.« Welche im allgemeinen ihre Zeit war. An diesem Tag aber geschahen noch andere Dinge. Die man sogar alle unter der Rubrik ›Zu versteuernder Gewinn‹ verbuchen konnte. Nur daß sie sich nicht mitteilen ließen. Diese Frau war übrigens ziemlich verschlossen sich selbst gegenüber und verstand sich nicht besonders gut mit sich. Aber so ist es nun mal. Und noch nie hat jemand von einem Seidenäffchen gehört, dessen Geburt, Leben oder Tod verhindert worden wären, nur weil es sich weder verstand noch verstanden wurde. Wie dem auch sei – dies war ein Nachmittag mit wehenden Fahnen gewesen. Nachricht für Érico Verissimo Ich stimme Dir nicht zu, wenn Du sagst: »Entschuldigt, aber ich bin nicht tiefschürfend.« Du bist zutiefst menschlich – und was kann man mehr von einem Menschen erwarten? Du hast die Größe des Geistes. Ein Küßchen für Dich, Érico.
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Ein komplizierter Fall
Ja, so ist das eben. Deren Vater der Geliebte war, mit seiner Krawattennadel, der Geliebte der Frau des Arztes, der die Tochter behandelte, das heißt, die Tochter des Geliebten, und alle wußten es, und die Frau des Arztes hängte ein weißes Tischtuch aus dem Fenster, was bedeutete, der Geliebte konnte hereinkommen, oder aber ein farbiges Tuch, und er kam nicht herein. Aber ich bin schon ganz durcheinander, oder es ist der Fall, der so verwickelt ist, daß ich ihn abwickeln werde, wenn ich kann. Die wirklichen Ereignisse darin sind erfunden. Ich bitte um Entschuldigung, denn abgesehen von den Fakten, die ich erzähle, errate ich auch einiges, und was ich errate, schreibe ich hier auf. Ich errate die Wirklichkeit. Aber diese Geschichte stammt nicht von mir. Sie ist die Ausbeute eines, der mehr kann als ich. Also diese Tochter hatte ein abgestorbenes Bein und sie mußten es amputieren. Diese Jandira, siebzehn Jahre alt, feurig wie ein junges Füllen und mit wunderbarem Haar, war verlobt. Kaum hatte der Verlobte die Gestalt gesehen, die mit Krücken und voller Freude auf ihn zukam, mit einer Freude, die er nicht als Leidenschaft erkannte, ja, da fiel ihm nichts Besseres ein, als all seinen Mut zusammenzunehmen und die Verlobung schlicht und ohne Gewissensbisse zu lösen, eine Verstümmelte wolle er nicht haben. Alle, einschließlich der leidenden Mutter des Mädchens, flehten ihn an, doch wenigstens so zu tun, als liebe er sie noch, was – so versicherten sie ihm – ja nicht so schlimm sei, da nur kurz03
fristig vonnöten: das Leben seiner Verlobten sei nur noch von kurzer Dauer. Nachdem drei Monate ins Land gegangen waren, als erfüllte sie das Versprechen, den schwachsinnigen Verlobten nicht weiter zu belasten, nach drei Monaten also starb sie, wunderschön, mit ihrem prächtigen Haar, untröstlich, sich nach dem Verlobten sehnend und angesichts des Todes erschrocken wie ein Kind, das Angst vor dem Dunkeln hat: der Tod ist von tiefer Dunkelheit. Oder vielleicht auch nicht, ich weiß nicht, wie er ist, ich bin ja noch nicht gestorben, und danach werde ich es nicht mehr erfahren, aber vielleicht ist er doch nicht ganz so dunkel. Der Tod, meine ich. Der Verlobte, den man bei seinem Familiennamen, Bastos, rief, wohnte, wie es schien, in der Zeit, als seine Verlobte noch lebte, bei einer Frau. Ohne viel Aufhebens blieb er bei ihr wohnen. Nun gut. Eines schönen Tages wurde die Frau eifersüchtig. Und alles ausgefeilt bis ins letzte, wie in den Theaterstücken von Nelson Rodrigues, der nicht an grausamen Einzelheiten spart. Doch wo war ich stehengeblieben, habe ich den Faden verloren? Also alles noch mal von vorne, in einer frischen Zeile und einem neuen Absatz, damit es besser klappt. Also gut. Die Frau wurde eifersüchtig und während Bastos schlief, goß sie ihm mit dem Teekessel kochendes Wasser ins Ohr, kaum daß ihm die Zeit blieb zu brüllen wie am Spieß, bevor er in Ohnmacht fiel, ein Brüllen, das wir uns ausmalen können, es war das schrecklichste, das es gibt. Bastos wurde ins Krankenhaus gebracht und schwebte zwischen Leben und Tod, dieser in wildem Kampf mit jenem. Das eifersüchtige Weib bekam ein Jahr und ein paar Monate Zuchthaus. Am Tag ihrer Entlassung traf sie sich – ra04
tet mal, mit wem? – ja, richtig, sie traf sich mit Bastos. Mittlerweile natürlich ein etwas angeschlagener Bastos, für immer taub, ausgerechnet er, der körperliche Gebrechen nicht ertragen konnte. Und was geschah? Sie taten sich wieder zusammen, ewige Liebe. Inzwischen war das siebzehnjährige Mädchen schon lange tot, nur bei ihrer Mutter waren die Narben noch nicht verheilt. Und wenn mir hier wieder unvermittelt das Mädchen einfällt, dann wegen der Liebe, die ich empfinde. Und hier kommt, wie einer, der mit alldem nichts zu tun hat, der Vater ins Spiel. Er hielt das Verhältnis zu der Frau des Arztes, der seine Tochter, seine, d. h. die Tochter des Geliebten, so ergeben behandelt hatte, noch immer aufrecht. Und alle wußten es, der Arzt sowie die Mutter der ehemaligen Verlobten. Ich glaube, ich habe schon wieder den Faden verloren, es geht durcheinander, aber was kann ich dafür? Obwohl der Arzt wußte, daß der Vater des Mädchens der Liebhaber seiner Frau war, hatte er sich rührend um die kleine Verlobte gekümmert, die solche Angst vor dem Dunkeln hatte, wie ich gesagt habe. Die Ehefrau des Vaters, also die Mutter der kleinen Ex-Verlobten, war im Bilde über die galanten Seitensprünge ihres Mannes, der eine goldene Uhr und einen echten Ring sowie eine Krawattennadel mit einem Brillanten trug, ein wohlhabender Kaufmann, wie man zu sagen pflegte, denn die Leute respektieren und grüßen devot die Reichen, die Erfolgreichen, ist doch klar? Er, der Vater des Mädchens, in einem grünen Anzug und einem Hemd mit feinen rosa Streifen. Woher ich das weiß? Ach, einfach so, wie man etwas mit seiner Vorstellungskraft erraten kann. Ich weiß es eben, und damit basta. 05
Aber noch etwas darf ich nicht vergessen. Folgendes: Der Liebhaber hatte vorne einen kostbaren Goldzahn. Und er roch nach Knoblauch, all seine Ausdünstungen waren der reinste Knoblauch, der Geliebten machte das nichts aus, sie wollte einen Liebhaber, mit oder ohne Küchendüfte. Woher ich das weiß? Ach, einfach so. Ich weiß nicht, was aus diesen Menschen geworden ist, ich habe nichts mehr von ihnen gehört. Ob sie noch zusammen sind? Schwer zu sagen, die Geschichte ist schon alt, vielleicht ist der eine oder andere von ihnen bereits gestorben. Ich füge noch eine wichtige Tatsache hinzu, die irgendwie die verdammte Entstehung der ganzen Geschichte erklärt: sie hat sich in Niteroi zugetragen, dieser Stadt mit den ständig feuchten und dunklen Planken am Kai und den Fähren, die ankommen und abfahren. Niteroi ist ein mysteriöser Ort mit alten, schwarz gewordenen Häusern. Ob es möglich ist, daß dort kochendes Wasser in das Ohr eines Liebhabers gegossen wird? Keine Ahnung. Was soll ich nun mit dieser Geschichte anfangen? Das weiß ich auch nicht. Ich schenke sie dem erstbesten, der sie haben will, denn ich habe sie satt. Verdammt satt sogar. Manchmal wird mir von den Menschen schlecht. Dann geht es vorbei, und ich bin wieder voll brennender Neugier und Interesse. So, das war’s.
06
Soviel Sanftmut
Die dunkle Stunde, die allerdunkelste vielleicht, am hellichten Tag, ging dieser Sache voraus, die ich nicht einmal versuchen möchte zu definieren. Bei vollem Tageslicht war es Nacht, und diese Sache, die ich noch nicht bestimmen möchte, ist ein sanftes Licht in meinem Inneren, als Freude würde man sie bezeichnen, als zahme Freude. Ich bin etwas verwirrt, als hätte man mir ein Herz herausgenommen und an seiner Stelle wäre jetzt eine unverhoffte Leere, eine fast körperlich spürbare Leere, zurückgelassen von dem, was vorher ein in Dunkelheit und Schmerz getauchtes Organ war. Ich fühle gar nichts. Aber es ist das Gegenteil von Gefühllosigkeit. Es ist eine leichtere und stillere Art zu existieren. Aber ich bin auch unruhig. Ich hatte mich darauf eingerichtet, mich über Angst und Schmerz hinwegzutrösten. Wie soll ich nun mit dieser schlichten, gelassenen Freude zurechtkommen? Ich bin es nicht gewöhnt, meinen eigenen Trost nicht zu brauchen. Das Wort Trost ergab sich, ohne daß ich es empfinde, ich habe es gar nicht bemerkt, und als ich danach suchte, hatte es sich schon in Fleisch und Geist verwandelt, existierte schon nicht mehr als Vorstellung. Ich trete also ans Fenster, ein starker Regen fällt. Aus purer Gewohnheit suche ich im Regen, was mir zu einer anderen Zeit als Trost gedient hätte. Doch einen Schmerz, der Trost erforderte, spüre ich nicht. Ach, ich weiß. Ich suche jetzt im Regen eine Freude so stark, daß sie schneidend wird und mich in Berührung bringt mit einer Schärfe, die der Schärfe des Leids ähnelt. Die Suche 07
aber ist vergeblich. Ich stehe am Fenster, und es passiert nur das: mit wohlwollendem Blick sehe ich den Regen, und der Regen sieht mich in Übereinstimmung mit mir. Beide sind wir damit beschäftigt zu fließen. Wie lange wird mein Zustand dauern? Ich merke, daß ich bei dieser Frage nach meinem Puls taste, um das schmerzhafte Pochen von einst wiederzufinden. Und ich stelle fest, daß es nicht da ist. Nur das: es regnet, und ich sehe den Regen. Wie einfach. Ich hätte nie gedacht, daß die Welt und ich an diesem Punkt reifen Weizens ankämen. Der Regen fällt, nicht, weil er mich braucht, und ich sehe den Regen, nicht, weil ich ihn brauche. Doch wir sind so innig miteinander verbunden wie das Regenwasser mit dem Regen. Und ich brauche mich für nichts zu bedanken. Hätte ich nicht nach meiner Geburt unwillentlich und durch Zwang den Weg genommen, den ich genommen habe – wäre ich immer das gewesen, was ich wirklich bin: eine Bäuerin auf einem Feld, auf das es regnet. Ohne sich bei Gott und der Natur dafür zu bedanken. Der Regen muß sich auch für nichts bedanken. Ich bin kein Etwas, das sich bedankt, weil es sich in etwas anderes verwandelt hat. Ich bin eine Frau, ein Mensch, ein Aufmerken, ein Körper, der aus dem Fenster sieht. Ebensowenig wie der Regen dankt, daß er kein Stein ist. Er ist eben der Regen. Vielleicht ist es das, was man am Leben sein nennen könnte. Nicht mehr als das, aber eben das: am Leben sein. Am Leben nur durch eine sanfte Freude.
08
Die Wasser des Meeres
Da ist es, das Meer, die unbegreiflichste aller nicht menschlichen Existenzen. Und hier, am Strand, steht die Frau, das unbegreiflichste aller Lebewesen. Da der Mensch eines Tages die Frage nach sich selbst aufgeworfen hat, wurde er zum unverständlichsten aller Geschöpfe. Sie und das Meer. Eine Begegnung des Mysteriums beider Wesen wäre nur möglich, wenn eines sich dem anderen hingäbe: die Hingabe zweier unerkennbarer Welten, vollzogen mit dem Vertrauen zweier Verstehenden. Sie schaut auf das Meer, mehr kann sie nicht tun. Begrenzt ist es für sie nur durch die Linie des Horizonts, besser, durch ihre menschliche Unfähigkeit, die Erdkrümmung zu sehen. Es ist sechs Uhr früh. Nur ein streunender Hund, ein schwarzer, läuft zögernd am Strand umher. Wieso ist ein Hund so frei? Weil er das lebendige Mysterium ist, das sich nicht in Frage stellt. Die Frau zögert, weil sie jetzt ins Wasser geht. Ihr Körper findet sich mit seiner eigenen Winzigkeit im Vergleich zur Weite des Meeres ab, denn es ist seine Winzigkeit, die es dem Körper erlaubt, sich warm zu halten, und die sie zu einem armen freien Menschenwesen macht, mit ihrem Teil Hundefreiheit im Sand. Dieser Körper wird in die unendliche Kälte hineingehen, die ohne eine Spur von Wut in der Stille des frühen Morgens schäumt und braust. Die Frau weiß es nicht: doch sie beweist Mut. Da der Strand um diese Zeit völlig leer ist, kann sie sich kein Beispiel nehmen an den 09
anderen Menschen, die ins Wasser gehen, als handele es sich um ein simples, leichtfertiges Lebensspiel. Sie ist allein. Das salzige Meer ist nicht allein, denn es ist voller Salz und ungeheuer groß, und das ist eine Erfüllung. In diesem Augenblick kennt sie sich noch weniger, als sie das Meer kennt. Ihr Mut besteht darin, weiterzumachen, obwohl sie sich nicht kennt. Sich nicht zu kennen ist ein Verhängnis, sich nicht zu kennen erfordert Mut. Sie geht immer weiter hinein. Das Salzwasser ist so kalt, daß sie immer wieder eine Gänsehaut bekommt. Doch eine verhängnisvolle Freude – Freude ist ein Verhängnis – hat sie bereits eingenommen, obwohl sie gar nicht daran denkt zu lächeln. Im Gegenteil, sie ist sehr ernst. Der Geruch des Meeres ist derart schwindelerregend, daß er sie aus ihrem tiefsten, Jahrhunderte währenden Schlaf reißt. Und nun ist sie wach, wenn sie auch nicht denkt. Die Frau ist jetzt ein fester, ein leichter und ein schneidender Körper – und sie bahnt sich einen Weg in der Kälte, die sich ihr flüssig widersetzt, sie aber dennoch aufnimmt, wie in der Liebe, in der Widerstand eine Aufforderung sein kann. Das langsame Vordringen stärkt ihren geheimen Mut. Und auf einmal läßt sie sich von der ersten Welle überrollen. Das Salz, das Jod, die ganze Flüssigkeit macht sie für einen Moment blind, von Kopf bis Fuß überflutet – verwundert steht sie da, befruchtet. Jetzt kommt ihr die Kälte eisig vor. Vorwärtsstrebend durchschneidet sie das Meer in zwei Hälften. Sie braucht jetzt keinen Mut mehr, sie ist bereits mit dem Ritual vertraut. Sie taucht den Kopf in das glänzende Wasser und kommt mit tropfnassem Haar, das ihre vom Salz brennenden Augen bedeckt, wieder hoch. Mit einer Hand spielt sie im Wasser, immer die gleiche Bewegung, ihr Haar wird in 0
der Sonne sogleich hart vor lauter Salz. Mit der hohlen Hand und dem Stolz derer, die sich nie rechtfertigen, nicht einmal sich selbst gegenüber, tut sie das, was sie schon immer im Meer getan hat: sie schöpft Wasser und trinkt es in großen, erfrischenden Schlucken. Genau das war es, was ihr gefehlt hatte: das Meer tief in ihrem Körper wie die sämige Flüssigkeit eines Mannes. Nun ist sie ganz mit sich identisch. Von dem labenden Salztrunk zieht sich ihre Kehle zusammen, die Augen röten sich von dem Salz, das die Sonne getrocknet hat, die Wellen schlagen leicht und im gleichen Rhythmus an ihren Körper, denn sie ist ein undurchdringliches Hindernis. Von neuem taucht sie unter und trinkt, mehr Wasser noch, ohne jegliche Hast nun, denn sie braucht es nicht mehr. Sie ist die Geliebte, die weiß, daß sie alles aufs neue bekommen wird. Die Sonne steigt höher und läßt sie erschauern, während sie sie trocknet, noch einmal taucht sie ins Wasser; von Mal zu Mal verliert sie an Hast und Schärfe. Jetzt weiß sie, was sie will. Sie möchte im Meer stehenbleiben. Sie tut es. Wie gegen die Bordwand eines Schiffes schlägt das Wasser an ihren Körper, kommt und geht, kommt und geht. Die Frau empfängt keine Botschaft. Sie braucht keine Kommunikation. Dann watet sie durch das Wasser zurück zum Strand. Sie wandelt nicht über das Wasser – so etwas würde sie nie tun, wo man doch schon vor Jahrtausenden über das Wasser gewandelt war –, aber niemand kann ihr das nehmen: durch das Wasser waten. Manchmal widersetzt sich das Meer und zieht sie in einem Sog zurück, aber dann dringt der Bug der Frau etwas schärfer und hölzerner nach vorne. Und nun hat sie Sand unter den Füßen. Sie weiß, daß sie von Wasser und Salz und Sonne strahlt. Selbst wenn sie es im
nächsten Moment vergessen sollte, wird man ihr all das niemals nehmen können. Irgendwie begreift sie auch, daß ihre tropfenden Haare die einer Gestrandeten sind. Denn sie weiß – sie weiß, daß sie in Gefahr war. Einer Gefahr, so alt wie der Mensch.
2
Seelensturm
Oh, wenn ich weiß, käme ich nicht auf die Welt, oh, wenn ich weiß, käme ich nicht auf die Welt. Der Irrsinn ist der Nachbar grausamster Vernunft. Ich schlucke den Irrsinn, denn in aller Ruhe betört er mich. Der Ring, den du mir schenktest, war aus Glas und ging entzwei, und die Liebe ist vorbei, doch an ihrer Stelle der Haß derer, die lieben. Der Stuhl ist mir ein Gegenstand. Unnütz, solange ich ihn betrachte. Sag mir, bitte, wie spät es ist, damit ich weiß, daß ich um diese Zeit lebe. Die Kreativität wird von einem Keim ausgelöst, und heute habe ich diesen Keim nicht, doch ich verfüge über den aufkeimenden Irrsinn, der an sich selbst gültige Schöpfung ist. Mit der Gültigkeit der Dinge habe ich nichts mehr zu tun. Ich bin befreit oder verloren. Ich werde euch ein Geheimnis anvertrauen: das Leben ist tödlich. Wir bewahren Schweigen über dieses Geheimnis, jeder sich selbst gegenüber, weil es angebracht ist, sonst würden wir jeden einzelnen Augenblick zu einem tödlichen machen. Der Gegenstand Stuhl hat mich immer schon interessiert. Ich betrachte diesen, der alt ist, in einem Antiquitätenladen erstanden, 9. Jahrhundert; kaum denkbar noch einfachere Linien, als Kontrast zu dem Sitz aus rotem Filz. Ich liebe die Gegenstände in dem Maße, in dem sie mich nicht lieben. Aber wenn du nicht verstehst, was ich schreibe, ist es nicht meine Schuld. Ich muß reden, denn reden rettet. Doch ich habe kein einziges Wort zu sagen. Die bereits gesagten Wörter haben mir den Mund geknebelt. Was kann ein Mensch einem anderen sagen? Außer »wie geht’s«? Wären sie vom Wahnsinn der Aufrichtigkeit befallen, was würden die 3
Menschen sich dann gegenseitig sagen? Und, schlimmer noch, was würde jeder einzelne zu sich selber sagen, wenn es auch die Rettung wäre, obwohl die Aufrichtigkeit durch das Bewußtsein bedingt ist und der Horror vor der Aufrichtigkeit von dem riesigen unbewußten Teil rührt, der mich an die Welt bindet und an ihre schöpferische Unwissenheit. Heute ist ein Tag mit einem wunderbaren Sternenhimmel, zumindest verspricht es dieser traurige Nachmittag, den ein menschliches Wort retten würde. Ich mache die Augen ganz groß auf, aber es hilft nichts: mehr als sehen kann ich nicht. Das Geheimnis aber kann ich weder sehen noch spüren. Der Plattenspieler ist kaputt, und ohne Musik auszukommen bedeutet, dem menschlichen Dasein, das eingehüllt ist in Musik, untreu zu werden. Musik ist übrigens eine Abstraktion des Denkens, ich rede von Bach, Vivaldi, Händel. Schreiben kann ich nur, wenn ich frei bin, frei von jeglicher Zensur, sonst gehe ich ein. Ich sehe den Stuhl aus dem 9. Jahrhundert an, und diesmal ist es, als habe auch er mich angesehen und mich gesehen. Die Zukunft gehört mir, solange ich lebe. In Zukunft wird man mehr Zeit zum Leben haben und zum wirren Schreiben. In Zukunft sagt man: Wenn ich weiß, käme ich nicht auf die Welt. Marli de Oliveira, ich schreibe dir keine Briefe, denn ich kann nur vertraulich sein. Egal unter welchen Umständen, ich kann immer nur vertraulich sein: daher bin ich eher eine Wortkarge. Ob all das, was noch nie getan wurde, eines Tages getan wird? Die Zukunft der Technologie droht alles, was am Menschen menschlich ist, zu zerstören, aber keine Technologie reicht an den Wahnsinn heran; und dorthin zieht sich also das Menschliche des Menschen zurück. Ich sehe die Blumen in der Vase: es sind Feldblumen, gewachsen, ohne daß man sie gesät hätte, wunderschön und gelb. 4
Meine Köchin aber meinte: Was für häßliche Blumen. Nur weil es schwer ist, das Spontane und Franziskanische zu verstehen und zu lieben. Das Schwierige zu verstehen ist nicht von Vorteil, aber das zu lieben, was sich leicht lieben läßt, bedeutet, weit aufzusteigen auf der menschlichen Skala. Wie viele Lügen muß ich verbreiten. Mir selbst gegenüber aber wollte ich nicht lügen müssen. Denn was bleibt mir sonst? Die Wahrheit ist das letzte Substrat aller Dinge, und in meinem Unbewußten liegt die Wahrheit, die auch die Wahrheit der Welt ist. Der Mond ist, würde Paul Éluard sagen, éclatante de silence. Ob der Mond heute zum Vorschein kommen wird, weiß ich nicht, denn es ist schon spät, und am Himmel ist er nicht zu sehen. Eines Nachts habe ich den Himmel beobachtet und mit zurückgelehntem Kopf den Himmelskreis nachgezogen, mir wurde schwindelig vor so viel Sternen, die auf offenem Feld sichtbar werden, denn der Himmel über den Feldern ist frei. Denkt man ein wenig darüber nach, gibt es überhaupt keine Logik in der vollkommen ausgewogenen Unlogik der Natur. Auch nicht in der menschlichen Natur. Was würde aus der Welt, dem Kosmos, gäbe es den Menschen nicht. Könnte ich immer so schreiben, wie ich jetzt schreibe, wäre ich inmitten eines tobenden Gehirnsturms, was brainstorm bedeutet. Wer den Stuhl wohl erfunden hat? Einer, der sich selbst geliebt hat. Deshalb hat er eine größere Bequemlichkeit für seinen Körper erfunden. Danach gingen die Jahrhunderte ins Land, und nie mehr hat jemand einem Stuhl wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, denn man benutzt ihn fast automatisch. Es bedarf des Mutes, einen brainstorm zu verursachen: man weiß nie, was einen erschrecken könnte. Das heilige Monster ist tot: an seiner Stelle wurde ein kleines Mädchen geboren, das ganz allein war. Ich weiß, ich muß aufhören, nicht, 5
weil mir die Worte ausgegangen wären, sondern weil man solche Dinge, und vor allem die, die ich nur gedacht und nicht geschrieben habe, nicht in Zeitungen zu veröffentlichen pflegt.
6
Leben pur
Denn in Rio de Janeiro gab es ein Haus mit einem Kamin. Als sie merkte, daß es nicht nur kalt war, sondern der Regen auf die Bäume fiel, konnte sie nicht glauben, daß ihr so viel gegeben wurde. Der Einklang der Welt mit dem, von dem sie nicht einmal wußte, daß sie es brauchte, als herrsche Hungersnot. Es regnete und regnete. Das brennende Feuer zwinkerte ihr und dem Mann zu. Er, der Mann, beschäftigt mit dem, was sie ihm nicht einmal dankte; er schürte das Kaminfeuer, übernahm seine ihm von Geburts wegen zufallende Pflicht. Und ihr – der stets unruhigen, emsig Dinge erledigenden und Neuigkeiten ausprobierenden –, ihr fiel es nicht im Traum ein, das Feuer zu schüren: dies war nicht ihre Rolle, hatte sie doch ihren Mann dafür. Wenn sie auch keine zarte Mimose war, so mochte er doch seinen Auftrag erfüllen. Das Äußerste, was sie tat, war, ihn hin und wieder anzutreiben: »Dieser Scheit da«, sagte sie zu ihm, »brennt noch nicht.« Und bevor sie mit dem Satz, der es ihm erklärte, zu Ende war, hatte er auch schon, durch und durch ihr Mann, den Scheit gesehen und bearbeitete ihn mit dem Feuerhaken. Doch nicht auf ihr Kommando hin, die sie eines Mannes Frau war und ihren Stand gefährdete, gäbe sie ihm Befehle. Seine andere Hand, die freie, war in ihrer Reichweite. Sie wußte es, doch sie nahm sie nicht. Sie wollte seine Hand, wußte, daß sie sie wollte und nahm sie nicht. Sie hatte genau das, was sie brauchte: sie konnte es haben. Ach, und zu sagen, daß all das zu Ende gehen würde, von sich aus nicht von Dauer sein konnte. Nein, nicht auf das Feuer bezog sie sich, sie dachte an das, was sie empfand. 7
Was sie empfand, war nie von Dauer, was sie empfand, ging stets zu Ende und war vielleicht zum letzten Mal. Daher stürzte sie sich begierig auf den Augenblick, verzehrte sein Feuer, während draußen das Feuer sanft brannte, glühte, aufloderte. Dann, wissend, daß alles zu Ende geht, nahm sie des Mannes freie Hand in die ihren, während sie selber sanft brannte, glühte, aufloderte.
Inhalt:
Die Suche nach einer Würde 7 Die Abfahrt des Zuges 20 Trockene Studie über Pferde 43 Wo warst du in der Nacht 53 Der Bericht über das Ding 7 Das Manifest der Stadt 82 Dona Frozina und ihre Kniffe 85 Da komme ich hin 88 Der Tote im Meer an der Urca 90 Schweigen 92 Verödung 96 Ein erfüllter Nachmittag OO Ein komplizierter Fall 03 Soviel Sanftmut 07 Die Wasser des Meeres 09 Seelensturm 3 Leben pur 7
234 Jenseits des Ohrs gibt es einen Ton, am äußersten Ende des Blickes einen Gesichtspunkt, an den Fingerspitzen einen Gegenstand – da komme ich hin.