MAURICE MERLEAU-PONTY
ZEICHEN auf der Grundlage der Übersetzungen von Barbara Schmitz, Hans Werner Arndt und Bernhard ...
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MAURICE MERLEAU-PONTY
ZEICHEN auf der Grundlage der Übersetzungen von Barbara Schmitz, Hans Werner Arndt und Bernhard Waldenfels unter Mitarbeit von Annika Hand und Dominic Harion kommentiert und mit einer Einleitung herausgegeben von
chr ist ia n b e r me s
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 590
Veröffentlicht mit Unterstützung des französischen Kulturministeriums (Nationales Buchzentrum). Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé de la culture – Centre national du livre.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1832-2
www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte an dieser Ausgabe, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: GGP Media, Pößneck. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
INHALT
Einleitung. Von Christian Bermes ................................................ VII Editorische Notiz ......................................................................... XXI Vorwort ........................................................................................
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Das Indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens .......
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Über die Phänomenologie der Sprache ...................................... 117 Der Philosoph und die Soziologie .............................................. 139 Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss ............................................. 163 Überall und nirgends .................................................................. 181 Der Philosoph und sein Schatten ............................................... 233 Bergson im Werden ..................................................................... 265 Einstein und die Krise der Vernunft ........................................... 281 Montaignelektüre ........................................................................ 291 Anmerkung zu Machiavelli ......................................................... 311 Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge ..................... 333 Gelegentliche Äußerungen .......................................................... 361 Die paranoische Politik ........................................................... 363 Marxismus und Aberglaube ................................................... 385 Die UdSSR und die Lager ....................................................... 388 Die Verträge von Jalta ............................................................. 404 Die Zukunft der Revolution ................................................... 410 Über die Entstalinisierung ...................................................... 432 Über die Erotik ........................................................................ 456 Über die Lokalnachrichten ..................................................... 459 Über Claudel ........................................................................... 464 Über die Enthaltung ............................................................... 471
VI
Inhalt
Über Indochina ....................................................................... 477 Über Madagaskar .................................................................... 485 Über den 13. Mai 1958 ............................................................ 498 Morgen … ............................................................................... 504 Siglenverzeichnis .......................................................................... 519 Anmerkungen des Herausgebers ................................................ 521 Personenregister .......................................................................... 565
EINLEITUNG
Kurz vor seinem plötzlichen Tod im Jahre 1961 erscheint unter dem Titel Zeichen (Signes) die letzte große Veröffentlichung Merleau-Pontys. Er versammelt darin die wichtigsten seiner philosophischen Aufsätze und weitere kleinere Beiträge, die zum Teil der Politik, zum Teil den aktuellen und hitzigen Diskussionen im Nachkriegsfrankreich der 50er Jahre gewidmet sind. Die inhaltliche und stilistische Bandbreite der von Merleau-Ponty 1960 für den vorliegenden Band ausgewählten Analysen, deren Erstveröffentlichung in den Zeitraum von 1948 bis 1960 fällt, ist beeindruckend. Sie reicht von subtilen Diskussionen und durchkomponierten Aufsätzen, die die Sprachphilosophie, das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie, die Phänomenologie, den Strukturalismus und Existentialismus, die Psychoanalyse, die Soziologie und Ethnologie sowie die Philosophiegeschichte betreffen, über tagesaktuelle Einschätzungen der marxistischen Politik bzw. des stalinistischen Terrors sowie des Kolonialismus bis hin zu essayistischen Gelegenheitsschriften und Interviews zur politischen und kulturellen Situation Frankreichs. Angesichts der Vielfalt an Themen und der an der Phänomenologie geschulten Dichte der Gedankenführung kann gerade dieser Band als eine Einführung in das Denken Merleau-Pontys angesehen werden. Das von ihm in der Phänomenologie der Wahrnehmung initiierte Programm einer Analytik der inkarnierten Vernunft wird in den vorliegenden Aufsätzen im Stil einer phänomenologischen Kulturphilosophie fortgeführt, auf eine Philosophie der Expressivität hin erweitert und durch eine ontologische Betrachtung fundiert.1 1 Zur Philosophie Merleau-Pontys und zu seinem Lebensweg vgl. Christian Bermes, Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 22004. Vgl. weiterhin zu der Entwicklung des Denkens Merleau-Pontys in den 40er und 50er Jahren die Sammlung: Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und
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Christian Bermes
Die nun vorliegende vollständige Übersetzung der Signes kommt einem Desiderat nach, das schon seit langem formuliert wird. Lagen doch bereits relativ früh die philosophischen Hauptschriften Merleau-Pontys, die Phänomenologie der Wahrnehmung und die Struktur des Verhaltens, in deutscher Sprache vor, und wurden peu à peu wichtige weitere Werke ins Deutsche übertragen wie etwa die Aufsatzsammlung Sinn und Nicht-Sinn oder die aus dem Nachlaß edierten Bände Die Prosa der Welt und Das Sichtbare und das Unsichtbare.2 Nur die Signes konnten bislang als vollständiges Werk vom deutschsprachigen Publikum nicht rezipiert werden. Diese Lücke ist nun geschlossen. * Greift man auf Merleau-Pontys eigene Bestimmung eines philosophischen Klassikers zurück, so gehört er sicherlich in den Kanon der Philosophie: »Man erkennt«, so bemerkt er, die Klassiker »daran, daß sie niemand wörtlich nimmt und daß die neuen Gegebenheiten dennoch nie völlig außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs stehen, daß sie neue Echos auslösen, in sich neue Reliefs offenbaren.« (S. 13)3 Merleau-Pontys Philosophie löst innerhalb und außerhalb der philosophischen Diskussion bis heute eine Vielfalt von Echos aus, und in seinem Denken werden stets neue
der Geist. Philosophische Essays, hrsg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003. Vier der dort aufgenommenen Aufsätze (Das Indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, Von Mauss zu Claude-Lévi Strauss, Der Philosoph und sein Schatten, Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge) stammen ursprünglich aus den Signes und werden hier dementsprechend wieder aufgenommen. Beide Bände zusammen dokumentieren den Denkweg Merleau-Pontys, wie er sich nach der Veröffentlichung der Phänomenologie der Wahrnehmung vollzieht. 2 Zur vollständigen Bibliographie der Schriften Merleau-Pontys vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O. S. 357–365. 3 Verweise auf Belegstellen in der hier vorgelegten Übersetzung der Signes werden in Klammern den Zitaten angefügt und beziehen sich auf den nachfolgenden Text.
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Formationen erkennbar, zu deren Entstehen seine offene, keinem Dogma, sondern den verhandelten Problemen verpflichtete Art des Philosophierens selbst beiträgt. Gleichzeitig, oder vielleicht auch deshalb, wird man von Merleau-Ponty auch das sagen dürfen, was er zu Machiavelli bemerkt: »Aber man mag diesen schwierigen Denker nicht, der zudem ohne Götzen auskommt.« (S. 311) Denn einfach ist die Lektüre der Schriften Merleau-Pontys, insbesondere das Studium der hier veröffentlichten Beiträge, keineswegs. Auch sie kommen ohne Götzen aus, und sie präsentieren eine auf den ersten Blick unübersichtliche Mannigfaltigkeit an Themen- und Problemstellungen, die zudem durch eine sich stets weiterentwickelnde, sich in der Sachauseinandersetzung erst ausformulierende philosophische Theorie vorstellig werden. Merleau-Ponty stellt Fragen, er wirft Probleme auf, er konfrontiert seine Zeitgenossen mit ihren eigenen Voraussetzungen, was diejenigen verwirrt und bis heute irritieren kann, die in der Philosophie eher Ausrufezeichen anstelle von Fragezeichen suchen. Merleau-Ponty selbst weiß um die Heterogenität der versammelten Schriften, und er versucht in seinem umfangreichen, eigens für die Sammlung verfaßten Vorwort die verschiedenen Fäden zusammenzuführen und die Diskussions- sowie Methodenstränge aufeinander zu beziehen. Dementsprechend kann es nicht das Ziel dieser einleitenden Bemerkungen sein, ein weiteres Vorwort zu präsentieren, es kann nur darum gehen, den thematischen und systematischen Rahmen der Überlegungen MerleauPontys zu konturieren. Denn so vielfältig die verhandelten Themen des Buches sein mögen, so konkret stellt sich die von Merleau-Ponty behandelte Problemlage dar. In der Vielfalt der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Orientierung in der überbordenden Mannigfaltigkeit der empirischen Befunde in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen wird der Maßstab der Vermessung der Fakten prinzipiell in Frage gestellt, so daß er nicht mehr einem souveränen Subjekt zugesprochen oder in einer absoluten Wirklichkeit gesucht werden kann, wenngleich immer wieder die »ultra-subjektive« und die
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»ultra-objektive« (S. 372) Haltung wissenschaftlicher Theoriekonstitution als Fluchtpunkte markiert werden;4 zum anderen scheint ein einheitliches, zentriertes und fixiertes Koordinatensystem zur Beurteilung der Wirklichkeit nicht mehr gegeben; die substantielle Ordnung scheint einer funktionalen Logik weichen zu müssen.5 Diese Diagnose teilt Merleau-Ponty mit nicht wenigen seiner Zeitgenossen – z. B. auch mit Ernst Cassirer. In seinem nur wenige Jahre vor der Publikation der Zeichen verfaßten Versuch über den Menschen kommt Cassirer im Anschluß an die Analysen Max Schelers auf eine Krise eigener Art zu sprechen, die das Denken des 20. Jahrhunderts und mit ihm die Kultur und den Menschen zu zerreißen droht. Zum einen verweist Cassirer auf den Umstand, daß die gegenwärtigen Bestimmungen des Menschen und der Kultur »ihr intellektuelles Organisationszentrum« verloren haben und an dessen Stelle »die Anarchie der verschiedenen Denkansätze« getreten ist. »Die wirkliche Krise«, so Cassirers Einschätzung, »trat zutage, als eine zentrale Kraft, die imstande war, die individuellen Bemühungen zu bündeln und zu lenken, nicht mehr existierte«.6 Zum anderen droht die 4 Was Merleau-Ponty zur »paranoischen« Situation der Politik ausführt, wird in diesem Sinne von ihm auch auf die Wissenschaften und deren Krise bezogen: »Die ultra-objektive und die ultra-subjektive Haltung sind zwei Aspekte einer einzigen Krise des politischen Denkens und der politischen Welt.« (S. 372) 5 Zur Logik der Prozesse, deren Verstehen insbesondere als Aufgabe der Philosophie zu begreifen ist, vgl. u. a. die folgende Bemerkung: »Die Philosophie ist unersetzlich, weil sie uns die Bewegung offenbart, durch die Leben zu Wahrheiten werden, und die Zirkularität dieses einzigartigen Seins, das in gewissem Sinne bereits alles ist, was es gerade denkt.« (S. 161) 6 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (engl. 1944), aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser, Hamburg 22007, S. 44. Die Cassirersche Herleitung und Beschreibung dieses Befunds ist als eine Ausformulierung der eher knappen These Schelers zu verstehen, der in der Stellung des Menschen im Kosmos darauf aufmerksam macht, daß wir »eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie« besitzen, »die
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geistige Aufarbeitung und praktische Bewertung der vielfältigen empirischen Befunde in den Wissenschaften durch den Primat eines sich selbst seines intellektuellen Vermögens beraubenden und sich als Hyperrationalismus maskierenden Naturalismus verloren zu gehen. Die Tatsachen scheinen das Denken ersetzen zu können: »Aber Tatsachenreichtum«, so wendet Cassirer ein, »erzeugt nicht notwendig Ideenreichtum.«7 Auch Husserl äußert sich ähnlich, wenn er in den 30er Jahren in seiner Schrift zur Krisis der europäischen Wissenschaften an die Entwicklung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnert und die darin vollzogene »Umwendung der allgemeinen Bewertung« kritisch auf den Begriff bringt: »Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ›prosperity‹ blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind.« Und er fügt ähnlich wie Cassirer, jedoch noch in einer schärferen Tonart hinzu: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«8 Diese Form wissenschaftlicher ›Rationalität‹, die sich nicht auf das Faktum beruft, um es zu bewerten, sondern ihren letzten Anspruch darin zu erkennen sucht, sich im Faktum zu verlieren und aufzugeben, bezeichnet Merleau-Ponty als ›kleinen Rationalismus‹ des späten 19. Jahrhunderts, den er dem ›grosich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht.« Dementsprechend ist nach Scheler »zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden […] wie in der Gegenwart«; vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders., Späte Schriften, Gesammelte Werke IX, hrsg. v. Manfred Frings, Bonn 1995, S. 7–71, hier: S. 11. 7 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 45. 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana VI, Den Haag 21962, S. 3 f.
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ßen Rationalismus‹ des 17. Jahrhunderts entgegenstellt. Ist das 17. Jahrhundert offen für die Unterschiedlichkeit der Seinsregionen, wird das Sein »nicht gänzlich auf die Ebene des äußeren Seins beschränkt oder abgeflacht«, und gibt es »das Sein des Subjekts oder der Seele, das Sein seiner Ideen, die Beziehungen der Ideen untereinander und den internen Wahrheitsbezug« (S. 215), so zeichnet sich der ›kleine Rationalismus‹ durch die bis heute unüberbietbare, aber auch naive Sehnsucht aus, Ursachen auf Fakten zu reduzieren und Gründe zu vergessen. Dieser ›kleine Rationalismus‹ »ging von einer unermeßlichen, bereits in den Dingen geleisteten Wissenschaft aus, die von der tatsächlichen Wissenschaft am Tag ihrer Vollendung eingeholt würde und die für uns keine Frage mehr offen ließe, da auf jede sinnvolle Frage eine Antwort gegeben werde«. (S. 213) »Die Vernunft verschmolz mit der Erkenntnis der Bedingungen oder der Ursachen: Überall, wo man eine bestimmte Konditionierung aufdeckte, dachte man, jede Frage zum Verstummen gebracht, das Problem des Wesens mit dem Problem des Ursprungs gelöst und die Tatsache wieder zum Gehorsam gegenüber der Ursache verpflichtet zu haben.« (S. 214) Dieser Ansatz, der damals seine Popularität besaß und bis heute wohl seine Verlockungskraft nicht eingebüßt hat, erscheint Merleau-Ponty nicht nur »voller Mythen« (S. 213), er präsentiert sich ihm vielmehr als eine Form der Selbstverleugnung. Denn die Berufung auf das Faktum ist keine Tatsache, sondern eine These. Und in diesem Sinne stehen sich nicht Faktum und Idee gegenüber, sondern zwei philosophische Konzepte: »Was man dem internen Studium der Philosophie entgegenhält, ist nie die soziohistorische Erklärung« oder die naturwissenschaftliche Katalogisierung von Ursachen, »sondern immer eine andere Philosophie, die in ihr verborgen ist.« (S. 185) Die Philosophie ist in diesem Sinne nicht dem Faktum entgegengestellt, das Geistige tritt nicht in Widerstreit mit der Tatsache, die Naturwissenschaften sind nicht der Opponent der Geisteswissenschaften – jedes Faktum selbst ist vielmehr eine philosophische Tatsache und als solche zugleich eine These: »Die Philosophie ist überall, sogar in den ›Fakten‹ – und sie hat nirgends einen Bereich, in dem sie vor der
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Ansteckung durch das Leben geschützt ist.« (S. 187) Dieses Leben aber »wird nicht nur auf einem Register gespielt: Vom einen zum anderen gibt es Echos, Formen des Austauschs«. (S. 458) Vor diesem Hintergrund läßt sich die Vielfalt und Pluralität der in den Zeichen vorgestellten Analysen verstehen. Selbst in den politischen Traktaten, die den letzten Teil des Bandes ausmachen, erkennt man noch das Anliegen Merleau-Pontys, hinter einem meist nur postulierten Widerstreit das Konkrete der Philosophie und des Lebens zu suchen. Zwar mag die ein oder andere Frage der Zeit geschuldet und heute kaum mehr verständlich sein, die Art und Weise aber, wie Merleau-Ponty der jeweiligen Frage begegnet, belegt sein philosophisches Gespür für eine Archäologie der Kultur, die unter der Rhetorik der Differenz von Idee und Tatsache, Überbau und Unterbau oder Geist und Natur das jeweilige Konkretum als Verkörperung eines komplexen Ganzen entdeckt. Fast könnte man es als eine List der Vernunft bezeichnen, wenn Merleau-Ponty in einem kurzen Beitrag, der die Relevanz von Lokalnachrichten diskutiert, folgendes ausführt und sich damit unterderhand auch selbst kommentiert: »Das Gefallen an der Lokalnachricht ist der Wunsch zu sehen, und sehen heißt, in einer Falte des Gesichts eine Welt zu erahnen, die der unsrigen gleicht.« (S. 459) Um diese Welt nicht nur zu erahnen, sondern tatsächlich zu verstehen, greift Merleau-Ponty das Husserlsche Projekt der Krisis der europäischen Wissenschaften auf und fahndet nach dem verborgenen, jedoch stets manifesten Logos der Lebenswelt, indem er nun nicht mehr wie Husserl allein die Naturwissenschaften, sondern die Sozial- und Kulturwissenschaften, die Sprachwissenschaften sowie die Psychoanalyse – um hier nur einige Disziplinen zu nennen – in ihrer Begriffsbildung verfolgt. Nicht etwa jenseits der Wissenschaften, sondern diesseits derselben, in ihrem methodischen Fortschritt stößt er auf Entwicklungen, die das klassische Wissenschaftsverständnis in Frage stellen, so daß beispielsweise auch die Position des Wissenschaftlers als eines souveränen Beobachters relativiert wird. »Man wird sehen«, so kündigt Merleau-Ponty im Vorwort an, »daß die standpunkt-
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lose Überblicksphilosophie nur eine Episode war und daß diese Episode beendet ist.« (S. 17)9 An die Stelle einer theoretischen Erklärung von Objekten durch einen unparteiischen Zuschauer tritt die Analytik von Prozessen, deren Logik sich nur aus dem Prozeß selbst erschließen läßt – eine, wie Merleau-Ponty selbst gesteht, »strenge und […] fast schwindelerregende Idee. Wir müssen uns ein Labyrinth spontaner Schritte vorstellen, die sich aufnehmen, sich manchmal überschneiden und bestätigen, aber auf wie vielen Umwegen und durch welchen Wust von Unordnung hindurch – das heißt, wir müssen begreifen, daß das ganze Unternehmen auf sich selbst beruht.« (S. 358) Der Dynamisierung korrespondiert eine Öffnung und Weitung des philosophischen Rationalitätskonzepts, das MerleauPonty auf Hegel10 zurückführt und mit Husserls Phänomenologie erkundet. »Die Reflexion wird nicht von dem Unreflektierten in Frage gestellt, es ist die Reflexion, die sich selbst in Frage stellt, weil ihr Bemühen um Wiederaufnahme, Inbesitznahme, Verinnerlichung oder Immanenz per definitionem nur sinnvoll ist im Hinblick auf ein schon gegebenes Etwas, das sich unter dem Blick selbst, der sich anschickt, es darin zu suchen, in seine Transzendenz zurückzieht.« (S. 236) Diese Öffnung des philosophischen Blicks auf eine präreflexive Wirklichkeit, die nicht der
9 Als Beispiel sei hier auf die Einführung des Strukturbegriffs in die Soziologie, Ethnologie und Sprachwissenschaft verwiesen, die MerleauPonty aufgreift, um die neue Logik wissenschaftlicher Forschung zu diskutieren; vgl. S. 166 ff. 10 Zur Einschätzung der Hegelschen Öffnung der Philosophie auf Regionen der Präreflexivität vgl. Maurice Merleau-Ponty, Der Existentialismus bei Hegel, in: ders., Sinn und Nicht-Sinn (frz. 1948), aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, München 2000, S. 83–93, hier: S. 83: »In Hegel hat all das seinen Anfang, was sich seit einem Jahrhundert an Großem in der Philosophie ereignet hat, beispielsweise der Marxismus, Nietzsche, die Phänomenologie und der deutsche Existentialismus, die Psychoanalyse; er hat das Unternehmen einer Erkundung des Irrationalen und seiner Integration in eine erweiterte Vernunft eingeleitet, das nach wie vor die Aufgabe unseres Jahrhunderts ist.«
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Vernunft entgegengesetzt ist, sondern als Artikulationsfeld des Vernünftigen begriffen werden muß, erlaubt es Merleau-Ponty, die Konturen einer phänomenologischen Kulturphilosophie zu skizzieren. In ihr geht es darum, eine Ambiguität eigener Art zu verstehen und philosophisch zu explizieren, in der Nähe und Distanz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit einander nicht gegenüberstehen, sondern miteinander in einer eigenen Form der Simultanität existieren. Nicht zuletzt dies kann als ein Faktum der Kultur angesehen werden, das Merleau-Ponty erläutert, wenn er das Verhältnis von Philosophie und Geschichte anspricht: »Die Philosophie ist weder Sklavin noch Herrin der Geschichte. Die Beziehungen zwischen beiden sind weniger einfach, als man geglaubt hat: Es handelt sich im wörtlichen Sinne um eine Aktion auf Distanz, bei der jede vom Grund ihrer jeweiligen Differenz die Mischung und Vermischung einfordert. Wir müssen den richtigen Gebrauch dieses Ineinandergreifens noch erlernen.« (S. 17) Zur Erläuterung der kulturphilosophischen Perspektive lohnt es, noch einmal an Cassirers Bestimmung des Menschen in der Kultur zu erinnern: »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren. Auf diese Weise können wir seine spezifische Differenz bezeichnen und lernen wir, welcher neue Weg sich ihm öffnet – der Weg der Zivilisation.«11 Wenn Merleau-Ponty den Wandlungen der ethnologischen Theoriebildung nachspürt, so kommt er zu einem durchaus vergleichbaren Ergebnis: Zu einem adäquaten Verständnis fremder Kulturen, ja der Kultur überhaupt gelangt man, »wenn man die symbolische Funktion als Quelle jeglicher Vernunft und Unvernunft betrachtet, denn Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der definitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die 11
Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 51.
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symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Imaginäre vorauseilt. Es stellt sich also die Aufgabe, unsere Vernunft zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen, was in uns und in den Andern der Vernunft vorausgeht und über sie hinausgeht.« (S. 175) Eine derart konzipierte Kulturphilosophie ist kein Irrationalismus, sie präsentiert sich auch nicht als ein schlichtes Verzeichnis kultureller Zufälligkeiten – sie vollzieht sich im Gegenteil als eine radikalisierte, einem ihrem Ursprung und ihrem Entstehen verpflichtete Konzeption der Rationalität. Dieses Projekt hat Merleau-Ponty bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung in Angriff genommen,12 als er der leiblich situierten, der inkarnierten Vernunft auf den Grund ging. Die vorliegenden Studien nun erweitern den Blickwinkel, indem explizit die kulturellen Bereiche der Sprache, der Geschichte, der Ästhetik, der Wissenschaften und der Politik thematisch werden. Doch anders als Cassirer, der die Logik der symbolischen Formen erkundet, indem er der Frage nachgeht, »wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt zum Träger einer allgemeinen geistigen ›Bedeutung‹ gemacht werden kann«13, und die einzelnen symbolischen Formen differenziert, stellt sich Merleau-Ponty weniger die Aufgabe, die interne Logik einer jeden kulturellen Region zu explizieren und auf ein, wie Cassirer es nennt, »allge12 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (frz. 1945), aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 418: »Wir müssen die Deskriptionen zum Anlaß nehmen, ein Verstehen und eine Reflexion zu begründen, die sich als radikaler erweisen als alles objektive Denken. Der Phänomenologie im Sinne direkter Beschreibung muß sich eine Phänomenologie der Phänomenologie zur Seite stellen.« Vgl. ebd. S. 257: »Radikal ist eine Reflexion, die mich erfaßt im Begriff, die Idee des Subjekts und die des Objekts zu bilden und zu formulieren, die den Ursprung beider Ideen zutage legt, die nicht allein operierende, sondern in dieser Operation ihrer selbst bewußte ist.« 13 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache (1923), Darmstadt 101994, S. 27.
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XVII
meines Formprinzip«14 zu beziehen, er sucht vielmehr voraussetzungslos, d. h. im Prozeß selbst, der Entstehung von Welt und Ich, Subjektivität und Intersubjektivität, Geistigem und Faktischem nachzugehen. Und zusätzlich verbinden sich seine Analysen im Gegensatz zu Cassirers Ansatz immer mit einer ontologischen Perspektive, die das Fundament der Kultur in der Lebenswelt aufzudecken sucht. Es ist insbesondere das Ausdrucksphänomen, das ihm bei diesem Vorgehen als Leitfaden dient und das er auf eine virtuose Weise – besonders in dem umfangreichen Aufsatz Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens (S. 53–116) philosophisch auseinanderlegt. »Im Ausdruck geht es […] darum, die gesagten Dinge neu zu ordnen, sie mit einem neuen Merkmal einer Krümmung zu versehen, sie an ein bestimmtes Relief anzupassen. Es gibt das, was auf viel geheimnisvollere Weise, vom Grund der Sprache her, alle Dinge von vornherein als benennbare einfordert – und es gibt das, was zu sagen ist, was noch nicht mehr als eine deutliche Unruhe in der Welt der gesagten Dinge ist. Es gilt, einen Modus zu finden, bei dem sich beide wieder zusammenschließen oder einander begegnen.« (S. 25) Damit realisiert er ein Projekt, das er Anfang der 50er Jahre im Zuge seiner Berufung an das Collège de France angekündigt hat und das auch den vieldeutigen Titel der vorliegenden Sammlung in einigen Konnotationen verständlich werden läßt: »Im allgemeinen haben Ausdrucksgebärden, an denen die Physiognomik vergeblich zureichende Anzeichen eines emotionalen Zustandes aufweisen wollte, einen eindeutigen Sinn nur in einer solchen Situation, die durch sie hervorgehoben oder unterstrichen wird. Aber wie ein Phonem, das noch selbst ohne Sinn ist, bereits einen diakritischen Wert besitzt, zeigen die Ausdrucksgebärden die Konstitution eines Symbolsystems an, das eine unendliche Anzahl 14 Ebd., S. 11: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Inhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.«
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von Situationen nachzeichnen kann. Sie stellen eine Sprache dar. Umgekehrt kann die Sprache als eine derart manifeste, präzise, systematische Gestikulation angesehen werden, die zahlreiche Überschneidungen herstellen kann, so daß die innere Struktur der Aussage nur auf jene geistige Situation paßt, auf die sie antwortet. Sie wird so zum eindeutigen Zeichen derselben.«15 Wenngleich Merleau-Ponty in den 50er Jahren auf das Phänomen des Ausdrucks immer wieder zurückkommt, so bleibt er nicht bei einer Philosophie der Expressivität stehen, seine Studien münden vielmehr in eine Ontologie, mit deren Ausarbeitung er besonders in seinen letzten Jahren beschäftigt war und die er ebenfalls bereits Anfang der 50er Jahre in Aussicht stellte: »Es soll eine Besinnung sein auf den Logos, der uns die bisher stumm gebliebene Welt zur Sprache bringen läßt, wie auch auf den Logos der wahrgenommenen Welt […] Wir greifen hier die Fragen der traditionellen Metaphysik auf, doch in einer Weise, die ihnen den Charakter der Probleme nimmt, d. h. derjenigen Schwierigkeiten, die ohne große Mühe mit einigen metaphysischen Entitäten, die zu diesem Zweck gebildet wurden, gelöst werden können. Die Begriffe ›Natur‹ und ›Vernunft‹ zum Beispiel können diese Fragen gar nicht verständlich machen, vielmehr bergen sie die Metamorphosen in sich, die wir von der Wahrnehmung bis zu den komplexen Weisen menschlichen Verkehrs vorgefunden haben.«16 Dieses angekündigte Projekt ist nicht vollendet worden. Ansätze und Hinweise finden sich in dem letzten großen Aufsatz Merleau-Pontys, der mit dem Titel Das Auge und der Geist 17 überschrieben ist, sowie in der Fragment gebliebenen und postum veröffentlichen Studie Das Sichtbare und das Unsichtbare.18 Eine derart konzipierte Ontologie soll das 15 Maurice Merleau-Ponty, Schrift für die Kandidatur am Collège de France (1951/52), in: ders., Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 99–110, hier: S. 105 f. 16 Ebd., S. 109 f. 17 Ebd., S. 275–317. 18 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg.
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Fundament der kulturphilosophischen Betrachtung bereitstellen, sie öffnet den philosophischen Blick auf die verwickelte Struktur derjenigen Seinsart, aus der heraus die menschliche Praxis erst verständlich werden kann: »Ebenso hat die Welt und das Sein nur in der Bewegung Bestand; und allein auf diese Weise können alle Dinge gemeinsam sein. Die Philosophie ist die Erinnerung an dieses Sein, mit dem sich die Wissenschaft nicht beschäftigt, weil sie die Beziehungen des Seins und des Bewußtseins wie die des Geometrals und seiner Projektionen auffaßt und dabei das Sein der Verwicklungen vergißt, das man die Topologie des Seins nennen könnte.« (S. 30) Auch die folgenden Texte Merleau-Pontys bewegen sich auf unterschiedliche Art und Weise auf eine solche ontologische Grundlegung zu. Dabei variiert Merleau-Ponty die Husserlsche Phänomenologie in entscheidender Weise und gibt ihr damit eine neue Wendung. Denn das Ziel der Phänomenologie besteht nun nicht mehr darin, die – wie Husserl bemerkte – »noch stumme Erfahrung […] zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen«,19 Merleau-Ponty radikalisiert vielmehr diesen Ansatz, indem er versucht, das noch stumme Sein zur Aussprache seines eigenen Sinnes zu bringen, um in seiner Archäologie der Kultur das Fundament derselben freizulegen: die ontologische Struktur der Lebenswelt.20
v. Claude Lefort, aus dem Französischen übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 1986. 19 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. v. Stephan Strasser, Husserliana I, Den Haag 21963, S. 77. 20 Zum Projekt dieser ›neuen‹ Ontologie vgl. das folgende Fragment Merleau-Pontys, das zum einen den Ausgangspunkt, aber auch den Zielpunkt des Unterfangens markiert und somit den Rahmen angeben kann, in dem sich dieses Vorhaben entfalten sollte, das zum anderen aber auch auf die Darstellungsschwierigkeiten hinweist: »Wenn ich zur inkarnierten Subjektivität des menschlichen Leibes gelange, den ich weiterhin auf die Lebenswelt beziehe, muß ich auf etwas anderes als das ›Psychische‹ im Sinne der Psychologie (das heißt auf eine bloße Gegenabstraktion zur Natur an sich, zur Natur der bloßen Sachen) stoßen, muß ich auf eine Subjektivität
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Die Publikation dieses Bandes hätte nicht realisiert werden können, wenn das Vorhaben nicht auf wohlwollende Unterstützung und großzügige Förderung sowie auf die nicht minder große Geduld und Ausdauer aller Beteiligten gegenüber dem Herausgeber gestoßen wäre. Dem Französischen Außenministerium ist für die finanzielle Unterstützung der Übersetzungsarbeit zu danken, dem Forschungsfonds der Universität Trier gebührt Dank für finanzielle Hilfen, ohne die die Kommentierung und Redaktion des Buches nicht hätte erledigt werden können. Der größte Dank gilt Barbara Schmitz, die umsichtig und kompetent den weitaus umfangreichsten Teil der Signes übersetzt hat und dem Herausgeber mit größter Geduld fast jede Verzögerung der Redaktion nachsah. Besonders auch ist dem Meiner Verlag zu danken, nicht nur für die bereitwillige Aufnahme des Bandes in die Philosophische Bibliothek, sondern ebenso für die im Verlagswesen selten gewordene Sorgfalt, mit der der Band im Lektorat und in der Herstellung betreut wurde. Schließlich gilt Annika Hand und
und auf eine Intersubjektivität, auf ein Universum des Geistes stoßen, das, selbst wenn es nicht eine zweite Natur ist, doch seine Gediegenheit und Vollständigkeit hat, sie aber ebenfalls im Modus der Lebenswelt verkörpert. – Das bedeutet: noch in der Objektivierung der Linguistik muß ich den Logos der Lebenswelt antreffen. […] Im Grunde wäre ich erst dann in der Lage, eine Ontologie und die Philosophie zu definieren. Die Ontologie wäre die Ausarbeitung von Begriffen, die jene der transzendentalen Subjektivität, des Subjektes, des Objektes und des Sinnes ersetzen müssen – die Definition der Philosophie enthielte eine Erhellung des philosophischen Ausdrucks selbst […] als Wissenschaft der Vor-Wissenschaft, als Ausdruck dessen, was vor dem Ausdruck liegt und ihn untergründig trägt. – Hier die Schwierigkeit zur Sprache bringen: die Philosophie enthält sich selbst, wenn sie absolut sein will. In Wirklichkeit aber verschaffen uns alle Einzelanalysen der Natur, des Lebens, des menschlichen Leibes, der Sprache nach und nach einen Zugang zur Lebenswelt und zum ›wilden Sein‹, und ich darf es mir unterwegs nicht nehmen lassen, mit einer positiven Beschreibung derselben und ebenfalls mit der Analyse verschiedener Zeitlichkeiten zu beginnen«; Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a. a. O., S. 217 f.
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Dominic Harion mein Dank, die beide an der Kommentierung und Redaktion mit großem Engagement beteiligt waren.
Editorische Notiz Der Übersetzung liegt die 1960 erstmals bei Gallimard erschienene Ausgabe der Signes zugrunde. Bis auf die Aufsätze Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss, Der Philosoph und sein Schatten sowie Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge wurde die Übersetzung von Barbara Schmitz angefertigt. Die zuvor genannten Aufsätze wurden bereits in dem von dem Herausgeber betreuten Band Das Auge und der Geist (Philosophische Bibliothek 530) veröffentlicht und stammen in der ursprünglichen Übersetzung von Hans Werner Arndt bzw. Bernhard Waldenfels. Die Kommentierung wird durch eine jeweils fortlaufende Ziffer im Bundsteg kenntlich gemacht und im Anmerkungsapparat im Anhang nachgewiesen. Dort auch findet sich zu jedem Aufsatz die bibliographische Angabe der Erstpublikation des jeweiligen Beitrags. Die Anmerkungen, die Merleau-Ponty als Fußnoten seinen Texten angefügt hat, werden in fortlaufender Zählung wie gewohnt am Seitenende angeführt. Diese Fußnoten wurden nicht aktualisiert; allein offensichtliche Versehen wurden stillschweigend verbessert. Auslassungen von fehlenden Satzbestandteilen in Zitaten werden durch Auslassungszeichen in eckigen Klammern […] kenntlich gemacht. Auslassungen, die zuweilen am Ende von Abschnitten, seltener noch im Text von Merleau-Ponty plaziert wurden, werden im Original mit Auslassungszeichen ohne eckige Klammern wiedergegeben. Ausdrücke und Redewendungen, die Merleau-Ponty im Originaltext in deutscher Sprache anführt, werden in einer kursivierten Groteskschrift wiedergegeben. In einigen Fällen wird der Deutlichkeit wegen der französische Ausdruck in runden Klammern und in kursiver Schrift der Übersetzung nachgestellt.
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Christian Bermes
Von einem Sach- bzw. Begriffsregister wurde abgesehen, da die operative und sich wandelnde Terminologie Merleau-Pontys ein solches Register unhandlich werden läßt. Abgeschlossen wird der Band mit einem Personenregister.
MAURICE MERLEAU-PONTY
ZEICHEN
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Welch ein Unterschied, welch eine Uneinheitlichkeit herrscht doch auf den ersten Blick zwischen den philosophischen Essays und den gelegentlich verfaßten, in nahezu allen Fällen politischen Äußerungen, die in diesem Band versammelt sind! In der Philosophie mag der Weg schwierig sein, aber man ist gewiß, daß jeder Schritt weitere Schritte ermöglicht. In der Politik hat man den niederschmetternden Eindruck, stets von neuem einen Durchbruch erzielen zu müssen. Die Rede ist dabei nicht einmal von den Zufällen und von dem Unvorhersehbaren: Der Leser wird in dieser Hinsicht einige Fehler in der Prognose finden; offen gesagt wird er weniger Irrtümer entdecken, als man hätte befürchten können. Der Fall ist weitaus ernster: Es ist so, als ob ein durchtriebener Mechanismus das Ereignis genau in dem Augenblick verschwinden ließe, in dem es sich anschickte, sein Gesicht zu zeigen, als übte die Geschichte eine Zensur aus angesichts der Dramen, aus denen sie gemacht ist, als liebte sie es, sich zu verbergen, sich nur in kurzen Momenten äußerster Bestürzung einen Spalt breit der Wahrheit zu öffnen und sich in der übrigen Zeit angestrengt zu bemühen, diese ›Überschreitungen‹ zu überspielen, die Formeln und Rollen des Repertoires wieder zurückzunehmen und uns alles in allem davon zu überzeugen, daß nichts geschieht. Maurras sagte, er habe in der Politik Evidenzen gekannt, in der reinen Philosophie hingegen niemals. Dies liegt wohl daran, daß er nur die längst vergangene Geschichte betrachtet hat und von einer ebenso etablierten Philosophie träumte. Wenn man beide im Verlaufe ihrer Entwicklung vergleicht, so wird man sehen, daß die Philosophie ihre sichersten Evidenzen im Augenblick ihres Beginns findet und daß die Geschichte im Augenblick ihres Entstehens einem Traum oder Alptraum gleicht. Wenn es einmal vorkommt, daß sie eine Frage stellt, wenn die Vielzahl der Ängste und der geballte Zorn im menschlichen Raum schließlich eine
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erkennbare Form angenommen haben, so stellt man sich vor, daß nachher nichts mehr so sein könne wie zuvor. Wenn es aber totale Fragestellungen gibt, kann die Antwort in ihrer Positivität nicht erschöpfend sein. Es ist vielmehr die Frage, die sich abnutzt, und ein fragloser Zustand tritt ein, gerade so, wie eine Leidenschaft eines Tages verblaßt, zerstört von ihrer eigenen Dauer. Dieses durch einen Krieg oder eine Revolution ausgeblutete Land zeigt sich plötzlich heil und unbeschädigt. Die Toten sind mitschuldig an dieser Beruhigung: Nur lebend könnten sie das Fehlen jener und das Bedürfnis nach jenen wieder aufleben lassen, die allmählich aus der Erinnerung verschwinden. Die Historiker, die die Erinnerung zu wahren suchen, verzeichnen die Unschuld von Dreyfus wie eine Selbstverständlichkeit – und bewahren sie doch gleichwohl nicht. Dreyfus wurde nicht gerächt, nicht einmal rehabilitiert. Seine zum Gemeinplatz gewordene Unschuld wiegt den Preis seiner Schande nicht auf. Sie ist der Geschichte nicht im gleichen Sinne eingeschrieben, in dem sie ihm geraubt wurde, in dem sie von seinen Verteidigern eingefordert wurde. Denen, die alles verloren haben, nimmt die Geschichte noch mehr, und sie gibt jenen noch, die schon alles genommen haben. Denn die Verjährung, die alles einschließt, erklärt den Ungerechten für unschuldig und weist die Klage der Opfer ab. Die Geschichte ist niemals geständig. Obwohl all dies bekannt ist, wirkt es jedes Mal kaum weniger erstaunlich, wenn man sich damit konfrontiert sieht. Das große Anliegen dieser Zeit wird darin bestehen, die alte Welt mit ihrem Gegenpart zu versöhnen. Vielleicht stehen die UdSSR und ihre einstigen Gegner angesichts dieses Problems auf derselben Seite, der Seite der alten Welt. Jedenfalls spricht man offen vom Ende des Kalten Krieges. Im friedlichen Wettbewerb kann das Abendland nur noch bestehen, wenn es das Modell einer demokratischen Regulierung der ökonomischen Verhältnisse entwirft. Tatsächlich entwickelt sich die industrielle Gesellschaft hier in einer außergewöhnlichen Unordnung. Der Kapitalismus treibt seine weitläufigen Verzweigungen ganz nach Belieben und bringt die Wirtschaft einer Nation in die Gewalt einer herrschenden In-
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dustrie, die ihre Straßen und Städte verstopft und die klassischen Formen menschlicher Einrichtungen zerstört … Auf allen Ebenen tauchen gewaltige Probleme auf: Es gilt, nicht nur Techniken zu erfinden, sondern auch politische Formen, Leitgedanken, einen bestimmten Geist, Lebensinhalte … Aber gerade in diesem Moment fällt eine Armee, die lange Zeit im Kolonialkrieg von der Welt abgeschieden war und die dort den Gesellschaftskampf gelernt hat, mit all ihrem Gewicht auf den Staat zurück, von dem sie eigentlich abhängen sollte, und sie drängt die Ideologie des Kalten Krieges wieder in eine Zeit zurück, die gerade im Begriff war, sich von ihr zu befreien. Jemand, der es vor zwanzig Jahren verstanden hat, die ›Eliten‹ (und insbesondere die militärischen Eliten) zu verurteilen, glaubt nun, eine dauerhafte Herrschaft zu errichten, indem er sich allein an die Spitze des Staates setzt, und er befreit den Staat von den Störmanövern jeder Versammlung, nur um ihn umstürzlerischen Gruppen auszusetzen. Er, der gesagt hat, daß man sich nicht an die Stelle eines Volkes setzen könne (aber zweifellos handelte es sich dabei nur um eine Formel der Verzweiflung, des ›unnützen Dienstes‹), er trennt das nationale Streben von dem, was er das Lebensniveau nennt – als könne eine gereifte Nation diese Dilemmata nicht akzeptieren, als könnten die ökonomischen Verhältnisse einer realen Gesellschaft jemals dieser Art der Intendantur einer künstlichen Gesellschaft der Armee untergeordnet sein, als seien Brot, Wein und Arbeit von sich aus weniger ernste, weniger heilige Dinge als Geschichtsbücher. Man könnte vielleicht sagen, diese immer gleiche und provinzielle Geschichte sei die Geschichte Frankreichs. Setzt sich aber die übrige Welt offener mit jenen Fragen auseinander, die sie bewegen? Weil diese Fragen Gefahr laufen, die Grenzen von Kommunismus und Kapitalismus zu verwischen, läßt die Kirche nichts unversucht, um sie zu ersticken, sie erneuert manchen längst vergessenen Bann, verurteilt von neuem den Sozialismus, wenn nicht gar die Demokratie, sucht die Stellungen der Staatsreligion wieder zu beziehen und unterbindet überall, vor allem in den eigenen Reihen, jeden Forschungsgeist und jedes Vertrauen auf die Wahrheit.
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Was die kommunistische Politik angeht, so weiß man ja, durch wie viele Filter der Wind der Entstalinisierung hat wehen müssen, bevor er Paris oder Rom erreichte. Nach so vielen Widerrufen des ›Revisionismus‹, und insbesondere nach Budapest, muß man schon genau hinsehen, um zu erkennen, daß die sowjetische Gesellschaft sich in ein neues Zeitalter vorwagt, daß sie mit dem Stalinismus auch den Geist des gesellschaftlichen Krieges ablöst und sich an den neuen Formen der Machtausübung orientiert. Offiziell nennt man dies den Übergang zur höheren Entwicklungsstufe des Kommunismus. Verhüllt die Vorhersage einer selbsttätigen Evolution zu einem weltweiten Kommunismus nun die unverändert aufrechterhaltenen Herrschaftsabsichten, oder ist sie nur eine dezente Weise zu sagen, daß man davon absieht, diesen Übergang zu erzwingen? Auf welche Seite wird man sich zwischen diesen beiden Linien schlagen, immer bereit, sich bei Gefahr wieder auf die einstige Position zurückzuziehen? Die Frage nach den Zielen ist nicht die eigentliche Frage, auch nicht die Frage, ob man eine Maske oder aber das wahre Gesicht sieht. Vielleicht zählen die übereinstimmenden Absichten weniger als die menschliche Wirklichkeit und die Bewegung des Ganzen. Vielleicht hat die UdSSR mehrere Gesichter, und die Zweideutigkeit liegt in den Dingen selbst. Man muß also den mit Chruschtschow auf der internationalen Bühne aufgetretenen schwarzen Humor und den eingetretenen heißen Frieden als einen Fortschritt in Richtung der Klarheit begrüßen. Wenn der Humor, wie Freud sagt, die Sanftmut des Über-Ichs ist, dann ist dies vielleicht schon das Maximum an Entspannung, die das Über-Ich der Geschichte zuläßt. Was nützt es, gestern gegenüber dem Stalinismus, heute gegenüber Algerien im Recht zu sein, wozu soll man geduldig die falschen Verknüpfungen von Kommunismus und Antikommunismus auflösen und schwarz auf weiß festhalten, was beide Seiten doch besser als wir wissen, wenn diese zukünftigen Wahrheiten einen jungen Menschen nicht schon heute von den Abenteuern des Faschismus und des Kommunismus befreien und wenn diese Wahrheiten doch nicht auf fruchtbaren Boden fallen, solange sie
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nicht auf politische Art und Weise ausgesprochen werden – in jener Sprache, die spricht, ohne zu sagen, die in jedem einzelnen die treibende Kraft des Zorns und der Hoffnung weckt – und die nie die Prosa des Wahren sein wird? Handelt es sich nicht um ein unglaubliches Mißverständnis, wenn alle Philosophen, oder fast alle, sich verpflichtet glaubten, eine bestimmte Politik ihr eigen zu nennen, während diese doch aus dem ›Lebensvollzug‹ hervorgeht und sich dem Verstand entzieht? Die Politik der Philosophen ist die Politik, die niemand macht. Handelt es sich also um eine Politik? Gibt es nicht viele Dinge, über die sie mit mehr Gewißheit reden können? Und wenn sie kluge Perspektiven aufzeigen, von denen die Beteiligten nichts wissen wollen, geben sie dann nicht einfach nur zu, daß sie nicht wissen, worum es geht? * Diese Überlegungen sind hier und da latent vorhanden. Man kann sie bei Lesern und Schriftstellern erahnen, die Marxisten sind oder waren und die, wenngleich sie in allen übrigen Belangen nicht der gleichen Ansicht sind, offenbar darin übereinkommen, daß sie die Trennung von Philosophie und Politik feststellen. Sie haben mehr als jeder andere versucht, auf beiden Ebenen zugleich zu leben. Ihre Erfahrung herrscht über die Frage, und aus dieser Erfahrung heraus müßte die Frage neu durchdacht werden. Zunächst einmal ist nur sicher, daß es bei den Philosophen eine politische Besessenheit gab, die weder zu guter Politik noch zu guter Philosophie geführt hat. Da die Politik, wie man weiß, die moderne Tragödie ist, erwartete man von ihr auch eine Auflösung der dramatischen Verknüpfung. Unter dem Vorwand, alle menschlichen Fragen seien darin enthalten, wurde jeder politische Zorn zum heiligen Zorn und die Zeitungslektüre, wie Hegel sie einmal in jungen Jahren genannt hat, zum philosophischen Morgengebet. Der Marxismus sah in der Geschichte all die abstrakten Dramen des Seins und des Nichts, und er hatte ihr damit eine enorme metaphysische Last aufgebürdet – zu Recht, denn er dachte an die Gliederung, die Architektonik der Geschichte, an
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die Einfügung von Geist und Materie, Mensch und Natur, Existenz und Bewußtsein, zu der die Philosophie nur die Algebra oder das Schema liefert. Als vollständige Wiederaufnahme der menschlichen Ursprünge in den Entwurf einer neuen Zukunft ist die revolutionäre Politik durch dieses metaphysische Zentrum hindurchgegangen. In letzter Zeit aber hat man alle Formen des Geistes und des Lebens mit einer rein taktischen Politik verbunden, die nichts als eine unzusammenhängende Serie von Handlungen und Nebenhandlungen ohne Folge ist. Anstatt ihre Tugenden zu vereinigen, haben Philosophie und Politik seitdem ihre Laster ausgetauscht: Man verfügte über eine listenreiche Praxis und ein abergläubisches Denken. Wie viele Stunden und wie viele Argumente wurden anläßlich einer Wahl der Parlamentsfraktion oder einer Zeichnung von Picasso verschwendet, als seien die Weltgeschichte, die Revolution, die Dialektik oder die Negativität unter diesen dürftigen Fällen wirklich präsent. Tatsächlich waren die Technik, die Kunst, die Wandlungen der Ökonomie und die großen historisch-philosophischen Ideen völlig blutleer, da ihnen jeder Kontakt mit dem Wissen versagt blieb, und der politische Rigorismus ging – außer bei den besten – Hand in Hand mit der Trägheit, der fehlenden Neugier und der Improvisation. Sollte dies die Vermählung von Philosophie und Politik gewesen sein, so darf man annehmen, daß man sich anläßlich ihrer Scheidung glücklich schätzen muß. Marxistische Schriftsteller haben mit all dem gebrochen und finden wieder in ihre Rolle zurück: Wie könnte es besser sein? Und dennoch gibt es zwischen der Philosophie und der Politik einen ›schlechten‹ Bruch, der nichts zu retten vermag und der sie in ihrer mißlichen Lage beläßt. Wenn man diesen Schriftstellern zuhört, verspürt man manchmal ein Unbehagen. Bald sagen sie, in wesentlichen Punkten blieben sie Marxisten, ohne jedoch diese Punkte näher zu bestimmen oder gar genau anzugeben, wie man in gewissen Punkten Marxist sein kann – auf die Gefahr hin, untereinander das Durcheinander zu belächeln, in dem Marxisten, Marxianer und Marxologen aneinandergeraten –, bald behaupten sie, ganz im Gegenteil,
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es bedürfe einer neuen Lehre, wenn nicht eines neuen Systems, aber sie wagen sich kaum über einige Anleihen bei Heraklit, Heidegger oder Sartre hinaus. Die schüchterne Zurückhaltung ist in beiden Fällen verständlich. Unter marxistischen Vorzeichen haben sie seit Jahren Philosophie betrieben. Als sie den jungen Marx entdeckten, wieder hinaufstiegen zur Hegelschen Quelle und von dort wieder hinabstiegen zu Lenin, sind sie oftmals auf die abstrakte Formel ihres zukünftigen Dramas gestoßen, sie wissen, daß man in dieser Tradition sämtliches Rüstzeug für einen oder für mehrere Einwände finden kann, und es ist nur natürlich, daß sie sich immer noch als Marxisten fühlen. Da es aber auch der Marxismus ist, der ihnen lange Zeit die Gründe geliefert hat, alles in allem Kommunisten zu bleiben und für den Kommunismus das Privileg eines Geschichtsdeuters zu erneuern, mag man verstehen, daß sie in dem Augenblick, in dem sie zu den Dingen selbst zurückkehren, Lust verspürten, jede Vermittlung beiseite zu lassen, und daß sie eine ganz neue Lehre fordern. Ob man nun dem treu bleibt, was man einst war, oder ob man mit allem noch einmal von vorn beginnt, es handelt sich in jedem Fall um eine gewaltige Aufgabe. Um genau sagen zu können, worin man Marxist bleibt, müßte man auch sagen, worin das Wesentliche bei Marx liegt und wann man davon abkam, an welcher Verzweigung des Stammbaums man sich positioniert, ob man ein neuer Zweig sein will, ein neuer, tragender Ast, oder ob man gedenkt, der Achse des wachsenden Stammes zu folgen, oder ob man letzten Endes den ganzen Marx wieder einem viel älteren und viel naheliegenderen Denken eingliedern will, bei dem er nichts als eine Übergangsform wäre – kurz gesagt, man müßte die Beziehungen des jungen Marx zu Marx, des einen wie des anderen zu Hegel, dieser ganzen Tradition zu Lenin, von Lenin zu Stalin und sogar zu Chruschtschow neu definieren, wie letztlich auch die Beziehungen des Hegel-Marxismus zu allem, was ihm vorangegangen und was ihm gefolgt ist. Eine ungeheure Arbeit, von der die Schriften Lukács’ in ihrer Gesamtheit nur ein sehr verhaltener Entwurf sind, die aber die marxistischen Schriftsteller zu Zeiten ihrer Parteiangehörigkeit reizen konnte, weil dies damals die
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einzige Art war, Philosophie zu betreiben, ohne allzusehr diesen Anschein zu erwecken, und der ihnen nun, da sie nicht mehr der Partei angehören, bedrückend oder lächerlich erscheinen muß. Sie wenden sich folglich den Wissenschaften und der Kunst, der parteiunabhängigen Forschung zu. Aber welch ein Durcheinander herrscht, wenn man nicht mehr auf den beinahe säkularen Hintergrund des Marxismus setzen kann, wenn man sich auf eigene Verantwortung, ohne Parteiapparat, ganz unverhüllt dem Versuch überläßt, und dies auch noch in der unbequemen Nachbarschaft zu denen, die nie etwas anderes gemacht haben und mit denen man einst keine Diskussionen geführt, sondern kurzen Prozeß gemacht hat … Man bleibt also unentschlossen zwischen der Forderung nach Treue und der Forderung nach einem Bruch, und man akzeptiert weder ganz die eine noch die andere. Bisweilen schreibt man, als hätte es den Marxismus nie gegeben, wenn man beispielsweise der Geschichte mit dem Formalismus der Spieltheorie begegnet. Andererseits hält man jedoch den Marxismus in Reserve, man geht jeder Revision aus dem Wege. Tatsächlich ist eine Revision längst im Gange, aber man verbirgt sie vor sich selbst, man verschleiert sie auf dem Weg zurück zu den Quellen. Denn alles in allem, so sagt man, ist es der Dogmatismus, ist es die Philosophie, die gemeinsam mit der Orthodoxie in Konkurs gegangen ist. Der wahre Marxismus war seinerseits keine Orthodoxie, und wir halten an genau diesem Marxismus fest, der im übrigen alles einschließt, sowohl den Stalinismus und den Antistalinismus als auch das ganze Weltgeschehen. Eines Tages wird das Proletariat vielleicht, nach einer Reihe unglaublicher Umwege, seine Rolle als universelle Klasse wieder einnehmen und sich diese universelle marxistische Kritik, die im Augenblick ohne Träger und ohne geschichtliche Wirkung ist, wieder zur Aufgabe machen … Auf diese Weise verlagert man die marxistische Identität von Denken und Handeln, die gegenwärtig in Frage gestellt wird, auf einen späteren Zeitpunkt. Der Appell an eine unbestimmte Zukunft bewahrt die marxistische Lehre in dem Augenblick als eine Denkweise und Ehrensache, in dem sie als eine Lebensweise in Schwie-
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rigkeiten geraten ist. Worin, Marx zufolge, genau das Laster der Philosophie liegt. Wer aber würde dies vermuten, wo es im selben Augenblick doch auch die Philosophie ist, die man als Sündenbock heranzieht? Die Nicht-Philosophie, die Marx zugunsten der revolutionären Praxis lehrte, dient nun als Deckmantel der Unsicherheit. Jene Schriftsteller wissen selber am besten, daß die marxistische Anbindung der Philosophie und der Politik zerbrochen ist. Aber sie tun so, als bliebe sie im Prinzip in einer zukünftigen, das heißt imaginären Welt genau das, als das Marx sie bezeichnet hatte: die in der Geschichte zugleich verwirklichte und zerstörte Philosophie, die rettende Negation, die vollendende Destruktion. Diese metaphysische Operation hat nicht stattgefunden – aus diesem Grund haben sich jene Schriftsteller ja vom Kommunismus abgewandt, der die abstrakten Werte, die er zerstörte, um seine eigenen Werte an ihre Stelle zu setzen, so wenig zu verwirklichen vermochte. Sie sind sich nicht ganz sicher, ob diese Operation überhaupt jemals stattfinden wird. Woraufhin sie, anstatt den philosophischen Hintergrund zu untersuchen, ausgerechnet diese metaphysische Operation, die Kühnheit und Resolution sein will, in eine träumerische Hoffnung verwandeln. Ein keineswegs unschuldiger Trost, denn er beendet die in ihrer Mitte und in ihrem Umfeld entstandene Diskussion wieder und erstickt die aufkommenden Fragen im Keim: Allen voran die Frage, ob es eine Operation der gleichzeitigen Zerstörung und Verwirklichung gibt, namentlich eine Verwirklichung des Denkens, die es als unabhängige Instanz überflüssig werden läßt, oder ob dieses Schema nicht stillschweigend eine absolute Positivität der Natur einbezieht, eine absolute Negativität der Geschichte oder eine Antiphysis, die Marx in den ihn umgebenden Dingen festzustellen glaubte, obwohl diese Fragen vielleicht nur eine bestimmte Art der Philosophie wiedergeben und nicht von der neuerlichen Untersuchung ausgenommen werden können. Sodann die Frage, ob dieses Nein, das der philosophischen Formel der Revolution zufolge ein Ja ist, nicht eine Praxis der unbegrenzten Autorität rechtfertigt, wobei die Parteifunktionäre, die die historische Rolle des Negativs innehaben, aus dieser Sicht über jede Zuweisung von
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Kritik erhaben wären und ihnen kein berechtigter ›Widerspruch‹, auch nicht in der Form von Budapest, entgegenzusetzen wäre. Es ist die Vielzahl all dieser Fragen an die marxistische Ontologie, die man geschickt umgeht, indem man den Marxismus gleich als eine erst später zutage tretende Wahrheit gelten läßt. Diese Fragen haben immer schon das Pathos und das tiefste Innere des Marxismus ausgemacht: Er war der Versuch oder der Beweis der schöpferischen Negation, der Verwirklichung und gleichzeitigen Zerstörung; indem man sie vergißt, stellt man ihn als Revolution in Abrede. Wenn man jedenfalls dem Marxismus ohne jede Diskussion die anmaßende Forderung zubilligt, keine Philosophie zu sein, sondern Ausdruck einer einzigen großen geschichtlichen Tatsache (und seine Kritik an jeder Philosophie als Alibi und Verfehlung gegenüber der Geschichte durchgehen läßt), und da man auf anderem Wege zur Feststellung gelangt, daß sich gegenwärtig im weltweiten Maßstab keine proletarische Bewegung erkennen läßt, stellt man ihn als vorübergehend unwirksam zur Disposition und definiert sich selbst als Marxisten ehrenhalber. Wenn die Scheidung von Philosophie und Politik zum alleinigen Nachteil der Philosophie ausgesprochen wird, dann wäre sie eine gescheiterte Scheidung. Denn man kann eine Scheidung ebenso als gescheitert betrachten wie eine Ehe. Wir gehen hier nicht von einer vorformulierten These aus; insbesondere vermischen wir Marxismus und Kommunismus nicht vor dem Tribunal der Philosophie im Sinne eines absoluten Wissens, wohl wissend, daß der eine wie der andere sie auszuschließen suchen: Der Unterschied zwischen der marxistischen Regel, die Philosophie nicht zu zerstören, ohne sie zu verwirklichen, und der stalinistischen Praxis, sie einfach nur zu zerstören, ist deutlich. Wir unterstellen nicht einmal, daß diese Regel angesichts einer solchen Praxis unvermeidlich entartet. Wir behaupten, daß der Marxismus durch die Ereignisse der letzten Jahre ganz entschieden in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten ist, in der er zu Analysen anregen und ihnen eine Richtung weisen mag, in der er einen ernsthaften heuristischen Wert bewahrt, aber mit Sicherheit nicht mehr in dem Sinne wahr
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ist, in dem er sich selbst für wahr hielt, und daß die jüngste Erfahrung, die ihn in einer Ordnung der sekundären Wahrheit etabliert, den Marxisten eine neue Grundlage und beinahe schon Methode gibt, die alle Mahnungen hinfällig werden läßt. Wenn man sie fragt – und wenn sie sich selbst fragen –, ob sie noch Marxisten sind, so gibt es auf diese schlechte Frage nur schlechte Antworten, nicht nur deshalb, weil – wie wir weiter oben bemerkt haben – eine präzise Antwort die immense Arbeit einer umfassenden Sichtung für beendet erklären würde, sondern weil diese Arbeit, selbst wenn sie geleistet worden wäre, niemals mit einer einfachen Antwort enden könnte, da eine solche Frage, sobald sie sich stellt, ein klares Ja oder Nein ausschließt. Es wäre unsinnig, sich die jüngsten Ereignisse als eine Art ›experimentum crucis‹ vorzustellen, das es, entgegen der hartnäckig verbreiteten Legende, nicht einmal in der Physik gibt, und aus dem man folgern könnte, daß eine Theorie sich ›bewahrheitet‹ habe oder ›widerlegt‹ sei. Es ist unerhört, diese Frage überhaupt in diesen rudimentären Begrifflichkeiten zu stellen, als seien ›wahr‹ oder ›falsch‹ die beiden einzigen intellektuellen Seinsweisen. Sogar in den Wissenschaften kann ein überholtes theoretisches Konstrukt wieder in die Sprache derjenigen Theorie integriert werden, die es überholt, es bleibt bedeutsam, es bewahrt seine Wahrheit. Wenn es um die ganze innere Geschichte des Marxismus geht und um seine Beziehungen zur prä- und postmarxistischen Philosophie und Geschichte, so wissen wir von nun an, daß die Schlußfolgerung niemals eine dieser allzu oft gehörten Platitüden sein kann: daß er ›immer noch gültig‹ oder ›von den Tatsachen‹ widerlegt sei. Der Marxismus bildet immer noch und unabhängig davon, ob sie sich nun bewahrheitet haben oder ob sie widerlegt wurden, den Hintergrund der marxistischen Äußerungen, wie eine Matrix der intellektuellen und historischen Erfahrungen, so daß der Marxismus immer noch mittels einiger Hilfshypothesen vor dem Scheitern bewahrt werden kann, wie man im übrigen auch immer noch behaupten kann, daß ihm der Erfolg nicht gleich in allen Belangen Recht gibt. Die marxistische Lehre hat seit einem Jahrhundert so viele theoretische und praktische Un-
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tersuchungen bewirkt, ist das Laboratorium so vieler geglückter oder mißlungener Experimente gewesen, hat selbst für ihre Gegner den Anreiz zu so vielen Antworten, Befürchtungen und so tief bedeutsamen Gegenentwürfen geboten, daß es nach all dem schlichtweg barbarisch wäre, von einer ›Widerlegung‹ wie übrigens auch von einer ›Bewahrheitung‹ zu sprechen. Selbst wenn sich ›Irrtümer‹ in den grundlegenden Formulierungen des Marxismus finden, in seiner Ontologie, von der wir gerade gesprochen haben, so sind diese Irrtümer doch nicht derart, daß man sie einfach streichen oder vergessen könnte. Selbst wenn es keine reine Negation gibt, die ein Ja wäre oder die eine absolute Negation ihrer selbst wäre, so erschiene der ›Irrtum‹ hier nicht wie das bloße Gegenteil der Wahrheit, sondern eher wie eine verfehlte Wahrheit. Es gibt eine innere Beziehung von Positivem und Negativem, und auf diese Beziehung zielte Marx ab, selbst wenn er sie zu Unrecht der Dichotomie von Objekt und Subjekt unterwarf; diese Beziehung bestimmt weite Teile seines Werkes, sie eröffnet seiner historischen Analyse ganz neue Dimensionen und ermöglicht diesen, in dem von Marx verstandenen Sinne nicht länger zu abschließenden Ergebnissen zu führen, ohne daß sie deshalb aufhörten, Quellen des Sinns und immer neuer Interpretationen zu sein. Marx’ Thesen können ebenso wahr bleiben, wie der Satz des Pythagoras wahr ist, wahr nicht mehr in dem Sinne, wie er es für seinen Erfinder war – als eine identische Wahrheit und eine Eigenschaft des Raumes selbst –, sondern als Eigenschaft eines bestimmten Modells des Raumes unter anderen möglichen Räumen. Die Geschichte des Denkens verkündet nicht zusammenfassend: Dies ist richtig, jenes ist falsch. Wie jede Geschichte, so trifft auch sie stillschweigend Entscheidungen: Sie entschärft oder konserviert bestimmte Lehren, verwandelt sie in ›Botschaften‹ oder Museumsstücke. Andere wiederum hält sie nicht etwa deshalb aufrecht, weil es zwischen ihnen und einer unveränderlichen ›Realität‹ irgendeine wundersame Entsprechung oder Korrespondenz gäbe – diese punktuelle oder dürftige Wahrheit ist weder hinreichend noch überhaupt notwendig, um einer Lehre Größe zu verleihen –, sondern weil sie über alle Aussagen und
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Sätze hinaus sprechend bleiben, notwendige Vermittler, wenn man noch weiter gehen will. Wir haben es hier mit den Klassikern zu tun. Man erkennt sie daran, daß sie niemand wörtlich nimmt und daß die neuen Gegebenheiten dennoch nie völlig außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs stehen, daß sie neue Echos auslösen, in sich neue Reliefs offenbaren. Wir behaupten, daß eine neuerliche Beschäftigung mit Marx die Studie eines Klassikers wäre und daß sie ebensowenig mit einem nihil obstat wie mit einer Verbannung auf den Index enden könnte. Sind Sie oder sind Sie nicht Cartesianer? Die Frage ergibt keinen großen Sinn, denn all jene, die dieses oder jenes bei Descartes ablehnen, tun dies nur im Rückgriff auf Vernunftgründe, die wiederum bis auf Descartes zurückreichen. Wir meinen, daß Marx im Begriff ist, zu einer solchen zweiten Wahrheit zu werden. Und wir sagen dies allein im Namen der jüngsten Erfahrung, insbesondere der Erfahrung der marxistischen Schriftsteller. Denn als es für sie, die seit langem Kommunisten waren, darum ging, aus der Partei auszutreten oder aber sich von ihr ausschließen zu lassen, haben sie da als ›Marxisten‹ oder als ›Nicht-Marxisten‹ gehandelt? Indem sie der Partei den Rücken kehrten, gaben sie genauestens zu verstehen, daß das Dilemma ein verbales ist, daß man darüber hinausgehen müsse, daß keine Doktrin gegenüber den Dingen die Oberhand behalten oder die Repression von Budapest in einen Sieg des Proletariats umwandeln könne. Sie haben mit der Orthodoxie nicht im Namen der Freiheit des Bewußtseins und des philosophischen Idealismus gebrochen, sondern weil die Orthodoxie ein Proletariat bis zur Revolte und der Kritik an den Waffen hatte dahinsiechen lassen, und mit ihm das Leben seiner Gewerkschaften und der Wirtschaft, und mit ihr die innere Wahrheit sowie das Leben der Wissenschaft und der Kunst. Sie haben den Bruch folglich als Marxisten vollzogen. Und dennoch haben sie mit diesem Bruch die ebenfalls marxistische Regel verletzt, die besagt, daß es zu jeder Zeit ein Lager des Proletariats und ein Lager seiner Gegner gibt, daß jede Initiative in Relation zu diesem feinen Riß in der Geschichte bewertet wird und daß man auf keinen Fall ›das Spiel des Gegners spielen‹ darf.
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Sie täuschen sich nicht, und sie täuschen auch uns nicht, wenn sie heute sagen, sie blieben Marxisten, aber dies gilt nur, wenn man hinzufügt, daß ihr Marxismus sich mit keinem Parteiapparat mehr identifiziert, daß er eine Sichtweise der Geschichte ist und nicht die wirkliche Bewegung der Geschichte – kurz, daß er eine Philosophie ist. In dem Augenblick, in dem sie den Bruch vollzogen, haben sie im Zorn oder in der Verzweiflung eins der lautlosen Ereignisse der Geschichte vorweggenommen oder sich ihm angeschlossen, und letztlich sind sie es, die Marx zu einem Klassiker oder einem Philosophen gemacht haben. Man sagte ihnen: Jede Initiative, jede politische oder nicht politische Forschung wird an ihren politischen Folgen gemessen, die politische Linie am Interesse der Partei und das Interesse der Partei letzten Endes an der Sichtweise der Parteiführer. Sie haben diese Verkettung von Reduktionen aller Instanzen und aller Kriterien auf nur noch ein einziges Kriterium von sich gewiesen, und sie haben bekräftigt, daß die Bewegung der Geschichte sich anderer Mittel bedient, daß sie auf der Ebene der politischen Organisation und im Proletariat, ebenso wie in den Gewerkschaften und in der Kunst und der Wissenschaft, von anderen Rhythmen geprägt wird und daß es mehr als einen Brennpunkt der Geschichte gibt, oder mehr als eine Dimension, mehr als eine Referenzebene, mehr als eine Quelle des Sinns. Sie haben damit eine bestimmte Idee des Objekt-Seins, ebenso wie der Identität und der Differenz, zurückgewiesen. Haben die Idee eines an mehreren Brennpunkten oder in mehreren Dimensionen kohärenten Seins angenommen. Und sie behaupten, keine Philosophen zu sein? Man fährt fort: Ihr sprecht vom Marxismus; aber sprecht ihr aus einer Innen- oder einer Außenansicht über ihn? Die Frage ergibt in dem Augenblick keinen großen Sinn mehr, in dem der Marxismus vielleicht zersplittert, in dem er sich aber auf jeden Fall öffnet. Man spricht von innen heraus über ihn, wenn man kann, und von außen, wenn es nicht mehr anders geht. Und wer handelt dabei besser? Steht man außerhalb oder innerhalb, wenn man die berühmte ›Überwindung des Inneren‹, die er gegenüber allen Doktrinen empfohlen hat, nun auf ihn selbst anwendet?
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Man ist schon außerhalb, sobald man versucht, sich selbst und die existierenden Dinge anhand der gesagten Dinge zu verstehen, statt diese noch einmal zu sagen. Die Frage, ob man beteiligt ist oder nicht, stellt sich nur angesichts einer neu entstehenden historischen Bewegung oder einer neu aufgestellten Doktrin. Der Marxismus ist zugleich weniger und mehr als dies, nämlich ein weites Feld, auf dem sich die Geschichte und das Denken abgelagert haben und auf dem man sich üben und lernen wird, zu denken. Die Veränderung fällt ihm schwer, wo er doch die Operation einer in Worte gefaßten Geschichte sein wollte. Aber gerade darin lag der Gipfel der philosophischen Arroganz. Sicherlich gibt es in der Welt verschiedene Situationen eines Klassenkampfes. Es gibt sie in den alten Ländern – etwa der Schweiz von Yves Velan –, und es gibt sie in den jüngst in die Unabhängigkeit entlassenen Ländern. Ihre Unabhängigkeit wird mit Sicherheit nur ein Wort bleiben, wenn die Endpunkte ihrer Entwicklung nach den Interessen der fortgeschrittenen Länder definiert werden und wenn der linke Flügel der neuen Nationalismen darüber mit den lokalen Bourgeoisien in Streit gerät. Es ist im übrigen gewiß, daß die neuen wirtschaftlichen Bereiche und die Entwicklung der industriellen Gesellschaft in Europa, die das althergebrachte parlamentarische und politische Leben hinfällig werden lassen, den Kampf um die Kontrolle und die Führung des neuen Wirtschaftsapparates auf die Tagesordnung setzen. Ausgehend vom Marxismus kann man zwar Kategorien aufstellen, die der Analyse der Gegenwart eine Richtung geben, und der ›strukturelle Imperialismus‹ wäre dann eine dieser Kategorien.1 Es ist sogar erlaubt zu bekräftigen, daß keine Politik sich auf lange Sicht als Politik unserer Zeit behaupten kann, wenn sie diese Probleme und das marxistische Bezugssystem, das diese aufdeckt, ignoriert. Genau das ist es, was wir vorhin mit dem Satz zu verstehen gaben, daß Marx ein Klassiker sei. – Aber ist ein solcher Marxismus überhaupt der Entwurf einer Politik? Geht der theoretische Zugriff, den er auf die Geschichte gewährt, auch 1
Serge Mallet, Gaullisme et néo-capitalisme, Esprit, Februar 1960.
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mit einem praktischen Eingreifen einher? Im Marxismus, wie ihn Marx sah, hingen beide unmittelbar zusammen. Man entdeckte mit der Frage auch die Antwort, die Frage war nur der Beginn einer Antwort, und der Sozialismus war die Unruhe, die Bewegung des Kapitalismus. Wenn wir lesen, daß die unabhängigen Länder Nordafrikas durch einen Zusammenschluß in der Lage wären, ihre Entwicklung zu kontrollieren, nicht aber »auf das Kapital, die Techniker und den fortwährenden Austausch mit Frankreich«2 zu verzichten, daß andererseits aber die politische und gewerkschaftliche Linke in Frankreich sehr weit davon entfernt ist, den neuen Problemen entgegenzusehen, daß insbesondere die kommunistische Partei gegenüber dem Neokapitalismus eine schlichtweg negative Haltung bewahrt und daß schließlich in der UdSSR, selbst nach dem XX. Parteikongreß, der ›strukturelle Imperialismus‹ nicht aufgegeben wird – dann müßte man großen Optimismus aufbringen, wenn man darauf hoffen wollte, daß »der fortschrittlichste Flügel der afrikanischen Nationalismen bald in die Lage versetzt sein wird, seine Sorgen den Sorgen der Arbeiterklassen in den wirtschaftlich führenden Ländern gegenüberzustellen«3. Selbst wenn diese vergleichende Gegenüberstellung stattfinden würde, welche Politik sollte man daraus ableiten? Selbst wenn die unterschiedlichen Klassen der Proletarier sich gegenseitig anerkennen würden, welche Art von gemeinsamer Aktion könnten sie sich vornehmen? Wie könnte man die leninistische Vorstellung der Partei unverändert beibehalten, und wie könnte man sie nur zur Hälfte aufgreifen? Man spürt den Abstand des als theoretisches Instrument der Analyse dienenden Marxismus zu einem Marxismus, der die Theorie als Bewußtsein einer Praxis definierte. Es gibt Situationen eines Klassenkampfes, und man kann, wenn man will, die weltweite Lage mit Hilfe der Begriffe von Proletariat und Bourgeoisie ausdrücken: Dies ist aber nicht mehr als eine bestimmte Sprechweise, und das Proletariat ist nur ein anderer Name für eine vernünftige Politik. 2 3
Serge Mallet, a. a. O., S. 211. Ebd., S. 214.
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Was wir hier unter dem Namen der Philosophie verteidigen, ist ganz genau die Art des Denkens, zu der die Marxisten durch die Dinge wieder zurückgeleitet werden. Unsere Zeit kann einer naiven Rationalität jeden Tag eine Enttäuschung bereiten: Indem sie über alle ihre Risse hinweg das Wesentliche an den Tag bringt, erfordert sie eine philosophische Lektüre. Sie hat die Philosophie nicht absorbiert, wie die Philosophie nicht ihrerseits über sie hinausragt. Die Philosophie ist weder Sklavin noch Herrin der Geschichte. Die Beziehungen zwischen beiden sind weniger einfach, als man geglaubt hatte: Es handelt sich im wörtlichen Sinne um eine Aktion auf Distanz, bei der jede vom Grund ihrer jeweiligen Differenz die Mischung und Vermischung einfordert. Wir müssen den richtigen Gebrauch dieses Ineinandergreifens noch erlernen – ebenso wie eine Philosophie, die um so weniger an politische Verantwortlichkeiten gebunden ist, je mehr sie ihre eigenen wahrnimmt, und die um so freier wird, sich auf alle Gebiete vorzuwagen, je weniger sie sich an die Stelle anderer setzt, je weniger sie die Leidenschaften, die Politik und das Leben nur wie ein Spiel betrachtet, je weniger sie all dies im Imaginären umgestaltet und statt dessen genau das Sein enthüllt, das wir bewohnen. * Man lacht über den Philosophen, der sich wünscht, der ›geschichtliche Prozeß‹ möge den Weg über seinen Schreibtisch nehmen. Er rächt sich, indem er gerade den Absurditäten der Geschichte Tribut zollt. Dies ist sein Auftritt in einem mittlerweile säkularen Vaudeville. Ob man nun weiter zurück in die Vergangenheit blickt, oder ob man sich fragt, welche Rolle die Philosophie heute spielen kann: Man wird sehen, daß die standpunktlose Überblicksphilosophie nur eine Episode war und daß diese Episode beendet ist. Heute wie einst beginnt die Philosophie mit der Frage: Was ist denken? Und sie geht zunächst einmal ganz darin auf. Es gibt hierbei weder Instrumente noch Organe, nur ein reines: Mir scheint, daß … Derjenige, vor dem alles erscheint, kann sich
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selbst nicht verborgen bleiben, er kommt selbst als erster zum Vorschein, er ist diese Erscheinung seiner selbst vor sich selbst, er taucht aus dem Nichts auf, und nichts und niemand kann ihn daran hindern oder ihm dabei helfen, ein Selbst zu sein. Er war immer schon, er ist überall, und er ist König auf seiner einsamen Insel. Die erste Wahrheit kann jedoch nur eine halbe Wahrheit sein. Sie gibt den Blick frei auf etwas anderes. Es gäbe nichts, wenn da nicht dieser Abgrund des Selbst wäre. Allein, ein Abgrund ist nicht nichts, er hat seine Ränder, seine Umrandungen. Man denkt immer an etwas, man denkt über etwas nach, man denkt ausgehend von oder im Anschluß an etwas, in bezug auf oder im Gegensatz zu etwas. Selbst die Tätigkeit des Denkens unterliegt dem Druck des Seins. Ich kann nicht länger als einen Augenblick lang auf genau dieselbe Weise an dieselbe Sache denken. Der Spalt, der sich am Ursprung des Denkens auftut, schließt sich sogleich wieder, als sei das Denken nur im Augenblick seines Entstehens lebendig. Wenn es sich behauptet, dann nur auf Abwegen – durch das Abgleiten, das jedes Denken ins Inaktuelle abschiebt. Denn es gibt das Inaktuelle des Vergessens, aber auch das Inaktuelle des Erworbenen. Aufgrund der Zeitlichkeit veralten meine Gedanken, durch sie machen sie aber auch Epoche, eröffnen sie eine Zukunft des Denkens, einen Zyklus, ein Feld, bilden sie gemeinsam eine Einheit, sind sie ein einziges Denken, sind sie ein Ich. Das Denken perforiert nicht die Zeit, es setzt die Spur der vorangegangenen Gedanken fort, ohne die gleichwohl erahnte Macht auszuüben, diese Spur von neuem zu ziehen, so wie wir, wenn wir wollten, die andere Seite des Hügels noch einmal sehen könnten: Aber wozu wäre dies gut, da doch der Hügel nun einmal da ist? Wozu sollte ich mich versichern, daß mein heutiges Denken mein gestriges enthält: Ich bin mir dieser Tatsache doch bewußt, da ich heute darüber hinaussehen kann. Wenn ich denke, springe ich nicht aus der Zeit hinaus in eine intelligible Welt, ich schaffe auch nicht jedesmal von neuem aus dem Nichts heraus die Bedeutung, es ist vielmehr so, daß der Pfeil der Zeit alles mit sich reißt, daß er meine sukzessiven Gedanken in einem
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sekundären Sinne simultan sein läßt oder sie zumindest rechtmäßig ineinandergreifen läßt. Ich funktioniere auf diese Weise durch Konstruktion. Ich befinde mich auf einer Pyramide der Zeit, die mein Ich gewesen ist. Ich hole weit aus und erfinde mich neu, aber nur unter Einbezug meiner zeitlichen Ausstattung, so wie ich mich in der Welt nur unter Einbezug der unbekannten Masse meines Leibs bewege. Die Zeit ist dieser ›Leib des Geistes‹, von dem Valéry sprach. Zeit und Denken sind miteinander verflochten. Die Nacht des Denkens wird von einem Schimmer des Seins bewohnt. Wie könnte das Denken den Dingen keine Notwendigkeit auferlegen? Wie könnte es die Dinge auf die reinen Objekte reduzieren, die es sich konstruiert? Mit der verborgenen Anbindung an die Zeit erfahre ich auch die Anbindung des sensiblen Seins, seine unvereinbaren und simultanen ›Seiten‹. Ich sehe es so, wie es sich meinen Augen zeigt, aber auch so, wie ich es von einem anderen Standpunkt aus sehen würde, und dies nicht nur möglicherweise, sondern zum gegenwärtigen Zeitpunkt, denn schon jetzt leuchten anderswo viele seiner Feuer, die mir verborgen sind. Wenn man von Simultanität spricht, meint man dann die Zeit oder den Raum? Diese Linie von mir bis zum Horizont ist für die Bewegung meines Blicks wie eine Schiene. Das Haus am Horizont leuchtet feierlich wie etwas Zurückliegendes oder wie etwas Erhofftes. Und umgekehrt hat auch meine Vergangenheit ihren Raum, ihre Wege, ihre ausgewiesenen Orte, ihre Monumente. Unter den gekreuzten, aber verschiedenen Ordnungen des Sukzessiven und des Simultanen, unter der Folge von Synchronien, die Linie für Linie hinzukommen, findet man ein namenloses Geflecht wieder, Konstellationen von räumlichen Stunden und ereignishaften Punkten. Muß man überhaupt etwas sagen, muß man von einem Imaginären oder einer Idee sprechen, wenn jede Sache noch über sich hinausreicht, wenn jedes Faktum zur Dimension werden kann, wenn die Ideen ihre eigenen Regionen haben? Die ganze Beschreibung der Landschaft und der Linien unseres Universums, ebenso wie die Beschreibung unseres inneren Monologes, müßte neu unternommen werden. Die Farben,
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die Töne und die Dinge sind, wie die Sterne bei Van Gogh, die Brennpunkte und die Strahlen des Seins. Kommen wir auf die Anderen bei ihrem Erscheinen im Fleisch der Welt (la chair du monde). Sie könnten für mich nicht sein, so sagt man, wenn ich sie nicht wiedererkennen würde, wenn ich bei ihnen nicht irgendein Zeichen der Selbstpräsenz entzifferte, deren Modell nur ich selbst vorgeben kann. Wenn aber mein Denken nur die Kehrseite meiner Zeit ist, meines passiven und sensiblen Seins, dann ist es der ganze Stoff der sinnlichen Welt, der hinzukommt, wenn ich mich, ebenso wie die Anderen, die in diesem Stoff erfaßt sind, zu begreifen suche. Bevor sie sind, und weil sie meinen Bedingungen der Möglichkeit unterworfen und nach meinem Bild rekonstruiert sind, müssen sie als Reliefs da sein, als Abweichungen, als Varianten einer einzigen Erscheinung, an der auch ich teilhabe. Denn sie sind keine Fiktionen, mit denen ich meine Wüste bevölkerte, keine Söhne meines Geistes, keine ewig inaktuellen Möglichkeiten, sie sind vielmehr meine Zwillinge oder das Fleisch meines Fleisches. Zwar lebe ich nicht ihr Leben, sie bleiben definitiv entfernt von mir, und ich bleibe entfernt von ihnen. Aber diese Distanz erweist sich als eine seltsame Nähe, sobald man das Sein des Sinnlichen wiederfindet, denn das Sensible ist genau das, was mehr als einen Körper heimsucht, ohne sich vom Fleck zu rühren. Diesen Tisch, der meinen Blick streift, wird niemand sehen: Es müßte schon ich sein. Und dennoch weiß ich, daß er im selben Augenblick, auf genau dieselbe Weise auf jedem Blick lastet. Denn auch die anderen Blicke sehe ich, sie zeichnen in demselben Feld, in dem die Dinge sind, eine Leitlinie des Tisches, sie verbinden die Teile des Tisches miteinander zu einer neuen Kompräsenz. Darunter, unter dem Deckmantel jener Artikulation, die ich in dem Moment in Bewegung setze, erneuert oder verbreitet sich die Artikulation eines Blickes über ein Sichtbares. Mein Sehen überlagert ein anderes, oder sie funktionieren vielmehr gemeinsam und fallen prinzipiell auf dasselbe Sichtbare zurück. Eine meiner Sichtbarkeiten wird sehend. Ich wohne dieser Metamorphose bei. Von nun an ist das Sichtbare nicht mehr eines der Dinge, es ist vielmehr kreisförmig
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mit ihnen zusammengeschlossen oder tritt vermittelnd zwischen sie. Wenn ich es betrachte, dann bleibt mein Blick nicht mehr an ihm hängen, er endet nicht mehr bei ihm, so wie er an den Dingen hängen bleibt oder bei ihnen endet; durch das Sichtbare verlängert sich mein Blick in Richtung der Dinge, als sei er durch ein Relais weitergeleitet worden – es sind dieselben Dinge, die nur ich gesehen habe, die immer noch ich allein sehen werde, die aber auch das Sichtbare von nun an auf seine Weise allein zu sehen vermag. Ich weiß jetzt, daß es seinerseits auch allein dabei ist, ein Selbst zu sein. Alles beruht auf dem unübertrefflichen Reichtum, auf der wundersamen Vervielfachung des Sensiblen. Sie bewirkt, daß dieselben Dinge die Kraft haben, für mehr als nur einen Betrachter Dinge zu sein, und daß einige unter ihnen – die menschlichen und die animalischen Körper – nicht nur verborgene Gesichter haben, daß ihre »andere Seite«4 auch ein anderes Empfinden ist, das ausgehend von dem für meine Sinne Wahrnehmbaren zählt. Alles ist so angelegt, daß dieser Tisch, den mein Blick in diesem Augenblick abtastet und dessen Textur er befragt, keinem Raum des Bewußtseins angehört und sich ebensogut in den Kreis der anderen Körper einfügt – daß unsere Blicke keine Bewußtseinsakte sind, von denen jeder einen unveränderlichen Vorrang für sich in Anspruch nehmen würde, sondern eine Öffnung unseres Fleisches, die sogleich vom universellen Fleisch der Welt angefüllt wird – daß sich auf diese Weise die lebenden Körper über der Welt schließen, daß sie zu sehenden Körpern, berührenden Körpern werden, und a fortiori empfindsam gegen sich selbst, denn man könnte nicht berühren oder sehen, ohne daß man fähig wäre, auch sich selbst zu berühren und zu sehen. Das ganze Rätsel liegt im Sensiblen, in diesem Fern-Sehen, das uns im privatesten Bereich unseres Lebens simultan mit den Anderen und mit der Welt sein läßt. Was wird sein, wenn einer von ihnen sich mir zuwenden wird, meinen Blick aushalten und den seinen auf meinen Leib und mein Gesicht richten wird? Diese Erfahrung ist unerträglich, es 4
Husserl.
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sei denn, wir greifen auf die List des Sprechens zurück und setzen einen gemeinsamen Bereich an Gedanken als ein Drittes zwischen uns ein. Es gibt nichts mehr zu betrachten als einen Blick, der Sehende und das Gesehene sind vollkommen austauschbar, die beiden Blicke legen sich unbeweglich übereinander, nichts kann sie ablenken und sie voneinander unterscheiden, denn die Dinge sind außer Kraft gesetzt und jeder hat nur noch mit seinem Doppelgänger zu tun. Für die Reflexion gibt es dabei nur noch zwei ›Gesichtspunkte‹ ohne gemeinsames Maß, zwei Ich denke, von denen jedes sich für den Sieger in diesem Wettstreit halten kann, denn alles in allem handelt es sich doch nur um einen meiner Gedanken, wenn ich denke, daß der andere mich denkt. Das Sehen bewirkt, was die Reflexion niemals verstehen wird: daß aus einem Kampf manchmal kein Sieger hervorgeht und das Denken in Zukunft ohne einen Titelverteidiger auskommen muß. Ich sehe ihn an. Er sieht, daß ich ihn ansehe. Ich sehe, daß er es sieht. Er sieht, daß ich sehe, daß er es sieht … Die Analyse läßt sich endlos fortsetzen, und wenn sie das Maß aller Dinge wäre, dann würden die Blicke auf unbestimmte Zeit übereinander hinweggleiten, es gäbe niemals nur ein einziges cogito auf einmal. Folglich bewirkt das Sehen, obwohl die Spiegelungen der Spiegelungen im Prinzip bis ins Unendliche weitergehen, daß sich die ungewissen Ausgänge der beiden Blicke aneinander anpassen und daß man nicht mehr zwei Bewußtseine mit ihrer jeweils eigenen Teleologie hat, sondern zwei ineinander ruhende Blicke, die allein auf der Welt sind. Das Sehen skizziert, was das Verlangen ausführt, wenn es zwei ›Gedanken‹ auf diese zwischen ihnen liegende Kampflinie zutreibt, diese brennende Oberfläche, an der sie eine Verwirklichung suchen, die für beide von ihnen auf identische Weise dieselbe wäre, so wie die sinnliche Welt allen gemeinsam ist. Das Sprechen, so möchten wir sagen, würde diese Faszination durchbrechen. Es würde sie nicht beseitigen, aber es würde sie aufschieben, sie verlagern. Denn es ist Teil einer Woge der stummen Kommunikation und nimmt aus ihr heraus seinen Elan. Es entreißt oder zerreißt Bedeutungen im ungeteilten Ganzen
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des Benennbaren, vergleichbar unseren Gesten im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren. Man zerbricht die Sprache, wenn man aus ihr ein Mittel oder einen Code für das Denken macht, und man verbietet sich zu verstehen, wie tief die Wörter in uns dringen, ob es ein Bedürfnis, eine Leidenschaft gibt, zu sprechen, eine Notwendigkeit, miteinander zu sprechen, sobald man denkt, ob die Wörter die Macht haben, Gedanken hervorzurufen – Dimensionen des Denkens festzusetzen, die von nun an unveräußerlich sein werden –, ob sie Antworten über unsere Lippen bringen, derer wir uns nie für fähig hielten, ob sie uns nicht, wie Sartre sagt, unser eigenes Denken lehren. Die Sprache wäre, mit Freud gesprochen, keine totale ›Reinvestition‹ unseres Lebens, wäre nicht unser Element, so wie das Wasser das Element der Fische ist, wenn sie von außen einen Gedanken verdoppelte, der in seiner Einsamkeit Gesetze für jeden anderen möglichen Gedanken erließe. Ein Gedanke und ein Ausdruck, die parallel zueinander stünden, müßten jeder innerhalb seiner Ordnung vollständig sein, man könnte kein Eindringen des einen in den anderen feststellen, kein Abfangen des einen durch den anderen. Folglich ist die Vorstellung von einer vollständigen Aussage selbst inkonsistent: Nicht, weil sie an sich vollständig wäre, verstehen wir sie, sondern weil wir verstanden haben, können wir sie vollständig oder in hinreichendem Maße zur Sprache bringen. Es gibt kein Mehr an Gedanken, das ganz und gar Denken wäre und das nicht in Wörtern das Mittel suchte, sich selbst gegenwärtig zu sein. Denken und Sprechen rechnen miteinander. Sie setzen sich fortwährend an die Stelle des anderen. Sie sind Mittler und Stimulus füreinander. Jeder Gedanke kommt aus dem Gesprochenen und kehrt dorthin zurück, jedes gesprochene Wort wird in den Gedanken geboren und endet wieder in ihnen. Es gibt zwischen den Menschen und in jedem einzelnen eine unglaubliche Vegetation sprachlicher Äußerungen, deren Adern die ›Gedanken‹ sind. – Man wird sagen: Wenn nun das Sprechen etwas anderes ist als nur Geräusch oder Laut, dann liegt es doch daran, daß es durch das Denken eine Zuschreibung von Sinn erfährt – allem voran einen lexikalischen oder grammatikalischen Sinn –, so daß es
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letztlich stets nur eine Berührung des Denkens mit dem Denken gibt. Natürlich sind Laute nur im Hinblick auf einen Gedanken sprechend, aber dies will nicht heißen, daß das Sprechen abgeleitet oder sekundär wäre. Natürlich hat das System der Sprache selbst seine denkbare Struktur. Wenn wir aber sprechen, dann denken wir sie nicht so mit, wie der Linguist sie denkt, wir denken nicht einmal an sie, sondern denken an das, was wir sagen. Es ist nicht nur so, daß wir gar nicht gleichzeitig an zwei Dinge denken könnten: Man würde sagen, damit wir ein Signifikat vor uns haben, sei es auf seiten des Senders oder des Empfängers, müssen wir aufhören, uns den Code und sogar die Botschaft vorzustellen, wir müssen zu rein Ausführenden des Sprechens werden. Das wirksame Sprechen führt zum Nachdenken, und das lebendige Denken findet auf magische Weise seine Wörter. Es gibt nicht das Denken und die Sprache, jede der beiden Ordnungen verdoppelt sich bei näherem Hinsehen und verzweigt sich in der anderen. Es gibt das verständige Sprechen, das wir als Denken bezeichnen – und das versagende Sprechen, das wir als Sprache bezeichnen. Es liegt dann vor, wenn wir nicht verstehen, was wir sagen: Die Wörter sind da, und dennoch erscheint uns unser eigenes Reden wie reines Denken.5 Es gibt ein unartikuliertes Denken (das ›Aha-Erlebnis‹ der Psychologen), und es gibt das vollendete Denken – das sich plötzlich, ohne daß es darum wußte, von Wörtern umgeben sieht. Die Ausdruckshandlungen vollziehen sich zwischen dem denkenden Sprechen und dem sprechenden Denken, und nicht, wie wir leichthin sagen, zwischen Denken und Sprache. Wir sprechen nicht etwa, weil sie parallel nebeneinander stehen, vielmehr stehen sie nur parallel nebeneinander, weil wir sprechen. Die Schwäche eines jeden ›Parallelismus‹ besteht darin, daß er sich den Anschein von Korrespondenzen zwischen den Ordnungen gibt und uns die Handlungsvorgänge verschleiert, die diese Ordnungen zunächst einmal durch einen Übergriff hervorgebracht haben. Die ›Gedanken‹, die das Sprechen überziehen und aus ihm ein verständliches System werden lassen, die Felder 5
Jean Paulhan.
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oder Dimensionen des Denkens, welche die großen Autoren sowie unsere eigene Arbeit in uns errichtet haben, sind offene Einheiten verfügbarer Bedeutungen, die wir nicht wieder aktivieren, es sind Spuren des Denkens, die wir nicht nachzeichnen, sondern fortsetzen. Wir haben diese erworbenen Kenntnisse, ebenso wie wir Arme und Beine haben, wir machen davon Gebrauch, ohne darüber nachzudenken, so wie wir, ohne an sie zu denken, unsere Arme und Beine ›finden‹, und Valéry hat diese sprechende Fähigkeit, in der sich der Ausdruck mit Vorbedacht abzeichnet, sehr treffend ein ›Tier aus Wörtern‹ genannt. Diese Fähigkeit läßt sich nicht als Zusammenschluß zweier positiver Ordnungen verstehen. Wenn aber das Zeichen nur einen gewissen Sinnabstand zwischen den Zeichen markiert und die Bedeutung einen ebensolchen Sinnabstand zwischen den Bedeutungen, dann schließen sich Denken und Sprechen wieder wie zwei Reliefs zusammen. Als reine Differenzen sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Im Ausdruck geht es vielmehr darum, die gesagten Dinge neu zu ordnen, sie mit einem neuen Merkmal einer Krümmung zu versehen, sie an ein bestimmtes Relief des Sinns anzupassen. Es gab das, was sich von selbst versteht und zur Sprache bringt – insbesondere das, was auf viel geheimnisvollere Weise, vom Grund der Sprache her, alle Dinge von vornherein als benennbare einfordert – und es gibt das, was zu sagen ist, was noch nicht mehr als eine deutliche Unruhe in der Welt der gesagten Dinge ist. Es gilt, einen Modus zu finden, bei dem sich beide wieder zusammenschließen oder einander begegnen. Ich würde niemals einen Schritt zurücklegen, wenn das von mir anvisierte ferne Ziel in meinem Leib nicht auf eine natürliche Fertigkeit treffen würde, es in ein nahes Ziel zu verwandeln. Mein Denken wäre zu keinem Schritt in der Lage, wenn der Horizont des Sinns, den es eröffnet, durch das Sprechen nicht zu dem werden würde, was man im Theater ein Versatzstück nennt. Die Sprache kann die zwischenleibliche Kommunikation (communication intercorporelle) nach Belieben variieren und erweitern: Sie hat dieselbe Triebfeder, denselben Stil wie sie. Noch einmal sei wiederholt: Was verborgen war, muß öffentlich und
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beinahe sichtbar werden. Hier wie dort werden die Bedeutungen in ganzen Bündeln hervorgebracht, kaum unterstützt durch einige entscheidende Gesten. Hier wie dort betrachte ich die Dinge und die Anderen mit einer gegenseitigen Verpflichtung. Wenn ich zu den Anderen (oder zu mir selbst) spreche, dann spreche ich nicht über meine Gedanken, sondern spreche sie aus, ebenso wie alles, was noch zwischen ihnen liegt, meine Hintergedanken, meine unterschwellig vorhandenen Gedanken. Man wird erwidern: Das ist aber doch nicht das, was Sie sagen, sondern das, was der Gesprächspartner heraushört … Hören wir, was Marivaux sagt: »Ich habe nicht daran gedacht, Sie kokett zu nennen. – Dies sind Dinge, die schon gesagt sind, bevor man darüber nachdenkt.« Gesagt von wem? Gesagt zu wem? Nicht von einem Geist zu einem anderen Geist, sondern von einem Wesen mit Leib und Sprache zu einem anderen Wesen mit Leib und Sprache, von denen die eine Seite die jeweils andere mit unsichtbaren Fäden, gleich jenen, mit denen Marionetten geführt werden, zu lenken versteht und diese andere Seite sprechen läßt, sie denken läßt, sie werden läßt, was sie ist und was sie von allein nie hätte sein können. Auf diese Weise sind die Dinge schon gesagt, und sie sind schon gedacht, wie durch ein Sprechen und ein Denken, über die wir nicht verfügen, sondern die über uns verfügen. Man sagt, es gibt eine Mauer zwischen uns und den Anderen, aber diese Mauer errichten wir alle gemeinsam: Jeder setzt seinen Stein in die Leerstelle, die der Andere gelassen hat. Selbst die Werke der Vernunft sind auf solch unendlichen Gesprächen errichtet. All jene, die wir geliebt, verabscheut, gekannt oder nur kurz getroffen haben, sprechen durch unsere Stimme. So wie der Raum nicht aus lauter an sich simultanen Punkten besteht, so wie unsere Dauer nicht ihre enge Verbindung zu einem alle Dauer umfassenden Raum lösen kann, so ist die kommunikative Welt kein Bündel paralleler Bewußtseine. Die Spuren vermischen sich und gehen ineinander über, sie bilden eine einzige Spur von ›öffentlicher Dauer‹. Diesem Modell folgend müßte man die historische Welt denken. Was nützt es, sich zu fragen, ob die Geschichte von den
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Menschen oder von den Dingen gemacht wurde, wenn doch ganz offenkundig die menschlichen Initiativen das Gewicht der Dinge nicht aufheben können und die ›zwingende Kraft der Dinge‹ stets im Handeln der Menschen ihre Wirkung entfaltet? Es ist genau dieses Scheitern der Analyse, sobald sie alles auf einen einzigen Plan zurückzuführen sucht, das den wahren Kern der Geschichte offenbart. Es gibt keine Analyse, die letzthin gültig wäre, denn es gibt ein Fleisch (une chair) der Geschichte, in dem, wie in unserem Leib (notre corps), alles verbucht ist und alles zählt – sowohl der Unterbau als auch die Vorstellung, die wir uns von ihm machen, und vor allem auch der beständige Austausch zwischen dem einen und dem anderen, bei dem das Gewicht der Dinge ebenfalls zum Zeichen wird, die Gedanken zu Kräften und die Bilanz zum Ereignis. Man fragt sich: Wo wird die Geschichte gemacht? Wer macht sie? Welche ist die Bewegung, die einen Weg bahnt und hinter sich die Figuren einer Spur folgen läßt? Sie entstammt derselben Ordnung wie die Bewegung des Sprechens und Denkens und letztlich auch wie die Aufspaltung der sensiblen Welt zwischen uns: Überall gibt es Sinn, Dimensionen, Figuren über das hinaus, was jedes ›Bewußtsein‹ hätte hervorbringen können, und dennoch sind es Menschen, die sprechen, denken, sehen. Wir sind im Feld der Geschichte ebenso vorhanden, wie wir es im Feld der Sprache oder des Seins sind. Die Metamorphosen des Privaten ins Öffentliche, der Ereignisse in Meditationen, des Denkens in Worte und der Worte in Denken, dieses Echo aus allen Richtungen, das bewirkt, daß man auch mit sich selbst spricht, wenn man mit anderen spricht, und daß man vom Sein spricht, diesem Wimmeln von Wörtern hinter den Wörtern, von Gedanken hinter den Gedanken – diese universelle Substitution ist auch eine Art von Stabilität. Joubert schrieb an Chateaubriand, er müsse nur ›seinen Talisman schütteln‹. Obwohl es schwieriger ist, zu leben als Bücher zu schreiben, ist es doch eine Tatsache, daß alles, was wir tun, letztlich, da unsere körperlichen und sprachlichen Anlagen nun einmal vorgegeben sind, einen Sinn und einen Namen hat – selbst wenn
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wir zunächst nicht wissen, welchen. Die Ideen sind keine zweite Positivität mehr, keine zweite Welt, die ihre Reichtümer unter einer zweiten Sonne zur Schau stellen würde. Indem wir die Welt oder das ›vertikale‹ Sein wiederfinden, jenes Sein, das aufrecht vor meinem aufrechten Leib steht und in dem die Anderen enthalten sind, erfahren wir eine Dimension, in der auch die Ideen ihre wahre Solidität erhalten. Sie sind die geheimen Achsen oder, wie Stendhal sagte, das ›Pfahlwerk‹ unserer Worte, die Zentren unserer Gravitation, dieser genau definierte Hohlraum, über dem das Gewölbe der Sprache konstruiert wird und der gegenwärtig nur im Gewicht und im Gegengewicht der Steine existiert. Aber sind denn die sichtbaren Dinge und die sichtbare Welt anders beschaffen? Sie liegen immer hinter dem, was ich von ihnen sehen kann, am Horizont, und was man Sichtbarkeit nennt, ist diese Transzendenz selbst. Jede Sache, jede Seite einer Sache zeigt sich nur, indem sie aktiv alle anderen verbirgt, indem sie sie im Akt ihrer Maskierung verrät. Sehen heißt, prinzipiell mehr zu sehen als man sieht, heißt Zugang zu einem latenten Sein zu haben. Das Unsichtbare ist das Relief und die Tiefe des Sichtbaren, und das Sichtbare weist ihm gegenüber kein größeres Maß an reiner Positivität auf. Was die Quelle der Gedanken selbst angeht, so wissen wir nun, daß wir nach ihr unter den Aussagen und insbesondere unter der berühmten Äußerung von Descartes suchen müssen, wenn wir sie finden wollen. Die logische Wahrheit – die lautet, daß ›man sein muß, um zu denken‹ – und ihre Bedeutung als Aussage üben prinzipiell Verrat an dieser Äußerung, denn sie beziehen sich gerade in dem Augenblick auf einen Gegenstand des Denkens, in dem man Zugang zu dem finden müßte, der denkt, und zu seinem natürlichen Zusammenhalt, auf den das Sein der Dinge und das Sein der Ideen antworten. Descartes’ Ausspruch ist die Geste, die in jedem von uns dieses Denken aufzeigt, das daran denkt zu entdecken, das ›Sesam öffne dich‹ des fundamentalen Denkens. Fundamental, weil es durch nichts transportiert wird. Aber nicht in dem Sinne fundamental, als könne man mit ihm einen Grund berühren, auf dem man sich einrichten und verharren müßte. Es ist von seiner
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Anlage her grundlos und, wenn man so will, ein Abgrund; dies bedeutet, daß es niemals bei sich selbst ist, daß wir es in der Nähe oder im Ausgang von den gedachten Dingen finden und daß es eine Öffnung ist, der andere unsichtbare Endpunkt der Achse, die uns an die Dinge und die Ideen bindet. Muß man sagen, daß dieser äußerste Endpunkt nichts ist? Wenn er ›nichts‹ wäre, dann würden die Unterschiede von nah und fern, würde das Relief des Seins vor ihm verschwinden. Dimensionalität und Öffnung hätten keinen Sinn mehr. Das absolut Offene würde vollständig in einem unbegrenzten Sein aufgehen, und mangels einer anderen Dimension, von der es sich unterscheiden könnte, würde das, was wir die ›Vertikalität‹ nennen – die Gegenwärtigkeit –, nichts mehr bedeuten. Eher als vom Sein und vom Nichts müßte man vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren reden und dabei wiederholen, daß sie sich nicht widersprechen. Man spricht vom Unsichtbaren so, wie man vom Unbeweglichen spricht: nicht im Hinblick auf das, was der Bewegung fremd ist, sondern im Hinblick auf das, was in ihr als Unbewegliches fortdauert. Dies ist der Ausgangspunkt oder der Nullpunkt der Sichtbarkeit, die Öffnung einer Dimension des Sichtbaren. Mit einem Nullpunkt in jeder Hinsicht und mit einem uneingeschränkten Sein muß man sich nicht befassen. Wenn ich vom Nichts rede, gibt es schon das Sein, dieses Nichts vernichtet also nicht ernsthaft, und dieses Sein ist ohne Frage nicht mit sich identisch. Auf gewisse Weise liegt der Gipfel der Philosophie vielleicht nur darin, wieder zu diesen Binsenweisheiten zurückzufinden: Das Denken denkt, das Sprechen spricht, der Blick blickt – aber zwischen diesen beiden identischen Wörtern liegt jedes Mal der ganze Sinnabstand, den man überbrücken muß, um zu denken, zu sprechen und zu sehen. Die Philosophie, die diesen Chiasmus des Sichtbaren und des Unsichtbaren enthüllt, ist das genaue Gegenteil einer Überblicksphilosophie. Sie vertieft sich in das sinnlich Wahrnehmbare, die Zeit und die Geschichte, sie beschäftigt sich eingehend mit ihren jeweiligen Verfugungen und geht nicht mittels nur ihr eigener Kräfte über sie hinaus, sie überholt sie nur in ihrem je eigenen
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Sinne. Man hat vor kurzem den Ausspruch Montaignes wieder in Erinnerung gerufen, daß »jede Bewegung uns entdeckt«, und man hat zu Recht daraus geschlossen, daß der Mensch nur in Bewegung sein kann.6 Ebenso hat die Welt und hat das Sein nur in der Bewegung Bestand, und allein auf diese Weise können alle Dinge gemeinsam sein. Die Philosophie ist die Erinnerung an dieses Sein, mit dem sich die Wissenschaft nicht beschäftigt, weil sie die Beziehungen des Seins und des Bewußtseins wie die des Geometrals und seiner Projektionen auffaßt und dabei das Sein der Verwicklungen vergißt, das man die Topologie des Seins nennen könnte. Diese Philosophie aber, die unter der Wissenschaft forscht, ist andererseits nicht ›tiefer‹ als die Leidenschaften, die Politik und das Leben. Es gibt nichts Tieferes als die Erfahrung, welche die Mauer des Lebens durchbricht. Marivaux schrieb noch: »Unser Leben ist uns weniger teuer als wir, als unsere Leidenschaften es sind. Sieht man zuweilen, was hierbei in unserem Instinkt vorgeht, so könnte man meinen, es sei nicht notwendig zu leben, um zu sein, und es sei reiner Zufall, daß wir leben, wohingegen es ganz natürlich sei, daß wir sind.« Jene, die mit Leidenschaft und Verlangen bis zu diesem Sein vordringen, wissen alles, was es zu wissen gibt. Die Philosophie versteht sie nur in dem Maße, in dem sie ihre Leidenschaften und ihr Verlangen versteht, es ist ihre Erfahrung, aus der sie das Sein verstehen lernt. Die Welt liegt ihr nicht zu Füßen, sie ist kein ›höherer Standpunkt‹, von dem aus man alle lokalen Ansichten überblikken könnte, sie sucht vielmehr die Berührung mit dem rohen Sein und erwirbt ihre Kenntnisse ebensogut bei jenen, die sich von ihm nie entfernt haben. Während die Literatur, die Kunst und die Praxis des Lebens, die mit den Dingen selbst einhergeht, während die sinnliche Wahrnehmung und die Lebewesen selbst, außer an ihren äußersten Grenzen, einfach die Illusion wecken und wahren können, im Gewohnten und Bestehenden zu verharren, läßt uns die Philosophie, die ohne Farben, in schwarz und weiß, wie ein Kupferstich malt, die Fremdheit der Welt 6
Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, N.R.F., Februar 1960.
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nicht verkennen, der die Menschen ebensogut und besser als sie die Stirn bieten, jedoch gleichsam wie zur Hälfte in Schweigen gehüllt. * So ist in jedem Fall die Philosophie beschaffen, von der man hier einige Versuche finden wird. Nicht sie ist es, wie man sehen wird, die man zur Debatte stellen müßte, wenn man zur Ansicht gelangt, daß wir in der Politik ein wenig zu hochtrabend, ein wenig zu klug daherreden. Die Wahrheit ist vielleicht einfach, daß man mehrere Leben haben müßte, um in jeden Erfahrungsbereich mit der ganzen Hingabe, die er verlangt, Eintritt zu finden. Aber ist dieser Ton wirklich so falsch, so wenig empfehlenswert? Alles, was man erdacht und wohldurchdacht glaubte – die Freiheit und die Machtverhältnisse, den Staatsbürger gegenüber der Staatsgewalt, den Heroismus des Staatsbürgers, den liberalen Humanismus – die formale Demokratie und die reale, die sich über sie hinwegsetzt und sie verwirklicht, den revolutionären Heroismus und Humanismus – all dies liegt in Trümmern. Angesichts dieser Lage werden wir von Skrupeln erfaßt, wir werfen uns vor, zu nüchtern darüber zu reden. Aber Vorsicht. Was wir Unordnung und Trümmer nennen, erleben andere, jüngere als natürlich, und vielleicht werden sie in ihrer Unbefangenheit Herr der Lage sein, gerade weil sie nicht mehr dort ihre Bezugspunkte suchen, wo wir sie noch fanden. Im Getöse des Niederreißens verschwinden auch viele verdrießliche Leidenschaften, viele Scheinheiligkeiten oder Verrücktheiten und viele falsche Dilemmata. Wer hätte dies vor zehn Jahren zu hoffen gewagt? Vielleicht befinden wir uns an einem dieser Punkte, in dem die Geschichte über uns hinweggeht. Wir sind betäubt von den französischen Ereignissen oder den lautstarken Episoden auf diplomatischer Ebene. Aber unter all dem Lärm bildet sich ein Schweigen heraus, eine Erwartung. Warum sollte es nicht sogar eine Hoffnung sein? Man zögert, diese Worte in dem Moment niederzuschreiben, in dem Sartre, mit einer schönen Erinnerung an unsere Jugend, zum ersten Mal einen Ton der Verzweiflung und der Revolte an-
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schlägt.7 Diese Revolte ist aber keine Nörgelei, keine Beschuldigung der Welt und der Anderen, keine Absolution seiner selbst. Sie dient nicht dem reinen Selbstzweck, sondern verfügt über das ganze Wissen um ihre Grenzen. Es handelt sich eher um eine Revolte der Reflexion. Genauer gesagt: Es ist das Bedauern, nicht mit der Revolte begonnen zu haben, es ist ein ›Ich hätte gemußt‹, das nicht kategorisch sein kann, nicht einmal rückblickend, denn heute wie einst weiß Sartre sehr wohl, was er bei Nizan auch perfekt nachweisen kann, daß die Revolte im Verlauf der Revolution weder sie selbst bleiben noch vollendet werden kann. Er liebäugelt folglich mit der Idee von einer revoltierenden Jugend, und dies ist ein Trugbild, nicht nur deshalb, weil es nicht mehr zeitgemäß ist, sondern weil seine frühreife Verstandesschärfe im Vergleich zu den hitzigen Irrtümern der Anderen kein so schlechtes Bild abgibt: Man mag zweifeln, ob Sartre diese Verstandesschärfe, wenn er noch im Alter der Illusionen wäre, gegen die Illusionen des zornigen Aufbegehrens eintauschen würde. Sie war nicht, wie er zu verstehen gibt, ein natürliches Bedürfnis, sondern bereits dieselbe Schärfe, dieselbe Ungeduld angesichts der mit sich selbst eingegangenen Kompromisse und der zweideutigen Haltungen, dieselbe Schamhaftigkeit und dasselbe Desinteresse, die ihn davor bewahrt haben, rücksichtslos er selbst zu sein und ihn gerade zu jener erhabenen Kritik seiner selbst bewegt haben, die man soeben lesen konnte. Dieses Vorwort zu Aden Arabie ist der Tadel des gereiften Sartre gegenüber dem jungen, der sich, wie alle jungen Leute, nicht darum kümmert und dort unten, in unserer Vergangenheit, ausharrt – mehr noch: Der beim Umblättern einer Seite wiedergeboren wird, der seinen Richter vereinnahmt und durch seinen Mund spricht, und dies auf so unerschütterliche Weise, daß man ihn kaum für derart überholt, derart verdammungswürdig halten mag und daß man sich folgerichtig fragt, ob es nicht doch, wie es alles in allem doch wahrscheinlich ist, nur einen einzigen Sartre gibt. Den jungen Lesern sei nicht angeraten, allzuschnell zu glauben, daß Sartre sein Leben verfehlt 7
Vorwort zu Aden Arabie, F. Maspéro édit.
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hat, weil er die Revolte verpaßt hat – und daß ihnen folglich, wenn sie davon genug haben, rund vierzig, vielleicht auch fünfzig untadelige Jahre versprochen sind. In dieser zwischen Sartre und Sartre ausgetragenen Debatte über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Anderen hinweg, in dieser auf die Offenbarung einer Wahrheit abzielenden, ernsthaften Konfrontation des zwanzigjährigen Sartre, des Sartre der Libération und der nicht so weit zurückliegenden Jahre, und all dieser Personen mit dem zwanzigjährigen Nizan, dem kommunistischen Nizan und dem vom September 1939, und all dieser Leute mit den angry young men von heute, dürfte man nicht vergessen, daß das Szenario von Sartre stammt, daß seine immerwährende Regel, da dieses Szenario seine Freiheit ist, darin besteht, sich selbst jene Entschuldigungen zu verweigern, mit denen er die Anderen überhäuft, daß sein einziges Unrecht, wenn es denn eines ist, darin besteht, die Diskriminierung festzuschreiben, daß wir unsererseits in jedem Fall zu weit gehen, wenn wir uns auf sie verlassen, daß wir also unsere Ziele korrigieren und die Bilanz neu ziehen müssen, oder aber seine verfluchte Verstandesschärfe liefert uns, indem sie die labyrinthisch verschlungenen Wege der Revolte und der Revolution erhellt, gegen seinen Willen alle notwendigen Argumente, um ihn freizusprechen. Dieser Text ist kein Spiegel, der auf Sartres Weg gerichtet ist, er ist eine Handlung des heutigen Sartre. Wir, die wir lesen und uns erinnern, können nicht so leicht den Schuldigen von seinem Richter trennen, wir entdecken bei ihnen familiäre Züge. Nein, der zwanzigjährige Sartre war desjenigen nicht so unwürdig, der ihn jetzt zu desavouieren sucht; und sein heutiger Richter gleicht ihm noch in der Strenge seines Richterspruchs. Als Anstrengung eines Experiments, sich zu verstehen, als Interpretation seiner selbst und Deutung aller Dinge durch sich selbst ist dieser Text nicht geschrieben, um passiv gelesen zu werden, wie eine Feststellung oder eine Bestandsaufnahme, sondern um entziffert, durchdacht und erneut gelesen zu werden. Er hat – dies ist das Schicksal jeder guten Literatur – mit Sicherheit einen vielfältigeren, vielleicht auch einen anderen Sinn als den, den der Autor hineingelegt hat.
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Man müßte bei Gelegenheit einmal, dreißig Jahre danach, diese außergewöhnliche Wiederentdeckung des verlorenen Anderen analysieren, und wieviel an ihr der Phantasie entspringt, nicht etwa deswegen, weil Nizan unter dem äußeren Anschein von Eleganz und der größten Talente nicht auch der rechtschaffene, mutige und seinen Begabungen treue Mann gewesen wäre, den Sartre beschrieben hat – sondern weil der Sartre von einst nicht weniger Realität oder Gewicht in unserer Erinnerung besitzt. Ich wiederholte vor ihm immer wieder, sagt er, daß wir frei sind, und das dünne Lächeln aus dem Mundwinkel, das er mir zur einzigen Antwort gab, sagte mehr über diese Freiheit als all meine Reden. Ich wollte weder das physische Gewicht meiner Ketten spüren noch die äußeren Ursachen kennen, die mein wahres Sein vor mir verbergen und mich an den ehrenhaften Punkt der Freiheit binden. Ich sah nichts, das sie hätte erschüttern oder bedrohen können, ich gab der irrsinnigen Vorstellung nach, unsterblich zu sein, ich fand weder im Tod noch in der Angst etwas, das man hätte denken können. In mir spürte ich nichts, das Gefahr gelaufen wäre, abhanden zu kommen, ich war gerettet, ich war auserwählt. Tatsächlich war ich ein denkendes oder schreibendes Subjekt, ich lebte außer mir, und der Geist, in dem ich wohnte, war nur die abstrakte Bedingung meines Daseins als Zögling des Prytaneums. Da ich meine Bedürfnisse und meine Ketten nicht beachten wollte, konnte ich sie auch nicht bei den Anderen beachten, was bedeutet, daß ich die Arbeit ihres Lebens unbeachtet ließ. Wenn ich Leiden oder Angst zu sehen bekam, schrieb ich sie der Selbstgefälligkeit oder sogar der Geltungssucht zu. Die Gehässigkeit, die Panik, der Widerwille gegen Freundschaften und Liebesbeziehungen, die vorgefaßte Meinung, mißfallen zu wollen, mit einem Wort: alles Negative, ließ sich nicht ernstlich leben: Dies waren nur gewählte Haltungen. Ich glaubte, daß Nizan beschlossen hatte, ein perfekter Kommunist zu sein. Da ich außerhalb jedes Kampfes stand, insbesondere der Politik (und als ich in sie eintrat, war es nur, um meinen Anstand sowie meinen konstruktiven und versöhnlichen Humor einzubringen),
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habe ich nicht im geringsten die Anstrengung verstanden, die Nizan auf sich nehmen mußte, um seine Kindheit hinter sich zu lassen, ebensowenig wie ich seine Einsamkeit und seine Suche nach dem Heil verstehen konnte. Sein Haß auf so vieles entsprang seinem Leben, er war reines Gold, während meine Abneigungen Kopfgeburten waren, Falschgeld … In einem einzigen Punkt geben wir Sartre Recht. Es ist in der Tat verblüffend, daß er bei Nizan nicht sehen konnte, was sofort ins Auge sprang: das Nachdenken über den Tod und die Hinfälligkeit unter all der nach außen vorgetragenen Mäßigung, der Ironie und der Beherrschung. Das bedeutet, daß es wohl zwei Arten gibt, jung zu sein, und daß sie einander nicht ohne weiteres verstehen: Manche sind fasziniert von ihrer Kindheit, sie hat von ihnen Besitz ergriffen und bewahrt sie in der Verzückung einer Ordnung privilegierter Möglichkeiten. Andere werden von ihr in das erwachsene Leben zurückgeworfen, sie glauben, ihre Vergangenheit losgeworden und ebenso nah an allen Möglichkeiten zu sein. Sartre war von der zweiten Sorte. Es war nicht leicht, sein Freund zu sein. Der Abstand, den er zwischen sich und seine Grundideen legte, trennte ihn auch von dem, was die Anderen durchleben mußten. Nicht mehr als sich selbst erlaubte er ihnen, zu ›nehmen‹ – in seinen Augen ihr Unbehagen oder ihre Angst zu sein, wie sie es sonst nur heimlich, verschämt, bei sich waren. Im Hinblick auf sich selbst und auf die Anderen mußte er lernen, daß niemand ohne Wurzeln ist und daß die vorgefaßte Meinung, keine Wurzeln zu haben, nur eine andere Art ist, sie einzugestehen. Die Anderen aber, die ihre Kindheit fortsetzten oder die sie zu bewahren suchten, als sie sie hinter sich ließen, und die insofern nur ein Heilsversprechen suchten, muß man von ihnen sagen, daß sie ihm gegenüber Recht hatten? Sie mußten ihrerseits lernen, daß man nicht hinter sich läßt, was man bewahrt, daß ihnen nichts die Totalität wiedergeben kann, nach der sie sich in ihrer Nostalgie sehnten, und daß sie in ihrem Beharren bald nur noch die Wahl haben würden, Dummköpfe oder Lügner zu sein. Sartre hat sie bei ihrer Suche nicht begleitet. Konnte sie jedoch
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überhaupt öffentlich sein? Bedurfte sie nicht, von Kompromiß zu Kompromiß, des Dämmerlichts? Und dies wußten sie sehr wohl. Von daher rührten zwischen Sartre und ihnen die ebenso engen wie distanzierten Beziehungen des Humors. Sartre wirft sie sich heute vor: Aber hätten sie eine andere Art der Beziehung zugelassen? Sagen wir höchstens, daß die Zurückhaltung und die Ironie ansteckend sind. Sartre hat Nizan nicht verstanden, er hat den Leidenden nur als Dandy sehen können. Es bedurfte seiner Bücher, seines weiteren Lebens und, bei Sartre, zwanzig Jahre der Erfahrung nach seinem Tod, damit Nizan endlich verstanden wurde. Aber wollte Nizan, daß man ihn versteht? Ist sein Leiden, von dem Sartre heute spricht, nicht die Sorte von Geständnis, die man lieber vor dem Leser als vor sonst jemandem ablegt? Hätte Nizan jemals zwischen sich und Sartre diesen vertraulichen Ton toleriert? Sartre weiß dies besser als wir. Steuern wir dennoch einige unbedeutende Fakten dazu bei. Eines Tages, als wir uns auf die Lehrerausbildung der École Normale vorbereiteten, sahen wir einen der Ehemaligen, der hierher zurückkehrte, um irgendeinen Besuch abzustatten, mit der Aura der Erwählten unsere Klasse betreten. Er war prächtig in dunkles Blau gekleidet und trug die dreifarbige Kokarde des Valois. Man sagte mir, es sei Nizan. In seiner Kleidung und in seinem Gang deutete nichts auf die Mühsal der Vorbereitungsklasse oder der École Normale hin, und da unser Lehrer, der im Gegensatz zu ihm immer nach mühsamer Arbeit aussah, Nizan lächelnd vorschlug, doch wieder unter uns Platz zu nehmen, sagte er mit eisiger Stimme ›Warum nicht?› und setzte sich flink auf den freien Platz neben mir, um sich mit unerschütterlicher Miene in meinen Sophokles zu vertiefen, als sei dies an diesem Vormittag tatsächlich sein einziges Ziel gewesen. Als er aus Aden zurückkehrte, fand ich in meiner Post die Karte von Paul-Yves Nizan, der den Rekruten Merleau-Ponty, dessen Cousin er dort unten gut gekannt hatte, an einem der nächsten Tage zu einem Besuch in die Bude einlud, die er mit Sartre teilte. Die Begegnung entsprach dem Protokoll. Der Platz von Sartre war nackt und leer. Nizan dagegen hatte an der Wand zwei unter einer Fechtmaske
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gekreuzte Florette aufgehängt, und vor diesem Hintergrund zeichnete sich das Bild desjenigen ab, von dem ich wenig später erfuhr, daß er in Arabien beinahe Selbstmord begangen hätte. Sehr viel später traf ich ihn an der Haltestelle der Buslinie S wieder, verheiratet, kämpferisch und an jenem Tag mit einer schweren Aktentasche unter dem Arm und, ungewöhnlich, einem Hut auf dem Kopf. Er kam von sich aus auf Heidegger zu sprechen, brachte seine Wertschätzung in einigen Sätzen zum Ausdruck, in denen er nach meinem Gespür hervorzuheben wünschte, daß er sich nicht ganz von der Philosophie verabschiedet habe, aber dies klang so kühl, daß ich nicht gewagt hätte, ihm die Frage offen zu stellen. Ich erinnere mich gern an diese unbedeutenden Fakten: Sie beweisen nichts, aber sie kommen mitten aus dem Leben. Sie lassen erahnen, daß sich Nizan seinerseits, wenngleich Sartre nicht aus nächster Nähe die Arbeit verfolgte, die sich in Nizan vollzog, mit Humor, Zurückhaltung und Höflichkeit mehr als nur zur Hälfte ins Spiel einbrachte. Es wurde bereits erwähnt, daß Sartre ihn erst dreißig Jahre später verstehen würde, weil es Sartre war, aber auch, weil es Nizan war. Und vor allem, weil beide jung waren, das heißt keinen Widerspruch duldend und schüchtern. Und schließlich vielleicht aus einem letzten und schwerwiegenderen Grund. Existierte der Nizan, den Sartre sich vorwirft, verkannt zu haben, tatsächlich schon im Jahr 1928 – vor der Familie, den Büchern, dem Leben als Aktivist, dem Bruch mit der Partei und vor allem dem Tod mit fünfunddreißig Jahren? Weil er mit diesen knapp fünfunddreißig Jahren eine Vollendung, eine Geschlossenheit und einen Stillstand erreicht hat, sind diese Jahre als Ganzes zwanzig Jahre hinter uns zurückgeblieben, und wir wollen nun, daß alles, was er hätte sein müssen, bereits an ihrem Anfang und in jedem ihrer Augenblicke gegeben war. Sein Leben ist fiebrig wie etwas, das eben erst beginnt, aber auch solide wie etwas, das seine Vollendung gefunden hat; er bleibt für immer jung. Und weil uns auf der anderen Seite die Zeit gegeben war, mehr als einem Irrtum zu erliegen und ihn später einzusehen, verwischt dieses Hin und Her unsere Spuren, und unsere eigene Jugend ist
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für uns verbraucht, unbedeutend und nur das, was sie in ihrer unzugänglichen Wahrheit war. An ein anderes, allzu vorzeitig beendetes Leben lege ich den Maßstab der Hoffnung an. Mein eigenes, noch andauerndes Leben bemesse ich nach den strengen Maßstäben des Todes. Ein junger Mensch hat vieles unternommen, wenn er eine Möglichkeit gewesen ist. Bei einem gereiften Menschen, der immer noch da ist, will es uns scheinen, als hätte er nichts unternommen. Wie in den Dingen der Kindheit, so finde ich auch in dem verlorenen Kameraden die Fülle, sei es, weil der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich erst in der Erinnerung formt.8 Eine andere retrospektive Illusion, von der Bergson nicht gesprochen hat: nicht mehr die Illusion der Präexistenz, sondern die des Verfalls. Vielleicht entströmt die Zeit weder der Zukunft noch der Vergangenheit. Vielleicht ist es der Abstand, der für uns die Realität des Anderen, und insbesondere des verlorenen Anderen, ausmacht. Dieser Abstand würde uns aber rehabilitieren, wenn wir ihn uns selber gegenüber einnehmen könnten. Um einen Ausgleich zu finden zwischen dem, was Sartre heute über sich selbst und über den zwanzigjährigen Nizan schreibt, wird stets das fehlen, was der fünfzigjährige Nizan über ihre Jugend hätte sagen können. Für uns waren sie zwei Männer, die noch am Anfang standen und die dabei im genauen Gegensatz zueinander standen. Was Sartres Bericht seine Melancholie verleiht, ist der Umstand, daß man die beiden Freunde hier ganz allmählich lauter Dinge begreifen sieht, die sie von Anfang an hätten voneinander lernen können. Vom Bild seines Vaters in Beschlag genommen, von jenem Drama besessen, das älter als er selbst ist und das einen Arbeiter zeigt, der sich von der eigenen Klasse gelöst hat und der bemerkt, daß sein Leben von diesem Moment an unwirklich und verfehlt war, und dessen Leben im Haß auf sich selbst endet, wußte Nizan ohne weiteres um das Gewicht der Kindheit, des Körpers, des Sozialen, und er wußte, daß die Bezüge zur Kindheit und die Bezüge zur Geschichte ineinander verwoben und ein und 8
Swann, I, S. 265.
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dieselbe Beklemmung sind. Er hätte der Faszination kein Ende gesetzt, er hätte sie vielleicht ins Negative gekehrt, wenn er sich einfach nur für die Hochzeit und die Familie entschieden hätte und wenn er die Rolle des Vaters für sich wiederentdeckt hätte. Wenn er in den Kreislauf des Lebens zurückkehren wollte, aus dem das Leben seines Vaters ihn vertrieben hatte, mußte er die Quelle reinigen, mit jener Gesellschaft brechen, die ihrer aller Einsamkeit hervorgebracht hatte, niederreißen, was sein Vater aufgebaut hatte, und seinen Weg in entgegengesetzter Richtung wieder aufnehmen. In dem Maße, in dem die Jahre vergehen, mehren sich die Vorzeichen und nähert sich die Evidenz. Die Flucht nach Aden ist der letzte Versuch, im Abenteuer eine Lösung zu finden. Sie wäre nur eine Ablenkung gewesen, wenn Nizan nicht – zufällig, oder weil er insgeheim gerade jene Lektion suchte – in der Kolonialherrschaft das genaue Abbild unserer Abhängigkeit von einem Äußeren gefunden hätte. So aber hat unser Leiden äußere Ursachen, sie sind identifizierbar, sie haben einen Namen, man kann sie beseitigen. So gibt es einen äußeren Feind, gegen den wir nichts ausrichten können, wenn wir allein bleiben. So ist das Leben zugleich Krieg und gesellschaftlicher Krieg. Nizan wußte bereits, was Sartre erst sehr viel später geäußert hat: daß am Anfang nicht das Spiel steht, sondern das Bedürfnis, daß wir nicht die Herren der Welt sind, auch nicht Herr der Lage oder Herr über Andere, die unter unserem Blick wie ein Schauspiel erschienen, daß wir vielmehr mit ihnen verschmolzen sind, daß wir sie mit all unseren Poren aufsaugen, daß wir das sind, was sonst überall fehlt, und daß durch uns, mit unserem zentralen Nichtsein, ein allgemeines Prinzip der Entfremdung gegeben ist. Nizan ist all dem in diesem alles umfassenden Gefühl der Tragik, in diesem Kommen und Gehen der Angst, das den wechselhaften Gezeiten der Geschichte entspricht, sehr vital vorangeschritten. Gerade aus diesem Grund aber, und da er selbst dieses tragische Lebensgefühl nicht teilte, hat Sartre sehr viel früher die Kunstgriffe der Rettung und der Rückkehr zum Positiven verstanden. Er war, genau genommen, kein Optimist: Er hat das Gute und das Sein niemals gleichgesetzt. Noch weniger war er gerettet
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oder auserwählt. Er war kraftvoll, heiter und unternehmungslustig, vor ihm waren alle Dinge neu und interessant. Genauer gesagt, er war ein Supralapsarier, jenseits von Tragik und Hoffnung, und insofern gut gerüstet, um die verborgenen Knoten zu lösen. Nizans Erfahrung in den zehn Jahren vor dem Krieg ist eine Bestätigung seiner Vorahnungen, und wenn er sie heute wiedergibt – wenn er sie gründlich und brüderlich mit in seine Abrechnung aufnimmt –, so kann er nur wieder genau auf das verweisen, was er uns gegenüber seitdem zum Thema Bekehrungen bemerkt hat. Mal erklärt man, Christ zu sein, mal Kommunist. Was genau will man damit sagen? Man hat sich nicht von einem Augenblick auf den anderen komplett gewandelt. Vielmehr ist es einfach so, daß der Mensch, sobald er für sein Schicksal eine äußere Ursache verantwortlich macht, plötzlich die Erlaubnis und sogar den Auftrag erhält – wie es, wenn ich mich recht erinnere, Maritain formuliert hat –, im innigsten Glauben an sein naturgegebenes Leben zu leben. Es ist weder notwendig noch möglich, dem Haß, der ihn erfüllte, ein Ende zu bereiten: Er ist von nun an »sanktioniert«9. Die Qualen seiner Zerrissenheit sind nun die Stigmata, mit denen ihn eine unermeßliche Wahrheit zeichnet. Das Böse, an dem er zugrunde geht, hilft ihm nun, wie den Anderen, zu leben. Es wird ihm nicht abverlangt, auf seine Talente, so er sie denn besitzt, zu verzichten. Im Gegenteil, man befreit ihn, indem man die Beklemmung löst, die ihm die Kehle zuschnürte. Leben, glücklich sein, schreiben hieß, in den Schlaf einzuwilligen, und dies war verdächtig und niederträchtig. Nun heißt es, der Sünde wieder das zu nehmen, was sie sich widerrechtlich angeeignet hatte, oder, wie Lenin sagte, der Bourgeoisie zu stehlen, was sie gestohlen hat. Der Kommunismus sieht aus dieser Perspektive einen anderen Menschen, eine andere Gesellschaft voraus. Im Augenblick und in der ganzen langen, sogenannten negativen Phase, ist es jedoch der Staatsapparat, der sich gegen den bürgerlichen Staat richtet. Es sind die Mittel des Bösen, die er gegen das Böse richtet. Von nun an hat jedes Ding zwei Seiten, je nachdem, 9
Vorwort zu Aden Arabie, S. 51.
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ob man es in seinem schlechten Ursprung betrachtet oder in der Perspektive jener Zukunft, die es heraufbeschwört. Der Marxist ist der Bedauernswerte, der er war – er ist zugleich auch diese bedauernswerte Lage, die wieder in die Totalität eingeordnet und anhand ihrer Ursachen erkannt wird. Als Schriftsteller der ›Demoralisierung‹ setzt er die bürgerliche Dekadenz fort; aber selbst darin wird er zum Zeugen und geht über sie hinaus, einer anderen Zukunft entgegen. Der kommunistische Nizan »sah die Welt und sich in ihr«10. Er war zugleich Subjekt und Objekt. Als Objekt ging er mit seiner Zeit unter, als Subjekt war er mit der Zukunft gerettet. Dieses Leben als doppeltes Spiel ist gleichwohl nur ein einziges Leben. Der marxistische Mensch ist ein Produkt der Geschichte, und gleichzeitig nimmt er auch von innen heraus an der Geschichte teil, die eine andere Gesellschaft und einen anderen Menschen hervorbringt. Wie ist das möglich? Als endliches Wesen müßte er wieder in die unendliche Produktivität eingegliedert werden. Aus diesem Grunde waren viele Marxisten versucht, auf den Spinozismus zurückzugreifen, und Nizan zählte auch zu ihnen. Wie er hat auch Sartre Spinoza geliebt, sich aber gegen das Transzendente und gegen jede Versöhnung ausgesprochen, und er erkannte bald schon bei Spinoza das Äquivalent ihrer eigenen Kunstgriffe, »die affirmative Fülle des endlichen Modus, der damit seine Schranken zerbricht und zur unendlichen Substanz zurückkehrt«11. Alles in allem betrachtet, ist Spinoza stets darum bemüht, die eigentliche Tugend und die Arbeit des Negativen zu verschleiern, und der spinozistische Marxismus ist lediglich eine betrügerische Art, uns schon in diesem Leben eine Rückkehr zum Positiven zuzusichern. Das Bekenntnis zu einer unendlichen Positivität ist ein Pseudonym der nackten Angst, der Anmaßung, das Negative durchschritten und das andere Ufer erreicht zu haben, den Tod ausgeschöpft, totalisiert, verinnerlicht zu haben. »Wir haben nicht einmal das, wir können nicht einmal unmittelbar mit unserem Nichtsein in Verbindung 10 11
Ebd., S. 48. Ebd., S. 55.
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treten«12. Diese philosophische Formulierung hat Sartre viel später gefunden. Aber er hat mit fünfundzwanzig schon gespürt, daß List und Fälschung im Spiel sind, wenn der heilsuchende Mensch sich selbst von der Rechnung nimmt. Nizan wollte nicht mehr an sich denken und hat dies auch erreicht, er richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf die Verkettung der Ursachen. Aber immer noch ist er der Verneiner, der Unersetzliche, der sich in den Dingen bricht.13 Die wahre Negativität kann nicht aus zwei miteinander verknüpften Positivitäten bestehen: meinem Dasein als Produkt des Kapitalismus und der über mich hinausgehenden Bejahung einer anderen Zukunft. Denn es gibt eine Rivalität zwischen ihnen, und nur eine von beiden kann den Sieg davontragen. Es sei denn, die Revolte, die zu einem Konstruktionsmittel und zu einer professionellen Angelegenheit geworden ist, wird nicht mehr empfunden, nicht mehr gelebt. Der marxistische Mensch wird durch die Doktrin und durch die Bewegung gerettet, er versteht sich auf sein Metier – seinen einstigen Kriterien zufolge ist er verloren. Es sei denn, und dies ist, was den Besten geschieht, er vergißt nicht und belügt sich nicht selbst, seine Weisheit geht in jedem Augenblick wieder aus seinem Leiden hervor und sein Glauben liegt allein in seiner Ungläubigkeit, ohne daß er dies jedoch zum Ausdruck bringen könnte, und es sind daher die Andern, die er belügen muß. Auf diesen Umstand ist der Eindruck zurückzuführen, den so viele Gespräche mit den Kommunisten bei uns hinterlassen: der Eindruck eines so objektiv wie möglich gehaltenen, aber in größter Beklemmung vollzogenen Denkens und eines unter der harten Schale liegenden weichen Kerns, einer verborgenen Humidität. Sartre hat immer gewußt, immer gesagt, und gerade dies hat ihn davon abgebracht, Kommunist zu sein, daß die kommunistische Negation, indem sie nur eine umgekehrte Positivität ist, etwas anderes ist als sie behauptet, oder daß sie zwei Dinge behauptet, daß sie eine Bauchrednerin ist. 12 13
Ebd., S. 41. Ebd., S. 55.
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Da er die Ausflüchte des ›negativen Menschen‹ so gut sieht, könnte man darüber erstaunt sein, daß er über die streng kritische Phase vor 1930 manchmal mit einem Hauch von Nostalgie spricht: Genau wie in ihrer ›konstruktiven‹ Phase betrieb die Revolution damals schon ihre Falschmünzerei. Nur daß Sartre sich später, nach einiger Überlegung, mit ihr als einem kleineren Übel abgefunden hat. Nie hat er einfach nur die Positionen wieder eingenommen, die Nizan vor dreißig Jahren besetzte. Er legitimiert sie auf vielschichtige Weise, aus Gründen, die er für sich behält, im Namen einer Erfahrung, die ihn zum Engagement bewegt hat, ohne seine Vorstellung vom Heil zu verändern. Diese Legitimierungen aber, die 1939 einsetzen, sollten wir noch einmal nachzeichnen. Im Jahr 1939 wird Nizan plötzlich entdecken, daß man nicht ganz so schnell gerettet ist, daß das Bekenntnis zum Kommunismus nicht von allen Zwangslagen und inneren Zerrissenheiten befreit – während Sartre, der dies bereits wußte, mit jener Lehrzeit des Positiven und der Geschichte begann, die ihn später zu einer Art Kommunismus von außen führen sollte. Auf diese Weise kreuzten sich ihre Wege. Nizan kehrte von der kommunistischen Politik zurück zur Revolte, und der unpolitische Sartre machte Bekanntschaft mit dem Sozialen. Man muß diesen schönen Bericht lesen. Man muß ihn über Sartres Schulter hinweg lesen, man muß seiner Feder im Moment des Schreibens folgen und sich dabei ganz in seine Reflexionen hineinziehen lassen, während man gleichzeitig unsere heutigen Reflexionen mit einbezieht. Nizan, so sagt er, hatte zugegeben, daß es den neuen Menschen, daß es die neue Gesellschaft noch nicht gebe, daß er selbst sie vielleicht gar nicht sehen würde, daß man sich auf diese unbekannte Zukunft einlassen müsse, ohne das Opfer abzuwägen, ohne zu geizen und ohne ständig die Mittel und Wege der Revolution anzufechten. Über die Moskauer Prozesse hatte er kein Wort verloren. Aber es kam eine andere, für ihn noch deutlichere Prüfung auf ihn zu. Als für die Außenpolitik zuständiger Mitarbeiter einer Parteizeitung hat er hundertmal erklärt,
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das sowjetische Bündnis würde sowohl den Faschismus als auch den Krieg von uns fernhalten. Er wiederholt dies auch noch im Juli 1939 in Marseille, wo ihn Sartre zufällig trifft. – An dieser Stelle sei eine kurze Anmerkung eingefügt: Nizan wußte, daß wir vielleicht nicht beides zugleich, den Faschismus und den Krieg, würden verhindern können, und er selbst hatte den Krieg innerlich bereits akzeptiert, wenn er denn das einzige Mittel wäre, den Faschismus aufzuhalten. Ich kann Belege für diese Behauptung anführen. Etwa drei Wochen nach seiner Begegnung mit Sartre traf ich Nizan meinerseits. Es war auf Korsika, in Porto, bei Casanova, wenn ich nicht irre. Er war fröhlich und strahlte, so wie Sartre ihn gesehen hatte. Aber – ob seine Freunde ihn auf die Wende vorbereiteten oder ob sie ihrerseits von höherer Stelle bearbeitet wurden, weiß ich nicht – er äußerte nicht mehr, der Faschismus wäre bis zum Herbst in die Knie gezwungen. Er sagte: Wir werden den Krieg gegen Deutschland erleben, aber in einem Bündnis mit der UdSSR, und letztendlich werden wir ihn gewinnen. Er sagte dies mit unerschütterlicher, heiterer Miene, ich höre noch seine Stimme, als wäre er endlich von sich selbst befreit worden … Vierzehn Tage später wurde der deutsch-russische Nichtangriffspakt geschlossen, und Nizan trat aus der kommunistischen Partei aus. Nicht, wie er erklärte, aufgrund des Paktes, der die westlichen Freunde Hitlers in ihrem Spiel besiegte. Aber die französische Partei hätte ihre Würde bewahren und Entrüstung vortäuschen müssen, sie hätte sich wenigstens zum Schein nicht solidarisch erklären dürfen. Nizan wurde bewußt, daß Kommunist sein nicht bedeutet, eine selbstgewählte Rolle zu spielen, sondern in einem Drama gefangen zu sein, in dem man, ohne es zu wissen, eine ganz andere Rolle bekommt. Es ist das Unternehmen eines ganzen Lebens, das sich im Glauben fortsetzt oder im Losreißen endet, das aber in jedem Fall über die vereinbarten Grenzen und die kopflastigen Versprechen hinausgeht. Wenn es so ist, und wenn es wahr ist, daß man im kommunistischen Leben wie im andern nie wirklich etwas unternimmt, wenn all die Jahre der Arbeit und der Aktion in einem Augenblick so ins Lächerliche gezo-
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gen werden können, dann, so denkt er, kann und will ich nicht mehr. Was aber denkt Sartre zur selben Zeit? Er hätte gern geglaubt, daß Nizan ihn getäuscht habe. Aber nein. Nizan erklärt seinen Rücktritt. Er ist derjenige, der getäuscht wurde. Sie sind zwei Kinder in der Welt der Politik. Einer ernsten Welt, in der man die Risiken nicht abschätzen kann und in der Frieden vielleicht nur denen gegeben ist, die den Krieg nicht fürchten. Man zeigt die eigene Stärke in seinen Handlungen nur dann, wenn man entschlossen ist, sie auch einzusetzen. Wenn man sie nur halbherzig zeigt, kommt es zum Krieg und zur Niederlage. »Ich entdeckte … den monumentalen Irrtum einer ganzen Generation …: Man trieb uns durch die blutdürstige Vorkriegszeit auf die Massaker zu, und wir glaubten, wir wandelten auf den Rasenteppichen des Friedens.«14 So ist bei ihm und bei Nizan die Enttäuschung unterschiedlicher Art, ebenso wie die daraus gezogene Lektion. Nizan hatte die Stärke, den Krieg und den Tod aus einem sehr deutlichen Grund akzeptiert; mit seinem Opfer wurde er zum Spielball des Geschehens; er fand nur noch bei sich selbst Asyl. Sartre, der an den Frieden geglaubt hatte, entdeckte ein namenloses Unglück, dem man sehr wohl Rechnung tragen mußte. Eine Lektion, die er nicht vergessen wird. Sie steht am Beginn seines politischen Pragmatismus. In einer verhexten Welt stellt sich nicht die Frage, wer Recht hat oder wer den ehrlichsten Weg einschlägt, sondern wer es mit dem Großen Betrüger aufnehmen kann, welche Tat nachgiebig, aber auch hart genug wäre, um ihn zur Vernunft zu bringen. Man versteht nun die Einwände, die Sartre heute gegen den Nizan von 1939 vorbringt, und auch, warum sie ihm gegenüber wirkungslos sind. Nizan, sagt er, war wütend. Aber läßt sich diese Wut nur auf eine Laune zurückführen? Sie ist vielmehr ein Modus der Erkenntnis, der nicht unpassend ist, wenn es um Grundsätzliches geht. Für denjenigen, der zum Kommunisten geworden ist und Tag für Tag in der Partei aktiv war, haben die gesagten und 14
Ebd. S. 57.
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getanen Dinge Gewicht, denn es ist auch er selbst, der sie gesagt und getan hat. Um die Wende von 1939 so aufzufassen, wie es von ihm verlangt wurde, hätte Nizan eine Marionette sein müssen, er hätte in seiner Persönlichkeit gebrochen werden müssen, denn er ist nicht Kommunist geworden, um den Skeptiker zu spielen. Oder aber er hätte nur Sympathisant sein dürfen. Die Partei steht jedoch nicht zur Debatte, fügt Sartre hinzu. Nicht durch die Partei kommt er zu Tode. »Das Massaker wurde von der Erde hervorgebracht und entstand überall.«15 Das glaube ich. Aber es bedeutet dennoch, daß man die Partei durch diesen Bezug als ein Faktum der Geschichte der Erde rechtfertigt. Für Nizan, der ihr angehört, geht es um alles oder nichts … »Ein unüberlegtes Vorgehen«, erwidert Sartre erneut. »Ich sage mir, daß die Résistance, hätte er sie erlebt, ihn wie so viele andere in Reih und Glied zurückgebracht hätte.«16 In Reih und Glied zurückgebracht, selbstverständlich. Aber auch in die Reihen der Partei? Das ist etwas ganz anderes. Es ist beinahe schon das genaue Gegenteil: eine autoritäre Funktion, ein Unterscheidungsmerkmal. Selbst politisch ausgesöhnt hätte er diese Episode doch nicht vergessen können. Der Kommunismus, von dem er sich verabschiedet hatte, war die sittsame Doktrin, die das Vaterland und die Familie mit in die Revolution aufnahm. Er hätte einen abenteuerlichen Kommunismus wiedergefunden, der die Rolle der Revolution auf dem Wege des Widerstandes zu spielen suchte, später dann den Part des Defätismus übernahm und nach dem Krieg, in einer Zeit des Abwartens, den Part der Rekonstruktion und des Kompromisses. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er auf diesen Zug aufspringen können, er, der an die Wahrheit des Marxismus geglaubt hatte? Er hätte es unter der Bedingung gekonnt, nicht jedes Mal Stellung bezogen zu haben. Es ist eine Sache, von außen oder nachträglich (was auf das Gleiche hinausläuft) mit den Bruchstücken in der Hand die Umwege des Kommunismus zu rechtfertigen, es ist aber eine andere Sache, die List 15 16
Ebd., S. 60. Ebd., S. 58.
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zu organisieren und der Betrüger zu sein. Ich erinnere mich, im Oktober 1939 aus Lothringen prophetische Briefe geschrieben zu haben, die auf machiavellistische Weise die Rollen unter der UdSSR und uns aufteilten. Aber ich hatte nicht Jahre damit verbracht, das sowjetische Bündnis zu predigen. Wie Sartre war auch ich parteilos: eine gute Position, um der strengsten aller Parteien heiteren Blickes Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wir hatten nicht Unrecht, aber Nizan war im Recht. Ein Kommunismus von außen hat den Kommunisten keine Lektionen zu erteilen. Indem er bald mehr, bald weniger zynisch ist als sie, dort revoltiert, wo sie zustimmen, sich mit dem abfindet, was sie ablehnen, zeigt er sein natürliches Unverständnis für das kommunistische Leben. Nizan ›verlernte‹, aber auch dies bedeutet zu lernen. Unter diesen Umständen wollen wir den Budapester Aufstand, sofern er auf diese bei Nizan sichtbaren Seinsgründe und die Gründe seines Daseins als Kommunist zurückzuführen ist, und unter der Voraussetzung, daß seine Revolte von 1939 ein Rückzug war, ebenso einen Rückzug nennen. Da der eine von der Angst, der andere von der Freude ausging, und der eine dem Glück, der andere der Tragödie entgegenlief, da beide sich dem Kommunismus annäherten, der eine von seiner klassischen Seite her, der andere von seiner Schattenseite, und da schließlich beide vom Geschehen zurückgeworfen wurden, sind sich Sartre und Nizan vielleicht nie näher gewesen als heute, wo ihre Erfahrungen in diesen tiefgründigen Seiten wechselseitig erhellt werden. Um jetzt schon sagen zu können, zu welchem Fazit all dies führen wird, müßte man den Faden einiger glänzender Bemerkungen weiterspinnen, zu denen sich Sartre in seiner Betrachtung hinreißen ließ. Was bei ihm nicht im geringsten beeinträchtigt wird, ist der Sinn für das Neue und die Freiheit: »Man findet die verlorene Freiheit nicht wieder, wenn man sie nicht erfindet; sich umdrehen verboten, und sei es auch nur, um unsere ›authentischen‹ Bedürfnisse abzuschätzen.«17 Wo sollte man aber gegenwärtig die Embleme und die Waffen dieser 17
Ebd., S. 44 f.
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wahren Negativität finden, jener Negativität, die sich nicht damit begnügt, dieselben Dinge mit anderen Namen zu versehen? Kann man von dem neuen Kurs oder den neuen Völkern das erwarten, was das Rußland der Oktobergeneration der Welt nicht gegeben hat? Können wir unseren Radikalismus verlagern? Es gibt aber in der Geschichte keinen reinen und einfachen Übertrag. Werden wir zu den jungen Leuten sagen: »Werdet Kubaner, werdet Russen oder Chinesen, wie ihr wollt, werdet Afrikaner? Sie werden uns antworten, daß es ein wenig spät sei, die Herkunft zu wechseln.«18 Was in China vielleicht klar zutage tritt, ist hier zumindest implizit und undeutlich vorhanden, die unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen greifen aber nicht ineinander. Wer würde die These wagen, daß China, selbst wenn es eines Tages die Macht dazu hätte, beispielsweise Ungarn oder Frankreich befreien würde? Und worin sollte im Frankreich des Jahres 1960 der Sinn der ungezähmten Freiheit bestehen? Einige junge Leute bewahren ihn in ihrem Leben, einige dieser wie Diogenes Auftretenden bewahren ihn in ihren Büchern. Wo ist dieser Sinn zu finden, der offenbar nicht einmal im öffentlichen Leben, sondern bei den Massen zu suchen ist? Die Freiheit und die Erfindung sind minoritär, sind Opposition. Der Mensch bleibt verborgen, sehr gut verborgen, und diesmal darf man sich nicht mißverstehen: Es bedeutet nicht, daß er unter einer Maske vorhanden wäre und bereit, sich zu zeigen. Die Entfremdung besteht nicht einfach nur darin, uns das zu nehmen, was uns durch ein natürliches Recht zugeeignet war, und um ihr ein Ende zu setzen, genügt es nicht, zu stehlen, was uns gestohlen wurde, uns zurückzugeben, was uns zusteht. Es ist viel bedenklicher: Hinter den Masken gibt es gar keine Gesichter, der historische Mensch ist nie Mensch gewesen, und dennoch ist kein Mensch allein … Man sieht also, in welcher Hinsicht, in welchem Sinne Sartre heute den Anspruch des jungen Nizan aufgreifen und den jungen Leuten in der Revolte offerieren kann: »Nizan sprach mit Bitterkeit von den Alten, die mit unseren Frauen schliefen und uns zu 18
Ebd., S. 17.
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kastrieren trachteten.«19 Nizan schrieb: »Solange die Menschen nicht vollkommen und frei sind, werden sie nachts träumen.«20 Sartre entgegnete, »daß es wahre Liebe gebe und daß wir daran gehindert würden, zu lieben; daß das Leben wahr sein könne, daß es einen wahren Tod hervorbringen könne, daß man uns aber umbringe, noch bevor wir geboren seien.«21 So sind auch unsere Schwestern, die Liebe und das Leben, wieder da, sogar unser Bruder, der leibliche Tod, der ebenso vielversprechend ist wie eine Geburt. Das Sein ist greifbar nahe, man muß es nur aus der Herrschaft der Greise und der Reichen befreien. Begehrt, seid unersättlich, »richtet euren Zorn gegen die, die ihn hervorgerufen haben, versucht nicht, eurem Unheil zu entwischen, findet seine Ursachen und zerschlagt sie.«22 Ach! Die Geschichte Nizans, die er im folgenden erzählt, zeigt nur zu gut, daß es nicht so einfach ist, die wahren Ursachen ausfindig zu machen – und der Ausdruck zerschlagt sie verweist gerade auf einen Krieg, in dem der Gegner ungreifbar ist. Der vollkommene Mensch, derjenige, der nicht träumt, der gut sterben kann, weil er gut lebt und der sein Leben lieben kann, weil er dem Tod ins Auge sieht, dies ist, wie der Mythos des Androgynen, das Sinnbild dessen, was uns fehlt. Da diese Wahrheit jedoch schlichtweg zu hart wäre, übersetzte Sartre sie in die Sprache der jungen Leute, in die Sprache des jungen Nizan. »In einer Gesellschaft, die ihre Frauen für die Greise und die Reichen reserviert …«23 Dies ist die Sprache der Söhne. Es ist der ödipale Satz, den man in jeder Generation vernimmt. Sartre bringt es sehr schön zum Ausdruck: Jedes Kind tötet seinen Vater und setzt ihn zugleich wieder ein, wenn es selbst zum Vater wird. Ergänzen wir: Der gute Vater ist ein Komplize der uralten Kinderei; er bietet sich selbst für den Mord an, wo seine Kindheit wieder auflebt und ihn als Vater bestätigt. Lieber schuldig 19 20 21 22 23
Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Ebd., S. 45. Ebd., S. 18. Ebd., S. 29.
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Vorwort
sein als zeugungsunfähig gewesen zu sein. Eine vornehme List, um das Leben vor den Kindern zu verbergen. Diese schlechte Welt ist die, »die wir für sie zurechtgezimmert haben«.24 Diese beschädigten Existenzen sind es, »die man vorgefertigt hat … die man heute den jungen Leuten zurechtzimmert«.25 Aber dies entspricht nicht der Wahrheit. Es ist nicht wahr, daß wir zu keinem Zeitpunkt Herr der Dinge waren oder daß wir, mit klaren Problemen vor Augen, alles in Bedeutungslosigkeit vertan hätten. Die jungen Leute werden gerade beim Lesen dieses Vorwortes begreifen, daß ihre Vorgänger kein so leichtes Leben gehabt haben. Sartre verdirbt sie. Oder er überläßt vielmehr alles den Nachfolgenden, indem er dem zeitlos gültigen Modell folgt, das streng mit seinen geistigen Ziehsöhnen verfährt, die nun schon Vierzigjährige sind – und er wirft sie zurück in den Kreislauf der ewig wiederkehrenden Rivalität. Nizan ist es, der Recht hatte, das ist euer Mann, lest ihn … Ich möchte hinzufügen: Lest auch Sartre. Zum Beispiel diesen kleinen Satz, der so schwer wiegt: »Dieselben Gründe, die uns das Glück nehmen, machen uns für immer unfähig, es zu genießen.«26 Meint er dieselben Ursachen, und daß es eine andere Menschheit ist, die glücklich sein wird, aber nicht diese? Dies hieße, wie Pascal alles auf ein Jenseits zu setzen. Im übrigen spricht er von denselben Gründen. Der Fall ist also kein Unfall, wir sind mitschuldig an den Ursachen. Ob man dabei nur sich selbst die Schuld gibt oder ob man nur an äußere Ursachen glaubt, es ist die gleiche Schwäche, die offenbar wird. Auf die eine oder andere Weise bedeutet es immer, sich mit Sekundärem aufzuhalten. Das Schlechte wurde nicht von uns oder von anderen geschaffen, es entsteht in diesem Gewebe, das wir zwischen uns gesponnen haben und das uns den Atem nimmt. Welche neuen Menschen werden so zäh und so geduldig sein, diesen Stoff noch einmal ganz neu zu weben?
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Ebd., S. 18. Ebd., S. 61. Ebd., S. 51.
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Vorwort
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Das Fazit dieser Überlegungen ist nicht die Revolte, sondern die antike Tugend, die virtu ohne jede Resignation. Eine Enttäuschung für denjenigen, der an das Heil und an einen in allen Ordnungen allein möglichen Heilsweg geglaubt hat. Unsere Geschichte, in der die räumliche Dimension wieder eine Rolle spielt, in der China, Afrika, Rußland und das Abendland nicht im Gleichschritt voranschreiten, erscheint demjenigen wie ein Verfall, der geglaubt hat, die Geschichte würde sich wieder, wie ein Fächer, in sich zusammenfalten. Wenn jedoch diese Philosophie der Zeit noch eine Träumerei der alten Misere wäre, warum sollten wir dann in ihrem Namen so hochmütig über die Gegenwart urteilen? Es gibt kein universelles Zeitmaß, sondern nur lokale Geschichten, die unter unseren Augen Gestalt annehmen und beginnen, sich selbst zu regeln, die sich auf gut Glück miteinander verbinden und ihr Leben einfordern, und die die Mächtigen in jener Weisheit bestätigen, die ihnen die unermeßlichen Risiken und das Bewußtsein ihrer eigenen Unordnung verschafft haben. Die Welt ist sich selbst in all ihren Teilen deutlicher gegenwärtig, als sie es je war. Im weltweiten Kapitalismus, im weltweiten Kommunismus und zwischen beiden zirkuliert heute mehr Wahrheit als vor zwanzig Jahren. Die Geschichte ist niemals geständig, sie gesteht nicht einmal ihre verlorenen Illusionen ein, aber sie erneuert sie auch nicht. (Februar und September 1960)
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DA S I N DI R E K T E S PR E C H E N U N D DI E S T I M M E N DE S S C H W E IG E NS
Für Jean-Paul Sartre 2
Bei Saussure haben wir gelernt, daß die einzelnen Zeichen für sich genommen nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger einen Sinn ausdrückt, als daß es einen Sinnabstand zwischen sich selbst und den anderen Zeichen angibt. Da man von diesen dasselbe sagen kann, besteht die Sprache also aus Unterschieden ohne Ausdrücke, oder genauer, die Ausdrücke der Sprache werden erst durch die zwischen ihnen auftauchenden Unterschiede hervorgebracht. Das kann man sich schwer vorstellen, denn der gesunde Menschenverstand antwortet: Wenn der Ausdruck A und der Ausdruck B ganz und gar keinen Sinn haben, so ist nicht ersichtlich, wie es zwischen ihnen einen Sinngegensatz geben kann, und wenn sich die Kommunikation wirklich zwischen dem Ganzen der gesprochenen Sprache und dem Ganzen der gehörten Sprache herstellte, müßte man die Sprache schon kennen, wenn man sie erlernen will … Dieser Einwand ist jedoch von derselben Art wie die Paradoxa Zenons: Wie diese durch die Ausübung einer Bewegung widerlegt werden, so wird jener durch den Gebrauch der Sprache widerlegt. Und jene Art von Zirkel, daß die Sprache bei denen, die sie erlernen, sich selbst vorausgeht, sich selbst lehrt und uns ihre eigene Aufschlüsselung vorschlägt, ist vielleicht das Wunder, das das Sprechen bestimmt. Die Sprache wird erlernt, und insofern muß man sicher von den Teilen zum Ganzen gehen. Das Ganze, das bei Saussure primär ist, kann also nicht das ausdrückliche und artikulierte Ganze der vollständigen Sprache sein, wie es die Grammatiken und die Wörterbücher verzeichnen. Er denkt ebensowenig an die logische Ganzheit eines philosophischen Systems, dessen Elemente (im Prinzip) alle aus einer einzigen Idee abgeleitet werden können. Da er ja gerade den Zeichen jede andere Bedeutung als eine
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›diakritische‹ abspricht, kann er die Sprache nicht auf ein System positiver Ideen gründen. Die Einheit, von der er spricht, ist die Einheit eines Miteinander, wie die der Elemente eines Gewölbes, von denen eines das andere abstützt. In einem solchen Ensemble gelten die erlernten Teile der Sprache auf Anhieb als Ganzes, und Fortschritte werden weniger durch Hinzufügen und Beiordnen gemacht als durch die innere Artikulation einer in ihrer Art schon vollständigen Funktion. Man weiß seit langem, daß beim Kind das Wort zunächst als Satz fungiert und vielleicht sogar bestimmte Phoneme als Wörter. Aber die heutige Linguistik faßt die Einheit der Sprache noch genauer, indem sie beim Entstehen der Wörter – vielleicht sogar der Formen und des Stils – ›oppositive‹ und ›relative‹ Prinzipien herausstellt, auf welche die Saussuresche Definition des Zeichens sich noch strenger anwenden läßt als auf die Wörter, da es sich ja hier um Komponenten der Rede handelt, die für sich keinen bezeichenbaren Sinn haben und deren einzige Funktion es ist, das Unterscheiden der eigentlichen Zeichen möglich zu machen. Jene ersten phonematischen Entgegensetzungen können zwar lückenhaft sein, sie werden sich in der Folge gewiß mit anderen Dimensionen anreichern können, und die sprachliche Kette wird andere Mittel finden, sich aus sich selbst heraus zu differenzieren; wichtig ist, daß die Phoneme von vornherein Variationen eines einzigen Sprechapparats sind und daß das Kind mit ihnen das Prinzip einer gegenseitigen Differenzierung der Zeichen ›aufgeschnappt‹ und damit auf einen Schlag den Sinn des Zeichens erworben zu haben scheint. Denn die phonematischen Gegensätze – die mit den ersten Kommunikationsversuchen auftreten – erscheinen und entwickeln sich ohne irgendeine Beziehung zum kindlichen Geplapper, das durch sie oft zurückgedrängt wird, fortan jedenfalls nur noch eine Randexistenz führt und dessen Bestandteile nicht in das neue System des wirklichen Sprechens eingehen, als wenn es nicht dasselbe wäre, einen Laut als Element des Geplappers zu besitzen, das sich nur an sich selbst richtet, oder als Moment eines Kommunikationsversuches. Man kann jetzt also sagen, daß das Kind spricht und daß es in der Folge
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nur das Prinzip des Sprechens unterschiedlich anwenden lernt. Der Gedanke von Saussure wird deutlicher: Mit den ersten phonematischen Entgegensetzungen wird das Kind vertraut mit der lateralen Verbindung zwischen Zeichen und Zeichen als Grundlage einer finalen Beziehung zwischen Zeichen und Sinn – in der speziellen Form, die diese Verbindung in der entsprechenden Sprache erhalten hat. Wenn die Phonologen ihre Analyse schließlich über die Wörter hinaus ausdehnen können bis zu den Formen, bis zur Syntax und selbst bis zu den stilistischen Unterschieden, so ist es die gesamte Sprache als Ausdrucksstil, als eine einzigartige Weise, mit dem Wort zu spielen, die vom Kind mit den ersten phonematischen Entgegensetzungen antizipiert wird. Das Ganze der um es herum gesprochenen Sprache erfasse es wie ein Wirbel, reize es durch seine inneren Artikulationen und führe es fast an den Moment heran, da all dieser Lärm etwas bedeutet. Die ständige Selbstüberprüfung der Wortreihe, das eines Tages ununterdrückbare Auftauchen einer bestimmten phonematischen Skala, nach der das Reden offensichtlich zusammengesetzt ist, treibe das Kind schließlich auf die Seite der Sprechenden. Nur die Sprache als Ganzes kann verständlich machen, wie die Sprache es zu sich hinüberzieht und wie es schließlich jenen Bereich betritt, dessen Pforten sich doch scheinbar nur von innen her öffnen. Eben weil das Zeichen von Anfang an diakritisch ist, weil es sich mit sich selbst zusammensetzt und organisiert, hat es ein Innen und verlangt schließlich nach einem Sinn. Dieser Sinn, der am Rand der Zeichen entsteht, und dieses Auftreten eines Ganzen in den Teilen finden sich in der ganzen Kulturgeschichte wieder. Es gibt jenen Augenblick, da Brunelleschi die Kuppel des Florenzer Domes in einem bestimmten Verhältnis zur Gestalt der Landschaft baut. Kann man sagen, daß er mit dem geschlossenen Raum des Mittelalters gebrochen und den universellen Raum der Renaissance gefunden hat?1 Aber es ist noch ein weiter Weg von einem künstlerischen Vorgehen bis zur bewußten Verwendung des Raumes als Medium des Weltganzen. Kann 1
Pierre Francastel, Peinture et sociéte, S. 17 ff.
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man also sagen, daß dieser Raum noch nicht da ist? Brunelleschi hatte sich einen merkwürdigen Apparat konstruiert,2 in dem zwei Ansichten des Baptisteriums und des Rathauses, mit den Straßen und Plätzen, die sie einrahmen, in einem Spiegel reflektiert wurden, während eine Platte aus poliertem Metall das Himmelslicht darauf projizierte. Bei ihm gibt es also ein Forschen, ein Befragen des Raumes. Ebenso schwer läßt sich sagen, wann die reelle Zahl in der Geschichte des Mathematischen beginnt: An sich (das heißt, wie Hegel sagt, für uns, die wir sie hinein projizieren) ist sie schon in der Bruchzahl, die vor der algebraischen Zahl die ganze Zahl in eine fortlaufende Reihe einfügt – aber sie ist es gleichsam, ohne es zu wissen und nicht für sich selbst. Ebenso muß man darauf verzichten, den Zeitpunkt zu fixieren, wo das Lateinische zum Französischen wird, weil die grammatikalischen Formen wirksam werden und sich abzeichnen, bevor sie systematisch angewandt werden, weil die Sprache manchmal lange mit den Veränderungen, die endlich auftreten, schwanger geht und weil die Aufzählung ihrer Ausdrucksmittel keinen Sinn hat, da diejenigen, die außer Gebrauch kommen, weiterhin ein abgeschwächtes Leben in ihr führen und die Stelle jener, welche sie ablösen, manchmal schon angegeben ist, sei es auch nur als Lücke, Bedarf oder Tendenz. Selbst wenn man genau datieren kann, wann ein Prinzip für sich auftaucht, so war es doch schon früher in der Kultur vorhanden, als eine Art Besessenheit oder als Antizipation, und der Bewußtseinsakt, der es als ausdrückliche Bedeutung setzt, bringt nur seine lange Inkubation in einem wirksamen Sinn zum Abschluß. Es bleibt jedoch immer ein Rest: Der Raum der Renaissance wird seinerseits später als ein ganz spezieller Fall des möglichen Bildraumes neu gedacht. Die Kultur vermittelt uns also niemals absolut transparente Bedeutungen, die Genesis des Sinns ist niemals abgeschlossen. Was wir zu Recht unsere Wahrheit nennen, betrachten wir immer nur in einem Kontext von Symbolen, die unser Wissen datieren. Wir haben immer nur mit ganzen Zeichengefügen zu tun, deren Sinn nicht 2
Ebd., S. 17 ff.
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für sich gesetzt werden kann, da sie nichts anderes sind als die Art und Weise, in der sie sich zueinander verhalten, sich voneinander unterscheiden – ohne daß wir auch nur den kläglichen Trost eines vagen Relativismus hätten, weil jeder dieser Schritte eine Wahrheit schlechthin ist und in die umfassendere Wahrheit der Zukunft gerettet werden wird.Was die Sprache angeht, wenn sie die laterale Beziehung von Zeichen zu Zeichen ist, die jedes von ihnen bedeutend macht, so taucht der Sinn erst im Schnittpunkt und gleichsam im Zwischenraum der Wörter auf. Das verbietet uns, die Unterschiedenheit und Einheit der Sprache und ihres Sinns so aufzufassen, wie man es gewöhnlich tut. Man glaubt, daß der Sinn den Zeichen prinzipiell transzendent sei, wie es das Denken für akustische oder visuelle Anzeichen wäre. Und man meint, daß er den Zeichen insofern immanent sei, als jedes von ihnen, da es ein für allemal seinen Sinn hat, zwischen sich und uns keinen undurchsichtigen Bezug bringen, ja uns nicht einmal zu denken geben kann: Die Zeichen hätten nur die Rolle einer Ermahnung, sie wiesen den Hörer darauf hin, daß er diesen oder jenen seiner Gedanken zu erwägen habe. So wohnt jedoch der Sinn nicht dem Redefluß inne und so unterscheidet er sich nicht von diesem. Wenn das Zeichen nur insofern etwas bedeutet, als es sich von den anderen Zeichen abhebt, ist sein Sinn ganz in die Sprache eingelassen, ein sprachlicher Ausdruck wirkt immer vor dem Hintergrund anderer sprachlicher Ausdrücke und ist immer nur eine Falte im unermeßlichen Gewebe des Sprechens. Um ihn zu verstehen, brauchen wir kein inneres Lexikon zu befragen, das uns im Hinblick auf die Wörter oder Formen reine Gedanken angäbe, mit denen sie sich deckten: Es genügt, daß wir seinem Leben, seiner Differenzierungs- und Artikulationsbewegung, seiner sprechenden Gestik zustimmen. Es gibt folglich eine Undurchdringlichkeit der Sprache: Nirgends nimmt sie sich ganz zurück, um dem reinen Sinn Platz zu machen, immer wird sie nur wieder durch Sprache selbst umgrenzt, und der Sinn erscheint in ihr nur als ein in den Wörtern Eingefaßtes. Wie die Scharade läßt sie sich nur durch die Wechselwirkung der Zeichen verstehen, von denen jedes für sich genommen mehrdeutig oder
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banal ist und deren Zusammenfügung erst einen Sinn ergibt. Für den, der spricht, nicht weniger als für den, der zuhört, ist die Rede etwas ganz anderes als eine Technik des Verschlüsselns oder Dechiffrierens für schon feststehende Bedeutungen: Zunächst muß sie diese als erkennbare Gebilde existieren lassen, indem sie sie an der Kreuzung sprachlicher Gesten ansiedelt, als das, was diese übereinstimmend zeigen. Unsere Analysen des Denkens tun so, als ob dieses, bevor es seine Wörter gefunden hat, schon eine Art idealer Text wäre, den unsere Sätze zu übersetzen suchten. Aber der Autor selbst hat keinen Text, den er mit seiner Schrift konfrontieren könnte, keine Sprache vor der Sprache. Wenn er mit seiner Ausdrucksweise zufrieden ist, dann wegen eines Gleichgewichts, dessen Bedingungen sie selbst definiert, aufgrund einer Vollkommenheit ohne Vorbild. Weit mehr als ein Mittel ist die Sprache so etwas wie ein Sein, und eben deshalb kann sie uns so gut jemanden gegenwärtig machen: Die Sprechweise eines Freundes am Telefon gibt ihn uns selbst, als wenn er ganz da wäre in jener Art, wie er uns anredet und sich verabschiedet, wie er seine Sätze beginnt und beendet, wie er durch die ungesagten Dinge voranschreitet. Der Sinn ist die ganze Bewegung des Sprechens, und deshalb treibt sich unser Denken in der Sprache herum. So durchzieht es diese, wie die Geste den Raum übergreift, den sie durchläuft. In eben dem Augenblick, da die Sprache unseren Geist zur Gänze erfüllt, ohne den geringsten Platz für einen Gedanken zu lassen, der nicht von ihrer Vibration erfaßt wäre, und gerade in dem Maße, wie wir uns ihr ganz überlassen, führt sie über die ›Zeichen‹ hinaus zu deren Sinn. Und von diesem Sinn trennt uns nichts mehr: Die Sprache setzt ihre Liste der Korrespondenz nicht voraus, sie enthüllt selbst ihre Geheimnisse, sie lehrt sie jedem Kind, das zur Welt kommt, sie ist ganz und gar Einweisung. Ihre Undurchdringlichkeit, ihr unaufhörlicher Selbstbezug, ihre Rückwendungen und Rückzüge auf sich als Sprache sind gerade das, was ihr geistiges Vermögen ausmacht: Denn jetzt wird sie selbst so etwas wie ein Universum, fähig, die Dinge selbst in sich zu beherbergen – nachdem sie sie in ihren Sinn verwandelt hat.
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Wenn wir nun aber die Idee von einem ursprünglichen Text, dessen Übersetzung oder chiffrierte Version unsere Sprache wäre, aus unserem Geist verbannen, dann werden wir erkennen, daß die Vorstellung von einem vollständigen Ausdruck sinnlos ist, daß jede Rede indirekt oder anspielend, und wenn man so will, Schweigen ist. Die Beziehung des Sinnes zum Sprechen kann nicht mehr jene punktuelle Korrespondenz sein, die wir immer vor Augen haben. Saussure bemerkt noch weiter, daß der Engländer, wenn er sagt the man I love, sich ebenso vollständig ausdrückt wie der Franzose, wenn er sagt l’homme que j’aime. Das Relativpronomen kommt, würde man sagen, im Englischen nicht zum Ausdruck. In Wahrheit aber ist es, anstatt durch ein Wort ausgedrückt zu werden, durch eine Leerstelle zwischen den Wörtern in die Sprache eingegangen. Nicht einmal, daß es stillschweigend mitverstanden wird, sollten wir sagen. Der Begriff des Mitverstandenen bringt in naiver Weise unsere Überzeugung zum Ausdruck, daß eine Sprache (im allgemeinen unsere Muttersprache) in ihren Formen die Dinge selbst einzufangen vermag und daß jede andere Sprache, wenn sie diese auch in sich fassen will, sich zumindest stillschweigend ähnlicher Instrumente bedienen muß. Wenn für uns das Französische zu den Dingen selbst vorstößt, dann sicher nicht, weil es das Gefüge des Seins kopiert hätte: Es hat zwar ein eigenes Wort, um die Relation auszudrücken, aber es kennzeichnet die Objektfunktion nicht durch eine besondere Endung; man könnte sagen, daß es die Deklination mitversteht, die das Deutsche zum Ausdruck bringt (ebenso wie den Aspekt, den das Russische, und den Optativ, den das Griechische ausdrücklich bezeichnet). Wenn das Französische uns als Abdruck der Dinge erscheint, so nicht deshalb, weil es so ist, sondern weil es uns durch die inneren Beziehungen zwischen den Zeichen diese Illusion vermittelt. Aber mit dem Satz the man I love ist es das gleiche. Das Fehlen eines Zeichens kann selbst ein Zeichen sein, und das Ausdrücken besteht nicht darin, daß jedem Sinnelement ein Element der Sprache angepaßt wird, sondern in einem Einwirken der Sprache auf die Sprache, das sich plötzlich in Richtung auf ihren Sinn hin verlagert. Sprechen heißt nicht,
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jedem Gedanken eín Wort unterschieben: Wenn wir es täten, würde niemals etwas gesagt werden, und wir hätten nicht das Gefühl, in der Sprache zu leben, wir würden im Schweigen verharren, weil das Zeichen sofort vor einem Sinn verlöschen würde, der der seine wäre, und weil das Denken nur mit Gedanken befaßt wäre – nämlich mit demjenigen, den es ausdrücken will, und mit demjenigen, den eine ganz eindeutige Sprache bilden würde. Ganz im Gegenteil dazu haben wir manchmal das Gefühl, daß ein Gedanke zur Sprache kommt – nicht indem er durch Sprachzeichen ersetzt wird, sondern indem er sich den Wörtern einverleibt und dadurch verfügbar wird –, und schließlich gibt es deshalb eine Macht der Wörter, weil sie, indem sie aufeinander einwirken, von weitem durch den Gedanken beeinflußt werden wie die Gezeiten durch den Mond, und in diesem Treiben ihren Sinn viel nachdrücklicher zutage treten lassen, als wenn ein jedes von ihnen nur eine matte Bedeutung mit sich führte, deren gleichgültiger und vorausbestimmter Index es wäre. Die Sprache drückt dies unumstößlich aus, wenn sie darauf verzichtet, die Sache selbst auszusprechen. Wie die Algebra mit Größen befaßt ist, die man als solche nicht kennt, macht das Sprechen Bedeutungen unterscheidbar, von denen jede für sich nicht bekannt ist, und indem sie sie als bekannte behandelt, uns von ihnen und ihren Verhältnissen ein abstraktes Porträt gibt, zwingt sie uns schließlich blitzartig die genaueste Identifizierung auf. Die Sprache bedeutet, wenn sie, anstatt das Denken zu kopieren, sich durch dieses auflösen und wieder herstellen läßt. Sie trägt ihren Sinn, so wie die Spur eines Schrittes die Bewegung und die Anstrengung eines Körpers bedeutet. Wir müssen unterscheiden zwischen dem empirischen Gebrauch der schon geformten Sprache und dem schöpferischen Gebrauch, von dem jener ja nur ein Resultat sein kann. Ein Sprechen im Sinne der empirischen Sprache – nämlich das passende Aufrufen eines bereits festgelegten Zeichens – ist kein Sprechen im Sinn der authentischen Sprache. Es ist, wie Mallarmé gesagt hat, die abgegriffene Münze, die man mir schweigend in die Hand drückt. Das wahre Sprechen dagegen, das, was bedeutet, was schließlich das »allen Sträußen Fehlende«
erstellt von ciando
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präsent macht und den in den Dingen gefangenen Sinn befreit, ist hinsichtlich des empirischen Gebrauchs nur Schweigen, da es ja nicht bis zum gemeinsamen Namen vordringt. Die Sprache ist von sich aus versteckt und autonom, und wenn sie einen Gedanken oder ein Ding direkt bedeutet, so ist das nur ein zweitrangiges Vermögen, das ihrem inneren Leben entstammt. Wie der Weber also arbeitet der Schriftsteller von der Kehrseite her: Er hat nur mit der Sprache zu tun, und eben dadurch findet er sich plötzlich von Sinn umgeben. Wenn das wahr ist, so ist seine Arbeit nicht sehr verschieden von der des Malers. Man sagt gewöhnlich, daß der Maler uns durch die schweigende Welt der Farben und Linien hindurch erreicht, er wende sich an ein unformuliertes Entzifferungsvermögen in uns, das wir erst dann unter unsere Kontrolle bringen, wenn wir es vorher blind ausgeübt haben, wenn uns das Werk gefallen hat. Der Schriftsteller dagegen siedelt sich in schon ausgebildeten Zeichen an, in einer schon sprechenden Welt, und verlangt von uns nur die Fähigkeit, unsere Bedeutungen nach der Anweisung der Zeichen, die er uns vorlegt, neu zu ordnen. Wenn nun aber die Sprache ebensoviel durch das ausdrückt, was zwischen den Wörtern ist, als durch die Wörter selbst? Durch das, was sie nicht ›sagt‹, wie durch das, was sie ›sagt‹? Wie, wenn es, in der empirischen Sprache verborgen, eine Sprache in der zweiten Potenz gäbe, wo die Zeichen wiederum das verschwommene Leben der Farben führen und wo die Bedeutungen sich nicht ganz und gar von den Beziehungen der Zeichen befreien? Der Akt des Malens hat zwei Seiten: Da ist der Farbfleck oder -strich, den man an einem bestimmten Punkt der Leinwand anbringt, und da ist die Wirkung im Ganzen, zwischen beiden gibt es kein allgemeines Maß, da die Punkte ja fast nichts sind und doch ausreichen, ein Porträt oder eine Landschaft zu verändern. Wer dem Maler aus zu großer Nähe zusehen würde, wie er mit der Nase am Pinsel klebt, sähe nur die Kehrseite seiner Arbeit. Die Kehrseite ist eine schwache Bewegung des Pinsels oder der Feder von Poussin, die Vorderseite dagegen ist der Durchbruch der Sonne, den er auslöst. Man hat einmal Zeitlupenaufnahmen
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von Matisse bei der Arbeit gemacht. Der Eindruck war ungeheuer, so daß sogar Matisse beeindruckt gewesen sein soll. Denselben Pinsel, der, mit bloßem Auge betrachtet, von einem Zug zum anderen sprang, sah man jetzt in einer langgezogenen und feierlichen Zeit meditieren, beim unmittelbaren Bevorstehen eines Weltbeginns zehn mögliche Bewegungen versuchen, vor der Leinwand tanzen, sie mehrmals streifen und schließlich wie der Blitz zum einzig notwendigen Strich niedergehen. Natürlich hat diese Analyse etwas Künstliches, und Matisse täuschte sich, wenn er auf Grund des Films glaubte, daß er tatsächlich an jenem Tage zwischen allen möglichen Pinselstrichen gewählt und wie Leibnizens Gott ein ungeheures Problem des Minimum und Maximum gelöst habe; er war kein Demiurg, er war Mensch. Er hat nicht alle möglichen Gesten unter dem Blick des Geistes gehabt und brauchte sie nicht alle außer einer zu eliminieren, indem er seine Wahl begründete. Erst die Zeitlupenaufnahme zählt die Möglichkeiten auf. Matisse hat, einer menschlichen Zeit und einem menschlichen Sehen verhaftet, das noch offene Ganze seines begonnenen Bildes betrachtet und den Pinsel dann zu dem Strich angesetzt, der nötig war, damit das Gemälde schließlich das wurde, was es zu werden im Begriffe war. Mit einer einfachen Geste hat er das Problem gelöst, das nachträglich eine unendliche Anzahl von Gegebenheiten zu implizieren scheint, wie nach Bergson die Hand im Eisenstaub auf einen Schlag die komplizierte Anordnung hervorbringt, die an ihrer Stelle zurückbleibt. Alles hat sich in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der Geste abgespielt, und die Kamera liefert uns von diesem Ereignis nur deshalb eine faszinierende Version, weil sie uns vortäuscht, daß die Hand des Malers in der physischen Welt operiere, wo unendlich viele Optionen möglich sind. Es ist jedoch wahr, daß die Hand von Matisse gezögert hat, es stimmt also, daß ein Wählen stattgefunden hat und daß der gewählte Strich zwanzig im Bilde liegenden Bedingungen genügen mußte, unformuliert und unformulierbar für jeden anderen als Matisse, da sie ja nur durch die Intention bestimmt und auferlegt wurden, eben jenes Bild, das noch nicht existierte, zu malen.
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Nicht anders steht es mit dem wirklich ausdrückenden Sprechen und also mit jeder Sprache in ihrer Phase des Entstehens. Das Sprechen wählt nicht nur ein Zeichen für eine schon definierte Bedeutung, wie man einen Hammer holt, um einen Nagel einzuschlagen, oder eine Zange, um ihn herauszuziehen. Es tastet sozusagen um eine Bedeutungsintention herum, die sich nicht von einem Text leiten läßt, sondern eben gerade erst im Begriff ist, ihn zu schreiben. Wenn wir ihm gerecht werden wollen, müssen wir uns einige der Ausdrücke vergegenwärtigen, die an seine Stelle hätten treten können und verworfen worden sind, müssen wir empfinden, wie sie den Sprachfluß anders ergriffen und ins Wanken gebracht hätten, in welchem Maße eben jener Ausdruck wirklich der einzig mögliche war, wenn diese Bedeutung zutage treten sollte … Kurz und gut, wir müssen den Ausdruck betrachten, bevor er ausgesprochen ist, jenen Hintergrund des Schweigens, der nicht aufhört, ihn zu umgeben, und ohne welchen er nichts aussagen würde, oder auch, wir müssen die Fäden des Schweigens bloßlegen, von denen er durchzogen ist. Für die schon erworbenen Ausdrücke gibt es einen direkten Sinn, der Punkt für Punkt etablierten Wendungen, Formen, Wörtern entspricht. Hier gibt es scheinbar keine Lücke, kein sprechendes Schweigen. Aber der Sinn der gerade entstehenden Ausdrücke kann nicht von dieser Art sein: Es ist ein lateraler oder indirekter Sinn, der zwischen den Wörtern laut wird – eine andere Weise, den Apparat des Sprechens oder des Erzählens aufzurütteln, um ihm einen neuen Ton abzugewinnen. Wenn wir das Sprechen in seinem ursprünglichen Vollzuge verstehen wollen, müssen wir so tun, als hätten wir niemals gesprochen, müssen wir es einer Reduktion unterwerfen, ohne die es uns entgehen würde, indem es uns wieder zu dem zurückführte, was es uns bedeutet, müssen wir es betrachten wie die Tauben die Sprechenden, müssen wir die Kunst des Sprechens mit den anderen Ausdruckskünsten vergleichen und versuchen, es wie eine von jenen stummen Künsten anzusehen. Es kann sein, daß der Sinn des Sprechens ein entscheidendes Privileg hat, aber gerade, indem wir die Parallele suchen, werden wir erkennen, was sie vielleicht am Ende unmöglich
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macht. Beginnen wir damit, zu verstehen, daß es ein stillschweigendes Sprechen gibt und daß die Malerei auf ihre Weise spricht. * Malraux bemerkt, daß Malen und Sprechen nur dann vergleichbar sind, wenn man sie von dem, was sie ›darstellen‹, losgelöst hat, um sie unter der Kategorie des schöpferischen Ausdruckes wieder zu versammeln. Dann erkennen sie sich gegenseitig als zwei Gestaltungsweisen desselben Versuchs. Jahrhundertelang haben Maler und Schriftsteller gearbeitet, ohne von ihrer Verwandtschaft etwas zu ahnen. Es ist jedoch eine Tatsache, daß sie dasselbe Abenteuer erlebt haben. Kunst und Dichtung sind zunächst der Polis, den Göttern, dem Sakralen gewidmet, sie sehen ihr eigenes Wunder nur im Spiegel einer äußeren Macht entstehen. Die eine wie die andere erleben später ein klassisches Zeitalter, das die Säkularisierung der Epoche des Sakralen ist: Die Kunst ist nun Darstellung einer Natur, die sie höchstens verschönern kann, jedoch nach Regeln, die jene sie selbst lehrt; wie La Bruyère es wollte, hat das Wort keine andere Rolle, als den richtigen Ausdruck wiederzufinden, der durch eine Sprache der Dinge selbst jedem Gedanken im voraus zukommt, und jener doppelte Rekurs auf eine Kunst vor der Kunst, wie auf ein Wort vor dem Wort schreibt dem Kunstwerk einen bestimmten Grad an Vollkommenheit, Vollendung oder Fülle vor, der es der Zustimmung aller aufdrängt wie die Dinge, die in den Bereich unserer Sinne fallen. Malraux hat jenes ›objektivistische‹ Vorurteil, das die moderne Kunst und Literatur in Frage stellen, genau analysiert – aber vielleicht hat er nicht ermessen, wie tief es verwurzelt ist, vielleicht hat er ihm zu schnell den Bereich der sichtbaren Welt überlassen, was ihn möglicherweise dazu gebracht hat, die moderne Malerei ihrerseits als eine Rückkehr zum Subjekt – jenem ›unvergleichlichen Ungeheuer‹ – zu definieren und sie in ein geheimes Leben fern der Welt zu vergraben … Wir müssen seine Analyse wieder aufnehmen. Das Privileg der Ölmalerei, die mehr als jede andere Malerei jedem Element des Gegenstandes oder des menschlichen Gesichts
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eine besondere malerische Darstellung zukommen läßt, das Suchen nach Zeichen, die die Vorstellung von räumlicher Tiefe oder Volumen erzeugen können, das Suchen nach der Bewegung, den Formen, den taktilen Werten und den verschiedenen Materialien (man denke an die geduldigen Studien, die die Darstellung des Samtes perfektioniert haben), all diese Verfahrensweisen, diese mit jeder Generation vermehrten Geheimnisse, sind die Elemente einer allgemeinen Technik der Darstellung, die im Grenzfalle mit der Sache selbst, dem Menschen selbst übereinkommen würde, denen schwerlich Zufall oder Verschwommenheit anhaften kann, und deren eigenes Funktionieren die Malerei wiedergeben muß. Auf diesem Wege werden Schritte gemacht, die keine Umkehr ermöglichen. Der Werdegang eines Malers, die Werke einer Schule, ja die Entwicklung der Malerei selbst bewegen sich auf Meisterwerke hin, bei denen das lang Gesuchte endlich gefunden ist, und die, zumindest vorläufig, die früheren Versuche überflüssig machen und einen Fortschritt der Malerei markieren. Die Malerei will ebenso überzeugend sein wie die Dinge und glaubt, uns nur ebenso erreichen zu können wie diese: Nämlich indem sie unseren Sinnen ein unwiderlegbares Schauspiel aufzwingt. Im Prinzip verläßt sie sich auf den Wahrnehmungsapparat als ein natürliches und vorgegebenes Kommunikationsmittel der Menschen. Haben wir nicht alle Augen, die ungefähr gleich funktionieren, und werden wir nicht, wenn der Maler ausreichende Zeichen für Tiefe oder Samt entdeckt hat, bei der Betrachtung des Gemäldes, alle denselben Anblick haben, der mit der Natur rivalisiert? Dennoch waren die klassischen Maler wirkliche Maler, und keine ernst zu nehmende Malerei hat jemals in der bloßen Darstellung bestanden. Malraux zeigt, daß die moderne Auffassung von der Malerei – als schöpferischer Ausdruck – für die Öffentlichkeit in viel stärkerem Maße ein Novum gewesen ist als für die Maler selbst, die sie stets praktiziert hatten, auch ohne daraus eine Theorie zu machen. Eben deshalb haben die Werke der Klassiker einen anderen Sinn und vielleicht mehr Sinn, als sie glaubten, deshalb antizipieren sie oft eine von ihren kanonischen Regeln befreite Malerei und bleiben so die prädestinierten Ver-
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mittler für jede Einführung in die Malerei. Im selben Augenblick, in dem sie, den Blick auf die Welt gerichtet, ihr das Geheimnis einer ausreichenden Darstellung zu entreißen wähnten, bewirkten sie unbewußt jene Metamorphose, deren sich die Malerei später bewußt geworden ist. Dann aber kann man die klassische Malerei nicht durch die Darstellung der Natur oder durch den Bezug auf ›unsere Sinne‹ definieren, ebensowenig wie die moderne Malerei durch den Bezug auf das Subjektive. Schon die Wahrnehmung der Klassiker war von ihrer Kultur abhängig, wie auch unsere Kultur unsere Wahrnehmung des Sichtbaren formen kann, man darf weder die sichtbare Welt für die klassischen Regeln aufgeben, noch die moderne Malerei in das Verlies des Individuums einschließen, es gibt keine Wahl zwischen der Welt und der Kunst, zwischen ›unseren Sinnen‹ und einer bedingungslosen Malerei: Sie gehen eins in das andere über. Malraux spricht manchmal so, als hätten sich die ›Gegebenheiten der Sinne‹ durch die Jahrhunderte hindurch niemals verändert und als wenn, solange sich die Malerei auf jene bezog, die klassische Perspektive sich aufdrängte. Es ist jedoch gewiß, daß jene Perspektive eines der vom Menschen erfundenen Mittel ist, die wahrgenommene Welt vor sich zu projizieren, und nicht deren bloßes Abbild. Sie ist eine mögliche Interpretation des spontanen Sehens, nicht weil die wahrgenommene Welt ihre Gesetze verleugnet und uns andere aufzwingt, sondern vielmehr, weil sie keine verlangt und weil sie nicht zur Ordnung der Gesetze gehört. In der freien Wahrnehmung haben die in der Raumtiefe gestaffelten Gegenstände keinerlei bestimmte ›erscheinende Größe‹. Man kann nicht einmal sagen, daß die Perspektive ›uns täuscht‹ und daß die entfernten Gegenstände für das bloße Auge ›größer‹ sind als ihre Projektion auf eine Zeichnung oder eine Fotografie vermuten ließe – zumindest gilt dies nicht von jener Größe, die ein gemeinsames Maß für die entfernten und die näher gelegenen Flächen wäre. Die Größe des Mondes am Horizont ist nicht meßbar durch eine bestimmte Anzahl entsprechender Teile des Geldstückes, das ich in meiner Hand halte; vielmehr handelt es sich hier um eine ›Größe-auf-Entfernung‹, um eine Art
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Eigenschaft, die dem Monde zugehört wie anderen Objekten das Warm- und Kaltsein. Wir befinden uns hier in der Ordnung der ›Ultra-Dinge‹, von denen Henri Wallon spricht, die mit den nahegelegenen Gegenständen nicht in ein und derselben abgestuften Perspektive stehen. Ist eine bestimmte Größe und Entfernung überschritten, so stehen wir vor dem Absoluten der Größe, in der alle ›Ultra-Dinge‹ übereinkommen, weshalb auch die Kinder von der Sonne sagen, sie sei ›groß wie ein Haus‹. Wenn ich von hier zur Perspektive zurückkehren will, so muß ich aufhören, das Ganze unbefangen wahrzunehmen, muß meine Sicht eingrenzen, muß an einer Maßeinheit, über die ich verfüge, markieren, was ich die ›erscheinende Größe‹ des Mondes und des Geldstückes nenne, und schließlich jene Maße zu Papier bringen. Währenddessen ist die wahrgenommene Welt jedoch mit der wirklichen Gleichzeitigkeit der Gegenstände verschwunden, die nicht in deren ungestörter Zugehörigkeit zu einer einzigen Größenordnung besteht. Als ich das Geldstück und den Mond zusammen sah, mußte mein Blick auf eines von beiden fixiert sein, während das andere mir nur am Rande erschien – ›der kleine von nahem gesehene Gegenstand‹ oder ›der große von weitem gesehene Gegenstand‹ –, inkommensurabel mit dem ersten. Was ich zu Papier bringe, ist nicht diese Koexistenz der wahrgenommenen Dinge, ihre Rivalität vor meinem Blick. Ich finde das Mittel, ihren Konflikt, der die Tiefe ausmacht, zu schlichten. Ich entscheide mich dafür, sie auf ein und derselben Ebene als miteinander vereinbar darzustellen, was mir auch gelingt, indem ich auf dem Papier eine Reihe von lokalen und mit einem Auge wahrnehmbare Ansichten zusammenfüge, von denen keine mit den Momenten des lebendigen Wahrnehmungsfeldes deckungsgleich ist. Während die Dinge sich meinen Blick streitig machten und ich, an einem von ihnen festhaftend, den Appell der anderen auf ihm spürte, der sie mit dem ersten koexistieren ließ, während ich die Forderung eines Horizonts und seinen Anspruch auf Existenz empfand, konstruiere ich jetzt eine Darstellung, bei der jedes Ding aufhört, die ganze Sicht auf sich zu lenken, sondern den anderen Zugeständnisse macht und sich damit begnügt, auf dem Papier
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nur noch den Raum einzunehmen, der ihm von ihnen übriggelassen wird. Während mein Blick, als er Tiefe, Höhe und Breite frei durchstreifte, keinem Gesichtspunkt unterworfen war, weil er sie alle nacheinander einnahm und wieder aufgab, verzichte ich nun auf jene Ubiquität und bin bereit, in meiner Zeichnung nur das darzustellen, was von einem bestimmten Standort aus von einem unbeweglichen Auge, das auf einen bestimmten ›Fluchtpunkt‹ einer bestimmten ›Horizontlinie‹ fixiert wäre, gesehen werden könnte. (Eine trügerische Bescheidenheit, denn wenn ich auf die Welt selbst verzichte, indem ich den schmalen Ausschnitt einer Perspektive aufs Papier werfe, so höre ich auch auf, wie ein Mensch zu sehen, der der Welt gegenüber offen ist, weil er in ihr situiert ist, ich denke und beherrsche meine Sicht wie Gott es tun kann, wenn er die Idee, die er von mir hat, betrachtet.) Während ich die Erfahrung einer Welt machte, in der es von Dingen wimmelt, die sich ausschließen, die nur mittels eines zeitlichen Durchlaufens umfaßt werden können, bei dem jeder Gewinn zugleich Verlust ist, kristallisiert sich das unausschöpfliche Sein zu einer geordneten Perspektive, wo die Fernen sich begnügen, nur Fernen zu sein, unzugänglich und verschwommen, wie es ihnen zukommt, wo die nahen Gegenstände etwas von ihrer Aggressivität aufgeben, ihre inneren Linien nach dem gemeinsamen Gesetz des Schauspiels ordnen und sich bereits anschicken, sobald es erforderlich ist, entfernte Gegenstände zu werden – kurz, wo nichts den Blick fesselt und nichts gegenwärtig erscheint. Das gesamte Gemälde steht im Modus des Vergangenen oder der Ewigkeit; alles nimmt einen dezenten und diskreten Ausdruck an; die Dinge sprechen mich nicht mehr an und ich werde nicht mehr von ihnen kompromittiert. Und wenn ich jenem Kunstgriff den der Vogelperspektive hinzufüge, so spürt man, bis zu welchem Grade ich, der ich male, und jene, die meine Landschaft betrachten, die Situation beherrschen. Die Perspektive ist viel mehr als eine geheime Technik zur Nachahmung einer Realität, die sich allen Menschen dergestalt darböte; sie ist die Erfindung einer beherrschten Welt, die man in einer momentanen Synthese ganz und gar besitzt, von der der spontane Anblick uns höchstens die
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Umrisse bietet, wenn er vergeblich versucht, alle jene Dinge, von denen jedes für sich ihn gänzlich fesseln will, zusammenzuhalten. Die Gesichter des klassischen Porträts, das immer im Dienste eines Charakters, einer Leidenschaft oder einer Stimmung steht – stets voller Bedeutung –, die Kleinkinder und die Tiere der klassischen Malerei, die so sehr danach verlangen, in die menschliche Welt einzugehen, so wenig darauf bedacht sind, sie zurückzustoßen, sie alle bekunden denselben ›erwachsenen‹ Bezug des Menschen zur Welt, und sei es nur, wenn der große Maler, seinem seligen Dämon nachgebend, jener zu selbstsicheren Welt eine neue Dimension hinzufügt, indem er in ihr die Kontingenz anklingen läßt … Wenn nun aber selbst die ›objektive‹ Malerei eine Schöpfung ist, besteht kein Grund mehr, die moderne Malerei, eben weil sie Schöpfung sein will, als einen Übergang zum Subjektiven, als eine Zeremonie zum Ruhme des Individuums zu begreifen – und die Analyse von Malraux scheint uns hier wenig gesichert. Es gibt nur noch ein Sujet in der Malerei, sagt er: der Maler selbst.3 Man sucht nicht mehr, wie Chardin, das samtene Aussehen der Pfirsiche wiederzugeben, sondern, wie bei Braque, das Samtene auf der Leinwand. Die Klassiker waren, ohne es zu wissen, sie selbst; der moderne Maler will zunächst originell sein, und sein Ausdrucksvermögen vermengt sich für ihn mit seiner individuellen Verschiedenheit.4 Da die Malerei nicht mehr für den Glauben oder für die Schönheit ist, ist sie für das Individuum,5 ist sie »die Annexion der Welt durch das Individuum«6. Der Künstler gehört also zur »Familie der Besessenen, der Süchtigen«7, wie jene dem starrsinnigen Genuß seiner selbst, dem Genuß des Dämons
3 Le mussée imaginaire, S. 59. Diese Seiten waren bereits geschrieben, als die endgültige Ausgabe der Psychologie de l’art (Les voix du silence, Gallimard) erschien. Wir zitieren nach der Skira-Ausgabe. 4 Le musée imaginaire, S. 79. 5 Ebd., S. 83. 6 La monnaie de l’absolu, S. 118. 7 La création artistique, S. 144.
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geweiht, das heißt alldem, was im Menschen den Menschen zerstört … Es ist jedoch klar, daß man die größte Mühe hätte, diese Definitionen beispielsweise auf Cézanne oder Klee anzuwenden. Und was jene Modernen betrifft, die mehr Skizzen als Gemälde liefern und von denen jedes Bild, als Signatur eines Lebensmomentes, in einer ›Ausstellung‹ in der Reihe der aufeinanderfolgenden Bilder betrachtet werden muß – so kann jenes Hinnehmen des Unvollendeten zweierlei bedeuten: Entweder haben sie tatsächlich auf das Werk verzichtet und suchen nur noch das Unmittelbare, das Empfundene, das Individuelle, den ›rohen Ausdruck‹, wie Malraux sagt – oder aber die Vollendung; die objektive und für die Sinne überzeugende Darstellung ist nicht mehr das Mittel noch das Zeichen des wahrhaft vollendeten Werkes, weil der Ausdruck fortan vom Menschen zum Menschen durch die gemeinsame Welt, die sie erleben, hindurchgeht, ohne den anonymen Bereich der Sinne oder der Natur zu durchlaufen. Baudelaire hat geschrieben – Malraux erinnert zu Recht daran –, »daß ein vollendetes Werk nicht notwendig fertig sei und ein fertiges Werk nicht notwendig vollendet«.8 Vollendet ist ein Werk also nicht, wenn es an sich existiert wie ein Ding, sondern wenn es seinen Betrachter berührt, ihn auffordert, die Geste wieder aufzunehmen, die es geschaffen hat, indem er alle Vermittlungen überspringt und ohne einen anderen Führer als eine Bewegung der erfundenen Linie oder einen fast unkörperlichen Strich in die schweigende Welt des Malers einzudringen, die nun vor uns ausgebreitet und zugänglich ist. Es gibt die Improvisation kindlicher Maler, die ihre eigene Geste nicht erlernt haben, und unter dem Vorwand, daß ein Maler eine Hand ist, meinen, es genüge, eine Hand zum Malen zu haben. Sie gewinnen aus ihrem Körper kleine Wunderdinge, wie ein verdrießlicher junger Mann dem seinen, vorausgesetzt, daß er ihn mit genügend Selbstgefälligkeit beobachtet, immer irgendeine kleine Seltsamkeit abgewinnen kann, die dazu gut ist, die Religion seiner selbst zu nähren. Aber es gibt auch die Improvisation dessen, der der Welt, die er aussagen will, zugewandt, sich schließlich, 8
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indem ein Wort das andere gibt, eine erlernte Stimme aneignet, die ihm mehr zugehört als sein ursprünglicher Schrei. Es gibt die Improvisation der ›écriture automatique‹ und die der Kartause von Parma Stendhals. Da die Wahrnehmung selbst niemals fertig ist, da unsere Perspektiven uns eine Welt auszudrücken und zu bedenken geben, die sie vereinigt, sie übersteigt und sich durch blitzartige Zeichen wie ein Wort oder eine Arabeske ankündigt, warum sollte dann das Ausdrücken der Welt der Prosa der Sinne oder des Begriffs unterworfen sein? Es muß vielmehr Poesie sein, das heißt, es muß unser reines Ausdrucksvermögen zur Gänze über die schon gesagten oder gesehenen Dinge hinaus wecken und versammeln. Die moderne Malerei wirft ein ganz anderes Problem als das einer Rückkehr zum Individuum auf: das Problem, herauszufinden, wie man ohne die Hilfe einer im voraus eingerichteten Natur, auf die hin all unsere Sinne geöffnet wären, kommunizieren kann, wie wir durch das, was uns am eigentümlichsten ist, mit dem Allgemeinen verbunden sind. Das ist eine der philosophischen Betrachtungsweisen, zu denen man die Analyse von Malraux ausweiten kann. Man muß sie lediglich von der Philosophie des Individuums oder des Todes lösen, die bei ihm im Vordergrund steht und nicht frei ist von einer gewissen Sehnsucht nach den sakralen Kulturepochen. Was der Maler im Bild festhält, ist nicht sein unmittelbares Selbst, eine Nuance des Empfindens, sondern seinen Stil, den er nicht weniger seinen eigenen Versuchen abgewinnen muß als der Malerei der anderen oder der Welt. Wieviel Zeit, sagt Malraux, braucht ein Schriftsteller, bevor er mit seiner eigenen Stimme zu sprechen gelernt hat. Und wieviel Zeit braucht der Maler, der nicht, wie wir, das entfaltete Werk vor sich hat, sondern es schafft, bevor er in seinen ersten Bildern die Umrisse dessen erkennt, was – jedoch nur dann, wenn er sich nicht über sich selbst täuscht – sein fertiges Werk sein wird. Mehr noch, er ist ebensowenig fähig, seine Bilder zu sehen, wie der Schriftsteller, sich selbst zu lesen. Erst in den anderen erhält der Ausdruck seine Gestalt und wird wirklich zur Bedeutung. Für den Schriftsteller oder für den Maler gibt es nur Anspielungen auf sich selbst, eine Vertrautheit mit dem per-
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sönlichen Raunen, das man auch inneren Monolog nennt. Der Maler arbeitet und zieht seine Furche und, außer wenn es sich um alte Werke handelt, bei denen er mit Vergnügen wiederfindet, was er geworden ist, betrachtet er sie nicht allzu gern: Er hat Besseres zur Hand; die Sprache seiner Reifezeit enthält den schwachen Ton seiner ersten Werke in höchster Potenz. Ohne zu ihnen zurückzukehren, und nur deshalb, weil sie bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten verwirklicht haben, fühlt er sich mit neuen Organen ausgestattet, und indem er das spürt, was über diese schon erprobte Möglichkeit hinaus zu sagen ist, wird er fähig – falls nicht jene mysteriöse Ermüdung auftritt, für die sich mehr als ein Beispiel findet –, im selben Sinne ›weiter‹ zu gehen, wie wenn jeder vollzogene Schritt einen anderen herausforderte und möglich machte, wie wenn jeder gelungene Ausdruck dem geistigen Mechanismus eine andere Aufgabe vorschriebe oder sogar eine Institution begründete, deren Funktionieren er nie bis zum letzen ergründen wird. Jenes ›innere Schema‹, das mit jedem neuen Bilde zwingender wird – so daß der berühmte Stuhl von van Gogh, wie Malraux sagt, zu »einem brutalen Ideogramm seines eigenen Namens wird« –, ist für van Gogh weder an seinen ersten Werken noch an seinem ›Innenleben‹ ablesbar (denn dann brauchte van Gogh nicht zu malen, um sich selbst zu finden und würde zu malen aufhören), es ist jenes Leben selbst, insofern es aus seiner inneren Gebundenheit heraustritt, aufhört, sich seiner selbst zu erfreuen und zu einem universellen Mittel wird, zu verstehen und verständlich zu machen, zu sehen und sehen zu lassen – nicht also, indem es im Innersten des stummen Individuums eingeschlossen bleibt, sondern sich in alles, was es sieht, verströmt. Bevor der Stil für die anderen zum Gegenstand einer Vorliebe wird, für den Künstler selbst (sehr zum Schaden seines Werkes) zum Gegenstand eines Genusses, muß jener fruchtbare Augenblick eingetreten sein, in dem er in seiner Erfahrung aufgekeimt ist, in dem ein fungierender und latenter Sinn seine Sinnbilder gefunden hat, die ihn freigeben und ihn gleichzeitig für den Künstler anwendbar und für die anderen zugänglich machen. Selbst wenn der Maler bereits gemalt hat und in gewisser Hinsicht Meister seiner selbst
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geworden ist, ist dasjenige, was ihm mit seinem Stil gegeben ist, keine Manier, nicht eine bestimmte Anzahl von Verfahrensweisen oder sonderbaren Gewohnheiten, von denen er ein Verzeichnis anlegen könnte, sondern eine Formulierungsweise, die für die anderen ebenso erkennbar, für ihn selbst aber so wenig sichtbar ist wie seine Silhouette oder seine alltäglichen Gesten. Wenn also Malraux schreibt, daß der Stil »das Mittel ist, die Welt nach den Werten des Menschen, der sie entdeckt, neu zu schaffen«,9 oder daß er »der Ausdruck einer der Welt geliehenen Bedeutung ist, ein Appell, und nicht die Folge eines Sehens«,10 oder schließlich »die Rückführung der ewigen Welt auf eine fragile menschliche Perspektive, die uns nach einem geheimnisvollen Rhythmus in einen Sog der Gestirne hineinzieht«11 – so versetzt er sich nicht in die Wirkungsweise des Stils selbst hinein; wie das Publikum betrachtet er sie von außen; er gibt einige Konsequenzen an, die geradezu sensationell sind – der Sieg des Menschen über die Welt –, die der Maler jedoch nicht im Blick hat. Der Maler bei der Arbeit weiß nichts von der Antithese von Mensch und Welt, Bedeutung und Absurdem, Stil und ›Darstellung‹: Er ist viel zu sehr beschäftigt, sein Verhältnis zur Welt auszudrücken, als sich etwas auf einen Stil einzubilden, der gleichsam ohne sein Wissen entsteht. Zwar ist der Stil für die Modernen viel mehr als ein Darstellungsmittel: Es gibt kein äußeres Modell, die Malerei existiert nicht vor der Malerei. Daraus darf man aber nicht folgern, wie Malraux es tut, daß die Darstellung der Welt für den Maler nur ein Stilmittel 12 sei, als wenn der Stil außerhalb jeden Kontakts zur Welt erkannt und gewollt werden könnte, als wenn er ein Zweck wäre. Vielmehr muß man ihn aus der Tiefe der Wahrnehmung des Malers als eines Malers auftreten sehen: Er ist ein Anspruch, der von ihr ausgeht. Malraux sagt es in seinen besten Passagen: Schon die Wahrnehmung stilisiert. Eine vorübergehende Frau ist für mich zu9 10 11 12
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nächst nicht ein körperlicher Umriß, eine bemalte Gliederpuppe, ein inszeniertes Schauspiel, sondern ›ein individueller, gefühlsmäßiger und sexueller Ausdruck‹, sie ist eine bestimmte Art, Leib (chair) zu sein, die ganz und gar in dem Gang oder auch nur in dem Klang des Absatzes auf dem Boden gegeben ist, wie die Spannung des Bogens in jeder Holzfaser gegenwärtig ist – eine sehr auffällige Abwandlung der Norm des Gehens, des Betrachtens, des Berührens, des Sprechens, die ich besitze, weil ich selbst Leib (corps) bin. Wenn ich außerdem Maler bin, wird das, was auf die Leinwand kommt, nicht mehr nur ein vitaler oder sinnlicher Wert sein, auf dem Bild wird nicht nur ›eine Frau‹, ›eine unglückliche Frau‹ oder ›eine Schneiderin‹ sein, sondern das Sinnbild einer bestimmten Art, die Welt zu bewohnen, mit ihr umzugehen, sie zu interpretieren durch das Gesicht wie durch die Kleidung, durch die Bewegtheit der Gebärde wie durch die Trägheit des Körpers, kurz, das Sinnbild einer bestimmten Beziehung zum Sein. Wenn jedoch jener Stil und jener wahrhaft bildnerische Sinn nicht in der gesehenen Frau sind – denn dann wäre das Bild schon fertig –, so werden sie zumindest durch sie herausgefordert. »Jeder Stil ist das Gestaltwerden von Elementen der Welt, die erlauben, diese nach einem ihrer wesentlichen Teile hin auszurichten.« Eine Bedeutung ist immer dann vorhanden, wenn die Gegebenheiten der Welt durch uns einer »kohärenten Deformierung«13 unterworfen werden. Jene Konvergenz aller sichtbaren und geistigen Kraftlinien des Bildes auf ein und dieselbe Bedeutung hin, ist in der Wahrnehmung des Malers bereits skizziert. Sie beginnt, sobald er wahrnimmt – das heißt, sobald er in der unzugänglichen Fülle der Dinge bestimmte Hohlräume, bestimmte Risse, Figuren und Hintergründe, ein Oben und Unten, eine Norm und eine Abweichung anbringt, sobald bestimmte Elemente der Welt den Wert von Dimensionen erhalten, nach denen wir fortan alles übrige ausrichten, in deren Sprache wir sie zum Ausdruck bringen. Der Stil ist bei jedem Maler ein System von Äquivalenzen, das er sich für dieses Werk des Ausdrucks schafft, das allgemeine 13
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Kennzeichen der ›kohärenten Deformierung‹, durch welche er den in seiner Wahrnehmung noch verstreuten Sinn zusammenfaßt und ihn ausdrücklich existieren läßt. Das Werk entsteht nicht in der Entfernung von den Dingen und in irgendeinem inneren Labor, zu dem der Maler, und nur er allein, den Schlüssel besäße. Ob er nun wirkliche Blumen oder Papierblumen betrachtet, er bezieht sich immer auf seine Welt, wie wenn das Prinzip der Äquivalenzen, durch die er sie bekunden will, immer schon in ihr gelegen hätte. Die Schriftsteller dürfen hierbei die Arbeit und das Studium des Malers nicht unterschätzen, jene der Anstrengung des Denkens so ähnliche Anstrengung, die uns von einer Sprache der Malerei reden läßt. Zwar überträgt der Maler sein Äquivalenzensystem, kaum daß er es dem Schauspiel der Welt entnommen hat, wiederum in Farben, in einen Quasi-Raum, auf eine Leinwand. Der Sinn prägt sich eher dem Bild ein, als daß das Bild ihn ausdrückt. »Der gelbe Riß am Himmel über Golgatha […] das ist eine Ding gewordene Angst, eine Angst, die sich in einen gelben Riß am Himmel verwandelt hat und plötzlich von den besonderen Eigenschaften der Dinge verschlungen und überzogen wird«.14 Der Sinn sickert vielmehr in das Bild ein, flimmert um es herum »wie ein Hitzedunst«15, mehr noch, als daß er durch es sichtbar würde. Er ist »wie eine riesige und vergebliche Anstrengung, die stets auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde stehen bleibt«, um auszudrücken, was die Natur des Gemäldes diesem auszudrücken versagt. Vielleicht ist dieser Eindruck für diejenigen unvermeidlich, die einen professionellen Umgang mit der Sprache pflegen, es passiert ihnen dasselbe, was uns passiert, wenn wir eine fremde Sprache hören, die wir schlecht sprechen: Wir finden sie eintönig, von zu scharfem Akzent und Geschmack, eben weil sie nicht die unsere ist und wir sie nicht zum Hauptinstrument unserer Beziehungen zur Welt gemacht haben. Der Sinn des Gemäldes bleibt für uns, die wir nicht durch die Malerei mit 14 15
Sartre, Situations II, S. 61. Ebd., S. 60.
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der Welt kommunizieren, gefangen. Aber für den Maler und selbst für uns, wenn wir bereit sind, in der Malerei zu leben, ist er viel mehr als ein ›Hitzedunst‹ auf der Oberfläche der Leinwand, da er ja fähig ist, diese Farbe oder diesen Gegenstand eher als alle anderen einzufordern, und da er das Arrangement des Gemäldes ebenso gebieterisch bestimmt wie eine Syntax oder eine Logik. Denn das ganze Bild liegt nicht in jenen kleinen Ängsten oder jenen begrenzten Freuden, von denen es durchsetzt ist: Sie sind nur Komponenten in einem totalen, weniger pathetischen als vielmehr lesbaren und dauerhaften Sinn. Ganz zu Recht führt Malraux die Anekdote des Wirtes von Cassis an, der Renoir bei der Arbeit am Meer zusieht und zu ihm herantritt: »[…] da waren nackte Frauen drauf, die irgendwo anders badeten. Er betrachtete irgend etwas, ich weiß nicht was, und er veränderte nur eine kleine Ecke.« Malraux bemerkte dazu: »Das Blau des Meeres war zu dem des Baches der Wäscherinnen geworden […] Sein Blick war weniger eine Weise, das Meer zu betrachten, als das verborgene Hervorbringen einer Welt, der gerade jenes tiefe Blau zugehörte, das er bis ins Unermeßliche wiederholte.« 16 Dennoch betrachtete Renoir das Meer. Warum aber gehörte das Blau des Meeres der Welt seiner Malerei an? Wie konnte es ihn etwas lehren, was den Bach der Wäscherinnen betraf? Eben deshalb, weil jedes Fragment der Welt – und besonders das Meer, das bald von Wirbeln, Kräuseln und Schaumkronen überzogen, bald massiv und unbeweglich in sich selbst ruht – vielerlei Gestalten des Seins in sich birgt, es durch die Art, wie es dem Angriff des Blickes begegnet, eine Reihe möglicher Varianten wachruft und so eine allgemeine Weise lehrt, das Sein auszusagen und über sich hinauszugehen. So kann man am Meer bei Cassis badende Frauen und einen Süßwasserbach malen, weil man von dem Meer – wie nur dieses es lehren kann – die Art und Weise abverlangt, wie es die flüssige Substanz interpretiert, sie sichtbar macht, wie es diese mit sich selbst verbindet, kurz, wegen einer Typik der Erscheinungsweisen des Wassers. Man kann malen, indem man die Welt be16
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trachtet, weil es dem Maler scheint, daß er den Stil, der ihn in den Augen der anderen definieren wird, in den Erscheinungen selbst findet, und er glaubt, die Natur in dem Augenblick buchstabieren zu können, wo er sie neu schafft. »Ein bestimmtes unaufhebbares Gleichgewicht oder Ungleichgewicht von Farben und Linien überwältigt den, der entdeckt, daß die halb geöffnete Tür zu einer anderen Welt führt.«17 Eine andere Welt – nämlich dieselbe, die der Maler sieht und die seine eigene Sprache spricht, doch von jenem namenlosen Gewicht befreit, das sie zurückhielt und in der Mehrdeutigkeit beließ. Wie sollten der Maler oder der Dichter etwas anderes aussagen als ihre Begegnung mit der Welt? Wovon spricht denn selbst die abstrakte Kunst, wenn nicht von einer Ablehnung oder Zurückweisung der Welt? Denn die Strenge, das Besessensein von Oberflächen und geometrischen Formen (oder von Infusorien und Mikroben, denn das Tabu, unter dem das Leben steht, beginnt merkwürdigerweise erst mit den mehrzelligen Lebewesen) vermitteln noch einen Hauch von Leben, auch wenn es sich um ein schamhaftes oder verzweifeltes Leben handelt. Immer also sagt das Gemälde etwas aus, ist es ein neues Äquivalenzensystem, das gerade diese Umwälzung erfordert, und im Namen eines wahreren Verhältnisses zwischen den Dingen werden ihre gewöhnlichen Beziehungen aufgelöst. Ein endlich freies Sehen und Handeln hebt im Falle der Maler die gewöhnliche Anordnung der Dinge auf und gruppiert sie neu – im Falle der Dichter geschieht dies mit den Worten. Aber es genügt nicht, die Sprache zu zerschlagen oder in Brand zu setzen, um die Illuminationen zu schreiben; und Malraux bemerkt scharfsinnig von den modernen Malern: »Obwohl keiner von ihnen von Wahrheit sprach, sprachen alle hinsichtlich der Werke ihrer Gegner von Hochstapelei.«18 Sie wollen nichts wissen von einer Wahrheit, die in der Ähnlichkeit zwischen Malerei und Welt bestünde. Sie würden den Gedanken einer Wahrheit akzeptieren, die in der Kohärenz des Gemäldes mit sich selbst bestünde, in der Anwesenheit eines ein17 18
Ebd., S. 142. La monnaie de l’absolu, S. 125.
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zigen Prinzips in ihr, das jedem Ausdrucksmittel einen bestimmten Gebrauchswert zuordnet. Wenn nun aber ein Pinselstrich die im Prinzip vollständige Wiederherstellung der Erscheinungen ersetzt, um uns die Wolle oder das Fleisch zu vergegenwärtigen, so tritt nicht das Subjekt an die Stelle des Gegenstands, sondern die anspielungsreiche Logik der wahrgenommenen Welt. Man will immer etwas bedeuten, es gibt stets etwas zu sagen, dem man mehr oder weniger nahekommt. Das ›Weitergehen‹ van Goghs weist jedoch in dem Augenblick, wo er Die Raben malt, nicht mehr auf irgendeine Realität hin, die man anstreben muß, sondern einfach auf das, was noch zu tun bleibt, um die Begegnung des Blickes mit den Dingen, die ihn anziehen, dessen, was sein soll, mit dem, was ist, wiederherzustellen. Diese Beziehung gehört sicher nicht zu denen, die sich nachahmen lassen. »Wie immer in der Kunst, gilt es zu lügen, um die Wahrheit zu sagen«, bemerkt Sartre mit Recht. Man sagt, daß die genaue Wiedergabe eines Gespräches, das brillant erschien, hinterher dürftig erscheint. Es fehlt ihr die Gegenwart derer, die sprachen, die Gesten, die Physiognomien, das Empfinden eines Ereignisses, das sich plötzlich ergibt, einer fortgesetzten Improvisation. Das Gespräch findet fortan nicht mehr statt, es besteht, verflacht zur alleinigen Dimension des Akustischen, um so enttäuschender, wenn jenes auditive Medium das eines gelesenen Textes ist. Damit gerade das Kunstwerk, das sich oft nur an einen unserer Sinne wendet und uns niemals ganz umfängt wie das Erlebte, uns den Geist erfüllt, wie es das tut, muß es etwas anderes sein als die unterkühlte Existenz, muß es, wie Gaston Bachelard sagt, eine ›Überexistenz‹ sein. Doch gehört es nicht der Willkür oder, wie man sagt, der Fiktion an. Die moderne Malerei, wie ganz allgemein das moderne Denken, zwingt uns, eine Wahrheit anzuerkennen, die nicht den Dingen ähnelt, die kein äußeres Modell hat, die ohne prädestinierte Ausdrucksinstrumente besteht und die dennoch Wahrheit ist.Wenn man den Maler, wie wir es zu tun versuchen, in Kontakt mit seiner Welt versetzt, wird man vielleicht die Metamorphose weniger rätselhaft finden, mit der er die Welt in Malerei verwandelt, die Metamorphose, die ihn von sei-
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nen Anfängen bis zu seiner Reife hinsichtlich seiner selbst verändert und die schließlich in jeder Generation bestimmten Werken der Vergangenheit einen Sinn verleiht, den man vorher nicht wahrgenommen hat. Wenn ein Schriftsteller die Malerei und die Maler betrachtet, ist er ungefähr in der Lage der Leser gegenüber dem Schriftsteller oder in der eines Verliebten, der an die abwesende Frau denkt. Wir erfassen den Schriftsteller vom Werk her, der Verliebte faßt die abwesende Geliebte in den wenigen Worten, den wenigen Haltungen, in denen sie sich am reinsten ausgedrückt hat. Begegnet er ihr wieder, so ist er versucht, das berühmte ›Quoi, ce n’est que cela?‹ Stendhals zu wiederholen. Wenn wir die Bekanntschaft eines Schriftstellers machen, sind wir auf eine fast törichte Art enttäuscht, nicht in jedem Augenblick seiner Gegenwart jenes Wesentliche wiederzufinden, jene untadelige Sprache, die wir mit seinem Namen zu verbinden pflegen. Das also macht er mit seiner Zeit? So ein häßliches Haus bewohnt er? Das sind seine Freunde, die Frau, deren Leben er teilt? Um so kleinliche Dinge ist er besorgt? – All das aber sind nur Hirngespinste oder sogar Neid, geheimer Haß. Man bewundert, wo man es tun sollte, nur, nachdem man verstanden hat, daß es keine Übermenschen gibt, keinen Menschen, der nicht ein Menschenleben zu leben hätte, und daß das Geheimnis der geliebten Frau, des Schriftstellers oder des Malers nicht irgendwo jenseits seines empirischen Lebens liegt, sondern so mit seinen alltäglichen Erfahrungen vermischt, mit seiner Wahrnehmung der Welt so diskret verwoben ist, daß es gar nicht möglich ist, ihm davon unabhängig von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Wenn man die Psychologie der Kunst liest, hat man manchmal den Eindruck, daß Malraux, der als Schriftsteller das alles sicher weiß, es vergißt, wenn es sich um die Maler handelt, daß er ihnen dieselbe Art von Kult widmet, den er, so meinen wir, bei seinen Lesern ablehnen würde, kurz, daß er sie in Götter verwandelt. »Welcher Genius ist nicht fasziniert von diesem Äußersten der Malerei, von jenem Appell, vor dem die Zeit ins Wanken gerät? Es ist der Augenblick der Besitznahme der Welt. Wenn die Malerei noch weiter gehen könnte, so würde der alte Frans Hals Gott
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sein.«19 Das ist vielleicht der Maler, wie er von den anderen gesehen wird. Der Maler selbst ist ein Mensch bei der Arbeit, der jeden Morgen in der Gestalt der Dinge denselben Fragen, derselben Aufforderung begegnet, auf die er nie endgültig geantwortet hat. In seinen Augen ist sein Werk niemals fertig, es ist immer im Werden, so daß niemand es gegen die Welt ins Feld führen kann. Einmal entzieht sich das Leben, erschlafft der Körper; ein anderes Mal, noch trauriger, hört die im Schauspiel der Welt versteckte Frage auf, sich zu stellen. Dann ist der Maler nicht mehr Maler, oder der Maler ist zu einem Maler honoris causa geworden. Aber solange er malt, geschieht es immer im Hinblick auf sichtbare Dinge, oder wenn er blind ist oder erblindet, im Gedanken an jene unausweichliche Welt, zu der er durch andere Sinne vordringt und über die er mit den Worten eines Sehenden spricht. Und deshalb ist seine Arbeit, die für ihn selbst dunkel bleibt, dennoch gelenkt und orientiert. Es geht immer nur darum, dieselbe schon offene Furche weiterzuziehen, einen Akzent wieder aufzugreifen und zu verallgemeinern, der schon im Winkel eines früheren Gemäldes oder in irgendeinem Augenblick seiner Erfahrung aufgetaucht war, ohne daß der Maler selbst jemals sagen könnte – da diese Unterscheidung keinen Sinn hat –, was von ihm und was von den Dingen stammt, was das neue Werk den alten hinzufügt, was er von den anderen entnommen hat und was ihm gehört. Jene dreifache Wiederaufnahme, welche die Gestaltung des Ausdrucks zu einer Art provisorischer Ewigkeit macht, ist nicht nur eine Metamorphose im Sinne der Feenmärchen – Wunder, Magie, absolute Schöpfung in einer aggressiven Einsamkeit –, sondern auch eine Antwort auf das, wonach die Welt, die Vergangenheit, die schon fertigen Werke fragten: Vollendung, Brüderschaft. Husserl hat dafür das schöne Wort der Stiftung gebraucht, um zunächst die unbegrenzte Fruchtbarkeit jeder Gegenwart zu bezeichnen, die, eben weil sie einzigartig ist und vorübergeht, niemals aufhören kann, gewesen und also universell zu sein – vor allem aber die Fruchtbarkeit der Kulturgüter, die 19
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noch nach ihrem Erscheinen Geltung beanspruchen und ein Forschungsfeld eröffnen, in dem sie unaufhörlich wieder aufleben. So geschieht es, daß der bereits gewonnene Anblick der Welt, seine ersten Malversuche und die gesamte Vergangenheit der Malerei dem Maler eine Tradition vermitteln, das heißt, wie Husserl anmerkt, die Fähigkeit, die Ursprünge zu vergessen und der Vergangenheit nicht ein schlichtes Überleben zu gewähren, das die heuchlerische Form des Vergessens ist, sondern ihr ein neues Leben zu geben, welches die edle Form der Erinnerung ist. Malraux hebt nachdrücklich das Trügerische und Lächerliche in der Komödie des Geistes hervor: jene zeitgenössischen Feinde, Delacroix und Ingres, in denen die Nachwelt Zwillinge erkannte, jene Maler, die Klassiker sein wollen und nur Neo-Klassiker, das heißt das Gegenteil sind, jene Stilarten, die dem Blick des Schöpfers entgehen und erst sichtbar werden, wenn das Museum Werke zusammenträgt, die über die ganze Erde verstreut sind, wenn die Fotografie Miniaturen vergrößert, durch ihre Ausschnitte ein Stück des Gemäldes umwandelt, Glasmalereien, Teppiche und Geldmünzen in Gemälde verwandelt, und der Malerei ein Bewußtsein ihrer selbst vermittelt, das immer retrospektiv bleibt … Wenn aber der künstlerische Ausdruck neu erschafft und verwandelt, so galt das schon für die Zeiten, die der unseren vorausgegangen sind, und es galt auch von unserer Wahrnehmung der Welt vor der Malerei, da sie ja schon in den Dingen die Spur einer menschlichen Bearbeitung hinterließ. Die Erzeugnisse der Vergangenheit, die die Gegebenheiten unserer Zeit sind, überschritten ebenfalls die früheren Erzeugnisse auf eine Zukunft hin, die wir sind, und verlangten insofern von vielen anderen die Verwandlung, die wir mit ihnen vornehmen. Man kann ebensowenig das Inventar einer Malerei aufstellen – sagen, was da ist und was nicht –, wie man nach den Linguisten kein Vokabular vollständig auflisten kann, und zwar aus demselben Grunde: Hier wie dort handelt es sich nicht um eine endliche Summe von Zeichen, sondern um ein offenes Feld oder ein neues Organ menschlicher Kultur. Kann man leugnen, daß jener klassische Maler beim Malen irgendeines Teilstückes seines Bildes eben
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schon die Geste jenes modernen Malers erfunden hat? Kann man aber vergessen, daß er sie nicht zum Prinzip seiner Malerei erhoben hat und daß er sie in diesem Sinne nicht erfunden hat, wie der Heilige Augustinus sich nicht das Cogito zur Überschrift seiner wichtigsten Gedanken ausgedacht hat, sondern ihm lediglich begegnet ist? Die Träumereien, mit denen jede Zeit, wie Aron sagte, sich ihre Ahnen sucht, sind indessen nur möglich, weil alle Zeiten einem selben Universum zugehören. Die Klassik und die Moderne gehören zum Universum der Malerei, begriffen als eine einzige Aufgabe von den ersten Höhlenzeichnungen an bis zu unserer ›bewußten‹ Malerei. Wenn diese in Kunstarten, die an eine ganz andere Erfahrung als die unsere gebunden sind, etwas findet, was sie wieder aufgreift, dann sicher so, daß sie jene umgestaltet, aber auch so, daß jene sie schon ahnen lassen, daß sie ihr zumindest etwas zu sagen haben und daß ihre Künstler in dem Glauben, die furchterregenden Gebilde der Primitiven oder die Asiens und Ägyptens fortzusetzen, insgeheim eine andere Zeit einleiteten, die noch die unsere ist und die uns jene gegenwärtig erhält, wohingegen die Herrschafts- und Glaubensformen, denen sie anzugehören meinten, seit langem verschwunden sind. Die Einheit der Malerei findet sich nicht nur im Museum, sie liegt in jener einzigen Aufgabe, die sich allen Malern stellt und die es ermöglicht, daß sie eines Tages im Museum vergleichbar sein werden und daß diese Leuchtfeuer sich in der Nacht gegenseitig antworten. Die ersten Höhlenzeichnungen gaben die Welt ›zu malen‹ oder ›zu zeichnen‹ auf, appellierten an eine unbegrenzte Zukunft der Malerei, und deshalb sprechen sie zu uns, und wir antworten ihnen durch Metamorphosen, in denen sie mit uns zusammenwirken. So gibt es zwei Geschichtlichkeiten, die eine ironisch oder sogar spöttisch und aus Widersinn bestehend, weil jede Zeit gegen die anderen wie gegen Fremdlinge kämpft, indem sie ihnen ihre Probleme und Perspektiven aufzwingt. Sie ist eher Vergessen als Gedächtnis, sie ist Zerstückelung, Ignoranz, Äußerlichkeit. Aber die andere, ohne die die erste unmöglich wäre, wird Schritt für Schritt konstituiert und rekonstituiert durch das Interesse, das wir dem entgegenbringen, was wir nicht sind, durch
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jenes Leben, das uns die Vergangenheit in einem steten Austausch zuträgt und in uns findet, die lebendige Vergangenheit, die in jedem Maler, der mit jedem neuen Werk das ganze Unternehmen der Malerei neu belebt, aufnimmt und weiterführt. Jene kumulative Geschichte, in der die Gemälde durch das, was sie zum Ausdruck bringen, zueinanderfinden, ordnet Malraux oft jener unerbittlichen Geschichte unter, in der die Maler sich gegenüberstehen, weil sie sich gegenseitig verleugnen. Für ihn findet die Aussöhnung erst im Tod statt, und immer erst nachträglich erkennt man das einzigartige Problem, auf das die rivalisierenden Gemälde antworten und das sie zu Zeitgenossen macht. Wenn es aber nicht schon wirklich in den Malern gegenwärtig und wirksam gewesen wäre – wenn auch nicht im Zentrum ihres Bewußtseins, so doch am Horizont ihrer Arbeit –, so begreift man nicht, wie das zukünftige Museum es herausfinden könnte. Man kann vom Maler ungefähr sagen, was Valéry vom Priester sagte: daß er ein Doppelleben führe und die Hälfte seines Brotes geweiht sei. Er ist zwar jener reizbare und leidende Mensch, für den jede andere Malerei eine Rivalin ist. Aber seine Zorn- und Haßausbrüche sind der Ausstoß eines Werkes. Von Eifersucht beherrscht, trägt der Unglückliche überall jenes Unsichtbare, seinen Albträumen entbundene Double mit sich herum: sich selbst, so wie sein Malen ihn definiert, und das ›historische Siegel‹, wie Péguy sagte, welches nur Abstammungen und Verwandtschaften anzeigt, die der Maler sehr wohl anerkennen kann, wenn er nur bereit ist, sich nicht für Gott zu halten und nicht jede Bewegung seines Pinsels als einzigartig zu verherrlichen. Was für uns ›einen Vermeer‹ ausmacht – Malraux weist es genau nach –, ist nicht die Tatsache, daß diese bemalte Leinwand eines Tages aus den Händen des Menschen Vermeer gekommen ist, sondern daß das Bild dem Äquivalenzsystem entspricht, nach dem jedes seiner Elemente, wie hundert Zeiger auf hundert Zifferblättern, dieselbe Abweichung aufweist, daß es die Sprache Vermeers spricht. Selbst wenn es dem Bilderfälscher gelänge, nicht nur die Verfahrensweisen, sondern auch den Stil der großen Vermeers zu übernehmen – so wäre er kein Fälscher mehr, sondern einer jener
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Maler, die im Atelier der Klassiker für den Meister malten. Das ist zwar nicht möglich: Man kann nicht nach Jahrhunderten anderer Malerei, in denen das Problem der Malerei selbst seinen Sinn verändert hat, auf einmal wie Vermeer malen. Daß aber das Bild heimlich von einem unserer Zeitgenossen ausgeführt worden sei, ist nur insofern für die Qualifikation des Fälschers relevant, als es ihn daran hindert, den Stil Vermeers tatsächlich zu erreichen. So dient der Name Vermeers wie derjenige jedes großen Malers schließlich dazu, eine Art von Institution zu bezeichnen; und genau wie es Aufgabe der Geschichte ist, hinter ›dem Parlament im Ancien Régime‹ oder hinter ›der Französischen Revolution‹ zu entdecken, was sie in der Dynamik der menschlichen Beziehungen wirklich bedeuten, welche Modulation dieser Beziehungen sie darstellen, und deshalb das eine als nebensächlich und das andere als wesentlich bezeichnet wird, ebenso müßte eine wirkliche Geschichte der Malerei hinter der unmittelbaren Erscheinungsform der Vermeer zugeschriebenen Bilder eine Struktur, einen Stil, einen Sinn suchen, demgegenüber mögliche unstimmige Einzelheiten, die seinem Pinsel durch Müdigkeit, zufällige Umstände oder Selbstnachahmung herausgerutscht sind, nebensächlich erscheinen. Wenn sie über die Echtheit eines Bildes nur durch dessen Prüfung urteilen kann, so nicht nur deshalb, weil uns die Informationen über die Herkunft fehlen, sondern weil der vollständige Werkkatalog eines Meisters nicht ausreicht, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich von ihm stammt, weil er selbst einen bestimmten Ausdruck in der Sprache der Malerei bildet, der nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft hin widerhallt in eben dem Maße, wie er das gar nicht beabsichtigt, und weil er zu allen anderen Versuchen genau in dem Maße in Beziehung tritt, wie er sich nachdrücklich mit seiner Welt befaßt. Der Rückblick kann durchaus unentbehrlich sein, damit diese wirkliche Geschichte sich von der empirischen abhebt, die nur auf Vorfälle (événements) achtet und den eigentlichen Ereignissen (avènements) gegenüber blind ist – zunächst jedoch ist sie vorgezeichnet im gesamten Wollen des Malers. Die Geschichte schaut nur auf die Vergangenheit zurück, weil der Maler zunächst
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auf das zukünftige Werk geschaut hat. Eine brüderliche Gemeinsamkeit der Maler besteht im Tode nur deshalb, weil sie dasselbe Problem erleben. Insofern ist die Funktion des Museums wie die der Bibliothek nicht nur von Vorteil. Das Museum ermöglicht es uns zwar, Werke als Momente einer einzigen Anstrengung zusammen zu sehen, die in der Welt verstreut waren und die versunken in den Kulten oder Zivilisationen, deren Schmuck sie sein wollten, verborgen lagen; dadurch begründet es unser Bewußtsein von der Malerei als Malerei. Dieses ist jedoch zunächst in jedem Maler, der arbeitet, und zwar dort in reiner Form; wohingegen das Museum es mit dem zweifelhaften Vergnügen der Retrospektive kompromittiert. Man sollte ins Museum gehen wie die Maler, in der nüchternen Freude an der Arbeit, und nicht wie wir, mit einer Ehrfurcht, die nicht ganz echt ist. Das Museum vermittelt uns ein Bewußtsein von Dieben. Ab und zu fällt uns ein, daß jene Werke ja nicht geschaffen worden sind, um zwischen diesen finsteren Mauern zu enden, zum Vergnügen der Sonntagsspaziergänger oder der Montags›Intellektuellen‹. Wir spüren den Verlust und daß jene Friedhofsruhe nicht die wahre Umgebung der Kunst ist, daß soviel Freuden und Leiden, soviel Besessenheit und Arbeit nicht dazu bestimmt waren, eines Tages das fahle Licht eines Museums zu reflektieren. Indem das Museum Versuche in ›Werke‹ verwandelt, macht es eine Geschichte der Malerei möglich. Vielleicht aber ist es den Menschen wesentlich, nur dann in ihren Werken Größe zu erreichen, wenn sie sie nicht allzusehr suchen, vielleicht ist es gar nicht schlecht, daß der Maler und der Schriftsteller nicht allzu genau wissen, daß sie im Begriff sind, dem Menschsein ein Fundament zu schaffen, vielleicht endlich haben sie für die Geschichte der Kunst ein echteres und lebendigeres Empfinden, wenn sie sie in ihrer Arbeit fortsetzen, als wenn sie sie als ›Kunstliebhaber‹ im Museum betrachten. Das Museum fügt dem wahren Wert der Werke einen falschen Nimbus hinzu, indem es sie den Zufällen entzieht, unter denen sie entstanden sind, und indem es uns glauben macht, daß schicksalhafte Vorbestimmungen die Hand der Künstler seit eh und je leiten. Während der Stil in jedem Maler
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wie der Pulsschlag seines Herzens lebendig war und ihn deshalb befähigte, jedes andere Bemühen als das seine wiederzuerkennen, kehrt das Museum diese verborgene, schamhafte, unüberlegte, unwillkürliche Geschichtlichkeit in eine offizielle und pompöse Geschichte um. Eine sich ankündigende Regression verleiht unserer Zuneigung für irgendeinen Maler eine pathetische Nuance, die ihm durchaus fremd war. Er hat ein ganzes Menschenleben hindurch gearbeitet – wir aber sehen sein Werk wie Blumen am Rande eines Abgrundes. Das Museum macht uns die Maler so geheimnisvoll wie Tintenfische oder Langusten. Jene Werke, die in der Hitze eines Lebens entstanden sind, verwandelt es in Wunder einer anderen Welt, und der Hauch, der sie belebte, ist in der bedächtigen Atmosphäre des Museums und hinter schützenden Glasscheiben nur noch ein schwaches Zucken auf ihrer Oberfläche. Das Museum tötet die Vehemenz der Malerei, wie die Bibliothek, nach Sartre, Schriften, die zunächst Gesten eines Menschen waren, in ›Botschaften‹ verwandelt. Es ist die Geschichtlichkeit des Todes. Doch gibt es eine Geschichtlichkeit des Lebens, von der jene nur ein entstelltes Abbild bietet: die Geschichtlichkeit nämlich, die den Maler bei der Arbeit beseelt, wenn er mit einer einzigen Geste die Tradition, die er aufgreift, mit der Tradition, die er stiftet, verknüpft, jene, die ihn auf einen Schlag mit allem, was jemals in der Welt gemalt worden ist, verbindet, ohne daß er seinen Ort, seine Zeit, seine gesegnete und verfluchte Arbeit aufzugeben hätte, und die die Malweisen miteinander versöhnt, insofern jede von ihnen die gesamte Existenz zum Ausdruck bringt, insofern sie alle gelungen sind – anstatt sie zu versöhnen, insofern sie alle als abgeschlossen und ausnahmslos als hohle Gesten begriffen werden. Wenn man die Malerei in ihre Gegenwart zurückversetzt, wird man sehen, daß sie nicht die Schranken zuläßt, die unser Purismus zwischen dem Maler und den anderen, zwischen dem Maler und seinem eigenen Leben wiederholen möchte. Selbst wenn der Wirt von Cassis die Metamorphose nicht versteht, mit der Renoir das Blau des Mittelmeeres in das Wasser der Wäscherinnen verwandelt, so hat er doch immerhin Renoir bei der Arbeit sehen
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wollen; das interessiert auch ihn, und letztlich gibt es nichts, was ihn hindern könnte, den Weg wiederzufinden, den die Höhlenbewohner eines Tages ohne Tradition eröffnet haben. Renoir hätte wohl unrecht gehabt, den Wirt um Rat zu fragen oder ihm zu gefallen zu versuchen. In diesem Sinne malte er nicht für den Wirt. Er selbst definierte durch seine Malerei die Bedingungen, unter denen er sich verstanden wissen wollte. Schließlich aber malte er; er befragte das Sichtbare und brachte Sichtbares zustande. Der Welt und dem Wasser des Meeres rang er das Geheimnis des Wassers der Wäscherinnen ab. So öffnete er für diejenigen, die wie er von der Welt benommen waren, den Übergang vom einen zum anderen. Wie J. Vuillemin gesagt hat, ging es nicht darum, ihre Sprache zu sprechen, sondern sie im eigenen Ausdruck ausdrücklich werden zu lassen. Die Beziehung des Malers zu seinem eigenen Leben liegt auf derselben Ebene: Sein Stil ist nicht der Lebensstil, aber er zieht ihn auch in seinen künstlerischen Ausdruck mit hinein. Man versteht, daß Malraux psychoanalytische Erklärungen in der Malerei nicht schätzt. Selbst wenn der Mantel der Heiligen Anna ein Geier ist, selbst wenn man zugibt, daß, während da Vinci ihn als Mantel malte, ein zweiter da Vinci in da Vinci den Mantel mit geneigtem Kopf nach Art eines Rätselraters als einen Geier entzifferte (schließlich ist das nicht unmöglich: Im Leben da Vincis zeigt sich eine Vorliebe für die Mystifizierung des Schrecklichen, die ihm sehr wohl eingeben konnte, seine Ungeheuer in ein Kunstwerk zu bannen) – so würde niemand mehr von jenem Geier sprechen, wenn das Gemälde nicht einen anderen Sinn hätte. Die Erklärung gibt nur über Einzelheiten Aufschluß und höchstens über Materialarten. Selbst wenn man zugibt, daß der Maler deshalb gern mit Farben umgeht, der Bildhauer mit Ton, weil er dem ›analen‹ Typus angehört – so sagt uns das noch nicht, was es heißt, zu malen oder zu bildhauern.20 Aber auch die ganz entgegengesetzte Haltung, die devote Verehrung 20 So hat Freud auch niemals behauptet, daß er da Vinci durch den Geier erklären würde; er hat in etwa gesagt, daß die Analyse dort aufhört, wo die Malerei beginnt.
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der Künstler, die uns verbietet, irgend etwas über ihr Leben in Erfahrung zu bringen und ihr Werk wie ein Wunder fern von jeder persönlichen oder öffentlichen Geschichte und außerhalb der Welt situiert, verdeckt uns ebenso ihre wahre Größe. Wenn Leonardo da Vinci etwas anderes ist als eines der unzähligen Opfer einer unglücklichen Kindheit, so nicht deshalb, weil er ein Halbgott war, sondern weil es ihm gelang, aus allem, was er erlebt hat, ein Mittel zur Interpretation der Welt zu machen – und dies nicht etwa deshalb, weil er keinen Körper oder kein Gesicht gehabt hätte, sondern genau weil durch ihn seine leibliche oder vitale Situation zur Sprache gekommen ist. Beim Übergang von der Ordnung der Ereignisse zu der des Ausdrucks wechselt man nicht die Welt: Dieselben Gegebenheiten, die hingenommen wurden, werden zu einem bedeutsamen System. Mögen sie aus dem Inneren noch so sehr ausgegraben, herausgearbeitet und schließlich von ihrem Gewicht, das schmerzhaft und verletzend auf uns lastete, befreit sein, mögen sie transparent oder sogar leuchtend geworden sein und geeignet, nicht nur die Aspekte der Welt, die ihnen ähneln, sondern auch die anderen zu erhellen, mögen sie noch so sehr verwandelt sein – so hören sie doch nicht auf, einfach da zu sein. Die Kenntnis, die man von ihnen haben kann, kann niemals die Erfahrung des Werkes selbst ersetzen. Aber sie hilft, den Schöpfungsakt zu ermessen, und sie lehrt uns jenes Überschreiten an Ort und Stelle, das als einziges ohne Rückkehr ist. Wenn wir uns in den Maler hineinversetzen, um jenem entscheidenden Augenblick beizuwohnen, wo ihm das, was ihm an körperlichem Geschick, persönlichen Erlebnissen oder historischen Ereignissen gegeben ist, zu einem ›Motiv‹ kristallisiert, werden wir erkennen, daß sein Werk, das niemals eine Wirkung der Vorkommnisse ist, immer eine Antwort auf jene Gegebenheiten darstellt und daß der Leib, das Leben, die Landschaften, die Schulen, die Geliebten, die Gläubiger, die Versicherungen, die Revolutionen, die die Malerei ersticken können, auch das Brot sind, das diese zu ihrem Sakrament macht. In der Malerei leben, das heißt immer noch, diese Welt einatmen – vor allem für den, der in der Welt etwas zu malen sieht, und das geht jedem Menschen ein wenig so.
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Gehen wir dem Problem auf den Grund. Malraux denkt über die Miniaturen und die Geldstücke nach, bei denen die fotografische Vergrößerung in wunderbarer Weise den Stil auch der Werke großen Formates aufdeckt, oder über Werke, die außerhalb der Grenzen Europas ausgegraben wurden, weitab von jedem ›Einfluß‹, und bei denen die Modernen fassungslos denselben Stil entdecken, den eine bewußte Malerei anderswo wieder neu erfunden hat. Wenn man die Kunst in das Innerste des Individuums eingeschlossen hat, dann erklärt sich die Konvergenz der Werke nur durch irgendein Schicksal, das sie beherrscht. »[…] Wie wenn ein imaginärer Geist der Kunst – von der Miniatur zum Gemälde, vom Fresko zum Glasfenster – überall dieselbe Eroberung vorwärtstriebe und sie abrupt wieder aufgäbe für eine andere, parallele oder plötzlich entgegengesetzte, so wie wenn ein unterirdischer Strom der Geschichte all jene verstreuten Werke vereinte, indem er sie mit sich risse […] Ein Stil, der in seiner Entwicklung und seinen Verwandlungen bekannt ist, wird weniger zu einer Idee als zum Trugbild einer lebendigen Fatalität. Die Reproduktion, und nur sie, hat jene imaginären Über-Künstler in die Kunst eingeführt, deren Geburt im Dunkeln bleibt, die ein Leben führen, Eroberungen und Zugeständnisse an den Geschmack des Reichtums oder der Verführung machen, die untergehen und wieder auferstehen, und die sich Stile nennen.«21 Malraux begegnet also zumindest als Metapher der Idee einer Geschichte, die die entferntesten Versuche vereinigt, einer Malerei, die hinter dem Rücken des Malers wirkt, einer Vernunft in der Geschichte, deren Instrument er ist. Diese Hegelschen Ungeheuer sind die Antithese und die Ergänzung seines Individualismus. Was wird aus ihnen, wenn die Theorie der Wahrnehmung den Maler in die sichtbare Welt zurückversetzt und den Leib als spontanen Ausdruck wiederfindet? Gehen wir von der einfachsten Tatsache aus – über die wir ja schon einige Aufklärung gegeben haben. Die Lupe bringt auf der Medaille oder der Miniatur eben den Stil der großformatigen 21
Le musée imaginaire, S 52.
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Kunstwerke zutage, weil die Hand ihren Stil überall hinträgt; dieser ist ungeteilt in der Geste, und er hat es nicht nötig, auf jedem Punkt der Zeichnung schwer zu lasten, um die Materie mit seiner Linienführung zu prägen. Unsere Schrift erkennt man wieder, ob wir nun mit drei Fingern der Hand Buchstaben auf Papier zeichnen oder mit unserem ganzen Arm auf die Tafel mit Kreide schreiben; denn sie ist kein Automatismus, der in unserem Körper an bestimmte Muskeln gebunden wäre, der nur bestimmte materiell definierte Bewegungen ausführte, sondern ein allgemeines Vermögen motorischer Gestaltung, das Transpositionen ermöglicht, die die Konstanz des Stils ausmachen. Oder vielmehr, es handelt sich nicht einmal um eine Transposition: Wir schreiben einfach nicht im Raum an sich, mit einer Ding-Hand und einem Ding-Körper, denen jede neue Situation neue Probleme stellte. Wir schreiben im wahrgenommenen Raum, wo Ergebnisse gleicher Form auf Anhieb vergleichbar sind und wo die Unterschiede des Maßstabes unbekannt bleiben, genau wie auch dieselbe Melodie, in verschiedenen Tonlagen vorgetragen, unmittelbar identifiziert wird. Und die Hand, mit der wir schreiben, ist eine Phänomen-Hand, die zugleich mit einer Bewegungsformel so etwas wie das Anwendungsgesetz auf Einzelfälle besitzt, in denen sich die Bewegung verwirklichen können muß. Das ganze Wunder des Stils, das schon in den unsichtbaren Elementen eines Werkes gegenwärtig ist, rührt also daher, daß der Künstler, der in der menschlichen Welt wahrgenommener Dinge wirkt, seinen Stempel auch der nichtmenschlichen Welt aufprägt, welche die optischen Apparate enthüllen; so wie der Schwimmer, ohne es zu wissen, über eine ganze verborgene Welt hinweggleitet, die er durch die Unterwasserbrille geradezu entsetzt entdeckt – oder wie Achilles mit einem einfachen Schritt eine unendliche Summierung von Räumen und Augenblicken bewirkt. Sicher liegt da ein großes Wunder, dessen Merkwürdigkeit nicht durch das Wort Mensch verdeckt werden sollte. Wenigstens können wir hier sehen, daß dieses Wunder uns natürlich ist, daß es mit unserem leiblichen Leben beginnt und daß es keinen Anlaß gibt, die Erklärung dafür in irgendeinem Weltgeist zu suchen, der ohne uns in
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uns wirkt und an unserer Stelle über die wahrgenommene Welt hinaus im mikroskopischen Maßstab wahrnähme. Der Weltgeist sind wir hier selbst, sobald wir uns bewegen können, sobald wir blicken können. Diese einfachen Akte schließen schon das Geheimnis der Ausdruckshandlung in sich ein: Ich bewege meinen Leib, ohne auch nur zu wissen, welche Muskeln, welche Nervenbahnen mitwirken müssen, noch wo die Instrumente dieser Handlung zu suchen sind – wie der Künstler seinen Stil bis in die letzten Fasern der Materie ausstrahlen läßt, die er bearbeitet. Ich will dort hingehen, und schon bin ich da, ohne daß ich in das nichtmenschliche Geheimnis der körperlichen Maschinerie eingedrungen bin, ohne daß ich diese der Problemstellung angepaßt hätte, wie zum Beispiel der Lage des Zieles innerhalb irgendeines Koordinatensystems. Ich sehe das Ziel, werde von ihm angezogen, und schon macht die Körpermaschine das, was zu tun ist, damit ich mich dort befinde. Alles spielt sich vor meinen Augen in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der Geste ab, aber mein ›geographischer‹ oder ›physischer‹ Körper gehorcht den Anforderungen dieses kleinen Dramas, das ständig in sich tausend neue natürliche Wunder hervorruft. Schon mein Blick zum Ziel hin hat seine Wunder: Auch er richtet sich souverän im Sein ein und verhält sich dort wie in einem eroberten Land. Nicht der Gegenstand ist es, der auf meine Augen einwirkt und die Akkomodations- und Konvergenzbewegungen bewirkt. Man hat bewiesen, daß ich im Gegenteil niemals etwas klar sehen würde und daß es keinen Gegenstand für mich gäbe, wenn ich nicht meine Augen so einstellen könnte, daß die Wahrnehmung eines einzigen Gegenstands möglich wird. Und es ist hier nicht etwa der Geist, der den Körper ersetzt und das, was wir sehen werden, vorwegnimmt. Nein, es sind meine Blicke selbst, ihr Zusammenwirken, ihr Erkunden und Vorausschauen, die den kommenden Gegenstand in die rechte Position bringen; und unsere Wahrnehmungskorrekturen wären niemals schnell und genau genug, wenn sie auf einem tatsächlichen Kalkül der Wirkungen gründen müßten. So ist unter dem Blick, der Hand und ganz allgemein dem Leib ein System von Systemen zur Kenntnisnahme einer Welt zu ver-
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stehen, das fähig ist, Entfernungen zu überbrücken, bis in das zukünftige Wahrnehmen hinein vorzustoßen, in die unbegreifliche Ebenmäßigkeit des Seins Höhlungen und Reliefs, Entfernungen und Abstände, kurz, einen Sinn einzuzeichnen … Die Bewegung des Künstlers, der seine Arabeske in die unendliche Materie zeichnet, entfaltet das einfache Wunder der gerichteten Fortbewegung oder der zugreifenden Gesten und setzt es fort. Schon in der Geste des Zeigens dehnt der Körper sich nicht nur auf eine Welt aus, deren Schema er in sich trägt: Er besitzt sie auf Entfernung in viel stärkerem Maße, als sie ihn besitzt. Um so mehr ist es die Geste des Ausdrucks, die es selbst übernimmt, das von ihr Gesehene zu gestalten, es nach außen in Erscheinung treten zu lassen, und so die Welt wiedergewinnt. Aber schon mit unserer ersten orientierten Gebärde hatten die unendlich vielen Bezüge von irgend jemandem zu seiner Situation unseren mediokren Planeten in Besitz genommen und unserem Verhalten ein unerschöpfliches Feld eröffnet. Jede Wahrnehmung, jedes Handeln, das jene voraussetzt, kurz, jeder menschliche Gebrauch des Leibes ist schon ursprünglicher Ausdruck – nicht jene abgeleitete Arbeit, die das zum Ausdruck Gebrachte durch Zeichen ersetzt, deren Sinn und Anwendungsregel anderswoher kommen, sondern die ursprüngliche Operation, die erst die Zeichen zu Zeichen macht, die durch die Eloquenz ihres Anordnens und ihres Zusammenstellens das Ausdrückliche in ihnen leben läßt, die einen Sinn einpflanzt, wo zuvor noch keiner war, die also, weit entfernt davon, in dem Augenblick, wo sie statthat, wieder zu vergehen, eine Ordnung einführt und eine Institution oder Tradition begründet … Wenn aber nun die Präsenz des Stils in Miniaturen, die niemand je gesehen hat und die in gewissem Sinne auch niemals gemacht wurden, mit dem Faktum unserer Leiblichkeit in Zusammenhang steht und dergestalt keine okkulte Erklärung erfordert, so scheint es uns, daß man dasselbe von den seltsamen Übereinstimmungen sagen kann, die ohne irgendeine gegenseitige Beeinflussung von dem einen bis zu dem anderen Ende der Welt Kunstwerke erscheinen lassen, die sich gleichen. Wir suchen nach einem Grund, der jene Ähnlichkeiten erklärt, und wir sprechen von ei-
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ner Vernunft in der Geschichte oder von Über-Künstlern, welche die Künstler anleiten. Aber wenn man von Ähnlichkeiten spricht, ist man das Problem schon falsch angegangen: Schließlich fallen sie nur wenig ins Gewicht im Vergleich zu den unzähligen Unterschieden und der Vielfalt der Kulturen. Die, wenn auch geringe, Wahrscheinlichkeit einer Neuerfindung ohne Anleitung und ohne Modell genügt, um jene außergewöhnlichen Übereinstimmungen zu begreifen. Das eigentliche Problem besteht darin zu verstehen, warum so verschiedene Kulturen ihr Suchen auf ein und dasselbe richten, sich dieselbe Aufgabe stellen (bei deren Bewältigung sie gelegentlich auf dieselben Ausdrucksweisen stoßen), warum das, was die eine Kultur hervorbringt, für andere Kulturen einen Sinn hat, selbst wenn es nicht sein ursprünglicher Sinn ist, warum wir uns die Mühe machen, Fetische in Kunst zu verwandeln, endlich, warum es eine Malerei oder ein Universum der Malerei gibt. Das ist jedoch nur dann ein Problem, wenn man sich zunächst in die geographische oder physische Welt versetzt und die Kunstwerke als ebensoviele voneinander getrennte Vorkommnisse in sie hineinstellt, deren Ähnlichkeit oder auch nur Verwandtschaft dann unwahrscheinlich ist und nach einem Erklärungsprinzip verlangt. Wir dagegen schlagen vor, die Ordnung der Kultur oder des Sinnes als ursprüngliche Ordnung des Aufkommens (avènement)22 zu verstehen, die weder von der Ordnung bloßer Vorkommnisse (événements) – wenn es eine solche überhaupt gibt – abgeleitet werden darf, noch als einfache Wirkung außerordentlicher Begegnungen behandelt werden kann. Wenn es das Wesen der menschlichen Gebärde ist, über ihre bloß faktische Existenz hinaus etwas zu bedeuten, einen Sinn zu eröffnen, so ergibt sich daraus, daß jede Geste jeder anderen vergleichbar ist, daß sie alle auf eine einzige Syntax zurückgehen, daß eine jede von ihnen ein Anfang (und eine Folge) ist, eine Folge oder Neuanfänge ankündigt, insofern sie nicht wie ein schlichtes Vorkommnis auf ihre Einmaligkeit begrenzt bleibt und ein für allemal abgelaufen ist, sondern über ihre einfache Gegenwart hinaus 22
Der Ausdruck stammt von Paul Ricœur.
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Geltung hat und darin von vornherein der Verbündete oder Komplize aller anderen Ausdrucksversuche ist. Das Schwierige und Wesentliche besteht hier darin zu verstehen, daß wir mit dem Abstecken eines Feldes, das von demjenigen der empirischen Ordnung der Vorkommnisse verschieden ist, nicht auch einen Geist der Malerei setzen, der sich auf der Rückseite der Welt selbst besitzt und sich nach und nach zeigen würde. Es gibt keine zweite Kausalität über derjenigen der empirischen Vorkommnisse, die aus der Welt der Malerei eine ›übersinnliche Welt‹ mit ihren eigenen Gesetzen machte. Die Kulturschöpfung bleibt unwirksam, wenn sie nicht in den äußeren Umständen ein Vehikel findet. Aber wenn jene dies auch nur im geringsten leisten, so entwickelt ein erhaltenes und tradiertes Bild bei seinen Erben ein Vermögen der Gestaltung, das keinen Vergleich zuläßt mit dem, was es nicht nur als ein Stück gemalter Leinwand ist, sondern auch als ein Werk, das von seinem Schöpfer mit einer bestimmten Bedeutung versehen wurde. Jener Überschuß des Kunstwerks, der über die bewußten Intentionen hinausgeht, reiht es in eine Fülle von Bezügen ein, von denen die kurze Geschichte der Malerei und selbst die Psychologie des Malers nur wenige Reflexe geben können, so wie die zur Welt hin ausgreifende Geste des Körpers in eine Ordnung von Bezügen einführt, von denen die reine Physiologie und Biologie keine Ahnung haben. Trotz der Verschiedenartigkeit seiner Teile, die ihn gebrechlich und verwundbar machen, ist der Leib fähig, sich in einer Geste zu sammeln, die die Zerstreuung seiner Teile für einen Augenblick zügelt; allem, was er tut, prägt er so sein Monogramm ein. Auf dieselbe Weise kann man, über die Entfernungen des Raumes und der Zeit hinweg, von einer Einheit des menschlichen Stiles sprechen, die die Gesten aller Maler zu einem einzigen Versuch vereinigt und ihre Produkte in einer einzigen kumulativen Geschichte, einer einzigen Kunst, zusammenfaßt. Die Einheit der Kultur bildet über die Grenzen eines einzelnen Lebens hinaus dieselbe Art von Rahmen, der von vornherein alle Momente dieser Kultur im Augenblick ihrer Stiftung oder Geburtsstunde einfaßt, sobald ein Bewußtsein (wie man zu sagen pflegt) in einen Leib eingelassen ist, und ein neues Wesen in der
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Welt auftaucht, dem irgend etwas zustoßen wird, was fortan auch gar nicht ausbleiben kann, und sei es nur das Ende jenes kaum begonnenen Lebens. Das analytische Denken zerbricht den Wahrnehmungsübergang von einem Moment zum anderen, von einem Ort zum anderen, von einer Perspektive zur anderen und sucht schließlich auf seiten des Geistes die Garantie einer Einheit, die es jedoch schon gibt, wenn wir wahrnehmen. Es zerbricht auch die Einheit der Kultur und versucht sie dann von außen wieder herzustellen. Alles in allem, sagt es, gäbe es nur Werke, die für sich genommen tote Buchstaben bleiben, und Individuen, die ihnen nach Gutdünken einen Sinn geben. Wie kommt es dann aber, daß Kunstwerke sich gleichen, daß Individuen sich verstehen? Hier führt man dann den Geist der Malerei ein. Aber ebenso, wie wir das Überbrücken des Verschiedenartigen durch die Existenz und im besonderen die leibliche Besitznahme des Raumes als eine letzte Gegebenheit anerkennen und zugeben müssen, daß unser Leib, indem er lebt und zur Gebärde wird, sich nur auf seine eigene Bemühung stützt, um zur Welt zu sein, sich aufrecht hält, weil er nach oben strebt, daß seine Wahrnehmungsfelder ihm diese gewagte Haltung aufzwingen und daß er diese Fähigkeiten nicht von einem unabhängigen Geist empfangen kann – ebenso beruht die Geschichte der Malerei, die von einem Werk zu einem anderen fortschreitet, auf sich selbst und wird nur von der Karyatide unserer Bemühungen getragen, die nur deshalb in einem Punkt zusammenlaufen, weil sie Ausdrucksbemühungen sind. Die innere Ordnung des Sinnes ist nicht ewig: Wenn sie auch nicht jedem Zickzack der empirischen Geschichte folgt, so verzeichnet und verlangt sie doch eine Reihe aufeinanderfolgender Maßnahmen. Denn sie definiert sich nicht nur, wie wir es vorläufig sagten, durch die Verwandtschaft all ihrer Momente mit einer einzigen Aufgabe: Eben deshalb, weil sie alle Momente der Malerei sind, modifiziert jedes von ihnen, wenn es bewahrt und übermittelt wird, den Stand des ganzen Unternehmens und zwingt dazu, daß jene, die nach ihm kommen, eben anders als es selbst sind. Zwei kulturelle Gesten können nur identisch sein, wenn sie sich gegenseitig ignorieren. Es ist der Kunst also wesentlich, sich
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zu entwickeln; das heißt zugleich, sich zu verändern und, wie Hegel sagt, ›in sich selbst zurückzukehren‹, sich also in geschichtlicher Gestalt darzustellen. So ist der Sinn der Ausdrucksgeste, auf den wir die Einheit der Malerei gegründet haben, prinzipiell ein Sinn im Entstehen. Sein Auftreten (avènement) ist eine Verheißung von Ereignissen (événements). Die Herrschaft des Einen über das Vielfältige läßt in der Geschichte der Malerei ebensowenig wie bei der Betätigung des wahrnehmenden Leibes die Aufeinanderfolge in der Ewigkeit aufgehen: Sie erfordert vielmehr die Aufeinanderfolge, sie braucht sie, während sie ihr zur gleichen Zeit einen Sinn verleiht. Und zwischen diesen beiden Problemen besteht nicht einfach eine Analogie. Es ist vielmehr die Ausdruckshandlung des Leibes, angefangen von der geringsten Wahrnehmung, die sich zur Malerei und zur Kunst hin erweitert. Das Feld der malerischen Bedeutungen ist seit dem Auftreten des ersten Menschen auf der Welt offen. Und die erste Höhlenzeichnung begründete nur deshalb eine Tradition, weil sie schon eine andere übernahm: nämlich die der Wahrnehmung. Die Quasi-Ewigkeit der Kunst vermischt sich mit der Quasi-Ewigkeit der inkarnierten Existenz; und mit der Tätigkeit unseres Leibes und unserer Sinne kommt, insofern sie uns der Welt einfügen, auch unsere kulturelle Gestik zum Verständnis, insofern sie uns in die Geschichte einfügt. Die Linguisten sagen manchmal, daß man strenggenommen nicht datieren könne, wann zum Beispiel das Lateinische aufhört und das Französische beginnt, es gebe nur eine Sprechweise und eigentlich nur eine Sprache, die sich ständig verändere. Noch allgemeiner möchten wir sagen, daß der fortwährende Versuch des Ausdrucks eine einzige Geschichte gründet – so wie die Einwirkung unseres Leibes auf jeden möglichen Gegenstand einen einzigen Raum gründet. In diesem Sinne wäre die Geschichte – wir können hier nur darauf hinweisen – den verworrenen Diskussionen, die heute über sie geführt werden, entzogen; sie würde wieder zu dem werden, was sie für den Philosophen zu sein hat: das Zentrum seiner Überlegungen, und zwar nicht als eine in sich vollkommen klare ›einfache Natur‹, sondern im Gegenteil als der Ort unseres
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Fragens und Staunens. Ob man die Geschichte nun vergöttert oder haßt, heute begreift man sie und die historische Dialektik als eine äußere Macht. Zwischen ihr und uns müsse man wählen, und die Geschichte wählen heißt, sich mit Leib und Seele dem Auftreten eines zukünftigen Menschen verschreiben, dessen Entwurf wir selbst nicht sind; dies bedeutet, zugunsten einer solchen Zukunft auf jedes Urteil über die Mittel, zugunsten der Effizienz auf jede Wertung zu verzichten wie ebenso auf die ›Übereinstimmung mit sich selbst‹. Eine solche Götzengeschichte säkularisiert eine rudimentäre Gottesauffassung, und nicht zufällig laufen die zeitgenössischen Auseinandersetzungen so gern auf eine Parallele zwischen dem, was man die ›horizontale Transzendenz‹ der Geschichte nennt, und der ›vertikalen Transzendenz‹ Gottes hinaus. In Wahrheit aber bedeutet dies, beide Male das Problem falsch zu stellen. Die schönsten Enzykliken der Welt vermögen nichts gegen die Tatsache, daß seit mindestens zwanzig Jahrhunderten Europa und ein großer Teil der Welt auf die sogenannte vertikale Transzendenz verzichtet haben; und man sollte auch nicht vergessen, daß das Christentum unter anderem in der Anerkennung eines Mysteriums in den Beziehungen des Menschen zu Gott besteht; denn gerade der christliche Gott will keine vertikale Beziehung der Unterordnung. Er ist nicht einfach ein Prinzip, dessen Folgen wir wären, ein Wille, dessen Instrumente wir verkörperten, oder gar ein Modell, von dem die menschlichen Werte nichts anderes als ein schwaches Abbild wären; ohne uns gibt es gleichsam eine Ohnmacht Gottes, wie ja auch Christus bezeugt, daß Gott nicht vollkommen Gott wäre, ohne die menschliche Existenz zu seiner eigenen zu machen. Claudel sagt sogar, daß Gott nicht über, sondern unter uns ist – und er will damit sagen, daß er uns nicht als eine übersinnliche Idee begegnet, sondern als ein anderes Wir-Selbst, das unsere Finsternis bewohnt und bezeugt. Die Transzendenz überragt den Menschen nicht mehr: Er wird in seltsamer Weise zu ihrem privilegierten Träger. Im übrigen hat keine Philosophie der Geschichte jemals die gesamte Substanz der Gegenwart auf die Zukunft übertragen,
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noch das Selbst zerstört, um etwas anderem Platz zu machen. Diese Zukunftsneurose wäre gerade die Nicht-Philosophie, die bewußte Ablehnung, zu wissen, woran man glaubt. Keine Philosophie hat jemals darin bestanden, zwischen Transzendenzen zu wählen – zum Beispiel zwischen der Transzendenz Gottes und der Transzendenz der menschlichen Zukunft –, sie sind alle damit beschäftigt, sie zu vermitteln, zum Beispiel zu verstehen, wie Gott menschlich oder wie der Mensch göttlich wird; sie versuchen jenes seltsame Ineinandersein aufzuklären, das bewirkt, daß die Wahl der Mittel schon die Wahl eines Zweckes ist, daß das Selbst weltlich, kulturell, geschichtlich wird, aber daß die Kultur zur gleichen Zeit untergeht wie es selbst. Bei Hegel ist, wie ständig wiederholt wird, alles Wirkliche vernünftig und also gerechtfertigt – gerechtfertigt jedoch bald als wirklicher Erwerb, bald als Unterbrechung, bald als Zurückweichen und Rückgang zugunsten eines neuen Anlaufs; kurz, es ist relativ gerechtfertigt als Moment der gesamten Geschichte, insofern sich diese Geschichte entwickelt, also in dem gleichen Sinne, wie man sagt, daß selbst unsere Irrtümer Früchte tragen und daß unsere Fortschritte unsere verstandenen Irrtümer sind, wodurch der Unterschied zwischen Wachstum und Niedergang, Geburt und Tod, Rückschritt und Fortschritt nicht verwischt wird. Zwar scheint nach Hegels Theorie des Staates und des Krieges nur dem absoluten Wissen des Philosophen, der in das Geheimnis der Geschichte eingeweiht ist, das Urteil über das Werk der Geschichte vorbehalten zu sein, während es die anderen davon dispensiert. Das ist jedoch kein Grund zu vergessen, daß Hegel, selbst in seiner Philosophie des Rechts, ein Urteil über das Handeln allein nach seinen Resultaten ebenso verwirft wie ein Urteil über das Handeln allein nach seinen Absichten: »Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu machen – ist beides gleich abstrakter Verstand.«23 Lebensläufe, die derart aufgeteilt sind, daß 23
Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 118.
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man ihre Verantwortlichkeit auf die bewußten und notwendigen Folgen dessen, was sie erträumt haben, begrenzen kann, eine Geschichte, die die Geschichte gleichermaßen unverdienter Erfolge und Mißerfolge wäre und also die ehrenvollen oder die niederträchtigen Menschen je nach den äußeren Zufällen beurteilen würde, die das, was sie taten, entstellt oder beschönigt haben – das sind die von Hegel abgelehnten verschwisterten Abstraktionen. Was er im Sinn hat, ist der Moment, in dem das Innere sich entäußert, der Dreh oder die Wendung, wodurch wir zum Anderen und zur Welt kommen, so wie die Welt und der Andere zu uns – mit anderen Worten, das Handeln. Durch das Handeln werde ich für alles verantwortlich, nehme ich die Hilfe wie den Verrat der äußeren Umstände in Anspruch, »das Umschlagen von Notwendigkeit in Zufälligkeit und umgekehrt«24. Ich betrachte mich nicht nur als Herr meiner Absichten, sondern auch dessen, was die Dinge daraus machen werden, ich nehme die Welt, die Anderen, wie sie sind, ich nehme mich selbst, wie ich bin und mache mich für all das stark. »Handeln heißt … sich diesem Gesetze preisgeben.«25 Das Handeln macht sich ein Ereignis so sehr zu eigen, daß man das gescheiterte Verbrechen eher bestraft als das gelungene und daß selbst Ödipus sich als Vatermörder und Blutschänder empfindet, obwohl er es nur der Tat nach ist. Gegenüber einer solchen Manie der Handlung, die den Lauf der Dinge auf sich nimmt, ist man versucht, unterschiedslos zu schließen, daß es nur Schuldige gibt, da ja handeln und sogar leben schon bedeutet, das Risiko der Schande mit der Chance des Ruhms auf sich zu nehmen – und daß es nur Unschuldige gibt, da ja nichts, ja nicht einmal das Verbrechen, ex nihilo gewollt worden ist, weil niemand aus freiem Willen geboren wurde. Aber über jene philosophischen Theorien des Inneren und Äußeren hinaus, in denen alles gleichwertig ist, deutet Hegel an, daß es – da, wenn alles gesagt ist, ein Unterschied zwischen dem Gültigen und dem Ungültigen, zwischen dem, was wir auf uns nehmen, und dem, was wir ablehnen, 24 25
Ebd. Ebd.
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besteht – ein Urteil über den Versuch, das Unternehmen oder das Werk gibt, nicht nur allein über die Absicht oder allein über die Konsequenzen, sondern über den Gebrauch, den wir von unserem guten Willen gemacht haben, über die Art und Weise, wie wir die tatsächliche Lage eingeschätzt haben. Was einen Menschen auszeichnet, ist nicht die Absicht und nicht die Tat, sondern ob er seine Handlungen mit Werten versehen hat oder nicht. Wenn dem so ist, erschöpft sich der Sinn des Handelns weder in der Situation, die dessen Anlaß gewesen ist, noch in irgendeinem unklaren Werturteil, sondern bleibt exemplarisch und wird in anderen Situationen wieder aufleben, wenn auch in anderer Gestalt. Das Handeln eröffnet ein Feld, manchmal stiftet es sogar eine Welt, auf jeden Fall entwirft es eine Zukunft. Die Geschichte ist für Hegel jenes Heranreifen einer Zukunft in der Gegenwart, nicht das Aufopfern der Gegenwart für eine unbekannte Zukunft; und die Maxime des Handelns besteht für ihn nicht darin, um jeden Preis effizient zu sein, sondern zunächst einmal fruchtbar und produktiv zu wirken.Die Polemiken gegen die ›horizontale Transzendenz‹ im Namen einer ›vertikalen Transzendenz‹ (ob sie nun angenommen oder nur ersehnt wird) sind also gegenüber Hegel ebenso unbillig wie gegenüber dem Christentum. Indem sie mit der Geschichte nicht nur ein, wie sie meinen, blutbeschmiertes Idol über Bord werfen, sondern auch die Pflicht, Prinzipien in die Dinge zu bringen, kehren sie zu einer falschen Unbefangenheit zurück, die dem Mißbrauch der Dialektik keine Abhilfe tut. Der Pessimismus der Neo-Marxisten, aber auch die Denkfaulheit der Nicht-Marxisten, die wie immer als Komplizen auftreten, stellen heute die Dialektik in uns und außer uns als eine Macht der Lüge und des Scheiterns, als einen Umschlag des Guten ins Böse, als Fatalität aus Enttäuschung dar. Bei Hegel war das nur eine ihrer Seiten: Sie war ebensosehr so etwas wie eine Gnade des Ereignisses, die uns vom Schlechten zum Guten zieht, die uns zum Beispiel ins Allgemeine wirft, wenn wir nur unserem Interesse nachzugehen glauben. Sie war, wie Hegel ungefähr sagt, ein Fortschreiten, das seinen Verlauf selbst hervorbringt und in sich selbst zurückkehrt – eine Bewegung also, die nur ihre eigene Initia-
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tive zum Führer hat und dennoch nicht vor sich selbst entweicht, die sich dann und wann bekräftigt und bestätigt. So war sie also dasjenige, was wir mit einem anderen Namen das Ausdrucksphänomen nennen, das sich durch eine geheime Rationalität wieder aufgreift und sich aufs neue entfaltet. Sicher würde man den Begriff der Geschichte in seinem wahren Sinne zurückgewinnen, wenn man sich daran gewöhnte, ihn nach dem Beispiel der Künste und der Sprache zu bilden. Denn die Nähe jedes Ausdrucks zu jedem anderen Ausdruck, ihre Zugehörigkeit zu einer einzigen Ordnung, stellt faktisch die Verknüpfung des Individuellen mit dem Allgemeinen her. Die zentrale Tatsache, auf die die Hegelsche Dialektik in hundert verschiedenen Weisen immer wieder zurückkommt, besteht darin, daß wir nicht zwischen dem Für sich und dem Für andere zu wählen haben, zwischen einem Denken, das uns gemäß ist, und einem Denken, das den Anderen gemäß ist, sondern daß im Moment des Ausdrucks der Andere, an den ich mich wende, und ich selbst, der ich mich ausdrücke, auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden sind. Die Anderen, so wie sie sind (oder so wie sie sein werden), sind nicht allein die Richter meiner Handlungen: Wenn ich mich zu ihren Gunsten verleugnen wollte, würde ich auch sie als ein anderes ›Ich‹ verleugnen; sie haben genau den gleichen Wert wie ich, und alle Befugnisse, die ich ihnen gebe, gebe ich gleichzeitig auch mir. Ich unterwerfe mich dem Urteil eines Anderen, der selbst dessen würdig ist, was ich versucht habe; das heißt letztlich, ich unterwerfe mich dem Urteil eines Ebenbürtigen, der von mir selbst gewählt wurde. Die Geschichte ist Richter – nicht die Geschichte als die Gewalt eines Augenblicks oder eines Jahrhunderts, sondern die Geschichte als eine die Grenzen der Länder und Zeiten überschreitende Einprägung und Ansammlung dessen, was wir, je nach der Situation, an Wahrem und Gültigem gesagt und getan haben. Die Anderen werden über das, was ich getan habe, urteilen, weil ich in das Sichtbare hinein gemalt und für diejenigen gesprochen habe, die Ohren haben, aber weder die Kunst noch die Politik bestehen darin, ihnen zu gefallen oder zu schmeicheln. Sie erwarten vom Künstler oder vom Politiker, daß er sie zu Werten hinführt, in
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denen sie nachträglich nur ihre Werte erkennen. Der Maler oder der Politiker formt die Anderen weit mehr, als er ihnen folgt; das Publikum, das er anspricht, ist nicht gegeben, sondern es ist das Publikum, das durch sein Werk erst entsteht. Die Anderen, an die er denkt, sind nicht die empirischen ›Anderen‹, die durch das bestimmt sind, was sie in diesem Augenblick von ihm erwarten (und noch weniger die Menschheit, als eine Art, die die ›Menschenwürde‹ oder ›die Ehre, Mensch zu sein‹ besitzen würde, so wie andere Arten einen Panzer oder eine Schwimmblase haben), sondern es sind die Anderen, die so geworden sind, daß er mit ihnen leben könnte. Die Geschichte, mit der sich der Schriftsteller verbündet (und dies um so besser, als er nicht daran denkt, ›Geschichte zu machen‹, sich in der Literaturgeschichte zu verewigen, und nur redlich sein Werk hervorbringt), ist nicht eine Macht, vor der er das Knie zu beugen hätte, sondern das anhaltende Gespräch, das zwischen allen Worten und allen gültigen Handlungen geführt wird, wobei jedes von seinem Platz aus das andere anficht und bestätigt, jedes alle anderen neu schafft. Der Appell an das Urteil der Geschichte ist kein Appell an das Wohlgefallen des Publikums und natürlich noch weniger ein Appell an die weltliche Macht: Er ist eins mit der inneren Gewißheit, gesagt zu haben, was in den Dingen darauf wartete, gesagt zu werden, und was deshalb auf jeden Fall von irgend jemandem verstanden werden wird … In hundert Jahren wird man mich lesen, denkt Stendhal. Das bedeutet, daß er gelesen werden will, aber auch, daß er bereit ist, ein Jahrhundert zu warten, und daß seine Freiheit eine Welt, die noch in ihren Anfängen steht, hervorruft, die ebenso frei sein wird wie er, indem sie dasjenige als Erwerb anerkennt, was ihm zu erfinden gegeben war. Jener reine Appell an die Geschichte ist eine Anrufung der Wahrheit, die niemals durch eine historische Aufzeichnung geschaffen wird, diese aber als Wahrheit erfordert. Nicht nur der Kunst oder der Literatur ist er eigen, er kennzeichnet jedes menschliche Unterfangen. Abgesehen vielleicht von einigen Unseligen, die nur gewinnen oder recht haben wollen, geistert durch jedes Handeln, jede Liebe die Erwartung eines Berichts, der ihre Wahrheit hervortreten läßt, eines Augenblicks,
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da man endlich weiß, was es damit auf sich hatte – ob es an irgendeinem Tag, unter dem Vorwand der Achtung vor dem Anderen, der Vorbehalt des einen war, der den Anderen endgültig abgewiesen hat, ein Vorwand, den dieser fortan hundertfach auf jenen zurückgeworfen hat, oder ob im Gegenteil von jenem Augenblick an die Würfel gefallen waren und jene Liebe unmöglich geworden war … Vielleicht wird jene Erwartung immer in irgendeiner Form enttäuscht: Die Anleihen, die ein Mensch beim anderen macht, sind so häufig, daß jede Regung unseres Wollens und Denkens seinen Aufschwung bei den Anderen nimmt, daß es also nur in groben Zügen möglich ist, zu sagen, was auf jeden einzelnen zurückgeht. Immerhin beseelt jener Wunsch eines vollständigen Ausdrucks sowohl das Leben wie die Literatur, und jenseits der unbedeutenderen Motive bewirkt er es, daß der Schriftsteller gelesen werden will, daß der Mensch manchmal zum Schriftsteller wird, daß er auf jeden Fall spricht, daß jeder vor irgendeiner x-beliebigen Person von sich selbst Rechenschaft ablegen will, was so viel heißt wie sein Leben und alle anderen Leben als etwas denken, das in jeder Bedeutung des Wortes als eine Geschichte erzählt werden kann. Die wahre Geschichte lebt also ganz und gar von uns. Aus unserer Gegenwart schöpft sie die Kraft, alles übrige wieder gegenwärtig werden zu lassen. Der Andere, den ich achte, lebt von mir wie ich von ihm. Eine Philosophie der Geschichte nimmt mir keines meiner Rechte, keine meiner Initiativen. Es trifft lediglich zu, daß sie meinen Verpflichtungen als eines einzelnen jene Verpflichtung hinzufügt, andere Situationen als die meine zu verstehen, zwischen meinem Leben und dem der anderen einen Weg zu bahnen, das heißt mich auszudrücken. Durch das kulturelle Handeln versetze ich mich in Lebensformen, die nicht die meinen sind, ich vergleiche sie miteinander, bringe die eine gegenüber der anderen zum Ausdruck, mache sie in einer Wahrheitsordnung untereinander verträglich, werde selbst für alle verantwortlich und stifte ein universelles Leben, so wie ich mich durch die lebendige und kompakte Gegenwart meines Leibes mit einem Schlag im Raum einrichte. Und wie die Funktion des Leibes bleibt mir auch die der Worte und der
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Malweisen verborgen: Die Wörter, die Striche, die Farben, die mich ausdrücken, gehen von mir aus wie meine Gesten, sie werden mir entlockt durch das, was ich sagen will, wie meine Gesten durch das, was ich tun will. Insofern liegt in jedem Ausdruck eine Spontaneität, die keine Anweisungen duldet, nicht einmal die, die ich mir selbst geben wollte. Die Wörter versetzen wie in der Kunst der Prosa den Sprecher und den Zuhörer in ein gemeinsames Universum, indem sie sie durch ein Vermögen der Benennung, das über die herkömmliche Definition hinausgeht, zu einer neuen Bedeutung hinführen, durch das stumme Leben, das sie in uns geführt haben und weiterhin in uns führen, durch dasjenige, was Francis Ponge treffend ihre ›semantische Dichte‹ und Sartre ihren ›Bedeutungshumus‹ genannt haben. Diese Spontaneität der Sprache, die uns miteinander verbindet, ist keine Anweisung, wie die Geschichte, die sie begründet, kein äußeres Idol ist: Wir selbst sind die Geschichte mit unseren Wurzeln, unserem Drängen und sozusagen mit den Früchten unserer Arbeit. Wahrnehmung, Geschichte, Ausdruck – nur durch die Zusammenstellung dieser drei Problembereiche wird man die Analysen von Malraux ihrem eigentlichen Sinn nach berichtigen können. Zugleich aber wird man sehen, warum es legitim ist, die Malerei als eine Sprache zu behandeln: Diese Behandlung stellt einen perzeptiven Sinn heraus, der in der sichtbaren Gestaltung verborgen liegt und dennoch fähig ist, in einer immer wieder neu zu schaffenden Ewigkeit eine Folge vorangegangener Ausdrücke wiederherzustellen. Der Vergleich kommt nicht nur unserer Analyse der Malerei zugute, sondern auch unserer Analyse der Sprache. Denn er wird uns vielleicht unterhalb der gesprochenen Sprache noch eine andere, eine fungierende oder sprechende Sprache entdecken lassen, deren Wörter von einem wenig bekannten Leben leben, sich vereinigen und sich trennen, wie es ihre laterale oder indirekte Bedeutung verlangt, selbst wenn jene Bezüge, sobald der sprachliche Ausdruck einmal vollendet ist, uns evident erscheinen mögen. Die Transparenz der gesprochenen Sprache, diese redliche Klarheit des Wortes, das nur Schall ist, und des Sinnes, der nur Sinn ist, ihre scheinbare Eigenschaft, den
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Sinn aus den Zeichen herauszuziehen und ihn im Reinzustand zu isolieren (was vielleicht die einfache Vorwegnahme mehrerer verschiedener Formulierungen ist, in denen er wirklich derselbe bleiben würde), ihr vorgebliches Vermögen, in einem einzigen Akt eine ganze Ausdrucksentfaltung zusammenzufassen und wirklich in sich zu schließen, sollten sie nur der Gipfelpunkt einer stillschweigenden und impliziten Akkumulation derselben Art wie der der Malerei sein? * Ein Roman drückt sich ebenso stillschweigend aus wie ein Gemälde. Sein Sujet kann man ebenso wie das eines Gemäldes erzählen. Worauf es aber ankommt, ist nicht so sehr, daß Julien Sorel, als er hört, daß Madame de Rênal ihn verraten hat, nach Verrières geht und sie zu töten versucht, sondern vielmehr jenes Schweigen nach der Nachricht, jene Traumreise, jene gedankenlose Gewißheit, jener endgültige Entschluß. Davon aber wird nirgendwo gesprochen. Ein ›Julien dachte‹, ›Julien wollte‹ ist unnötig. Um es auszudrücken, genügt es, daß sich Stendhal in Julien hineinversetzt und die Gegenstände, Hindernisse, Mittel und Zufälle in der Geschwindigkeit der Reise vor unseren Augen erscheinen läßt. Es genügt, daß er sich entschließt, eine Seite statt fünf Seiten lang zu erzählen. Jene Kürze, jenes ungewohnte Verhältnis der nicht ausgesprochenen zu den ausgesprochenen Dingen ergibt sich nicht einmal aufgrund einer Auswahl. Indem Stendhal seine eigene Sensibilität gegenüber anderen befragt, hat er für sie plötzlich einen imaginären Leib gefunden, der gewandter ist als sein eigener, er hat wie in einem zweiten Leben selbst die Reise nach Verrières unternommen nach dem Rhythmus einer kühleren Leidenschaft, die für ihn das Sichtbare und das Unsichtbare auswählte, das, was gesagt und das, was verschwiegen werden mußte. Der Wille zu töten findet sich deshalb nirgends in den Worten: Er ist zwischen ihnen, in den Höhlungen des Raumes, der Zeit, der Bedeutungen, die sie umschreiben, wie die Bewegung im Film zwischen den unbeweglichen Bildern, die aufeinander folgen, liegt. Der Schriftsteller spricht mit seinem
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Leser, wie jeder Mensch mit jedem Menschen, eine Sprache von Eingeweihten: eingeweiht in die Welt, in das Universum von Möglichkeiten, über die ein menschlicher Leib, ein menschliches Leben verfügt. Was er zu sagen hat, setzt er als bekannt voraus, er versetzt sich in das Verhalten einer Person und vermittelt dem Leser nur deren Signatur, die unruhige und fortlaufende Spur in der Umgebung. Wenn der Autor Schriftsteller ist, das heißt, wenn er fähig ist, die Auslassungen und Zäsuren zu finden, die das Verhalten prägen, antwortet der Leser auf seinen Appell und trifft ihn im virtuellen Zentrum seines Werks, selbst wenn weder der eine noch der andere es kennen. Der Roman als Ereignisbericht, als Ausdruck von Ideen, Thesen oder Schlußfolgerungen, als manifeste oder prosaische Bedeutung steht in einer einfachen homonymen Beziehung zu dem Roman als Anwendung eines Stils, als indirekte oder latente Bedeutung. Genau das hatte Marx begriffen, als er sich Balzac zu eigen machte. Es handelte sich dabei keineswegs, man kann es glauben, um eine Rückkehr zum Liberalismus. Marx wollte sagen, daß eine bestimmte Art, die Welt des Geldes und die Konflikte der modernen Gesellschaft sichtbar zu machen, wichtiger sei als die Thesen, auch die politischen Thesen, von Balzac und daß diese einmal erworbene Sicht mit oder ohne die Zustimmung Balzacs zu Konsequenzen führen würde. Mit Recht verurteilt man den Formalismus, aber man vergißt gewöhnlich, daß sein Fehler nicht darin liegt, die Form zu überschätzen, sondern sie zu unterschätzen, insofern er sie nämlich vom Sinn abtrennt. Darin unterscheidet er sich nicht von einer Literatur des ›Sujets‹, die ebenso den Sinn des Werkes von seiner Gestaltung trennt. Das eigentliche Gegenteil des Formalismus ist eine gute Theorie des Stils oder der Rede, die sie über die ›Technik‹ oder das ›Instrument‹ stellt. Die lebendige Rede ist kein Mittel im Dienst eines äußeren Zweckes, sie trägt ihre Anwendungsregel, ihre Moral und ihre Weltsicht in sich selbst, so wie eine Geste manchmal die ganze Wahrheit eines Menschen ausdrückt. Jener lebendige Gebrauch der Sprache, von dem der Formalismus ebensowenig weiß wie die Literatur des ›Sujets‹, ist die Literatur selbst als Forschung und Erwerb. Eine Sprache
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nämlich, die nur die Dinge selbst zu reproduzieren suchte, wie wichtig sie auch immer sein mögen, würde ihr Mitteilungsvermögen in bloßen Feststellungen erschöpfen. Eine Sprache dagegen, die unsere Perspektiven der Dinge wiedergibt und ihnen Konturen verleiht, eröffnet eine Diskussion, die es nicht dabei beläßt, sondern selbst zu Nachforschungen anregt. Das, was im Kunstwerk unersetzbar ist, was aus ihm weit mehr als ein Mittel des Vergnügens macht, nämlich ein Organ des Geistes, dessen Analogon sich in jedem philosophischen oder politischen Denken wiederfindet, sofern es schöpferisch ist, dieses Unersetzbare liegt eben darin, daß es mehr als Ideen eine Ideenmatrix enthält, daß es uns Sinnbilder liefert, deren Sinn wir nie endgültig entwickeln werden, und daß es uns sehen lehrt – gerade weil es sich und uns in eine Welt versetzt, deren Schlüssel wir nicht haben – und uns zum Denken anregt, wie kein analytisches Werk es je tun könnte, weil die Analyse im Objekt nur das wiederfindet, was wir schon hineingelegt haben. Das Gewagte in der literarischen Kommunikation und das Mehrdeutige, nicht auf eine These Reduzierbare ist nicht eine vorläufige Schwäche, von der man sie zu befreien hoffen könnte, sondern der Preis, den es zu zahlen gilt, um eine Literatur zu haben, das heißt eine erobernde Sprache, die uns in fremde Perspektiven einführt, anstatt uns in der unseren zu bestätigen. Wir sähen nichts, wenn wir mit unseren Augen nicht das Mittel hätten, in unbegrenzter Zahl räumliche und farbliche Konfigurationen zu entdecken, zu befragen und zu gestalten. Wir täten nichts, wenn wir mit unserem Leib nicht das Mittel hätten, die Vorgänge in den Nervenbahnen und der Bewegungsmuskulatur gleichsam zu überspringen, um zum Ziel zu gelangen. Eine ähnliche Funktion erfüllt die literarische Sprache, in ähnlich gebieterischer Weise versetzt uns der Schriftsteller kurzerhand ohne Übergänge oder Vorbereitungen aus der schon bekannten Welt in eine andere. Und wie unser Leib uns durch die Welt der Dinge nur führen kann, wenn wir ihn nicht analysieren, sondern ihn gebrauchen, so ist die Sprache nur dann literarisch, das heißt schöpferisch, wenn wir ihr nicht mehr auf Schritt und Tritt Rechtfertigungen abverlangen, sondern ihr auf
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ihrem Wege folgen, wenn wir die Wörter und alle Ausdrucksmittel eines Buches zu jenem Bedeutungshof entwickeln lassen, der sich ihrer besonderen Anordnung verdankt, und wenn wir das Geschriebene auf einen Wert zweiter Stufe hin ausrichten, wo es fast die stumme Ausstrahlung der Malerei erreicht. Auch der Sinn des Romans ist zunächst nur wahrnehmbar als eine kohärente Verformung des Sichtbaren. Und er wird niemals auf eine andere Weise wahrnehmbar sein. Die Kritik mag soviel sie will die Ausdrucksweise eines Schriftstellers mit der eines anderen vergleichen und irgendeine Erzählweise in die Gruppe anderer möglicher einordnen. Dieses Vorgehen ist nur dann legitim, wenn ihm eine Wahrnehmung des Romans vorangegangen ist, bei der die Besonderheiten der ›Technik‹ mit denen der Gesamtkonzeption und des Sinnes untrennbar verbunden sind, und wenn es uns dadurch nur das erklären will, was wir bereits wahrgenommen haben. Ebenso wie der Steckbrief eines Gesichtes nicht ausreicht, es sich vorzustellen, selbst wenn gewisse Merkmale genauer angegeben werden, ersetzt die Sprache des Kritikers, der seinen Gegenstand zu beherrschen vorgibt, nicht die des Schriftstellers, der das Wahre aufzeigt oder es durchsichtig werden läßt, ohne es zu berühren. Es ist dem Wahren wesentlich, sich von Anfang an und für immer in einer Bewegung darzubieten, die unser Bild der Welt zu einem Mehr an Sinn hin dezentriert, ausweitet und führt. Auf diese Weise eröffnet die Hilfslinie, die wir in eine Figur einzeichnen, den Weg zu neuen Bezügen, und so wirkt auch das Kunstwerk und wird immer auf uns wirken, so lange es Kunstwerke gibt. Diese Bemerkungen sind indessen weit entfernt davon, unsere Frage erschöpfend zu beantworten: Es bleiben die exakten Formen der Sprache, es bleibt die Philosophie. Man kann sich fragen, ob deren Anspruch, das Gesagte wirklich in Besitz zu nehmen und das durch die Literatur in unserer Erfahrung nur locker Greifbare in den Griff zu bekommen, das Wesentliche der Sprache nicht gerade viel besser zum Ausdruck bringt. Dieses Problem erforderte logische Analysen, für die hier kein Platz ist. Ohne es vollständig abzuhandeln, können wir ihm wenigstens als Problem
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einen Platz geben und zeigen, daß auf jeden Fall keine Sprache sich ganz und gar von der Ungewißheit der stummen Ausdrucksformen befreit, daß keine Sprache ihre eigene Zufälligkeit auflöst und sich darin aufbraucht, die Dinge selbst erscheinen zu lassen, daß also in diesem Sinn das Privileg der Sprache gegenüber der Malerei oder den Vollzügen des Lebens relativ bleibt und daß schließlich der Ausdruck nicht eine jener Eigentümlichkeiten ist, die der Geist einer Prüfung unterziehen kann, sondern daß der Ausdruck die lebendige Existenz des Geistes ist. Gewiß nimmt jemand, der sich zum Schreiben entschließt, gegenüber der Vergangenheit eine Haltung ein, die nur ihm eigen ist. Jede Kultur führt die Vergangenheit fort: Die Eltern von heute sehen ihre Kindheit in der ihrer eigenen Kinder und nehmen ihnen gegenüber die Verhaltensweisen ihrer eigenen Eltern an. Oder aber sie fallen aus Groll ins gegenteilige Extrem; haben sie eine autoritäre Erziehung erfahren, lassen sie ihre Kinder ganz frei aufwachsen – und auf diesem Umweg stellen sie oft die Tradition wieder her, da der Freiheitstaumel dem Kind den Boden unter den Füßen nimmt, so daß es zum System der Sicherheit zurückkehrt und 25 Jahre später selbst wieder zu einem autoritären Vater wird. Das Neue der Künste des Ausdrucks besteht demgegenüber darin, daß sie der stummen Kultur aus ihrem tödlichen Kreislauf einen Ausweg eröffnen. Der Künstler begnügt sich nicht mehr damit, die Vergangenheit durch Ehrfurcht oder Revolte fortzusetzen. Er beginnt seinen Versuch wieder von Grund auf neu. Wenn der Maler zum Pinsel greift, so deshalb, weil in gewisser Hinsicht die Malerei erst noch geschaffen werden muß. Die Künste der Sprache aber gehen sehr viel weiter in der wirklichen Schöpfung. Wenn die Malerei eben immer noch geschaffen werden muß, so treten die noch zu schaffenden Werke des neuen Malers zu den bereits fertiggestellten hinzu: Sie machen sie nicht überflüssig, sie enthalten sie nicht ausdrücklich, sie rivalisieren mit ihnen. Die gegenwärtige Malerei verleugnet in einer allzu absichtsvollen Weise die Vergangenheit, um sich wirklich von ihr lösen zu können: Sie kann sie nur vergessen, indem sie aus ihr Gewinn schöpft. Indem sie alles, was vor ihr war, als einen ge-
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scheiterten Versuch darstellt, läßt sie eine künftige Malerei ahnen, die sie ihrerseits für einen gescheiterten Versuch ausgeben wird – das ist der Preis für ihre Neuartigkeit. Die gesamte Malerei tritt so als ein mißlungenes Unternehmen auf, etwas zu sagen, was immer noch zu sagen bleibt. Wer schreibt, will zwar auch nicht die Sprache einfach fortsetzen, aber er will sie ebensowenig durch ein Idiom ersetzen, das sich wie das Gemälde selbst genügt und in seiner inneren Bedeutung eingeschlossen bleibt. Wenn man so will, zerstört er die gewöhnliche Sprache, indem er sie verwirklicht. Die gegebene Sprache, die ihn voll und ganz durchdringt und die schon seinen geheimsten Gedanken eine allgemeine Gestalt vorzeichnet, steht ihm nicht wie ein Feind gegenüber, sie ist im Gegenteil ganz und gar bereit, alles, was er, der Schriftsteller, von neuem bedeutet, zu ihrem Erwerb zu machen. Es ist, als wäre sie für ihn geschaffen und er für sie, als ob die Aufgabe zu sprechen, zu der er sich genötigt sah, als er die Sprache erlernte, im eigentlicheren Sinne er selbst wäre als sein Herzschlag, als ob die instituierte Sprache mit ihm eine ihrer Möglichkeiten zur Existenz kommen ließe. Die Malerei erfüllt ein Gelübde der Vergangenheit, von dieser hat sie ihre Vollmacht, sie handelt in ihrem Namen, aber sie enthält sie nicht auf eine manifeste Weise, sie ist Gedächtnis für uns, wenn wir bereits anderswoher die Geschichte der Malerei kennen, sie ist nicht Gedächtnis für sich und erhebt nicht den Anspruch, dasjenige vollständig zu umgreifen, was sie möglich gemacht hat. Der sprachliche Ausdruck hingegen, nicht zufrieden damit, über die Vergangenheit hinauszugehen, will diese wiederholen, zurückgewinnen, sie im Wesen fassen; und da die Sprache uns die Vergangenheit nicht in ihrer Gegenwart geben kann, außer wenn sie buchstäblich wiederholt würde, unterzieht sie die Vergangenheit einer Aufbereitung, die das Wesen der Sprache ausmacht: Sie bietet uns ihre Wahrheit. Der sprachliche Ausdruck begnügt sich nicht damit, sich in der Welt Platz zu verschaffen, indem er das Vergangene beiseite stößt. Er will das Vergangene in seinem Geist oder in seinem Sinn erhalten. Er verbindet sich also mit sich selbst, nimmt sich wieder auf und greift sich wieder von neuem auf. Es gibt einen kritischen, philosophi-
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schen, universalen Gebrauch der Sprache, der den Anspruch erhebt, die Dinge so zurückzugewinnen, wie sie sind, wohingegen die Malerei sie in Malerei verwandelt – der alles wiedergewinnen will, auch die Sprache selbst, und den Gebrauch, den andere Lehren von ihr gemacht haben. Sobald es dem Philosophen um die Wahrheit geht, glaubt er nicht, daß sie auf ihn gewartet hätte, um wahr zu sein; er betrachtet sie als Wahrheit aller zu jeder Zeit. Es ist der Wahrheit wesentlich, umfassend zu sein, was keine Malerei jemals vorgegeben hat. Der Geist der Malerei erscheint nur im Museum, weil es ein Geist ist, der außerhalb seiner selbst auftritt. Das Wort hingegen sucht sich zu besitzen, in das Geheimnis seiner eigenen Erfindung einzudringen; der Mensch malt die Malerei nicht, aber er spricht über das Wort, und der Geist der Sprache will alles nur aus sich selbst heraus haben. Das Bild legt seinen Zauber von vornherein in eine träumerische Ewigkeit, von ihm können wir uns viele Jahrhunderte später mühelos gefangennehmen lassen, selbst ohne die Geschichte der Kleider, des Mobiliars, der Utensilien, der Zivilisation zu kennen, von der es geprägt ist. Das geschriebene Wort dagegen bietet uns seinen dauerhaftesten Sinn nur mittels einer ganz bestimmten Geschichte dar, von der wir einige Kenntnis haben müssen. Pascals Lettres provinciales vergegenwärtigen die theologischen Diskussionen des 17. Jahrhunderts, Stendhals Le Rouge et le Noir die Finsternis der Restaurationsepoche. Aber diesen unmittelbaren Zugang zum Dauerhaften, den die Malerei sich gönnt, bezahlt sie seltsamerweise, indem sie, weit mehr als das geschriebene Wort, der Bewegung der Zeit unterliegt. In unsere Betrachtung von Gemälden mischt sich ein Vergnügen am Anachronismus, während Stendhal und Pascal uns ganz gegenwärtig sind. In eben dem Maße, wie die Literatur auf die scheinheilige Zeitlosigkeit der Kunst verzichtet, wie sie sich wacker mit der Zeit herumschlägt, sie zeigt, anstatt sie nur vage zu beschwören, geht sie siegreich aus ihr hervor und verwandelt sie in Sinn. Soviel die Statuen von Olympia dazu beitragen, uns für Griechenland einzunehmen, so nähren sie doch in dem Zustand ihrer Überlieferung – verwittert, zerbröckelt, von dem Gesamtwerk getrennt – einen trügerischen Mythos vom
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Griechentum, denn sie vermögen der Zeit nicht wie ein Manuskript zu widerstehen, selbst wenn es unvollständig, zerrissen oder fast unleserlich ist. Der Text des Heraklit läßt für uns Blitze aufleuchten, wie keine zerstückelte Statue es vermag, weil in ihm die Bedeutung in anderer Art aufbewahrt, auf eine andere Weise konzentriert ist als in jenen, und weil nichts der Elastizität des Wortes gleichkommt. Kurz, die Sprache spricht, und die Stimmen der Malerei sind die Stimmen des Schweigens. Es ist die Aussage, die die Sache selbst enthüllen will, sie überschreitet sich auf ihre Bedeutung hin. Jedes Wort kann seinen Sinn noch so sehr von allen anderen beziehen, wie Saussure erklärt; in dem Augenblick, wo es auftritt, wird die Aufgabe des Ausdrückens nicht weiter aufgeschoben, auf andere Wörter verwiesen: Sie ist ausgeführt, und wir verstehen etwas. Saussure kann wohl zeigen, daß jede Ausdruckshandlung nur als Modulation eines allgemeinen Ausdruckssystems bedeutsam wird, insofern sie sich von anderen sprachlichen Gesten differenziert – aber das Wunder bleibt, daß wir vor Saussure nichts davon wußten und es auch jedesmal, wenn wir sprechen, wieder vergessen, auch dann, wenn wir über die Ideen von Saussure sprechen. Das beweist, daß jeder einzelne Ausdrucksakt, als ein Teil der ganzen Sprache, sich nicht darauf beschränkt, die in ihr angesammelten Ausdruckskräfte zu verausgaben; in jedem Akt wird vielmehr das Ganze der Sprache immer wieder von neuem erzeugt, indem er uns in der Evidenz des gegebenen und übernommenen Sinnes die Fähigkeit der Sprechenden bezeugt, die Zeichen in Richtung auf den Sinn hin zu überschreiten. Für uns rufen die Zeichen nicht nur fortwährend andere Zeichen hervor, die Sprache ist kein Gefängnis, in dem wir eingeschlossen sind, sie ist kein Führer, dem wir blind zu folgen hätten, weil im Schnittpunkt aller sprachlichen Gesten schließlich das erscheint, was sie sagen wollen; und dazu gewähren sie uns einen so vollständigen Zugang, daß wir meinen, ihrer nicht mehr zu bedürfen, um uns darauf zu beziehen. Wenn man also die Sprache mit den stummen Ausdrucksformen vergleicht – mit der Geste, mit der Malerei –, so muß man hinzufügen, daß sie sich nicht wie jene damit begnügt, auf der Oberfläche der
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Welt Richtungen, Vektoren, eine ›kohärente Verformung‹, einen stummen Sinn einzuzeichnen – nach Art der tierischen ›Intelligenz‹, die sich darin erschöpft, wie in einem Kaleidoskop neue Handlungsbereiche hervorzubringen. Wir haben es hier nicht nur mit der Vertretung eines Sinnes durch einen anderen zu tun, sondern mit einer Ersetzung von gleichwertigen Sinnen; die neue Struktur erweist sich als schon in der alten enthalten, diese besteht in ihr fort, die Vergangenheit ist jetzt begriffen … Daß die Sprache auf eine vollständige Akkumulation aus ist, ist gewiß, und das jeweilig gesprochene Wort stellt den Philosophen vor das Problem jener provisorischen Inbesitznahme, die vorläufig, aber nicht nichts ist. Doch könnte die Sprache die Sache selbst nur dann preisgeben, wenn sie aufhörte, der Zeit und einer Situation verhaftet zu sein. Hegel glaubt als einziger, daß sein System die Wahrheit aller anderen enthalte und daß der, der sie durch seine Synthese nicht erkenne, sie überhaupt nicht erkennen könne. Selbst wenn Hegel von Anfang bis Ende wahr wäre, so würde uns doch nichts der Verpflichtung entheben, die ›Vorhegelianer‹ zu lesen, denn er kann sie nur enthalten ›in dem, was sie bejahen‹. Durch das, was sie verneinen, zeigen sie dem Leser eine andere Situation des Denkens, die bei Hegel nicht ausdrücklich, ja überhaupt nicht anzutreffen ist; von hier aus zeigt sich Hegel unter einem Aspekt, von dem er selbst nichts weiß. Hegel glaubt als einziger, er habe kein Sein-für-Andere und sei in den Augen der Anderen genau dasjenige, was er von sich selbst weiß. Selbst wenn man zugibt, daß es einen Fortschritt von den anderen Philosophen zu Hegel gibt, findet vielleicht in dem ein oder anderen Gedankengang der Meditationen Descartes’ oder der Dialoge Platons – gerade wegen der ›Naivitäten‹, die diese noch von der Hegelschen Wahrheit trennen – ein Kontakt mit den Dingen statt, trifft man einen Funken von Sinn, den man bei Hegel nur wiederfinden kann, wenn man ihn vorher bei jenen gefunden hat und auf die man immer wird zurückgreifen muß, und wäre es nur, um Hegel zu verstehen. Hegel, das ist das Museum, das sind alle Philosophien, wenn man so will, aber sie wurden ihrer Endlichkeit und ihrer Durchschlagskraft
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beraubt, sie sind einbalsamiert und, wie er meint, in sich selbst verwandelt, in Wahrheit jedoch wurden sie in ihn verwandelt. Es genügt zu sehen, wie eine Wahrheit verkümmert, wenn sie in eine andere integriert wird – wie zum Beispiel das ›Cogito‹, indem es von Descartes auf die Cartesianer kommt, fast zu einem Ritual wird, das man geistesabwesend wiederholt –, um einzusehen, daß die Synthese nicht wirklich alle vergangenen Gedanken enthält, daß sie nicht all das ist, was jene gewesen sind, und daß sie schließlich niemals zugleich eine Synthese an und für sich ist, das heißt eine Synthese, die gleichzeitig ist und erkennt, ist, was sie erkennt, erkennt, was sie ist, bewahrt und aufhebt, verwirklicht und zerstört. Wenn Hegel sagen will, daß die Vergangenheit in dem Maße, wie sie sich entfernt, sich in ihren Sinn verwandelt und daß wir nachträglich eine einsichtige Geschichte des Denkens aufzeichnen können, so hat er recht, aber nur unter der Bedingung, daß in jener Synthese ein jedes Glied zum gegebenen Zeitpunkt das Ganze der Welt repräsentiert, und daß die Verkettung der Philosophien sie alle wie offene Bedeutungen an ihrem Platz beläßt und zwischen ihnen ein Austausch von Antizipationen und Metamorphosen möglich bleibt. Der Sinn der Philosophie ist der Sinn einer Genese, er läßt sich folglich nicht von einem Punkt außerhalb der Zeit vollständig umgreifen, sondern er bleibt Ausdruck. Um so mehr kann der Schriftsteller, außerhalb der Philosophie, nur durch den Gebrauch der Sprache und nicht jenseits der Sprache das Gefühl haben, die Dinge selbst zu erreichen. Mallarmé selbst weiß sehr wohl, daß nichts aus seiner Feder käme, wenn er seinem Vorhaben, restlos alles zu sagen, absolut treu bliebe und daß er nur deshalb hat übersichtliche Bücher schreiben können, weil er auf das eine Buch verzichtet hat, das ihm alle anderen erspart hätte. Die Bedeutung ohne jedes Zeichen, die Sache selbst – dieses Höchstmaß an Klarheit wäre gleichbedeutend mit dem Verlust aller Klarheit und das, was wir an Klarheit gewinnen können, liegt nicht am Anfang der Sprache wie ein goldenes Zeitalter, sondern am Ende ihres Einsatzes. Auch wenn die Sprache und das System der Wahrheit das Gravitationszentrum unseres Lebens versetzen, indem sie
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uns veranlassen, unsere Tätigkeiten nacheinander aufzunehmen und miteinander zu kreuzen, so daß jede einzelne in alle anderen übergeht und von den jeweiligen Formulierungen, die uns zunächst gegeben sind, unabhängig erscheinen – wenn sie eben dadurch die anderen Ausdrucksoperationen als ›stumm‹ und untergeordnet erscheinen lassen, so geschieht dies doch nicht ohne Vorbehalt, und der Sinn wird durch das Gefüge der Worte eher impliziert, als daß er durch sie bezeichnet würde. Von der Beziehung zwischen Sprache und Sinn muß man also sagen, was Simone de Beauvoir von der Beziehung zwischen Leib und Seele sagt: In dieser Beziehung gibt es nichts Primäres oder Sekundäres. Niemand hat jemals den Leib zum bloßen Instrument oder Mittel gemacht, noch jemals behauptet, daß man auf Grund von Prinzipien lieben könne. Und da es ebensowenig der Körper allein ist, der liebt, kann man sagen, er macht alles und er macht nichts, sind wir es und sind wir es doch nicht. Weder Zweck noch Mittel, immer in Angelegenheiten verstrickt, die ihn überschreiten, jedoch immer eifersüchtig auf seine Autonomie bedacht, ist er mächtig genug, sich jedem nur erdachten Zweck entgegenzustellen, aber er hat uns keinen anderen anzubieten, wenn wir uns schließlich an ihn wenden und ihn befragen. Manchmal jedoch, und dann haben wir das Gefühl, wir selbst zu sein, läßt er sich beseelen, nimmt ein Leben an, das nicht nur das seine ist. Dann ist er glücklich und spontan, und wir mit ihm. Ebenso steht die Sprache weder im Dienste des Sinnes, noch ist sie seiner Herr. Sprache und Sinn sind einander nicht untergeordnet, niemand befiehlt und niemand gehorcht. Was wir sagen wollen, haben wir nicht außerhalb des Wortes als reine Bedeutung vor uns. Es ist nur der Überschuß dessen, was wir erleben, gegenüber dem, was schon gesagt worden ist. Wir richten uns mit unserem Ausdrucksapparat in einer Situation ein, für die er sensibel ist, konfrontieren ihn mit ihr, und unsere Äußerungen sind nur die Schlußbilanz dieses Austauschs. Selbst das politische Denken hat diesen Charakter: Es ist immer die Aufklärung einer historischen Wahrnehmung, in die all unsere Kenntnisse, all unsere Erfahrungen und all unsere Werte zugleich hineinspielen,
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und zu der unsere Thesen nur die schematische Formulierung liefern. Jede Handlung und jede Erkenntnis, die diesen Prozeß nicht durchlaufen haben, und die Werte setzen wollen, die nicht in unserer individuellen oder kollektiven Geschichte Gestalt angenommen haben, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die die entsprechenden Mittel durch einen Kalkül oder ein ganz und gar technisches Verfahren auswählen wollen, fallen hinter die Probleme, die sie lösen wollten, zurück. Das persönliche Leben, der Ausdruck, die Erkenntnis und die Geschichte schreiten indirekt voran, sie kommen nicht geradlinig zu Zielen oder Begriffen. Was man allzu absichtsvoll sucht, das erreicht man nicht. Dagegen wird derjenige Ideen und Werte nicht verfehlen, der in der Lage war, in einer lebendigen Besinnung ihren spontanen Ursprung freizulegen.
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Ü BE R DI E PH Ä NOM E NOL O GI E DE R S PR AC H E 1
I. Husserl und das Problem der Sprache
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Gerade weil das Problem der Sprache in der philosophischen Tradition nicht zur Ersten Philosophie gehört, findet Husserl zu ihm einen freieren Zugang als zu den Problemen der Wahrnehmung oder der Erkenntnis. Er verleiht ihm einen zentralen Rang, und das wenige, was er dazu äußert, ist originell und rätselhaft. Mehr als jedes andere erlaubt dieses Problem also, die Phänomenologie zu befragen und dabei Husserl nicht nur zu wiederholen, sondern sein Bemühen erneut zu beginnen, und mehr noch als seine Thesen die Bewegung seiner Reflexion aufzugreifen. Der Gegensatz zwischen bestimmten älteren und neueren Texten ist frappierend. In der vierten der Logischen Untersuchungen trägt Husserl die Idee einer Eidetik der Sprache und einer universalen Grammatik vor, welche die für jede Sprache, wenn sie denn Sprache sein soll, unverzichtbaren Bedeutungsformen festlegten und erlauben würden, die empirischen Sprachen in voller Deutlichkeit als ›verworrene‹ Realisierungen der idealen Sprache zu denken. Dieses Projekt geht davon aus, daß die Sprache eines der Objekte sei, die das Bewußtsein auf souveräne Weise konstituiert, und daß die aktuellen Sprachen besondere Fälle einer möglichen Sprache seien, deren Geheimnis allein vom Bewußtsein bewahrt wird – Zeichensysteme, die mit ihrer Bedeutung, in ihrer Struktur ebenso wie in ihrer Funktionsweise, durch die eindeutigen und geeigneten Bezüge einer vollständigen Erklärung verbunden sind. Indem sie solchermaßen als Objekt dem Denken gegenübergestellt wird, könnte die Sprache im Hinblick auf das 1 Beitrag anläßlich des ersten Internationalen Kolloquiums der Phänomenologie, Brüssel 1951.
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Denken nur die Rolle einer Begleiterscheinung, eines Substituts, einer Gedächtnisstütze oder eines Hilfsmittels der Kommunikation spielen. Demgegenüber erscheint die Sprache in jüngeren Texten wie eine ursprüngliche Art und Weise, bestimmte Objekte ins Auge zu fassen, wie der Leib des Denkens (Formale und transzendentale Logik2) oder sogar wie jene Operation, durch welche die Gedanken, die ohne sie private Phänomene blieben, einen intersubjektiven Wert und letztlich eine ideale Existenz erlangen (Ursprung der Geometrie 3). Das philosophische Denken, das über die Sprache reflektiert, wäre von nun an Nutznießer der Sprache, es wäre von ihr umhüllt und in ihr situiert. Pos (Phénoménologie et linguistique, Revue Internationale de philosophie, 1939) bestimmt die Phänomenologie der Sprache nicht als eine Bemühung, die bestehenden Sprachen wieder in den Rahmen einer Eidetik jeder möglichen Sprache einzufügen, das heißt sie 2 »Diese aber (sc.: die Meinung) liegt nicht äußerlich neben den Worten; sondern redend vollziehen wir fortlaufend ein inneres, sich mit den Worten verschmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der Erfolg dieser Beseelung ist, daß die Worte und die ganzen Reden in sich eine Meinung gleichsam verleiblichen und verleiblicht in sich als Sinn tragen« (S. 20). 3 »Objektives Dasein ›in der Welt‹, das als solches zugänglich ist für jedermann, kann aber die geistige Objektivität des Sinngebildes letztlich nur haben vermöge der doppelschichtigen Wiederholungen und vornehmlich der sinnlich verkörpernden. In der sinnlichen Verkörperung geschieht die ›Lokalisation‹ und ›Temporalisation‹ von Solchem, das seinem Seinssinn nach nicht-lokal und nicht-temporal ist… Wir fragen nun: … Wie macht die sprachliche Verleiblichung aus dem bloß innersubjektiven Gebilde, dem Gedanken, das objektive, das etwa als geometrischer Begriff oder Satz in der Tat für jedermann und in aller Zukunft verständlich da ist? Auf das Problem des Ursprunges der Sprache in ihrer idealen und durch Äußerung und Dokumentierung begründeten Existenz in der realen Welt wollen wir hier nicht eingehen, obschon wir uns bewußt sind, daß eine radikale Aufklärung der Seinsart der ›idealen Sinngebilde‹ hier ihren tiefsten Problemgrund haben muß« (Revue Internationale de philosophie, 1939, S. 210).
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vor einem konstituierenden, universalen und zeitlosen Bewußtsein zu objektivieren, sondern als Rückkehr zum sprechenden Subjekt, zu meiner Berührung mit der Sprache, die ich spreche. Der Gelehrte und der Beobachter sehen die Sprache in der Vergangenheit. Sie bedenken die lange Geschichte einer Sprache, mit all den Zufällen, all den Sinnverschiebungen, die aus ihr letztlich das gemacht haben, was sie heute ist. So wird unverständlich, wie die Sprache, als Ergebnis so vieler Zufälle, irgend etwas ohne jede Zweideutigkeit sollte bedeuten können. Indem er die Sprache als fait accompli, als Residuum vergangener Bedeutungsakte und als Aufzeichnung bereits erworbener Bedeutungen begreift, verfehlt der Gelehrte unweigerlich die eigentliche Klarheit des Sprechens, die Fülle des Ausdrucks. Aus phänomenologischer Sicht, das heißt für das sprechende Subjekt, das sich seiner Sprache als Mittel der Kommunikation in einer Lebensgemeinschaft bedient, findet die Sprache zu ihrer Einheit zurück: Sie ist nicht mehr das Ergebnis einer chaotischen Vergangenheit unabhängiger linguistischer Fakten, sondern ein System, dessen Elemente alle zu einem einzigartigen Ausdrucksbemühen beitragen, das der Gegenwart oder der Zukunft zugewandt ist und folglich von einer aktuellen Logik gesteuert wird. Unter Vorgabe dieses von Husserl im Hinblick auf die Sprache gesetzten Ausgangs- und Zielpunktes möchten wir einige Ausführungen zur Diskussion stellen, die zunächst das Phänomen der Sprache und anschließend den Begriff der Intersubjektivität, der Rationalität sowie jener Philosophie berühren, die von dieser Phänomenologie impliziert wird.
II. Das Phänomen der Sprache I. Die Sprache und das Sprechen Können wir die beiden Perspektiven auf die Sprache, die wir gerade voneinander unterschieden haben, einfach nebeneinanderstellen – die Sprache als Objekt des Denkens und die Sprache
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als mir eigene? Genau dies tat zum Beispiel Saussure, wenn er zwischen einer synchronen Linguistik des Sprechens und einer diachronen Linguistik der Sprache unterschied, die nicht in der jeweils anderen aufgehen, da eine panchrone Sicht unweigerlich die Ursprünglichkeit des Gegenwärtigen auslöschen würde. Aus denselben Gründen beschränkt sich Pos darauf, abwechselnd die objektive und die phänomenologische Haltung zu beschreiben, ohne sich über ihre Beziehung zueinander zu äußern. Man könnte nun glauben, daß die Phänomenologie sich von der Linguistik nur in dem Maße unterscheidet, wie die Psychologie von der Sprachwissenschaft unterschieden ist: Die Phänomenologie fügte der Sprachkenntnis die Erfahrung der Sprache in uns hinzu, so wie die Pädagogik der Kenntnis der mathematischen Begriffe die Erfahrung dessen hinzufügt, was aus diesen im Geist derer wird, die sie erlernen. Die Erfahrung des Sprechens könnte uns also nichts über das Sein der Sprache beibringen, sie hätte keine ontologische Relevanz. Genau dies ist jedoch unmöglich. Sobald man neben der objektiven Wissenschaft der Sprache eine Phänomenologie des Sprechens erkennt, setzt man eine Dialektik in Gang, durch die beide Disziplinen miteinander in Verbindung treten. Zunächst einmal schließt der ›subjektive‹ Standpunkt den ›objektiven‹ Standpunkt ein; die Synchronie schließt die Diachronie ein. Die Vergangenheit der Sprache hat damit begonnen, eine Gegenwart zu sein, die Serie der zufälligen linguistischen Fakten, die in der objektiven Sicht betont werden, verkörpert sich in einer Sprache, die in jedem Augenblick ein System mit innerer Logik war. Wenn also die Sprache, im Querschnitt betrachtet, ein System ist, dann muß sie dies auch im Verlauf ihrer Entwicklung sein. Saussure mag noch so sehr an der Dualität der Perspektiven festhalten, seine Nachfolger können doch nicht umhin, mit dem sublinguistischen Schema (Gustave Guillaume) ein vermittelndes Prinzip in ihre Überlegungen einzuführen. In anderer Hinsicht schließt die Diachronie die Synchronie ein. Wenn die Sprache, im Längsschnitt betrachtet, Zufälle enthält, dann muß das System der Synchronie in jedem einzelnen
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Augenblick Risse enthalten, an denen es dem rohen Ereignis gelingen kann, sich einzufügen. Wir stehen also vor einer zweifachen Aufgabe. a) Wir müssen einen Sinn im Werden der Sprache finden, wir müssen ihn wie einen Ausgleich innerhalb der Bewegung auffassen. Im Hinblick auf bestimmte Formen des Ausdrucks, die allein dadurch in Verfall geraten, daß sie verwendet wurden und ihre ›Ausdrucksfähigkeit‹ verloren haben, wird beispielsweise zu zeigen sein, wie die so geschaffenen Lücken oder geschwächten Zonen auf seiten der sprechenden Subjekte, die kommunizieren wollen, zu einer Wiederaufnahme der sprachlichen Bruchstücke führen, die das in Regression befindliche System hinterlassen hat, und ihrer Verwendung gemäß zu einem neuen Prinzip. Auf diese Weise bildet sich in der Sprache ein neues Ausdrucksmittel heraus, und eine eigensinnige Logik durchzieht die Auswirkungen des Verschleißes und selbst der Redseligkeit der Sprache. Auf dieselbe Weise hat sich auch das auf die Präposition gegründete Ausdruckssystem des Französischen an die Stelle des auf der Deklination und den Wechseln der Flexion beruhenden Ausdruckssystems des Lateinischen setzen können. b) Korrelativ dazu müssen wir verstehen, daß bei der Synchronie, da sie nur ein Querschnitt der Diachronie ist, das in ihr realisierte System nie vollständig verwirklicht ist, es trägt immer latent oder im Keim vorhandene Veränderungen in sich, es setzt sich niemals nur aus absolut eindeutigen Bedeutungen zusammen, die sich aus dem Blickwinkel eines konstituierenden transparenten Bewußtseins vollständig darlegen ließen. Es wird sich dabei nicht um ein System klar gefügter Bedeutungsformen handeln, auch nicht um ein Gebäude linguistischer Ideen, das nach einem strengen Plan errichtet wurde, sondern um ein Ensemble konvergierender sprachlicher Gesten, unter denen jede einzelne weniger durch eine Bedeutung als durch einen Gebrauchswert definiert sein wird. Statt daß die einzelnen Sprachen wie die ›verworrene‹ Realisierung bestimmter idealer und universaler Bedeutungsformen erscheinen, wird nun die Möglichkeit einer solchen Synthese problematisch. Wenn eine Universalität erreicht
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wird, dann nicht auf dem Wege einer universalen Sprache, die aus der Verschiedenheit der Sprachen ins Diesseits zurückkehren würde, um uns die Grundlagen jeder möglichen Sprache zu liefern, sondern auf dem krummen Pfad jener bestimmten Sprache, die ich spreche und die mich in das Ausdrucksphänomen auch zu jedweder anderen Sprache, die ich zu sprechen lerne und die den Akt des Ausdrückens in ganz anderem Stil vollzieht, einführt. Beide Sprachen, und letztlich alle gegebenen Sprachen, sind dabei unter Umständen nur am Ende des Weges und als Totalitäten vergleichbar, ohne daß man in ihnen die gemeinsamen Elemente einer einzigen kategorialen Struktur erkennen könnte. Statt daß man also eine Sprachpsychologie und eine Sprachwissenschaft nebeneinanderstellen könnte, indem man der ersten die gegenwärtige Sprache vorbehält, der zweiten hingegen die vergangene Sprache, breitet sich die Gegenwart in der Vergangenheit als einer gewesenen Gegenwart aus, und die Geschichte ist die Geschichte sukzessiver Synchronien – so daß auch die Kontingenz der sprachlichen Vergangenheit bis in das synchrone System hineinreicht. Was mir durch die Phänomenologie der Sprache beigebracht wurde, ist nicht nur eine psychologische Neugier: Die Sprache der Linguisten in mir, mit den Besonderheiten, die ich ihr hinzufüge – es ist eine neue Vorstellung vom Sein der Sprache, die nun in der Kontingenz logisch und ein ausgerichtetes System ist und die dennoch stets die Zufälle zu verarbeiten sucht, als Wiederaufnahme des Zufälligen in einer sinnhaften Totalität, als inkarnierte Logik.
II. Die Quasi-Leiblichkeit des Signifikanten Wenn wir auf die gesprochene oder lebendige Sprache zurückkommen, so entdecken wir, daß ihr Ausdruckswert nicht die Summe der Ausdruckswerte ist, die etwa jedes Element der ›verbalen Kette‹ für sich besitzt. Im Gegenteil, diese Elemente bilden in dem Sinne in der Synchronie ein System, daß jedes von ihnen nur seinen Unterschied gegenüber den anderen bedeutet – die
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Zeichen sind, wie Saussure sagt, im wesentlichen ›diakritisch‹ –, und da dies für alle Elemente gilt, gibt es in der Sprache nur Bedeutungsunterschiede. Wenn sie schließlich etwas sagen will und sagt, dann ist es nicht etwa so, daß jedes Zeichen eine ihm eigene Bedeutung transportiert, sondern vielmehr so, daß sie alle zusammen auf eine stets aufgeschobene Bedeutung anspielen, wenn man sie einzeln betrachtet, und ich überschreite die Zeichen in Richtung dieser Bedeutung, ohne daß sie sie jemals enthalten. Jedes von ihnen bringt nur durch den Verweis auf eine bestimmte geistige Ausstattung, auf eine bestimmte Einrichtung unserer kulturellen Utensilien zum Ausdruck, und alle zusammen sind sie wie ein leeres Formular, das noch nicht ausgefüllt wurde, wie die Gesten eines Anderen, die auf einen Gegenstand der Welt, den ich nicht sehe, gerichtet sind und ihn umschreiben. Die Sprechfähigkeit, die sich das Kind aneignet, indem es seine Sprache erlernt, ist nicht die Summe der morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Bedeutungen: Diese Kenntnisse sind weder notwendig noch hinreichend, um eine Sprache zu erwerben, und der Sprechakt setzt, sobald er einmal erlernt ist, keinerlei Vergleich zwischen dem voraus, was ich ausdrücken will, und dem begrifflichen Arrangement der von mir verwendeten Ausdrucksmittel. Die Wörter und die nötigen Wendungen, um meine Bedeutungsintention auszudrücken, empfehlen sich mir beim Sprechen nur durch das, was Humboldt die innere Sprachform nannte (und was man etwas moderner den Wortbegriff nennt), das heißt durch einen bestimmten Stil des Sprechens, aus dem sie hervorgehen und der sie organisiert, ohne daß ich sie mir vorstellen müßte. Es gibt eine ›sprachliche‹ Bedeutung der Sprache, die vollständig zwischen meiner noch stummen Intention und den Wörtern vermittelt, und zwar so, daß meine Worte mich selbst überraschen und mich mein Denken lehren. Die organisierten Zeichen haben ihren immanenten Sinn, der nicht aus dem »Ich denke«, sondern aus dem »Ich kann« hervorgeht. Diese Aktion auf Distanz der Sprache, welche die Bedeutungen trifft, ohne sie zu berühren, und diese Beredsamkeit, die sie
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auf unwiderrufliche Weise bezeichnet, ohne sie jemals in Wörter zu verwandeln oder das Schweigen des Bewußtseins zu beenden, sie sind ein ausgezeichneter Fall von leiblicher Intentionalität. Ich habe ein unwiderlegbares Bewußtsein von der Reichweite meiner Gesten oder von der Räumlichkeit meines Körpers, das es mir erlaubt, mit der Welt in verschiedenen Beziehungen zu stehen, ohne mir die Gegenstände, die ich ergreifen werde, oder die Größenverhältnisse zwischen meinem Körper und den Wegen der Annäherung, die mir die Welt anbietet, thematisch vorzustellen. Unter der Bedingung, daß ich nicht ausdrücklich über es nachdenke, ist das Bewußtsein, das ich von meinem Körper habe, unmittelbar bedeutsam im Hinblick auf eine bestimmte, mich umgebende Landschaft, es ist jenes Bewußtsein, das ich durch meine Finger von einer gewissen faserigen oder körnigen Beschaffenheit des Gegenstandes habe. Auf dieselbe Art und Weise trägt das gesprochene Wort, das ich äußere oder das ich höre, eine Bedeutung in sich, die in der Textur der sprachlichen Geste selbst ablesbar ist, und zwar in dem Maße, daß ein Zögern, eine Veränderung der Stimme oder die Auswahl einer bestimmten Syntax ausreicht, um sie zu modifizieren. Und dennoch ist die Bedeutung nie ganz in dieser sprachlichen Geste enthalten, jeder Ausdruck erscheint stets nur wie eine Spur, keine Idee ist mir nur in Transparenz gegeben, und jedes Bemühen, unsere Hand über jenem Denken zu schließen, das dem gesprochenen Wort innewohnt, hinterläßt nur einen Rest Wortmaterial zwischen unseren Fingern.
III. Die Beziehung vom Bezeichnenden zum Bezeichneten. Die Sedimentierung. Wenn das gesprochene Wort einer Geste vergleichbar ist, dann steht das, was es ausdrücken soll, zu ihm in derselben Beziehung wie das Ziel in Beziehung zu der Geste steht, die es anvisiert, und unsere Bemerkungen über die Wirkungsweise des Bedeutungsapparates bringen bereits eine bestimmte Theorie der Bedeutung mit sich, die das gesprochene Wort ausdrückt. Meine körperliche
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Ausrichtung auf die mich umgebenden Dinge ist implizit und verlangt nach keiner Thematisierung, keiner ›Repräsentation‹ meines Körpers oder der Umwelt. Die Bedeutung belebt das gesprochene Wort, so wie die Welt meinen Körper belebt: durch eine verborgene Gegenwart, die meine Absichten weckt, ohne sich vor ihnen ganz zu entfalten. Die Bedeutungsintention in mir (wie auch bei dem Zuhörer, der sie wiederfindet, indem er mir zuhört) ist in diesem Augenblick, und selbst wenn sie später in ›Gedanken‹ ihre Früchte tragen soll, nur eine determinierte Leerstelle, die mit Wörtern zu füllen ist – der Überschuß dessen, was ich sagen will, über das, was gesagt wird oder was bereits gesagt wurde. Dies bedeutet: a) daß die Bedeutungen der gesprochenen Sprache immer Ideen im Kantischen Sinne sind, die Pole einer bestimmten Anzahl konvergierender Ausdrucksakte, die den Diskurs magnetisieren, ohne im eigentlichen Sinne selbst gegeben zu sein; b) daß infolgedessen der Ausdruck niemals vollständig ist. Wie Saussure bemerkt, haben wir das Gefühl, daß unsere Sprache die Dinge vollständig zum Ausdruck bringt. Es ist jedoch nicht so, daß sie deshalb unsere Sprache ist, weil sie etwas vollständig zum Ausdruck bringt, vielmehr glauben wir, daß sie etwas vollständig zum Ausdruck bringt, weil sie unsere Sprache ist. »The man I love« ist für einen Engländer ein ebenso vollständiger Ausdruck wie »l’homme que j’aime« für einen Franzosen. Und »Ich liebe diesen Menschen« ist für einen Deutschen, der durch die Deklination ausdrücklich die Funktion des direkten Objekts bezeichnen kann, eine vielsagende Art, sich auszudrücken. Es liegt also stets eine Anspielung im Ausdruck – oder es gilt vielmehr, den Begriff der Anspielung zu verwerfen: Er ergibt nur einen Sinn, wenn wir eine Sprache (im Normalfall unsere eigene) als Modell und als ein gegenüber dem jeweiligen Ausdruck Absolutes ansehen, eine Sprache, die uns tatsächlich, wie alle anderen auch, niemals gleichsam ›bei der Hand nehmen‹ und uns auf die Bedeutung oder auf die Dinge selbst hinführen kann. Sagen wir also nicht, daß jeder Ausdruck unvollkommen ist, weil er eine Anspielung enthält, sagen wir, daß jeder Ausdruck in dem Maße
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vollständig ist, in dem er ohne Zweideutigkeit verstanden wird, und gestehen wir hinsichtlich des Ausdrucks als grundlegende Tatsache zu: ein Überschreiten des Bezeichnenden (signifiant) durch das Bezeichnete (signifíé), welches zu ermöglichen das Vermögen des Bezeichnenden (signifiant) selbst ist. c) daß dieser Ausdrucksakt, diese durch die Transzendenz des sprachlichen Sinns der gesprochenen Sprache und der von ihr anvisierten Bedeutung bewirkten Verbindung für uns, die sprechenden Subjekte, keine sekundäre Handlung ist, auf die wir nur zurückgreifen, um dem anderen unsere Gedanken mitzuteilen, sondern eine Besitznahme unsererseits, das Erwerben von Bedeutungen, die uns andernfalls nur unbestimmt gegenwärtig wären. Wenn die Thematisierung des Bezeichneten nicht dem Sprechen vorangeht, dann nur deswegen, weil sie ihr Resultat ist. Bleiben wir noch einen Moment bei dieser dritten Konsequenz. Etwas auszudrücken bedeutet für das sprechende Subjekt, sich bewußt zu werden; es bringt nicht nur für die Anderen etwas zum Ausdruck, sondern um selbst zu wissen, worauf es abzielt. Wenn das Sprechen eine Bedeutungsintention inkarnieren will, die nur eine gewisse Leerstelle ist, dann will sie dies nicht nur, um im Anderen denselben Mangel, denselben Entzug erneut herzustellen, sondern um zu wissen, worin dieser Mangel und dieser Entzug bestehen. Wie könnte ihr dies gelingen? Die Bedeutungsintention gibt sich einen Leib und erkennt sich selbst, indem sie sich im System der verfügbaren Bedeutungen, die die von mir gesprochene Sprache und die Gesamtheit der Schriften und der Kultur repräsentieren und deren Erbe ich bin, ein Äquivalent sucht. Für diesen stummen Wunsch in Form einer Bedeutungsintention geht es darum, ein bestimmtes Arrangement von bereits bedeutsamen Instrumenten oder von bereits sprechenden Bedeutungen (morphologische, syntaktische und lexikalische Instrumente, literarische Genres, Erzählformen, verschiedene Darstellungsformen des Ereignisses etc.) zu realisieren, ein Arrangement, das beim Zuhörer die Ahnung einer anderen und neuen Bedeutung entstehen läßt und die umgekehrt
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beim Sprecher oder beim Schreibenden die bislang unbekannte Bedeutung in den bereits verfügbaren Bedeutungen verankert. Aber warum und wie, in welchem Sinne sind diese verfügbar? Sie sind es geworden, als sie, zu ihrer Zeit, als Bedeutungen gestiftet (institutées) wurden, auf die ich zurückgreifen kann, die ich habe – durch eine auf dieselbe Weise durchgeführte Ausdruckshandlung. Sie ist es also, die es zu beschreiben gilt, wenn ich das Vermögen der gesprochenen Sprache verstehen will. Die Wörter und die Formen des Französischen verstehe ich, oder ich glaube, sie zu verstehen; ich habe eine gewisse Erfahrung mit den literarischen und philosophischen Ausdrucksweisen, die mir die gegebene Kultur anbietet. Ich bringe etwas zum Ausdruck, indem ich all diese bereits sprechenden Instrumente bei ihrem Einsatz dazu bringe, etwas zu sagen, das sie noch nie gesagt haben. Wir beginnen mit der Lektüre eines Philosophen, indem wir den von ihm verwendeten Wörtern ihren allgemein ›üblichen‹ Sinn zuschreiben, und ganz allmählich, mit einer zunächst unmerklichen Umkehrung, gewinnt sein Sprechen über seine Sprache die Oberhand, und es ist auf den Einsatz dieser gesprochenen Sprache zurückzuführen, daß er den Wörtern letztlich eine neue und ihm eigene Bedeutung verleiht. In diesem Augenblick hat er sich verständlich gemacht, und seine Bedeutung hat sich in mir festgesetzt. Man sagt, ein Gedanke sei ausgedrückt, wenn die konvergenten Äußerungen, die auf ihn gerichtet sind, zahlreich und beredt genug sind, um ihn mir, als Autor, oder den Anderen unzweideutig darstellen zu können, und um uns allen die Erfahrung seiner leiblichen Präsenz (présence charnelle) im gesprochenen Wort vermitteln zu können. Wenngleich nur die Abschattungen der Bedeutungen thematisch gegeben sind, so ist es doch eine Tatsache, daß sich diese Abschattungen, sobald ein bestimmter Punkt des Diskurses überschritten ist, und wenn man sie in ihrer Bewegung nimmt, außerhalb derer sie nicht existieren, plötzlich in einer einzigen Bedeutung zusammenziehen. Wir spüren, daß etwas gesagt wurde, so wie wir, über ein Minimum sensorischer Botschaften hinweg, etwas wahrnehmen, obwohl die Erklärung der Sache grundsätzlich bis ins Unendliche reicht – oder so, wie
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wir als Zuschauer einer bestimmten Anzahl von Verhaltensweisen schließlich dahin gelangen, jemanden wahrzunehmen, obwohl bei genauer Reflexion niemand als ich selbst wirklich und in demselben Sinne Ego sein kann … Die Konsequenzen der gesprochenen Sprache reichen, wie im Falle der Wahrnehmung (und insbesondere der Wahrnehmung des Anderen) immer über ihre Prämissen hinaus. Wir selbst, die wir sprechen, wissen nicht unbedingt besser, was wir ausdrücken als jene, die uns zuhören. Ich sage, daß ich eine Idee begriffen habe, wenn sich in mir das Vermögen eingestellt hat, in ihrem Umfeld Diskurse anzuordnen, die einen kohärenten Sinn ergeben, und dieses Vermögen selbst rührt nicht etwa daher, daß ich diese Idee bei mir besitzen würde und sie von Angesicht zu Angesicht betrachten könnte, sondern daher, daß ich mir einen bestimmten Denkstil angeeignet habe. Ich sage, daß eine Bedeutung erworben wurde und von nun an verfügbar ist, sobald es mir gelungen ist, sie einem Gefüge der gesprochenen Sprache innewohnen zu lassen, das zunächst einmal nicht für sie bestimmt war. Selbstverständlich enthielten die Elemente dieses Ausdrucksgefüges sie nicht wirklich: Die französische Sprache enthielt, als sie eingeführt wurde, noch nicht die französische Literatur – ich mußte ihre Bedeutungen erst dezentrieren und wieder zentrieren, damit sie das bedeuten, auf das ich abzielte. Es ist genau diese ›kohärente Deformierung‹ (A. Malraux) der verfügbaren Bedeutungen, die sie zu einem neuen Sinn zusammenfügt und die Zuhörer, aber auch das sprechende Subjekt, einen entscheidenden Schritt tun läßt. Denn von nun an werden die vorbereitenden Schritte des Ausdrucks – die ersten Seiten des Buches – im endgültigen Sinn des Gesamten wieder aufgegriffen, und sie ergeben sich mit einem Mal wie Ableitungen dieses Sinns, der nun fest in der Kultur verankert ist. Es wird dem sprechenden Subjekt (und den Anderen) möglich sein, geradewegs zum Ganzen voranzuschreiten, es braucht nicht wieder den ganzen Prozeß in Gang zu setzen, es wird ihn in seinem Resultat auf herausragende Weise sein eigen nennen, und eine personale und interpersonale Tradition wird gegründet worden sein. Der Nachvollzug, der von den tastenden Versuchen des Voll-
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zugs befreit ist, zieht die Schritte zu einer einzigen Sichtweise zusammen, es kommt zu einer Sedimentierung, und mein Denken wird darüber hinausgehen können. Die gesprochene Sprache ist, sofern sie von der Sprache unterschieden ist, dieser Moment, in dem sich die noch stumme, aber im Handeln begriffene Bedeutungsintention als fähig erweist, sich der Kultur, meiner wie auch der des Anderen, einzuverleiben, mich und ihn zu formen, indem sie den Sinn der Kulturinstrumente transformiert. Sie wird ihrerseits ›verfügbar‹, weil sie uns hinterher vortäuscht, sie sei auch in den verfügbaren Bedeutungen enthalten gewesen, obwohl sie sich, durch eine Art von List, mit diesen nur vermählt hat, um ihnen neues Leben einzuhauchen.
III. Konsequenzen für die phänomenologische Philosophie Welche philosophische Bedeutung muß man in diesen Beschreibungen erkennen? Die Beziehung der phänomenologischen Analysen zur Philosophie im engeren Sinn ist nicht eindeutig. Man betrachtet erstere oft als vorbereitend, und Husserl selbst hat stets zwischen den ›phänomenologischen Untersuchungen‹ im weiteren Sinn und der ›Philosophie‹ unterschieden, die diese krönen sollte. Dennoch ist es schwierig, zu behaupten, das philosophische Problem bliebe auch nach der phänomenologischen Entdeckung der Lebenswelt in seiner Gesamtheit bestehen. Wenn die Rückkehr zur ›Lebenswelt‹ in den letzten Schriften Husserls als ein erster, absolut notwendiger Schritt angesehen wird, dann sicherlich deshalb, weil sie nicht ohne Auswirkungen auf die Tätigkeit einer universalen Konstitution ist, die darauf folgen muß, weil in mancher Hinsicht ein Teil des ersten Schrittes im zweiten enthalten bleibt, er in ihm auf irgendeine Weise bewahrt wird, weil er folglich nie gänzlich überholt und die Phänomenologie bereits Philosophie ist. Wäre das philosophische Subjekt ein transparentes konstituierendes Bewußtsein, vor dem sich die Welt und die Sprache so vollkommen explizit darböten wie ihre Bedeutungen und ihre Gegenstände, dann würde eine
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beliebige, phänomenologische oder nicht-phänomenologische Erfahrung ausreichen, den Übergang zur Philosophie zu motivieren, und die systematische Erkundung der Lebenswelt wäre nicht notwendig. Wenn die Rückkehr zur Lebenswelt, und insbesondere die Rückkehr der objektivierten Sprache zur gesprochenen Sprache, als absolut notwendig angesehen wird, so liegt es daran, daß die Philosophie über den Modus der Präsenz des Objekts für das Subjekt nachdenken muß, die begriffliche Vorstellung vom Objekt und die vom Subjekt, so wie sie in der phänomenologischen Entdeckung erscheinen, ohne daß sie durch die Beziehung des Objekts zum Subjekt ersetzt werden, wie sie in einer idealistischen Philosophie der umfassenden Reflexion entworfen wird. Von nun an umhüllt die Phänomenologie die Philosophie, die sich ihr nicht schlicht und einfach anschließen kann. Dies wird besonders deutlich, wenn es um die Phänomenologie der Sprache geht. Dieses Problem, offensichtlicher als jedes andere, zwingt uns hinsichtlich der Beziehungen von Phänomenologie und Philosophie oder Metaphysik eine Entscheidung zu treffen. Denn dieses Problem erscheint, deutlicher als jedes andere, wie ein spezielles Problem und wie ein Problem, das alle anderen enthält, auch das der Philosophie. Wenn das gesprochene Wort das ist, was wir gesagt haben, wie sollte es dann eine Ideation geben, die diese Praxis beherrschen könnte, wie sollte die Phänomenologie des gesprochenen Wortes nicht auch die Philosophie des gesprochenen Wortes sein, wie sollte nach ihr noch Raum sein für eine Erklärung auf höherer Stufe? Wir müssen unbedingt den philosophischen Sinn der Rückkehr zur gesprochenen Sprache unterstreichen. Die Beschreibung, die wir vom Bedeutungsvermögen (puissance signifiante) der gesprochenen Sprache und allgemein vom Leib als Mittler unserer Beziehung zum Objekt gegeben haben, lieferte keinerlei philosophischen Hinweis, wenn man sie als Angelegenheit einer psychologischen Pittoreske ansehen könnte. Man würde damit zugeben, daß der Leib, so wie wir ihn leben, uns tatsächlich die Welt zu implizieren scheint, so wie die ge-
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sprochene Sprache eine Landschaft des Denkens impliziert. Aber dies wäre nur der äußere Anschein: Vor dem ernsthaften Denken bliebe mein Leib Objekt, mein Bewußtsein bliebe reines Bewußtsein und ihre Koexistenz der Gegenstand einer Apperzeption, deren Subjekt ich, als reines Bewußtsein, bliebe (ungefähr so präsentieren sich die Dinge in den älteren Schriften Husserls). Ebenso scheint es, wenn mein gesprochenes Wort oder dasjenige, das ich höre, sich selbst in Richtung einer Bedeutung übersteigen, daß diese Beziehung, wie jede Beziehung, nur durch mich als Bewußtsein hergestellt werden kann, die radikale Autonomie des Denkens fände sich im selben Augenblick wiederhergestellt, in dem sie infragegestellt schien… Dennoch kann ich das Phänomen der Inkarnation weder im einen noch im anderen Fall auf den lediglich psychologischen Anschein zurückführen, und wenn ich versucht wäre, es zu tun, würde ich durch die Wahrnehmung des Anderen daran gehindert. Denn deutlicher noch (aber nicht anders) als in der Erfahrung der gesprochenen Sprache oder der wahrgenommenen Welt, begreife ich meinen Körper in der Erfahrung des Anderen unvermeidlich als eine Spontaneität, die mich das lehrt, was ich nicht anders als durch sie verstehen könnte. Die Setzung des Anderen als ein anderes Ich-selbst ist tatsächlich nicht möglich, wenn es das Bewußtsein ist, das sie bewirken soll: Ein Bewußtsein zu haben bedeutet, zu konstituieren, und ich kann folglich kein Bewußtsein von jemand Anderem haben, da dies hieße, ihn als Konstituierenden zu konstituieren, und als Konstituierenden im Hinblick auf den Akt selbst, durch den ich ihn konstituiere. Diese grundsätzliche Schwierigkeit, die wie ein Markstein am Beginn der fünften Cartesianischen Meditation steht, wird nirgends behoben. Husserl geht darüber hinaus: Da ich eine Vorstellung vom Anderen habe, muß man davon ausgehen, daß auf irgendeine Weise die erwähnte Schwierigkeit faktisch bereits überwunden wurde. Dies hat nur dann geschehen können, wenn derjenige in mir, der den Anderen wahrnimmt, den radikalen Widerspruch zu ignorieren vermag, der die theoretische Konzeption des Anderen unmöglich macht, oder vielmehr, wenn er (da er es, wenn er ihn ignorieren würde, nicht mehr
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mit dem Anderen zu tun haben würde) in der Lage wäre, diesen Widerspruch als Bestimmung selbst der Präsenz des Anderen zu erleben. Dieses Subjekt, das sich in dem Moment, in dem es als Konstituierendes fungiert, als Konstituiertes erfährt, dieses Subjekt ist mein Leib. Man rufe sich in Erinnerung, wie Husserl im Falle der Fundierung auf dasjenige kommt, was er ein ›Phänomen der Paarung‹ und eine ›intentionale Überschreitung‹ nennt, meine Wahrnehmung eines Gebarens im mich umgebenden Raum. Es findet sich, daß mein Blick an manchen Schauspielen – nämlich den anderen menschlichen Körpern und, im weiteren Sinne, auch den animalischen – hängenbleibt, daß er von ihnen umgarnt wird. Ich werde von ihnen beansprucht, obwohl ich sie selbst beanspruchen wollte, und ich sehe, wie sich im Raum eine Gestalt abzeichnet, welche die Möglichkeiten meines eigenen Körpers weckt und zusammenruft, als handele es sich um meine eigenen Gesten oder Verhaltensweisen. Alles geschieht, als seien die Funktionen der Intentionalität und des intentionalen Objekts auf paradoxe Weise ausgetauscht worden. Das Schauspiel lädt mich ein, sein adäquater Zuschauer zu werden, als würde mit einem Mal ein anderer Geist als der meinige meinen Leib bewohnen, oder vielmehr, als wäre mein Geist dort hineingezogen worden und wanderte nun aus in jenes Schauspiel, das er selbst sich gerade darbot. Ich bin gepackt von einem zweiten, außer mir seienden Ich-selbst, ich nehme den Anderen wahr… Die gesprochene Sprache ist nun ganz offensichtlich ein herausragender Fall dieses ›Gebarens‹, das meine gewöhnliche Beziehung zu den Objekten umkehrt und bestimmten Objekten unter ihnen den Wert von Subjekten zuschreibt. Und wenn, angesichts des lebendigen Körpers, sei es der meinige oder der des Anderen, die Objektivierung keinen Sinn ergibt, so muß man doch die Inkarnation dessen, was ich ihr Denken in seiner vollständigen Sprachäußerung nenne, für das letztmögliche und für den Anderen konstitutive Phänomen halten. Wenn die Phänomenologie unsere Auffassung vom Sein und unsere Philosophie in Wirklichkeit nicht schon längst in ihre Dienste genommen hätte, dann wären wir, sobald wir bei dem philosophischen Problem angelangt sind, vor die
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gleichen Schwierigkeiten gestellt, die ihrerseits die Phänomenologie haben entstehen lassen. In gewissem Sinne ist die Phänomenologie alles oder nichts. Diese Ordnung der lehrenden Spontaneität – das ›Ich kann‹ des Leibes, die ›intentionale Überschreitung‹, die den Anderen hervorbringt, das ›gesprochene Wort‹, das die Idee einer reinen oder absoluten Bedeutung erzeugt – kann nicht anschließend wieder, bei Strafe einer erneuten Umkehr in Unsinn, der Gerichtsbarkeit eines akosmischen und pankosmischen Bewußtseins unterstellt werden. Sie muß mich vielmehr lehren, das zu erkennen, was kein konstituierendes Bewußtsein wissen kann: meine Zugehörigkeit zu einer ›prä-konstituierten‹ Welt. Wie aber, wird man einwenden, können mir der Leib und die gesprochene Sprache mehr geben als ich in sie hineingelegt habe? Ganz offensichtlich ist es nicht mein Körper als Organismus, der mich lehrt, in einem Gebaren, dessen Zuschauer ich bin, das Auftauchen eines anderen Ich-selbst zu sehen: Er könnte sich höchstens in einem anderen Organismus widerspiegeln und wiedererkennen. Damit das Alter ego und das andere Denken vor mir erscheinen, muß ich das Ich von diesem meinem Körper sein, das Denken von diesem inkarnierten Leben. Das Subjekt, das die intentionale Überschreitung begeht, kann dies nur vollbringen, sofern es situiert ist. Die Erfahrung des Anderen ist genau in dem Maße möglich, in dem die Situation Teil des Cogito ist. Unter diesen Umständen müssen wir aber auch das wörtlich nehmen, was uns die Phänomenologie über die Beziehung von Bezeichnendem und Bezeichneten gelehrt hat. Wenn das zentrale Phänomen der Sprache tatsächlich der gewöhnliche Akt des Bezeichnenden und des Bezeichneten ist, dann würden wir ihm seine Wirksamkeit nehmen, indem wir das Ergebnis der Ausdruckshandlungen vorab in einem Ideenhimmel realisierten, wir würden den Schritt aus den Augen verlieren, den sie zwischen den bereits verfügbaren Bedeutungen und den Bedeutungen, die wir gerade erst konstruieren und erwerben, getan haben. Und das zweifach Intelligible, auf das man sie zu gründen suchte, würde uns nicht davon befreien zu verstehen, wie sich unser Erkennt-
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nisapparat erweitert, bis er das begreift, was er nicht umfaßt. Wir würden unsere Transzendenz nicht einsparen, wenn wir sie einem faktisch Transzendenten unterstellen würden. Der Ort der Wahrheit bliebe in jedem Fall diese Vorhabe, durch die jedes gesprochene Wort oder jede gesicherte Wahrheit ein Feld der Erkenntnis eröffnet, und der Nachvollzug, durch den wir auf dieses Werden der Erkenntnis oder diesen Umgang mit dem Anderen schließen und sie zu einer neuen Sicht zusammenziehen. Anstatt ihren Vorgängern hinterherzujagen, ihnen nachzufolgen und sie einfach nur für ungültig zu erklären, retten unsere gegenwärtigen Ausdruckshandlungen ihre Vorgänger, sie bewahren sie und greifen sie wieder auf, insofern als sie eine gewisse Wahrheit enthielten, und dasselbe Phänomen zeigt sich angesichts der Ausdruckshandlungen des Anderen, seien sie nun längst vergangen oder eben erst vollzogen. Unsere Gegenwart hält die Versprechen unserer Vergangenheit, und wir halten die Versprechen der Anderen. Jeder Akt des literarischen oder philosophischen Ausdrucks trägt dazu bei, den Wunsch nach einer Wiedergewinnung der Welt zu erfüllen, der sich mit dem Erscheinen einer Sprache, das heißt eines endlichen Systems von Zeichen, geäußert hat, das vorgab, im Prinzip in der Lage zu sein, jedes Sein, das sich ihm präsentierte, zu erfassen. Er verwirklicht seinerseits einen Teil dieses Projekts und verlängert überdies den Vertrag, der gerade hinfällig geworden war, als dieser Akt ein neues Feld an Wahrheiten eröffnete. Dies ist nur durch dieselbe ›intentionale Überschreitung‹ möglich, die den Anderen hervorbringt, und wie sie wird das theoretisch unmögliche Phänomen der Wahrheit nur kenntlich durch die Praxis, die sie herstellt. Zu behaupten, daß es eine Wahrheit gibt, heißt behaupten, daß sich, wenn meine Wiederaufnahme mit dem alten oder fremden Projekt zusammentrifft, und wenn der gelungene Ausdruck das freisetzt, was im Sein seit jeher gefangen war, in der Dichte der personalen und interpersonalen Zeit eine innere Kommunikation bildet, durch die unsere Gegenwart zur Wahrheit über alle anderen erkennenden Ereignisse wird. Es ist ein Keil, den wir in die Gegenwart treiben, ein Markstein, der bezeugt, daß in diesem Moment etwas
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stattgefunden hat, das vom Sein immer schon erwartet wurde oder das es seit jeher ›sagen wollte‹, und das niemals aufhören wird – es sei denn, es hörte auf, wahr zu sein –, wenigstens zu bedeuten und unseren Denkapparat anzuregen, notfalls auch, indem es ihm verständlichere Wahrheiten als diese entlockt. In diesem Moment wurde etwas in Bedeutung gesetzt, eine Erfahrung wurde in ihren eigenen Sinn transformiert, sie ist Wahrheit geworden. Die Wahrheit ist ein anderer Name der Sedimentierung, die ihrerseits die Präsenz aller Gegenwarten in der unsrigen ist. Das bedeutet, daß es selbst und vor allem für das letzte philosophische Subjekt keine Objektivität gibt, die unsere überobjektive Beziehung zu allen Zeiten bezeugen könnte, kein Licht, das über das der lebendigen Gegenwart hinausreicht. In jenem späten Text, den wir eingangs zitiert haben, schreibt Husserl, die gesprochene Sprache verwirkliche eine ›Lokalisation‹ und eine ›Temporalisation‹ eines idealen Sinns, der ›seinem Seinssinn nach‹ nicht-lokal und nicht-temporal sei – und er ergänzt weiter unten, daß die gesprochene Sprache überdies objektiviere und als Begriff oder als Satz für die Mehrzahl der Subjekte öffne, was zuvor ein bloß innersubjektives Gebilde gewesen sei. Es müßte folglich eine Bewegung geben, mittels derer die ideale Existenz in die Lokalität und Temporalität hinabsteigt – und eine umgekehrte Bewegung, durch die der Sprechakt hier und jetzt die Idealität des Wahren begründet. Diese beiden Bewegungen wären widersprüchlich, wenn sie sich zwischen denselben extremen Begrifflichkeiten abspielen würden, und es erscheint uns notwendig, hierbei von einem Kreis der Reflexion auszugehen: Bei ihrer ersten Annäherung begreift die Reflexion die ideale Existenz als nicht-lokal und nicht-temporal – dann bemerkt sie eine Lokalität und Temporalität der gesprochenen Sprache, die man nicht von jenen der objektiven Welt ableiten kann und übrigens auch nicht an eine Welt der Ideen anhängen kann, und schließlich läßt sie die Seinsart der idealen Sinngebilde auf der gesprochenen Sprache beruhen. Die ideale Existenz ist auf dem Dokument fundiert, sicher nicht im Sinne eines physischen Objekts, auch nicht als Träger einzelner Bedeutungen, die
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ihm die Konventionen der Sprache zuweisen, in der es geschrieben wurde, sondern auf ihm, insofern es, wiederum durch eine ›intentionale Überschreitung‹, sämtliche erkennenden Leben anspricht und sie konvergieren läßt, womit es einen ›Logos‹ der kulturellen Welt einsetzt und erneuert. Die Eigenart einer phänomenologischen Philosophie scheint uns also darin zu liegen, daß sie sich definitiv in der Ordnung der lehrenden Spontaneität einrichtet, die dem Psychologismus und dem Historismus, ebenso wie den dogmatischen Lehren der Metaphysik, unzugänglich ist. Unter all diesen Lehren ist allein die Phänomenologie der gesprochenen Sprache in der Lage, uns diese Ordnung zu enthüllen. Wenn ich spreche oder wenn ich verstehe, erfahre ich die Präsenz des Anderen in mir oder meine Präsenz in ihm, was zugleich der Stein des Anstoßes in der Theorie der Intersubjektivität ist, so wie die Präsenz des Repräsentierten der Stein des Anstoßes in der Theorie der Zeit ist, und ich verstehe schließlich, was der rätselhafte Satz Husserls sagen will: »Die transzendentale Subjektivität ist Intersubjektivität.« In dem Maße, in dem das, was ich sage, einen Sinn hat, bin ich, wenn ich spreche, für mich selbst ein anderer ›Anderer‹, und in dem Maße, in dem ich verstehe, weiß ich nicht mehr, wer spricht und wer zuhört. Der letzte philosophische Schritt besteht darin, das zu erkennen, was Kant die ›transzendentale Affinität‹ der Zeitmomente und der Zeitlichkeiten nennt. Danach strebt Husserl sicherlich, wenn er das finalistische Vokabular der metaphysischen Lehren aufgreift und von ›Monaden‹, ›Entelechien‹ und ›Teleologie‹ spricht. Aber diese Wörter setzt er oft in Klammern, um anzudeuten, daß er mit ihnen keine wirkende Kraft einzuführen sucht, die von außen die Verbindung der zueinander in Beziehung gesetzten Begrifflichkeiten zusicherte. Die Finalität im dogmatischen Sinne wäre ein Kompromiß: Sie ließe die zu verbindenden Ausdrücke und das verbindende Prinzip einander gegenüberstehen. Oder aber ich finde im tiefsten Inneren meiner Gegenwart den Sinn jener Gegenwarten, die ihr vorausgegangen sind, finde dort etwas, durch das ich die Präsenz des Anderen in derselben Welt begreifen kann, und durch die Ausübung der ge-
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sprochenen Sprache selbst lerne ich zu verstehen. Finalität gibt es nur in dem Sinne, in dem Heidegger sie definierte, als er in etwa sagte, daß sie das Beben einer Einheit sei, die der Kontingenz ausgesetzt ist und die sich unermüdlich neu erschafft. Und es ist auch dieselbe unabsichtliche, unerschöpfliche Spontaneität, auf die Sartre anspielte, wenn er sagte, daß wir ›zur Freiheit verurteilt‹ sind.
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DE R PH I L O S OPH U N D DI E S OZ IOL O GI E
Die Philosophie und die Soziologie haben lange Zeit streng voneinander getrennt nebeneinander existiert, wenngleich diese Trennung ihre Rivalität nur dadurch verbergen konnte, daß sie ihnen jeden Raum der Begegnung verweigerte, ihr Wachstum behinderte, sie füreinander unverständlich werden ließ und folglich die Kultur in einen andauernden Krisenzustand versetzte. Wie immer war es der Geist der Forschung, der diesen Bann gebrochen hat, und es scheint uns, als erlaube der Fortschritt der Philosophie wie der Soziologie heute eine neuerliche Untersuchung ihrer Beziehungen. Wir möchten die Aufmerksamkeit auch auf die Meditationen richten, die Husserl diesen Problemen gewidmet hat. Husserl scheint uns darin beispielhaft zu sein, daß er vielleicht besser als jeder andere gespürt hat, daß alle Formen des Denkens in gewisser Weise miteinander verbunden sind, daß man weder die Sozialwissenschaften zugrunde richten darf, um die Philosophie zu fundieren, noch die Philosophie zugrunde richten darf, um die Sozialwissenschaften zu begründen, daß vielmehr jede Wissenschaft eine Ontologie absondert und jede Ontologie ein Wissen antizipiert, und daß es letztlich bei uns liegt, uns damit abzufinden und es so einzurichten, daß die Philosophie und die Wissenschaft beide möglich sind … Die Trennung von Philosophie und Soziologie ist vielleicht nirgends mit den Worten erklärt worden, in denen wir sie zur Sprache bringen werden. Glücklicherweise sind die Arbeiten der Philosophen und der Soziologen oft weniger exklusiv als ihre Prinzipien. Aber die Trennung ist nichtsdestoweniger Teil eines gewissen Common sense der Philosophen und der Soziologen, der letztlich, durch seine Rückführung der Philosophie und der Sozialwissenschaften auf das, von dem er glaubt, es sei ihre reine Form, das Wissen ebenso wie die Reflexion kompromittiert.
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Während alle großen Philosophien an ihrem Bemühen zu erkennen sind, den Geist und seine Abhängigkeit – die Ideen und ihre Bewegung, den Verstand und die Empfindung – zu denken, gibt es gleichzeitig einen Mythos der Philosophie, der sie als autoritäre Bestätigung einer absoluten Autonomie des Geistes darstellt. Die Philosophie ist kein Fragen mehr. Sie ist ein bestimmter Korpus an Lehren, der gemacht wurde, um einem absolut losgelösten Geist die Freude an sich selbst und seinen Ideen zuzusichern. Auf der anderen Seite gibt es einen Mythos des wissenschaftlichen Wissens, der sich von der einfachen Bezeichnung der Fakten nicht nur die Wissenschaft von den Dingen der Welt verspricht, sondern sogar die Wissenschaft von dieser Wissenschaft, bei der eine Soziologie des Wissens (die ihrerseits auf empiristische Weise konzipiert wäre) das Universum der Fakten in sich abschließen müßte, indem sie ihm letztlich sogar die Ideen einfügte, die wir erfinden, um die Fakten interpretieren zu können, und bei der sie uns sozusagen von uns selbst befreite. Diese beiden Mythen sind Antagonisten und Komplizen. Der Philosoph und der Soziologe, die auf diese Weise einander gegenübergestellt sind, kommen zumindest hinsichtlich einer Grenzziehung ihrer Fachgebiete überein, die ihnen zusichert, daß sie sich niemals treffen werden. Wenn aber der Sperrgürtel aufgehoben würde, dann würden sich die Philosophie und die Soziologie gegenseitig zugrunde richten. Schon jetzt machen sie sich wechselseitig ihren Geist streitig. Ihre Trennung ist der kalte Krieg. In dieser Atmosphäre wird jede Forschung, die sowohl den Ideen als auch den Fakten Rechnung tragen will, alsbald auseinander dividiert, weil die Fakten, statt daß sie wie die Stimulanzien und Garanten eines Konstruktionsbemühens verstanden werden, das sich an ihre interne Dynamik anschließt, in den Rang einer unwiderlegbaren Gnade erhoben werden, von der man alles erwarten muß, und weil die Ideen grundsätzlich von jeder Konfrontation mit unserer Welterfahrung, des Anderen und unserer selbst freigestellt sind. Das Hin und Her von den Fakten zu den Ideen und von den Ideen zu den Fakten wird als ein Mischverfahren diskreditiert – weder Wissenschaft noch Philosophie –,
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das den Gelehrten die endgültige Interpretation der Fakten, die sie gleichwohl selbst zusammengetragen haben, entzieht und die Philosophie mit den stets provisorischen Resultaten der wissenschaftlichen Forschung kompromittiert … Man muß sich der obskurantistischen Konsequenzen dieses Rigorismus sehr wohl bewußt sein. Wenn die ›vermischten‹ Forschungen tatsächlich jene Nachteile mit sich bringen, die wir gerade erwähnt haben, dann ist dies wiederum gleichbedeutend mit der Einsicht, daß die philosophische und die wissenschaftliche Perspektive nicht nebeneinander bestehen können und daß Philosophie und Soziologie nur unter der Bedingung zu einer Sicherheit gelangen werden, daß sie einander nicht beachten. Man wird also vor dem Gelehrten jene ›Idealisierung‹ des rohen Faktums verbergen müssen, die dennoch das Wesentliche seiner Arbeit ist. Er wird die Entschlüsselung der Bedeutungen, die der Grund seines Daseins ist, nicht kennen dürfen, auch nicht die Konstruktion der geistigen Modelle des Wirklichen, ohne die es heute ebensowenig eine Soziologie gäbe wie es einst die Physik von Galilei gegeben hätte. Man wird ihm die Scheuklappen der Baconschen oder Millschen Induktion wieder überstreifen, selbst wenn sich seine eigenen Forschungen ganz offensichtlich diesen kanonischen Rezepten entziehen. Er wird folglich vorgeben, die soziale Gegebenheit so anzugehen, als sei sie ihm fremd, als verdanke seine Studie gerade jener Erfahrung nichts, die er, als soziales Subjekt, von der Intersubjektivität hat. Unter dem Vorwand, daß mit dieser erlebten Erfahrung noch längst keine Soziologie geschaffen sei, daß letztere vielmehr ihre Analyse, Erklärung und Objektivierung sei, daß sie unser anfängliches Bewußtsein der sozialen Beziehungen erschüttere und schließlich jene Bezüge zutage fördere, die wir wie eine ganz besondere Variante einer anfänglich nicht in uns vermuteten Dynamik leben, die ihrerseits nur aus der Berührung mit anderen kulturellen Gebilden heraus verständlich wird, vergißt der Objektivismus jene andere Evidenz, daß wir unsere Erfahrung der sozialen Beziehungen nicht erweitern können und die Idee wahrer sozialer Beziehungen nur durch die Analogie oder den Kontrast zu jenen Beziehungen her-
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stellen können, die wir erlebt haben, kurzum: durch eine imaginäre Variation dieser Beziehungen, angesichts derer sie sicherlich eine neue Bedeutung erhalten werden – so wie der Fall eines Körpers auf eine schiefe Ebene durch die reine Idee des freien Falls in ein neues Licht gerückt wird –, der sie aber all das liefern werden, was sie an soziologischem Sinn enthalten kann. Die Anthropologie lehrt uns, daß in bestimmten Kulturen manche der Cousins von den Kindern wie ihre eigenen ›Eltern‹ behandelt werden, und Fakten dieser Art erlauben schließlich, ein Diagramm vom System der Verwandtschaftsverhältnisse in der betrachteten Zivilisation zu erstellen. Aber die auf diese Weise festgehaltenen Korrelationen geben nur die Silhouette oder den Umriß der Verwandtschaftsverhältnisse in dieser Zivilisation wieder, einen Vergleich der Verwandtschaftsverhältnisse, die durch eine nominelle Definition in bestimmten bedeutsamen, aber noch anonymen Punkten X …Y …Z … als ›verwandtschaftlich‹ bezeichnet werden, kurzum: Sie haben noch keinen soziologischen Sinn, und die Formeln, die sie zusammenfassen, könnten ebensogut einen beliebigen physikalischen oder chemischen Prozeß derselben Form wiedergeben, solange es uns nicht gelungen ist, uns in der solchermaßen umschriebenen Institution einzurichten, solange wir den Stil der Verwandtschaftsverhältnisse, auf den all diese Formeln anspielen, nicht verstanden haben und auch nicht verstanden haben, in welchem Sinne in dieser Kultur bestimmte Subjekte andere Subjekte ihrer Generation als ihre eigenen ›Eltern‹‚ wahrnehmen, und solange wir schließlich nicht die grundlegende personale und interpersonale Struktur begriffen haben, die institutionellen Beziehungen zur Natur und zum Anderen, die jene festgestellten Korrelationen ermöglichen. Noch einmal sei es gesagt: Die tiefgreifende Dynamik des sozialen Miteinanders ist ganz sicher nicht mit unserer beschränkten Erfahrung des Lebens zu mehreren gegeben, es gelingt uns vielmehr nur durch die Dezentrierung und Rezentrierung dieser beschränkten Erfahrung, uns diese Dynamik vorzustellen, so wie die allgemeine Zahl für uns nur durch ihre Verbindung zu der ganzen Zahl der elementaren Arithmetik eine Zahl bleibt. Wir können
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anhand der Freudschen Vorstellungen der prägenitalen Sexualität ein Verzeichnis aller möglichen Modi der Akzentuierung der kindlichen Körperöffnungen erstellen, und in diesem Verzeichnis erscheinen jene Akzentuierungen, die in unserem kulturellen System verwirklicht und von den Freudianern beschrieben wurden, wie einzelne Varianten innerhalb einer großen Anzahl möglicher Varianten, die vielleicht in uns bislang noch unbekannten Zivilisationen aktuell sind. Dieses Verzeichnis sagt uns jedoch nichts über die Beziehungen zum Anderen und zur Natur, die diese Kulturformen bestimmen, solange wir uns nicht auf die psychologische Bedeutung des Mundes, des Anus oder des Genitalapparates in unserer erlebten Erfahrung beziehen, so daß wir im unterschiedlichen Gebrauch, den verschiedene Kulturen von ihnen machen, unterschiedliche Kristallisationen eines anfänglichen Polymorphismus des Körpers als Vehikel des Zur-Welt-seins erkennen können. Das Verzeichnis, das man uns präsentiert, ist nur eine Einladung, sich ausgehend von unserer Erfahrung des Körpers andere Techniken des Körpers vorzustellen. Jene Technik, die in uns aktualisiert wurde, ist nie auf die Bedingung eines einfach Möglichen unter allen Formen des Möglichen reduziert, da wir den Körper gerade aufgrund dieser privilegierten Erfahrung als ›strukturierendes‹ Prinzip begreifen lernen, und da wir die anderen Formen des ›Möglichen‹, so verschieden sie auch von dieser Erfahrung sein mögen, erahnen. Es kommt darauf an, die soziologische Forschung nie von unserer Erfahrung als soziale Subjekte zu trennen (die selbstverständlich nicht nur das einschließt, was wir unsererseits erlebt haben, sondern auch die Verhaltensweisen, die wir aus den Gesten, den Erzählungen oder den Schriften der anderen Menschen heraus erschließen können), denn die Gleichungen des Soziologen werden erst in dem Moment zu einem Abbild des Sozialen, in dem die Korrelationen, die sie zusammenfassen, zueinander in Beziehung gesetzt und in eine bestimmte einzigartige Sicht auf das Soziale und auf die der betrachteten Gesellschaft eigene Natur eingeschlossen werden, und in dem sie in dieser Gesellschaft, selbst wenn sie reichlich verschieden ist von den offiziellen Vorstellungen, die in ihr ge-
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bräuchlich sind, zu einer Institution geworden sind, einem verborgenen Prinzip all des offensichtlichen Funktionierens. Sollte es dem Objektivismus oder dem Szientismus jemals gelingen, der Soziologie jeden Rekurs auf die Bedeutungen zu verwehren, so würde er sie doch nur dann vor der ›Philosophie‹ bewahren, wenn er den Verstand ihres Gegenstandes vor ihr verschließen würde. Wir würden dann vielleicht Mathematik im Sozialen betreiben, wir verfügten jedoch nicht über die Mathematik der betrachteten Gesellschaft. Der Soziologe betreibt überall dort Philosophie, wo er seiner Aufgabe nachkommt, die Fakten nicht nur festzuhalten, sondern sie zu verstehen. Im Augenblick der Interpretation ist er selbst bereits Philosoph. Dies bedeutet, daß der professionelle Philosoph nicht dafür herabgewürdigt werden kann, daß er Fakten neu interpretiert, die er nicht selbst beobachtet hat, wenn diese Fakten etwas anderes und mehr sagen, als der Gelehrte in ihnen gesehen hatte. Wie Husserl sagt, hat die Eidetik der physischen Sache nicht erst mit der Phänomenologie begonnen, sondern mit Galilei. Und umgekehrt hat der Philosoph auch das Recht, Galilei zu lesen und zu interpretieren. Die von uns bekämpfte Trennung ist für die Philosophie nicht weniger nachteilig als für die Entwicklung des Wissens. Wie könnte ein verständiger Philosoph der Philosophie ernsthaft den Umgang mit der Wissenschaft untersagen? Denn schließlich denkt der Philosoph immer über etwas nach: über das in den Sand gezeichnete Quadrat, über den Esel, das Pferd und das Maultier, über den Kubikfuß der Ausdehnung, über das Zinnoberrot, über den römischen Staat, über die Hand, die in den Eisenfeilspänen versinkt … Der Philosoph denkt seine Erfahrung und seine Welt. Wie sollte man ihm anders als durch strikte Anordnung, das Recht zugestehen, zu vergessen, was die Wissenschaft über genau diese Erfahrung und diese Welt sagt? Unter dem Sammelbegriff der Wissenschaft verbirgt sich nur eine – enger oder weiter gefaßte, mehr oder weniger klar sehende – systematische Einteilung, eine methodische Überprüfung derselben Erfahrung, die mit unseren ersten Wahrnehmungen beginnt. Es ist eine Gesamtheit der Mittel, wahrnehmen, vorstellen und letztlich leben
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zu können, die alle auf dieselbe Wahrheit gerichtet sind, deren Erfordernis uns seit dem Moment unserer ersten Erfahrungen begleitet. Es kann vorkommen, daß die Wissenschaft ihre Genauigkeit um den Preis einer Schematisierung erkauft. Aber das Heilmittel besteht dann darin, sie mit einer integralen Erfahrung zu konfrontieren, und nicht etwa darin, ihr ein philosophisches Wissen von unbestimmter Herkunft gegenüberzustellen. Es ist das außerordentliche Verdienst Husserls, in seiner zur Reife gelangten Philosophie, und immer deutlicher, je länger er sein Bemühen fortsetzte, mit der ›Wesensschau‹, den ›gestalthaften Wesenheiten‹ und der ›phänomenologischen Erfahrung‹ einen Bereich und eine Forschungshaltung umschrieben zu haben, in der sich die Philosophie und das tatsächliche Wissen begegnen konnten. Man weiß, daß er anfangs die strenge Unterscheidung zwischen beiden bekräftigt hat – und auch stets aufrechterhalten hat. Dennoch scheint uns seine Idee eines psycho-phänomenologischen Parallelismus – sagen wir etwas allgemeiner: seine These von einem Parallelismus zwischen positivem Wissen und Philosophie, der bewirkt, daß jede Bestätigung der einen Seite mit einer Bestätigung der anderen einhergeht – in Wahrheit zur Idee eines wechselseitigen Einschließens zu führen. Was das Soziale angeht, so geht es alles in allem um die Frage, wie es zugleich eine vorurteilslos zu erkennende ›Sache‹ und eine ›Bedeutung‹ sein kann, der die Gesellschaften, die wir zur Kenntnis nehmen, nur eine Gelegenheit bieten, zu erscheinen, und wie das Soziale an sich und in uns sein kann. Folgen wir, da wir in dieses Labyrinth eingetreten sind, den Etappen, die Husserl auf seinem Weg zu den letzten Vorstellungen zurücklegt, in denen diese Wegstrecken im übrigen letztlich ebenso bewahrt wie überschritten werden. Am Ausgangspunkt erhebt er dergestalt mit Begriffen Anspruch auf die Rechte der Philosophie, daß die Begriffe des tatsächlichen Wissens abgeschafft scheinen. Wenn er von jenem herausragenden sozialen Bezug spricht, der die Sprache ist, dann geht er grundsätzlich davon aus,1 daß wir das Funktionieren un1
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serer eigenen Sprache nur dann verstehen können und uns von den Pseudo-Evidenzen, die darin bestehen, daß wir an ihr als unserer Sprache festhalten, lösen und zur wahren Erkenntnis der anderen Sprachen vordringen, wenn wir zunächst ein Bild der ›idealen Form‹ der Sprache und der Ausdrucksweisen entworfen haben, die unbedingt zu ihr gehören, wenn sie Sprache sein will: Nur unter diesen Umständen werden wir verstehen können, wie Deutsch, Latein oder Chinesisch, jedes auf seine Weise, an dieser universalen Eidetik teilhaben, und wir werden jede dieser Sprachen als eine den ursprünglichen Proportionen entsprechende Mischung der universalen ›Bedeutungsformen‹, als eine ›verworrene‹ und unvollständige Realisierung der ›allgemeinen und vernünftigen Grammatik‹ bestimmen können. Es galt also, die faktische Sprache durch eine synthetische Operation zu rekonstruieren, ausgehend von den wesentlichen Strukturen jeder möglichen Sprache, die sie in ihrer reinen Klarheit umgaben. Das philosophische Denken erschien als absolut autonom, als fähig, und zwar allein fähig, die wahre Kenntnis durch den Rückgriff auf solche Wesenheiten zu erlangen, die den Schlüssel zu den Dingen lieferten. Im allgemeinen wird unter diesen Umständen die ganze geschichtliche Erfahrung des sozialen Bezugs zugunsten der Wesensschau angezweifelt. Sie zeigt uns zwar ›soziale Prozesse‹, ›kulturelle Gebilde‹, Formen des Rechts, der Kunst, der Religion, aber solange wir mit diesen empirischen Realisierungen in Berührung bleiben, wissen wir nicht einmal, was jene Rubriken bedeuten, unter denen wir sie einordnen, und wir wissen sogar noch viel weniger, wenn es denn so ist, daß das geschichtliche Werden mancher Religion, mancher Rechts- oder Kunstform wirklich mit ihrer Wesenheit zusammenhängt und über ihren Wert entscheidet, oder wenn umgekehrt dieses Recht, diese Kunst oder diese Religion noch andere Möglichkeiten einschließen. Die Geschichte, sagte Husserl in diesem Zusammenhang, kann nicht über eine Idee urteilen, und wenn sie es doch tut, dann entleiht diese wertende Geschichte der ›idealen Sphäre‹ heimlich jene notwendigen Verbindungen, die sie angeblich aus den Fakten
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ableitet.2 Was die ›Weltanschauungen‹ angeht, die sich damit abfinden, unter Berücksichtigung der Errungenschaften des faktischen Wissens nur die in jedem Augenblick gezogene Bilanz dessen zu sein, was zu denken erlaubt ist, so räumt Husserl sehr wohl ein, daß sie ein wirkliches Problem darstellen, es aber in Begriffe von der Art kleiden, daß sie eine ernsthafte Lösung des Problems vereiteln. Das wahre Problem liegt darin, daß die Philosophie ihren Sinn verlieren würde, wenn sie auf ein Urteil über die Gegenwart verzichtete. Genau wie eine Sittlichkeit, die als »Idee von einem prinzipiell transfiniten Unendlichen« keine Sittlichkeit mehr wäre, so wäre auch eine Philosophie, die prinzipiell auf jede Stellungnahme in der Gegenwart verzichtete, keine Philosophie mehr.3 Tatsächlich ist es allerdings so, daß die Philosophen der Weltanschauung mit ihrem Willen, den aktuellen Problemen entgegenzutreten, »ihr System haben wollen, und zeitig genug, um auch danach leben zu können«,4 alles verfehlen: Sie können in die Lösung dieser Probleme nicht mehr Strenge einbringen als die anderen Menschen, denn sie sind, wie sie, in der Weltanschauung und verfügen über keine Weltwissenschaft und während sie ihre Energie dafür verwenden, die Gegenwart zu denken, entziehen sie der wahren Philosophie die unbedingte Hingabe, die sie erfordert. Sie würde folglich, wenn sie erst einmal konstituiert ist, ein Denken der Gegenwart ebenso wie der Vergangenheit und der Ewigkeit erlauben. Auf die Gegenwart zuzugreifen bedeutet also, das Solide für das Trügerische fallenzulassen … Als Husserl im zweiten Abschnitt seiner Karriere auf die Probleme der Geschichte, und zunächst auf die Probleme der Sprache zurückkommt, stoßen wir nicht mehr auf die Idee eines Philosophensubjekts, das Herr über alle Formen des Möglichen wäre und zunächst seine Sprache von sich selbst entfernen müßte, um jenseits aller Aktualität die idealen Formen einer 2 3 4
Die Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 325. Ebd., S. 332. Ebd., S. 338.
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universalen Sprache wiederzufinden. Angesichts der Sprache scheint nun die erste Aufgabe der Philosophie zu sein, unsere Inhärenz mit einem bestimmten System der gesprochenen Sprache wieder vor uns aufzudecken, das wir genau deswegen mit voller Wirksamkeit einsetzen, weil es uns ebenso unmittelbar präsent ist wie unser Leib. Die Philosophie der Sprache steht der empirischen Sprachwissenschaft nicht länger so gegenüber wie ein vollständiger Objektivierungsversuch der Sprache einem stets von den Vorurteilen der Ausgangssprache bedrohten Wissen entgegengesetzt ist, sie ist vielmehr, ganz im Gegenteil, die Wiederentdeckung des sprechenden Subjekts bei seinem Einsatz, die im Gegensatz steht zu einer Sprachwissenschaft, welche die Sprache unvermeidlich wie eine Sache behandelt. Pos5 hat sehr gut gezeigt, in welchem Sinne die phänomenologische Haltung, im Gegensatz zur wissenschaftlichen oder beobachtenden Haltung, die auf die bereits gebildete Sprache gerichtet ist, welche sie als etwas Vergangenes sieht und in eine Summe sprachlicher Fakten zerlegt, hinter der ihre Einheit verschwindet, nun diejenige ist, die den direkten Zugang zur lebendigen und gegenwärtigen Sprache in einer Sprachgemeinschaft erlaubt, die sich ihrer nicht nur bedient, um zu bewahren, sondern auch, um zu begründen, um eine Zukunft anzustreben und zu bestimmen. In diesem Fall wird die Sprache also nicht mehr in Elemente zerlegt, die sich nach und nach summierten, sie gleicht vielmehr einem Organ, dessen Teile zu seinem einzigartigen Funktionieren beitragen, so verschieden sie auch in ihrer Herkunft sein mögen, und so zufällig ihre ursprüngliche Einfügung in das Ganze sein mag … Wenn nun das Eigentliche der Phänomenologie tatsächlich darin liegt, sich der Sprache auf diese Weise zu nähern, dann bedeutet dies, daß sie nicht länger eine synthetische Bestimmung aller Formen des Möglichen ist; die Reflexion ist nicht mehr die Rückkehr zu einem vorempirischen Subjekt, das die Schlüssel zur Welt besitzt; sie ist nicht mehr im Besitz der konstitutiven Elemente des ak5 H. Pos: »Phénoménologie et Linguistique«, Revue Internationale de Philosophie, Januar 1939.
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tuellen Objekts, und sie umkreist es nicht länger. Sie muß sich seiner vielmehr durch einen Kontakt oder eine Vertrautheit bewußt werden, die ihr Verständnisvermögen zunächst übersteigen. Der Philosoph ist erst einmal derjenige, der bemerkt, daß er in der Sprache situiert ist, daß er spricht; und die phänomenologische Reflexion wird sich nicht mehr darauf beschränken, in aller Deutlichkeit die ›notwendigen Bedingungen‹ aufzuzählen, ohne die es keine Sprache geben würde; sie muß das aufdecken, was bewirkt, daß es eine gesprochene Sprache gibt, das Paradox eines zugleich sprechenden und verstehenden Subjekts, das der Zukunft zugewandt ist, trotz allem, was wir über die Zufälle und die Sinnverschiebungen wissen, die zur Sprache geführt haben. Es gibt also in der Aktualität des Gesprochenen eine Einsicht, die sich in keinem einfach nur ›möglichen‹ Ausdruck findet, es gibt in unserem sprachlichen ›Präsenzfeld‹ eine Operation, die uns als Modell dient, um uns andere Systeme möglicher Ausdrücke vorzustellen, ohne daß diese Operation ein ganz besonderer Fall jener Ausdrücke wäre. Die Reflexion ist nicht mehr der Übergang zu einer anderen Ordnung, welche die Ordnung der aktuellen Dinge aufsaugte, sie ist vielmehr zunächst ein schärferes Bewußtsein unserer Verwurzelung in ihnen. Der Durchgang durch das Aktuelle ist von nun an die absolute Bedingung einer gültigen Philosophie. Offen gestanden muß man nicht erst die Anerkennung der Lebenswelt als erstes phänomenologisches Thema abwarten, um bei Husserl die Ablehnung einer formalen Reflexion zu verzeichnen. Der Leser der Ideen I wird bereits bemerkt haben, daß die eidetische Intuition immer schon eine ›Feststellung‹ war und die Phänomenologie eine ›Erfahrung‹ (Eine Phänomenologie der Anschauung, sagte Husserl, muß auf der Basis einer Sichtigkeit konstruiert werden, die wir erst einmal tatsächlich erproben, und er lehnte die Möglichkeit einer ›Mathematik der Phänomene‹, einer ›Geometrie des Erlebens‹ im allgemeinen ab.). Die aufsteigende Bewegung wurde dabei einfach nicht hervorgehoben. Das Denken stützte sich kaum auf seine tatsächlichen Strukturen, um seine möglichen Strukturen daraus
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abzuleiten: Eine vollkommen imaginäre Variation zog aus der kleinsten Erfahrung einen Reichtum an eidetischen Affirmationen. Wenn die Anerkennung der Lebenswelt, und damit auch der erlebten Rede, wie in den letzten Schriften, charakteristisch wird für die Phänomenologie, dann ist dies nur eine resolutere Art und Weise, zum Ausdruck zu bringen, daß die Philosophie nicht ohne weiteres im Besitz der Wahrheit der Sprache und der Welt ist, sondern daß sie eher die Wiedererlangung und die erste Formulierung eines in unserer Welt und in unserem Leben verstreuten Logos ist, der an ihre konkreten Strukturen gebunden ist – dieser ›Logos der ästhetischen Welt‹, von dem schon die Formale und transzendentale Logik gesprochen hat. Husserl wird nur die Bewegung seines ganzen früheren Denkens vollenden, wenn er in einem posthum veröffentlichten Fragment schreiben wird, die sprachliche Inkarnation überführe das vorübergehende innere Phänomen in eine ideale Existenz.6 Die ideale Existenz, welche die Möglichkeit der Sprache an ihrem Ausgangspunkt begründen sollte, ist nun ihre ureigenste Möglichkeit … Wenn dann aber die Philosophie kein Übergang mehr zur Unendlichkeit des Möglichen ist, kein Sprung mehr in die absolute Objektivität, wenn sie zunächst einmal eine Berührung mit dem Aktuellen darstellt, so versteht man, daß bestimmte sprachwissenschaftliche Forschungen Husserls Forschungen vorwegnehmen und daß manche Linguisten, ohne es zu wissen, ihren Fuß bereits auf das Feld der Phänomenologie gesetzt haben. Weder Husserl noch Pos erwähnen ihn, aber es fällt schwer, nicht an Saussure zu denken, wenn er verlangt, man müsse von der Objekt-Sprache wieder zur gesprochenen Sprache zurückkehren. In Wirklichkeit verändert sich die ganze Beziehung der Philosophie zur Geschichte gerade in der Bewegung der Reflexion, welche die Philosophie von der Geschichte zu befreien suchte. Je länger er über die Beziehung der ewigen Wahrheiten zu den faktischen Wahrheiten nachdenkt, desto mehr ist Husserl ge6 »Ursprung der Geometrie«, in: Revue Internationale de Philosophie, Januar 1939, S. 210.
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zwungen, seine anfänglichen Abgrenzungen durch eine weitaus weniger einfache Beziehung zu ersetzen. Seine über mindestens zwanzig Jahre hinweg fortgeführten Meditationen über die transzendentale Reflexion und über ihre Möglichkeit zeigen in hinreichendem Maße, daß dieses Wort in seinen Augen keine Bezeichnung einer eindeutigen Fähigkeit darstellte, sondern daß es vielmehr möglich gewesen sei, etwas zu umschreiben, mit dem Finger auf etwas zu zeigen und es tatsächlich, neben den anderen Modalitäten der Erfahrung, für sich zu betrachten. Trotz aller einschlägigen Formeln, die stets nur wieder die radikale Unterscheidung von natürlicher und transzendentaler Einstellung bekräftigen, weiß Husserl doch von Anfang an, daß sie tatsächlich ineinander übergehen und daß jede Tatsache des Bewußtseins das Transzendentale in sich trägt. Was jedenfalls die Beziehung der Tatsache zur Wesenheit angeht, so sah ein so alter Text wie Die Philosophie als strenge Wissenschaft, nachdem er, wie wir in Erinnerung gerufen haben, die ›ideale Sphäre‹ und die geschichtlichen Fakten klar voneinander unterschieden hatte, ausdrücklich das Überschneiden der beiden Ordnungen vor, als er festhielt, falls die geschichtliche Kritik wirklich zeige, daß eine solche Ordnung der Institutionen ohne substantielle Realität sei und letztlich nichts weiter als ein Überbegriff, um eine Masse an Tatsachen ohne internen Bezug zu bezeichnen, sei dies darauf zurückzuführen, daß die empirische Geschichte die Intuitionen einer verworrenen Wesenheit einschließe und die Kritik stets die Kehrseite oder das Auftreten einer schon vorhandenen positiven Bestätigung sei … Im selben Artikel räumte Husserl bereits ein, daß die Geschichte für den Philosophen wertvoll sei, weil sie ihm den Gemeingeist offenbare. Es ist nicht allzu schwierig, den Bogen von diesen ersten zu den ganz späten Formulierungen zu schlagen. Zu behaupten, die Geschichte lehre den Philosophen, was der Gemeingeist sei, heißt behaupten, sie gebe ihm das Beziehungsgeflecht der Subjekte zu denken. Sie versetzt ihn in die Notwendigkeit, zu verstehen inwiefern es nicht nur Geister gibt, die jeder für sich ihre eigene Sicht der Welt haben, die der Philosoph der Reihe nach prüfen kann, ohne daß es ihm erlaubt
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oder noch weniger vorgeschrieben wäre, sie zusammen zu denken, sondern eine Gemeinschaft der Geister, die füreinander und miteinander existieren und aufgrund dieser Tatsache jeder für sich wieder mit einem Äußeren versehen sind, durch das sie sichtbar werden. Und zwar so, daß der Philosoph nicht mehr vom Geist im Allgemeinen reden und alle unter einem einzigen Namen abhandeln kann, daß er sich nicht einmal einbilden kann, sie zu konstituieren, sondern sich vielmehr selbst im Dialog der Geister sehen muß, situiert wie alle anderen, und ihnen im selben Augenblick, in dem er sie für sich beansprucht, die Würde von Konstituierenden zugestehen muß. Man ist ganz nahe an der rätselhaften Formel, zu der Husserl in den Texten der Krisis der europäischen Wissenschaften gelangen wird, wenn er schreibt, daß »die transzendentale Subjektivität Intersubjektivität« sei. Wie aber kann man vermeiden, daß die Grenzen des Transzendentalen und des Empirischen verschwimmen, wenn das Transzendentale Intersubjektivität ist? Denn mit dem Anderen ist es alles, was der Andere von mir sieht, ist es meine ganze Faktizität, die sich der Subjektivität wieder eingegliedert, oder zumindest wie ein unentbehrliches Element seiner Definition gesetzt findet. Auf diese Weise steigt das Transzendentale in die Geschichte hinab, oder – wenn man so will – das Geschichtliche ist keine äußere Beziehung zweier oder mehrerer absolut autonomer Subjekte mehr, es hat vielmehr ein Innenleben, es schließt sich der den Subjekten eigenen Definition an, und die Subjekte wissen nicht mehr nur jedes für sich, sondern auch eins für das andere, daß sie Subjekte sind. In den unveröffentlichten Schriften der letzten Schaffensperiode wird dieser Gegensatz von Tatsache und Wesenheit ausdrücklich durch jene Idee vermittelt, daß die absolut reine Reflexion, die ihre Gegenstände enthält, eine Sinngenesis entdecke, die Forderung nach einer Entwicklung, einem ›Vorher‹ und einem ›Nachher‹ in der Darlegung, einer Serie von Schritten oder Maßnahmen, die einander wieder aufgreifen und von denen die eine nicht ›gleichzeitig‹ zur anderen sein könnte und sie vielmehr als einen Horizont der Vergangenheit annimmt. Selbstverständ-
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lich ist diese intentionale Geschichte nicht die einfache Summe der für sich genommenen Darlegungen: Sie greift sie wieder auf und ordnet sie, in der Aktualität einer Gegenwart belebt und berichtigt sie eine Genese, die ohne sie fehlschlagen könnte. Aber sie kann dies nur in unmittelbarer Berührung mit dem Gegebenen tun, indem sie in ihm ihre Motive sucht. Die Studie der Bedeutungen und die Studie der Fakten greifen nicht mehr allein durch einen unglücklichen Zufall ineinander: Eine Bedeutung wäre leer, wenn sie nicht ein bestimmtes Werden der Wahrheit verdichtete. Man muß hoffen, daß wir bald, in den gesammelten Werken Husserls,7 den Brief lesen können, den er am 11. März 1935 an Lévy-Bruhl schrieb, nachdem er La mythologie primitive gelesen hatte. Er scheint hier zuzugeben, daß der Philosoph keinen unmittelbaren Zugang zu einem Universellen der einfachen Reflexion finden kann, daß er nicht in der Lage ist, auf die anthropologische Erfahrung zu verzichten, ebensowenig wie er durch eine einfach imaginäre Variation seiner eigenen Erfahrungen das konstruieren kann, was den Sinn der anderen Erfahrungen und der anderen Zivilisationen ausmacht. »Es ist eine mögliche und höchst wichtige Aufgabe«, schreibt er, »es ist eine große Aufgabe, uns in eine in lebendiger generativer Sozialität abgeschlossen lebende Menschheit einzufühlen und sie zu verstehen als in ihrem sozial vereinheitlichten Leben und aus ihm die Welt habend, die für sie nicht ›Weltvorstellung‹, sondern die für sie wirklich seiende Welt ist.« Folglich wird uns der Zugang zu den archaischen Welten durch unsere eigene Welt versperrt: Die Primitiven bei Lévy-Bruhl sind »geschichtslos«, es handelt sich bei
7 Die Gesamtausgabe wird gerade unter der Leitung von H. L. Van Breda bei Martinus Nijhof in Den Haag veröffentlicht. Wir haben für das Zitat der wenigen unveröffentlichten Sätze, die man im folgenden lesen wird, keinerlei Auflagen seitens der Herausgeber erhalten. Daher bitten wir den Leser, hierin nur einen Vorgeschmack der Texte zu suchen, deren einzig autorisierte Herausgabe vom Leuvener Husserl-Archiv vorbereitet wird.
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ihnen um »ein Leben, das nur strömende Gegenwart ist«. Im Gegensatz dazu leben wir in einer geschichtlichen Welt, daß heißt in einer Welt, die »teils verwirklichte Zukunft hat (nationale ›Vergangenheit‹), teils erst zu verwirklichende Zukunft«. Die intentionale Analyse, welche die Strukturen der archaischen Welt wiederfinden und wiederherstellen wird, kann sich nicht darauf beschränken, die Strukturen unserer Welt zu erklären: Denn was diesen Strukturen Sinn verleiht, ist allein die Umwelt, deren typischer Stil sie sind, und man kann sie folglich nur dann verstehen, wenn man zumindest versteht, wie die Zeit strömt und wie das Sein sich in den Kulturen konstituiert. Husserl geht so weit, zu schreiben, daß »auf diesem Wege einer schon weit durchgearbeiteten Intentionalanalytik der historische Relativismus sein zweifelloses Recht behält – als anthropologische Tatsache […]« Was macht er also mit der Philosophie, um zu einem Ende zu kommen? Die letzten Zeilen des Briefes deuten es an: Die Philosophie muß sämtliche Errungenschaften der Wissenschaft, die das erste Wort der Erkenntnis sind, übernehmen, und mit ihnen folglich auch den geschichtlichen Relativismus. Als Philosophie aber begnügt sie sich nicht damit, die Verschiedenartigkeit der anthropologischen Fakten zu registrieren: »Die Anthropologie ist jedoch, wie alle positive Wissenschaft und auch deren Universitas, zwar das erste, aber nicht das letzte Wort der Erkenntnis.« Es würde nach dem positiven Wissen, nicht vorher, eine Autonomie der Philosophie geben. Sie würde den Philosophen nicht davon befreien, alles zusammenzutragen, was die Anthropologie uns geben kann, daß heißt im Grunde unsere tatsächliche Kommunikation mit den anderen Kulturen auf die Probe zu stellen; sie könnte der Kompetenz des Gelehrten nichts entziehen, das seinen Verfahren der Forschung zugänglich wäre. Sie würde sich einfach in einer Dimension einrichten, in der sie kein wissenschaftliches Wissen anfechten kann. Versuchen wir zu sagen, in welcher. Wenn der Philosoph nicht mehr das unbedingte Vermögen für sich in Anspruch nimmt, ganz und gar sein eigenes Denken zu denken – wenn er zugesteht, daß seine ›Ideen‹, seine ›Evidenzen‹
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in gewisser Hinsicht immer naiv sind und daß es, betrachtet man sie im Geflecht der Kultur, der er selbst angehört, nicht genügt, sie, um sie in Wahrheit zu erkennen, eingehend zu untersuchen und sie im Denken variieren zu lassen, sondern daß man sie mit anderen kulturellen Gebilden konfrontieren und sie vor dem Hintergrund anderer Vorurteile sehen muß – hat er dann nicht von diesem Moment an abgedankt und seine Rechte wieder an die positiven Disziplinen und die empirische Forschung abgetreten? Genau das macht er nicht. Dieselben geschichtlichen Abhängigkeiten, die dem Philosophen verbieten, sich einen unmittelbaren Zugang zum Allgemeinen oder zum Ewigen anzumaßen, verbieten dem Soziologen, sich in dieser Funktion an seine Stelle zu setzen und der wissenschaftlichen Objektivierung des Sozialen den Wert einer Ontologie zuzuschreiben. Der tiefste Sinn des Begriffs von Geschichte liegt nicht darin, das denkende Subjekt in einem Punkt der Zeit und des Raums einzuschließen: Es kann auf diese Weise nur im Blickwinkel eines Denkens erscheinen, das seinerseits in der Lage ist, jede Lokalität und jede Temporalität zu verlassen, um es an seinem Ort und in seiner Zeit zu sehen. Dies aber ist genau das Vorurteil eines absoluten Denkens, das der geschichtliche Sinn diskreditiert. Es geht nicht darum, der Wissenschaft, wie es der Historizismus betreibt, jene höchste Autorität zu übertragen, die man der systematischen Philosophie versagt. Ihr glaubt, für immer und für jeden zu denken, sagt der Soziologe zum Philosophen, und gerade darin bringt ihr doch nur die Vorurteile und Anmaßungen eurer Kultur zum Ausdruck. Das stimmt, aber dies gilt ebenso für den dogmatischen Soziologen wie für den Philosophen. Er selbst, der so spricht, von welchem Standpunkt aus spricht er? Diese Idee einer geschichtlichen Zeit, welche die Philosophen so enthielte wie eine Schachtel einen Gegenstand enthält, kann von dem Soziologen nur gebildet werden, indem er sich seinerseits außerhalb der Geschichte stellt und das Privileg des absoluten Beobachters für sich beansprucht. In Wirklichkeit ist es die Vorstellung der Beziehungen des Geistes und seines Gegenstandes selbst, zu deren Neubearbeitung uns das geschichtliche Bewußtsein einlädt. Es ist genau so, daß
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die Inhärenz meines Denkens angesichts einer bestimmten, ihm eigenen geschichtlichen Situation und, über diese hinweg, auch angesichts anderer geschichtlicher Situationen, die es interessieren – da mein Denken in Bezug auf die objektiven Beziehungen, mit denen uns die Wissenschaft unterhält, originär ist – aus dem Bewußtsein des Sozialen eine Erkenntnis meiner selbst werden läßt, daß sie eine Sicht der Intersubjektivität als meiner eigenen auf den Plan ruft und autorisiert, welche die Wissenschaft vergißt, obwohl sie sie anwendet, die aber gerade das der Philosophie Eigene ist. Wenn die Geschichte uns alle umgibt, dann ist es an uns, zu verstehen, daß unser Anteil an der Wahrheit nicht gegen die geschichtliche Inhärenz, sondern vielmehr durch sie zu erreichen ist. Oberflächlich gedacht, zerstört sie jede Wahrheit; radikal gedacht, gründet sie eine neue Idee der Wahrheit. Solange ich für mich das Ideal eines absoluten Beobachters, einer Erkenntnis ohne Standpunkt bewahre, kann ich in meiner Situation nur das Prinzip eines Irrtums sehen. Wenn ich aber einmal erkannt habe, daß ich durch sie mit jeder Handlung und jeder Erkenntnis, die für mich einen Sinn haben kann, verbunden bin und daß sie nach und nach alles enthält, was für mich sein kann, dann erweist sich meine Berührung mit dem Sozialen in der Endlichkeit meiner Situation mir gegenüber als Ausgangspunkt jeder Wahrheit, einschließlich der wissenschaftlichen Wahrheit, und da wir eine Idee der Wahrheit haben, da wir in der Wahrheit sind und nicht aus ihr heraustreten können, brauche ich nur noch eine Wahrheit in der Situation zu bestimmen. Das Wissen wird sich auf jene unwiderlegbare Tatsache gründen, daß wir nicht in der gleichen Situation sind wie ein Objekt im objektiven Raum und daß diese Situation für uns ein Prinzip der Neugier, der Nachforschung und des Interesses zunächst für die anderen Situationen ist, als Varianten der unsrigen, dann für unser eigenes Leben, das von den anderen erhellt wird und diesmal als Variante der anderen angesehen wird, und schließlich ist diese Situation das, was uns mit der Totalität der menschlichen Erfahrung verbindet, ebenso wie das, was uns von ihr trennt. Man wird den Versuch, ideale Variablen zu konstruieren, die das Funktionieren dieser
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tatsächlichen Kommunikation objektivieren und schematisieren, als Wissenschaft und als Soziologie bezeichnen. Als Philosophie wird man hingegen das Bewußtsein bezeichnen, daß wir die offene und sukzessive Gemeinschaft der lebenden, sprechenden und denkenden Alter egos bewahren müssen, die Gemeinschaft des einen in Gegenwart des Anderen und die Gemeinschaft aller in Bezug zur Natur, so wie wir sie hinter uns, um uns und vor uns erahnen, an den Grenzen unseres geschichtlichen Feldes wie auch der letzten Realität, deren Funktionieren unsere theoretischen Konstruktionen nachzeichnen und die sie nicht ersetzen könnten. Die Philosophie definiert sich also nicht über einen bestimmten Bereich, der ihr zu eigen wäre: Sie spricht, wie die Soziologie auch, nur von der Welt, den Menschen und dem Geist. Sie unterscheidet sich aber durch einen bestimmten Modus des Bewußtseins, das wir von den Anderen, von der Natur oder von uns selbst haben: Es ist die Gegenwärtigkeit der Natur und des Menschen, die nicht ›abgeflacht‹ (Hegel) sind in einer sekundären Objektivität, sondern so, wie sie sich in unserem aktuellen Umgang des Bewußtseins und des Handelns mit ihnen darbieten, es ist die Natur in uns, es sind die Anderen in uns und wir in ihnen. Daher muß man nicht nur sagen, daß die Philosophie mit der Soziologie vereinbar ist, man muß sogar sagen, daß diese für jene als eine beständige Erinnerung an ihre Aufgaben notwendig ist und daß der Soziologe jedesmal, wenn er zu den lebendigen Quellen seines Wissens zurückkehrt, zu dem, was in ihm wie ein Mittel wirkt, die noch so weit von ihm entfernten kulturellen Gebilde zu verstehen, unwillkürlich Philosophie betreibt … Die Philosophie ist kein bestimmtes Wissen, sie ist die Wachsamkeit, die uns die Quelle allen Wissens nicht vergessen läßt. Wir behaupten nicht, Husserl habe jemals irgendeiner Definition dieser Art zugestimmt, da er die Rückkehr zur lebendigen Sprache und Geschichte, die Rückkehr zur Lebenswelt bis zum Ende stets als eine vorbereitende Maßnahme betrachtet hat, auf welche die eigentliche philosophische Aufgabe der universalen Konstitution folgen müsse. Dennoch ist es eine Tatsache, daß die Rationalität in seinem letzten veröffentlichten Werk nur noch
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eine der beiden Formen des Möglichen ist, vor denen wir uns befinden, wobei das andere Mögliche das Chaos ist. Und gerade im Bewußtsein einer Art von anonymer Widersetzlichkeit, welche die Rationalität bedroht, sucht Husserl nach dem, was die Erkenntnis und das Handeln stimulieren könnte. Die Vernunft als Aufruf und Aufgabe, die ›latente Vernunft‹, die es in sie selbst zu transformieren und zu sich selbst zu bringen gilt, wird das Kriterium der Philosophie. »Damit allein entscheidet sich, ob das dem europäischen Menschentum mit der Geburt der griechischen Philosophie eingeborene Telos, ein Menschentum aus philosophischer Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein zu können – in der unendlichen Bewegung von latenter zu offenbarer Vernunft und im unendlichen Bestreben der Selbstnormierung durch diese seine menschliche Wahrheit und Echtheit, ein bloßer historisch-faktischer Wahn ist, ein zufälliger Erwerb einer zufälligen Menschheit, inmitten ganz anderer Menschheiten und Geschichtlichkeiten; oder ob nicht vielmehr im griechischen Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekommen ist, was als Entelechie im Menschentum als solchen wesensmäßig beschlossen ist. Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein in generativ und sozial verbundenen Menschheiten, und ist der Mensch Vernunftwesen (animal rationale), so ist er es nur, sofern seine ganze Menschheit Vernunftmenschheit ist – latent auf Vernunft ausgerichtet oder offen ausgerichtet auf die zu sich selbst gekommene, für sich selbst offenbar gewordene und nunmehr in Wesensnotwendigkeit das menschheitliche Werden bewußt leitende Entelechie. Philosophie, Wissenschaft wäre demnach die historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchen ›eingeborenen‹ Vernunft.«8 Auf diese Weise ist das Wesen des Menschen nicht gegeben, ebensowenig wie die unbedingte Wesensnotwendigkeit: Sie wird nur dann eine Rolle spielen, wenn die Rationalität, deren Idee uns Griechenland hinterlassen hat, sich durch die Erkenntnis und das Handeln, das 8 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, I, Philosophia, Belgrad, 1936, S. 92.
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sie ermöglicht, als wesentlich erweist, statt immer nur Zufall zu bleiben, und wenn sie von den irrationalen Menschheiten anerkannt wird. Die Husserlsche Wesenheit wird nun durch eine ›Entelechie‹ übertragen. Die Rolle der Philosophie als Bewußtsein der Rationalität in der Kontingenz ist unter dem Strich kein unbedeutender Rest. Allein das philosophische Bewußtsein der Intersubjektivität erlaubt uns in letzter Analyse, das wissenschaftliche Wissen zu verstehen. Ohne dieses Bewußtsein bleibt es auf unbestimmte Weise aufgeschoben, immer bis zu jenem Grenzpunkt der Kausalitätsdiskussionen verschoben, die ihrer Natur nach, wenn sie sich auf den Menschen beziehen, endlos sind. Man fragt sich beispielsweise, ob die sozialen Beziehungen nicht nur, wie es eine psychoanalytische Soziologie gern hätte, die Erweiterung und die Verallgemeinerung des sexuell-aggressiven Dramas sind, oder ob nicht vielmehr dieses Drama selbst in der Form, in der es von der Psychoanalyse beschrieben wird, nur ein besonderer Fall der institutionellen Beziehungen in den abendländischen Gesellschaften ist. Diese Diskussionen verfolgen das Ziel, die Soziologen zur Beobachtung aufzufordern, Fakten aufzudecken, Analysen und Intuitionen entstehen zu lassen. Aber sie enthalten keine Schlußfolgerung, solange man auf dem Gebiet des kausalen und ›objektiven‹ Denkens bleibt, da man ebensowenig eine der kausalen Ketten auf nichts reduzieren kann noch alle zusammen als kausale Kette denken kann. Man kann diese Ansichten nur unter der Bedingung alle zusammen für so wahr halten, wie sie es sind, daß man zu einem Modus akausalen Denkens übergeht, der Philosophie ist: Man muß zugleich verstehen, daß sich das individuelle Drama zwischen Rollen abspielt, die bereits in der institutionellen Gesamtheit festgeschrieben sind, und daß das Kind folglich, von Beginn seines Lebens an, durch die einfache Wahrnehmung der Zuwendung, die man ihm zukommen läßt, und der Utensilien, die es umgeben, eine Entschlüsselung der Bedeutungen vornimmt, die sein eigenes Drama ohne weiteres zum Drama seiner ganzen Kultur verallgemeinert – und daß dennoch das ganze symbolische Bewußtsein letzten Endes das
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ausarbeitet, was das Kind erlebt oder nicht erlebt, erleidet oder nicht erleidet, fühlt oder nicht fühlt, so daß es kein Detail seiner ganz individuellen Geschichte gibt, das nicht etwas zu dieser ihm eigenen Bedeutung beiträgt, die es an den Tag legen wird, wenn es, nachdem es zunächst so gedacht und gelebt hatte wie es ihm gut schien, und nachdem es dem Imaginären seiner Kultur gemäß wahrgenommen hatte, schließlich dorthin gelangt, diese Beziehung umzukehren und in die Bedeutungen seiner Worte und seines Verhaltens hineinzuschlüpfen, sie bis in die verborgensten Einzelheiten seiner Erfahrung hinein in Kultur zu verwandeln. Daß diese zentripetale und diese zentrifugale Bewegung beide zugleich möglich sind, ist unter dem Gesichtspunkt der Kausalität nicht denkbar. Nur in der philosophischen Haltung werden diese Umkehrungen und diese ›Metamorphosen‹ begreiflich und sogar sichtbar, diese Nähe und diese Distanz der Vergangenheit und der Gegenwart, des Archaischen und des ›Modernen‹, dieses jeweilige Zusammenrollen der kulturellen Zeit und des kulturellen Raums in sich selbst, diese ständige Überdeterminierung der menschlichen Ereignisse, die bewirkt, daß, wie einzigartig auch die lokalen und zeitlichen Bedingungen sein mögen, die soziale Gegebenheit uns immer als Variante eines einzigen Lebens erscheint, zu dem auch das unsrige gehört, und daß alles Andere für uns ein anderes Wir-selbst ist. Die Philosophie ist wohl immer ein Bruch mit dem Objektivismus, eine Rückkehr von den constructa zum Erlebten, von der Welt zu uns selbst. Es ist nur so, daß dieser unerläßliche Schritt, der sie charakterisiert, sie nicht mehr auf die dünn gewordene Atmosphäre der Introspektion oder auf ein zahlenmäßig von dem Bereich der Wissenschaft unterschiedenes Gebiet überträgt, er bringt sie nicht mehr in Rivalität zum Wissen, seit man anerkannt hat, daß das ›Innere‹, auf das sie uns zurückführt, kein ›Privatleben‹ ist, sondern eine Intersubjektivität, die uns nach und nach wieder mit der gesamten Geschichte verbindet. Wenn ich bemerke, daß das Soziale nicht nur ein Objekt ist, sondern zunächst einmal meine Situation, und wenn ich in mir das Bewußtsein dieses Sozial-Meinigen erwecke, dann ist es meine
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ganze Synchronie, die mir gegenwärtig wird, ist es über sie hinweg die ganze Vergangenheit, die ich wirklich als die Synchronie zu denken in der Lage bin, die sie zu ihrer Zeit gewesen ist, und ist es das ganze konvergierende und unvereinbare Handeln der geschichtlichen Gemeinschaft, das mir tatsächlich in meiner lebendigen Gegenwart gegeben ist. Der Verzicht auf den Erklärungsapparat des Systems läßt die Philosophie nicht auf den Rang eines Hilfsmittels oder einer Propagandistin des objektiven Wissens zurückfallen, da sie über eine eigene Dimension, nämlich die der Koexistenz verfügt, nicht im Sinne einer vollendeten Tatsache oder eines Gegenstandes der Kontemplation, sondern als ein ständiges Ereignis und ein Milieu der universalen Praxis. Die Philosophie ist unersetzlich, weil sie uns die Bewegung offenbart, durch die Leben zu Wahrheiten werden, und die Zirkularität dieses einzigartigen Seins, das in gewissem Sinne bereits alles ist, was es gerade denkt.
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VON M AUS S Z U C L AU DE L É V I- S T R AUS S
Was wir heute Sozialanthropologie nennen – ein Wort, das sich außerhalb Frankreichs längst eingebürgert hat und nun auch in Frankreich Verbreitung findet –, ist das, was aus der Soziologie wird, sobald sie zugibt, daß das Soziale, wie auch der Mensch selbst, zwei Pole oder zwei Gesichter hat: Es ist bedeutungshaft, man kann es von innen her verstehen, doch zugleich ist hier die persönliche Intention generalisiert, abgeschwächt, sie tendiert zum Prozeß hin, sie ist, wie das bekannte Wort sagt, vermittelt (médiatisée) durch die Dinge. Nun hat niemand in Frankreich diese geschmeidige Form der Soziologie so deutlich vorweggenommen wie Marcel Mauss. Die Sozialanthropologie ist in vielerlei Hinsicht identisch mit dem Werk von Mauss, das unter unseren Augen fortlebt. Nun, fünfundzwanzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen, wurde der berühmte Essai sur le don, forme archaïque de l’échange, für die angelsächsische Leserschaft übersetzt und eingeleitet durch ein Vorwort von Evans-Pritchard. »Kaum einer«, so schrieb Claude Lévi-Strauss, »hat Die Gabe lesen können ohne die noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis beizuwohnen«. Es lohnt sich, diesen Augenblick der Soziologie, der solche Erinnerungen hinterlassen hat, nachzuzeichnen. Die neue Wissenschaft war, nach den bekannten Worten Durkheims, entschlossen, die sozialen Tatsachen ›als Dinge‹ zu behandeln und nicht als ›Systeme objektivierter Ideen‹. Doch sobald es in die Details ging, kam sie nicht darüber hinaus, das Soziale als ›Psychisches‹ zu definieren. Es handelt sich, wie es hieß, um ›Vorstellungen‹, nur daß diese ›kollektiv‹ statt individuell sein sollten. Von daher stammt die umstrittene Idee eines ›Kollektivbewußtseins‹, das als eigenständiges Sein inmitten der Geschichte auftaucht. Die Beziehung zwischen ihm und dem In-
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dividuum blieb äußerlich wie die zwischen zwei Dingen. Was der sozialen Erklärung zugestanden wurde, wurde der psychischen oder physiologischen Erklärung genommen und umgekehrt. Was Durkheim im übrigen unter dem Titel einer sozialen Morphologie anbot, war eine ideelle Genese der Gesellschaften, gewonnen durch Kombination elementarer Gesellschaften und durch wechselseitige Zusammensetzung der einzelnen Komponenten. Das Einfache wurde verwechselt mit dem Wesentlichen und Alten. Die Idee einer ›prälogischen Mentalität‹, die LéviBruhl aufbrachte, eröffnete uns ebensowenig einen Zugang zu dem, was sich in den sogenannten archaischen Kulturen möglicherweise nicht auf unsere Kultur zurückführen läßt, denn mit einer solchen Idee wurden diese Kulturen auf eine unüberwindliche Differenz festgenagelt. Auf zweierlei Weise also verpaßte die französische Schule den Zugang zum Andern, der doch die Soziologie definiert. Wie den Andern verstehen, ohne ihn unserer Logik zu opfern oder diese ihm? Ob sie die Realität vorschnell unseren Ideen anpaßte oder sie umgekehrt für unzugänglich erklärte, stets äußerte sich die Soziologie, als könne sie ihr Objekt überfliegen, der Soziologe war ein absoluter Beobachter. Es fehlte das geduldige Eindringen in den Gegenstand, die Verständigung mit ihm. Marcel Mauss dagegen hat beides instinktiv praktiziert. Weder seine Lehrtätigkeit noch sein Werk lag im Streit mit den Prinzipien der französischen Schule. Als Neffe und Mitarbeiter Durkheims hatte er allen Grund, diesem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Erst in seiner besonderen Art, mit dem Sozialen Kontakt aufzunehmen, kam die Differenz zum Ausbruch. In der Erforschung der Magie, so stellte er fest, hinterlassen die konkomitanten Variationen und äußeren Korrelationen ein Residuum, das es zu beschreiben gilt, denn hier finden sich die tieferen Gründe für den Glauben. Es kam also darauf an, denkend in das Phänomen einzudringen, es zu lesen und zu entziffern. Diese Lektüre besteht jeweils darin, die Art des Austauschs zu erfassen, den die Institution zwischen den Menschen zustande bringt, dazu die Verknüpfungen und Äquivalenzen, die sie stiftet, die systematische Form,
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in der sie den Gebrauch von Werkzeugen, handwerklichen Produkten, Nahrungsmitteln, von magischen Formeln, Ornamenten, Gesängen, Tänzen und mythischen Elementen regelt, gerade so, wie die Sprache den Gebrauch der Phoneme, Morpheme, des Vokabulars und der Syntax regelt. Diese soziale Tatsache, die keine massive Realität mehr ist, sondern ein wirksames System von Symbolen oder ein Netz aus symbolischen Werten, findet sich eingesenkt in die tiefsten Tiefen des Individuellen. Doch die Regulierung, die das Individuum umgarnt, beseitigt es nicht. Es gibt keine Wahl mehr zwischen Individuellem und Kollektivem. »Wahr ist nicht«, so schreibt Mauss, »das Gebet oder das Recht, sondern der Melanesier dieser oder jener Insel, Rom, Athen«. Ebenso gibt es kein schlichtes Absolutes mehr noch eine pure Summierung, sondern überall finden wir Totalitäten oder gegliederte Ganzheiten von mehr oder weniger großer Reichhaltigkeit. In dem angeblichen Synkretismus der primitiven Mentalität entdeckt Mauss Oppositionen, die für ihn ebenso bedeutsam sind wie die berühmten ›Partizipationen‹. Indem er das Soziale als Symbolik begriff, schuf er sich eine Handhabe, die Realität des Individuums, die des Sozialen und die Verschiedenartigkeit der Kulturen zu respektieren, ohne eines gegen das andere abzudichten. Eine erweiterte Vernunft sollte dazu imstande sein, bis zum Irrationalen der Magie und der Gabe vorzudringen. »Es gilt vor allem, den größtmöglichen Katalog von Kategorien anzulegen, man muß von allen Kategorien ausgehen, von denen man nur wissen kann, daß die Menschen sich ihrer bedient haben, man wird dann sehen, daß es sehr wohl noch tote oder trübe oder dunkle Monde am Firmament der Vernunft gibt.« Doch begnügte Mauss sich eher mit diesem intuitiven Einblick in das Soziale, als daß er daraus eine Theorie gemacht hätte. Dies ist vielleicht der Grund dafür, daß er dort, wo er die Bilanz zieht, hinter seiner Entdeckung zurückbleibt. Das Prinzip des Tauschs sucht er im mana, so wie er das der Magie im hau gesucht hatte. Rätselhafte Begriffe, die weniger eine Theorie des Tatbestandes liefern, als vielmehr die Theorie der Eingeborenen reproduzieren. Sie bezeichnen eigentlich nur eine Art von affektivem Bin-
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demittel in der Fülle von Tatsachen, die es zu verknüpfen gälte. Doch sind diese Tatsachen von Anfang an derart unterschieden, daß man nach ihrer Vereinigung suchen müßte? Kommt nicht die Synthese zuerst? Verkörpert sich im mana für das Individuum nicht gerade die Einsicht in bestimmte Äquivalenzbeziehungen zwischen dem, was es gibt, empfängt und erwidert, die Erfahrung eines bestimmten Abstands zwischen ihm selbst und seinem institutionellen Gleichgewicht mit dem Andern, die Urtatsache eines doppelten Verhaltensbezugs auf ihn selbst und auf den Andern, die Forderung nach einer unsichtbaren Totalität, von der er selbst und der Andere in seinen eigenen Augen substituierbare Elemente sind? Der Tausch wäre mithin keine Wirkung der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst in actu. Das Numinose, das von dem mana ausstrahlt, erwüchse aus dem Wesen der Symbolik und wäre uns zugänglich auf dem Weg über die Paradoxien der Rede und der Beziehung zum Andern – ähnlich dem ›Null-Phonem‹, von dem die Linguisten sprechen und das sich, bar jeden angebbaren Eigenwerts, der bloßen Abwesenheit von Phonemen entgegensetzt, oder ähnlich dem ›flottierenden Signifikanten‹, der nichts artikuliert und doch ein mögliches Bedeutungsfeld eröffnet … Doch indem wir uns so äußern, verfolgen wir den Gedankengang von Mauss über das Gesagte und Geschriebene hinaus, betrachten ihn nachträglich unter dem Blickwinkel der Sozialanthropologie und haben damit bereits die Grenze überschritten zu einer anderen Konzeption und zu einer anderen Behandlung des Sozialen, die Claude Lévi-Strauss glanzvoll verkörpert. * Die Art und Weise, wie in einem Sektor oder im Ganzen der Gesellschaft der Austausch organisiert ist, heißt nun Struktur. Die sozialen Tatsachen sind weder Dinge noch Ideen, sondern Strukturen. Dieses Wort, das heute allzu häufig gebraucht wird, hatte am Anfang einen präzisen Sinn. Es diente den Psychologen dazu, die Konfigurationen des Wahrnehmungsfeldes zu bezeichnen, jene Ganzheiten, die durch Kraftlinien gegliedert sind und wo
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auf diese Weise jedes Phänomen seinen lokalen Wert zuerteilt bekommt. In der Linguistik ist die Struktur ebenfalls ein konkretes, inkarniertes System. Als Saussure die These aufstellte, das Sprachzeichen sei diakritisch – es sei wirksam aufgrund seiner bloßen Differenz, eines bestimmten Abstandes zwischen ihm und den anderen Zeichen, und nicht zunächst dadurch, daß es eine positive Bedeutung hervorrufe –, entwickelte er eine Anschauung von der Einheit der Sprache unterhalb der Schwelle expliziter Bedeutungen, einer Systematisierung, die sich in der Sprache abspielt, bevor ihr ideelles Prinzip erkannt ist. Für die Sozialanthropologie besteht die Gesellschaft aus Systemen solcher Art, so das System der Verwandtschaft und der Abstammung mitsamt den passenden Heiratsregeln, das System des sprachlichen Austauschs, das System des ökonomischen Austauschs, der Kunst, des Mythos und des Ritus… Die Gesellschaft ist selber nichts anderes als die Totalität dieser in Wechselwirkung begriffenen Systeme. Wenn man von Strukturen spricht, unterscheidet man sie von den ›kristallisierten Ideen‹ der älteren Sozialphilosophie. Die Subjekte, die in einer Gesellschaft leben, haben nicht zwangsläufig Kenntnis von dem Austauschprinzip, dem sie gehorchen, genauso wie das Sprachsubjekt nicht darauf angewiesen ist, die linguistische Analyse seiner Sprache zu durchlaufen, um sprechen zu können. Die Struktur wird von ihnen vielmehr als selbstverständlich praktiziert. Wenn man so will, die Struktur ›hat sie‹ eher, als daß diese sie haben. Man denke an die Sprache, sei es der lebendige Gebrauch in der Rede oder auch ihr poetischer Gebrauch, wo die Worte von sich aus zu sprechen und sich in Eigenwesen zu verwandeln scheinen … Die Struktur hat, wie Janus, zwei Gesichter: Einerseits organisiert sie die Elemente, die in sie eintreten, nach einem inneren Prinzip, sie ist Sinn. Doch dieser Sinn, den sie trägt, ist sozusagen ein schwerer Sinn (sens lourd). Wenn also der Wissenschaftler Strukturen in Begriffen formuliert und fixiert und Modelle konstruiert, mit deren Hilfe vorhandene Gesellschaften verständlich gemacht werden sollen, so handelt es sich für ihn nicht darum, das Modell an die Stelle des Realen zu setzen. Prinzipiell ist die
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Struktur keine platonische Idee. Denkt man sich unvergängliche Archetypen aus, die das Leben aller nur möglichen Gesellschaften beherrschen würden, so verfällt man auf denselben Irrtum wie die alte Linguistik, als sie in einem bestimmten Lautmaterial natürliche Affinitäten für einen bestimmten Sinn vermutete. Damit vergißt man, daß dieselben Züge der Physiognomie in verschiedenen Gesellschaften verschiedenen Sinn annehmen können je nach dem System, in dem sie vorkommen. Wenn die amerikanische Gesellschaft heutzutage in ihrer Mythologie einen Weg wiederfindet, der schon früher einmal oder anderswo beschritten wurde, so besagt dies nicht, daß ein transzendenter Archetyp sich dreimal verkörpert, in den römischen Saturnalien, in den mexikanischen Katchinas und im amerikanischen Weihnachten. Es liegt daran, daß diese mythische Struktur einen Ausweg bietet für die Lösung bestimmter lokaler und aktueller Spannungen und daß sie in der Dynamik der Gegenwart neu geschaffen wird. Die Struktur nimmt der Gesellschaft nichts von ihrer Dichte und ihrer Schwere. Sie ist selber eine Struktur von Strukturen: Wie sollte es zwischen dem in ihr praktizierten Sprachsystem, Wirtschaftssystem und Verwandtschaftssystem keine Beziehung geben? Doch diese Beziehung ist subtil und variabel: Manchmal ist es eine Homologie. In anderen Fällen – so im Falle von Mythos und Ritus – ist die eine Struktur Widerpart und Gegenspieler der andern. Die Gesellschaft als Struktur bleibt eine Realität mit verschiedenen Facetten, die verschiedene Sichtweisen zuläßt. Wie weit reichen die möglichen Vergleiche? Finden wir am Ende, wie die eigentliche Soziologie es gern sähe, universale Invarianten? Das bleibt abzuwarten. Es gibt nichts, was in dieser Hinsicht der Strukturforschung eine Grenze setzen könnte – aber auch nichts, was sie nötigen könnte, von vorneherein zu postulieren, daß es solche Invarianten gibt. Ihr Hauptinteresse hat diese Forschung darin, überall Antinomien durch komplementäre Beziehungen zu ersetzen. Sie wird demgemäß in alle Richtungen ausstrahlen, in Richtung des Universellen und in Richtung der Einzelbeschreibung, wobei sie jeweils so weit wie möglich geht, um gerade das her-
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auszufinden, was den einzelnen Ansätzen, für sich genommen, abgeht. Im Bereich der Verwandtschaftssysteme wird sich die Suche nach dem Elementaren, durch alle Verschiedenartigkeit der Sitten hindurch, auf ein Strukturschema ausrichten, als dessen Varianten die Sitten betrachtet werden können. Von dem Augenblick an, wo die Blutsverwandtschaft eine Heiratsbeziehung ausschließt, wo der Mann darauf verzichtet, aus seiner biologischen Familie oder seiner Eigengruppe eine Frau zu nehmen und er nach außen hin eine Heiratsbeziehung anknüpfen muß, die – aus Gründen des Gleichgewichts – eine unmittelbare oder mittelbare Gegenleistung erfordert, beginnt ein Tauschphänomen, das sich endlos komplizieren kann, wenn die direkte Reziprozität einem verallgemeinerten Tausch Platz macht. Man muß also Modelle entwerfen, in denen die möglichen Konstellationen, die innere Anordnung der verschiedenen Typen von Präferenzheirat und die verschiedenen Verwandtschaftssysteme ans Licht rücken. Um diese äußerst komplexen und vieldimensionalen Strukturen aufzudecken, ist unsere gewöhnliche Geistesausstattung unzureichend, und es kann sich als nötig erweisen, auf eine quasi-mathematische Ausdrucksform zurückzugreifen, die um so brauchbarer ist, als die heutigen Mathematiken sich nicht auf das Meßbare und auf quantitative Relationen beschränken. Man kann sogar an eine periodische Tafel der Verwandtschaftsstrukturen denken, ähnlich der Tafel chemischer Elemente von Mendelejew. Es hat durchaus Sinn, auf das Programm eines universalen Codes für Strukturen hinzuarbeiten, der es uns erlauben würde, Strukturen nach geregelten Transformationen voneinander abzuleiten und über die bestehenden Systeme hinaus die verschiedenen möglichen Systeme zu konstruieren – und sei es auch nur, um – wie bereits geschehen – die empirische Beobachtung auf gewisse bestehende Institutionen zu lenken, die ohne solche theoretische Antizipation unbemerkt bleiben würden. So erscheint auf dem Boden der sozialen Systeme eine formale Infrastruktur, man ist versucht zu sagen: ein unbewußtes Denken, eine Antizipation des menschlichen Geistes, als ob unsere Wissenschaft schon in den Dingen fertig vorhanden wäre, als ob die menschliche Kul-
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turordnung eine zweite natürliche Ordnung wäre, beherrscht durch andere Invarianten. Doch selbst, wenn es diese gäbe, selbst wenn – ähnlich wie die Phonologie unterhalb der Phoneme – die Sozialwissenschaft unterhalb der Strukturen eine Metastruktur vorfände, denen die Strukturen gehorchen, so würde das Universale, zu dem man auf solche Weise gelangte, ebensowenig das Besondere ersetzen, wie die verallgemeinerte Geometrie nicht die lokale Wahrheit der Relationen des Euklidschen Raumes hinfällig macht. Auch in der Soziologie sind Stufen zu berücksichtigen, und die Wahrheit der verallgemeinerten Soziologie nähme der Mikrosoziologie nichts von ihrer Wahrheit. Die Implikationen einer formalen Struktur können zwar die innere Notwendigkeit dieser oder jener genetischen Abfolge ins Licht rücken. Doch sie sind nicht dafür verantwortlich, daß es Menschen, eine Gesellschaft, eine Geschichte gibt. Ein formales Portrait der Gesellschaften oder selbst ein formales Portrait der generellen Gliederungsformen, die für jede Gesellschaft gelten, sind keine Metaphysik. Die reinen Modelle und die Diagramme, die eine rein objektive Methode entwirft, sind Erkenntniswerkzeuge. Das Elementare, das die Sozialanthropologie sucht, sind immer noch elementare Strukturen, das heißt Knotenpunkte eines Gedankennetzes, das uns von sich aus auf das andere Gesicht der Struktur und ihre Inkarnation zurückführt. Die überraschenden logischen Operationen, die durch die formale Struktur der Gesellschaften bezeugt werden, müssen auf irgendeine Weise von den Bevölkerungen ausgeführt werden, die diese Verwandtschaftssysteme durchleben. Es muß also eine Art von gelebtem Äquivalent geben, das der Anthropologe zu erforschen hat, und zwar in diesem Falle mit einer Arbeit, die nicht mehr bloß mental ist und die auf Kosten seiner Bequemlichkeit und seiner Sicherheit geht. Dieser Rückanschluß der objektiven Analyse an das Erleben ist vielleicht die ureigene Aufgabe der Anthropologie, wodurch sie sich von anderen Sozialwissenschaften wie der Wirtschaftswissenschaft und der Demographie unterscheidet. Wert, Rentabilität, Produktivität und Bevölkerungshöchstgrenze sind die Gegenstände eines Denkens, daß
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das Soziale umfaßt. Man darf von ihnen nicht erwarten, daß sie im Reinzustand in der Erfahrung des Individuums auftauchen. Dagegen muß man die Variablen der Anthropologie früher oder später auf einer Ebene wiederfinden, wo die Phänomene eine unmittelbar menschliche Bedeutung haben. Was uns bei dieser Konvergenzmethode in Verlegenheit bringt, das sind die alten Vorurteile, die Induktion und Deduktion in einen Gegensatz bringen, als zeigte nicht schon das Beispiel Galileis, daß das tatsächliche Denken ein Hin und Her von Erfahrung und intellektueller Konstruktion oder Rekonstruktion darstellt. Nun bedeutet Erfahrung in der Anthropologie, daß wir als soziale Subjekte in ein Ganzes eingefügt sind, wo die Synthese, nach der unser Verstand mühsam sucht, bereits erreicht ist, denn wir durchleben in der Einheit eines einzigen Lebens alle Systeme, aus denen unsere Kultur besteht. Aus dieser Synthese, die wir selber sind, läßt sich einiges an Erkenntnis gewinnen. Mehr noch, der Apparat unseres sozialen Seins kann durch Reisen entstellt und wiederhergestellt werden, ähnlich wie wir fremde Sprachen sprechen lernen. Hier eröffnet sich ein zweiter Weg zum Universalen, nicht mehr zum vertikalen Universalen, wie wir es bei einer streng objektiven Methode finden, sondern gleichsam zu einem lateralen Universalen, wie wir es durch die ethnologische Erfahrung erwerben, die unaufhörlich das Selbst durch den Andern und den Andern durch das Selbst erprobt. Es geht darum, ein generelles Bezugssystem zu errichten, in dem der Gesichtspunkt des Eingeborenen, der Gesichtspunkt des Zivilisierten und ihre wechselseitige Verkennung Platz finden, und eine erweiterte Erfahrung auszubilden, die prinzipiell empfänglich ist für Menschen eines anderen Landes und einer anderen Zeit. Die Ethnologie ist keine Spezialität, die durch einen Sondergegenstand definiert wäre: die ›primitiven‹ Gesellschaften; sie ist eine Denkweise, die sich aufdrängt, wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung unserer selbst abverlangt. Auch werden wir zu Ethnologen der eigenen Gesellschaft, wenn wir ihr gegenüber auf Distanz gehen. Seit gut zehn Jahren – seit sie an Selbstsicherheit verloren hat, öffnet die amerikanische Gesellschaft den Ethnologen die Tür
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zum Staatsdienst und zu den Führungsstäben. Eine einzigartige Methode: Es geht darum zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet. Und wir können nicht einmal darauf bauen, daß wir die Dinge mit den Augen Heimatflüchtiger sehen: Der Entschluß wegzugehen hat selbst seine persönlichen Motive, die auf das Zeugnis abfärben können. Diese Motive muß man daher in die Lektüre einbeziehen, gerade wenn man auf Wahrheit aus ist, nicht als ob die Ethnologie Literatur wäre, sondern weil sie ihre Ungewißheit nur abstreift, wenn der Mensch, der vom Menschen spricht, nicht selber eine Maske trägt. Wahrheit und Irrtum wohnen beieinander an den Schnittpunkten zweier Kulturen, sei es, daß unsere Bildung uns verbirgt, was es zu erkennen gilt, sei es umgekehrt, daß sie – im Verlaufe eines Lebens sur le terrain – zu einem Mittel wird, die Differenzen des Anderen zu gewahren. Als Frazer von der Feldforschung sagte, »Gott behüte mich davor«, beraubte er sich nicht nur bestimmter Tatsachen, sondern einer Erkenntnisweise. Es ist selbstverständlich weder möglich noch notwendig, daß derselbe Mensch alle Gesellschaften, von denen er spricht, aus Erfahrung kennt. Es genügt, daß er überhaupt einmal und lange genug gelernt hat, sich von einer anderen Kultur belehren zu lassen; denn von da ab verfügt er über ein neues Erkenntnisorgan, er hat von neuem Besitz ergriffen von der wilden Region seiner selbst, die nicht in seiner eigenen Kultur eingeschlossen ist und über die er mit den anderen Kulturen in Verbindung steht. Fortan kann er selbst an seinem Arbeitstisch und selbst aus weiter Ferne die Korrelationen einer noch so objektiven Analyse anhand einer wahrhaften Wahrnehmung überprüfen. Nehmen wir zum Beispiel die Erkenntnis der Strukturen des Mythos. Es ist bekannt, wie enttäuschend die Versuche einer allgemeinen Mythologie waren. Sie wären es vielleicht weniger gewesen, wenn wir gelernt hätten, auf den Mythos zu hören, wie man auf den Bericht eines Berichterstatters an Ort und Stelle hört: d.h. auf den Ton, das Tempo, den Rhythmus und die Wiederholungen nicht weniger als auf den manifesten Gehalt. Will man den Mythos wie einen Satz von dem her verstehen, was er
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sagt, so tut man das gleiche, wie wenn man einer Fremdsprache die eigene Grammatik und das eigene Vokabular unterlegt. Der Mythos ist von vorne bis hinten zu entziffern, ohne daß wir auch nur wie die Spezialisten der Entzifferung voraussetzen können, daß der zu entdeckende Code dieselbe Struktur hat wie der unsrige. Lassen wir beiseite, was der Mythos uns auf den ersten Anhieb sagt und was uns eher vom wirklichen Sinn ablenken würde, und erforschen wir seine innere Artikulation, nehmen wir die Episoden nur, soweit sie – mit Saussure zu sprechen – einen diakritischen Wert haben und diese oder jene rekurrente Relation oder Opposition ins Spiel bringen. Man würde auf diese Weise bemerken – dies als Illustration der Methode und nicht als theoretische Behauptung –, daß die Schwierigkeit, aufrecht zu gehen, im Ödipusmythos dreimal wiederkehrt, die Vernichtung eines chthonischen Ungeheuers zweimal. Zwei weitere Gegensatzsysteme könnten das bestätigen. Man würde die Überraschung erleben, Vergleichbares in der Mythologie Nordamerikas wiederzufinden. Und man würde durch Wechselvergleiche, die wir hier nicht wiedergeben können, zu der Hypothese gelangen, daß der Ödipusmythos in seiner Struktur den Konflikt zwischen dem Glauben an die Autochthonie des Menschen und der Überbewertung der Verwandtschaftsbeziehungen zum Ausdruck brächte. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die bekannten Varianten einander zuordnen, eine aus der anderen durch geregelte Transformation erzeugen und in ihnen ebensoviel logische Werkzeuge und Vermittlungsformen erblicken, wie nötig sind, um einen grundlegenden Widerspruch aufzulösen. Wir haben dem Mythos Gehör geschenkt und enden bei einem logischen – man könnte auch sagen ontologischen – Diagramm: Ein bestimmter Mythos der kanadischen Pazifikküste setzt letzten Endes voraus, daß dem Eingeborenen das Sein als Negation des Nicht-Seins erscheint. Die abstrakten Formeln und die gleichsam ethnologische Anfangsmethode kommen darin überein, daß immerzu die Struktur leitend ist, die sich anfangs in ihren zwanghaften Rekurrenzen bemerkbar macht und am Ende in ihrer exakten Form erfaßt wird.
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Die Anthropologie tritt hier in Beziehung zur Psychologie. Die Freudsche Version des Ödipusmythos fügt sich als Sonderfall in die strukturale Version ein. Die Beziehung des Menschen zur Erde findet sich dort nicht, doch das, was für Freud die Ödipuskrise hervorruft, das ist durchaus die Dualität der Erzeuger, das Paradox der menschlichen Ordnung der Verwandtschaft. Die Freudsche Hermeneutik ist in dem, was an ihr am wenigsten umstritten ist, ebenfalls die Entzifferung einer traumhaften und verschwiegenen Sprache, der Sprache unseres Verhaltens. Die Neurose ist ein individueller Mythos. Und genauso wie sie klärt der Mythos sich auf, wenn darin eine Reihe von Schichtungen oder Blättern, man könnte auch sagen: ein Denken in Spiralen, zum Vorschein kommt, das stets aufs neue seinen grundlegenden Widerspruch zu maskieren versucht. Doch den erworbenen Erkenntnissen der Psychoanalyse und der Psychologie gibt die Anthropologie eine neue Tiefe, indem sie diese Erkenntnisse in ihre eigene Dimension einfügt: Freud oder der heutige Psychologe sind keine absoluten Beobachter, sie gehören zur Geschichte des abendländischen Denkens. Man darf daher nicht glauben, daß die Komplexe, Träume und Neurosen des abendländischen Menschen uns die helle Wahrheit von Mythos, Magie und Zauberei vermitteln. Nach der Regel der doppelten Kritik, die auch die der ethnologischen Methode ist, kommt es genauso darauf an, die Psychoanalyse als Mythos und den Psychoanalytiker als Zauberer oder Schamanen zu betrachten. Unsere psychosomatischen Forschungen machen verständlich, auf welche Weise der Schamane heilt, wie er zum Beispiel bei einer schwierigen Geburt hilft. Doch der Schamane macht uns auch verständlich, daß die Psychoanalyse unsere Zauberei ist. Selbst in ihren kanonischsten und achtbarsten Formen erreicht die Psychoanalyse die Wahrheit eines Lebens nur über die Beziehung zweier Leben, in der feierlichen Atmosphäre der Übertragung, die keine (wenn es so etwas gibt) rein objektive Methode ist. Und wenn sie zur Institution wird, wenn sie selbst auf sogenannte ›normale‹ Subjekte angewandt wird, ist sie erst recht keine Konzeption mehr, die man von Fall zu Fall rechtfer-
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tigen und diskutieren könnte, sie heilt nicht mehr, sie überredet, sie formt selber Subjekte, die ihrer Interpretation des Menschen gemäß sind, sie hat ihre Bekehrten, vielleicht ihre Aufsässigen, was sie nicht länger hat, sind Überzeugte. Jenseits von wahr und falsch bildet sie einen Mythos, und der solcherart abgesunkene Freudianismus ist keine Interpretation des Ödipusmythos mehr, er ist eine seiner Varianten. Tiefer betrachtet, geht es für den Anthropologen weder darum, gegenüber dem Primitiven recht zu behalten, noch darum, ihm uns gegenüber recht zu geben, sondern es geht darum, sich auf einem Terrain einzurichten, wo wir, der eine so gut wie der andere, verständlich sind ohne Reduktion und ohne waghalsige Transposition. Dazu gelangt man, wenn man die symbolische Funktion als Quelle jeglicher Vernunft und Unvernunft betrachtet, denn Menge und Reichtum an Bedeutungen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, überschreiten stets den Kreis der definitiven Gegenstände, die den Namen Signifikat verdienen, die symbolische Funktion ist ihrem Gegenstand notwendigerweise stets voraus, und sie findet das Reale nur, indem sie ihm ins Imaginäre vorauseilt. Es stellt sich also die Aufgabe, unsere Vernunft zu erweitern, um sie in den Stand zu setzen, all das zu umgreifen, was in uns und in den Andern der Vernunft vorausgeht und über sie hinausgeht. Dieses Bemühen trifft zusammen mit den Bemühungen der anderen ›semiologischen‹ Wissenschaften und mit denen der anderen Wissenschaften überhaupt. Niels Bohr schrieb: »Die traditionellen Unterschiede (der menschlichen Kulturen) … ähneln in vielfacher Hinsicht den unterschiedlichen und gleichwertigen Formen, in denen die physikalische Erfahrung beschrieben werden kann.« Jede traditionelle Kategorie ruft heute nach einer komplementären, d.h. einer unvereinbaren und unablösbaren Sichtweise, und unter diesen schwierigen Umständen vollzieht sich die Suche nach dem, was den Gliederbau der Welt bildet. Die Zeit der Linguisten besteht nicht mehr in dieser Reihe von Simultaneitäten, die dem klassischen Denken vertraut war und an die auch Saussure noch dachte, als er die beiden Perspektiven
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des Simultanen und Sukzessiven deutlich voneinander abhob: Mit Troubetzkoy greift die Synchronie, ähnlich wie die legendäre oder mythische Zeit, auf die Sukzession und die Diachronie über. Wenn die symbolische Funktion dem Gegebenen vorauseilt, so ist es unvermeidlich, daß ein gewisses Durcheinander in jede Kulturordnung eindringt, die von ihr getragen wird. Es gibt keine scharfe Antithese mehr zwischen Natur und Kultur. Die Anthropologie kommt zurück auf eine beachtliche Menge von Kulturtatsachen, die sich der Regel des Inzestverbots entziehen. Die indische Endogamie, die iranische, ägyptische oder arabische Praxis der konsanguinen oder kollateralen Heirat bezeugen, daß die Kultur bisweilen mit der Natur gemeinsame Sache macht. Nun handelt es sich gerade hierbei um Kulturformen, die wissenschaftliche Kenntnisse und ein sich anreicherndes und fortschreitendes Gesellschaftsleben ermöglicht haben. In ihren, wenn nicht schönsten, so doch wirksamsten Ausformungen bestünde die Kultur recht eigentlich in einer Umgestaltung der Natur, einer Reihe von Vermittlungen, aus denen die Struktur niemals fix und fertig als reines Universales hervorgeht. Wie soll man dieses Milieu nennen, wo eine kontingenzbehaftete Form plötzlich eine zukunftsträchtige Entwicklung anbahnt und sie mit der Autorität einer instituierten Instanz steuert – wie, wenn nicht Geschichte? Freilich handelt es sich nicht um jene Geschichte, die das gesamte Feld des Menschlichen aus lokalisierten und datierten Ereignissen einer seriellen Zeit und aus Augenblicksentscheidungen zusammensetzen möchte, sondern um eine Geschichte, die sehr wohl weiß, daß der Mythos und die legendäre Zeit immer noch unter anderen Formen die menschlichen Unternehmungen heimsuchen, eine Geschichte, die diesseits oder jenseits der parzellierten Ereignisse auf die Suche geht und die sich eben strukturale Geschichte nennt. Es ist eine ganz neue Denkweise, die mit dem Strukturbegriff aufkommt, dessen Erfolg heute in allen Bereichen einem geistigen Bedürfnis entspricht. Dem Philosophen weist die Struktur, die außer uns in den natürlichen und sozialen Systemen und in uns als symbolische Funktion gegenwärtig ist, einen Ausweg
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aus der Subjekt-Objekt-Beziehung, welche die Philosophie von Descartes bis Hegel beherrscht. Sie läßt uns in besonderem Maße verstehen, wie wir mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt kreisförmig zusammengeschlossen sind, sofern sich der Mensch sich selbst gegenüber exzentrisch verhält und das Soziale nur in ihm sein Zentrum findet. Doch das ist bereits zuviel an Philosophie, deren Last die Anthropologie nicht auf sich zu nehmen hat. Wenn sie für den Philosophen interessant ist, so genau darin, daß sie den Menschen nimmt, wie er ist, in seiner tatsächlichen Lebens- und Erkenntnissituation. Der Philosoph, den sie interessiert, ist nicht jener, der die Welt erklären oder konstruieren will, sondern jener, der unsere Einfügung ins Sein zu vertiefen sucht. Seine Empfehlung kann die Anthropologie hierin also nicht kompromittieren, da sie sich auf das stützt, worin deren Methode ihre größte Konkretion erreicht. * Die laufenden und für spätere Zeit geplanten Arbeiten von LéviStrauss zehren offensichtlich von derselben Inspiration; doch gleichzeitig erneuert die Forschung sich selbst und wirkt zurück auf ihre eigenen Resultate. Auf dem Boden der Feldforschung nahm er sich vor, für den melanesischen Bereich eine Dokumentation zusammenzustellen, die im Rahmen der Theorie den Übergang zu komplexeren Verwandtschaftsstrukturen ermöglicht hätte, d. h. zu den Strukturen, auf die insbesondere unser Heiratssystem zurückgeht. Inzwischen aber hat er den Eindruck gewonnen, daß dies keine bloße Ausweitung der vorhergehenden Arbeiten wäre, sondern daß diese damit eine zusätzliche Tragweite erhielten. Die modernen Verwandtschaftssysteme – die den demographischen, ökonomischen und psychologischen Bedingungen die Wahl des Partners überlassen – sollten im Rahmen der anfänglichen Perspektiven als ›komplexere‹ Varianten des Tauschs definiert werden. Doch ein volles Verständnis für den komplexen Tausch läßt den zentralen Sinn des Tauschphänomens nicht unberührt, es erfordert und ermöglicht eine entscheidende Vertiefung. Claude Lévi-Strauss hat nicht die Absicht, die
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komplexen Systeme den einfachen Systemen deduktiv und dogmatisch anzugleichen. Er ist im Gegenteil der Auffassung, daß man bei ihnen um die historische Annäherung durch das Mittelalter, durch die indo-europäischen und semitischen Institutionen nicht herumkommt und daß die historische Analyse auf die Dauer eine Unterscheidung nahelegt zwischen einer Kultur, die den Inzest schlechterdings verbietet und eine schlichte, direkte und unmittelbare Negierung der Natur darstellt, und einer anderen Kultur – jener, die am Ursprung unserer zeitgenössischen Verwandtschaftssysteme steht –, die mit der Natur vielmehr ein listiges Spiel treibt und manchmal das Inzestverbot umgeht. Gerade dieser zweite Kulturtyp hat sich als fähig erwiesen, »mit der Natur handgemein zu werden«, die Wissenschaft, die technische Herrschaft des Menschen zu schaffen und das, was man kumulative Geschichte genannt hat. Aus dem Blickwinkel der modernen Verwandtschaftssysteme und der geschichtlichen Gesellschaften erschiene dann der Tausch, der in einer direkten und unmittelbaren Negierung der Natur besteht, als bloßer Grenzfall einer allgemeineren Alteritätsbeziehung. Hier erst tritt der letzte Sinn der anfänglichen Forschungen von Lévi-Strauss, die tiefere Wesensnatur des Tausches und der symbolischen Funktion endgültig zutage. Auf dem Niveau der elementaren Strukturen eignen sich die Tauschgesetze, die das Verhalten vollständig umschließen, für eine statistische Untersuchung, und der Mensch gehorcht ihnen, ohne daß er sie in allen Fällen auch nur in einer Eingeborenentheorie formuliert, fast so wie das Atom dem Verteilungsgesetz folgt, durch das es definiert ist. Am anderen Ende des anthropologischen Feldes, in gewissen komplexen Systemen, brechen die Strukturen auseinander und öffnen sich bei der Bestimmung des Ehepartners ›historischen‹ Motivationen. Hier spielen der Tausch, die symbolische Funktion und die Gesellschaft nicht mehr die Rolle einer zweiten Natur, die genauso gebieterisch wäre wie die erste, die von ihr ausgelöscht wird. Jeder ist aufgefordert, sein eigenes Tauschsystem zu definieren; eben dadurch verwischen sich die Grenzen zwischen den Kulturen, zum ersten Mal steht wohl eine Weltzivilisation auf der Tagesordnung. Die
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Beziehung dieser komplexen Humanität mit der Natur und dem Leben ist weder einfach noch deutlich konturiert: Tierpsychologie und Ethnologie entdecken in der Animalität gewiß nicht den Ursprung der Menschheit, aber doch Skizzen, partielle Vorgestalten und gleichsam antizipative Karikaturen. Mensch und Gesellschaft sind genaugenommen nicht außerhalb der Natur und des Biologischen: Vielmehr unterscheiden sie sich von ihnen, indem sie die ›Einsätze‹ der Natur sammeln und sie allesamt auf eine Karte setzen. Dieser Umschwung bedeutet unermeßliche Gewinne, völlig neue Möglichkeiten wie auch Verluste, die es abzuwägen gilt, und Risiken, die wir allmählich merken. Der Tausch und die symbolische Funktion verlieren ihre Starre, doch auch ihre hieratische Schönheit; an die Stelle der Mythologie und des Rituals treten Vernunft und Methode, doch auch eine ganz profane Lebensführung, begleitet von geringfügigen Ersatzmythen ohne Tiefgang. Indem sie dies alles in Betracht zieht, ist die Sozialanthropologie auf dem Weg zu einem Ausgleich des menschlichen Geistes und zu einem Ausblick auf das, was er ist und sein kann … So lebt die Forschung von Tatsachen, die ihr zunächst fremd erscheinen, erobert in ihrem Fortschreiten neue Dimensionen, reinterpretiert die Anfangsresultate im Lichte neuer Untersuchungen, die durch sie selbst hervorgerufen wurden. Der Umfang des betreuten Bereichs und das genaue Verständnis der Tatsachen nehmen gleichzeitig zu. An diesen Zeichen erkennt man einen großen intellektuellen Wurf.
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Ü BE R A L L U N D N I RG E N D S 1
I. Die Philosophie und das ›Äußere‹ Einen Sammelband über die berühmten Philosophen zusammenzustellen, dieses Unternehmen mag harmlos erscheinen. Dennoch kann man es nicht ohne Bedenken beginnen: Es stellt die Idee in Frage, die man sich von der Geschichte der Philosophie und sogar von der Philosophie selbst machen muß. Denn letztlich wird der Leser hier, mit den Gesichtern, den Anekdoten und dem sichtbaren Leben der Philosophen, auf wenigen Seiten und aus der Hand verschiedener Autoren, eine Skizze dessen finden, was sie über ganze Bände hinweg zu sagen versuchten. Selbst wenn das Leben und das Werk – oder besser noch: die Gesamtheit eines Werkes und Lebens – jedesmal perfekt aufgeschlüsselt würden, so ergäbe sich daraus doch nur eine Geschichte der Philosophen oder der Philosophien, aber keine Geschichte der Philosophie, und dieser Band über die Philosophen wäre folglich gerade dem untreu, was ihre große Sorge war: einer Wahrheit, die über die Meinungen hinausreicht. Wie könnte ein Buch aus Einzelbeiträgen über eine zentrale Perspektive verfügen? Um Verkettungen, Fortschritte und Rückschläge erkennbar werden zu lassen, muß man allen Philosophen ein und dieselbe Frage stellen und der Entwicklung des Problems schrittweise nachgehen. Wir können hier also weder die Genealogie der Philosophen noch das Werden der Wahrheit festhalten, und die Philosophie läuft Gefahr, in unserem Werk nicht mehr zu sein als ein Katalog von ›Gesichtspunkten‹ oder ›Theorien‹. Eine Serie geistiger Portraits wird beim Leser das Gefühl eines vergeblichen Bemühens hinterlassen, bei dem jeder die Marotten, 1 Einführung zum Sammelband Les Philosophes célèbres, erschienen im Verlag Lucien Mazenod.
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die seiner Laune und den Zufällen seines Lebens entspringen, als Wahrheit ausgibt, die Fragen an ihrem Ausgangspunkt aufgreift und sie ungelöst an seine Nachfolger weitergibt, ohne daß zwischen dem einen und dem anderen geistigen Universum ein Vergleich möglich wäre. Dieselben Wörter – Idee, Freiheit, Wissen – haben hier und dort nicht den gleichen Sinn, und wie sollten wir, da es keinen einzigen Zeugen gibt, der sie auf einen Nenner bringen könnte, über die Philosophen hinweg eine einzige Philosophie heranreifen sehen? Müßte man nicht, um das zu berücksichtigen, was sie gesucht haben, und um angemessen über sie zu reden, ihre Lehrmeinungen ganz im Gegenteil als Momente einer einzigen, sich fortsetzenden Lehre auffassen und sie auf Hegelsche Weise retten, indem man ihnen einen Platz in der Einheit eines Systems zuweist? Es ist wahr, daß das System auf seine Weise anmaßend ist: Da es die Lehrmeinungen einer integralen Philosophie einverleibt, gibt es also vor, das philosophische Unternehmen besser und weiter voranzubringen als sie. Für eine Philosophie, die das Sein zum Ausdruck bringen wollte, liegt keine Rettung darin, als Augenblick des Wahren oder als erster Entwurf eines finalen Systems, das nicht sie selbst ist, zu überleben. Wenn man ›hinausgeht‹ über eine Philosophie ›des Inneren‹, dann raubt man ihr die Seele, man beleidigt sie, indem man sie ohne ihre ›Begrenzungen‹ beläßt, über die man urteilt, daß heißt ohne ihre Wörter und Begriffe zu berücksichtigen, als ließen sich die Mäander des Parmenides oder der Verlauf der Meditationen ohne jeden Verlust auf einen Paragraphen des Hegelschen Systems reduzieren. In Wirklichkeit setzt dieses System sie als bekannt voraus, und nur deswegen kann es darüber hinausgehen … Selbst wenn es sie vollendet, schließt es sie doch nicht ein. Erst in der Schule der anderen begreifen wir den ganzen Sinn der Hegelschen Philosophie, die darüber hinausgehen wollte. Die Bewegung der Widersprüche, die ineinander aufgehoben werden, das Positive, das in der Negation zutage tritt, und das Negative, das sich als Positives erweist, all dies beginnt bei Zenon, im Sophisten und im Zweifel Descartes’. Das Hegelsche System beginnt in ihnen. Es ist der
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Brennpunkt, in dem die Strahlen vieler Spiegel zusammentreffen: Es fiele in einen Nullpunkt zurück, wenn sie auch nur einen Augenblick aufhören würden, es mit ihrem Licht anzustrahlen. Es gibt ein Hineinragen, ein Hineinwachsen der Vergangenheit in die Gegenwart, und die Wahrheit ist ein imaginäres System, das allen Philosophien gegenwärtig ist, das ihre Bedeutungskraft ohne jeden Verlust wahren könnte und von dem eine bestehende Philosophie offensichtlich nur ein unvollkommener Entwurf ist … Auch Hegel wußte dies. ›Die Geschichte der Philosophie‹, sagt er, ›ist in der Gegenwart vollständig enthalten‹. Was bedeutet, daß Platon, Descartes oder Kant nicht nur in dem wahr sind, was sie gesehen haben, vorbehaltlich dessen, was sie nicht gesehen haben. Die Umwege, auf denen die Hegelsche Philosophie sich vorbereitet hat, sind nicht in Vergessenheit geraten; sie bleiben berechtigt, mehr noch: Sie sind notwendig; sie sind der Weg, und die Wahrheit ist nur die Erinnerung an all das, was man unterwegs gefunden hat. Hegel schließt sein System mit der Geschichte ab, aber die vergangenen Philosophien atmen und rühren sich weiterhin in ihr; er hat mit ihnen die Unruhe, die Bewegung und die Arbeit der Kontingenz eingeschlossen. Zu behaupten, das System sei die Wahrheit dessen, was ihm voranging, heißt auch zu behaupten, daß die großen Philosophien ›unzerstörbar‹2 seien, nicht weil sie einen Ausschnitt dessen erkannt haben, was das System im Ganzen entdecken sollte, sondern eher, weil sie Marksteine gesetzt haben – die Erinnerung, die ›Ideen‹ von Platon, die φúσις von Aristoteles, der böse Dämon von Descartes –, die ihre Nachwelt immer wieder passieren mußte. Sartre hat einmal den Descartes, der war, der dieses Leben gelebt, diese Worte gesprochen, diese Werke geschrieben hat – diesen unteilbaren Block, diesen unzerstörbaren Markstein – dem Cartesianismus gegenübergestellt, jener »umherschlendernden Philosophie«, die ungreifbar ist, weil sie sich zwischen den Händen der Erben ständig verändert. Er hatte Recht, wenn 2
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man einmal davon absieht, daß keine Grenze den Punkt markiert, bis zu dem es noch Descartes ist und ab dem seine Nachfolger beginnen, und daß nicht mehr Sinn darin läge, die Gedanken aufzuzählen, die in Descartes gegeben sind und jene, die bei ihnen vorhanden sind, als etwa das Verzeichnis einer Sprache zu erstellen. Unter diesem Vorbehalt ist das, was zählt, wohl das denkende Leben, das man Descartes nennt und das in seinen Werken eine glücklicherweise bewahrte Spur hinterlassen hat. Was Descartes so gegenwärtig erscheinen läßt, ist der Umstand, daß er inmitten von Verhältnissen, die heute beseitigt sind, und umgetrieben von Sorgen und manchen Illusionen seiner Zeit, auf diese Wechselfälle des Lebens in einer Weise geantwortet hat, die uns auf die Wechselfälle unseres Lebens antworten lehrt, obwohl sie verschieden sind und auch unsere Antwort verschieden ist. Man wird nicht ins Pantheon der Philosophen aufgenommen, weil man sich ausschließlich darauf konzentriert hat, Gedanken für die Ewigkeit hervorzubringen, und nie klingt die Betonung der Wahrheit so lange nach, als wenn der Autor sein Leben mit einbezieht. Die Philosophien der Vergangenheit überleben nicht allein in ihrem Geist, als Momente eines finalen Systems. Ihr Eintritt in die Zeitlosigkeit ist keine Aufnahme ins Museum. Entweder sie dauern mit ihren Wahrheiten und ihren Verrücktheiten fort, als vollständige Unternehmen, oder sie haben gar keinen Fortbestand. Hegel selbst, dieser Denker, der das Sein umfassen wollte, lebt heute unter uns und gibt uns nicht nur durch seine tiefgründigen Gedanken, sondern auch aufgrund seiner Manien und wunderlichen Angewohnheiten zu denken. Es gibt nicht eine Philosophie, die alle anderen Philosophien enthielte; die Philosophie ist, in bestimmten Augenblicken, als Ganzes in jeder Philosophie enthalten. Um das berühmte Wort aufzugreifen: Ihr Zentrum ist überall und ihre Peripherie nirgends. Die Wahrheit und das Ganze sind also von Anfang an da – aber im Sinne einer zu erfüllenden Aufgabe, so daß sie folglich doch noch nicht da sind. Diese besondere Beziehung der Philosophie zu ihrer Vergangenheit erhellt allgemein ihre Beziehungen zum
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Äußeren und, beispielsweise, zur persönlichen und sozialen Geschichte. Wie die vergangenen Lehren, so lebt auch sie von allem, was dem Philosophen und seiner Zeit zustößt, aber sie dezentriert es oder überträgt es in die Ordnung der Symbole und der vorgetragenen Wahrheit, so daß es nicht mehr Sinn ergibt, das Werk anhand des Lebens zu beurteilen als das Leben anhand des Werkes. Wir haben nicht die Wahl zwischen jenen, die denken, daß die Geschichte des Individuums oder der Gesellschaft im Besitz der Wahrheit über die symbolischen Konstruktionen des Philosophen sei, und jenen, die im Gegensatz dazu denken, daß das philosophische Bewußtsein prinzipiell die Schlüssel zur sozialen und persönlichen Geschichte besitze. Die Alternative ist imaginär, was dadurch bewiesen wird, daß jene, die eine dieser beiden Thesen verteidigen, insgeheim auf die jeweils andere zurückgreifen. Man kann nur dann daran denken, das interne Studium der Philosophien durch eine sozio-historische Erklärung zu ersetzen, wenn man sich auf eine Geschichte bezieht, deren Sinn und Verlauf man mit Gewißheit zu kennen glaubt. Man geht beispielsweise von einer bestimmten Idee des ›vollkommenen Menschen‹ aus, oder von einem ›natürlichen‹ Gleichgewicht zwischen den Menschen einerseits und Mensch und Natur andererseits. Aus dieser Sicht, unter Vorgabe dieses historischen τéλος, kann jede Philosophie angesichts dieser notwendigen Zukunft als Ablenkung, Entfremdung und Widerstand vorgeführt werden, oder im Gegenteil als Etappe und Fortschritt auf dem Weg zu ihr. Woher aber kommt und welchen Wert hat die Leitidee? – Die Frage darf nicht gestellt werden: Sie zu stellen, bedeutet bereits, einer Dialektik zu ›widerstehen‹, die in den Dingen liegt, es bedeutet, gegen diese Dialektik Partei zu ergreifen. – Aber woher wissen Sie denn, daß sie in den Dingen liegt? Durch Philosophie. Die Dialektik ist ganz einfach eine verborgene Philosophie, die als Prozeß getarnt ist. Was man dem internen Studium der Philosophien entgegenhält, ist nie die sozio-historische Erklärung, sondern immer eine andere Philosophie, die in ihr verborgen ist.
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Man zeigt, daß Hegel die Entfremdung so begriffen hat, wie er es tat, weil er die Entfremdung der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen hatte und ihr gemäß dachte. Diese ›Erklärung‹ würde nur dann mit der Hegelschen Entfremdung abrechnen und aus ihr eine Episode des Kapitalismus machen, wenn man eine Gesellschaft zeigen könnte, in der sich der Mensch objektiviert, ohne sich zu entfremden. Eine solche Gesellschaft war für Marx nur eine Idee, und wir können zumindest sagen, daß sie keine Tatsache ist. Was man Hegel entgegenhält, ist nicht etwa eine Tatsache, sondern eine Idee von der Beziehung des Menschen zum sozialen Ganzen. Unter dem Titel einer objektiven Erklärung verbirgt sich stets ein Denken, das ein anderes Denken bestreitet und es als Illusion denunziert. Wenn man antwortet, daß die marxistische Idee, als historische Hypothese, die Geschichte des Kapitalismus vor und nach Marx erhellt, dann betritt man das Gebiet der Tatsachen und der historischen Wahrscheinlichkeit. Aber man wird auf diesem Gebiet auf dieselbe Art und Weise die Hegelsche Idee der Entfremdung ›erproben‹ müssen, und beispielsweise überprüfen, ob sie nicht hilft, sogar die auf die marxistische Idee gegründeten Gesellschaften zu verstehen. Gerade eine solche Überprüfung schließt man aus, wenn man pedantisch erklärt, die Hegelsche Idee der Entfremdung sei ein Produkt der Gesellschaft, in der Hegel lebte; man hält sich also nicht an den Bereich der Fakten, und die historische ›Erklärung‹ ist eine Art, zu philosophieren, ohne daß es den Anschein hätte, eine Art, die Ideen als Dinge zu tarnen und ohne jede Genauigkeit zu denken. Eine Geschichtskonzeption erklärt die Philosophien nur unter der Bedingung, daß sie selbst zur Philosophie wird, und zwar implizite Philosophie. Die Philosophen, die am leidenschaftlichsten in die Innerlichkeit verliebt sind, werden ihrerseits ihren Prinzipien auf seltsame Weise untreu, wenn sie vor ihrem Tribunal die Kulturen und Regime zusammenrufen und sie von außen beurteilen, als wäre die Innerlichkeit nicht mehr wichtig, sobald sie nicht ihre eigene ist. So tauschen die Partisanen der ›reinen‹ Philosophie und die Partisanen der sozio-ökonomischen Erklärung unter unseren
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Augen ihre Rollen, und wir müssen nicht in ihre ewige Debatte einsteigen, müssen nicht Partei ergreifen gegen eine falsche Vorstellung des ›Inneren‹ wie des ›Äußeren‹. Die Philosophie ist überall, sogar in den ›Fakten‹ – und sie hat nirgends einen Bereich, in dem sie vor der Ansteckung durch das Leben geschützt wäre. Es liegt viel Arbeit vor uns, wenn wir die Mythen beseitigen wollen, die mit der reinen Philosophie und der reinen Geschichte verschwistert sind, und wenn wir ihre tatsächlichen Beziehungen wiederfinden wollen. Als erstes benötigten wir eine Theorie des Begriffs oder der Bedeutung, welche die philosophische Idee so nähme, wie sie ist: nie ganz frei von historischen Importen und nie auf ihre Ursprünge zurückzuführen. Wie die neuen Formen der Grammatik und der Syntax, die aus den Bruchstücken eines einstigen Sprachsystems oder den Zufällen der allgemeinen Geschichte geboren werden, sich dennoch entsprechend einer Ausdrucksintention organisieren, die aus ihnen ein neues System werden läßt, so ist die philosophische Idee, die in den Wechselfällen der persönlichen und sozialen Geschichte geboren wird, nicht nur ein Ergebnis und ein Gegenstand; sie ist vielmehr ein Beginn und ein Instrument. Mit ihren genauen Unterscheidungen im Rahmen eines neuen Denktyps und eines neuen Symbolismus konstituiert sie sich einen Anwendungsbereich, der in keinem Verhältnis steht zu ihren Ursprüngen und der nur von innen heraus verstanden werden kann. Der Ursprung ist kein Sündenfall und auch kein Verdienst, und es ist das Gesamte in seiner Reife, das man beurteilen muß, anhand der Ausblicke und Zugriffe auf die Erfahrung, die es uns gewährt. Mehr noch als zur ›Erklärung‹ einer Philosophie dient die historische Annäherung dazu, den Überschuß der philosophischen Bedeutungen über die Umstände zu verdeutlichen, und zu zeigen, wie sie, was eine historische Tatsache ist, ihre Anfangssituation in ein Mittel verwandelt, diese Situation selbst zu verstehen und durch sie auch andere. Das philosophisch Universale besteht in jenem Augenblick und in jenem Punkt, in dem die Begrenzungen eines Philosophen Eingang finden in eine andere Geschichte, die nicht
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parallel verläuft zu jener Geschichte der psychologischen oder sozialen Tatsachen, die sie aber bald kreuzt, bald von ihr abrückt, oder eher, die nicht der gleichen Dimension angehört. Um diese Beziehung zu verstehen, müßten wir auch unsere Vorstellung der psychologischen oder historischen Genese ändern. Wir müßten die Psychoanalyse und den Marxismus als Experimente neu denken, bei denen die Prinzipien, die Maßeinheiten, angesichts des Gemessenen immer in Frage stehen. Es geht nicht darum, die Menschen oder die Gesellschaften danach einzuteilen, ob sie sich der Richtschnur der klassenlosen Gesellschaft oder des konfliktlosen Menschen annähern: Diese negativen Entitäten können nicht dazu dienen, eine existierende Gesellschaft oder einen existierenden Menschen zu denken. Wir müßten vor allem die Wirkungsweise ihrer Widersprüche verstehen, die Art von Gleichgewicht, in dem sie sich, so gut es eben geht, eingerichtet haben, wir müßten in jeder Hinsicht verstehen, ob es lähmt oder am Leben läßt, müßten in der Psychoanalyse dem Beruf und der Arbeit ebenso Rechnung tragen wie dem Sexualleben, und, im Hinblick auf alles mit dem Marxismus Zusammenhängende, den gelebten Beziehungen ebenso wie den Variablen der ökonomischen Analyse, der menschlichen Qualität der Beziehungen ebenso wie der Produktion, den heimlichen sozialen Rollen ebenso wie den offiziellen Regelungen. Vergleiche dieser Art ergeben, sofern sie eine Präferenz und eine Wahl begründen können, keine ideale Entstehungsreihe, und die Beziehung einer geschichtlichen Formation zu einer anderen wird, ebenso wie die Beziehung eines Menschentyps zu einem anderen, nie die einfache Beziehung von wahr und falsch sein. Der ›gesunde‹ Mensch ist nicht so sehr derjenige, der bei sich alle Widersprüche beseitigt hat: Es ist derjenige, der sie verwendet und sie in seine Lebensarbeit einbezieht. Zu relativieren wäre auch die marxistische Vorstellung einer Vorgeschichte, die der Geschichte weichen wird, und eines unmittelbaren Bevorstehens der vollständigen und wahren Gesellschaft, in welcher der Mensch sowohl mit dem Menschen als auch mit der Natur versöhnt ist, denn darin liegt wohl die Forderung unserer Gesellschaftskritik, aber es gibt in
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der Geschichte keine Kraft, die dazu bestimmt wäre, diese Form von Gesellschaft hervorzubringen. Die menschliche Geschichte ist von nun an nicht so beschaffen, daß sie einen Tag bestimmt und auf all ihren Zifferblättern gleichzeitig der helle Mittag der Identität erscheint. Der Fortschritt der sozio-ökonomischen Geschichte und selbst noch die damit verbundenen Revolutionen sind nicht so sehr ein Übergang zu einer homogenen oder klassenlosen Gesellschaft wie die über stets atypische Kultursysteme hinweg betriebene Suche nach einem Leben, das nicht für die meisten Menschen unlebbar ist. Zwischen dieser Geschichte, die stets vom Positiven zum Positiven fortschreitet und sich niemals zur reinen Negation übersteigt – und dem philosophischen Begriff, der seine Verbindungen zur Welt nie abbricht, sind die Beziehungen beliebig eng, nicht etwa weil derselbe Sinn ohne jede Zweideutigkeit dem Rationalen und dem Realen innewohnte, wie es Hegel und Marx jeder auf seine Weise dachten, sondern weil das ›Reale‹ und ›Rationale‹ aus demselben Stoff geschnitten sind, nämlich der historischen Existenz der Menschen, und weil durch diese Existenz das Reale gewissermaßen der Vernunft versprochen wurde. Selbst wenn man einen einzelnen Philosophen betrachtet, so wimmelt es in ihm von inneren Differenzen, und man muß seinen ›vollständigen‹ Sinn über diese Diskordanzen hinweg wiederfinden. Wenn ich nur mühsam die ›grundlegende Wahl‹ wiedererkennen kann, die der absolute Descartes, von dem Sartre sprach, getroffen hat, der Descartes, der ein für alle Mal vor drei Jahrhunderten gelebt und geschrieben hat, so liegt dies vielleicht daran, daß Descartes selbst zu keinem Zeitpunkt ganz mit Descartes übereinstimmte: Was er in unseren Augen und den Texten zufolge ist, das ist er nur nach und nach gewesen, als Reaktion seiner selbst auf sich selbst, und die Vorstellung, ihn an seinem Ursprung ganz zu erfassen, ist vielleicht illusorisch, sofern Descartes nicht irgendeine ›zentrale Intuition‹, ein ewiger Charakter, ein absolutes Individuum ist, sondern zunächst jener zögerliche Diskurs, der sich durch Erfahrung und Übung behauptet, der sich selbst allmählich begreifen lernt und nie ganz aufhört, selbst
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das in Betracht zu ziehen, was er entschieden ausgeschlossen hat. Man wählt eine Philosophie nicht wie einen Gegenstand aus. Die Wahl beseitigt keineswegs das nicht Ausgewählte, sondern bewahrt es am Rande. Derselbe Descartes, der so sorgfältig unterscheidet zwischen dem, was auf den reinen Verstand zurückgeht, und dem, was dem Gebrauch des Lebens angehört, sieht sich im selben Zug das Programm einer Philosophie entwerfen, die den Zusammenhang der von Descartes unterschiedenen Ordnungen zum zentralen Thema macht. Die philosophische Wahl (und gewiß auch alle anderen) ist niemals einfach. Und nur, weil sie etwas Zweideutiges an sich haben, berühren sich die Philosophie und die Geschichte. Damit sei es genug, zwar nicht, um die Philosophie zu definieren, aber um einem Werk wie diesem für die Mischung aus Philosophie, Geschichte und Anekdoten die Absolution zu erteilen. Diese Unordnung ist Teil der Philosophie; sie findet das Mittel, in ihr zu einer Einheit zu gelangen, durch die Abschweifung und die Rückkehr zum Zentrum. Es ist die Art von Einheit, die eine Landschaft oder eine Rede aufweist, bei der alles durch eine verborgene Referenz indirekt mit einem Zentrum des Interesses oder der Perspektive verbunden ist, auf das zunächst kein Zeichen hingedeutet hatte. Wie Europa oder Afrika, so ist auch die Geschichte der Philosophie ein Ganzes, wenngleich auch sie ihre Buchten, ihre Kaps, ihr Relief, ihre Deltas und ihre Mündungsgebiete hat. Und obwohl sie in einer weit größeren Welt angesiedelt ist, kann man in ihr doch die Zeichen aller Geschehnisse ablesen. Wie also sollte ein bestimmter Ansatz verboten und der Philosophen unwürdig sein? Eine Reihe von Porträts ist nicht an sich bereits ein Anschlag auf die Philosophie. Und was die Pluralität der Perspektiven und der Kommentatoren angeht, so würde sie die Einheit der Philosophie nur durchbrechen, wenn es sich um eine Einheit der Aneinanderreihung oder der Anhäufung handelte. Da aber die Philosophien ebenso Sprachen sind, die nicht unmittelbar ineinander übersetzbar sind und auch nicht Wort für Wort übereinander zu legen sind, und da jede auf ihre einzigartige Weise notwendig ist für die anderen,
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erhöht die Verschiedenheit der Kommentare kaum jene der Philosophien. Ja, mehr noch, wenn man jeden einzelnen, wie wir es getan haben, nicht um einen ›objektiven‹ Bericht, sondern eher um eine Reaktion auf einen Philosophen bittet, dann findet man auf diesem Gipfel der Subjektivität vielleicht wieder eine Art Konvergenz und eine Verwandtschaft zwischen den Fragen, die jeder dieser Zeitgenossen seinem berühmten Philosophen unter vier Augen stellt. Diese Probleme werden durch ein Vorwort nicht beseitigt, und sie müssen auch nicht abschließend geklärt werden. Wenn die Einheit der Philosophie durch die Unterschiedlichkeit oder den Abstand der einzelnen Philosophien voneinander schrittweise reduziert wird, dann müssen wir die Schwierigkeit, sie zu denken, in jedem Augenblick dieses Buches wiederfinden. Wenn wir die Philosophie im Hinblick auf das orientalische Denken oder das Christentum abgrenzen müssen, werden wir uns auch fragen müssen, ob die Bezeichnung als Philosophie nur den Lehren angemessen ist, die sich selbst in Begriffe übersetzen, oder ob man sie nicht auch auf Erfahrungen, Weisheiten und Disziplinen ausdehnen kann, die nicht bis an jenen Grad oder jene Art von Bewußtsein heranreichen, und wir werden hierbei wieder auf das Problem des philosophischen Begriffs und seiner Natur stoßen. Jedesmal, wenn wir es wagen, Entwicklungslinien aufzuzeigen, die von den Philosophen selbst sicher nicht gesehen wurden, und wenn wir sie um Themen gruppieren, die nicht ausdrücklich die ihren waren – kurz gesagt, mit jedem Abschnitt dieses Werkes –, werden wir uns überdies die Frage stellen müssen, wie weit wir berechtigt sind, die vergangenen Philosophien in das Licht des heutigen Tages zu rücken, ob wir uns damit schmeicheln können, wie Kant sagte, sie besser zu verstehen als sie sich selbst verstanden haben, und schließlich, bis zu welchem Punkt die Philosophie die Beherrschung des Sinns ist. Zwischen uns und der Vergangenheit, zwischen uns und dem Orient, zwischen Philosophie und Religion werden wir jedesmal von neuem lernen müssen, eine Brücke über die trennende Kluft zu spannen und die indirekte Einheit wiederzufinden, und der Leser wird erneut
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jene Fragestellung erkennen, die wir anfangs formuliert hatten: Denn sie ist kein Vorwort zur Philosophie, sie ist die Philosophie selbst. II. Der Orient und die Philosophie Ist jene immense Denkliteratur, die für sich allein einen Band beanspruchen müßte, wirklich Teil der ›Philosophie‹? Ist es möglich, sie dem gegenüberzustellen, was das Abendland mit diesem Namen bezeichnet? Die Wahrheit ist in ihr nicht wie der Horizont einer unendlichen Serie von Nachforschungen enthalten, auch nicht wie eine Eroberung und ein intellektueller Besitz des Seins. Sie gleicht eher einem Schatz, der vor jeder Philosophie im menschlichen Leben verteilt und nicht einzelnen Lehren zugeteilt ist. Das Denken fühlt sich nicht dadurch beschwert, die vorangegangenen Versuche weiter vorantreiben oder sich sogar gegen sie entscheiden oder noch weniger, mit der Herausbildung einer neuen Idee des Gesamten über sie hinausgehen zu müssen. Es ergibt sich wie ein Kommentar und Synkretismus, wie ein Echo und eine Versöhnung. Das Alte und das Neue, die entgegengesetzten Lehren schließen sich zusammen, und der profane Leser erkennt nicht, daß hierin etwas Erworbenes oder Abgeschlossenes liegt; er hat das Gefühl, in einer magischen Welt zu stehen, in der nichts je ein Ende findet, in der die Gedanken nach ihrem Tod fortdauern und in der jene Gedanken, die man für unvereinbar hielt, sich miteinander vermischen. Sicherlich müssen wir hierbei unsere eigene Unwissenheit berücksichtigen: Wenn wir das abendländische Denken mit derselben Überheblichkeit und mit demselben Abstand betrachten wie das indische oder chinesische Denken, dann würde es uns vielleicht ebenso den Eindruck eines Wiederkäuens, einer ewigen Neuinterpretation, eines heuchlerischen Verrats und eines unfreiwilligen und keiner bestimmten Richtung folgenden Wechselns vermitteln. Dennoch dauert dieses Gefühl gegenüber dem Orient bei den Kennern an. Masson-Oursel sagte über Indien: »Wir haben es hier mit einer unermeßlichen, auf jede Einheit
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verzichtenden Welt zu tun, in der nichts zu einem beliebigen Zeitpunkt in einer völlig neuen Art und Weise erscheint, in der aber auch nichts von dem, was man ›überholt‹ glaubte, ganz beseitigt wird, es ist ein Chaos menschlicher Gruppierungen, ein undurchdringlicher Dschungel verschiedener Religionen, ein Gewimmel von Lehren.« Ein zeitgenössischer chinesischer Autor schreibt3: »In bestimmten philosophischen Schriften, wie jenen von Mencius oder Hsün-Tse, findet man Räsonnements und systematische Argumente. Im Vergleich zu den Schriften des Abendlandes sind sie aber noch nicht deutlich genug herausgearbeitet. Es ist eine Tatsache, daß die chinesischen Philosophen die Angewohnheit hatten, sich in Form von Aphorismen und Apophthegmen oder Anspielungen und Lehrfabeln auszudrücken […] Die Worte und Schriften der chinesischen Philosophen sind so unartikuliert, daß ihre Suggestionskraft grenzenlos bleibt […] Die kurzen Sentenzen der Gespräche von Konfuzius und der Philosophie von Lao-Tse sind nicht einfach nur Schlußfolgerungen, deren Prämissen verlorengegangen sind […] Man kann alle im Lao-Tse enthaltenen Ideen zusammentragen und sie in einem neuen Buch von fünftausend oder sogar fünfhunderttausend Wörtern notieren. Unabhängig davon, ob es gut oder schlecht gemacht ist, wird es sich doch um ein neues Buch handeln. Man wird es Seite für Seite mit dem originalen Lao-Tse vergleichen können; und es wird vielleicht in hohem Maße dazu beitragen, ihn zu verstehen, aber es wird ihn nie ersetzen können. Kuo-Hsiang ist einer der großen Kommentatoren von Tschuang-Tse. Sein Kommentar zählt selbst zu den klassischen Büchern der taoistischen Literatur. Er überträgt die Anspielungen und Metaphern Tschuang-Tses in Form von Schlußfolgerungen und Argumenten […] Zwischen dem suggestiven Stil Tschuang-Tses und dem artikulierten Stil Kuo-Hsiangs bleibt jedoch die Frage offen, welcher von beiden nun der bessere sei? Ein Mönch der buddhistischen Ch’an- oder Zenschule einer späteren Zeit äußert einmal: ›Alle sagen, Kuo-Hsiang hat einen Kommentar zu Tschuang-Tse 3
Fong Yeou-Lan, Précis d’histoire de la philosophie chinoise, S. 32-35.
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geschrieben; ich würde allerdings behaupten, Tschuang-Tse ist es, der einen Kommentar zu Kuo-Hsiang geschrieben hat‹.« Gewiß haben die christlichen Themen während der letzten zwanzig Jahrhunderte der abendländischen Philosophie Bestand gehabt. Und noch einmal sei betont, daß man sich vielleicht, wie bemerkt wurde,4 inmitten einer Zivilisation befinden muß, um unter dem Anschein der Stagnation die Bewegung und die Geschichte wahrzunehmen. Dennoch ist es schwierig, die Dauer des Christentums im Abendland und die des Konfuzianismus in China einem Vergleich zu unterziehen. Das unter uns fortdauernde Christentum ist keine Philosophie; es ist die Erzählung und das Nachdenken über eine Erfahrung, über einen Komplex rätselhafter Ereignisse, die von sich aus verschiedene philosophische Ausarbeitungen nach sich ziehen und die in der Tat nicht aufgehört haben, Philosophien entstehen zu lassen, selbst wenn einer von ihnen ein Privileg zugestanden wurde. Die christlichen Themen sind Fermente, keine Reliquien. Haben wir nichts, das dem Gewimmel der Apokryphen in der konfuzianischen Tradition vergleichbar wäre, dem Durcheinander an Themen im Neotaoismus des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr., jenen verrückten Unternehmen einer vollständigen Bestandsaufnahme und einer Versöhnung, denen sich Generationen chinesischer Schriftgelehrter gewidmet haben, jener philosophischen Orthodoxie, die von Tschu-Hi (1130-1200) bis zur Abschaffung der Untersuchungen im Jahr 1905 andauerte? Und hat, wenn man sich auf den Inhalt dieser Lehren bezieht – wie man es tun sollte, da die äußeren Formen der chinesischen Philosophie auch die Beziehung des Menschen zur Welt zum Ausdruck bringen wollen –, je eine abendländische Lehre eine so rigorose Übereinstimmung von Mikrokosmos und Makrokosmos vertreten, die für jedes Ding und jeden Menschen, sogar ohne die Ausflucht der stoischen Verachtung, einen Platz und einen Namen festlegte, die ihre Namen wären, und die die ›Verbesserung‹ als Kardinaltugend definiert hätte? Man hat das Gefühl, daß die chinesischen Philosophen die 4
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eigentliche Idee des Verstehens oder der Erkenntnis nicht so auffassen wie die abendländischen Philosophen, daß sie sich keine intellektuelle Genese des Objekts vornehmen, daß sie es nicht zu begreifen suchen, sondern in seiner ursprünglichen Perfektion lediglich in Erinnerung rufen; und aus diesem Grund legen sie uns bestimmte Gedanken nahe, aus diesem Grund können wir bei Ihnen den Kommentar nicht vom Kommentierten unterscheiden, das Umhüllende vom Umhüllten, das Bezeichnende vom Bezeichneten; aus diesem Grund ist bei ihnen der Begriff ebenso eine Anspielung auf den Aphorismus wie der Aphorismus eine Anspielung auf den Begriff ist. Wenn dies wahr ist, wie könnte man dann, in dieser unartikulierten Ontologie und Zeit, ein Profil, ein Werden, eine Geschichte entdecken? Wie könnte man den Beitrag jedes einzelnen Philosophen umreißen, wenn doch alle um dieselbe uralte Welt kreisen, die sie nicht zu denken suchen, sondern nur vergegenwärtigen wollen? Die Beziehung des chinesischen Philosophen zur Welt ist eine Faszination, und man kann ihr nicht zur Hälfte folgen: Entweder man macht sich mit ihr vertraut – mittels der Geschichte, der Sitten und der Kultur –, und die chinesische Philosophie wird dann zu einer der übergeordneten Strukturen dieses historischen Wunders, bleibt jedoch ohne innere Wahrheit. Oder aber man muß darauf verzichten, sie zu verstehen. Wie alles, was der Mensch hervorbringt oder errichtet, so wecken auch Indien und China ein immenses Interesse. Wie alle Institutionen, so erwarten aber auch diese von uns die Einsicht in ihren wahren Sinn; sie geben ihn uns nicht vollständig. China und Indien sind nicht im Vollbesitz dessen, was sie sagen. Um Philosophien zu haben, fehlt es ihnen am Bemühen, sich selbst und den ganzen Rest zu erfassen … * Diese Bemerkungen, die heute banal erscheinen, führen allerdings zu keiner Lösung des Problems. Sie stammen von Hegel. Er ist es, der auf die Idee kam, den Orient zu ›überwinden‹, indem man ihn ›versteht‹; er ist es, der dem Orient die abend-
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ländische Idee der Wahrheit gegenübergestellt hat, die Idee des Begriffs als einer vollständigen Wiederaufnahme der Welt in ihrer Verschiedenartigkeit, und der den Orient als ein Scheitern in selbigem Bemühen definiert hat. Es lohnt sich, den Wortlaut dieser Verurteilung noch einmal in Erinnerung zu rufen, bevor wir entscheiden, ob wir sie auf unsere Rechnung nehmen können. Das orientalische Denken ist für Hegel sehr wohl Philosophie, und zwar in dem Sinne, daß der Geist dabei lernt, sich vom Schein und von der Eitelkeit loszusagen. Wie viele andere Wunderlichkeiten der menschlichen Welt, wie etwa die Pyramiden, so ist dieses Denken aber nur Philosophie an sich, das heißt der Philosoph erkennt in ihm die Ankündigung des Geistes, der darin nicht in seinem bewußten oder reinen Zustand gegeben ist. Denn der Geist ist noch nicht Geist, sobald er sich von den Erscheinungen getrennt und sich über sie erhoben hat: Dieses abstrakte Denken findet sein Gegenstück im Überfluß der ungezügelten Erscheinungen. Einerseits hat man also eine Intuition, ›die nichts sieht‹, ein Denken, ›das nichts denkt‹, das immaterielle Eine, die ewige, ruhige und unermeßliche Substanz, eine mit nichts vergleichbare Andacht, den mystischen Namen Gottes, die Silbe om, unendlich gemurmelt – das heißt die Unbewußtheit und die Leere. Und andererseits eine Masse absurder Details, abgeschmackte Zeremonien, unendliche Bestandsaufnahmen, unmäßige Aufzählungen, eine raffinierte Technik des Körpers, der Atmung und der Sinne, von denen man sich irgendetwas erwartet, das Erahnen der Gedanken des Anderen, die Stärke des Elefanten, den Mut des Löwen und die Schnelligkeit des Windes. Bei den Fakiren – wie bei den Zynikern Griechenlands und bei den Bettelmönchen des Christentums – findet man eine ›tiefe Abstraktion der äußeren Beziehungen‹, die aber selbst provozierend, seherisch und pittoresk ist. Nirgends gibt es eine Vermittlung oder einen Übergang vom Inneren zum Äußeren und eine Rückkehr vom Äußeren zu sich selbst. Indien kennt nicht ›das Strahlen des Begriffs im Endlichen‹, und dies ist der Grund, warum jene Ahnung des Geistes in ›Kinderei‹ endet.5
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China wiederum hat eine Geschichte; es unterscheidet Barbarei von Kultur und schreitet selbstsicher von der einen zur anderen fort, aber es ist ›eine Kultur‹, die sich innerhalb ihres Prinzips festigt‚ und die sich nicht darüber hinaus entwickelt. Auf einer anderen Ebene als Indien bewahrt China die unmittelbare und lähmende Gegenüberstellung des Inneren mit dem Äußeren, des Universalen mit einer prosaischen Wahrheit, und man sieht, wie China das Geheimnis der Welt in einem Schildkrötenpanzer sucht und eine kleinliche und ohne jede moralische Kritik betriebene Rechtspraxis pflegt. ›Es wird einem Europäer nie in den Sinn kommen, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge so sehr in die Nähe der Abstraktion zu rücken.‹6 Das Denken geht ohne Gewinn von der Abstraktion zum Wahrnehmbaren über und kann während dieser Zeit nicht werden, nicht reifen. Wir können nicht einmal sagen, fügt Hegel hinzu, das orientalische Denken sei eine Religion; es ist der Religion in unserem Sinne ebenso fremd wie der Philosophie, und dies aus denselben Gründen. Die Religion des Abendlandes beruht auf der Annahme eines »Prinzips der Freiheit und der Individualität«; sie ist durch die Erfahrung der »denkenden Subjektivität« und des Geistes bei seiner Arbeit an der Welt hindurchgegangen. Das Abendland hat gelernt, daß es für den Geist dasselbe ist, sich zu begreifen und aus sich hinauszugehen, sich hervorzubringen und sich zu verneinen. Das orientalische Denken zieht diese realisierende Negation nicht einmal in Erwägung; es entzieht sich dem Zugriff der Kategorien, ist weder Theismus noch Atheismus, weder Religion noch Philosophie. Brahma, Vishnu und Shiva sind keine Individuen, aber auch nicht die Chiffre oder das Emblem fundamentaler menschlicher Befindlichkeiten, und was Indien über sie erzählt, hat nicht das unerschöpfliche Bedeutungsvermögen der griechischen Mythen oder der christlichen Gleichnisse. Es sind beinahe Entitäten oder Philosopheme, und die Chinesen bilden sich ein, die am wenigsten durch Religion und am stärksten durch Philo5 6
Hegel: Geschichte der Philosophie. Ebd.
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sophie geprägte Zivilisation zu haben, die man sich denken kann. Tatsächlich ist sie nicht philosophischer als sie religiös ist, da sie die Arbeit des Geistes in Berührung mit der unmittelbaren Welt nicht kennt. Das orientalische Denken ist also ursprünglich: Es erschließt sich uns nur dann, wenn wir die abschließenden Formen unserer Kultur außer Acht lassen. In unserer individuellen oder kollektiven Vergangenheit finden wir jedoch die Mittel, es zu verstehen; es liegt in jenem unbestimmten Bereich, in dem es noch keine Religion und noch keine Philosophie gibt; es ist die Sackgasse des unmittelbaren Geistes, die wir vermeiden konnten. Auf diese Weise überwindet Hegel das orientalische Denken, indem er es als ein abweichendes oder atypisches Denken dem wahren Werden des Geistes einverleibt. Diese Ansichten Hegels finden sich nicht überall: Wenn man das Abendland anhand der Erfindung der Wissenschaft oder des Kapitalismus definiert, dann ist es stets Hegel, von dem man sich beeinflussen läßt; denn der Kapitalismus und die Wissenschaft können eine Zivilisation nur dann definieren, wenn man sie als ›innerweltliche Askese‹ oder als ›Arbeit des Negativen‹ versteht, und dem Orient wirft man stets vor, beides nicht gekannt zu haben. In aller Deutlichkeit ist das Problem also folgendes: Hegel und seine Anhänger gestehen dem orientalischen Denken nur unter den Umständen eine philosophische Würde zu, daß sie es wie eine ferne Annäherung an den Begriff behandeln. Unsere Vorstellung vom Wissen ist so anspruchsvoll, daß sie jeden anderen Denktypus vor die Wahl stellt, sich diesem Wissen entweder wie ein erster Entwurf des Begriffs unterzuordnen, oder aber sich selbst als vernunftwidrig herabzuwürdigen. Allerdings stellt sich die Frage, ob wir, wie Hegel, nach diesem absoluten Wissen, diesem konkreten Allgemeinen, zu dem sich der Orient den Zugang versperrt hat, streben können. Wenn wir es nicht tatsächlich besitzen, dann müssen wir unsere ganze Bewertung anderer Kulturen revidieren. * Selbst am Ende seiner Karriere, als er gerade die Krisis des abendländischen Wissens entwirft, schreibt Husserl, daß »China […]
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Indien […] empirische oder anthropologische Typen«7 seien. Er scheint also Hegels Weg fortzusetzen. Wenn er die abendländische Philosophie jedoch weiterhin privilegiert, so geschieht dies nicht aufgrund eines ihr zugesprochenen Rechtes und als verfüge sie mit absoluter Evidenz über die Prinzipien jeder möglichen Kultur – sondern im Namen einer Tatsache und mit dem Ziel, ihr eine Aufgabe zu übertragen. Husserl hat eingeräumt, daß jedes Denken an einer historischen Gesamtheit oder einer ›Lebenswelt‹ teilhat; daß alle Denkformen also im Prinzip ›anthropologische Muster‹ sind und keine über besondere Rechte verfügt. Er räumt auch ein, daß die sogenannten primitiven Kulturen bei der Erforschung der ›Lebenswelt‹ eine wichtige Rolle spielen, weil sie uns Variationen dieser Welt anbieten, ohne die wir in unseren Vorurteilen gefangen blieben und nicht einmal den Sinn unseres eigenen Lebens erkennen könnten. Gerade jene Tatsache bleibt jedoch bestehen, daß das Abendland eine Vorstellung der Wahrheit erfunden hat, die es in die Pflicht nimmt und die ihm erlaubt, die anderen Kulturen zu verstehen und sie folglich als Momente einer vollständigen Wahrheit in seinen Dienst zu stellen. Tatsächlich hat es jenes seltsame In-sich-gehen einer historischen Entwicklung gegeben, das es dem abendländischen Denken ermöglicht hat, in seiner Besonderheit und seiner ›Lokalität‹ zum Vorschein zu kommen. Eine Präsumtion und Intention, die noch auf ihre Erfüllung warten. Wenn das abendländische Denken das ist, was es zu sein vorgibt, dann muß es den Beweis durch das Verständnis aller ›Lebenswelten‹ antreten, muß es mittels der Tat seine einzigartige Bedeutung über die ›anthropologischen Muster‹ hinaus belegen. Die Idee einer Philosophie als ›strenger Wissenschaft‹ – oder als absolutem Wissen – taucht also wieder auf, von nun an jedoch mit einem Fragezeichen. Husserl sagte in seinen letzten Lebensjahren: »Die Philosophie als strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt.«8 Der Philosoph kann 7 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Französische Übersetzung, Les Études Philosophiques, April-Juni 1949, S. 140.
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sich nicht mehr bewußt auf ein absolut radikales Denken berufen oder sich den intellektuellen Besitz der Welt und die Strenge des Begriffs anmaßen. Seine Aufgabe liegt weiterhin in der Überprüfung seiner selbst und alles anderen, aber er hat sie zugleich nie beendet, da er sie von nun an durch das Feld der Phänomene hinweg verfolgen muß, bei dem ihm kein formales a priori von vornherein die Herrschaft zusichert. * Husserl hatte es verstanden: Unser philosophisches Problem liegt darin, den Begriff zu erweitern, ohne ihn zu zerstören. Es gibt im abendländischen Denken etwas Unersetzbares: Das Bemühen um die begriffliche Vorstellung, die Strenge des Begriffs bleiben beispielhaft, selbst wenn sie das Existierende nie erschöpfend behandeln können. Eine Kultur bewertet man anhand ihres Grades an Transparenz, anhand des Bewußtseins, das sie von sich selbst und von den anderen hat. In dieser Hinsicht bleibt das Abendland (im weitesten Sinne) ein Bezugssystem: Es ist das Abendland, das die theoretischen und praktischen Mittel einer Bewußtwerdung erfunden hat, das den Weg der Wahrheit eröffnet hat. Aber dieser Besitz seiner selbst und des Wahren, den nur das Abendland thematisiert hat, streift gleichwohl die Träume anderer Kulturen, und im Abendland selbst ist er nicht vollkommen. Was wir über die historischen Beziehungen Griechenlands zum Orient und umgekehrt gelernt haben, all das, was wir an ›Abendländischem‹ im orientalischen Denken entdeckt haben (eine Sophistik, einen Skeptizismus, Elemente der Dialektik und der Logik), verbietet uns, eine geographische Grenze zwischen der Philosophie und der Nicht-Philosophie zu ziehen. Die reine oder absolute Philosophie, in deren Namen Hegel den Orient ausschließt, schließt auch ein gut Teil der abendländischen Vergangenheit aus. Vielleicht würde dieses Kriterium sogar, streng angewendet, nur Hegel gegenüber Gnade walten lassen. 8
Husserliana, Bd. VI, S. 508.
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Und da insbesondere das Abendland, wie Husserl es formulierte, seinen Wert als ›historische Entelechie‹ durch neue Schöpfungen rechtfertigen muß, da auch das Abendland eine historische Schöpfung ist, allein der beschwerlichen Aufgabe verschrieben, die anderen zu verstehen, liegt seine eigentliche Bestimmung darin, Untersuchungen immer wieder im Hinblick auf seine Idee der Wahrheit und des Begriffs zu führen, und all jene Institutionen – die Wissenschaften, den Kapitalismus und, wenn man so will, den Ödipuskomplex – zu prüfen, die direkt oder indirekt mit seiner Philosophie verwandt sind. Eine derartige Analyse dient nicht notwendigerweise dazu, diese Institutionen zu zerstören, sondern dazu, der Krise, die sie durchlaufen, entgegenzutreten und die Quelle wiederzufinden, der sie entspringen und der sie ihre lange Blüte verdanken. Unter diesem Aspekt erhalten die Zivilisationen, die nicht über unsere philosophische oder ökonomische Ausstattung verfügen, wieder den Wert einer Lehre. Es geht nicht darum, sich in dem auf die Suche nach der Wahrheit oder dem Heil zu begeben, was diesseits der Wissenschaft oder des philosophischen Bewußtseins liegt, und auch nicht darum, in unserer Philosophie mythische Versatzstücke zu befördern; wir müssen vielmehr, angesichts dieser Variationen des Menschlichen, von denen wir so weit entfernt sind, den Sinn der theoretischen und praktischen Probleme gewinnen, mit denen unsere Institutionen konfrontiert sind, das Feld des Daseins wiederentdecken, in dem sie entstanden sind und das uns ihr langer Erfolg vergessen ließ. Die ›Kinderei‹ des Orients hat uns etwas zu sagen, und sei es nur die Enge unserer Ideen als Erwachsene. Zwischen Orient und Okzident, wie zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, besteht nicht etwa eine Beziehung der Unwissenheit zum Wissen, der Nicht-Philosophie zur Philosophie; der Umgang miteinander ist weitaus subtiler, er gesteht seitens des Orients alle Antizipationen, alle ›vorzeitigen Reifeprozesse‹ zu. Die Einheit des menschlichen Geistes wird sich nicht durch einen einfachen Anschluß und eine Unterordnung der ›Nicht-Philosophie‹ unter die wahre Philosophie herstellen lassen. Es gibt diese Einheit bereits in den lateralen Beziehungen
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jeder Kultur zu den anderen Kulturen, in den Echos, die eine Kultur in der anderen auslöst. Was uns die Reisenden über ihre Berührung mit fremden Zivilisationen erzählen, das müßte man auf das Problem der philosophischen Universalität anwenden. Die Fotografien aus China vermitteln uns den Eindruck eines undurchdringlichen Universums, wenn sie sich auf das Pittoreske beschränken – das heißt, wenn sie sich auf unseren Bildausschnitt und unsere Idee von China beschränken. Sofern jedoch, im Gegensatz dazu, eine Fotografie einfach versucht, die Chinesen in ihrem Lebenszusammenhang zu erfassen, beginnen die Chinesen paradoxerweise für uns lebendig zu werden, und wir verstehen sie. In den Lehren selbst, die sich dem Begriff zu widersetzen scheinen, fänden wir, wenn wir sie in ihrem historischen und menschlichen Zusammenhang begreifen könnten, eine Spielart der Beziehungen des Menschen zum Sein, die uns Aufschluß geben würde über uns selbst, im Sinne einer verborgenen Universalität. Die Philosophien Indiens und Chinas haben weniger versucht, das Dasein zu beherrschen, als vielmehr das Echo oder der Resonator unserer Beziehung zum Sein zu sein. Die abendländische Philosophie kann von ihnen lernen, die Seinsbeziehung, die anfängliche Option, aus der sie hervorgegangen ist, wiederzufinden und das Ausmaß der Möglichkeiten abzuschätzen, die wir uns genommen haben, als wir ›abendländisch‹ wurden, und vielleicht kann sie uns diese Möglichkeiten wieder erschließen. Aus diesem Grunde sollten wir also dem Orient im Museum der berühmten Philosophen seinen Auftritt gewähren, und aus diesem Grunde, da wir ihm nicht den ganzen Platz einräumen können, den eine detaillierte Studie benötigen würde, haben wir den allgemeinen Ideen einige etwas genauere Ausführungen vorgezogen, in denen der Leser vielleicht den geheimen, den versteckten Beitrag des Orients zur Philosophie erkennen kann.
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III. Christentum und Philosophie
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Die Konfrontation mit dem Christentum ist eine der Prüfungen, bei denen die Philosophie ihr Wesen am deutlichsten offenbart. Nicht etwa, weil es einerseits ein einmütiges Christentum, andererseits eine einmütige Philosophie gäbe. Ganz im Gegenteil: Was auffällig war in der berühmten Diskussion, die vor fünfundzwanzig Jahren über dieses Thema geführt wurde,9 ist die Tatsache, daß man hinter dem Streit über den Begriff einer christlichen Philosophie oder über die Existenz christlicher Philosophien eine andere, viel tiefgreifendere Debatte über die Natur der Philosophie erahnte, und daß weder die Christen noch die Nichtchristen hierbei alle auf einer Seite standen. E. Gilson und J. Maritain sagten, die Philosophie sei nicht ihrem Wesen nach christlich, sondern allein ihrem Zustand nach, aufgrund der in derselben Zeit und letztlich in demselben Menschen erfolgenden Durchmischung des Denkens mit dem religiösen Leben, und in dieser Hinsicht waren sie nicht so weit von E. Bréhier entfernt, der die Philosophie als strenges Begriffssystem vom Christentum als Offenbarung einer übernatürlichen Geschichte des Menschen unterschied und seinerseits daraus schlußfolgerte, daß keine Philosophie als Philosophie christlich sein könne. Dagegen war L. Brunschvicg, der mit Pascal und Malebranche die Möglichkeit einer Philosophie einräumte, die zur Feststellung einer Unvereinbarkeit von Dasein und Idee und folglich ihrer eigenen Unzulänglichkeit gelangt, und die damit zum Christentum führt, als einer Interpretation des Menschen und der Welt, wie sie existieren, nicht so weit von M. Blondel entfernt, für den die Philosophie das Denken war, das bemerkt, daß es nichts ›abschließend‹ behandeln kann, wenn es in uns und außerhalb von uns eine Wirklichkeit auffindet und abtastet, deren Quelle nicht im philosophischen Bewußtsein liegt. Wenn ein bestimmter Punkt der Reife, der Erfahrung oder der Kritik über9 »La notion de philosophie chrétienne«, Bulletin de la Société française de Philosophie. Sitzung vom 21. März 1931.
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schritten ist, dann ist es nicht mehr so sehr der Wortlaut oder die endgültige Formulierung ihrer Überzeugungen, welche die Menschen trennt oder zusammenführt, sondern vielmehr, ob sie nun Christen sind oder nicht, die Art und Weise, wie sie mit ihrer eigenen Dualität umgehen und in sich selbst die Beziehungen des Begrifflichen und des Wirklichen organisieren. Die eigentliche Frage, die der Diskussion um die christliche Philosophie zugrunde liegt, ist die Frage nach der Beziehung von Wesen und Dasein. Werden wir ein Wesen der Philosophie gelten lassen, ein rein philosophisches Wissen, das im Menschen einen Kompromiß mit dem Leben (in diesem Fall: mit dem religiösen Leben) eingegangen ist, aber dennoch bleibt, was es ist, streng und direkt mitteilbar, ein ewiges Wort, das jedem diese Welt betretenden Menschen Aufklärung verschafft, oder werden wir im Gegenteil behaupten, die Philosophie sei radikal, gerade weil sie das anscheinend unmittelbar Mitteilbare, die verfügbaren Gedanken und die in Gestalt von Ideen gegebene Erkenntnis untergräbt und zwischen den Menschen wie auch zwischen den Menschen und der Welt eine Verbindung offenbart, die der Idealität vorangeht und sie begründet? Daß diese Frage die christliche Philosophie beherrscht, läßt sich anhand der Umwege nachweisen, die sie in der Diskussion von 1931 genommen hat. Die einen, die in der Ordnung der Prinzipien, der Begriffe und des Möglichen von der Autonomie der Philosophie und der Religion ausgehen, räumen, wenn sie sich den Fakten oder der Geschichte zuwenden, einen religiösen Beitrag zur Philosophie ein, sei es die Idee einer Schöpfung, der Vorstellung einer unendlichen Subjektivität oder der Idee einer Entwicklung und Geschichte. Es gibt also, ungeachtet der Wesenheiten, einen Austausch zwischen der Religion und der Vernunft, was die Frage insgesamt neu stellt, denn letztlich muß man zugestehen, wenn eine Glaubenssache zu denken geben kann (es sei denn, der Glaube ist hierbei nur die Gelegenheit zu einer Bewußtwerdung, die ohne das Bewußtsein möglich ist), daß der Glaube bestimmte Seiten des Seins enthüllen kann, die das Denken, das diese Seiten nicht kennt, nicht ›abschließend‹ behandelt,
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und daß sich diese ›nicht gesehenen Dinge‹ des Glaubens und die Evidenzen der Vernunft nicht wie zwei Bereiche abgrenzen lassen. Wenn man sich im Gegenteil mit E. Bréhier geradewegs auf die Geschichte bezieht, um zu zeigen, daß es keine Philosophie gegeben hat, die christlich gewesen wäre, so gelangt man nur dann zu diesem Schluß, wenn man die hinderlichen Begriffe christlichen Ursprungs als philosophiefremd zurückweist oder um jeden Preis nach älteren, außerhalb des Christentums geprägten Begriffen sucht, womit hinreichend bewiesen wäre, daß man sich hier auf eine gemäß der Idee philosophischer Immanenz vorbereiteten und gespaltenen Geschichte bezieht. Daher stellt man entweder eine Tatsachenfrage, aber auf dem Gebiet der ›reinen‹ Geschichte kann die christliche Philosophie nur in ganz nomineller Weise bestätigt oder bestritten werden, und das vermeintliche Tatsachenurteil wird nur dann kategorisch sein, wenn es eine begriffliche Vorstellung der Philosophie einschließt. Oder aber man stellt die Frage offen im Wortlaut der Wesenheiten, und in diesem Fall muß man alles noch einmal beginnen, wenn man von dort aus zur Ordnung der Mischformen und der existierenden Philosophien übergeht. In beiden Fällen verfehlt man das Problem, das nur für ein historisch-systematisches Denken existiert, welches in der Lage ist, unter den Wesenheiten zu graben, zwischen ihnen und den Tatsachen hin und her zu gehen, die Wesenheiten aufgrund der Tatsachen anzufechten und die ›Tatsachen‹ wiederum aufgrund der Wesenheiten, und insbesondere seine eigene Immanenz in Frage zu stellen. * Für dieses ›offene‹ Denken ist die Frage in gewisser Hinsicht, sobald sie gestellt wurde, gelöst. Da es seine ›Wesenheiten‹ als solche nicht für das Maß aller Dinge hält, da es nicht so sehr an Wesenheiten als vielmehr an Bedeutungsknoten glaubt, die in einem neuen Netz des Wissens und der Erfahrung gelöst und wieder anders geknüpft werden und die nur als Vergangenheit dieses Denkens fortdauern werden, sieht man nicht, worauf sich jenes freitragende Denken berufen könnte, um allen indirekten oder
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imaginativen Ausdrucksweisen den Titel einer Philosophie zu verweigern und ihn den Lehren eines zeitlosen und immanenten Wortes vorzubehalten, die ihrerseits über aller Geschichte stünden. Es gibt folglich ganz sicher eine christliche Philosophie, so wie es eine romantische oder eine französische Philosophie gibt, und zwar in einem wesentlich umfassenderen Sinne, da sie über jene beiden Philosophien hinaus alles enthält, was seit zwanzig Jahrhunderten im Abendland gedacht wurde. Wie könnte man dem Christentum solche Ideen wie die der Geschichte, der Subjektivität, der Inkarnation oder der positiven Endlichkeit wegnehmen, um sie ohne einen bestimmten Geburtsort einer ›universalen‹ Vernunft zuzuschreiben? … Was dadurch nicht entschieden ist – und das wahre Problem der christlichen Philosophie ausmacht –, ist die Beziehung dieses institutionalisierten Christentums, als einem geistigen Horizont oder einer Matrix der Kultur, zum tatsächlich gelebten und in einem positiven Glauben praktizierten Christentum. Einen Sinn und einen unermeßlichen historischen Verdienst des Christentums anzuerkennen ist jedoch etwas anderes als es persönlich anzunehmen. Ja zu sagen zum Christentum als einer kulturellen oder zivilisatorischen Tatsache bedeutet, ja zu sagen zum Hl. Thomas, aber auch zum Hl. Augustinus und zu Ockham, zu Nikolaus von Kues, zu Pascal und zu Malebranche, und diese Zustimmung kostet uns nur einen Bruchteil der Mühe, die jeder von ihnen auf sich nehmen mußte, um selbst keine Schwäche zu zeigen. Die Kämpfe, die sie, mitunter einsam und bis in den Tod hinein, ausgefochten haben, verwandelt das philosophische und historische Bewußtsein in das wohlmeinende Universum der Kultur. Aber gerade weil er sie alle versteht, ist der Philosoph oder der Historiker keiner von ihnen. Im übrigen widmet der Historiker einer Tonscherbe dieselbe Aufmerksamkeit und dieselbe grenzenlose Beachtung wie etwa unbestimmten Träumereien oder absurden Ritualen. Für ihn geht es nur darum, zu wissen woraus die Welt besteht und wozu der Mensch fähig ist, aber nicht darum, sich für diese Behauptung verbrennen oder für jene Wahrheit ermorden zu lassen. Das Christentum, das unsere
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Philosophie durchzieht, ist für den Philosophen das auffälligste Sinnbild der Überwindung seiner selbst durch sich selbst. Für ihn selbst ist das Christentum kein Symbol, sondern die Wahrheit. In gewisser Hinsicht ist die Spannung zwischen dem Philosophen, der alles im Sinne einer menschlichen Fragestellung versteht, und der strengen und tiefgründigen Praxis der Religion, die er ›versteht‹, größer (weil der Abstand geringer ist) als zwischen einem Rationalismus, der die Welt zu erklären vorgab, und einem Glauben, der in seinen Augen nur Nicht-Sinn war. Es gibt also erneut einen Konflikt zwischen Philosophie und Christentum, aber es ist ein Konflikt, den wir innerhalb der christlichen Welt und in jedem Christen als Konflikt des ›verstandenen‹ und des gelebten Christentums, des Universalen und der Option wiederfinden. Er findet sich ebenso innerhalb der Philosophie, wenn sie sich am Manichäismus des Engagements stößt. Die komplexe Beziehung von Philosophie und Christentum würde man nur dann entdecken, wenn man ein Christentum und eine Philosophie miteinander vergliche, die in ihrem Inneren beide von demselben Widerspruch durchzogen sind. Der ›thomistische Frieden‹ und der ›cartesianische Frieden‹, die unschuldige Koexistenz von Philosophie und Christentum, die als zwei positive Ordnungen oder zwei Wahrheiten aufgefaßt werden, verbergen vor uns immer noch den geheimen Konflikt jedes einzelnen mit sich selbst und mit dem anderen und die stürmischen Beziehungen, die daraus resultieren. Wenn die Philosophie eine Tätigkeit ist, die sich selbst genügt, die mit der Sorge um den Begriff beginnt und endet, und wenn der Glaube eine Zustimmung zu den nicht gesehenen und durch die geoffenbarten Texte dem Glauben anheimgegebenen Dinge ist, dann ist der Unterschied zwischen ihnen zu tiefgreifend, als daß es überhaupt zu einem Konflikt kommen könnte. Es wird erst einen Konflikt geben, wenn die rationale Entsprechung sich als erschöpfend erweisen wird. Wenn aber nur die Philosophie, jenseits all des Möglichen, über das sie urteilt, eine Ordnung der aktuellen Welt anerkennt, deren Zuschnitt auf die Erfahrung zurückgeht, und wenn man das durch Offenbarung Gegebene als
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eine übernatürliche Erfahrung auffaßt, dann gibt es keine Rivalität zwischen dem Glauben und der Vernunft. Das Geheimnis ihrer Übereinkunft liegt im unendlichen Denken, das in seinem Ersinnen des Möglichen und in seiner Erschaffung der aktuellen Welt jeweils dasselbe ist. Wir haben nicht zu allem von ihm Gedachten Zugang, und seine Dekrete sind uns nur aufgrund ihrer Auswirkungen bekannt. Wir sind also außerstande, die Einheit der Vernunft und des Glaubens zu verstehen. Sicher ist allerdings, daß sie bei Gott entsteht. Die Vernunft und der Glaube befinden sich auf diese Weise in einem indifferenten Gleichgewicht. Man war mitunter erstaunt zu sehen, wie Descartes, nachdem er so penibel das natürliche Licht der Erkenntnis bestimmt hatte, ohne Schwierigkeit ein anderes Licht der Erkenntnis akzeptierte, als ob sich nicht ab dem Augenblick, in dem es ihrer zwei gibt, zumindest eines im Verhältnis zum anderen verdunkeln würde. Diese Schwierigkeit ist jedoch nicht größer – und wurde nicht anders gelöst – als die Unterscheidung einzugestehen, die der Verstand zwischen der Seele und dem Leib trifft, und andererseits von ihrer substantiellen Einheit auszugehen: Es gibt den Verstand und seine souveränen Unterscheidungen, und es gibt den existierenden Menschen, den von der Vorstellungskraft gestützten und einem Leib verbundenen Verstand, den wir durch den Gebrauch des Lebens kennen, weil wir jener Mensch sind, und die beiden Ordnungen sind eine einzige, da derselbe Gott der Garant der Wesenheiten und die Grundlage unseres Daseins ist. Unsere Dualität wird in ihm gespiegelt und überwunden, ebenso wie die Dualität seines Verstandes und seines Willens. Wir haben nicht die Aufgabe, die Umstände dieses Vorgangs zu verstehen. Die absolute Transparenz Gottes gibt uns die Sicherheit der Tatsache, und wir können, wir müssen für unseren Teil den Unterschied der beiden Ordnungen respektieren und auf beiden Ebenen in Frieden leben. Dennoch ist dieses Konkordat nicht stabil. Wenn der Mensch wirklich beiden Ordnungen zugehörig ist, dann entsteht ihre Verbindung auch in ihm, und er muß etwas darüber wissen. Seine philosophischen Beziehungen zu Gott und seine religiösen
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Beziehungen müssen vom selben Typ sein. Die Philosophie und die Religion symbolisieren notwendigerweise. Hierin liegt, unseres Erachtens, die Bedeutung der Philosophie von Malebranche. Der Mensch kann nicht einerseits ›geistiger Automat‹ sein, andererseits das religiöse Subjekt, dem eine übernatürliche Einsicht zuteil wird. In seinem Verstand findet man die Strukturen und Diskontinuitäten des religiösen Lebens wieder. Der Verstand ist in der natürlichen Ordnung eine Art Kontemplation, er ist ein geistiges Erschauen Gottes. Selbst in der Ordnung des Wissens sind wir für uns selbst weder unser eigenes Licht noch die Quelle unserer Idee. Wir sind unsere Seele, aber wir haben keine Vorstellung von ihr; wir stehen mit ihr nur durch das Gefühl in einem dunklen Kontakt. Alles, was es dabei an klarer Einsicht und intentionalem Sein geben mag, beziehen wir aus unserer Teilhabe an Gott; wir besitzen nicht das begriffliche Vorstellungsvermögen, unsere ganze Initiative besteht im Hinblick auf die Erkenntnis darin – und genau das ist es, was man als ›Aufmerksamkeit‹ bezeichnet –, ein ›natürliches Gebet‹ an das göttliche Wort zu richten, das sich einzig und allein dazu verpflichtet hat, es stets zu erhören. Was uns gehört, ist jene Anrufung und der passive Beweis der erkennenden Ereignisse, die daraus hervorgehen – in den Worten von Malebranche die ›Wahrnehmung‹ und das ›Gefühl‹. Was ebenfalls uns gehört, ist jener aktuelle und lebhaftere Druck der intelligiblen Ausdehnung auf unsere Seele, der bewirkt, daß wir die Welt zu sehen glauben: Tatsächlich sehen wir die Welt nicht an sich, jene Erscheinung ist unsere Unkenntnis über uns selbst, über unsere Seele, über die Entstehung ihrer Modalitäten und all dessen, was es in der Erfahrung, die wir von der Welt haben, an Wahrem gibt, es ist die ursprüngliche Gewißheit einer aktuellen und über das, was wir sehen, hinaus existierenden Welt, in deren Abhängigkeit Gott uns sehen läßt, was wir sehen. Die kleinste sinnliche Wahrnehmung ist also bereits eine ›natürliche Offenbarung‹. Die natürliche Erkenntnis ist zwischen der Idee und der Wahrnehmung geteilt, wie das religiöse Leben zwischen dem Licht der Erkenntnis des mystischen Lebens und dem Zwielicht der geoffenbarten Texte. Was die Feststellung erlaubt, die
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Erkenntnis sei natürlich, ist allein der Umstand, daß sie Gesetzmäßigkeiten gehorcht und daß Gott, mit anderen Worten, nur durch allgemeine Willensbekundungen in sie eingreift. Immer noch handelt es sich nicht um ein absolutes Kriterium. Wenn die natürliche Erkenntnis aus religiösen Bezügen gewoben ist, dann imitiert das Übernatürliche im Gegenzug die Natur. Man kann eine Art Dynamik der göttlichen Gnade skizzieren, Gesetze oder eine Ordnung voraussehen, denen zufolge das inkarnierte Wort meist eine Mittlerrolle übernimmt. An die Stelle der Längsspaltung der Philosophie in den Bereich des reinen Verstandes und der geschaffenen und existierenden Welt, und in den Bereich der natürlichen oder übernatürlichen Erfahrung, setzt Malebranche eine Querspaltung, und er weist der Vernunft und der Religion dieselben typischen Strukturen der rationalen Einsicht und des Gefühls, des Idealen und des Realen zu. Die Begriffe der natürlichen Philosophie greifen auf die Theologie über, die religiösen Begriffe bemächtigen sich der natürlichen Philosophie. Man beschränkt sich nicht mehr darauf, an das für uns unbegreifliche Unendliche zu erinnern, in dem sich für uns unterschiedliche Ordnungen zusammenschließen würden. Die Artikulationen der Natur haben nur durch die Tat Gottes Bestand; beinahe alle Interventionen der göttlichen Gnade sind Regeln unterworfen. Jede Idee, die uns in den Sinn kommt, setzt Gott als Ursache voraus, und Gott als Licht der Erkenntnis ist in beinahe all seinen Willensäußerungen manifest. Nie war man näher am Augustinischen Programm: ›Die wahre Religion ist die wahre Philosophie‹ und ›die wahre Philosophie ist ihrerseits die wahre Religion.‹ Auf diese Weise versucht Malebranche, die Beziehung von Religion und Philosophie zu denken, anstatt sie wie eine Tatsache hinzunehmen, über die es nichts zu sagen gibt. Kann jedoch die Identität die Formel dieser Beziehung sein? Wenn man sie als widersprüchlich begreift, können Vernunft und Glaube mühelos nebeneinander bestehen. Sobald man sie jedoch gleichsetzt, treten sie ebenso und umgekehrt zueinander in Rivalität. Zwischen der natürlichen Offenbarung und dem natürlichen Gebet, die allen gehören, und der Offenbarung und dem übernatürli-
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chen Gebet, die zunächst nur einigen wenigen zuteil wurden, zwischen dem ewigen Wort und dem inkarnierten Wort, zwischen dem Gott, den wir sehen, sobald wir die Augen öffnen, und dem Gott der Sakramente und der Kirche, den es durch das übernatürliche Leben zu gewinnen und zu verdienen gilt, zwischen dem göttlichen Architekten, den man in seinen Werken erahnen kann, und dem Gott der Liebe, den man nur im blinden Wahn des Opfers erreicht, unterstreicht die Gemeinsamkeit der Kategorien nur ihre Unvereinbarkeit. Es ist diese Unvereinbarkeit selbst, die man thematisieren müßte, wenn man eine christliche Philosophie aufstellen wollte, in ihr müßte man die Artikulation des Glaubens und der Vernunft suchen. Wodurch man sich von Malebranche entfernen, sich aber auch von ihm inspirieren lassen würde: Denn wenn er einen Teil der rationalen Einsicht auf die Religion überträgt und sie im Extremfall in einem einzigen Universum des Denkens miteinander gleichsetzt, wenn er die Positivität des Verstandes auf die Religion ausdehnt, so kündigt er auch das Eindringen der religiösen Umkehrungen in unser rationales Sein an; er führt damit das paradoxe Denken eines Wahns ein, der Weisheit ist, eines Skandals, der Frieden ist, eines Geschenkes, das Verdienst ist. Welcher Art wäre also die Beziehung zwischen Philosophie und Religion? Maurice Blondel schrieb: »Die Philosophie gräbt in sich und vor sich einen Hohlraum, der nicht nur für ihre späteren Entdeckungen und auf ihrem eigenen Gebiet vorbereitet wurde, sondern vielmehr für Einsichten und Beiträge, die von ihr verschieden sind und deren tatsächlicher Ursprung sie nicht werden kann.« Die Philosophie läßt verschiedene Mängel erkennen, ein dezentriertes Sein, die Erwartung einer Überwindung; sie bereitet, ohne sie zu benötigen und ohne sie vorauszusetzen, positive Optionen vor. Sie ist das Negativ eines bestimmten Positivs, nicht irgendeine Leerstelle, sondern das Fehlen genau dessen, was der Glaube beitragen wird, und zwar kein verborgener Glaube, sondern die allgemein feststellbare Prämisse eines Glaubens, der frei bleibt. Vom einen zum anderen gelangt man weder durch eine Verlängerung noch durch einen einfachen Zusatz, sondern
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durch eine Umkehrung, zu der die Philosophie anregt, ohne sie auszuführen. Ist das Problem gelöst? Oder entsteht es an der Schnittstelle von negativer Philosophie und positivem Glauben nicht vielmehr neu? Wenn die Philosophie, wie Blondel es wollte, universal und autonom ist, wie könnte sie dann einer absoluten Entscheidung die Verantwortung für die Schlußfolgerungen überlassen? Was sie anhand einzelner Punkte skizziert, mittels begrifflicher Festlegungen, im Frieden des Universalen, hat seinen vollen Sinn nur im Irreparablen und in der Parteilichkeit eines Lebens. Aber wie sollte sie nicht Zeugin dieses Übergangs selbst sein wollen? Wie könnte sie im Negativen verbleiben und das Positive einer absolut anderen Instanz überlassen? Sie selbst muß in einer gewissen Fülle das erkennen, was sie zuvor als Leerform skizziert hatte, und in der Praxis zumindest einen Teil dessen, was von der Theorie gesehen wurde. Die Beziehung der Philosophie zum Christentum kann nicht die einfache Beziehung der Negation zur Position, der Infragestellung zur Bestätigung sein: Die philosophische Fragestellung bringt ihre eigenen vitalen Optionen mit sich, und in gewisser Hinsicht behauptet sie sich in der religiösen Affirmation. Das Negative hat sein Positives, das Positive sein Negatives, und gerade weil jedes sein Gegenteil in sich trägt, sind sie in der Lage, ineinander überzugehen und in der Geschichte ewig die Rolle verfeindeter Brüder zu spielen. Gilt dies für immer? Wird es zwischen dem Philosophen und dem Christen (ob es sich nun um zwei verschiedene Menschen oder um die zwei Menschen handelt, die jeder Christ in sich spürt) je einen wirklichen Austausch geben? Dies wäre in unserem Sinne nur dann möglich, wenn der Christ, mit Rücksicht auf die letzten Quellen seiner Inspiration, über die er nur selbst urteilt, ohne Einschränkung die Aufgabe der Vermittlung akzeptierte, auf die die Philosophie nicht verzichten kann, ohne sich selbst zu unterdrücken. Es versteht sich von selbst, daß diese Zeilen nur ihren Unterzeichner verpflichten, aber nicht jene christlichen Beiträger, die ihn gern unterstützt haben. Es wäre schlecht, ihn als jemand hinzustellen, der auch nur den geringsten Zweifel zwischen ihr
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Gefühl und das seinige bringt. Deshalb soll dies auch nicht als Einleitung in ihr Denken gelten. Es sind vielmehr Reflexionen und Fragen, die er, um sie ihren Ausführungen zu unterwerfen, am Rand ihrer Texte notiert. Diese Texte selbst, und hierin werden wir gewiß übereinstimmen, vermitteln uns ein lebhaftes Gespür für die Verschiedenheit der christlichen Forschungen. Sie erinnern daran, daß das Christentum mehr als nur eine Philosophie genährt hat, welches Privileg auch immer eine von ihnen beansprucht haben mag, daß es nicht prinzipiell nur einen einzigen und erschöpfenden philosophischen Ausdruck umfaßt und daß die christliche Philosophie in diesem Sinne, zu welchen Errungenschaften sie auch gelangen mag, nie als erledigt gelten kann.
IV. Der große Rationalismus Als ›kleinen Rationalismus‹ müßte man jenen bezeichnen, den man im Jahr 1900 lehrte oder diskutierte, und der das Sein durch die Wissenschaft erklärte. Er ging von einer unermeßlichen, bereits in den Dingen geleisteten Wissenschaft aus, die von der tatsächlichen Wissenschaft am Tag ihrer Vollendung eingeholt würde und die für uns keine Frage mehr offen ließe, da auf jede sinnvolle Frage eine Antwort gegeben werde. Es fällt uns einigermaßen schwer, diesen gleichwohl so nahen Zustand des Denkens wieder aufleben zu lassen. Es ist jedoch eine Tatsache, daß man von einem Augenblick geträumt hat, in dem der Geist, da er ›die Totalität des Wirklichen‹ in einem Geflecht von Beziehungen eingefangen hat und sich gewissermaßen in einem Zustand der Übersättigung befindet, von nun an in einem Ruhezustand verbliebe oder aus einem definitiven Wissen nur noch die Konsequenzen ziehen und dem letzten Aufbegehren des Unvorhersehbaren durch irgendeine Anwendung derselben Prinzipien begegnen müßte. Dieser ›Rationalismus‹ scheint uns voller Mythen zu sein: dem Mythos der Naturgesetze, die ungefähr auf der Mitte des Weges
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zwischen den Normen und den Tatsachen angesiedelt werden und denen zufolge, so denkt man, diese dennoch blinde Welt konstruiert wurde; dem Mythos der wissenschaftlichen Erklärung, als könnte die Erkenntnis der Beziehungen, selbst wenn man sie auf alles Beobachtbare ausdehnt, eines Tages das Dasein der Welt selbst in eine identische und selbstverständliche Behauptung verwandeln. Diese beiden müßte man um alle anhängigen Mythen ergänzen, die an den Grenzen der Wissenschaft wuchern, beispielsweise rund um die Begriffe von Leben und Tod. Es war die Zeit, in der man sich voller Begeisterung oder voller Angst fragte, ob der Mensch im Labor Leben erschaffen könnte, und in der die rationalistischen Redner freiwillig vom ›Nichts‹ sprachen, jenem anderen und ruhigeren Milieu des Lebens, von dem sie sich einbildeten, es nach diesem Leben so ›einzuholen‹, wie man sich einer übersinnlichen Bestimmung anschließt. Man dachte aber nicht, einer Mythologie nachzugeben, sondern glaubte, im Namen der Vernunft zu sprechen. Die Vernunft verschmolz mit der Erkenntnis der Bedingungen oder der Ursachen: Überall, wo man eine bestimmte Konditionierung aufdeckte, dachte man, jede Frage zum Verstummen gebracht, das Problem des Wesens mit dem Problem des Ursprungs gelöst und die Tatsache wieder zum Gehorsam gegenüber der Ursache verpflichtet zu haben. Zwischen Wissenschaft und Metaphysik gab es nur die Frage, ob die Welt ein einziger großer Prozeß sei, der einem einzigen ›Erzeugungsaxiom‹ unterworfen ist, dessen mystische Formel man lediglich, am Ende aller Zeiten, wiederholen müßte, oder die Frage, ob es beispielsweise an dem Punkt, an dem das Leben auftaucht, Lücken oder Diskontinuitäten gibt, in denen man das antagonistische Vermögen des Geistes unterbringen könnte. Jede Errungenschaft des Determinismus war eine Niederlage des metaphysischen Sinns, dessen Sieg ein ›Scheitern der Wissenschaft‹ erforderte. Wenn jener Rationalismus für uns heute schwierig zu denken ist, so liegt es daran, daß er, wenngleich entstellt und unkenntlich, doch ein Erbe ist und daß wir unsererseits von der Tradition in Anspruch genommen sind, die ihn nach und nach
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hervorgebracht hat. Er war das Fossil eines großen Rationalismus, nämlich dem des XVII. Jahrhunderts, der reich war an einer lebendigen Ontologie, der aber bereits im XVIII. Jahrhundert10 dahingeschwunden war und im Rationalismus von 1900 nur noch in einigen äußeren Formen erkennbar blieb. Das XVII. Jahrhundert ist jener privilegierte Augenblick, in dem die Erkenntnis der Natur und die Metaphysik glaubten, ein gemeinsames Fundament gefunden zu haben. Es hat die Naturwissenschaft geschaffen und dennoch aus dem Gegenstand der Wissenschaft nicht den Kanon der Ontologie gebildet. Es räumt ein, daß eine Philosophie über die Wissenschaft hinausragt, ohne für sie eine Rivalin zu sein. Der Gegenstand der Wissenschaft ist ein Aspekt oder ein Grad des Seins; er hat an seinem Platz seine Berechtigung, und vielleicht lernen wir sogar durch ihn, die Kraft der Vernunft zu erkennen. Diese Kraft aber erschöpft sich nicht in ihm. Auf verschiedene Arten erkennen Descartes, Spinoza, Leibniz, Malebranche unter der Kette der kausalen Beziehungen einen anderen Typ des Seins, der dieser Kette zugrunde liegt, ohne sie zu zerreißen. Das Sein wird nicht gänzlich auf die Ebene des äußeren Seins beschränkt oder abgeflacht. Es gibt auch das Sein des Subjekts oder der Seele, das Sein seiner Ideen, die Beziehungen der Ideen untereinander und den internen Wahrheitsbezug, und jenes Universum ist ebenso groß wie das andere, oder schließt es vielmehr ein, denn so strikt die Verknüpfung der äußeren Tatsachen auch sein mag, ist es doch nicht das eine Universum, das letzte Rechenschaft über das andere ablegt; sie haben gemeinsam Anteil an einem ›Inneren‹, dem ihre Verbindung Ausdruck verleiht. Alle Probleme, die eine wissenschaftsgläubige
10 Das XVIII. Jahrhundert ist das herausragende Beispiel einer Zeit, die sich in ihrer Philosophie nicht gut zum Ausdruck bringt. Sein Verdienst liegt in anderem: in seinem Eifer und in seiner Leidenschaft, zu leben, zu wissen und zu urteilen, in seinem ›Geist‹. Wie Hegel so gut gezeigt hat, gibt es beispielsweise einen sekundären Sinn seines ›Materialismus‹, der aus ihm eine Epoche des menschlichen Geistes formt, obwohl er wörtlich genommen eine dürftige Philosophie darstellt.
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Ontologie unterdrücken wird, indem sie sich kritiklos im äußeren Sein als universalem Milieu einrichtet, hält die Philosophie des XVII. Jahrhunderts ganz im Gegenteil fortwährend wach. Wie soll man begreifen, daß der Geist auf den Leib einwirkt und der Leib auf den Geist, und sogar der Leib auf den Leib oder der Geist auf den anderen Geist oder auf sich selbst, da letztlich, so rigoros die Verknüpfung der einzelnen Dinge in uns und außerhalb von uns sein mag, keines dieser Dinge je eine in jeder Hinsicht ausreichende Ursache für das sein kann, was aus ihm hervorgeht? Woher kommt der Zusammenhalt des Ganzen? Jeder der Cartesianer entwirft ihn auf ganz andere Weise. Bei allen jedoch bieten sich die verschiedenen Seinsformen und die äußeren Beziehungen für eine Überprüfung ihrer grundlegenden Voraussetzungen an. Die Philosophie wird von ihnen weder erstickt noch genötigt, ihre Dauerhaftigkeit zu bestreiten, um sich Platz zu verschaffen. Diese außergewöhnliche Übereinstimmung zwischen Äußerem und Innerem ist nur durch die Vermittlung eines positiven Unendlichen möglich, oder eines unendlich Unendlichen (da jede Beschränkung auf eine bestimmte Art von Unendlichkeit ein Keim der Negation wäre). In ihm verbinden oder verschweißen sich miteinander die tatsächliche Existenz der Dinge partes extra partes und die von uns gedachte Ausdehnung, die im Gegenteil kontinuierlich und unendlich ist. Wenn es, im Zentrum und gewissermaßen im Kern des Seins, ein unendlich Unendliches gibt, dann setzt jedes einzelne Sein es direkt oder indirekt voraus und ist umgekehrt wirklich oder im höchsten Grade darin enthalten. Alle Beziehungen, die wir zum Sein haben können, müssen gleichzeitig darin begründet sein. Zunächst unsere Idee von der Wahrheit, die uns gerade zum Unendlichen hingeführt hat und folglich von ihm nicht in Frage gestellt werden kann. Dann alle lebendigen und verworrenen Begriffe, welche die Sinne uns von den existierenden Dingen geben. So verschieden diese beiden Arten der Erkenntnis auch sein mögen, sie müssen doch einen einzigen Ursprung haben, und selbst die sinnlich wahrnehmbare, diskontinuierliche, partielle und versehrte Welt muß letztlich,
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ausgehend von unserer leiblichen Organisation, als ein besonderer Fall der inneren Beziehungen, aus denen der intelligible Raum besteht, verständlich sein. Die Idee eines positiven Unendlichen bildet also das Geheimnis des großen Rationalismus, und dieser wird nur so lange Bestand haben, wie sie in Kraft bleibt. Descartes hatte in einem flüchtigen Aufscheinen die Möglichkeit eines negativen Denkens vorausgesehen. Er hatte den Geist als ein Sein beschrieben, das weder eine subtile Materie noch ein Hauch noch irgendein existierendes Ding ist und das in Ermangelung jeder positiven Gewißheit es selbst bleibt. Er hatte jenes Vermögen, etwas zu tun oder nicht zu tun, das, wie er sagte, keine Abstufung in sich trägt und das folglich im Menschen wie in Gott unendlich und eine unendliche Negation ist, genau betrachtet, da die Position in einer Freiheit, die darin liegt, etwas ebensogut nicht zu tun wie es zu tun, immer nur eine negierte Negation sein kann. Dadurch ist Descartes moderner als die Cartesianer, und er nimmt die Philosophien der Subjektivität und des Negativen vorweg. Aber bei ihm ist dies nur ein Anfang, und er überwindet die Negativität auf unumkehrbare Weise, wenn er schließlich zum Ausdruck bringt, die Idee des Unendlichen ginge bei ihm jener des Endlichen voraus, und jedes negative Denken sei ein Schatten im Lichte dieser Erkenntnis. Welcher Art auch im übrigen ihre Streitigkeiten gewesen sein mögen, in diesem Punkt sind sich die Cartesianer einig. Malebranche wird hundertmal sagen, das Nichts ›habe keine Eigenschaften‹ oder ›sei nicht sichtbar‹, und es gebe folglich nichts über dieses Nichts zu sagen. Leibniz wird sich fragen, warum es ›überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts‹ gebe, er wird das Nichts einen Augenblick lang dem Sein gegenüberstellen, aber dieser Rückzug auf ein Diesseits des Seins, dieses Erinnern an ein mögliches Nichts ist für ihn gleichsam ein Beweis durch das Absurde; es ist nur der Grund, das Minimum an notwendigem Schatten, um die souveräne Hervorbringung des Seins durch sich selbst zutage treten zu lassen. Und schließlich kann Spinozas Bestimmung, die ›Negation‹ ist‚ die später im Sinne einer determinierenden Kraft des Negativen verstanden wurde, bei ihm nur
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eine Art und Weise sein, die Immanenz der determinierten Dinge in der sich selbst gleichen und positiven Substanz zu betonen. Nie wird man in der Folge diese Übereinstimmung von Philosophie und Wissenschaft wiederfinden, diese Leichtigkeit, die Wissenschaft zu überholen, ohne sie zu zerstören, die Metaphysik zu begrenzen, ohne sie auszuschließen. Selbst jene unter unseren Zeitgenossen, die sich Cartesianer nennen und die es sind, weisen dem Negativen eine ganz andere philosophische Funktion zu, und aus diesem Grunde könnten sie das Gleichgewicht des XVII. Jahrhunderts nicht wiederfinden. Descartes sagte, Gott werde von uns vorgestellt, aber nicht verstanden, und dieses nicht bringe einen Mangel in uns und einen Makel zum Ausdruck. Der moderne Cartesianer11 übersetzt: Das Unendliche ist ebenso Abwesenheit wie Anwesenheit, was bedeutet, das Negative und den Menschen als Zeugen in die Definition Gottes einzubeziehen. Léon Brunschvicg gestand Spinoza alles zu, nur nicht die auf die Ethik zurückgehende Ordnung: Das erste Buch, sagte er, ist nicht wesentlicher als das fünfte; die Ethik muß kreisförmig gelesen werden, und Gott setzt den Menschen ebenso voraus, wie der Mensch Gott voraussetzt. Vielleicht, oder vielmehr sicher, bedeutet dies, ›seine eigene Wahrheit‹ aus dem Cartesianismus zu ziehen. Aber eine Wahrheit, die er selbst nie besessen hat. Es gibt eine unschuldige Art und Weise, ausgehend vom Unendlichen zu denken, die den großen Rationalismus geschaffen hat und die von uns durch nichts wiedergefunden werden kann. Man möge diesen Worten keine Nostalgie unterstellen. Es sei denn, die träge Sehnsucht nach einer Zeit, in der das geistige Universum nicht zerrissen war, und in der ein und derselbe Mensch sich ohne Zugeständnisse und Kunstgriffe der Philosophie, der Wissenschaft (und, wenn er es wünschte, der Theologie) widmen konnte. Dieser Frieden aber, diese Ungeteiltheit konnten nur so lange dauern, wie man am Beginn der drei Wege stehen blieb. Was uns vom XVII. Jahrhundert trennt, ist nicht der Verfall, sondern der Fortschritt des Bewußtseins und der Erfahrung. Die nachfol11
F. Alquié: La découverte métaphysique de l’homme chez Descartes.
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genden Jahrhunderte haben gelehrt, daß die Übereinstimmung unserer evidenten Gedanken mit der bestehenden Welt nicht so unmittelbar ist, daß sie nie ohne einen Appell einhergeht, daß unsere Evidenzen sich niemals Hoffnung machen können, in der Folge die ganze Entwicklung des Wissens zu beherrschen, daß die Konsequenzen zu den ›Prinzipien‹ zurückkehren, daß wir uns darauf vorbereiten müssen, bis hin zu den Begriffen, die wir als ›grundlegend‹ erachten konnten, alles umzuarbeiten, daß die Wahrheit nicht durch eine Zusammensetzung erlangt werden kann, bei der sie vom Einfachen zum Komplexen und von der Wesenheit zu den Eigenschaften übergehen würde, daß wir uns im Zentrum der physischen und sogar mathematischen Seinsformen weder einrichten können noch je werden einrichten können, daß man sie vielmehr tastend, von außen her inspizieren und sie auf indirektem Wege angehen, sie wie Personen befragen muß. Die Überzeugung selbst, in der inneren Evidenz die Prinzipien zu erfassen, nach denen ein unendlicher Verstand sich die Welt vorgestellt hat oder vorstellt, die das Unternehmen der Cartesianer unterstützt hatte und lange Zeit durch die Fortschritte der cartesianischen Wissenschaft gerechtfertigt schien, ist an einen Punkt gelangt, an dem sie nicht mehr länger ein Anreiz des Wissens ist, sondern zur Drohung einer neuen Scholastik wird. Man mußte also wohl auf die Prinzipien zurückkommen, sie wieder in den Rang von ›Idealisierungen‹ erheben, die so lange gerechtfertigt sind, wie sie die Forschung beleben, aber disqualifiziert, wenn sie sie lähmen; man mußte lernen, unser Nachdenken über diese Existenz zu ermessen, die, wie Kant sagen sollte, kein Prädikat ist, mußte lernen, zu den Ursprüngen des Cartesianismus zurückzukehren, um ihn zu überwinden, und die Lektion jenes schöpferischen Aktes wiederfinden, der aus sich heraus eine lange Periode fruchtbaren Denkens begründet hatte, der seine Tugend jedoch im Pseudo-Cartesianismus der Epigonen erschöpft hatte und von nun an selbst danach verlangte, neu begonnen zu werden. Man hat die Historizität des Wissens erfahren müssen, jene seltsame Bewegung, durch die das Denken seine alten Formeln aufgibt und rettet, indem es sie als besondere und privilegierte
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Fälle einem verständigeren und allgemeineren Denken integriert, das sich nicht per Beschluß als erschöpfend ausgeben kann. Dieser Anschein von Improvisation und von Provisorischem, dieses ein wenig zögerliche Voranschreiten der modernen Forschungen, sei es in der Wissenschaft oder der Philosophie, oder in der Literatur oder den Künsten, ist der Preis, den man zahlen muß, um von unseren Beziehungen zum Sein ein reiferes Bewußtsein zu erlangen. Das XVII. Jahrhundert hat an die unmittelbare Übereinstimmung der Wissenschaft mit der Metaphysik, und andererseits mit der Religion, geglaubt. Und damit ist es weit von uns entfernt. Das metaphysische Denken sucht seinen Weg seit fünfzig Jahren außerhalb der physisch-mathematischen Koordination der Welt, und seine Rolle gegenüber der Wissenschaft scheint zu sein, uns auf dem »nicht-relationalen Grund«12 wachzurütteln, den die Wissenschaft denkt und nicht denkt. Dort, wo es am lebendigsten ist, geht das religiöse Denken in die gleiche Richtung, was es in Gleichklang, aber auch in Rivalität zur ›atheistischen‹ Metaphysik bringt. Der heutige ›Atheismus‹ hat nicht die Absicht, wie der Atheismus von 1900, die Welt ›ohne Gott‹ zu erklären: Er behauptet vielmehr, die Welt sei unerklärbar, und der Rationalismus von 1900 ist in seinen Augen eine säkularisierte Theologie. Wenn die Cartesianer zurückkehrten unter uns, so erlebten sie die dreifache Überraschung, eine Philosophie und sogar eine Theologie vorzufinden, deren bevorzugtes Thema die radikale Kontingenz der Welt ist, und die sogar darin zu Rivalinnen geworden sind. Unsere philosophische Situation ist der des großen Rationalismus vollkommen entgegengesetzt. Und dennoch bleibt er für uns groß, und er ist uns darin nah, daß er als Vermittler jenen Philosophien verpflichtet ist, die ihn zurückweisen, weil sie ihn im Namen derselben Forderung zurückweisen, die ihm Leben verliehen hatte. Genau in dem Augenblick, in dem er die Naturwissenschaft schuf, hat er im selben Zug gezeigt, daß sie nicht der Maßstab des Seins war, 12
Jean Wahl.
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und er hat das Bewußtsein des ontologischen Problems aufs äußerste zugespitzt. In diesem Punkt ist er nicht überwunden. Wie er, so suchen auch wir danach, die Initiativen der Wissenschaft nicht zu beschränken oder zu diskreditieren, sondern danach, die Wissenschaft als intentionales System im Gesamtfeld unserer Beziehungen zum Sein zu placieren, und wenn uns der Übergang zum unendlich Unendlichen keine Lösung zu sein scheint, so nur deshalb, weil wir uns wieder radikaler mit der Aufgabe befassen, derer sich jenes furchtlose Jahrhundert für immer entledigt zu haben glaubte.
V. Die Entdeckung der Subjektivität Was haben diese auf drei Jahrhunderte verteilten Philosophien gemeinsam, das wir im Zeichen der Subjektivität versammeln könnten? Es gibt das Ich, das Montaigne mehr als alles andere liebte und das Pascal verabscheute, jenes Ich, über das man Tag für Tag Buch führt, dessen Anmaßungen und Ausflüchte, dessen Fortbleiben und Rückkehr man notiert, das man wie ein Unbekanntes der Probe oder der Überprüfung unterwirft. Es gibt das denkende Ich bei Descartes und abermals bei Pascal, jenes Ich, das nur einen Augenblick lang wieder ganz zu sich selbst findet, aber dann in seiner Erscheinung vollständig ist, es ist alles, was es zu sein denkt und nichts anderes, offen für alles, niemals festgelegt, ohne ein anderes Mysterium als diese Transparenz selbst. Es gibt die subjektive Folge der englischen Philosophen, die Ideen, die sich ihrer selbst in einem stummen Kontakt und wie durch eine natürliche Eigenschaft bewußt sind. Es gibt Rousseaus Ich, diesen Abgrund aus Schuld und Unschuld, das selbst das ›Komplott‹ schmiedet, in dem es sich gefangen fühlt, und das dennoch mit gutem Recht, angesichts dieses Schicksals, seine unantastbare Güte einfordert. Es gibt das transzendentale Subjekt der Kantianer, das ebenso nah und näher an der Welt ist als an der psychologischen Intimität, das über die eine wie die andere nachdenkt, nachdem es sie konstruiert hat, und das dennoch zugleich
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als ›Bewohner‹ der Welt um sich weiß. Es gibt Birans Subjekt, das nicht nur um sein Dasein in der Welt weiß, sondern darin ist, und das nicht einmal Subjekt sein könnte, wenn es keinen Leib hätte, den es bewegt. Es gibt schließlich die Subjektivität im Sinne Kierkegaards, die nicht mehr ein Bereich des Seins ist, sondern die einzig grundlegende Art und Weise, sich auf das Sein zu beziehen, was bewirkt, das wir etwas sind anstatt alle Dinge nur oberflächlich mit einem ›objektiven‹ Denken zu streifen, das letztlich nichts wirklich denkt. Warum sollte man diese unvereinbaren ›Subjektivitäten‹ zu Momenten einer einzigen Entdeckung erklären? Und warum überhaupt eine ›Entdeckung‹? Muß man demnach glauben, die Subjektivität sei vor den Philosophen da gewesen, genau so, wie die Philosophen sie anschließend verstehen sollten? Sobald die Reflexion hinzugekommen ist, sobald das ›Ich denke‹ ausgesprochen wurde, ist der Seinsgedanke bereits so zu unserem Sein geworden, daß, wenn wir auszudrücken suchen, was ihm vorangegangen ist, all unser Bemühen nur dahin geht, ein präreflexives Cogito vorzuschlagen. Was aber ist dieser Kontakt seiner selbst mit sich selbst, bevor er aufgedeckt wird? Ist es etwas anderes als ein anderes Beispiel der retrospektiven Illusion? Ist die Erkenntnis, die man davon erlangt, wirklich nur eine Rückkehr zu dem, was wir bereits unser ganzes Leben hindurch wußten? Aber ich wußte nicht mit eigenen Worten um mich. Was ist also dieses Gefühl seiner selbst, das sich nicht besitzt und noch nicht mit sich zusammenfällt? Man hat gesagt, der Subjektivität das Bewußtsein wegnehmen hieße, ihr das Sein zu entziehen, eine unbewußte Liebe sei nichts, da lieben bedeute, jemanden, Handlungen, Gesten, ein Gesicht und einen Leib als liebenswert zu sehen. Aber das Cogito vor der Reflexion, das Empfinden seiner selbst ohne Erkenntnis stellen uns vor dieselbe Schwierigkeit. Entweder also kennt das Bewußtsein seine Ursprünge nicht, oder aber es kann sich, wenn es sie einholen will, nur in sie hineinprojizieren. In beiden Fällen darf man nicht von einer ›Entdeckung‹ sprechen. Die Reflexion hat nicht einfach das Undurchdachte enthüllt, sie hat es verändert, und sei es nur in seiner Wahrheit.
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Die Subjektivität hat nicht auf die Philosophen gewartet, so wie das unbekannte Amerika in den Nebeln des Ozeans auf seine Entdecker wartete. Sie haben sie vielmehr konstruiert, geschaffen, und dies auf mehr als nur eine Weise. Und was sie geschaffen haben, ist vielleicht wieder abzuschaffen. Heidegger denkt, daß sie das Dasein an dem Tag verloren haben, da sie es auf das Selbstbewußtsein gründeten. Dennoch verzichten wir nicht darauf, von einer ›Entdeckung‹ der ›Subjektivität‹ zu sprechen. Diese Schwierigkeiten verpflichten uns nur zu sagen, in welchem Sinne. Die Verwandtschaft der Subjektivitätsphilosophien ist zunächst offensichtlich, sobald man sie anderen Philosophien gegenüberstellt. Welcher Art ihre Unvereinbarkeiten auch sein mögen, den Modernen ist die Idee gemeinsam, das Sein der Seele oder das Subjekt-Sein sei kein geringeres Sein, es sei vielleicht die absolute Form des Seins, und dies ist es, was unser Titel zum Ausdruck bringen will. Viele Elemente einer Subjektphilosophie waren bereits in der griechischen Philosophie präsent: Sie hat vom ›Menschen als Maß aller Dinge‹ gesprochen; sie hat in der Seele das einzigartige Vermögen erkannt, nicht zu wissen, was sie weiß, verbunden mit dem Anspruch, zu wissen, was sie nicht weiß, eine unbegreifliche Fähigkeit des Irrtums, die an ihre Wahrheitsfähigkeit geknüpft ist, eine Beziehung zum Nicht-Sein, die in ihr ebenso wesentlich ist wie ihre Beziehung zum Sein. Sie hat andererseits ein Denken entworfen (das Aristoteles am Gipfel der Welt ansiedelt), das nur ein Denken an sich ist, und eine radikale Freiheit, die jenseits aller Stufen unseres Vermögens steht. Sie hat also die Subjektivität als Nacht und als Licht gekannt. Es bleibt jedoch die Tatsache, daß das Sein des Subjekts oder der Seele für die Griechen niemals die kanonische Form des Seins ist, daß für sie das Negative niemals im Mittelpunkt der Philosophie steht und auch nie die Aufgabe hat, das Positive erscheinen zu lassen, sich seiner anzunehmen und es zu transformieren. Im Gegenteil, von Montaigne bis Kant und darüber hinaus ist von demselben Subjekt-Sein die Rede. Die Unvereinbarkeit der Philosophien rührt daher, daß die Subjektivität weder Sa-
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che noch Substanz ist, sondern das Extrem des Besonderen wie des Allgemeinen, daß sie Proteus gleicht. Die Philosophien folgen ihren Metamorphosen so gut es eben geht, und unter ihren Abweichungen verbirgt sich diese Dialektik. Es gibt, im Grunde genommen, nur zwei Ideen der Subjektivität: jene der leeren, ungebundenen, universellen Subjektivität, und jene der vollen, in die Welt eingelassenen Subjektivität, und es handelt sich um dieselbe Idee, wie man bei Sartre gut erkennen kann, die Idee vom Nichts, das ›zur Welt kommt‹, das die Welt aufsaugt, das der Welt bedarf, um sein zu können, was immer es will, selbst ein Nichts, und das, im Opfer seiner selbst für das Sein, der Welt gegenüber fremd bleibt. Und gewiß ist dies keine Entdeckung in dem Sinne, in dem man Amerika oder auch das Kalium entdeckt hat. Es ist dennoch eine Entdeckung, und zwar in dem Sinne, daß das einmal in die Philosophie eingeführte Denken des Subjektiven sich nicht mehr ignorieren läßt. Selbst wenn die Philosophie es letztlich beseitigen sollte, so wird sie doch nie mehr das sein, was sie vor diesem Denken gewesen ist. Das Wahre, so konstruiert es auch sein mag (und Amerika ist ebenso eine Konstruktion, die einfach durch die Unmenge an Zeugenaussagen unvermeidlich geworden ist), wird dann so fundiert wie eine Tatsache, und das Denken des Subjektiven ist eine dieser festen Grundlagen, die von der Philosophie verdaut werden müssen. Oder sagen wir, sobald sie einmal von gewissen Gedanken ›infiziert‹ wurde, kann sie sie nicht mehr von sich weisen; sie muß sich von ihnen befreien, indem sie Besseres erfindet. Der Philosoph selbst, der heute Parmenides nachtrauert und uns unsere Beziehungen zum Sein so zurückgeben will, wie sie vor dem Selbstbewußtsein gewesen sind, verdankt seinen Sinn und seine Vorliebe für die ursprüngliche Ontologie gerade dem Selbstbewußtsein. Die Subjektivität ist einer jener Gedanken, angesichts derer man nicht in ein Diesseits zurückkehren kann, nicht einmal und vor allem nicht, wenn man über diese Gedanken hinausgeht.
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VI. Existenz und Dialektik Man kennt das Unbehagen des Schriftstellers, wenn er gebeten wird, die Geschichte seiner Gedanken nachzuzeichnen. Das Unbehagen ist kaum geringer, wenn wir ein Resümee unserer berühmten Zeitgenossen geben sollen. Wir können sie weder von dem ablösen, was wir bei ihrer Lektüre gelernt haben, noch von den ›Kreisen‹, die ihre Bücher aufgenommen und sie berühmt gemacht haben. Man kann nur ahnen, was nun, da diese allgemeine Aufregung zur Ruhe gekommen ist, noch zählt und was morgen für die neuen Leser zählen wird, wenn es denn welche geben sollte, für jene Fremden, die kommen werden, die sich dieselben Bücher aneignen und etwas anderes aus ihnen machen werden. Es gibt vielleicht einen Satz, der eines Tages in der Stille des XVI. Arrondissements geschrieben wurde, in der ehrfurchtsvollen Stille von Aix, in der akademischen Stille Freiburgs oder im lärmenden Tumult der Rue de Rennes, in Neapel oder in Le Vésinet, einen Satz, den die ersten Leser als eine unnütze Station ›verbrannt‹ haben, bei dem die Leser von morgen jedoch stehenbleiben werden: ein neuer Bergson, ein neuer Blondel, ein neuer Husserl, ein neuer Alain, ein neuer Croce, die wir uns nicht vorstellen können. Denn dies hieße, unsere Evidenzen und unsere Fragen, die Fülle und die Leerstellen so zu verteilen, wie sie bei unseren Neffen verteilt sein werden, es hieße, uns selbst zu Anderen zu machen, doch keine ›Objektivität‹ der Welt würde so weit reichen. Indem wir, rückblickend auf die vergangene Hälfte des Jahrhunderts, die Themen der Existenz und der Dialektik als wesentlich bezeichnen, sprechen wir vielleicht das aus, was eine Generation in ihrer Philosophie gelesen hat, aber gewiß nicht das, was die nächste Generation in ihr lesen wird, und noch viel weniger das, was die Philosophen, um die es geht, bewußt gesagt haben. Dennoch ist es für uns eine Tatsache, daß sie alle, sogar jene, die am stärksten daran festhielten, daran gearbeitet haben, den Kritizismus zu überwinden und jenseits der Beziehungen das zu enthüllen, was Brunschvicg das ›Unkoordinierbare‹ nannte und
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was wir als Existenz bezeichnen. Als Bergson die Wahrnehmung zum grundlegenden Modus unserer Beziehung zum Sein werden ließ, als Blondel sich vornahm, die Implikationen eines Denkens darzulegen, das sich tatsächlich stets selbst vorausgeht und stets über sich hinausgeht, als Alain die Freiheit beschrieb, die vom Lauf der Welt getragen wird wie ein Schwimmer vom Wasser, das ihn zurückhält und das zugleich seine Kraft ausmacht, als Croce die Philosophie wieder in Berührung mit der Geschichte brachte, als Husserl die leibhaftige Gegenwart der Sache als Typus der Evidenz begriff, stellten sie alle den Narzißmus des Selbstbewußtseins in Frage, suchten sie alle nach einem Übergang vom Möglichen und Notwendigen zum Wirklichen, und alle bestimmten unser tatsächliches Dasein und die Existenz der Welt zu einer Dimension neuer Forschung. Denn die Existenzphilosophie ist nicht nur, wie ein eiliger, sich auf Sartres Manifest13 berufender Leser meinen könnte, die Philosophie, die im Menschen die Freiheit dem Wesen voranstellt. Dies ist nur eine auffällige Konsequenz, und unter der Idee der souveränen Wahl gab es bei Sartre selbst, wie man in Das Sein und das Nichts sieht, die andere und genau genommen entgegengesetzte Idee einer Freiheit, die nur dann Freiheit ist, wenn sie der Welt einverleibt ist und einer über eine tatsächliche Situation abgeschlossenen Arbeit gleicht. Und ab diesem Moment ist das Existieren, selbst bei Sartre, nicht mehr ausschließlich ein anthropologischer Ausdruck: Die Existenz enthüllt angesichts der Freiheit eine ganz neue Gestalt der Welt, die Welt als Versprechen und Bedrohung der Existenz, die Welt, die ihr Fallen stellt, sie verführt oder ihr nachgibt, nicht mehr die flache Welt der kantischen Gegenstände der Wissenschaft, sondern eine Landschaft aus Hindernissen und Wegen, letztlich die Welt, die wir ›existieren‹, und nicht nur der Schauplatz unserer Erkenntnis und unseres freien Willens. Wir werden vielleicht mehr Mühe haben, den Leser zu überzeugen, daß das Jahrhundert auf seinem Gang in Richtung der Existenz auch der Dialektik entgegenschritt. Blondel und Alain 13
L’existentialisme est un humanisme.
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haben darüber gesprochen, und natürlich Croce. Aber Bergson oder Husserl? Es ist hinlänglich bekannt, daß sie die Intuition gesucht haben und daß für sie die Dialektik die Philosophie der Räsoneure war, die verblendete und schwatzhafte oder, wie J. Beaufret sagte, die ›bauchrednerische‹ Philosophie. Bei der erneuten Lektüre alter Manuskripte schrieb Husserl manchmal an den Seitenrand: »Das habe ich angeschaut.« Welche Gemeinsamkeit besteht zwischen diesen Philosophen, die sich dem widmen, was sie sehen, positiv, in methodischer Hinsicht naiv, und dem durchtriebenen Philosophen, der stets unter der Intuition gräbt, um dort eine andere Intuition zu entdecken, und den jedes Schauspiel auf sich selbst zurückwirft? Man müßte sich die zeitgenössische Geschichte der Dialektik und jene der Hegelschen Erneuerung in Erinnerung rufen, um auf diese Fragen antworten zu können. Die Dialektik, die von unseren Zeitgenossen wiederentdeckt wird, ist, wie bereits N. von Hartmann sagte, eine Dialektik des Wirklichen. Der Hegel, den sie rehabilitiert haben, ist nicht jener, von dem sich das XIX. Jahrhundert abgewandt hatte, der Hüter eines wunderbaren Geheimnisses, durch das man über alle Dinge reden konnte, ohne darüber nachzudenken, indem man sie mechanisch der dialektischen Ordnung und dem dialektischen Zusammenhang unterstellte; es ist jener Hegel, der nicht zwischen der Logik und der Anthropologie hatte wählen wollen, der die Dialektik der menschlichen Erfahrung hervortreten ließ, den Menschen jedoch als empirischen Träger des Logos bestimmte, und der jene beiden Perspektiven und die Umkehrung, welche die eine in die jeweils andere verwandelt, in den Mittelpunkt rückte. Eine solche Dialektik ist mit der Intuition nicht nur kompatibel: Es gibt sogar einen Moment, in dem sie zusammenfließen. Man kann quer durch den Bergsonismus wie auch quer durch die Karriere Husserls die Arbeit erkennen, die nach und nach die Intuition in Bewegung versetzt, die positive Aufzeichnung der ›unmittelbaren Gegebenheiten‹ in eine Dialektik der Zeit und die Wesensschau in eine ›genetische Phänomenologie‹ verwandelt, und die gegensätzlichen Dimensionen einer Zeit, die letztlich koextensiv zum
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Sein ist, in einer lebendigen Einheit verbindet. Dieses Sein, das man in der Zeitbewegung erahnen kann, auf das unsere Zeitlichkeit, unsere Wahrnehmung und unser leibliches Sein stets zielen, bei dem aber nicht die Rede davon sein kann, sich in dieses Sein hineinzuversetzen, weil die aufgehobene Distanz ihm seine Seinskonsistenz nehmen würde, jenes Sein ›in der Ferne‹, wird Heidegger sagen, das unserer Transzendenz stets vorangestellt ist, ist die dialektische Idee des Seins, so wie sie der Parmenides bestimmte, jenseits der empirischen Vielfalt der seienden Dinge, und es wird prinzipiell durch diese Dinge erstrebt, da es getrennt von ihnen nur ein Aufscheinen oder aber Nacht wäre. Was die subjektive Seite der Dialektik angeht, so finden die Modernen sie wieder, sobald sie uns in unserer tatsächlichen Beziehung zur Welt erfassen wollen. Denn unter dieser Vorgabe treffen sie auf den ersten und tiefsten aller Gegensätze, die nie ganz überwundene Eröffnungsphase der Dialektik, die Geburt der Reflexion, die sich prinzipiell abspaltet und sich nur abspaltet, um das Unreflektierte zu begreifen. Die Suche nach dem ›Unmittelbaren‹ oder der ›Sache selbst‹, sobald sie hinreichend bewußt ist, ist nicht das Gegenteil der Vermittlung; die Vermittlung ist nur die entschiedene Anerkennung eines Paradoxons, das die Intuition wohl oder übel auf sich nimmt: Um sich zu besitzen, muß man damit beginnen, aus sich herauszutreten, und um die Welt selbst zu sehen, muß man sich zunächst von ihr entfernen. Sollten diese Bemerkungen richtig sein, dann stünde lediglich der logische Positivismus der angelsächsischen und skandinavischen Länder außerhalb der Philosophie dieses Jahrhunderts. Es gibt eine gemeinsame Sprache all der von uns soeben genannten Philosophien; und andererseits sind für den logischen Positivismus all ihre Probleme zusammengenommen nur Nicht-Sinn. Die Tatsache kann weder maskiert noch abgeschwächt werden. Man kann sich nur fragen, ob sie von Dauer ist. Wenn man aus der Philosophie alle Ausdrücke streicht, die keinen unmittelbar zuzuordnenden Sinn anbieten, offenbart diese Bereinigung dann nicht, wie alle anderen, eine Krise? Wird man sich nicht jetzt, wo das offenbar klare Feld der eindeutigen Bedeutungen einmal in
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Ordnung gebracht ist, erneut von der alles umgebenden Problematik in Versuchung bringen lassen? Ist es genau der Gegensatz eines transparenten geistigen Universums und eines erlebten Universums, das immer weniger problematisch wird, je weniger der Druck des Nicht-Sinns auf den Sinn den logischen Positivismus dazu bringen wird, seine Kriterien von hell und dunkel einer Revision zu unterziehen, durch eine Maßnahme, die, wie Platon sagte, das eigentliche Vorgehen der Philosophie beschreibt? Wenn diese Umkehrung der Werte eintreten würde, müßte man den logischen Positivismus als letzten und energischsten ›Widerstand‹ gegenüber der konkreten Philosophie zu schätzen wissen, die man zu Beginn des Jahrhunderts auf die eine oder andere Weise ständig gesucht hat. Eine konkrete Philosophie ist keine glückliche Philosophie. Sie müßte nah an der Erfahrung bleiben und dürfte sich dennoch nicht auf das Empirische beschränken, sie müßte in jeder Erfahrung wieder die ontologische Chiffre einsetzen, durch die sie innerlich gekennzeichnet ist. So schwierig es unter diesen Bedingungen sein mag, sich die Zukunft der Philosophie vorzustellen, scheinen doch zwei Dinge sicher zu sein: einerseits, daß sie nie mehr zur Überzeugung zurückfinden wird, mit ihren Begriffen die Schlüssel zur Natur und Geschichte zu bewahren, und andererseits, daß sie nie auf ihren Radikalismus verzichten wird, auf ihre Suche nach den Voraussetzungen und den Grundlagen, aus der die großen Philosophien hervorgegangen sind. Sie wird um so weniger darauf verzichten, je deutlicher zutage tritt, daß die Techniken sich selbst übertrafen und die Philosophie zurückwarfen, während die Systeme ihre Vertrauenswürdigkeit verloren. Nie zuvor hat das wissenschaftliche Wissen sein eigenes a priori erschüttert. Nie ist die Literatur so ›philosophisch‹ gewesen wie im XX. Jahrhundert, nie hat sie so viel über die Sprache, über die Wahrheit, über den Sinn des Schreibakts nachgedacht. Nie hat das politische Leben so wie heute seine Wurzeln oder seine Verstrickungen offengelegt, seine eigenen Gewißheiten, allen voran jene des bewahrenden Erbes und heute jene der Revolution, angefochten. Selbst wenn die Philosophen schwach
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werden sollten, wären die anderen da, um sie an die Philosophie zu erinnern. Wenn diese Unruhe sich nicht aufzehrt und sich die Welt bei der Erfahrung ihrer selbst nicht zugrunde richtet, dann kann man viel erwarten von einer Zeit, die nicht mehr an den Triumph der Philosophie glaubt, sondern aufgrund ihrer Schwierigkeiten ein permanenter Aufruf zur Strenge, zur Kritik, zur Universalität und zur kämpferischen Philosophie ist. Man wird vielleicht fragen, was von der Philosophie übrig bleibt, wenn sie ihre Rechtsansprüche auf das a priori, auf das System oder auf die Konstruktion verloren hat, wenn sie nicht mehr über die Erfahrung hinausreicht. Es bleibt ihr nahezu alles. Denn das System, die Erklärung, die Deduktion sind nie das Wesentliche gewesen. Diese Arrangements brachten eine Beziehung zum Sein, zu den Anderen, zur Welt zum Ausdruck – und verbargen sie auch. Entgegen dem Anschein ist das System immer nur eine Sprache gewesen (und als solche war sie wertvoll), um eine cartesianische, spinozistische oder leibnizsche Art und Weise, sich in Bezug auf das Sein einzustellen, zu übersetzen, und damit die Philosophie Bestand hat, genügt es, daß dieser Bezug problematisch bleibt, daß er nicht als selbstverständlich hingenommen wird, daß eine vertraute Begegnung des Seins mit demjenigen, der in jedem Sinne des Wortes daraus hervorgeht, es bewertet, es annimmt und zurückweist, es transformiert und schließlich aufgibt, erhalten bleibt. Es ist genau dieser Bezug, den man heute direkt zu formulieren versucht, und daher kommt es, daß die Philosophie sich überall dort bei sich selbst fühlt, wo dieser Bezug hergestellt wird, daß heißt überall, gleichermaßen im Bekenntnis eines Unwissenden, der geliebt und gelebt hat, wie er konnte, in den ›Kniffen‹, welche die unverfroren spekulative Wissenschaft erfindet, um die Probleme umzukehren, in den ›barbarischen‹ Zivilisationen, in den Bereichen unseres Lebens, die einst offiziell nur in der Literatur, im unechten Leben oder in den Diskussionen über die Substanz und das Attribut existierten. Die instituierte Humanität empfindet sich als problematisch, und das unmittelbarste Leben ist ›philosophisch‹ geworden. Wir können uns keinen neuen Leibniz, keinen neuen Spinoza vor-
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stellen, die heute mit ihrem fundamentalen Vertrauen auf ihre Rationalität das Gebiet der Philosophie betreten würden. Die Philosophen von morgen werden keine ›anaklastische Linie‹, keine ›Monade‹, keinen ›Conatus‹, keine ›Substanz‹, keine ›Attribute‹ und keinen ›unendlichen Modus‹ mehr haben, aber sie werden auch weiterhin bei Leibniz und bei Spinoza lernen, wie die glücklichen Jahrhunderte die Sphinx zu zähmen gedachten, und sie werden auf ihre weniger bilderreiche und viel abruptere Weise auf die weitaus zahlreicheren Rätsel antworten, die ihnen die Sphinx aufgibt.
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DE R PH I L O S OPH U N D SE I N S C H AT T E N
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Tradition ist Vergessen der Ursprünge, sagte der späte Husserl. Gerade wenn wir ihm viel verdanken, sind wir außerstande, genau zu erkennen, was eigentlich ihm gehört. Gegenüber einem Philosophen, dessen Unternehmen soviel Widerhall hervorgerufen hat, auch scheinbar so weit entfernt von seinem eigenen Standort, ist jedes Gedenken auch Verrat; sei es, daß wir ihm unsere Gedanken auf ganz oberflächliche Weise widmen, wie um einen Gewährsmann für sie zu finden, auf den sie keinen Anspruch haben – sei es im Gegensatz dazu, daß wir ihn mit einem distanzierten Respekt zu streng auf das reduzieren, was er selbst gewollt und gesagt hat … Husserl jedoch kannte eben jene Schwierigkeiten, welche diejenigen der Kommunikation zwischen den ›Egos‹ sind, gut, und er läßt uns mit ihnen nicht im Stich. Ich mache bei Anderen Anleihen, ich tue es mit meinen eigenen Gedanken: Das ist kein Scheitern der Wahrnehmung des Anderen, sondern eben das ist die Wahrnehmung des Anderen. Wir würden ihn nicht mit unseren aufdringlichen Kommentaren überhäufen, wir würden ihn nicht geizig darauf reduzieren, was von ihm objektiv bezeugt ist, wenn er nicht zunächst für uns da wäre – gewiß nicht mit der frontalen Evidenz eines Dinges, sondern quer durch unser Denken eingesetzt, in uns wie ein anderes Wir einen Bereich einnehmend, der keinem anderen als ihm selbst gehört. Zwischen einer ›objektiven‹ Geschichte der Philosophie, die die großen Philosophen insoweit verstümmelt, als sie beiseite läßt, was sie den anderen zu denken aufgegeben haben, und einer als Dialog verkleideten Meditation, in der wir die Fragen stellen und die Antworten geben, muß es ein Zwischenreich geben, in dem der Philosoph, von dem man spricht, und der von ihm Sprechende gemeinsam anwesend sind, wenn es auch selbst de jure unmöglich sein sollte, in jedem Augenblick zu entscheiden, was einem jeden zukommt.
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Der Philosoph und sein Schatten
Wenn man glaubt, die Interpretation sei entweder eine Nötigung bzw. eine Entstellung oder eine wortwörtliche Wiederholung, dann unterstellt man, daß die Bedeutung eines Werkes ganz und gar positiv sei und einer legitimen Inventarisierung unterzogen werden könne, die genau festlegt, was es enthält und was nicht. Doch dann täuscht man sich über das Werk und über das Denken. »Je größer«, schreibt Heidegger, »das Denkwerk eines Denkers ist, das sich keineswegs mit dem Umfang und der Anzahl seiner Schriften deckt, um so reicher ist das in diesem Denkwerk Ungedachte, d.h. jenes, was erst und allein durch dieses Denkwerk als das Noch-nicht-Gedachte heraufkommt.«1 Seit dem Lebensende Husserls gibt es ein Ungedachtes, das Husserl eindeutig zugehört und das sich dennoch auf anderes hin öffnet. Denken heißt nicht, Gegenstände des Denkens zu besitzen, sondern durch sie einen Bereich des zu Denkenden, den wir also noch nicht denken, zu umschreiben. Wie die wahrgenommene Welt nur durch die Widerspiegelungen, die Schatten, die Ebenen, die Horizonte zwischen den Dingen gehalten wird, die selbst nicht Dinge sind und die auch nicht nichts sind, die jedoch allein die Felder möglicher Variation desselben Dinges und derselben Welt umgrenzen, ebenso besteht auch das Werk und das Denken eines Philosophen aus bestimmten Verknüpfungen zwischen den gesagten Dingen, die uns nicht vor das Dilemma von objektiver und willkürlicher Interpretation stellen, weil es sich ja dabei nicht um Gegenstände des Denkens handelt, weil man sie, wie den Schatten und die Widerspiegelung, zerstören würde, wenn man sie der analytischen Betrachtung oder dem isolierenden Reflektieren unterwürfe, und weil man ihnen nur treu sein und sie wiederfinden kann, indem man sie von neuem denkt. Wir möchten versuchen, jenes Ungedachte bei Husserl am Rand einiger älterer Überlegungen aufzudecken. Das wird vermessen erscheinen, weil es durch jemanden geschieht, der weder die tägliche Unterhaltung noch den Unterricht von Husserl gekannt hat. Vielleicht jedoch findet dieser Versuch seinen Platz 1
Der Satz vom Grund, S. 123–124.
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Der Philosoph und sein Schatten
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neben anderen Zugängen. Denn für die, welche Husserl von Angesicht gekannt haben, treten neben die Schwierigkeiten der Kommunikation mit einem Werk noch die der Kommunikation mit einem Autor. Einzelne Erinnerungen leisten die Hilfe eines beiläufigen Zwischengliedes, eines Kurzschlusses der Konversation. Andere jedoch würden eher den ›transzendentalen‹ Husserl verstellen, derjenige, der sich gegenwärtig feierlich in der Geschichte der Philosophie etabliert – nicht daß er eine Fiktion wäre, sondern weil dies der von seinem Leben losgelöste Husserl ist, der dem Gespräch mit seinesgleichen und seinem allzeitlichen (omnitemporelle) Wagnis zurückgegeben ist. Wie alle, die uns nahestehen – zudem mit der Macht der Faszination und Enttäuschung des Genies –, konnte der persönlich anwesende Husserl, wie ich mir vorstellen kann, denen, die ihn umgaben, keine Ruhe lassen: Ihr ganzes philosophisches Leben muß für eine Zeit lang in jener außerordentlichen und unmenschlichen Beschäftigung bestanden haben, der fortwährenden Geburt eines Denkens beizuwohnen, es Tag für Tag zu belauern, ihm bei seiner Objektivierung behilflich zu sein oder sogar als kommunizierbares Denken zu existieren. Wie hätten sie später, als der Tod Husserls und ihre eigene Entwicklung sie zu der Einsamkeit des Erwachsenen zurückgeführt hatten, den vollen Sinn ihrer einstigen Meditationen mühelos wiederfinden können – die sie gewiß mit oder gegen Husserl frei fortsetzten, aber auf jeden Fall von ihm herkommend? Sie begegnen ihm über ihre Vergangenheit wieder. Ist dieser Weg kürzer als der über das Werk? Laufen sie nicht jetzt, gerade weil sie zunächst die ganze Philosophie in die Phänomenologie gelegt hatten, Gefahr, ihr gegenüber wie auch gegenüber ihrer Jugend zu streng zu sein und manche phänomenologischen Motive, die für den fremden Betrachter ihr ganzes Profil bewahren, auf das zu reduzieren, was sie in ihrer ursprünglichen Zufälligkeit und Bescheidenheit der Erfahrung gewesen sind? * Nehmen wir das Thema der phänomenologischen Reduktion – von dem man weiß, daß es für Husserl niemals aufgehört hat,
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eine rätselhafte Möglichkeit zu sein, und daß er immer darauf zurückgekommen ist. Die Behauptung, es sei ihm niemals gelungen, die Grundlagen der Phänomenologie zu sichern, bedeutet, sich über das, wonach er suchte, zu täuschen. Die Probleme der Reduktion sind für ihn kein Vorspiel oder Vorwort, sie sind der Beginn der Suche, und sie sind in gewisser Hinsicht das Ganze, weil nach Husserl ja das Untersuchen ein fortwährendes Anfangen ist. Man darf sich Husserl hierbei nicht als von ärgerlichen Hindernissen belästigt vorstellen: Die Ermittlung der Hindernisse ist ja gerade der Sinn seines Forschens. Eines seiner ›Ergebnisse‹ besteht darin zu verstehen, daß die Rückbewegung auf uns selbst – die ›Einkehr in uns selbst‹, wie Augustinus sagte, – durch eine entgegengesetzte Bewegung, die sie hervorruft, gleichsam aufgespalten wird. Husserl entdeckt jene Identität des ›In-sich-Zurückgehens‹ und des ›Aus-sich-Herausgehens‹ wieder, die für Hegel das Absolute definierte. Reflektieren – sagt er in den Ideen I – heißt, etwas Unreflektiertes aufdecken, das in einer Distanz gegeben ist, da wir mit ihm ja nicht mehr in Naivität eins sind; und dennoch können wir nicht daran zweifeln, daß die Reflexion es erreicht, da wir ausschließlich durch sie von ihm wissen. Die Reflexion wird nicht von dem Unreflektierten in Frage gestellt, es ist die Reflexion, die sich selbst in Frage stellt, weil ihr Bemühen um Wiederaufnahme, Inbesitznahme, Verinnerlichung oder Immanenz per definitionem nur sinnvoll ist im Hinblick auf ein schon gegebenes Etwas, das sich unter dem Blick selbst, der sich anschickt, es darin zu suchen, in seine Transzendenz zurückzieht. Es ist also weder Zufall noch Naivität, wenn Husserl der Reduktion widersprüchliche Merkmale zukommen läßt. Er sagt dort eben das, was er sagen will und was durch die tatsächliche Situation verlangt wird. Unsere Aufgabe ist es, die eine Hälfte der Wahrheit nicht zu übersehen. Auf der einen Seite also geht die Reduktion über die natürliche Einstellung hinaus. Sie ist nicht »natural«,2 was heißen soll, daß das Denken innerhalb der redu2
Ideen II, Husserliana, Bd. IV, S. 180.
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zierten Einstellung nicht mehr die Natur der Naturwissenschaften betrachtet, sondern gewissermaßen das »Widerspiel der Natur«,3 nämlich die Natur als »reinen Sinn der die natürliche Einstellung ausmachenden Akte«4 – die Natur in das Noema, das sie immer gewesen ist, zurückverwandelt und reintegriert in das Bewußtsein, das sie immer schon und durch und durch konstituiert hat. In der Ordnung der ›Reduktion‹ gibt es nur noch das Bewußtsein, seine Akte und die intentionalen Objekte. Deshalb kann Husserl schreiben, daß eine Abhängigkeit der Natur vom Geist bestehe, daß die Natur das Relative und der Geist das Absolute sei.5 Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit: Daß es keine Natur ohne Geist gebe oder daß man im Denken die Natur ausschalten könne, ohne den Geist auszuschalten, soll nicht heißen, daß die Natur ein Erzeugnis des Geistes sei oder daß irgendeine, wenn auch schwer zu fassende, Verbindung jener beiden Begriffe genügen könne, um die philosophische Formel für unsere Stellung im Sein zu liefern. Man kann den Geist ohne die Natur denken, und man kann die Natur nicht ohne den Geist denken. Vielleicht jedoch dürfen wir nicht die Welt und uns selbst als Entzweiung von Natur und Geist denken. Tatsache ist, daß die berühmtesten Beschreibungen der Phänomenologie in eine andere Richtung weisen als die einer ›Philosophie des Geistes‹. Wenn Husserl sagt, daß die Reduktion die natürliche Einstellung überschreitet, so fügt er sofort hinzu, daß in jenem Darüber-hinaus-Gehen »die gesamte Welt der natürlichen Einstellung« erhalten bleibt. Selbst die Transzendenz dieser Welt soll unter dem Blick des ›reduzierten‹ Bewußtseins einen Sinn bewahren, und die transzendentale Immanenz kann nicht ihre einfache Antithese sein. Von den Ideen II an scheint es klar zu sein, daß die Reflexion uns nicht in ein geschlossenes und transparentes Milieu versetzt, daß sie uns nicht, wenigstens nicht unmittelbar, vom ›Objektiven‹ zum ›Subjektiven‹ führt, sondern daß sie vielmehr die Funktion erfüllt, 3 4 5
Ebd. Ebd., S. 174. Ebd., S. 297.
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eine dritte Dimension freizulegen, in der diese Unterscheidung problematisch wird. Wohl gibt es ein Ich, das »gleichgültig«, rein »erkennend« auftritt, um eine jede Sache restlos zu erfassen, vor sich auszubreiten, zu »objektivieren« und von ihr intellektuell Besitz zu ergreifen – eine rein »theoretische Einstellung«, die darauf zielt, »Zusammenhänge sichtbar zu machen, die das Wissen vom erscheinenden Sein fördern könnten«.6 Aber genau dieses Ich ist nicht der Philosoph, jene Einstellung ist nicht diejenige der Philosophie: Es ist die Naturwissenschaft – genauer, eine gewisse Philosophie, aus der die Naturwissenschaften hervorgegangen sind, die auf das reine Ich und sein Korrelativ, die »bloßen Sachen«, zurückkam und sie von jeder praktischen Auszeichnung und jedem Wertprädikat ablöste. Von den Ideen II an umgeht die Husserlsche Reflexion dieses Tête-à-tête zwischen dem reinen Subjekt und den bloßen Sachen. Sie sucht das Grundlegende darunter. Es bedeutet nicht viel, wenn man sagt, daß Husserls Denken eine andere Richtung einschlägt: Es ignoriert die reine Korrelation von Subjekt und Objekt nicht, sondern geht ganz bewußt darüber hinaus, da es sie ja als nur relativ begründet, als nur im abgeleiteten Sinne wahr, als ein konstitutives Ergebnis hinstellt, das an seinem Platz und in seiner Zeit zu rechtfertigen ist. Aber von wo aus und vor welcher sichereren Instanz? Was an der Ontologie der bloßen Sachen falsch ist, besteht darin, daß sie eine rein theoretische Einstellung (oder Idealisierung) verabsolutiert und daß sie auf eine Beziehung zum Sein verzichtet oder diese für selbstverständlich hält, wo doch die theoretische Einstellung hierin gründet und sich ihr Wert an ihr bemißt. In Bezug auf diesen Naturalismus enthält die natürliche Einstellung eine höhere Wahrheit, die es wiederzuentdecken gilt. Denn sie ist nichts weniger als naturalistisch. Wir leben nicht natürlich in einem Universum der bloßen Sachen. Vor aller Reflexion nehmen wir in der Unterhaltung und im täglichen Leben eine »personalistische Einstellung« ein, von der der Naturalismus nicht berichten kann und in der die Sachen für uns nicht eine Natur an sich, sondern 6
Ebd., S. 26.
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»unsere Umgebung«7 sind. Unser natürlichstes Leben als Menschen richtet sich auf ein ontologisches Milieu, das ein anderes als das des An-sich ist und das also, der konstitutiven Ordnung nach, nicht aus diesem hergeleitet werden kann. Selbst durch die Berührung der Sachen wissen wir von ihnen in der natürlichen Einstellung viel mehr, als die theoretische Einstellung uns über sie sagen kann – und vor allem wissen wir es in anderer Weise. Die Reflexion spricht von unserem natürlichen Bezug zur Welt als von einer ›Einstellung‹, d.h. als von einer bestimmten Anzahl von ›Akten‹. Doch handelt es sich dabei um eine Reflexion, die sich in die Sachen voraussetzt und die nicht über sich selbst hinaussieht. Während sie auf ein universales Erfassen aus ist, vermerkt die Reflexion Husserls, daß es hier, im Unreflektierten, »Synthesen« gibt, »die vor aller Thesis liegen«.8 Die natürliche Einstellung wird erst dann wirklich zu einer Einstellung – zu einem Geflecht von beurteilenden und behauptenden Akten –, wenn sie zur naturalistischen These wird. Sie selbst ist frei von Vorbehalten, die man gegenüber dem Naturalismus erheben kann, weil sie »vor aller Thesis« liegt, weil sie das Mysterium einer Weltthesis vor allen Thesen ist, eines Urglaubens und einer Urdoxa, wie Husserl anderswo sagt, die also nicht einmal im Prinzip in die Begrifflichkeit eines klaren und deutlichen Wissens übersetzbar sind und die, älter als jede ›Einstellung‹ und jeder ›Standpunkt‹, uns nicht eine Vorstellung von der Welt, sondern die Welt selbst geben. Über jene Offenheit zur Welt kann die Reflexion nicht ›hinausgelangen‹, es sei denn mit Hilfe von Fähigkeiten, die sie ihr verdankt. Es gibt eine dem Bereich der Weltthesis eigene Klarheit und Evidenz, die sich nicht von jener unserer Thesen herleitet, ein Offenbaren der Welt, das sich eben durch ihr Verbergen im Halbdunkel der Doxa vollzieht. Wenn Husserl mit Nachdruck feststellt, daß die phänomenologische Reflexion in der natürlichen Einstellung beginnt – er wiederholt es in den Ideen II, um die Analyse der leiblichen und intersubjektiven Implikationen der 7 8
Ebd., S. 183. Ebd., S. 22.
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bloßen Sachen auf das Konstituierte zu beziehen9 –, so will er damit nicht nur sagen, daß man mit dem Meinen anzufangen und durch es hindurchzugehen habe, um beim Wissen anzukommen: Die Doxa der natürlichen Einstellung ist eine Urdoxa, sie stellt der Ursprünglichkeit des theoretischen Bewußtseins die Ursprünglichkeit unserer Existenz gegenüber, ihr Prioritätsanspruch ist endgültig und das reduzierte Bewußtsein muß dem Rechnung tragen. In Wahrheit sind die Beziehungen der natürlichen Einstellung zur transzendentalen Einstellung nicht einfach, sie bestehen nicht nebeneinander oder nacheinander, wie das Falsche oder Scheinbare und das Wahre. In der natürlichen Einstellung wird die Phänomenologie vorbereitet. Es ist die natürliche Einstellung, die durch Wiederholung ihres eigenen Vorgehens zur Phänomenologie umkippt. Es ist sie selbst, die sich in der Phänomenologie überschreitet – sie geht also nicht über sich hinaus. Umgekehrt ist die transzendentale Einstellung immer noch und trotz allem »natürlich«.10 Es gibt eine Wahrheit der natürlichen Einstellung – ja sogar eine, wenn auch sekundäre und abgeleitete, Wahrheit des Naturalismus. »Die seelische Realität ist in der leiblichen Materie fundiert, nicht ist aber umgekehrt diese in der Seele fundiert. Allgemeiner können wir gleich sagen: Die materielle Welt ist innerhalb der gesamten objektiven Welt, die wir Natur nennen, eine in sich geschlossene und eigene Welt, die keines Sukkurses anderer Realitäten bedarf. Dagegen ist die Existenz geistiger Realitäten, einer realen Geisteswelt, an die Existenz einer Natur im ersten Sinn, dem der materiellen Natur, gebunden, und das nicht aus zufälligen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Während die res extensa, wenn wir ihr Wesen befragen, nichts von Geistigkeit enthält und nichts, was über sich hinaus eine Verknüpfung mit realer Geistigkeit forderte, finden wir umgekehrt, daß reale Geistigkeit wesentlich nur sein kann in Anknüpfung an Materialität als realer Geist
Ebd., S. 174. Ebd., S. 180: »Eine neue Einstellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich […] ist.« 9
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eines Leibes.«11 Wir zitieren diesen Text nur als Gegengewicht zu den Texten, welche die Relativität der Natur und die Irrelativität des Geistes behaupteten und damit die Selbstgenügsamkeit der Natur und die Wahrheit der natürlichen Einstellung zerstörten, die hier ihre Bestätigung wiederfinden. Die Phänomenologie ist letztlich weder ein Materialismus noch eine Philosophie des Geistes. Ihre eigentliche Leistung besteht darin, die vortheoretische Schicht aufzudecken, in der beide Idealisierungen ihr relatives Recht erhalten und überwunden werden. Wie wird diese Infrastruktur, das Geheimnis aller Geheimnisse, diesseits unserer Thesen und unserer Theorie seinerseits auf Akten des absoluten Bewußtseins beruhen können? Läßt das Hinabsteigen in das Gebiet unserer »Archäologie« die Instrumente unserer Analyse unversehrt? Ändert es nichts an unserer Auffassung der Noesis, des Noema, der Intentionalität, an unserer Ontologie? Sind wir nach wie vor berechtigt, in einer Aktanalyse zu suchen, was unser Leben und das der Welt in letzter Instanz trägt? Man weiß, daß Husserl sich kaum explizit dazu geäußert hat. Es gibt einige Ausdrücke, die als Indices das Problem anzeigen – als ein Ungedachtes, das zu denken ist. Zunächst der Begriff einer »vortheoretischen Konstituierung«,12 die über die »Vorgegebenheiten«13 Aufschluß zu geben hätte, jene Bedeutungskerne, um die die Welt und der Mensch gravitieren und von denen man in gleicher Weise sagen kann (wie Husserl es vom Körper sagt), daß sie für uns immer »schon konstituiert« sind oder daß sie »niemals vollständig konstituiert« sind – mit einem Wort, daß das Bewußtsein ihnen gegenüber immer voraus oder hinterher, aber niemals zugleich ist. Im Hinblick auf jene eigenartigen Seinsweisen hat Husserl zweifelsohne an anderen Stellen eine Konstitution geschildert, die sich nicht vermittels des Erfassens eines ›Auffassungsinhalts‹ als Exemplar eines Sinnes oder eines Wesens vollzieht, eine fungierende oder latente Intentionalität wie jene, 11 12 13
Ideen III, Husserliana, Bd. V, Beilage I, S. 117. Ideen II, S. 5. Ebd.
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die die Zeit belebt und älter ist als die Intentionalität der menschlichen Akte. So muß es für uns Wesenheiten geben, die noch nicht durch die zentrifugale Aktivität des Bewußtseins ins Sein getragen sind, Bedeutungen, die dieses nicht spontan zu Inhalten deklariert, Inhalte, die auf Umwegen an einem Sinn teilhaben, die ihn anzeigen, ohne mit ihm zusammenzutreffen, ohne daß er an ihnen als das Monogramm oder das Gepräge des thetischen Bewußtseins schon ablesbar ist. Auch hier gibt es einen Zusammenschluß intentionaler Fäden um bestimmte Knoten herum, die sie leiten; doch die Reihe der Rückdeutungen, die uns immer tiefer führt, kann nicht beim intellektuellen Besitz eines Noema enden: Es gibt zwar eine geordnete Folge von Schritten, doch sie ist ohne Ende und ohne Anfang. Ebenso wie durch den Strudel des absoluten Bewußtseins wird das Denken Husserls von der Ecceität der Natur angezogen. Mangels expliziter Thesen über die Beziehung des einen zum anderen bleibt uns nur übrig, die Proben einer »vortheoretischen Konstituierung« zu befragen, die er uns liefert, und – auf unser Risiko hin – das Ungedachte zu formulieren, das wir in ihnen zu erahnen glauben. Unbestreitbar gibt es etwas zwischen der transzendenten Natur, dem An-sich des Naturalismus, und der Immanenz des Geistes, seiner Akte und seiner Noemata. In diesem Zwischenreich muß man weiterzuforschen versuchen. * Unter der »objektiven materiellen Sache« decken die Ideen II ein Geflecht von Verstrickungen auf, bei dem man nicht mehr das Pulsieren des konstituierenden Bewußtseins spürt. Zwischen den Bewegungen meines Körpers und den »Eigenschaften« der Sache, die sie enthüllen, besteht die Beziehung des »Ich kann« zu den Wundern, die er hervorzurufen vermag. Und doch muß mein Leib selbst mit der sichtbaren Welt verschränkt sein: Seine Fähigkeit bezieht er gerade von daher, daß er einen Standort hat, von dem aus er sieht. Er ist also eine Sache, aber eine Sache, der ich innewohne. Er steht, wenn man will, auf seiten des Subjekts, aber ist der Örtlichkeit der Sachen nicht fremd: Zwischen ihm und ihnen besteht eine Beziehung des absoluten Hier zum Dort, des
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Ursprungs aller Entfernung zur Entfernung. Er ist der Bezirk, in dem meine Wahrnehmungsvermögen lokalisiert sind. Aber was kann das Band zwischen diesem und ihm anderes sein als die objektive gegenseitige Abhängigkeit? Wenn ein Bewußtsein, sagt Husserl, das Gefühl der Sättigung empfände, wenn der Wasserbehälter einer Lokomotive voll ist, wenn das Bewußtsein Wärme fühlte, wenn im Kessel der Lokomotive Feuer gemacht wird, dann wäre die Lokomotive deshalb nicht der Leib dieses Bewußtseins.14 Was gibt es also zwischen meinem Körper und mir anderes als die Gesetzmäßigkeiten einer okkasionellen Kausalität? Es gibt einen Bezug meines Leibes zu ihm selbst, die ihn zum vinculum meiner selbst und der Dinge macht. Wenn meine rechte Hand meine linke berührt, empfinde ich sie als ein »physisches Ding«, aber im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: Auch meine linke Hand beginnt meine rechte Hand zu empfinden, das Ding verändert sich, es wird Leib, es empfindet.15 Das physische Ding belebt sich – oder genauer, es bleibt, was es war, das Ereignis bereichert es nicht, aber eine erkundende Kraft legt sich auf es oder bewohnt es. Ich berühre mich also berührend, mein Leib vollzieht »eine Art Reflexion«. In ihm, durch ihn besteht nicht nur eine Beziehung in einer Richtung, von dem der fühlt, zu dem, was er fühlt: Das Verhältnis kehrt sich um, die berührte Hand wird zur berührenden, und ich muß sagen, daß das Berühren hier im ganzen Leib verbreitet ist und daß der Leib »empfindendes Ding«, »subjektives Objekt«16 ist. Es ist ersichtlich, daß diese Beschreibung auch unsere Idee von der Sache und der Welt umwälzt und daß sie zu einer ontologischen Rehabilitierung des Sinnlichen führt. Denn fortan kann man buchstäblich sagen, daß der Raum selbst sich durch meinen Leib hindurch kennt. Wenn die Unterscheidung von Subjekt und Objekt in meinem Leib verschwimmt (und sicherlich auch die der Noesis und des Noema?), so verschwimmt sie auch in der 14 15 16
Ideen III, Beilage I, S. 117. Ideen II, S. 145. Ideen III, Beilage I, S. 119, 124.
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Sache, die der Pol der Operationen meines Leibes ist, der Endpunkt, in dem sich sein Erkunden erfüllt,17 die also in demselben intentionalen Geflecht wie er befangen ist. Wenn man sagt, daß die wahrgenommene Sache leibhaft (en personne, dans sa chair) erfaßt wird, so ist dies wörtlich zu nehmen: Das Fleisch (chair) des Sinnlichen, jene dichte Körnigkeit, die das Erkunden beendet, jenes Optimum, das es abschließt, spiegeln meine eigene Inkarnation wider und bilden ihr Gegenstück. Wir haben es hier mit einer Art von Sein zu tun, einem Universum mit seinem unvergleichlichen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, wo das eine sich im anderen artikuliert und ein für allemal zu allen »Relativitäten« der sinnlichen Erfahrung ein »Irrelatives« »herausbestimmt« wird, das den »Rechtsgrund« für alle Konstruktionen des Erkennens bildet.18 Die gesamte Erkenntnis, das ganze objektive Denken leben von dieser ursprünglichen Tatsache: daß ich empfunden habe, daß ich, mit jener Farbe oder irgendeinem anderen Sinnlichen, eine sonderbare Existenz teile, die mit einem Mal meinen Blick in Beschlag nahm und ihm dennoch eine unbegrenzte Reihe von Erfahrungen versprach, als eine Konkretion von schon jetzt wirklichen Möglichkeiten in den verborgenen Seiten der Sache, als Zeitraum, der mir auf einmal gegeben ist. Die Intentionalität, die die Momente meines Erkundens, die Aspekte der Sache und diese zwei Reihen miteinander verbindet, ist weder eine Verknüpfungstätigkeit des geistigen Subjekts, noch wird sie durch die bloßen Zusammenhänge des Objekts gebildet, sie ist der Übergang, den ich als leibliches Subjekt von einer Phase der Bewegung zur anderen vollziehe und der für mich prinzipiell immer möglich ist, weil ich jenes wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen bin, das Leib heißt. Sicher, es gibt hier ein Problem: Was wird aus der Intentionalität, wenn sie nicht mehr das geistige Erfassen einer sinnlichen Materie als Exemplar eines Wesens ist, das Wiedererkennen dessen in den Dingen, was wir in sie hineingelegt 17
Ideen II, S. 60: »Die Erfahrungstendenz terminiert in ihr, erfüllt sich in
ihr.« 18
Ebd., S. 76.
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haben? Sie kann nicht mehr der Ablauf einer transzendenten, ursprünglichen Ordnung oder Teleologie sein, die wir erdulden, oder, im cartesischen Sinne, einer ›Einrichtung der Natur‹, die in uns, ohne uns operiert: Das würde bedeuten, in dem Augenblick, in dem wir gerade die beiden unterschieden haben, die Ordnung des Sinnlichen in die Welt der objektiven Entwürfe oder Pläne zu reintegrieren – es hieße vergessen, daß jene ein Sein auf Entfernung ist, die hier und jetzt erfolgende blitzartige Bekundung eines unerschöpflichen Reichtums, und daß die Sachen sich vor uns nur halb öffnen, gleichzeitig enthüllt und verborgen sind. All das stellt man ebensowenig in Rechnung, wenn man aus der Welt einen Zweck macht, wie wenn man aus ihr eine Idee macht. Die Lösung – wenn es eine gibt – kann nur darin liegen, jene Schicht des Sinnlichen zu befragen oder mit ihren Rätseln umzugehen. Wir sind noch weit entfernt von den cartesischen bloßen Sachen. Für meinen Leib ist die Sache eine ›solipsistische‹, sie ist noch nicht die Sache selbst. Sie ist im Zusammenhang meines Leibes erfaßt, der selbst nur durch seine Ränder oder seine Peripherie dem Bereich der Sachen angehört. Die Welt hat sich noch nicht auf ihn hin geschlossen. Die Sachen, die er wahrnimmt, wären nur dann wirklich das Sein, wenn ich erführe, daß sie von Anderen gesehen werden, daß sie für jeden Zuschauer, der diesen Namen verdient, präsumtiv sichtbar sind. Das An-sich wird also erst nach der Konstitution des Anderen in Erscheinung treten. Doch sind die Konstitutionsschritte, die uns noch davon trennen, von der gleichen Art wie die Enthüllung meines Leibes; sie machen, wie wir sehen werden, Gebrauch von einem Universalen, das er schon zur Erscheinung brachte. Meine rechte Hand wohnte dem Auftreten der aktiven Berührung meiner linken Hand bei. Es ist nichts anderes, wenn sich der Körper des Anderen vor mir belebt, wenn ich die Hand eines anderen Menschen drücke, oder wenn ich sie einfach betrachte.19 Indem ich erfahre, daß mein Leib ein »empfindendes Ding« ist, daß er reizbar ist – er und nicht nur mein ›Bewußtsein‹ –, bin ich darauf vorbereitet zu verstehen, 19
Ebd., S. 165–166.
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daß es andere Animalia und möglicherweise andere Menschen gibt. Man beachte, daß es hier weder einen Vergleich noch eine Analogie, keine Projektion oder »Introjektion«20 gibt. Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, daß ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle der linken Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen durch jene »Art der Reflexion« einverleibt, deren Sitz er paradoxerweise ist. Meine beiden Hände sind »kompräsent« oder »koexistent«, weil sie die Hände eines einzigen Leibes sind: Der Andere erscheint durch eine Ausdehnung dieser »Kompräsenz«21, er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit (intercorporéité). Die Erfahrung des Anderen ist für Husserl zunächst »ästhesiologisch«, und sie muß es sein, wenn der Andere wirklich existiert; der Andere ist hier kein idealer Bezugspunkt, keine vierte Proportionale, welche die Bezüge meines Bewußtseins zu meinem objektiven Körper und zu sich selbst vervollständigte. Was ich zunächst wahrnehme, ist eine andere »Empfindbarkeit« und nur von dorther erfahre ich einen anderen Menschen und ein anderes Denken. »Dieser Mensch dort sieht und hört, vollzieht auf Grund seiner Wahrnehmungen die und die Urteile, die und die Wertungen und Wollungen in vielgestaltigem Wechsel. Daß ›in‹ ihm, diesem Menschen dort, ein ›Ich denke‹ auftaucht, das ist ein Naturfaktum, fundiert in dem Leibe und leiblichen Vorkommnissen, bestimmt durch den substantial-kausalen Zusammenhang der Natur […]«22 Man wird vielleicht fragen, wie ich die Kompräsenz der Leiber auf die Geister ausdehnen kann und ob dies nicht durch einen Rückbezug auf mich selbst geschieht, welche die Projektion oder Introjektion wieder einführt: Erfahre ich nicht in mir selbst, daß eine Empfindbarkeit und sensorische Felder ein Bewußtsein oder einen Geist voraussetzen? Doch zunächst postuliert der Einwand, daß der Andere für mich in genau dem Sinne Geist sein kann, 20 21 22
Ebd., S. 166. Ebd., S. 166: „übertragene Kompräsenz“. Ebd., S. 181.
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in dem ich es für mich selbst bin. Doch ist nach allem nichts weniger sicher als das: Das Denken der Anderen ist für uns niemals ganz und gar ein Denken. Der Einwand impliziert darüber hinaus, daß es sich hier darum handelt, einen anderen Geist zu konstituieren, wohingegen das Konstituierende vorerst selbst nur ein belebter Leib (chair animée) ist; nichts steht dem entgegen, das Auftreten eines Anderen, der ebenso spricht und hört, für den Augenblick vorzubehalten, in dem er sprechen und hören wird. – Aber vor allem würde der Einwand gerade das ignorieren, was Husserl hat sagen wollen: nämlich, daß es für einen Geist keine Konstitution eines Geistes gibt, aber für einen Menschen die eines Menschen. Aufgrund der besonderen Aussagekraft des wahrnehmbaren Leibes nimmt die Einfühlung den Weg vom Leib zum Geist. Wenn durch ein erstes »intentionales Überschreiten«23 vor mir ein anderer erfahrender Leib, ein anderes Verhalten in Erscheinung tritt, so ist es der Mensch als Ganzes, der mir mit allen Möglichkeiten, was sie auch immer sein mögen, gegeben ist, und dessen unwiderrufliches Zeugnis ich in meinem inkarnierten Sein besitze. Niemals werde ich in aller Strenge das Denken des Anderen denken können: Ich kann denken, daß er denkt, kann hinter jener Gliederpuppe eine Selbstgegenwart nach dem Modell der meinen konstruieren; aber wieder bin ich es, der ich mich in ihn hineinversetze, und es kommt dann tatsächlich zu einer ›Introjektion‹. Demgegenüber weiß ich unzweifelhaft, daß jener Mensch dort sieht, daß meine wahrnehmbare Welt auch die seine ist, denn ich wohne seinem Sehen bei, es ereignet sich in dem auf das Schauspiel gerichteten Blick seiner Augen, und wenn ich sage: ›Ich sehe, daß er sieht‹, so findet hier kein Ineinanderschachteln zweier Aussagen statt, wie es der Fall ist, wenn ich sage: ›Ich denke, daß er denkt‹, sondern das ›vorgeordnete‹ und das ›nachgeordnete‹ Sehen dezentrieren hier einander. Da war eine Gestalt, die mir ähnelt, aber mit geheimen Aufgaben beschäftigt, von einem unbekannten Traum erfüllt. Plötzlich ist ein wenig vor und unter den Augen ein Schimmer erschienen, der Blick hebt sich 23
Der Ausdruck wird in den Cartesianischen Meditationen benutzt.
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und erfaßt dieselben Sachen, die ich sehe. Alles, was sich auf meiner Seite auf das wahrnehmende und sich bewegende Lebewesen stützt, alles, was ich jemals auf ihm aufbauen kann – und auch mein ›Denken‹, doch als Modulation meiner Gegenwärtigkeit in der Welt –, geht mit einem Schlag in den Anderen über. Ich sage, daß dort ein Mensch ist und keine Gliederpuppe, ebenso wie ich sehe, daß dort der Tisch steht und nicht eine Perspektive oder die Erscheinung des Tisches. Es ist wahr: Ich würde das nicht erkennen, wenn ich nicht selbst Mensch wäre; wenn ich nicht über den unmittelbaren Kontakt des Denkens verfügte (oder nicht glaubte, über ihn zu verfügen), würde auch kein anderes Cogito vor mir auftauchen; aber diese negativen Festellungen drücken nicht das aus, was sich im ganzen ereignet, sie geben nur partielle Abhängigkeiten an, die sich aus dem Auftreten des Anderen herleiten, aber dieses nicht konstituieren. Jede Introjektion setzt schon voraus, was man durch sie erklären will. Wenn es wirklich mein ›Denken‹ wäre, das in den Anderen versetzt werden sollte, würde ich es niemals in ihn versetzen: Keine Erscheinung hätte jemals die Wirkung, mich zu überzeugen, daß dort ein Cogito ist und könnte die Übertragung motivieren, wenn die ganze Überzeugungskraft des meinen davon herrührt, daß ich Ich bin. Wenn der Andere für mich existieren soll, so muß dies zuerst unterhalb der Ebene des Denkens der Fall sein. Hier ist es möglich, weil die sinnliche Offenheit zur Welt, die eher eine Enteignung als eine Besitznahme darstellt, keinen Anspruch auf das Monopol des Seins erhebt und keinen Kampf der Bewußtseine auf Leben und Tod entstehen läßt. Die von mir wahrgenommene Welt, die halb erschlossenen Dinge vor mir, können mit ihrer Dichte mehr als ein empfindendes Subjekt mit ›Bewußtseinszuständen‹ versehen, sie besitzen ein Anrecht auf andere Zeugen als mich selbst. Daß sich in dieser Welt ein Verhalten abzeichnet, das über mich hinausgeht, bildet nur eine weitere Dimension des ursprünglichen Seins, das sie alle umfaßt. Also bereits auf der ›solipsistischen‹ Stufe ist der Andere nichts Unmögliches, weil die empfindbare Sache offen ist. Er wird gegenwärtig, wenn ein anderes Verhalten und ein anderer Blick von meinen Sachen
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Besitz ergreifen – und eben das geschieht. Diese Verflechtung meiner Welt mit einer anderen Leiblichkeit entsteht ohne Introjektion, weil die für mich empfindbaren Dinge durch ihr Aussehen, ihre Konfiguration, ihr sinnliches Gefüge (texture charnelle) schon das Wunder verwirklichen, Sachen zu sein und es deshalb zu sein, weil sie einem Leib angeboten werden und dadurch meine Leiblichkeit zu einer Probe des Seins wird. Der Mensch kann das Alter ego hervorbringen, was das ›Denken‹ nicht hervorbringen kann, weil er außer sich in der Welt ist und weil eine Ek-stase zusammen mit Anderen möglich ist. Und diese Möglichkeit erfüllt sich in der Wahrnehmung als vinculum zwischen dem rohen Sein (l’être brut) und einem Leib. Das ganze Rätsel der Einfühlung ist in seiner Anfangsphase ›ästhesiologisch‹, und es wird dort gelöst, weil es sich um eine Wahrnehmung handelt. Derjenige, der den anderen Menschen ›setzt‹, ist ein wahrnehmendes Subjekt, der Leib des Anderen ist eine wahrgenommene Sache, der Andere selbst ist ›gesetzt‹ als ›wahrnehmend‹. Es handelt sich immer nur um eine doppelte Wahrnehmung (co-perception). Ich sehe, daß jener Mensch dort sieht, wie ich meine linke Hand berühre, wenn ich gerade meine rechte Hand berühre. Das Problem der Einfühlung wie das meiner Inkarnation läuft also auf eine Meditation über das Sinnliche hinaus oder, wenn man lieber will, verlagert sich nach dorthin. Dies liegt daran, daß das Sinnliche, das sich mir in meinem privatesten Leben kundgibt, gleichzeitig jede andere Leiblichkeit angeht. Es ist das Sein, das mich im Innersten betrifft, das ich aber auch in einem rohen und wilden (brut ou sauvage) Zustand treffe, in einer absoluten Präsenz, welche das Geheimnis der Welt, der Anderen und des Wahren enthält. Es gibt hier »Gegenstände«, »die nicht nur einem Subjekt urpräsent sein können, sondern, wenn sie einem urpräsent sind, identisch von jedem anderen Subjekt (sobald solche konstituiert sind) idealiter urpräsent gegeben sein können. Die Gesamtheit der möglicherweise urpräsenten Gegenstände, die für alle kommunizierenden Subjekte einen Bereich gemeinsamer Urpräsenz bilden, ist die Natur im ersten und ursprünglichen
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Sinn«.24 Vielleicht kann man nirgendwo besser als in diesen Zeilen den doppelten Sinn der Husserlschen Reflexion erkennen, die sowohl eine Analytik der Wesen als auch eine Analytik der Existenzen ist. Denn daß dasjenige, was einem Subjekt gegeben ist, prinzipiell auch jedem Anderen gegeben ist, gilt idealiter; aber von der »ursprünglichen Gegenwart« des Sinnlichen aus entwickeln sich die Evidenz und die Allgemeinheit, welche durch die Wesensbezüge vermittelt werden. Man lese nur, wenn man daran zweifeln sollte, die außergewöhnlichen Seiten25 noch einmal, auf denen Husserl zu verstehen gibt, daß, selbst wenn man das absolute oder wahre Sein zum Korrelativ eines absoluten Geistes machen wollte, es irgendeines Bezugs zu demjenigen bedürfte, was wir Menschen das Sein nennen – daß der absolute Geist und wir uns erkennen müßten, so wie zwischen Menschen »nur durch Verständigung die Möglichkeit besteht zu erkennen, daß die Dinge, die der eine sieht, und die, die der andere sieht, dieselben sind«,26 daß also der absolute Geist die Sachen sehen müsste »eben auch durch sinnliche Erscheinungen […], die ähnlich austauschbar sein müßten in einer Wechselverständigung – oder mindestens einseitig – wie unsere Erscheinungen zwischen uns Menschen« und daß er »zu Zwecken der Wechselverständigung auch einen Leib« haben müßte und daß schließlich »auch die Abhängigkeit von Sinnesorganen« gegeben sein müßte. Gewiß gibt es mehr Dinge in der Welt und in uns als dasjenige, was im strikten Wortsinne wahrnehmbar ist. Das Erleben des Anderen selbst ist mir nicht in seinem Verhalten gegeben. Um einen Zugang zu ihm zu haben, müßte ich er selber sein. Entsprechend bin ich in den Augen des Anderen – auch wenn es stets meine Absicht sein sollte, in dem, was ich wahrnehme, das Sein selbst zu erfassen – in meinen ›Vorstellungen‹ befangen, bleibe ich diesseits seiner Wahrnehmungswelt und transzendiere ihn also. Doch benutzen wir hier einen verstümmelten Begriff des Wahrnehmbaren und der Natur. 24 25 26
Ideen II, S. 163. Ebd., S. 85. Ebd.
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Kant sagte, daß diese »der Inbegriff der Gegenstände der Sinne«27 sei. Husserl findet das Sinnliche wieder als allgemeine Form des rohen Seins (l’être brut). Wahrnehmbar sind nicht nur die Dinge, sondern auch alles, was sich an ihnen abzeichnet, selbst ihre Höhlungen, alles, was seine Spur zurückläßt, alles, was dort auftritt, selbst als Unterschied und als eine bestimmte Abwesenheit: »Nun ist aber zu beachten, daß das im ursprünglichen Sinne Erfahrbare, das urpräsentierbare Sein, nicht alles Sein ist, auch nicht alles erfahrbare Sein. Realitäten, die nicht für mehrere Subjekte in Urpräsenz gegeben sein können, sind die Animalien: Sie enthalten ja Subjektivitäten. Sie sind eigentümliche Objektitäten, die ihre ursprüngliche Gegebenheit derart haben, daß sie Urpräsenzen voraussetzen, während sie selbst in Urpräsenz nicht zu geben sind.«28 Die Animalia und die Menschen sind eben dieses: Wesen, die absolut gegenwärtig sind und eine negative Spur hinterlassen. Ein wahrnehmender Leib, den ich sehe, ist ebenso eine gewisse Abwesenheit; sein Verhalten zieht sie nach sich, sie wird hinter ihm zurückgelassen. Aber selbst die Abwesenheit ist in der Anwesenheit verwurzelt, durch ihren Leib ist die Seele des Anderen in meinen Augen Seele. Die ›Negativitäten‹ zählen auch zu der Welt des Sinnlichen, die also das wirklich Universelle ist. * Was ergibt sich aus alldem nun für die Konstitution? Indem Husserl auf die vortheoretische, vorthetische oder vorobjektive Ebene zurückgreift, hat er die Bezüge zwischen dem Konstituierten und dem Konstituierenden umgekehrt: Das An-sich-Sein, das Sein für einen absoluten Geist, erhält fortan seine Wahrheit von einer ›Schicht‹ her, in der es weder einen absoluten Geist noch eine Immanenz der intentionalen Objekte in diesem Geist gibt, sondern nur inkarnierte Geister, die durch ihren Leib »zur selben Welt gehören«29. Das soll natürlich nicht heißen, daß wir von der Phi27 28 29
Kritik der Urteilskraft. Ideen II, S. 163. Ebd., S. 82: »Denn logische Objektivität ist eo ipso auch Objekti-
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losophie zur Psychologie oder zur Anthropologie übergegangen wären. Der Bezug zwischen der logischen Objektivität und der leiblichen Intersubjektivität ist eine der doppelsinnigen Bezüge der Fundierung, von denen Husserl an anderer Stelle spricht. Die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) kulminiert (und verwandelt sich) im Auftreten der bloßen Sachen, ohne daß man sagen könnte, daß eine der beiden Ordnungen hinsichtlich der anderen primär sei. Die Ordnung des Vorobjektiven ist nicht primär, da sie ja nur greifbar wird und eigentlich erst im vollen Sinne des Wortes zu existieren beginnt, wenn sie sich in der Einsetzung der logischen Objektivität erfüllt. Diese jedoch genügt sich nicht selbst, sie beschränkt sich darauf, die Arbeit der vorobjektiven Schicht zu rechtfertigen, sie existiert nur als der Ertrag des ›Logos der ästhetischen Welt‹ und gilt nur unter deren Kontrolle. Zwischen den ›niederen‹ und den höheren Schichten der Konstitution ahnt man den einzigartigen Bezug der Selbstvergessenheit, die Husserl schon in den Ideen II 30 nennt und die er später in der Theorie der Sedimentierung wiederaufnehmen sollte. Die logische Objektivität leitet sich von der leiblichen Intersubjektivität (intersubjectivité charnelle) her, vorausgesetzt, daß sie als solche vergessen worden ist, wobei sie selbst dieses Vergessen hervorbringt, indem sie sich zur logischen Objektivität entwickelt. Die Kräfte der Konstitution wirken also nicht in eine einzige Richtung, sie wenden sich gegen sich selbst zurück; die Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) überschreitet sich und ignoriert sich schließlich als Zwischenleiblichkeit (intercorporéité), sie verstellt und verwandelt ihre Ausvität im Sinne der Intersubjektivität. Was ein Erkennender in logischer Objektivität erkennt (also so, daß es keinen Index der Abhängigkeit des Wahrheitsgehaltes von diesem Subjekt und seinem Bestand an Subjektivitäten hat), das kann jeder Erkennende ebenso erkennen, wofern er die Bedingungen erfüllt, denen jeder Erkennende solcher Objekte genügen muß. Das sagt hier: er muß die Dinge und dieselben Dinge erfahren, muß, wenn er diese Identität auch erkennen soll, mit dem anderen Erkennenden im Einfühlungsverhältnis stehen, er muß dazu Leiblichkeit haben und zur selben Welt gehören etc.« 30 Ebd., S. 55.
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gangssituation, und die Triebfeder der Konstitution kann weder in ihrem Anfang noch in ihrem Ende gefunden werden. Diese Bezüge finden sich auf jeder ihrer Stufen wieder. Die intuitiv wahrgenommene Sache gründet auf dem Eigenleib. Das bedeutet nicht, daß die Sache im Sinne der Psychologen aus kinästhetischen Vorgängen hervorgehe. Ebensogut kann man sagen, daß das gesamte Funktionieren des Eigenleibs an der intuitiven Sache hängt, über der sich der Kreis des Verhaltens schließt. Der Leib ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Möglichkeitsbedingung der Sache. Wenn man von ihm zu ihr übergeht, gelangt man weder von einem Prinzip zu einem Schluß noch von einem Mittel zu seinem Zweck: Man wohnt einer Art von Ausdehnung, Einmischung und Übergreifen bei, die den Übergang vom Solus ipse zum Anderen, von der ›solipsistischen‹ Sache zur intersubjektiven vorbereitet. Denn für Husserl ist weder die ›solipsistische‹ Sache noch der Solus ipse primär. Der Solipsismus ist ein »Gedankenexperiment«,31 der Solus ipse ist ein »konstruiertes Subjekt«32. Diese Methode des isolierenden Denkens ist eher dazu bestimmt, die Bänder des intentionalen Gewebes aufzuzeigen als sie aufzulösen. Wenn wir sie tatsächlich oder auch nur gedanklich auflösen könnten, wenn wir den Solus ipse wirklich von dem Anderen und der Natur abtrennen könnten (wie Husserl es, gestehen wir es ein, bisweilen getan hat, wenn er sich den leblosen Geist, dann die leblose Natur vorstellt, und sich fragt, was daraus für die Natur und für den Geist folge), dann würden in jenem Bruchstück des Ganzen, das allein übrig bliebe, die Bezüge auf das Ganze erhalten bleiben, aus denen es besteht: Wir hätten immer noch nicht den Solus ipse. »[…] Der Solus-ipse verdient seinen Namen in Wahrheit nicht. Die Abstraktion, die wir als einsichtig berechtigte vollzogen haben, liefert nicht den isolierten Menschen, bzw. die isolierte menschliche Persönlichkeit. Diese Abstraktion bestand ja auch nicht darin, daß wir einen Massenmord der Menschen 31 32
Ebd., S. 81. Ebd.
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und Tiere unserer Umwelt veranstalteten, das eigene menschliche Subjekt allein verschonend. Das dann als einziges verbleibende Subjekt wäre noch immer Menschensubjekt, d.i. noch immer der intersubjektive Gegenstand, sich selbst immer noch als solches auffassend und setzend.«33 Diese Bemerkung hat weitreichende Folgen. Wenn man sagt, daß das Ego ›vor‹ den Anderen allein ist, so situiert man es bereits im Hinblick auf das Phantom eines Anderen, so stellt man zumindest eine Umwelt vor, in der auch Andere sein könnten. Die wahrhafte und transzendentale Einsamkeit ist das nicht: Sie tritt nur dort auf, wo der Andere nicht einmal vorstellbar ist, und das erfordert, daß es nicht einmal ein Ich gibt, das sie in Anspruch nehmen könnte. Wir sind nur dann wirklich allein, wenn wir es nicht wissen, und eben dieses Nicht-Wissen macht unsere Einsamkeit aus. Die besagte solipsistische ›Schicht‹ oder ›Sphäre‹ ist ohne Ego und ohne Ipse. Die Einsamkeit, aus der wir zum intersubjektiven Leben emportauchen, ist nicht diejenige der Monade. Es ist nur der Nebel eines anonymen Lebens, der uns vom Sein trennt, und die Schranke zwischen uns und den Anderen ist nicht greifbar. Wenn es einen Schnitt gibt, so nicht zwischen mir und dem Anderen, sondern zwischen einer ursprünglichen Allgemeinheit, in die wir verwickelt sind, und dem präzisen System Ich-die Anderen. Das, was dem intersubjektiven Leben ›vorangeht‹, kann nicht numerisch von ihm unterschieden werden, gerade weil es ja auf dieser Ebene weder Individuation noch numerische Unterscheidung gibt. Die Konstitution des Anderen erfolgt nicht nach der Konstitution des Leibes, der Andere und mein Leib entstehen gemeinsam aus der ursprünglichen Ekstase. Die Leiblichkeit, zu der die primordiale Sache gehört, ist eher eine Leiblichkeit im allgemeinen; wie der Egozentrismus des Kindes, so ist die ›solipsistische Stufe‹ ebensogut ein Stadium des Übergangs und der Verwicklung des Ichs mit dem Anderen. – All das, wird man zweifellos sagen, macht gerade das aus, was das solipsistische Bewußtsein über sich selbst denken und 33
Ebd.
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sagen würde, wenn es auf dieser Stufe denken und sprechen könnte. Doch welche Illusion von Neutralität es auch haben mag, es bleibt eine Illusion. Das Wahrnehmbare gibt sich als ein Sein für ein X …, aber dennoch bin ich es und kein anderer, der jene Farbe sieht oder jenen Ton hört, wie auch das vorpersönliche Leben immer noch eine mir eigene Sicht der Welt ist. Das Kind, das seine Mutter bittet, es über die Schmerzen zu trösten, die sie erleidet, ist trotz allem auf sich selbst gerichtet. – So jedenfalls bewerten wir sein Verhalten, wir, die wir gelernt haben, den Schmerz und die Freude in der Welt auf einzelnes Leben zu verteilen. Die Wahrheit ist jedoch weniger einfach: Das Kind, das mit Zuneigung und Liebe rechnet, bekundet die Wirklichkeit dieser Liebe und daß sie von ihm verstanden wird, daß es auf seine Weise schwach und passiv seine Rolle in ihr spielt. In der Wechselbeziehung des Füreinander kommt es zu einer Kupplung von Egoismus und Liebe, die deren Grenzen verwischt, zu einer Identifikation, die über den Solipsismus hinausgeht; dies geschieht ebenso im Falle des Herrschenden und des Ergebenen. Egoismus und Altruismus heben sich vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zur selben Welt ab, und wollte man dieses Phänomen von einer solipsistischen Stufe her konstruieren, würde man es ein für allemal unmöglich machen – und vielleicht das Tiefgründigste verkennen, was Husserl uns sagt. Für jeden, der über sein Leben nachdenkt, gibt es zwar die prinzipielle Möglichkeit, es als eine Abfolge von privaten Bewußtseinszuständen zu betrachten, so wie es der erwachsene und zivilisierte Europäer tut. Er tut es aber nur, wenn er Erfahrungen vergißt oder karikierend rekonstruiert, die diese alltäglichen und einander nachgeordneten Zeitspannen übersteigen. Vom ›Man stirbt allein‹ kann man schlecht auf ein ›Man lebt allein‹ schließen, und wenn zur Definition der Subjektivität nur der Schmerz und der Tod herangezogen werden, dann wird das Leben mit den Anderen in der Welt unmöglich. Es geht also nicht darum, eine Seele der Welt, der Gruppe oder des Paares zu konzipieren, deren Instrumente wir wären, es geht vielmehr darum, ein ursprüngliches Man zu begreifen, das seine Authentizität besitzt, das auch immer bestehen bleibt, die größten Leiden-
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schaften des Erwachsenen trägt und von dem jede Wahrnehmung die Erfahrung in uns erneuert, da ja, wie wir gesehen haben, die Kommunikation auf dieser Ebene nicht problematisch ist und erst zweifelhaft wird, wenn ich das Wahrnehmungsfeld außer acht lasse, um mich auf das zu reduzieren, was die Reflexion aus mir macht. Die Reduktion auf die ›Egologie‹ oder auf die ›Zugehörigkeitssphäre‹ ist wie jede Reduktion nur ein Prüfen der ursprünglichen Verbindungen, eine Art und Weise, sie bis in ihre letzten Verästelungen zu verfolgen. Wenn ich ›ausgehend‹ vom Eigenleib den Leib und die Existenz des Anderen verstehen kann, wenn die Kompräsenz meines ›Bewußtseins‹ und meines ›Leibes‹ sich in der Kompräsenz des Anderen und meiner selbst fortsetzt, so deshalb, weil das ›Ich kann‹ und ›Der Andere existiert‹ immer schon zur selben Welt gehören, weil der Eigenleib die Vorahnung des Anderen, die Einfühlung das Echo meiner Inkarnation ist, und weil ein Aufleuchten von Sinn sie in der absoluten Gegenwart der Ursprünge austauschbar macht. So ist jede Konstitution im Aufblitzen der Urempfindung antizipiert. Das absolute Hier meines Leibes und das ›Dort‹ der wahrnehmbaren Sache, die nahe oder die ferne Sache, die Erfahrung, die ich von dem mir Wahrnehmbaren habe und die der Andere von dem ihm Wahrnehmbaren hat, stehen in der Beziehung des ›Ursprünglichen‹ zum ›Modifizierten‹: Nicht daß das ›Dort‹ ein abgewertetes oder geschwächtes ›Hier‹ wäre, der Andere ein nach außen projiziertes Ego,34 sondern weil, gemäß dem Wunder der leiblichen Existenz (existence charnelle), mit dem ›Hier‹, dem ›Nahen‹, dem ›Ich‹ zugleich dort drüben das System ihrer ›Varianten‹ gesetzt ist. Jedes ›Hier‹, jede nahe Sache, jedes Ich, die in absoluter Gegenwart erlebt werden, bezeugen über sich selbst hinaus alle Anderen, die für mich mit jenen unvereinbar sind, die aber in demselben Augenblick und erlebt in absoluter Gegenwart doch anderswo sind. Die Konstitution ist weder Entwicklung eines in 34 Dennoch scheint Eugen Fink (Problèmes actuels de la phénoménologie, S. 80-81) die absolute Priorität des Wahrgenommenen bei Husserl auf diese Weise zu verstehen.
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seinem Anfang schon angelegten Zukünftigen noch die einfache Wirkung einer äußeren Steuerung in uns, sie ist unabhängig von der Alternative zwischen Kontinuierlichem und Diskontinuierlichem: Sie ist diskontinuierlich, insofern jede Schicht aus dem Vergessen der vorangehenden hervorgegangen ist, sie ist dagegen von Anfang bis Ende kontinuierlich, weil dieses Vergessen nicht einfache Abwesenheit ist – so als ob es den Anfang nicht gegeben hätte –, sondern Vergessen dessen, daß es buchstäblich zugunsten von etwas war, das es in der Folge geworden ist, Verinnerlichung im hegelschen Sinne, Erinnerung. Jede Stufe nimmt von ihrer Stelle aus die vorangegangenen wieder auf und greift auf die folgenden über, jede geht den anderen und sich selbst voraus und folgt ihnen. Gewiß eben darum scheint Husserl sich nicht sehr über die Zirkel zu wundern, auf die er im Laufe seiner Analyse stößt: der Zirkel des Dings und der Erfahrung des Anderen, da ja das vollständig objektive Ding in der Erfahrung der Anderen gegründet ist, jene wiederum auf die Erfahrung des Leibes, der selbst in gewissem Sinne ein Ding ist;35 ein weiterer Zirkel zwischen der Natur und den Personen, da ja die Natur im Sinne der Naturwissenschaften (aber auch im Sinne des Urpräsentierbaren, das für Husserl die Wahrheit der ersten ist) zunächst einmal das Weltall ist,36 und so auch die Personen umfaßt, die an anderer Stelle, wo ausführlich darüber gesprochen wird, die Natur als das Objekt umfassen, das sie gemeinsam konstituieren.37 Zweifellos 35 Ideen II, S. 80: »[…] verwickeln wir uns nicht in einen Zirkel, da doch die Menschenauffassung die Leibesauffassung und somit die Dingauffassung voraussetzt?« 36 Ebd., S. 27. 37 Ebd., S. 210: »Wir geraten hier, scheint es, in einen bösen Zirkel. Denn setzten wir zu Anfang die Natur schlechthin, in der Weise, wie es jeder Naturforscher und jeder naturalistisch Eingestellte sonst tut, und faßten wir die Menschen als Realitäten, die über ihre physische Leiblichkeit ein plus haben, so waren die Personen untergeordnete Naturobjekte, Bestandstücke der Natur. Gingen wir aber dem Wesen der Personalität nach, so stellte sich Natur als ein im intersubjektiven Verband der Personen sich Konstituierendes, also ihn Voraussetzendes dar.«
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deshalb zögerte Husserl nicht, in einem prophetischen Text aus dem Jahre 1912 von der Wechselbezogenheit zwischen Natur, Leib und Seele und, wie zurecht gesagt wurde, ihrer »Gleichzeitigkeit«38 zu sprechen. Diese Abenteuer der konstitutiven Analyse – diese Übergriffe, diese Rückschläge, diese Zirkel – scheinen Husserl, wir sagten es, nicht sehr beunruhigt zu haben. Nachdem er einmal gezeigt hat,39 daß die kopernikanische Welt auf die Lebenswelt und das Universum der Physik auf das des Lebens zurückverweist, sagt er gelassen, man würde dies sicher »arg finden, geradezu toll«.40 Aber man braucht, so fügt er hinzu, nur die Erfahrung eingehender zu befragen41 und ihre intentionalen Implikationen aus nächster Nähe zu verfolgen: Nichts kann sich gegenüber den Evidenzen der Konstitutionsanalyse durchsetzen. Handelt es sich hier nun um einen Anspruch der Wesen gegenüber den Tatsachenwahrheiten, liegt hier, fragt sich Husserl selbst, eine »philosophische Hybris« vor, beansprucht das Bewußtsein wieder das Recht, sich gegenüber und entgegen allem an seine Gedanken zu halten? Und doch beruft sich Husserl bisweilen auf die Erfahrung wie auf einen letzten Rechtsgrund. Der Gedanke wäre dann folgender: Da wir im Schnittpunkt von Natur, Leib, Seele und philosophischem Bewußtsein sind und ihn erleben, kann man kein Problem erdenken, dessen Lösung nicht in uns und im Schauspiel der Welt vorgezeichnet wäre; es muß Mittel und Wege geben, in unserem Denken das miteinander zu verbinden, was in unserem Leben 38 Marly Biemel, Einleitung des Herausgebers, Ideen II, S. XVII, vgl. weiterhin: Ideen III, S. 124: »So ist das ein wichtiges Ergebnis unserer Betrachtung, daß die ›Natur‹ und der Leib, in ihrer Verflechtung mit diesem wieder die Seele, sich in Wechselbezogenheit aufeinander, in eins miteinander konstituieren.« 39 Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, 7.–9. Mai 1934. 40 Ebd. 41 Zum Beispiel: Ideen II, S. 179–180. Dieselbe Wendung am Ende von Umsturz der kopernikanischen Lehre.
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als immer schon miteinander verbunden auftritt. Wenn Husserl an den Evidenzen der Konstitution festhält, so ist dies nicht ein Wahn des Bewußtseins, noch will es heißen, daß diesem das Recht zukommt, was ihm als klar erscheint, an die Stelle der entdeckten natürlichen Abhängigkeiten zu setzen; es geschieht vielmehr deshalb, weil das transzendentale Feld aufgehört hat, nur das Feld unserer Gedanken zu sein, um vielmehr das Feld der vollständigen Erfahrung zu werden; denn Husserl vertraut der Wahrheit, in der wir uns von Geburt an befinden und worin die Wahrheiten des Bewußtseins und der Natur enthalten sein müssen. Die ›Rückdeutungen‹ der Konstitutionsanalyse bestreiten nicht die Geltung der Prinzipien einer Bewußtseinsphilosophie, weil diese sich erweitert oder genügend verwandelt hat, um für alles, auch für das, was ihr zuwiderläuft, aufnahmefähig zu sein. Daß die Möglichkeit der Phänomenologie für diese selbst fragwürdig ist, daß es eine ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ gibt, von welcher der letzte Sinn aller vorausgehenden Analysen abhängt, daß die vollständige, abgeschlossene oder auf sich beruhende Phänomenologie problematisch bleibt, hat Husserl später gesagt, doch ist es schon bei der Lektüre der Ideen II ersichtlich. Er verheimlicht uns nicht, daß die intentionale Analytik uns gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen führt: Auf der einen Seite steigt sie herab zur Natur, zur Sphäre des Urpräsentierbaren, während sie auf der anderen Seite zur Welt der Personen und der Geister hingezogen wird. So sagt er: »Das braucht nicht zu besagen und soll das auch nicht, daß die beiden Welten gar nichts miteinander zu tun haben, daß ihre Sinne nicht Wesensbeziehungen zwischen ihnen herstellen. Wir kennen ja sonst kardinale Unterschiede von ›Welten‹, die doch durch Sinnes- und Wesensbeziehungen vermittelt sind. Wir könnten hinweisen auf das Verhältnis von Ideenwelt und Erfahrungswelt oder auf das Verhältnis der ›Welt‹, des reinen phänomenologisch reduzierten Bewußtseins zur Welt der in ihm konstituierten transzendenten Einheiten.«42 Es bestehen also Probleme der Vermittlung zwischen 42
Ideen II, S. 210 f., Hervorhebungen sind von uns eingefügt.
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der Welt der Natur und der Welt der Personen – mehr noch: zwischen der Welt des konstituierenden Bewußtseins und den Ergebnissen der Konstitution; und die letzte Aufgabe der Phänomenologie als Philosophie des Bewußtseins ist es, ihren Bezug zur Nicht-Phänomenologie zu verstehen. Was in uns der Phänomenologie widerstrebt – das natürliche Sein, jenes »barbarische Prinzip«, von dem Schelling sprach –, kann nicht außerhalb der Phänomenologie bleiben, sondern muß in ihr selbst seinen Platz finden. Der Philosoph wirft seinen Schlagschatten, der nicht bloß die tatsächliche Abwesenheit künftigen Lichtes ist. Es besteht gemäß Husserl schon eine ganz »außerordentliche« Schwierigkeit darin, die Beziehung der »Naturwelt« zur »Geisteswelt« nicht nur zu »erfassen«, sondern »von innen her zu verstehen«. Diese wird wenigstens in unserem Leben praktisch überwunden, da wir mühelos und immer wieder von der naturalistischen Einstellung in die personalistische gleiten. Es geht nur darum, die Reflexion dem anzugleichen, was wir in ganz natürlicher Weise tun, indem wir von einer Einstellung zur anderen übergehen, und darum, die intentionalen Auffassungs- und Erfahrungsänderungen und die Wesenszusammenhänge der konstituierenden Mannigfaltigkeiten, die über die Seinsunterschiede zwischen den konstituierten Sachen Aufschluß geben, zu beschreiben. Die Phänomenologie kann hier das, was verworren ist, entwirren, sie kann Mißverständnisse beheben, die darauf zurückzuführen sind, daß wir natürlicherweise und ohne unser Wissen von einer Einstellung zur anderen übergehen. Wenn aber diese Mißverständnisse und jener ›natürliche‹ Übergang bestehen, so sicher deshalb, weil es prinzipiell schwierig ist, die Verknüpfung zwischen der Natur und den Personen aufzuklären. Wie soll es erst werden, wenn es nötig wird, den Übergang von der naturalistischen oder personalistischen Einstellung zum absoluten Bewußtsein, von den natürlichen Vermögen zu einer künstlichen Einstellung43 von innen heraus zu verstehen – einer künstlichen Einstellung, die in Wahrheit nicht mehr eine Einstellung unter anderen sein soll, sondern 43
Ebd., S. 180.
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die Einsicht in alle Einstellungen, das in uns sprechende Wesen selbst? Was ist diese ›Innerlichkeit‹, die fähig sein soll, die Bezüge des Inneren und des Äußeren selbst zu erfassen? Da Husserl selbst – wenigstens implizit und a fortiori – diese Frage stellt,44 bedeutet dies, daß für ihn weder die Nicht-Philosophie von vornherein in der Philosophie noch das transzendent ›Konstituierte‹ in der Immanenz des Konstituierenden enthalten ist; doch ahnt er zumindest hinter der transzendentalen Genesis eine Welt, in der alles gleichzeitig ist, µοω πàντα. Ist dieses letzte Problem verwunderlich? Hatte Husserl nicht von Anfang an darauf hingewiesen, daß jede transzendentale Reduktion unvermeidlich eidetisch ist? Das heißt, daß die Reflexion das Konstituierte nur in seinem Wesen erfaßt, daß sie keine Koin44 Ebd., den Text, den wir kommentieren: »Auf eine solche neue Einstellung, die in gewissem Sinn sehr natürlich, aber nicht natural ist, haben wir es jetzt abgesehen. ›Nicht natural‹, das sagt, daß das in ihr Erfahrene nicht Natur ist im Sinne aller Naturwissenschaften, sondern sozusagen ein Widerspiel der Natur. Selbstverständlich liegt die ganz ausnehmende Schwierigkeit, den Gegensatz nicht nur zu erfassen, sondern von innen her zu verstehen, nicht im Vollzug der Einstellungen. Denn sehen wir von der allerdings künstlichen Einstellung auf das reine Bewußtsein ab, dieses Residuum der verschiedenen Reduktionen, so gleiten wir beständig ganz mühelos von einer Einstellung in die andere, von der naturalistischen in die personalistische, in den bezüglichen Wissenschaften von der naturwissenschaftlichen in die geisteswissenschaftliche. Die Schwierigkeiten liegen in der Reflexion und in dem phänomenologischen Verständnis der Auffassungs- und Erfahrungsänderungen und der durch sie konstituierten Korrelate. Nur im Rahmen der Phänomenologie, durch Beziehung der Seinsunterschiede der sich konstituierenden Gegenstände auf die korrelativen Wesenszusammenhänge der entsprechenden konstituierenden Mannigfaltigkeiten, sind diese Unterschiede unverwirrt zu erhalten, in absolut sicherer Sonderung, frei von allen Mißdeutungen, die in den unwillkürlichen und bei Mangel an reiner Reflexion unmerklichen Einstellungsänderungen ihre Quelle haben. Durch Rückgang auf das absolute Bewußtsein und die in ihm zu verfolgenden gesamten Wesenszusammenhänge sind allererst die sinngemäßen Relativitäten der betreffenden Gegenständlichkeiten der einen und anderen Einstellungen und ihrer wechselseitigen Wesensbeziehungen zu verstehen.«
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zidenz ist, daß sie sich nicht auf eine einfache Produktion verlegt, sondern das Schema des intentionalen Lebens nur re-produziert. Er stellt den ›Rückgang auf das absolute Bewußtsein‹ immer als eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Vielzahl von Vollzügen vor, die erlernt werden, nach und nach ausgeführt werden und niemals abgeschlossen sind. Niemals sind wir eins mit der konstitutiven Erzeugung, und wir begleiten sie kaum über kurze Strecken hinweg. Was ist es also (wenn diese Worte einen Sinn haben), was auf der anderen Seite der Sachen unserer Re-Konstitution entspricht? Auf unserer Seite gibt es nichts als konvergierende, aber diskontinuierliche Absichten, nichts als Augenblicke der Klarheit. Das konstituierende Bewußtsein konstituieren wir nur mit Hilfe seltener und diffiziler Anstrengungen. Es ist das präsumtive oder vorausgesetzte Subjekt unserer Versuche. Der Autor, sagte Valéry, ist derjenige, der ein Werk, das langsam und mühevoll entstand, augenblicklich denkt – und dieser Denkende ist nirgendwo. Wie der Autor für Valéry eine Hochstapelei des Schriftstellers ist, so ist das konstituierende Bewußtsein die berufliche Hochstapelei des Philosophen … Es ist für Husserl auf jeden Fall das Artefakt, auf das die Teleologie des intentionalen Lebens zuläuft – und nicht das spinozistische Attribut des Denkens. Als Projekt einer intellektuellen Inbesitznahme der Welt wird die Konstitution für den reiferen Husserl immer mehr zu dem Mittel, eine Rückseite der Dinge zu enthüllen, die wir nicht konstituiert haben. Es bedurfte jenes überschwenglichen Versuchs, alles den Regeln des ›Bewußtseins‹ zu unterwerfen, dem durchsichtigen Spiel seiner Einstellungen, seiner Intentionen und seiner Sinngebungen – es mußte das Bild einer vernünftigen Welt, das die klassische Philosophie uns hinterlassen hat, erst vollendet werden –, um alles andere zu enthüllen: Jene Seinsarten, unterhalb unserer Idealisierungen und Objektivierungen, die sie heimlich nähren und in denen man kaum Noemata erkennen kann, die Erde zum Beispiel, die nicht in Bewegung ist wie die objektiven Körper, aber ebensowenig in Ruhe, weil man nicht sieht, woran sie »angeschmiedet« wäre – »Boden« oder »Träger« unseres Denkens wie unseres Lebens, den wir zwar verlagern oder
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übertragen können, wenn wir andere Planeten bewohnen werden, dann aber nur deshalb, weil wir unsere Heimstätte erweitert haben – wir können sie nicht einfach abschaffen. Wie die Erde per definitionem einzig ist, jeder Boden, den wir betreten, sogleich zu einer Heimstätte wird, so werden die Lebewesen, mit denen die Kinder der Erde zukünftig kommunizieren werden, zu Menschen – oder, wenn man will, die Erdenmenschen zu Varianten einer allgemeineren Menschheit, die einzig bleiben wird. Die Erde ist die Matrix unserer Zeit wie unseres Raumes: Jeder konstruierte Zeitbegriff setzt unsere Urgeschichte als leibliche Wesen voraus, die mit einer einzigen Welt kompräsent sind. Jedes Anspielen auf mögliche Welten führt uns zurück auf unsere Welt-anschauung. Jede Möglichkeit ist eine Variante unserer Wirklichkeit, ist »Möglichkeit an Wirklichkeit« … Diese Analysen des späten Husserl45 sind weder skandalös noch erstaunlich, wenn man sich an all das erinnert, was schon von Anfang an ankündigt wurde. Sie explizieren die ›Weltthesis‹ vor jeder Thesis und jeder Theorie, diesseits der Objektivierungen der Erkenntnis, von der Husserl immer gesprochen hat und die für ihn zu unserer einzigen Ausflucht aus der Sackgasse geworden ist, in die diese das abendländische Wissen geführt haben. Wohl oder übel, entgegen seinen Plänen und gemäß seiner äußersten Kühnheit erweckt Husserl eine wilde Welt (monde sauvage) und einen wilden Geist (esprit sauvage). Die Dinge sind da, nicht mehr nur wie in der Perspektive der Renaissance gemäß ihrer projektiven Erscheinung und nach den Erfordernissen des Panoramas, sondern im Gegenteil aufrecht, eindringlich, mit ihren Kanten den Blick verletzend, jedes eine absolute Gegenwart beanspruchend, die mit der der anderen unvereinbar ist und die sie dennoch alle gemeinsam haben kraft eines Gestaltungssinnes, von dem der ›theoretische Sinn‹ uns keine Idee vermittelt. Die Anderen sind ebenfalls da (sie waren schon da mit der Gleichzeitigkeit der Dinge), zunächst nicht als Geister, nicht einmal als 45 Wir resümieren hier das oben zitierte Fragment Umsturz der kopernikanischen Lehre.
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›Psychismen‹, aber zum Beispiel in der Art, wie wir mit ihnen im Zorn oder in der Liebe in Berührung kommen. Es sind Gesichter, Gebärden, Worte, auf die wir mit unseren Blicken, Gebärden und Worten antworten, ohne ein Denken dazwischen zu setzen – so daß wir manchmal ihre Worte gegen sie kehren, noch bevor sie uns erreicht haben, genauso sicher, ja sicherer noch, als wenn wir verstanden hätten; jeder trägt die Anderen in sich und wird durch sie in seinem Leib bestätigt. Diese barocke Welt ist nicht ein Zugeständnis des Geistes an die Natur: Denn wenn sich der Sinn überall symbolisch darstellt, so handelt es sich doch überall um Sinn. Diese Erneuerung der Welt ist auch eine Erneuerung des Geistes, eine Wiederentdeckung des rohen Geistes (l’esprit brut), der von keiner Kultur gebändigt wurde, und dem es aufgetragen ist, aufs neue die Kultur zu schaffen. Das Irrelative ist nun nicht die Natur an sich, noch das System der Inhalte des absoluten Bewußtseins und ebensowenig der Mensch, sondern jene »Teleologie«, von der Husserl spricht – die in Anführungsstrichen geschrieben und gedacht wird –, als ein Gefüge und Gerippe des Seins, das sich durch den Menschen erfüllt.
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BE RG S ON I M W E R DE N 1
Es gibt mehr als nur ein Paradox im Schicksal des Bergsonismus. Dieser Philosoph der Freiheit, sagte Péguy 1913, hatte die radikale Partei und die Universität gegen sich; dieser Gegner Kants hatte die Partei der Action française gegen sich; dieser Freund des Geistes hatte die Partei der Frommen gegen sich; also nicht nur all seine natürlichen Feinde, sondern auch die Feinde seiner Feinde. In jenen Jahren, in denen er eine Vorliebe zu haben schien für Querdenker wie Péguy und Georges Sorel, könnte man Bergson beinahe als einen gesellschaftlich geächteten Philosophen beschreiben – wenn man außer Acht ließe, daß zur selben Zeit bereits seit dreizehn Jahren eine einhellig begeisterte Zuhörerschaft seine Vorlesungen am Collège de France besuchte und daß er seit zwölf Jahren Mitglied einer Akademie war und bald schon Mitglied der Académie sein würde. Die Generation, der ich angehöre, kannte nur den zweiten Bergson, der sich bereits aus der Lehre zurückgezogen hatte und der während der langen Arbeit an den Deux Sources beinahe völlig verstummte, der vom Katholizismus bereits eher wie ein Licht der Erkenntnis als wie eine Gefahr betrachtet und der in den Klassen bereits von den rationalistischen Lehrern gelehrt wurde. Unter den Älteren von uns, die er geprägt hatte, ohne daß es je eine Bergsonsche Schule gegeben hätte, genoß er großes Ansehen. Erst in jüngster Zeit konnte man einen mißtrauischen, exklusiven Post-Bergsonismus auf den Plan treten sehen, als würde man Bergson nicht größere Ehre erweisen, indem man zugibt, daß er allen gehört …
1 Dieser Text wurde auf der Sitzung zu Ehren Bergsons gelesen, die den Bergson-Kongreß vom 17.–20. Mai 1959 beschloß, und er wurde im Bulletin de la Société Française de Philosophie veröffentlicht.
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Wie konnte er, der die Philosophie und die Geisteswissenschaften erschüttert hatte, zu diesem beinahe kanonischen Autor werden? Ist er es, der sich verändert hat? Wir werden sehen, daß er selbst sich kaum verändert hat. Oder hat er vielmehr sein Publikum verändert, hat er es durch seine ihm eigene Verwegenheit für sich gewinnen können? Die Wahrheit ist, daß es zwei Bergsonismen gibt, den der Kühnheit, als die Philosophie Bergsons sich ihren Platz erkämpfte und sich, wie Péguy sagt, sehr gut schlug – und den nach dem Sieg, der von vornherein von dem überzeugt ist, was Bergson lange Zeit zu finden bemüht war, der bereits mit Begriffen versehen ist, wo Bergson seinerseits seine Begrifflichkeiten zu prägen suchte. Setzt man die Bergsonschen Intuitionen mit dem verschwommenen Anliegen des Spiritualismus oder einem beliebigen anderen Gebilde gleich, so verlieren sie ihre Schärfe, sie werden verallgemeinert und auf ein Minimum herabgesetzt. Es bleibt dann nur noch ein retrospektiver oder äußerlicher Bergsonismus übrig. Dieser Bergsonismus hat seine Formel gefunden, als Pater Sertillanges schrieb, die Kirche würde Bergson heutzutage nicht mehr auf den Index setzen, nicht etwa weil sie auf ihr Urteil von 1913 zurückkommen würde, sondern weil sie jetzt wisse, wie das Werk enden müsse … Bergson selbst hat nicht darauf gewartet zu wissen, wohin sein Weg führt, um ihn einzuschlagen oder vielmehr um ihn zu bereiten. Er hat nicht die Deux Sources abgewartet, um sich Matière et Mémoire und die Évolution Créatrice zu erlauben. Selbst wenn die Deux Sources die verworfenen Werke korrigierten, so wurde ihr Sinn doch nicht ohne diese Werke verständlich, sie wären ohne sie nicht so berühmt. Das eine geht nicht ohne das andere. Man gelangt nicht ohne jedes Risiko zur Wahrheit. Es gibt keine Philosophie mehr, wenn man gleich zu Anfang auf die Schlußfolgerungen achtet; der Philosoph sucht nicht nach Abkürzungen, sondern nimmt den ganzen Weg. Der etablierte Bergsonismus entstellt Bergson. Bergson beunruhigte, er aber beruhigt. Bergson, das war eine Eroberung, der Bergsonismus hingegen verteidigt und rechtfertigt Bergson. Bergson, das bedeutete, in Berührung mit den Dingen zu stehen, während der
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Bergsonismus nur eine Sammlung vorgefertigter Meinungen ist. Es sollte nicht so sein, daß uns die Aussöhnungsversuche und die Feiern den Weg vergessen lassen, den nur Bergson vorgezeichnet und den er nie verleugnet hat, diese direkte, nüchterne, unmittelbare und ungewöhnliche Art und Weise, die Philosophie noch einmal zu beginnen, in der Erscheinung und dem Absoluten vor unseren Augen das Tieferliegende zu suchen – und schließlich sollten wir, bei allem Anstand, nicht den Entdeckergeist vergessen, der doch die erste Quelle des Bergsonismus ist. Er beendete seine Vorlesung von 1911 mit jenen Worten, die in der Zeitschrift Les Études zu lesen sind: »Wenn der Gelehrte, der Künstler und der Philosoph sich ständig um eine Verbesserung ihres Rufs bemühen, dann deshalb, weil ihnen die absolute Sicherheit fehlt, eine realisierbare Sache geschaffen zu haben. Gebt ihnen diese Versicherung, und ihr werdet sie alsbald wenig Wert legen sehen auf das Aufsehen, das ihr Name erregt.« Am Ende wünschte er sich als einziges, lebendige Bücher geschrieben zu haben. Dies aber können wir nur bezeugen, wenn wir feststellen, auf welche Weise er in unserer Arbeit präsent ist, auf welchen Seiten seines Werkes wir ihn, mit unseren Vorlieben und unseren Voreingenommenheiten, wie seine Zuhörer von 1900, ›in Berührung mit der Sache‹ zu empfinden meinen. * Philosoph ist er zunächst durch seine Art und Weise, die ganze Philosophie, gewissermaßen ohne daß er darum wußte, wiederzuentdecken, indem er eines der Prinzipien der Mechanik untersuchte, auf die sich Spencer ohne systematische Strenge bezog. Bei dieser Gelegenheit bemerkt er, daß wir der Zeit nicht näherkommen, wenn wir sie mit genauen Maßeinheiten in die Zange zu nehmen suchen, sondern daß man sie, ganz im Gegenteil und sofern man sich eine Vorstellung von ihr machen will, frei entstehen lassen muß, daß man der fortwährenden Geburt beiwohnen muß, die sie immer wieder neu und, gerade dadurch, immer wieder gleich hervorbringt.
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Sein philosophischer Blick hat darin etwas anderes und mehr gefunden, als er gesucht hatte. Denn wenn dies die Zeit ist, dann ist sie nichts, das ich von außen sehen könnte. Von außen hätte ich von ihr nur die Spur, ich würde den Zeugungsdrang nicht miterleben. Die Zeit bin also ich selbst, ich bin die Dauer, die ich erfasse, und in mir ist es die Dauer, die sich selbst erfaßt. Und von nun an befinden wir uns im Absoluten. Ein seltsames absolutes Wissen, da wir weder all unsere Erinnerungen noch die ganze Dichte unserer Gegenwart kennen, und da meine Berührung mit mir selbst eine »partielle Koinzidenz« ist – ein Wort, das Bergson häufig verwenden wird und das, offen gesagt, problematisch ist. In jedem Fall läßt sich, wenn es sich um mich handelt, sagen, daß die Berührung absolut ist, gerade weil sie partiell ist, daß ich die Dauer als Person erfasse, weil ich in meiner Dauer genommen wurde, daß ich von ihr eine Erfahrung habe, die man weder als enger noch als weiter begreifen könnte, weil die Dauer über mich hinausreicht. Das absolute Wissen ist kein Überblickswissen, sondern ein inhärentes Wissen. Im Jahr 1889 ist es eine große Neuerung mit Zukunft, in der Philosophie kein ›Ich denke‹‚ und seine immanenten Gedanken zum Prinzip werden zu lassen, sondern ein Selbst-sein, dessen Zusammenhalt auch eine Trennung ist. Da ich hier mit einer Nicht-Koinzidenz zusammenfalle, ist die Erfahrung imstande, sich über das partikulare Sein, das ich bin, hinaus zu erstrecken. Die Intuition meiner Dauer ist das Erlernen einer allgemeinen Weise des Sehens, das Prinzip einer Art von Bergsonscher ›Reduktion‹, die alle Dinge sub specie durationis erneut betrachtet – auch das, was man Subjekt und Objekt nennt, sogar das, was als Raum bezeichnet wird: Denn man sieht bereits, wie sich ein Innenraum abzeichnet, eine Ausdehnung, welche die Welt ist, in der Achilles läuft. Es gibt Seinsformen oder Strukturen wie die Melodie (Bergson sagt: Organisationen), die nichts als eine bestimmte Art des Dauerns sind. Die Dauer ist nicht nur Veränderung, Werden, Bewegung, sie ist das Sein, im lebendigen und aktiven Sinne des Wortes. Die Zeit wird nicht an die Stelle des Seins gesetzt, sie wird als ein entstehendes Sein verstanden,
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und es ist nun das gesamte Sein, das man von der Seite der Zeit aus angehen muß. Man sah dies sehr gut, als Matière et Mémoire erschien, oder zumindest hätte man es sehen müssen. Aber das Buch überraschte, es erschien obskur; bis heute ist es das am wenigsten gelesene der bedeutenden Bücher Bergsons. Und dennoch werden gerade in diesem Buch das Feld der Dauer und die Praxis der Intuition auf entscheidende Weise erweitert. Indem er, wie er sagte, das vorangegangene Buch vergaß, einer anderen Linie von Tatsachen um ihrer selbst willen folgte und mit der Zusammensetzung aus Seele und Körper in Berührung kam, wurde Bergson wieder auf die Dauer zurückgeführt, aber sie erhielt in dieser anderen Annäherung neue Dimensionen, und es hieße, das Gesetz einer Philosophie ignorieren, die keinen Anspruch auf Systematik, sondern auf eine Fülle der Reflexion erhebt und die das Sein sprechen lassen will, wenn man Bergson hier das vorwerfen wollte, was man eine Bedeutungsverschiebung nennt und was letztlich die Suche selbst ist. Von nun an ist die Dauer das Milieu, in dem die Seele und der Körper ihre Artikulation finden, weil die Gegenwart und der Körper, die Vergangenheit und der Geist, die in der Natur so verschieden sind, gleichwohl ineinander übergehen. Die Intuition ist ganz entschieden keine einfache Koinzidenz oder Fusion mehr: Sie erstreckt sich auf ›Grenzen‹, wie die reine Wahrnehmung oder das reine Bewußtsein, aber auch auf das zwischen beiden Liegende, auf ein Sein, das sich, wie Bergson sagt, der Gegenwart und dem Raum genau in dem Maße öffnet, in dem es auf eine Zukunft abzielt und über eine Vergangenheit verfügt. Es gibt ein Leben, Maurice Blondel müßte sagen: eine ›Hybridisierung‹ der Intuitionen, eine ›zweifache Ausdehnung‹ in Richtung der Materie und des Bewußtseins. Indem sie die Gegensätze in ihrer extremen Unterschiedlichkeit aufgreift, sieht die Intuition, wie sie sich vereinigen. Man würde Bergson beispielsweise in höchstem Maße entstellen, wenn man die in Matière et Mémoire gegebene erstaunliche Beschreibung des wahrgenommenen Seins auf ein Minimum herabsetzte. In keiner Weise sagt er, die Dinge seien im restrikti-
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ven Sinne Bilder, sei es des ›Psychischen‹ oder der Seelen – er sagt vielmehr, ihre Fülle unter meinem Blick bestehe darin, daß es so ist, als würde sich meine Sicht der Dinge eher in ihnen als in mir herausbilden, als sei die Tatsache, gesehen zu werden, nur eine Herabwürdigung ihres eminenten Seins, als sei der Umstand, ›vorgestellt‹ zu werden – in der ›Dunkelkammer‹ des Subjekts zu erscheinen, sagt Bergson –, nicht ihre Definition, sondern das Resultat ihrer natürlichen Überfülle. Noch nie hatte man zwischen mir und dem Sein diesen Kreis geschlossen, der das Sein ›für mich‹ zum Zuschauer werden läßt, den Zuschauer jedoch im Gegenzug ›für das Sein‹ da sein läßt. Nie zuvor hatte man auf diese Weise das rohe Sein (l’être brut) der wahrgenommenen Welt beschrieben. Indem er ihn nach der entstehenden Dauer enthüllt, findet Bergson im Innersten des Menschen wieder einen vorsokratischen und ›vormenschlichen‹ Sinn der Welt. Durée et simultanéité, das – wie Bergson immer wieder betont – ein philosophisches Buch ist, wird sich noch resoluter in der wahrgenommenen Welt einrichten. Heute wie vor 35 Jahren werfen die Physiker Bergson vor, in die relativistische Physik den Beobachter einzuführen, der – so behaupten sie – die Zeit nur relativ zu den Meßinstrumenten oder zum Bezugssystem setzt. Was Bergson jedoch zeigen will, ist genau dies, daß es keine Simultaneität zwischen Dingen an sich gibt, die, so nah sie auch beieinander sein mögen, jedes für sich sind. Nur wahrgenommene Dinge können an derselben Linie der Gegenwart teilhaben – und zum Ausgleich gibt es, sobald es Wahrnehmung gibt und ohne jede Maßgabe, eine Simultaneität des einfachen Blickes, nicht nur zwischen zwei Ereignissen desselben Feldes, sondern sogar zwischen allen Wahrnehmungsfeldern, allen Beobachtern, allen Dauern. Wenn man alle Beobachter auf einmal nähme, und nicht so, wie sie von einem unter ihnen gesehen werden, sondern so, wie sie für sich selbst und im Absoluten ihres Lebens sind, dann würden diese vereinzelten Dauern, die nicht mehr aufeinander angewendet werden und die nicht mehr gegenseitig als Maßstab dienen könnten, keinerlei zeitlichen Abstand mehr bieten und folglich aufhören, das Universum der Zeit aufzuteilen.
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Diese gemeinsame Einsetzung aller Dauern, die an ihrer inneren Quelle nicht möglich ist, da jeder von uns nur mit seiner eigenen Quelle koinzidiert, entsteht Bergson zufolge dann, wenn sich die inkarnierten Subjekte gegenseitig wahrnehmen, wenn sich ihre Wahrnehmungsfelder überschneiden und überlagern, wenn sie sich gegenseitig dabei sehen, wie sie die gleiche Welt wahrnehmen. Die Wahrnehmung schreibt in ihrer eigenen Ordnung eine universelle Dauer fest, und die Formeln, die es erlauben, von einem Bezugssystem zum anderen überzugehen, sind, wie die ganze Physik, sekundäre Objektivierungen, die weder über das entscheiden können, was in unserer Erfahrung als inkarnierte Subjekte einen Sinn hat, noch über das gesamte Sein. Das bedeutete, eine Philosophie zu entwerfen, die das Universelle auf dem Mysterium der Wahrnehmung gründen und beabsichtigen würde, genau wie Bergson es gesagt hatte, sie nicht zu überfliegen, sondern sich in sie zu versenken. Die Wahrnehmung ist bei Bergson die Gesamtheit dieser »komplementären Kräfte des Verstandes«, die nach Maßgabe des Seins allein bestehen und die, indem sie uns für das Sein öffnen, »in den Operationen der Natur ihr eigenes Wirken bemerken«. Wenn wir das Leben nur wahrzunehmen wissen, dann wird sich das Sein des Lebens als vom selben Typ zeigen wie jene einfachen und ungeteilten Seinsformen, deren Modell uns die Dinge vor unseren Augen dargeboten haben, die älter sind als alles künstlich erzeugte, und der Lebensvollzug wird uns wie eine Art der Wahrnehmung erscheinen. Wenn man feststellt, daß sie einen visuellen Apparat durch lange Vorbereitungen in eine Evolutionslinie einreiht, und denselben Apparat bisweilen sogar in divergente Evolutionslinien, dann meint man, eine einmalige Geste zu sehen, so wie die Geste meiner Hand für mich, jenseits der konvergierenden Details, einmalig ist, und das ›Fortschreiten zum Sehen‹ in den Spezies entzieht sich dem totalen Akt des Sehens, wie ihn Matière et Mémoire beschrieben hatte. Bergson bezieht sich ausdrücklich auf diesen Akt. Er ist es, so sagt er, der mehr oder weniger in die Organismen hinabsteigt. Dies bedeutet nicht, daß die Welt des Lebens eine menschliche Vorstellung sei,
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ebensowenig übrigens wie die menschliche Wahrnehmung ein kosmisches Produkt ist: Es bedeutet, daß die originäre Wahrnehmung, die wir in uns wiederfinden, und diejenige, die in der Evolution wie ihr inneres Prinzip erscheint, sich ineinander flechten, aufeinander übergreifen oder sich miteinander verknüpfen. Ob wir nun in uns die Offenheit zur Welt wiederfinden oder aber das Leben von innen heraus begreifen, es ist stets dieselbe Spannung zwischen einer Dauer und einer anderen Dauer, die sie von außen her begrenzt. Man sieht also beim Bergson von 1907 recht gut die Intuition der Intuitionen, die zentrale Intuition, und sie ist weit davon entfernt, ein ›je ne sais quoi‹ oder ein Faktum von unkontrollierbarer Genialität zu sein, wie zu unrecht behauptet wurde. Warum sollte die Quelle, aus der er schöpft und aus der er den Sinn seiner Philosophie bezieht, nicht einfach die Artikulation dieser Landschaft in seinem Inneren sein, die Art und Weise, wie sein Blick auf die Dinge oder das Leben trifft, sein Lebensbezug zu sich selbst, zur Natur und zu den Lebenden, seine Berührung mit dem Sein in uns und außer uns? Und ist für diese unerschöpfliche Intuition nicht die sichtbare und selbst existierende Welt, so wie sie Matière et Mémoire beschrieb, das beste ›vermittelnde Bild‹? Selbst wenn er auf dem höchsten Punkt zur Transzendenz übergehen wird, so wird Bergson denken, nur durch eine Art der ›Wahrnehmung‹ Zugang zu ihr finden zu können. Das Leben, das auf einer Ebene unter uns die Probleme stets anders löst als wir es getan hätten, gleicht auf jeden Fall weniger einem menschlichen Geist als diesem imminenten oder eminenten Sehen, das Bergson in den Dingen erahnte. Das wahrgenommene Sein ist dieses spontane oder natürliche Sein, das die Cartesianer nicht gesehen haben, weil sie das Sein auf dem Grund des Nichts suchten und weil sie, wie Bergson sagt, des Notwendigen bedurften, um ›das Nichtvorhandensein zu besiegen‹. Er hingegen beschreibt ein präkonstituiertes Sein, das stets am Horizont unserer Reflexionen angenommen wird, das immer schon da ist, um die Angst und den aufkommenden Schwindel zu entschärfen.
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Es stellt sich wirklich die Frage, warum er nicht auch die Geschichte von innen her gedacht hat, so wie er das Leben von innen her gedacht hatte, warum er nicht auch dort nach einfachen und ungeteilten Akten gesucht hat, die für jeden Zeitabschnitt oder jedes Ereignis die Anordnung der parzellierten Fakten bestimmen. Mit der Annahme, jeder Zeitabschnitt sei alles, was er zu sein vermag, ein vollständiges, ganz im Akt aufgehendes Ereignis, und die Vorromantik sei beispielsweise eine nachromantische Illusion, scheint Bergson ein für alle Mal diese Tiefengeschichte zurückzuweisen. Dennoch hatte Péguy das Eintreten des Ereignisses zu beschreiben versucht, wenn einige etwas beginnen und andere antworten – ebenso wie die historische Vollendung, die Antwort einer Generation auf das, was von einer anderen Generation begonnen wurde. Er sah das Wesen der Geschichte in dieser Verbindung der Individuen und der Zeiten, die schwierig ist, da der Akt, das Werk und die Vergangenheit in ihrer Einfachheit für jene unzugänglich sind, die sie von außen her sehen – denn für die Revolution eines Tages bedarf es vieler Jahre, bis Geschichte aus ihr wird, und diese Seite, die innerhalb einer Stunde geschrieben wurde, kann durch keinen unendlichen Kommentar ausgeschöpft werden. Die Chancen auf einen Irrtum, einen Abweg oder ein Scheitern sind sehr groß. Es ist jedoch das grausame Gesetz derer, die schreiben, die handeln oder die ein öffentliches Leben führen – das heißt letztlich aller inkarnierten Geister –, von den Anderen oder den Nachfolgern eine andere Vollendung dessen, was sie tun, zu erwarten – eine andere und dieselbe, bemerkt Péguy tiefgründig, weil auch sie Menschen sind, genauer gesagt: Weil sie sich, im Rahmen dieser Substitution, auf eine Stufe mit dem anfänglichen Wegbereiter stellen, zu Seinesgleichen werden. Darin liegt, sagte er, eine Art Skandal, aber ein ›gerechtfertigter Skandal‹ und infolgedessen ein ›Mysterium‹. Der Sinn bildet sich erneut auf die Gefahr hin, sich aufzulösen, es ist ein redseliger Sinn, der sehr wohl mit der Bergsonschen Definition des Sinns übereinstimmt, der zufolge er »weniger eine gedachte Sache als eine Denkbewegung ist, weniger eine Bewegung als ein Richtung«. In diesem Netz der Rufe und Antworten, in dem sich der Anfang
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verwandelt und erfüllt, gibt es eine Dauer, die niemandem und zugleich allen gehört, eine ›öffentliche Dauer‹, den ›Rhythmus und die dem Ereignis der Welt eigene Geschwindigkeit‹, die – wie Péguy sagt – das Thema einer echten Soziologie wären. Er hatte also anhand der Gegebenheiten bewiesen, daß eine Bergsonsche Intuition der Geschichte möglich ist. Bergson aber, der 1915 über Péguy sagte, er habe sein ›wesentliches Denken‹ gekannt, ist ihm in diesem Punkt gleichwohl nicht gefolgt. Es gibt bei Bergson keinen eigenen Wert der ›geschichtlichen Einschreibung‹, auch nicht der rufenden oder der antwortenden Generationen: Es gibt nur einen heroischen Appell des Individuums an das Individuum, eine Mystik ohne ›mystischen Leib‹. Es gibt für ihn kein einmaliges Gefüge, in dem gut und schlecht zusammenhalten; es gibt natürliche Gesellschaften, die von den Einbrüchen der Mystik durchlöchert sind. Während der langen Jahre, in denen er die Deux Sources vorbereitete, scheint er von der Geschichte nicht so vereinnahmt worden zu sein wie vom Leben, er hat in der Geschichte nicht, wie einst im Leben, jene ›komplementären Kräfte des Verstandes‹ am Werk gesehen, die im Einvernehmen mit unserer eigenen Dauer stehen. Er bleibt hinsichtlich des Individuums und seiner Fähigkeit, die Quellen wiederzufinden, zu optimistisch, hinsichtlich all dessen, was an das gesellschaftliche Leben rührt, um – wie die Definition der Geschichte – einen ›gerechtfertigten Skandal‹ einzuräumen, zu pessimistisch. Und vielleicht reicht dieses Schwinden der Gegensätze auf die ganze Lehre zurück: Tatsache ist, daß La Pensée et le Mouvant, etwa zur Zeit der Deux Sources, die verschiedenen Implikationen, welche die Introduction à la Métaphysique zwischen Philosophie und Wissenschaft, Intuition und Verstand, Geist und Materie hergestellt hatte, im Sinne einer klaren – wenn auch, das ist wahr, nicht ohne jeglichen ›Übergriff‹ erfolgenden – Abgrenzung korrigiert. Wenn es für Bergson entschieden kein Mysterium der Geschichte gibt, wenn er nicht, wie Péguy, die Menschen miteinander implizit in Zusammenhang stehen sieht, wenn er nicht empfänglich ist für die einnehmende Präsenz der uns umgebenden Symbole und für die tiefgreifenden Tausch-
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vorgänge, die sie mit sich bringen – wenn er beispielsweise in den Ursprüngen der Demokratie nur ihr ›evangelisches Wesen‹ und Kants und Rousseaus Christentum findet –, diese Art und Weise, wie er bestimmte Möglichkeiten kurz abhandelt und den letzten Sinn seines Werkes für sich behält, muß Ausdruck einer grundlegenden Präferenz sein, sie ist Teil seiner Philosophie, und wir müssen versuchen, sie zu verstehen. Was sich bei ihm jeder Philosophie der Vermittlung und der Geschichte widersetzt, ist ein sehr alter Ausgangspunkt seines Denkens, die Gewißheit eines ›halbgöttlichen‹ Zustandes, in dem der Mensch den Schwindel und die Angst nicht kannte. Das Nachdenken über die Geschichte hat diese Überzeugung verschoben, ohne sie abzuschwächen. Zur Zeit der Evolution Créatrice reichte die philosophische Intuition des natürlichen Seins aus, um die falschen Probleme des Nichts zu beseitigen. In den Deux Sources ist ›der göttliche Mensch‹ nun ›unerreichbar‹ geworden, aber es ist immer noch er, auf den Bergson die menschliche Geschichte bezieht. Die natürliche Berührung mit dem Sein, die Freude und die Heiterkeit – der Quietismus – bleiben bei Bergson wesentlich, sie werden nur übertragen, von der Erfahrung im Sinne eines verallgemeinerbaren Rechts des Philosophen auf die außergewöhnliche Erfahrung des Mystikers, der sich einer anderen Natur und einer zweiten Positivität öffnet, die diesmal unbegrenzt sind. Es ist die Zweiteilung der Natur in eine Natura naturans und eine Natura naturata, die unversöhnt bleiben, aus der in den Deux Sources die Unterscheidung Gottes von seinem Handeln auf der Welt hervorgeht, eine Unterscheidung, die in den vorangegangenen Werken virtuell geblieben war. Bergson sagt zwar nicht Deus sive Natura, aber wenn er es nicht sagt, so deshalb, weil Gott eine andere Natur ist. Gerade in dem Augenblick, in dem er definitiv die ›transzendente Ursache‹ von ihrem ›irdischen Auftrag‹ entbindet, ist es wieder das Wort Natur, das aus seiner Feder kommt. In Gott konzentriert sich von nun an alles, was es an wirklich Aktivem und Schöpferischem in der Welt gab, die letzten Endes nicht mehr als ein ›Stillstand‹ oder eine ›geschaffene Sache‹ ist. Die Beziehung des Menschen
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zu dieser Über-Natur bleibt jedoch diese direkte Beziehung, welche die vorangegangenen Bücher zwischen der Intuition und dem natürlichen Sein fanden. Es gibt den einfachen Akt, der das Menschengeschlecht hervorgebracht hat; es gibt die einfache und vereinfachende Aktion Gottes im Mystischen; es gibt aber keinen einfachen Akt, der den Bereich der Geschichte und den des Bösen begründen könnte. Dies ist wirklich nur ein Mittelstück. Der Mensch ist eher aus zwei einfachen Prinzipien geschaffen, als daß er zweifach wäre. Die Geschichte, die zwischen Natura naturata und Natura naturans oszilliert, hat keine eigene Substanz. Zwar wird sie nicht geächtet, und das Universum bleibt eine ›Göttermaschine‹, was alles in allem nicht einmal unmöglich ist, da die Quelle der Natura naturata in der Natura naturans liegt. Wenn aber eines Tages der Göttermaschine das gelingt, was sie immer versäumt hatte, dann wird dies so sein, als setzte sich die angehaltene Schöpfung wieder in Gang. Nichts kündigt diesen Großen Frühling an. Wir lesen nirgends, auch nicht in Form eines Rätsels, das Zeichen ab, das unsere beiden Naturen wieder vereinigte. Das Böse und das Scheitern haben keinen Sinn. Die Schöpfung ist kein Drama, das einer Zukunft entgegensieht. Sie ist eher eine im Sande verlaufene Anstrengung, und die menschliche Geschichte ist ein Notbehelf, um die Masse wieder in Bewegung zu bringen. Daher eine so außergewöhnliche, sehr persönliche und in bestimmter Hinsicht vor-christliche religiöse Philosophie. Die mystische Erfahrung ist, was übrig bleibt von der ursprünglichen Einheit, die zerbrach, als die geschaffene Sache durch ein ›einfaches Anhalten‹ der schöpferischen Anstrengung zutage trat. Wie könnten wir diese Mauer hinter uns überwinden, die unser Ursprung ist, wie könnten wir die Fährte des Naturans wieder aufnehmen? Es ist nicht der Verstand, der dies vollbringen wird: Man kann die Schöpfung nicht mit bereits Geschaffenem neu beginnen. Selbst der unmittelbare Beweis unserer Dauer kann nicht die an ihrem Ursprung stehende Spaltung rückgängig machen, um das Naturans selbst wieder einzuholen. Aus diesem Grund sagt Bergson, die mystische Erfahrung müsse sich nicht fragen,
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ob das Prinzip, mit dem sie uns in Berührung bringt, Gott selbst oder sein Auftrag auf Erden sei. Sie erfährt das für gut geheißene Eindringen eines Wesens, das ›unermeßlich viel mehr als sie selbst kann‹. Wir sollten aber nicht von einem allmächtigen Wesen reden: Die Idee des Ganzen, sagt Bergson, ist genauso leer wie die des Nichts, und das Mögliche bleibt für dieses Ganze ein Schatten des Wirklichen. Der Gott Bergsons ist eher unermeßlich als unendlich, oder anders gesagt: Er ist ein seiner Eigenschaft nach Unendliches. Er ist das Element der Freude oder das Element der Liebe, in dem Sinne, wie das Wasser und das Feuer Elemente sind. Wie die empfindenden und die menschlichen Wesen so ist auch er ein Strahlen und keine Wesenheit. Die metaphysischen Attribute, die ihn zu bestimmen scheinen, sind, so sagt Bergson, wie alle Bestimmungen Negationen. Selbst wenn sie, was nicht möglich ist, sichtbar werden würden, so würde doch kein religiöser Mensch in ihnen den Gott erkennen, zu dem er betet. Bergsons Gott ist ein einzigartiges Sein, wie das Universum, ein unermeßliches dies hier, und Bergson hat bis in die Theologie hinein sein Versprechen einer Philosophie gehalten, die für das aktuelle Sein gemacht und nur darauf zu beziehen sei. Wenn man in die Berechnung des Imaginären eintritt, dann muß man zugeben, sagt er, daß »die Gesamtheit deutlich besser gewesen sein könnte als sie es jetzt ist«. Niemand wird es so einrichten, daß der Tod eines Anderen ein Bestandteil der besten aller möglichen Welten ist. Aber es sind nicht nur die Lösungen der klassischen Theodizee, die falsch sind, es sind ihre Probleme, die in der Ordnung, in die Bergson sich einfügt, keinen Sinn haben, nämlich in der Ordnung der radikalen Kontingenz. Es geht hier nicht um die Welt oder um Gott, wie wir sie auffassen, sondern um die Welt und um Gott, wie sie tatsächlich existieren, und das, was in uns diese Ordnung erkennt, liegt unter unseren Meinungen und unseren Äußerungen. Niemand wird es so einrichten, daß die Menschen ihr Leben nicht lieben, so elend es auch sein mag. Dieses vitale Urteil setzt das Leben und setzt Gott jenseits aller Anschuldigungen wie Rechtfertigungen ein. Und wollte man verstehen, wie die Natura naturans eine Natura naturata hervorbringen konnte, in
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der sie sich nicht wirklich realisierte, und warum die schöpferische Anstrengung zumindest vorübergehend angehalten hat, auf welches Hindernis sie getroffen ist und wie ein Hindernis überhaupt unüberwindbar für sie sein kann, so würde Bergson zugestehen – mit Rücksicht auf die anderen Planeten, auf denen das Leben vielleicht besser geglückt ist –, daß seine Philosophie nicht auf diese Art Fragen antwortet, daß sie sie aber auch nicht stellen muß, da sie letztlich keine Schöpfungsgeschichte der Welt ist – nicht einmal, wie sie es beinahe gewesen wäre, eine ›Integration und Differenzierung‹ des Seins –, sondern die mit Absicht partielle, unzusammenhängende und beinahe empirische Verortung mehrerer Brennpunkte des Seins. * Insgesamt betrachtet, muß man Péguy völlig recht geben, wenn er sagt, diese Philosophie habe »zum ersten Mal […] die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was dem Sein selbst und der Artikulation des Gegenwärtigen eigen sei.« Das entstehende Sein, von dem mich keine Repräsentation trennt, das von vornherein alle Ansichten enthält, selbst die nicht übereinstimmenden, sogar als Möglichkeit unvereinbaren Ansichten, die wir daraus beziehen können, das aufrecht vor uns steht, jünger und älter als das Mögliche und das Notwendige, und das, sobald es einmal entstanden ist, nie wird aufhören können, im Hintergrund anderer Gegenwarten gewesen zu sein und auch weiterhin dort sein wird – man versteht, daß zu Anfang des Jahrhunderts jene Bücher, die dieses vergessene Sein und seine Fähigkeiten wiederentdeckten, wie eine Renaissance, eine Befreiung der Philosophie empfunden wurden, und ihre Tugend hat in dieser Hinsicht Bestand. Es wäre schön gewesen, wenn derselbe Blick auf die Ursprünge anschließend auf die Leidenschaften, die Ereignisse, die Technik, das Recht, die Sprache und die Literatur übertragen worden wäre, um den ihnen eigenen geistigen Gehalt jeweils zu entdecken, indem man sie als Monumente und Voraussagen eines hieratischen Menschen, als Chiffren eines fragenden Geistes begreift. Bergson glaubte an die Feststellung und die Erfindung, aber nicht an das fragende
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Denken. Noch in dieser Einschränkung seines Feldes ist er jedoch durch die Treue zu dem, was er gesehen hat, beispielhaft. In den religiösen Gesprächen der letzten Jahre, in denen seine Philosophie sich als experimenteller Beitrag und wohlmeinendes Hilfsmittel in die Gesamtheit des thomistischen Systems eingegliedert fand – als sei es nicht klar, daß etwas Wesentliches verlorengeht, wenn man etwas hinzufügt –, ist für meinen Teil das Erstaunlichste die Ruhe, mit der Bergson, selbst in dem Augenblick, in dem er dem Katholizismus seine persönliche Zustimmung gibt und ihm auch moralisch folgt, in der Philosophie seine Methode beibehält. Nachdem er in den Stürmen streng seinen Kurs gehalten hatte, hielt er ihn auch in den letztendlichen Versöhnungen. Sein Bemühen und sein Werk, welche die Philosophie in der Gegenwart neu begonnen und dabei gezeigt haben, wie heute eine Annäherung an das Sein aussehen könnte, lehren auch, wie ein Mensch von damals unreduzierbar blieb, daß man nur das sagen muß, was man auch ›zeigen‹ kann, daß man warten können und warten lassen muß, mißfallen und sogar gefallen, man selbst sein und wahr sein – und daß im übrigen diese Standhaftigkeit unter den Menschen nicht einmal verpönt ist, da es auf der Suche nach dem Wahren obendrein den Bergsonismus gegeben hat.
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EI N ST EI N U ND D I E KR I S E D E R V E R NU N F T
Zur Zeit von Auguste Comte schickte sich die Wissenschaft an, die Existenz theoretisch und praktisch zu beherrschen. Ob es nun um das technische oder das politische Handeln ging, man glaubte, Zugang zu den Gesetzen zu haben, nach denen Natur und Gesellschaft gemacht sind und sie ihren Prinzipien folgend lenken zu können. Etwas ganz anderes, beinahe Gegenteiliges, ist jedoch eingetreten: Statt daß in der Wissenschaft Einsicht und Wirksamkeit gemeinsam gewachsen wären, wurden jene Anwendungen, die die Welt erschüttern, aus einer höchst spekulativen Wissenschaft geboren, über deren letzten Sinn man sich nicht einig ist. Und statt daß die Wissenschaft sich ganz in den Dienst der Politik gestellt hätte, haben wir vielmehr, ganz im Gegenteil, eine Physik voller philosophischer und beinahe politischer Diskussionen erhalten. Einstein selbst war ein klassischer Denker. So kategorisch, wie er das Recht einfordert, konstruieren zu dürfen, und ohne jeden Respekt vor den begrifflichen Vorstellungen a priori, die vorgeben, das unveränderliche Rüstzeug des Geistes zu sein1, hat er niemals aufgehört zu denken, daß diese Schöpfung eine in die Welt gelegte Wahrheit einholt. »Ich [glaube] an volle Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem, das ich auf wild spekulativem Wege zu erhaschen suche.«2 Aber gerade diese Begegnung der Spekulation mit dem Wirklichen, unseres Bildes von der Welt mit der Welt, die er gelegentlich als ›prästabilierte Harmonie‹3 bezeichnet, wagt Einstein weder kategorisch, wie 1 Die Wissenschaft ist »eine Schöpfung des menschlichen Geistes, die sich des Mittels der Ideen und der frei erfundenen Begriffe bedient«. Einstein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 286. 2 Brief an Max Born, 7. November 1944, zit. von T. Kahan, La philosophie d’Einstein. 3 Einstein, Comme je vois le monde, S. 155.
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Einstein und die Krise der Vernunft
der große cartesianische Rationalismus, auf eine göttliche Infrastruktur der Welt zu gründen noch, wie der Idealismus, auf jenes Prinzip, demzufolge das Wirkliche für uns nichts anderes sein könnte als das, was wir denken können. Einstein bezieht sich mitunter auf den Gott Spinozas, meistens aber beschreibt er die Rationalität wie ein Mysterium und wie den Gegenstand einer ›kosmischen Religiosität‹4. Die am wenigsten verständliche Sache der Welt, sagte er, ist die Tatsache, daß die Welt verständlich ist. Wenn man ein Denken, für das sich die Rationalität der Welt von selbst versteht, klassisch nennt, dann stößt der klassische Geist bei Einstein folglich an seine äußerste Grenze. Man weiß, daß er sich nie dazu durchringen konnte, die Formulierungen der Wellenmechanik als definitiv anzusehen, die nicht, wie die Begriffe der klassischen Physik, auf die ›Eigenschaften‹5 der Dinge, der physischen Individuen bezogen sind, sondern das Verhalten und die Wahrscheinlichkeit bestimmter kollektiver Phänomene im Inneren der Materie beschreiben. Er hat sich nie mit dieser Vorstellung einer ›Wirklichkeit‹ anfreunden können, die von sich aus und in letzter Analyse ein Geflecht aus Wahrscheinlichkeiten wäre. »Zur Begründung dieser Überzeugung kann ich«, so fügte er hinzu, »aber nicht logische Gründe, sondern nur meinen kleinen Finger als Zeugen beibringen, also keine Autorität, die außerhalb meiner Hand irgendwelchen Respekt einflößen kann.«6 Humor war für Einstein nicht einfach nur eine scherzhafte Wendung, er machte aus ihm vielmehr eine unerläßliche Komponente seiner Vorstellung von der Welt, beinahe schon ein Erkenntnismittel. Der Humor war für ihn der Modus der aufs Spiel gesetzten Gewißheiten. Sein ›kleiner Finger‹ war das paradoxe und nicht zu unterdrückende Bewußtsein des schöpferischen Physikers, durch eine gleichwohl freie Erfindung Zugang zu einer Wirklichkeit zu erlangen. Um sich so gut zu verbergen, denkt Einstein, muß Gott äußerst ›spitzfindig‹ oder raffiniert sein. Da4 5 6
Ebd., S. 35. Einstein et Infeld, L’évolution des idées en physique, S. 289. An Max Born, 3. Dezember 1947, zit. von T. Kahan.
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bei würde er jedoch keinen gehässigen Gott erkennen können. Er hielt also an beiden Enden der Kette fest – dem Erkenntnisideal der klassischen Physik und seiner eigenen, ›wild spekulativen‹, revolutionären Art und Weise. Die meisten Physiker der darauffolgenden Generation haben das erste Ende dieser Kette losgelassen. Die Begegnung der Spekulation mit dem Wirklichen, die Einstein wie ein reines Mysterium postuliert, wird von der Öffentlichkeit ohne Zögern wie ein Wunder aufgefaßt. Eine Wissenschaft, die alle Evidenzen des gesunden Menschenverstandes durcheinanderbringt und die im selben Augenblick in der Lage ist, die Welt zu verändern, ruft unvermeidlich eine Art Aberglauben hervor, selbst bei den hoch gebildeten Zeugen. Einstein protestiert: Er sei kein Gott, diese überzogenen Lobreden seien nicht an ihn gerichtet, sondern »an meinen mythischen Namensvetter, der mir das Leben außerordentlich schwer macht«7. Man glaubt ihm nicht, seine Bescheidenheit verstärkt vielmehr noch die Legendenbildung: Da er von seinem Ruhm so überrascht wurde und so wenig darauf gibt, kann dies nur bedeuten, daß sein Genius nicht ganz in ihm aufgeht. Einstein ist vielmehr der heilige Ort, das Tabernakel einer übernatürlichen Wirkungsmacht. »Diese Gleichgültigkeit ist so vollständig, daß man sich manchmal, wenn man ihn besucht, ins Gedächtnis rufen muß, daß man wirklich mit ihm zu tun hat. Man glaubt, mit einem Doppelgänger Umgang zu haben […] Mir ist sogar der unwahrscheinliche Verdacht gekommen, er könne glauben, er sei wie alle anderen.«8 Ludwig XIV. äußerte in aller Ruhe: ›Man muß zugeben, daß Racine sehr geistreich ist‹, und Viète, Descartes oder Leibniz galten im Vergleich zu ihrer Zeit nie als Übermenschen. In einer Zeit, die an eine ewige Quelle all unserer Ausdrucksakte glaubte, war der große Schriftsteller oder der große Wissenschaftler nichts als ein hinreichend erfinderischer Mensch, dem es gelang, einige die7 Antwort an Bernard Shaw, zit. von Antonina Vallentin, Le Drame d’Albert Einstein, S. 9. 8 A. Vallentin, ebd.
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ser Sätze oder dieser in den Dingen festgeschriebenen Gesetze zusammenzufassen. Wenn es aber keine universelle Vernunft mehr gibt, dann müssen sie Wundertäter sein. Heute wie einst gibt es jedoch nur ein einziges Wunder – allerdings ein beachtliches –, nämlich das Wunder, daß der Mensch spricht oder rechnet, mit anderen Worten, daß er sich diese wunderbaren Organe wie den Algorithmus und die Rede geschaffen hat, die sich niemals abnutzen, sondern sich im Gegenteil durch den Gebrauch noch erweitern, die unbegrenzt einsatzfähig und in der Lage sind, mehr zurückzugeben, als man hineingelegt hatte, und die dennoch nicht aufhören, sich auf die Dinge zu beziehen. Wir haben jedoch keine strenge Theorie des Symbolismus. Daher ziehen wir es vor, irgendeine instinktive Kraft anzuführen, die bei Einstein die Relativitätstheorie hervorgebracht haben soll, so wie sie bei uns die Atmung hervorruft. Einstein mag dagegen protestieren: Aber es muß so sein, daß er anders geschaffen wurde als wir, daß er einen anderen Körper und andere Wahrnehmungen hat, und daß sich unter ihnen, durch einen Glücksfall, die Relativität findet. Amerikanische Ärzte haben ihn auf ein Bett gelegt, seine noble Stirn mit Detektoren bedeckt und befohlen: ›Denken Sie an die Relativität‹, so wie man befiehlt ›Sagen Sie a‹ oder ›Zählen Sie: einundzwanzig, zweiundzwanzig‹ – und als sei die Relativität der Gegenstand eines sechsten Sinns, einer seligen Vision, als bräuchte es nicht eine ebenso große, von ebenso subtilen Stromkreisen genährte nervliche Energie, um als Säugling sprechen zu lernen, wie Einstein sie braucht, um an die Relativität zu denken. Von hier aus ist es nur ein Schritt bis zu den Extravaganzen der Journalisten, die das Genie hinsichtlich völlig fachfremder Fragen um seine Meinung bitten: Warum sollte die Wissenschaft, da sie ja alles in allem eine Wundertäterin ist, nicht ein weiteres Wunder vollbringen? Und warum sollte man Einstein nicht, da er doch gerade gezeigt hat, daß eine Gegenwart aus großer Entfernung gesehen, zeitgleich zu einer Zukunft ist, jene Fragen stellen, die man einst an die Pythia richtete? Diese Verrücktheiten finden sich nicht nur auf seiten des abendländischen Journalismus. Auf der anderen Seite der Welt
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entsprangen die sowjetischen Einschätzungen des Einsteinschen Werkes (vor der jüngst vorgenommenen Rehabilitierung) ebenso einem Okkultismus. Eine Physik als ›idealistisch‹ oder ›bürgerlich‹ zu verurteilen, der man im übrigen keinerlei Inkohärenz, keinerlei Mißverhältnis zu den Tatsachen vorwirft, heißt, von einem böswilligen Genie auszugehen, das in den Unterbauten des Kapitalismus umgeht und Einstein diesmal verdächtige Gedanken einflüstert – es bedeutet, die Vernunft unter dem Deckmantel einer vernünftigen sozialen Doktrin dort zu verleugnen, wo sie sich durch Evidenz auszeichnet. Vom einen zum anderen Ende der Welt, ob man es nun rühmt oder ablehnt, läßt Einsteins ›wild spekulatives‹ Werk die Unvernunft wuchern. Noch einmal sei gesagt, daß er nichts dazu getan hat, sein Denken in dieses Licht zu rücken, er blieb ein Klassiker. War dies aber nicht das Glück eines Mannes aus gutem Hause, die Kraft einer guten Kulturtradition? Und wenn sich diese Tradition erschöpft haben wird, wird dann nicht die neue Wissenschaft für all jene, die keine Physiker sind, nur eine Lektion in Irrationalismus sein? Am 6. April 1922 traf sich Einstein in der Pariser Philosophischen Gesellschaft mit Bergson. Bergson war gekommen, ›um zuzuhören‹. Die Diskussion zog sich allerdings, wie es manchmal vorkommt, in die Länge. Er entschloß sich daher, einige der Ideen vorzustellen, die er gerade in Durée et simultanéité zu verteidigen suchte – und schlug Einstein alles in allem einen Weg vor, wie er den paradoxen Anschein seiner Theorie entwaffnen und sie wieder mit den Menschen versöhnen könne, die einfach nur Menschen seien. Man nehme beispielsweise das berühmte Paradox der multiplen Zeiten, die jede für sich mit dem Standort des Beobachters verbunden sind. Bergson schlug vor, hierbei die physikalische Wahrheit von der Wahrheit als solcher zu unterscheiden. Wenn in den Gleichungen des Physikers eine bestimmte Variable, die man gewöhnlich als Zeit bezeichnet, da sie die verstrichenen Zeiten chiffriert, verantwortlich scheint für das Referenzsystem, in das man sich einordnet, dann wird niemand diesem Physiker das Recht abstreiten, zu behaupten,
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daß die ›Zeit‹ sich ausdehnt oder sich zusammenzieht, je nachdem, ob man sie hier oder dort betrachtet, und daß es folglich mehrere ›Zeiten‹ gibt. Aber redet er unter diesen Umständen auch von dem, was die anderen Menschen bei diesem Namen nennen? Würde diese Variable, diese Entität, dieser mathematische Ausdruck noch die Zeit bezeichnen, wenn wir ihr nicht die Eigenschaften einer anderen Zeit verleihen würden – der einzigen Zeit, die eine Sukzession, ein Werden und eine Dauer wäre, kurzum der einzigen Zeit, die wirklich Zeit wäre –, deren Erfahrung oder Wahrnehmung wir vor jeder Physik haben? Im Feld unserer Wahrnehmung gibt es simultane Ereignisse. Andererseits sehen wir darin auch andere Beobachter, deren Wahrnehmungsfeld das unsrige durchdringt, wir stellen uns sogar noch weitere Beobachter vor, die wiederum in das Wahrnehmungsfeld ihrer Vorgänger vordringen, und auf diese Weise gelangen wir dahin, unsere Vorstellung vom Simultanen bis hin zu Ereignissen zu erweitern, die beliebig weit auseinander liegen können und die nicht auf denselben Beobachter zurückgehen. Auf diese Weise gibt es eine einzige Zeit für alle, eine einzige universelle Zeit. Diese Gewißheit wird von den Berechnungen des Physikers nicht erschüttert, sie wird von ihnen sogar stillschweigend mitgedacht. Wenn der Physiker sagt, Pierres Zeit sei auf den Punkt hin ausgedehnt oder verkürzt worden, an dem sich Paul befindet, dann bringt er in keiner Weise das zum Ausdruck, was Paul erlebt, der seinerseits alle Dinge von seinem Standpunkt aus wahrnimmt und folglich keinen Grund hat, die in ihm und um ihn herum verstreichende Zeit anders zu empfinden als Pierre seine eigene Zeit empfindet. Der Physiker überträgt auf Paul fälschlicherweise das Bild, das Pierre sich von Pauls Zeit gemacht hat. Er setzt Pierres Sichtweisen absolut und macht gemeinsame Sache mit ihm. Er glaubt, er sei Zuschauer der ganzen Welt. Er macht das, was man den Philosophen so sehr vorwirft. Und er spricht von einer Zeit, die niemandem angehört, von einem Mythos. Man muß an dieser Stelle, sagt Bergson, mehr Einstein sein als er selbst.
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»Ich bin Maler und soll zwei Personen darstellen, Jean und Jacques, von denen der eine neben mir steht, während der andere zwei- oder dreihundert Meter von mir entfernt ist. Ich werde ersteren in seiner natürlichen Größe zeichnen und den anderen auf die Dimension eines Zwerges schrumpfen lassen. Wer sich aber unter meinen Fachkollegen in der Nähe von Jacques befindet und ebenfalls beide malen will, der wird das Gegenteil von mir tun; er wird Jean sehr klein wiedergeben und Jacques in seiner natürlichen Größe. Wir werden übrigens beide recht haben. Aber kann man aus dieser Tatsache, daß wir beide recht haben, etwa schließen, daß Jean und Jacques weder eine normale Größe noch die Größe eines Zwerges haben, oder daß sie beide Größen gleichzeitig haben, oder daß alles ganz beliebig ist? Offensichtlich nicht […] Die Vervielfachung der Zeiten, die ich auf diese Weise erhalte, verhindert nicht die Einheit der wirklichen Zeit; sie würde sie eher voraussetzen, ebenso wie die Verringerung der Größe mit wachsender Entfernung bei einer Serie von Gemälden, auf denen ich Jacques in mehr oder weniger großer Entfernung darstellen würde, darauf hinweisen würde, daß Jacques dieselbe Größe bewahrt.«9 Eine tiefgreifende Idee: Die Rationalität und das Universelle werden von neuem gegründet, und zwar nicht auf dem göttlichen Recht einer dogmatischen Wissenschaft, sondern auf dieser vorwissenschaftlichen Evidenz, daß es eine einzige Welt gibt, auf dieser Vernunft vor der Vernunft, die in unserer Existenz, in unserem Umgang mit der wahrgenommenen Welt und mit den Anderen enthalten ist. Mit diesen Ausführungen läuft Bergson Einsteins Klassizismus entgegen. Man könnte die Relativität mit der Vernunft aller Menschen versöhnen, wenn man nur bereit wäre, die multiplen Zeiten wie mathematische Ausdrücke zu behandeln und diesseits oder jenseits des physikalisch-mathematischen Bildes der Welt eine philosophische Sichtweise der Welt anzuerkennen, die zugleich die Perspektive der existierenden Menschen ist. Wenn man nur akzeptierte, die konkrete Welt un9
Bergson, Durée et simultanéité, S. 100-102.
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serer Wahrnehmung mit ihren Horizonten wiederzufinden und in ihr die Konstruktionen der Physik zu situieren, dann könnte die Physik ihre Paradoxa frei entwickeln, ohne die Unvernunft zu autorisieren. Was würde Einstein darauf antworten? Er hatte sehr gut zugehört, wie seine ersten Worte beweisen: »Die Frage stellt sich also folgendermaßen: Ist die Zeit des Philosophen dieselbe wie die des Physikers?«10 Er stimmte jedoch dieser Frage nicht zu. Zwar räumte er ein, daß die Zeit, deren Erfahrung wir gemacht haben, die wahrgenommene Zeit, am Ausgangspunkt unserer begrifflichen Vorstellungen von Zeit steht, und daß sie uns auf die Idee einer einzigen Zeit vom einem zum anderen Ende der Welt hingeführt hat. Diese gelebte Zeit sei jedoch über das hinaus, was jeder von uns sieht, nicht kompetent und autorisiere nicht dazu, unseren intuitiven Begriff vom Simultanen auf die ganze Welt auszudehnen. »Es gibt also keine Zeit der Philosophen.« Allein der Wissenschaft könne man die Wahrheit über die Zeit wie über alles andere abverlangen. Und die Erfahrung der wahrgenommenen Welt mit ihren Evidenzen sei angesichts der klaren Worte der Wissenschaft nur ein unbeholfenes Stammeln. Nun gut. Aber diese Zurückweisung konfrontiert uns erneut mit der Krise der Vernunft. Der Gelehrte ist nicht bereit, eine andere Vernunft als die des Physikers anzuerkennen, und auf sie verläßt er sich wie zu Zeiten der klassischen Wissenschaft. Andererseits enthält diese Physikervernunft, die auf diese Weise wieder mit einer philosophischen Würde umgeben wird, eine Vielzahl von Paradoxa, und sie zerstört sich selbst, wenn sie mir beispielsweise zu verstehen gibt, daß meine Gegenwart simultan zur Zukunft eines anderen, recht weit von mir entfernten Beobachters ist, womit sie den ganzen Sinn der Zukunft untergräbt … Gerade weil er das klassische wissenschaftliche Ideal bewahrte und für die Physik den Wert nicht eines mathematischen Ausdrucks und einer bestimmten Sprache, sondern eines unmittelbaren Begriffs vom Wirklichen beanspruchte, war Einstein als 10
Bulletin de la Société française de philosophie, 1922, S. 107.
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Philosoph zu jenem Paradox verurteilt, das er weder als Physiker noch als Mensch je gesucht hatte. Man wird die Werte der Vernunft, die uns die klassische Wissenschaft vermittelt hat, nicht dadurch schützen, daß man für die Wissenschaft eine Art metaphysische oder absolute Wahrheit reklamiert. Es gibt auf der Welt, ganz abgesehen von den Neurotikern, genügend ›Rationalisten‹, die für die lebendige Vernunft eine Gefahr darstellen. Und andererseits ist die Kraft der Vernunft an die Wiedergeburt eines philosophischen Sinns gebunden, der zwar den wissenschaftlichen Ausdruck der Welt rechtfertigt, aber dies nur innerhalb seiner Ordnung, an seinem Platz innerhalb des Ganzen der menschlichen Welt.
M ONTA I GNE L E KTÜ RE 1
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»Ich lasse mich nur selten auf etwas ein.« (Essais, III, X) »Man muß mit den Lebenden leben.« (Essais, III, VIII)
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Man meint, alles über ihn gesagt zu haben, wenn man ihn als Skeptiker bezeichnet, als jemanden, der sich Fragen stellt und nicht antwortet, der es sogar ablehnt zuzugeben, daß er nichts weiß und sich lieber an das berühmte Que sais je? hält. All dies führt nicht sehr weit. Der Skeptizismus hat zwei Gesichter. Er bedeutet einerseits, daß nichts wahr ist, andererseits aber auch, daß nichts falsch ist. Er verwirft alle Meinungen und alle Verhaltensweisen als absurd, nimmt uns aber dadurch jedes Mittel, eine bestimmte Meinung oder Verhaltensweise als falsch zurückzuweisen. Indem er die dogmatische, partielle oder abstrakte Wahrheit zerstört, legt er die Idee einer allumfassenden Wahrheit nahe, mit allen Facetten und allen notwendigen Vermittlungen. Wenn er die Gegensätze und die Widersprüche vervielfacht, dann nur deshalb, weil die Wahrheit dies erfordert. Montaigne beginnt mit der Lehre, daß sich jede Wahrheit widerspricht, vielleicht endet er mit der Erkenntnis, daß der Widerspruch Wahrheit ist. Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich nie. Der erste und fundamentalste Widerspruch ist derjenige, durch den die Ablehnung jeder Wahrheit eine neue Art von Wahrheit entdeckt. Wir werden also bei Montaigne alles finden, einen auf sich selbst beruhenden und fortwährenden Zweifel, die Religion, den Stoizismus. Es wäre vergeblich, behaupten zu wollen, er schließe jemals eine dieser ›Positionen‹ aus oder mache sie sich zu eigen. Aber vielleicht findet 1
Alle Zitate Montaignes sind dem III. Buch der Essais entnommen.
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er in diesem vieldeutigen Selbst, das sich allem anbietet und das er immer wieder neu erkundet hat, letztlich den Ort aller Ungewißheiten, das Mysterium aller Mysterien und so etwas wie eine letzte Wahrheit. * Das Selbstbewußtsein ist seine Konstante, für ihn der Maßstab aller Lehren. Man könnte sagen, daß er nie aus einem gewissen Erstaunen über sich selbst herausgekommen ist, welches das ganze Wesen und die Weisheit seines Werkes ausmacht. Er ist es nie müde geworden, das Paradox eines bewußten Seins zu empfinden. In jedem Augenblick, in der Liebe, im politischen Leben, im stillen Erleben der Wahrnehmung, gehören wir ganz einer Sache, wir machen sie zu unserer Sache, und dennoch ziehen wir uns aus ihr zurück und wahren zu ihr eine Distanz, ohne die wir nichts über sie wissen könnten. Descartes wird dieses Paradox überwinden und das Bewußtsein zum Geist erklären: »Es ist nicht das Auge, das sich selbst sieht […], sondern der Geist, der als einziger das Auge und sich selbst erkennt.«2 Montaignes Bewußtsein ist nicht ohne weiteres Geist, es ist gleichzeitig gebunden und frei, und in einem einzigen vieldeutigen Akt öffnet es sich den äußeren Gegenständen, denen es sich zugleich fremd fühlt. Er kennt diesen Ort der Ruhe nicht, diesen Selbstbesitz, welcher der cartesianische Verstand sein wird. Die Welt ist für ihn kein System von Gegenständen, von dem er sich aus eigener Kraft eine Vorstellung machen könnte, das Ich ist für ihn nicht die Reinheit eines intellektuellen Bewußtseins. Für ihn – wie später für Pascal – haben wir Anteil an einer Welt, zu der wir keinen Schlüssel haben, da wir ebensowenig in der Lage sind, bei uns selbst wie bei den Dingen zu verweilen, da wir von ihnen auf uns und von uns auf sie zurückgeworfen werden. Man muß das Orakel von Delphi korrigieren. Es ist gut, wenn wir uns auf uns selbst besinnen. Aber wir sind für uns ebensowenig greifbar wie die Dinge. Bei dir ist alles Eitelkeit, innen und außen – weniger eitel nur dann, wenn 2
Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal lecteurs de Montaigne.
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weniger ausgedehnt. Von dir abgesehen, o Mensch, erforscht jedes Wesen zunächst sich selbst und bestimmt dann nach Maßgabe seiner Bedürfnisse die Grenzen seines Wünschens und Werkens. Kein einziges unter ihnen ist so leer und so armselig wie du, der du das Weltall zu umfassen glaubst: Du bist der Forscher ohne Funde, der Richter ohne Gerichtsbarkeit und in diesem Possenspiel am Ende der dumme August. Gegenüber der Welt der Gegenstände oder sogar der Tiere, die in ihrer Natur ruhen, ist das Bewußtsein inhaltsleer und gierig: Es ist ein Bewußtsein von allen Dingen, weil es selbst nichts ist, es klammert sich an jedes Ding und hält an keinem fest. Unsere klaren Vorstellungen, die trotz allem in jenes Hin und Her einbezogen sind, das sie so gern ignorieren wollen, laufen Gefahr, weniger die Wahrheit über uns selbst als vielmehr Masken zu sein, hinter denen wir unser Sein verstecken. Das Selbstbewußtsein ist bei Montaigne ein Gespräch mit sich selbst, es ist eine Befragung, die an jenes undurchsichtige Sein gerichtet ist, das er selbst ist und von dem er nie eine Antwort erwartet, es gleicht einem ›Versuch‹3 oder einer ›Erfahrung‹ seiner selbst. Seine Zielsetzung liegt in einem Nachforschen, ohne das die Reinheit der Vernunft illusorisch und letztlich unrein wäre. Man mag erstaunt sein, daß er dieses Ziel bis in die Details seines Humors und seines Temperamentes hinein verfolgte. Aber für ihn droht jede Lehre, die von unserem Handeln getrennt wird, zur einem Schwindel zu werden, und er hat sich ein Buch vorgestellt, in dem einmal nicht nur Ideen Ausdruck finden würden, sondern auch das Leben selbst, in dem diese Ideen aufleuchten und das ihren Sinn verändert. Unter der klaren Idee und dem Denken findet er daher eine Spontaneität, die sich in Meinungen, Gefühlen und nicht zu rechtfertigenden Handlungen äußert. Myson […], einer der sieben Weisen, gab auf die Frage, worüber er so ganz für sich lache, […] die Antwort: ›Darüber, daß ich so ganz für mich lache!‹ Wieviel 3 »Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch ist sie ständig in der Lehre und Erprobung.« (III, II)
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Unsinn rede ich meiner Meinung nach Tag für Tag daher, und wieviel mehr noch, steht zu vermuten, nach Meinung der anderen! Es gibt eine für das Bewußtsein ganz wesentliche Verrücktheit, die in seiner Fähigkeit liegt, zu werden was immer es will, sich selbst hervorzubringen. Um allein lachen zu können, bedarf es keiner äußeren Ursache, es genügt zu denken, daß man allein lachen und sich selbst Gesellschaft leisten kann, es genügt, zugleich zweifach vorhanden und bewußt zu sein. Man hat die Wesensart des Königs Perseus von Makedonien als ungewöhnlich empfunden, da er sich auf keine Daseinsform festlegen ließ, sondern ständig von einer zur anderen wanderte, so daß bei einem so leichtfüßig wechselnden, schweifenden Lebenswandel schließlich weder er noch sonstwer wußte, was für ein Mensch er sei. Das aber, scheint mir, trifft auf fast alle Menschen zu. – Wir sind mit unseren Gedanken stets woanders, und es könnte gar nicht anders sein: Bewußt zu sein, bedeutet unter anderem, stets anderswo zu sein. Selbst die Fähigkeiten, die man beim Tier feststellen kann und die wir auf den Körper übertragen, werden im Menschen verwandelt und entstellt, weil sie in der Bewegung eines Bewußtseins erfaßt werden. Man findet Hunde, die im Traum bellen; sie haben also bildhafte Vorstellungen. Der Mensch aber hat nicht nur irgendwelche gemalten Bilder in seinem Kopf. Er kann im Imaginären leben. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, das uns jene Darsteller bieten, die von einer Trauerrolle derart ergriffen sind, daß sie noch zu Hause darüber weinen, oder das uns ein einzelner Mensch bietet, der sich inmitten einer Menge wähnt und in dieser unsichtbaren Welt Grimassen schneidet, staunt, lacht, kämpft und triumphiert, oder jener Königssohn, der seinen geliebten Bruder aufgrund eines schlechten Traumes umbringen läßt, oder auch jener andere, der sich umbringt, weil seine Hunde geheult haben. Wenn man allein den Körper betrachtet, dann dürfte das Geschlecht nur ein genau bestimmtes Vergnügen bereiten, vergleichbar dem Vergnügen der anderen Körperfunktionen. Aber bei den meisten Völkern wurde das männliche Glied zum Gott erhoben. In einer Gegend enthäuteten es sich manche und brachten ein Stück davon den Göttern als Opfergabe dar, und
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manche ihren Samen. In einer andern durchbohrten es die jungen Männer öffentlich, indem sie an mehreren Stellen Löcher in Haut und Fleisch schlitzten und die längsten und dicksten Pflöcke hineinsteckten, die sie aushalten konnten; diese verbrannten sie dann – ebenfalls als Opfergabe an ihre Götter; und wenn sie hierbei unter der Gewalt der grausamen Schmerzen zusammenbrachen, galten sie als zuwenig tugendhaft und tapfer. Auf diese Weise geht das Leben über sich selbst hinaus, die äußerste Steigerung des Vergnügens gleicht dem Schmerz.4 Die Natur selber, fürchte ich, hat dem Menschen einen gewissen Trieb zur Unmenschlichkeit eingepflanzt. Es liegt daran, daß unser Körper und seine friedlichen Funktionen von der Fähigkeit durchdrungen sind, uns einer anderen Sache widmen und uns Absolutheiten geben zu können. Im übrigen gibt es kein Begehren, das sich allein auf den Körper richtete und das nicht außerhalb seiner selbst ein anderes Begehren oder eine Zustimmung suchte. Darum, sagen diese Männer, machten sie gerade die Gefühle zum Ziel ihres Werbens. Wie recht sie haben! […] Die Vorstellung entsetzt mich, daß ich einen Körper als mir gehörend umarmen könnte, der ohne Seelenregung ist. Die Liebe ist keine rein körperliche Angelegenheit, da sie auf jemanden gerichtet ist, und sie ist keine rein geistige Angelegenheit, da sie auf ihn in seinem Körper gerichtet ist. Das Wort ›befremdlich‹ ist dasjenige, das am häufigsten wiederkehrt, wenn Montaigne über den Menschen spricht. Oder auch ›absurd‹. Oder ›Ungeheuer‹. Oder ›Wunder‹. Was für ein Ungeheuer ist doch ein Tier, das vor sich selbst erschrickt, dem seine Lust zur Last wird und das sich für eine Mißgeburt hält! Descartes wird in aller Kürze die Verbindung von Seele und Körper feststellen und vorziehen, sie voneinander getrennt zu 4 »Wenn ich mir immer wieder […] dieses beim lieblichsten Werk der Liebe vom Furor der Grausamkeit durchglühte Gesicht, dann dieses inmitten solch ausgelaßnen Tuns auf einmal völlig entrückte, todernste Sichanstarren [betrachte]; und wenn ich weiter bedenke, daß […] die höchste Wollust gleich dem Schmerz von Klagelauten und Ohmachtsängsten begleitet ist […]«
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denken, weil sie dann für den Verstand klar zu erkennen seien. Die ›Vermischung‹ von Seele und Körper ist im Gegensatz dazu der Bereich Montaignes, er interessiert sich nur für unsere tatsächliche Beschaffenheit, und sein Buch beschreibt in unendlicher Fortsetzung jenes paradoxe Faktum, das wir sind. Dies bedeutet zugleich, daß er an den Tod denkt, die Gegenprobe unserer Inkarnation. Auf Reisen hat er in keiner Herberge rasten können, ohne sich zu fragen, ob er darin bequem krank sein und sterben könne. Ich fühle ständig den Krallengriff des Todes in der Kehle und Lende … Er hat sich sehr treffend gegen das Nachdenken über den Tod ausgesprochen. Es verzerrt und verfehlt seinen Gegenstand, da es den fernen Tod betrifft, und da dieser ferne Tod, der sich überall in unserer Zukunft findet, viel unempfindlicher ist als der nahe Tod, der unter unseren Augen in Form eines Ereignisses näher rückt. Es geht nicht darum, das Leben durch das Denken des Todes zu korrumpieren. Was Montaigne interessiert, ist nicht das Pathetische des Todes, seine Häßlichkeit, die letzten Seufzer, der Leichenzug mit den üblichen Reden über den Tod und den zum Nutzen der Lebenden bestimmten Bildern vom Tod. Jene wollten damit nicht dem Sterben an sich ins Auge sehen, nicht es richtig zu beurteilen lernen – keineswegs hierauf hefteten sie ihre Gedanken: Ihnen schwebte ein neues Sein vor, dem sie entgegenzueilen suchten. Diejenigen, die den Tröstungen des Priesters lauschen, heben Augen und Hände gen Himmel, beten laut und fliehen den Kampf, sie lenken ihre Gedanken vom Tod ab, so wie man Kinder, die mit der Lanzette gestochen werden müssen, hiervon ablenkt. Montaigne will, daß wir das Nicht-Sein mit einem trockenen Blick ermessen und daß wir das Leben ganz unverhüllt erkennen, indem wir dem nackten Tod ins Auge sehen. Der Tod ist der Akt, den jeder allein spielt. Er trennt aus der ungeordneten Masse des Seins jenen besonderen Bereich heraus, der wir sind, er läßt jene unerschöpfliche Quelle der Meinungen, Träume und Leidenschaften, die insgeheim das Schauspiel der Welt belebt, mit einer Evidenz ohnegleichen hervortreten, und er gibt uns auf diese Weise besser als jede andere Episode des Lebens den fundamentalen Zufall zu verstehen, der
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uns erscheinen ließ und der uns wieder verschwinden lassen wird. Wenn er schreibt: Ich studiere mich mehr als irgend etwas anderes – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik, dann muß man dies wörtlich nehmen. Die Erklärungen des Menschen, die uns eine Metaphysik oder eine Physik geben können, lehnt er von vornherein ab, weil es immer noch der Mensch ist, der die Philosophien und die Wissenschaften ›beweist‹, und weil sie eher durch ihn als er durch sie eine Erklärung finden. Wollte man beispielsweise den Geist und den Körper für sich nehmen, indem man sie unterschiedlichen Prinzipien zuschreibt, dann ließe man verschwinden, was es zu verstehen gilt, nämlich das ›Ungeheuer‹, das ›Wunder‹, den Menschen. Bei bestem Wissen und Gewissen kann es also nicht darum gehen, das Problem des Menschen zu lösen, sondern nur darum, den Menschen als Problem zu beschreiben. Von daher stammt die Idee einer Suche ohne Fund, einer Jagd ohne Beute, die nicht das Laster eines Dilettanten ist, sondern die einzig angemessene Methode, wenn es darum geht, den Menschen zu beschreiben. Die Welt ist nur eine Schule der Erkenntnissuche. Daher auch die Aufmerksamkeit, die Montaigne dem Fluß der Gedanken und der Spontaneität der Träume entgegenbringt und die ihn mitunter den Tonfall Prousts vorwegnehmen läßt,5 als liege für ihn der einzige Sieg über die Zeit bereits darin, die Zeit zum Ausdruck zu bringen. * Unter dieser Vorgabe steht er, der aufmerksam für alles Zufällige und Unvollendete im Menschen ist, im Gegensatz zur Religion, 5 »Mit jenen Gedankenspielen ergeht es mir wie mit meinen Träumen: Während ich sie träume, nehme ich mir vor, sie im Gedächtnis zu behalten (denn ich träume oft, daß ich träume), doch am nächsten Tag kann ich mir zwar ihre Tönung noch vergegenwärtigen: heiter, traurig oder wundersam, aber wie sie im übrigen waren, entschwindet mir in ein um so tieferes Grab des Vergessens, je atemloser ich es ihm zu entreißen suche. So bleibt mir, wie gesagt, auch von den unerwartet mich überfallenden Gedankenspielen nichts als ein flüchtiges Schattenbild in Erinnrung.«
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wenn man die Religion als eine Erklärung und einen Schlüssel zur Welt versteht. Obwohl er sie oft von seiner Suche ausnimmt und außer Reichweite stellt, redet doch nichts von dem, was er sagt, dem Glauben das Wort.6 Wir stehen im Schmutz und Kot der Erde, dem totesten und stinkigsten Winkel des Weltalls untrennbar verhaftet. Der tierische Instinkt ist perfekter als unsere Vernunft. Unsere Religion ist nur Gewohnheit: Christen sind wir im gleichen Sinne, wie wir Périgorden oder Deutsche sind. Die Beschneidung, das Fasten, die Fastenzeit, das Kreuz, das Bekenntnis, das Zölibat der Priester, der Gebrauch der heiligen Sprache im Gottesdienst, die Fleischwerdung Gottes und das Fegefeuer, all diese Elemente des Christentums finden sich auch in den heidnischen Religionen. In jedem Dorf entstehen die Wunder unter unseren Augen aufgrund von Unkenntnis und Hörensagen. Einer platonischen Legende zufolge wird Sokrates von einer Jungfrau geboren, der Apollo erschienen war. Man hat bei Homer sämtliche Orakel und sämtliche Vorhersagen, die man brauchte, gesucht und gefunden. Die Offenbarungsreligion unterscheidet sich alles in allem nicht sehr von dem, was die Verrücktheit der Menschen auf Erden hervorbringt. Fraglich bleibt aber, ob man daraus schließen muß, wie es bei Montaigne gelegentlich vorkommt, daß auch den barbarischen Religionen bereits eine Erleuchtung zugrunde liegt – oder aber, daß unsere Religion sich noch in einem barbarischen Anfangsstadium befindet. Wie könnte man an seiner Antwort zweifeln, wenn er doch selbst Sokrates seine Daimonereien und seine Ekstasen vorwirft? In der Moral wie bei der Erkenntnis hält er unsere irdische Verbundenheit jeder übernatürlichen Beziehung entgegen. Man kann, so sagt er, eine Tat bereuen, man kann aber nicht bereuen, man selbst zu sein, obwohl es gerade dies ist, was man der Religion zufolge tun müßte. Es gibt keine neue Geburt. Wir können nichts an uns für ungültig erklären: Was ich tue, pflege ich ganz zu tun, und ich bin mit Leib und Seele 6 L. Brunschvicg hat in dieser Hinsicht eine sehr überzeugende Serie von Fragmenten zusammengestellt (Descartes et Pascal lecteurs de Montaigne, S. 56–78).
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dabei. Er behält sich den Fall einiger Menschen vor, die bereits in der Ewigkeit leben, bringt aber auch ihnen Mißtrauen entgegen, wenn er hinzufügt: Bei unsereinem aber habe ich stets zwei Dinge in besonders engem Zusammenspiel gesehn: überhimmlisches Denken und unterweltliches Tun. Was er beim Christentum festhält, ist der Wunsch nach Unwissenheit. Warum sollte man in jenen Bereichen Scheinheiligkeit unterstellen, in denen er die Religion über jede Kritik erhebt? Die Religion behält ihre Gültigkeit, indem sie dem Merkwürdigen seinen Platz einräumt und weiß, daß unser Schicksal rätselhaft ist. Alle Lösungen des Rätsels, die sie uns an die Hand gibt, sind mit unserer monströsen Beschaffenheit unvereinbar. Als Fragestellung ist sie unter der Bedingung begründet, daß sie ohne Antwort bleibt. Sie ist eine der Arten unserer Verrücktheit, und unsere Verrücktheit ist uns wesentlich. Wenn man den Menschen in den Mittelpunkt rückt, nicht den selbstzufriedenen Verstand, sondern ein Bewußtsein, das über sich selbst erstaunt, dann kann man den Traum von einer Kehrseite der Dinge nicht ausklammern und auch die stillschweigende Anrufung eines solchen Jenseits nicht von sich weisen. – Sicher ist, daß wir, wenn es denn eine Art Weltvernunft geben sollte, nicht in ihre Geheimnisse eingeweiht sind und daß wir unser Leben in jedem Fall nach unseren Maßstäben führen müssen … In meiner Unwissenheit über das große Ganze lasse ich mich für meinen Teil lässig vom allgemeinen Weltgesetz führen. Es wird mich genug von sich wissen lassen, wenn ich es fühle. Wer würde es wagen, uns vorzuwerfen, daß wir von diesem Leben und dieser Welt, die unseren Horizont bilden, Gebrauch machen? * Wenn man nun aber die religiöse Leidenschaft ablehnt, muß man dann nicht auch alle anderen Leidenschaften ablehnen? Montaigne spricht oft und mit großem Wohlwollen von den Stoikern. Er, der so viel gegen die Vernunft geschrieben und so gut gezeigt hat, daß wir keinesfalls unsere Meinung ablegen können, um einer Idee unmittelbar gegenüberzustehen, er beruft sich auf die
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Saat der allumfassenden Vernunft, an der jeder der Natur nicht entfremdete Mensch in seinem Innern teilhat. Da es bei ihm die Anrufung eines unbekannten Gottes gibt, gibt es auch die Anrufung einer unmöglichen Vernunft. Selbst wenn nichts ganz ›in unserer Macht‹ steht, selbst wenn wir nicht fähig sind zur Autonomie, müssen wir uns nicht zumindest zurückziehen, uns ein stilles Plätzchen der Gleichgültigkeit schaffen, von dem aus wir unsere Taten und unser Leben künftig wie bedeutungslose ›Rollen‹ betrachten? Auch dies findet sich unter anderem bei Montaigne. Meine Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte, sich hingeben aber nur ans eigne Selbst. Die Ehe beispielsweise ist eine Institution, die ihre eigenen Gesetze und Bedingungen der Ausgewogenheit mit sich bringt. Es wäre töricht, sie mit Leidenschaft in Verbindung bringen zu wollen. Die Liebe, die uns dem andern versklavt, ist nur als freie und freiwillige Ausübung annehmbar. Es kommt sogar vor, daß Montaigne von ihr wie von einer körperlichen Funktion spricht, die auf der Hygiene beruht, und daß er den Körper wie eine Mechanik abhandelt, mit der wir nicht gemeinsame Sache machen müssen. Um so mehr wird er den Staat zu jenen äußeren Apparaten zählen, mit denen wir zufällig verbunden sind und derer wir uns ihren Gesetzen gemäß bedienen müssen, ohne etwas von uns selbst einzubringen. Unsere Beziehungen zum Anderen werden stets von der Einbildungskraft und vom Prestige beherrscht. Viel stärker noch gilt dies für das öffentliche Leben. Es verbindet uns mit all jenen, deren Umgang wir nicht gesucht haben, und mit vielen Dummköpfen. Mit einem Wirrkopf guten Willens zu diskutieren ist unmöglich. Wenn ich einem solch eifernden Schulmeister in die Hände gerate, wird nicht nur mein Verstand in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch mein Gewissen. Im öffentlichen Leben machen mich die Narren zum Narren. Montaigne spürt sehr deutlich, daß es im Sozialen wie verhext ist: Jeder ersetzt hier seine eigenen Gedanken durch ihren Widerschein in den Augen und Äußerungen des Anderen. Es gibt keine Wahrheit mehr, es gibt auch, wie Pascal sagen wird, keine Übereinstimmung des Selbst mit sich selbst mehr. Jeder ist
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im wörtlichen Sinne entfremdet. Entziehen wir uns all dem. Das öffentliche Wohl verlangt, daß man zum Verräter werde, daß man lüge und morde? Dann treten wir dieses Amt eben an Leute ab, die dienstbeflißner und anpassungsfähiger sind als wir! Es ist wahr, daß man sich nicht immer enthalten kann, daß man den Dingen im übrigen freien Lauf lassen muß und daß es schließlich auch der Staatsmänner oder eines Fürsten bedarf. Was können diese wiederum ausrichten? Der Fürst wird gezwungen sein, zu lügen, zu töten und zu betrügen. Er möge es tun, aber er soll wissen, was er tut, und das Verbrechen nicht als Tugend zu tarnen suchen. Gibt es da keinen Ausweg? Keinen! Wenn der Fürst wirklich zwischen diesen beiden Extremen auf die Folterbank gespannt war, mußte er tun, was er tat. Geschah es ohne Bedauern und ohne ihn zu bedrücken, zeigt dies, daß es um sein Gewissen schlecht bestellt ist. Und wir, die wir zusehen? Es bleibt uns nur übrig, wie man später sagen wird, mit Verachtung zu gehorchen. Man muß voller Verachtung sein, denn der Staat richtet sich gegen alles, was auf der Welt zählt: gegen die Freiheit und gegen das Gewissen. Man muß aber gehorchen, da diese Torheit das Gesetz des Lebens in Gemeinschaft darstellt und da es eine andere Art von Torheit wäre, den Staat nicht seinen Gesetzen gemäß zu behandeln. Dennoch setzt Platon den Philosophen an die Regierung, er stellt sich ein gerechtes Gemeinwesen vor und schickt sich an, es aufzubauen. Kann es in einem Gemeinwesen überhaupt ein Übel geben, das dazu berechtigte, es mit einem so tödlichen Gift wie dem Bürgerkrieg zu bekämpfen? […] Platon […] will nicht zulassen, daß man zur Beseitigung von Mißständen die Ruhe des Vaterlands gewaltsam störe, und er lehnt Verbeßrungen ab, wenn sie das Blut der Bürger kosten und sie zugrunde richten. In einer solchen Lage, bestimmt er, sei es vielmehr Pflicht jedes rechtschaffenen Mannes, alles beim alten zu lassen … Es ist absurd, eine Geschichte, die aus lauter Zufällen besteht, durch die Vernunft regeln zu wollen … Und zu meiner Zeit habe ich gesehn, wie die weisesten Häupter unsres Königreichs höchst feierlich und für die Staatskasse höchst kostspielig sich versammelten, um bestimmte Vereinbarungen und Verträge auszuhandeln, während die wahre
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Entscheidung darüber doch vollkommen von den Gesprächen im Boudoir der Damen abhing – und davon, welche Meinung dort von irgendeinem Dämchen vertreten wurde. Nie werden die Voraussicht und die Gesetze die Vielfalt der Einzelfälle ausgleichen können, nie wird die Vernunft das öffentliche Leben denken können. In einer Zeit, in der sich das öffentliche Leben in tausend einzelne Konflikte aufspaltet, vermutet Montaigne nicht einmal, daß man ihm einen Sinn unterstellen könnte. Man kann sich mit diesem Chaos nicht versöhnen. Sein Leben in öffentlicher Funktion zu führen heißt, sich im Leben nach den andern zu richten. Montaigne neigt ganz offensichtlich dazu, sich nach sich selbst zu richten … Dennoch: Bleibt dies sein letztes Wort? Über die Liebe, über die Freundschaft und sogar über die Politik hat er bisweilen auch anders gesprochen. Nicht daß er sich dabei einfach widersprochen hätte. Es ist vielmehr einfach so, daß die stoische Teilung in ein Äußeres und ein Inneres, in Notwendigkeit und Freiheit, abstrakt ist oder sich selbst zerstört, und daß wir unteilbar zugleich innen und außen sind. Man kann nicht immer gehorchen, wenn man verachtet, und man kann nicht immer verachten, wenn man gehorcht. Es gibt Gelegenheiten, bei denen gehorchen bedeutet, etwas zu akzeptieren, und bei denen verachten bedeutet, etwas abzulehnen, bei denen das Leben als doppeltes Spiel nicht länger möglich ist und sich das Äußere und das Innere nicht mehr unterscheiden. Unter diesen Umständen müssen wir uns in die Verrücktheit der Welt begeben, und für diesen Augenblick brauchen wir eine Regel. Montaigne wußte dies, er ist dieser Einsicht nicht aus dem Weg gegangen. Wie auch? Er hatte das Bewußtsein beschrieben, selbst das solitäre Bewußtsein, das bereits Züge des Absurden trägt und in seinem Grundsatz töricht ist. Wie hätte er ihm vorschreiben sollen, bei sich selbst zu bleiben, wenn er doch denkt, daß es ganz außer sich ist? Der Stoizismus kann nur ein Übergang sein. Er lehrt uns, dem Äußeren unser Sein und unser Urteil entgegenzustellen; er könnte uns aber nicht von ihm befreien. Montaignes ureigenster Gedanke liegt vielleicht in dem Wenigen, das er uns
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über die Bedingungen und die Motive dieser Rückkehr zur Welt mitteilt. *
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Es geht nicht darum, um jeden Preis zu einer beruhigenden Schlußfolgerung zu gelangen, und auch nicht darum, am Ende zu vergessen, was man zwischenzeitlich gefunden hatte. Die Gewißheit wird sich nur aus dem Zweifel heraus einstellen. Mehr sogar noch: Es ist der Zweifel selbst, der sich als Gewißheit erweisen wird. Man muß also die Tragweite dieses Zweifels erfassen. Wiederholen wir noch einmal, daß jeder Glaube Leidenschaft ist und uns außerhalb unserer selbst stellt, daß man nur glauben kann, wenn man aufhört zu denken, daß die Weisheit eine Beständigkeit der Unbeständigkeit ist und daß sie die Freundschaft, die Liebe und das öffentliche Leben ablehnt. Damit sind wir zu uns zurückgekehrt, nur um dort immer noch das Chaos vorzufinden, mit dem Tod am Horizont, der das Sinnbild aller Unordnung ist. Von den Anderen und von der Welt abgeschnitten und unfähig, wie der weise Stoiker in sich und in einer inneren Beziehung zu Gott das Mittel zu finden, die Komödie der Welt zu rechtfertigen, steht Montaignes Weiser, wie man meinen könnte, nur noch mit jenem Leben im Gespräch, das er noch für einige Zeit wie verrückt aus sich hervorquellen spürt, er hat kein anderes Mittel mehr als einen auf alles ausgedehnten Spott und kein anderes Motiv als die Verachtung seiner selbst und aller Dinge. Warum sollte man in dieser Unordnung nicht einfach Verzicht üben? Warum sollte man nicht die Tiere zum Vorbild nehmen – jene Pferde, die im Augenblick des Todes wiehern, oder jene Schwäne, die im Sterben singen –, warum sollte man ihnen nicht in die Unbewußtheit folgen? Am besten wäre es, die kindliche Sicherheit, den unbewußten Zustand der Tiere wiederzufinden. Oder aber, entgegen dem Gefühl des Todes, irgendeine Religion der Natur zu erdenken: Aus einem Leben, das vergeht, entsteht tausendfach neues Leben. Diese Bewegung findet sich bei Montaigne. Aber ebenso oft auch eine andere. Denn nach all den Zweifeln – gerade wenn
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man weiß, daß jeder Versuch, Wissen zu erlangen, die Fragen vervielfacht und das verdunkelt, was er eigentlich erhellen will, und daß der Hydra der Unwissenheit für jeden abgeschlagenen Kopf drei neue wachsen –, bleibt zu erklären, daß es Meinungen gibt, daß wir zunächst glaubten, im Besitz von Wahrheiten zu sein und daß der Zweifel erst gelernt werden muß. Ich weiß besser, was ein Mensch als was beseelt ist oder sterblich oder vernünftig. Descartes wird sich an diesen Satz erinnern. Er will zum Ausdruck bringen, daß die Bewegung und die Unbeständigkeit des Geistes nur die halbe Wahrheit sind. Die andere Hälfte ist jenes Wunder, daß unsere Schlagfertigkeit ins Stocken geraten ist und auch weiterhin angesichts solcher Erscheinungen stockt, von denen wir sehr gut zeigen können, daß sie einer näheren Untersuchung nicht standhalten, die aber zumindest einen Anschein von Wahrheit bargen und uns eine Idee davon vermittelt haben. Das Denken wird sich, wenn es sich selbst befragt, ewig fortsetzen und sich ewig widersprechen, aber es gibt ein im Akt begriffenes Denken, das nicht nichts ist und dem wir Rechnung tragen müssen. Die Kritik am menschlichen Wissen vernichtet es nur dann, wenn man die Idee eines vollständigen oder absoluten Wissens bewahrt; wenn sie uns aber im Gegenteil von dieser Idee befreit, dann wird das menschliche Wissen, als allein mögliches, zum Maß aller Dinge und zum Äquivalent eines Absoluten. Die Kritik an den Leidenschaften nimmt ihnen nicht ihren Wert, wenn sie so weit geht zu zeigen, daß wir nie im Besitz unserer selbst sind und daß wir die Leidenschaft sind. In diesem Augenblick werden die Gründe des Zweifels zu Gründen des Glaubens, unsere ganze Kritik hat nur zur Folge, daß sie unsere Meinungen und unsere Leidenschaften aufwertet, indem sie uns vor Augen führt, daß sie unsere einzige Zuflucht sind und daß wir selbst uns nicht verstehen, wenn wir von etwas anderem träumen. Den Fixpunkt, den wir benötigen, um unseren Wankelmut zu unterbinden, finden wir anderswo, nicht in der bitteren Religion der Natur, in jener dunklen Gottheit, die ihre Werke für nichts und wieder nichts vervielfacht, sondern in der Tatsache, daß es eine Meinung gibt, daß es den Anschein von wahr und falsch gibt. Das
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Natürliche, die Naivität und die Unwissenheit wiederzufinden, bedeutet also, die Gnade der ersten Gewißheiten wiederzufinden, in jenem Zweifel, der sie einkreist und der sie sichtbar werden läßt. Tatsächlich hat Montaigne nicht nur gezweifelt. Zweifeln ist eine Handlung, und der Zweifel kann folglich unser Handeln, unser Tun nicht durchbrechen, das ihm gegenüber im Recht ist. Derselbe Autor, der sich in seinem Leben nach sich richten wollte, hat leidenschaftlich empfunden, daß wir unter anderem das sind, was wir für die Anderen sind, und daß ihre Meinung uns im Zentrum unserer selbst trifft. Stellte einer mich anders dar als ich war – und sei es, um mich zu ehren –, sagt er mit einer plötzlichen Wut, käme ich stracks aus dem Jenseits zurück, um ihn Lügen zu strafen. Seine Freundschaft mit La Boétie war eine Bindung von genau jener Art, die uns zu Sklaven anderer macht. Er dachte nicht, sich besser zu kennen als La Boétie ihn kannte, er lebte unter seinen Augen, und auch nach dem Tod seines Freundes hält Montaigne diese Beziehung aufrecht: Er befragt und studiert sich, um sich so zu erkennen, wie La Boétie ihn erkannt hat, er allein erfreute sich meines wahren Bildes und nahm es mit sich ins Grab. Dies ist der Grund, weswegen ich mich selbst so neugierig zu entziffern suche. Man sieht selten ein so vollkommenes Talent. Weit mehr, als daß die Freundschaft La Boéties ein Glücksfall seines Lebens war, muß man sogar sagen, daß Montaigne und der Autor der Essais gleichermaßen aus dieser Freundschaft geboren wurden und daß für ihn alles in allem ›existieren‹ bedeutet, unter dem Blick seines Freundes zu existieren. Denn der wahre Skeptizismus ist eine Bewegung in Richtung der Wahrheit, die Kritik an den Leidenschaften ist der Haß auf die falschen Leidenschaften, und Montaigne hat schließlich, unter mancherlei Umständen, außerhalb seiner selbst Menschen und Dinge erkannt, die abzulehnen er sich nicht einmal hätte träumen lassen, weil sie gewissermaßen den Inbegriff seiner äußeren Freiheit darstellten, weil er durch die Liebe zu ihnen er selbst sein konnte und weil er sich in ihnen wiederfand, so wie er sie auch in sich wiederfand.
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Selbst im Vergnügen, von dem er manchmal wie ein Arzt spricht, ist Montaigne im Grunde nicht zynisch. Es ist Torheit, all seine Gedanken an eine Liebesbeziehung zu heften und sich mit wilder, ja völlig blinder Leidenschaft hierin zu verstricken. Sich andrerseits aber ohne Zuneigung und gefühlsmäßige Bindung hineinzubegeben, nach dem Brauch unserer Zeit wie ein Schauspieler eine Rolle mimen und an Eigenem nur Worte beisteuern heißt zwar für seine Sicherheit sorgen, jedoch auf höchst feige Weise: wie einer, der seine Ehre aus Angst vor der Gefahr drangäbe, oder seinen Gewinn, oder seinen Genuß. Fest steht, daß Männer, die eine Beziehung auf jene Art handhaben, sich davon nichts erhoffen können, was eine edle Seele zu berühren, geschweige zu befriedigen vermöchte. Der gealterte Montaigne sagt, der Erfolg einer Verführung hänge vom gewählten Augenblick ab. Was aber beweist diese späte Weisheit? Als er jung und verliebt war, hat er seine Liebesbeziehungen nie wie Schlachten und mit Hilfe einer Taktik geführt. Oft hat es mir an Glück gefehlt, zuweilen aber auch an Draufgängertum. Doch Gott bewahre den vor Übel, der sich heute darüber lustig zu machen wagt! Zur Zeit muß man in der Liebe ja bedenkenloser sein, was unsre jungen Leute mit ihrer angeblichen Leidenschaftlichkeit entschuldigen; sähen die Frauen jedoch etwas genauer hin, würden sie erkennen, daß dies vielmehr der Verachtung entspringt. Ich hingegen hatte eine abergläubische Angst, eine Frau zu verletzen, denn mir ist es ein Bedürfnis, wen ich liebe, auch zu achten. Überdies nimmt man diesem Geschäft allen Glanz, sobald man es ohne Ehrerbietung betreibt. Es gefällt mir, wenn der Mann dabei ein bißchen den schüchternen Jüngling und ergebnen Diener spielt. Sicher nicht gerade in Liebesdingen, so doch anderweitig eignen mir selbst einige Züge dieser unbeholfenen Scheu, von der Plutarch spricht (und die mir im Laufe meines Lebens verschiedentlich geschadet und blaue Flecken eingebracht hat ) […] Abgewiesen zu werden tut mir ebenso weh wie abzuweisen; und jemanden zu belästigen belastet mich derart, daß ich, wenn die Pflicht mich zwingt, die Absichten eines andern in einer zweifelhaften und für ihn unangenehmen Sache auszuloten, nur halbherzig, ja widerwillig ans Werk gehe … So spricht ein sehr sanfter Zyniker. Das Schicksal hat es
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nicht so eingerichtet, daß er aus Liebe so lieben konnte wie er aus Freundschaft liebte, aber er selbst hat darauf keinen Einfluß gehabt. Er hat das verhexte Gebiet des öffentlichen Lebens betreten; er hat sich ihm nicht entzogen. Ich will mitnichten, daß man den Ämtern, die man übernimmt, seine Hingabe in Wort und Tat, ja notfalls seinen Schweiß und sein Blut versage. Die Bürgerschaft hat ihn mehrmals zum Bürgermeister ernannt. Ich wünsche ihr alles denkbar Gute, und gewiß hätte ich, wäre sie in Bedrängnis geraten, keine Anstrengung gescheut, ihr herauszuhelfen. Jedenfalls habe ich mich für sie in gleichem Maße gerührt wie für mich selbst. Wie ist es ihm gelungen, ein öffentliches Leben zu führen, wenn ihm doch jede Form von Herrschaft zuwider ist, ob ausgeübt oder erlitten? Er gehorcht, ohne den Gehorsam zu mögen, und er erteilt Befehle, ohne die Befehlsgewalt zu mögen. Er würde kein Fürst sein wollen. Der Fürst steht allein da. Er ist kein Mensch, denn er ist unanfechtbar. Er lebt nicht, er schläft, da vor ihm alles zurückweicht. Aber die Leidenschaft, zu gehorchen ist auch häßlich und unnütz: Wie sollte man demjenigen, der sich mit Leib und Seele ausliefert, seine Wertschätzung entgegenbringen? So wie er in der Lage ist, sich bedingungslos einem Gebieter hinzugeben, so ist er auch in der Lage, dies zu ändern. Ja, man muß einen Entschluß fassen und bis in die letzten Konsequenzen hinein verfolgen, aber die passenden Gelegenheiten sind nicht so häufig, wie man meint, und man darf nicht allzu bereitwillig eine Wahl treffen, da es in diesem Fall nicht mehr der Anlaß, sondern die Sekte ist, die man liebt. Gegen Bindungen und Verpflichtungen, die sich unseres Innern bemächtigen wollen, bin ich gefeit. Zorn und Haß liegen jenseits dessen, was der Gerechtigkeitssinn uns auferlegt; solche Leidenschaften sind nur ein Notbehelf für jene, denen die Vernunft allein nicht reicht, ihre Schuldigkeit zu tun […] Ein Handeln aus innrer Erbitterung und Feindseligkeit, die eigennützigen Interessen und Leidenschaften entspringen, darf man hingegen keineswegs Pflichterfüllung nennen (wie wir es täglich tun), sowenig wie ein treuloses und hinterhältiges Vorgehen Mut: Solche Leute geben ihren Hang zur Heimtücke und Gewalt als Eifer aus; aber es ist nicht
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die Sache, die sie entflammt, sondern ihre Selbstsucht. Sie schüren den Krieg nicht um der Gerechtigkeit, sondern um des Krieges willen. Wenn ich mich willentlich einer Partei anschließe, dann nie mit so leidenschaftlicher Hingabe, daß mein Verstand davon angesteckt würde. Man kann einer Partei dienen und doch über das urteilen, was in ihr geschieht, man kann im Gegner Intelligenz und Ehre entdecken und damit letztlich weiterhin im Bereich des Sozialen existieren. Ich habe mich auf öffentliche Ämter einzulassen vermocht, ohne auch nur einen Fingerbreit von mir abzuweichen, und mich andern hingeben können, ohne mich preiszugeben. Man wird vielleicht sagen, daß diese Regeln Partisanen, aber keine Soldaten schaffen. Das ist wahr, und Montaigne weiß es auch. Er kann sich gelegentlich und mit klarem Verstand zu einer Lüge zwingen, aber er wird sie nicht zur Gewohnheit und zum Lebensinhalt werden lassen. Wer sich meiner nach meiner Art bedienen will, erteile mir Aufträge, die eines energischen und freimütigen Anpackens bedürfen und auf gradem und kurzem Wege ausgeführt werden müssen, möge er durchaus gefährlich sein. Da werde ich etwas zustande bringen. Muß man dafür jedoch lange und mühselige, krumme und Gerissenheit erfordernde Wege einschlagen, tut man besser daran, sich an einen andern zu wenden. Vielleicht liegt hierin eine gewisse Verachtung. Vielleicht möchte Montaigne aber auch noch etwas anderes sagen. Wir pflegen unsere Fragen so zu stellen, als seien sie universal, als achteten wir bei unserem Wohl zugleich immer auch auf das Wohl aller Menschen. Wenn dies aber nun ein Vorurteil wäre? Da er ist, was er ist, wird Montaigne nie ein Partisan sein. Man erledigt nur das gut, was man von sich aus beginnt. Er braucht sich nicht aufzuspielen. Er kann mehr und besser dienen, wenn er sich nicht in Reih und Glied einfügt. Darf man dieses Gewicht, das man seinen Worten beimaß, geringschätzen, da man ja wußte, daß er weder log noch schmeichelte? Und hat er nicht um so besser gehandelt, je weniger er daran festhielt? Die Leidenschaften scheinen der Tod des Ich zu sein, da sie es über sich selbst hinaustreiben, und Montaigne fühlte sich von ihnen bedroht wie vom Tod. Er versucht nun, uns zu beschrei-
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ben, was man seitdem die freien Leidenschaften nennt: Nachdem er gespürt hatte, daß das, was er liebt, angesichts dieser Bedrohung auf dem Spiel stand, bestätigt er mit großer Entschlossenheit die natürliche Bewegung, die ihn über sich hinaustrieb, er tritt in das menschliche Spiel ein. Bei der Berührung mit dieser Freiheit und mit diesem Mut werden die Leidenschaften und der Tod selbst transformiert. Nein, es ist nicht das Nachdenken über den Tod, das sich über ihn erhebt: Die guten Argumente sind es, die einen Bauern, ja ganze Völker ebenso standhaft sterben lassen wie einen Philosophen, und sie gehen auf ein einziges Argument zurück: Wir sind lebendig, und nur hier liegen unsere Aufgaben, die immer dieselben sind, solange uns auch nur ein Atemzug bleibt. Das Nachdenken über den Tod ist scheinheilig, denn es ist eine verdrießliche Art zu leben. In der Bewegung, die ihn zu den Dingen führt, entdeckt Montaigne, gerade weil er die darin liegende Willkür und Gefahr aufgezeigt hat, ein wirksames Mittel gegen den Tod. Ich meine, daß der Tod zwar das Ende des Lebens ist, nicht aber dessen Ziel; zwar sein Schlußpunkt, seine äußerste Grenze, nicht aber sein Zweck. Es muß vielmehr auf sich selber gerichtet sein, sich selber wollen. Seine wahre Aufgabe besteht darin, sich seine eigne Ordnung und Führung zu geben, mit sich ins reine zu kommen. Und erst zu den vielen anderweitigen Pflichten, die dieses allgemeine und grundlegende Kapitel ›Recht zu leben wissen‹ umfaßt, gehört dann der Abschnitt ›Recht zu sterben wissen‹; und er könnte einer der leichtesten sein, wenn unsre Furcht ihm nicht ein derartiges Gewicht gäbe. Das Mittel gegen den Tod und gegen die Leidenschaften ist nicht, sich von ihnen abzuwenden, sondern im Gegenteil, über sie hinauszugehen, da alles in uns darauf drängt. Die Anderen bedrohen unsere Freiheit? Aber man muß mit den Lebenden leben. Wir riskieren dabei, zu Sklaven gemacht zu werden? Ohne dieses Risiko gibt es aber keine wahre Freiheit. Die Tat und ihre Folgeerscheinungen verwirren uns? Das Leben ist jedoch eine stoffliche und körperliche Bewegung, seinem ganzen Wesen nach unberechenbar und nie vollendet; demgemäß suche ich ihm zu dienen. Es ist sinnlos, unsere Beschaffenheit zu verwünschen: Das Schlechte wie das Gute finden sich nur in unserem Leben.
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Montaigne berichtet, daß die Ärzte ihm geraten hatten, sich bei Schiffsreisen fest mit einem Tuch zu umwickeln, um die Seekrankheit abzuwenden. Ich habe es jedoch nie ausprobiert, fügt er hinzu, da ich gewohnt bin, meine Unzulänglichkeiten selber anzugehen und in den Griff zu bekommen. Seine ganze Moral beruht auf einer Bewegung des Stolzes, durch die er sein riskantes Leben in die Hand zu nehmen beschließt, da alles nur in einem so geführten Leben einen Sinn hat. Nach diesem Umweg über sich selbst erscheint ihm alles wieder gut. Er sagte, er wolle lieber als im Bett zu Pferde sterben. Nicht daß er zur eigenen Unterstützung auf den Zorn des Kriegers zählte, er fand vielmehr in den Dingen, mit einer steten Bedrohung, eine letzte Wegzehrung. Er hat die vieldeutige Verbindung gesehen, die ihn mit den Dingen verband. Er hat gesehen, daß es keine Wahl gibt zwischen sich – und den Dingen. Das Ich ist nicht seriös, es bindet sich nicht gern. Aber gibt es etwas, das so ausschließlich mit sich selbst befaßt, so unnahbar, so eigensinnig und so herablassend wäre wie der Esel – und so humorlos? … Es ist die bedingungslose Freiheit, die eine absolute Bindung ermöglicht. Montaigne sagt über sich selbst: Ich war so sparsam mit meinen Versprechen, daß ich glaube, mehr gehalten als versprochen zu haben; und mehr, als ich ihnen schuldete. Er hat das Geheimnis des Seins gesucht und vielleicht gefunden, gleichzeitig ironisch und ernst, frei und treu.
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Wie soll man ihn verstehen? Er wendet sich in seinen Schriften gegen den Großmut in der Politik, aber er lehnt auch die Gewalt ab. Er irritiert die Rechtsgläubigen ebenso wie alle, die an die Staatsraison glauben, da er es wagt, in dem Augenblick von Tugend zu sprechen, in dem er die herkömmliche Moral zutiefst verletzt. Denn er beschreibt diese Verknüpfung des gemeinschaftlichen Lebens, bei der die reine Moral grausam sein und die reine Politik so etwas wie eine Moral erfordern kann. Mit einem Zyniker, der die Werte verleugnet oder mit einem Naiven, der die Tat aufopfert, könnte man sich abfinden. Aber man mag nicht diesen schwierigen Denker, der zudem ohne Götzen auskommt. Er ist gewiß manches Mal in Versuchung geraten, zynisch zu werden: Es hat ihn, wie er sagt, »große Mühe« gekostet, sich gegen die Meinung derer zur Wehr zu setzen, die glauben, die Welt »würde von Fortuna geleitet«2 Wenn nämlich die Humanität nur ein Produkt der glücklichen Fügung ist, dann erkennt man nicht auf Anhieb, was das Gemeinwesen aufrecht halten könnte, wenn nicht die reine Gewaltanwendung seitens der politischen Macht. Die ganze Rolle einer Regierung besteht folglich darin, ihre Untertanen in Schach zu halten.3 Alle Regierungskunst geht auf die Kriegskunst zurück,4 und »gute Truppen schaffen gute Gesetze«5. Zwischen der Macht und ihren Untertanen, zwischen dem Ich und dem Anderen gibt es keinen Bereich, der nicht von Rivalität bestimmt wäre. Man muß diesen Druck entweder aus1 Beitrag zur Tagung Umanesimo e scienza politica, Rom-Florenz, September 1949. 2 Der Fürst, Kap. XXV. 3 Discorsi, II, 23, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 305. 4 Der Fürst, Kap. XIV. 5 Kap. XVII.
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halten oder ausüben. Machiavelli redet ständig von Unterdrükkung und Aggression. Das Leben in der Gemeinschaft ist die Hölle. Darin aber liegt seine Originalität, das Prinzip des Kampfes aufgestellt zu haben und darüber hinauszugehen, ohne es je zu vergessen. Im Kampf selbst findet er noch etwas anderes als den Widerstreit. »Während sich die Menschen bemühen, keine Angst zu haben, streben sie doch danach, von anderen gefürchtet zu werden, und die Aggression, die sie ihrerseits von sich weisen, bringen sie dem anderen wieder entgegen, als ginge es notwendigerweise nur darum, den anderen zu kränken oder selbst gekränkt zu werden.« Im selben Augenblick, in dem ich Angst haben werde, verbreite ich auch Angst, es ist dieselbe Aggression, die ich von mir fernhalte und die ich den Anderen wieder entgegenbringe, es ist derselbe Schrecken, der mich bedroht und den ich verbreite, ich erlebe meine eigene Furcht in der Furcht, die ich auslöse. Durch eine Art Rückstoß wirkt der Schmerz, den ich verursache, bei mir ebenso heftig wie bei meinem Opfer, und die Grausamkeit ist folglich keine Lösung, sondern muß immer wieder von neuem begangen werden. Es gibt eine Kreisbewegung zwischen mir und dem Anderen, eine dunkle Gemeinschaft der Heiligen, das Schlechte, das ich zufüge, füge ich mir selbst zu, und ich kämpfe ebensogut gegen mich selbst, wenn ich gegen den Anderen kämpfe. Alles in allem besteht ein Gesicht nur aus Schatten, Licht und Farben, und so geschieht es, daß der Peiniger sich auf merkwürdige Weise gehemmt fühlt, daß eine andere Angst die seine übernommen hat, weil sich dieses Gesicht auf eine bestimmte Art und Weise zu einer Grimasse verzogen hat. Ein Satz ist immer nur eine Äußerung, eine Ansammlung von Bedeutungen, die im Prinzip nie die gleiche einzigartige Würze aufweisen können, die sie als einzelne besitzen. Und dennoch, wenn das Opfer sich besiegt zeigt, fühlt der grausame Mensch über diese Worte hinweg ein anderes Leben schlagen, er befindet sich vor einem anderen Selbst. Wir sind weit entfernt von den Beziehungen einer reinen Kraft, die zwischen den Dingen existieren. Um die Worte Machiavellis auf-
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zugreifen: Wir sind von den ›Tieren‹ zum ›Menschen‹ übergegangen.6 Genauer gesagt sind wir von einer Kampfweise zu einer anderen übergegangen, von einem »Kampf mit bloßer Gewalt« zu einem »Kampf mit der Waffe der Gesetze«.7 Der menschliche Kampf unterscheidet sich vom Kampf der Tiere, aber es ist ein Kampf. Die Herrschaft ist keine bloße Gewalt, und noch viel weniger ist sie eine redliche Übertragung der individuellen Willensäußerungen, als könnten diese Willensäußerungen ihren Unterschied gegenüber der Macht für nichtig erklären. Ob die Herrschaft nun ererbt oder neu erworben ist, sie wird in Der Fürst stets als anfechtbar und bedroht dargestellt. Eine der Aufgaben des Fürsten ist es, die Fragen zu lösen, bevor sie durch die Erschütterung der Untertanen unlösbar geworden sind.8 Man könnte sagen, es geht darum, ein Erwachen der Bürger zu vermeiden. Es gibt keine absolut fest gegründete Herrschaft, es gibt nur das Herausbilden einer Meinung. Sie toleriert die Herrschaft und hält sie für gefestigt. Das Problem liegt darin, ein Zerfallen dieser Übereinkunft zu vermeiden, das sich innerhalb kurzer Zeit und unabhängig von den jeweiligen Mitteln der Gewaltausübung bemerkbar machen kann, sobald ein bestimmter Punkt der Krise überschritten wurde. Die Herrschaft gehört zur Ordnung des Stillschweigenden. Die Menschen begnügen sich mit einem Leben im Horizont von Staat und Gesetz, solange ihnen kein Unrecht bewußt werden läßt, wie viel Ungerechtfertigtes sie erdulden. Die Herrschaft, die man legitim nennt, ist diejenige, der es gelingt, Verachtung und Haß zu vermeiden.9 »Ein Fürst darf nur so viel Furcht verbreiten, daß er, wenn er dadurch schon keine Liebe gewinnt, doch keinen Haß auf sich zieht.«10 Es ist ganz egal, ob die Herrschaft im Einzelfall gerügt wird: Sie rich6 7 8 9 10
Kap. XVIII. Ebd. Kap. III. Kap. XVI. Kap. XVII.
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tet sich in jenem Zeitabstand ein, der die Kritik vom Widerruf und die Diskussion vom Mißkredit trennt. Die Beziehungen von Subjekt und Macht, wie jene von Ich und Anderem, knüpfen untereinander ein festeres Band als es ein Urteil zu sein vermag, sie überdauern jede Anfechtung, solange es sich nicht um die radikale Anfechtung der Verachtung handelt. Da sie weder reine Tatsache noch absolutes Recht ist, kann die Herrschaft weder zwingend noch überzeugend sein: Sie umgarnt vielmehr – und man umgarnt viel wirkungsvoller, wenn man an die Freiheit appelliert, als wenn man Angst und Schrekken verbreitet. Sehr genau beschreibt Machiavelli diesen steten Wechsel von Spannung und Entspannung, von Repression und Rechtmäßigkeit, dessen Geheimnis die autoritären Regime für sich behalten, der aber, als Zuckerguß, das Wesen aller Diplomatie ausmacht. Manchmal hat man jene lieber in der Hand, denen man sein Vertrauen schenkt: »Niemals hat ein neuer Herrscher seine Untertanen entwaffnet; vielmehr hat er sie, wenn er sie unbewaffnet vorfand, stets mit Waffen versorgt; indem du ihnen nämlich Waffen gibst, werden diese Waffen zu deinen eigenen […] Wenn du jedoch die Untertanen entwaffnest, beginnst du, sie zu beleidigen; du zeigst nämlich, daß du ihnen gegenüber Mißtrauen hegst, sei es aus Feigheit, sei es aus zu geringem Vertrauen; und beides erregt Haß gegen dich.«11 »Leichter läßt sich eine Stadt, die gewohnt ist, frei zu sein, mit Hilfe ihrer eigenen Bürger beherrschen als auf irgendeine andere Weise.«12 In einer Gesellschaft, in der jeder dem Anderen auf seltsame Weise gleicht, in der man mißtrauisch ist, wenn der Andere mißtrauisch ist, und vertrauensvoll, wenn der Andere Vertrauen zeigt – in einer solchen Gesellschaft gibt es keinen reine Gewaltanwendung: So wie die Gewaltherrschaft Verachtung nach sich zog, würde die Unterdrückung eine Revolte hervorrufen. Die besten Stützen einer Herrschaft sind nicht einmal jene, die sie errichtet haben: Sie glauben, Anspruch auf diese Herrschaft zu haben, oder zu11 12
Kap. XV. Kap. V.
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mindest fühlen sie sich in Sicherheit. Es sind seine Feinde, die ein neuer Herrscher gewinnen muß, sofern sich seine Gegner für eine Sache gewinnen lassen.13 Sollten die politischen Gegner jedoch nicht den eigenen Interessen unterzuordnen sein – dann wird der Herrschende nicht nur halbherzig gegen sie vorgehen: »Man muß die Menschen entweder verwöhnen oder vernichten; denn für leichte Demütigungen nehmen sie Rache, für schwere können sie dies nicht tun.«14 Zwischen der Verführung und der Vernichtung der Besiegten kann der Sieger folglich abwägen, und Machiavelli neigt mitunter zur Grausamkeit: »Es gibt in Wahrheit kein sicheres Mittel, sie [die Herrschaft] zu behalten, außer ihrer [der Städte] Vernichtung. Und wer Herr über eine Stadt wird, die gewohnt war frei zu sein, und sie nicht zerstört, mag sich darauf gefaßt machen, von ihr vernichtet zu werden.«15 Dennoch kann die reine Gewalt nur vorübergehend angewandt werden. Sie könnte nie zu jener tiefgreifenden Zustimmung führen, die eine Herrschaft stützt, und sie vermag sie auch nicht zu ersetzen: »Und wäre [der Fürst] auch gezwungen, einen hinrichten zu lassen, so tue er dies, wenn dafür eine entsprechende Rechtfertigung und ein offensichtlicher Grund bestehen.«16 Somit kommt man wieder auf die Feststellung zurück, daß es keine absolute Herrschaft gibt … Er hat also als erster eine Theorie der ›Kollaboration‹ und der Zusammenführung der Gegner aufgestellt (wie übrigens auch eine Theorie der ›fünften Kolonne‹), die sich zum politischen Terror so verhält wie der Kalte Krieg zum Krieg. Worin aber liegt, so wird man fragen, der Nutzen für den Humanismus? Er liegt zunächst einmal darin, daß Machiavelli uns mitten in das eigentliche Gebiet der Politik hineinführt und uns erlaubt, die Größe der Aufgabenstellung abzuschätzen, wenn wir der Politik irgendeine Wahrheit beimessen wollen. Er liegt überdies darin, 13 14 15 16
Kap. XV. Kap. V. Kap. III. Kap. XVII.
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daß man uns den Beginn einer Humanität vor Augen führt, die plötzlich und scheinbar ohne Wissen der Macht aus dem Gemeinwesen hervorgeht und die nur auf der Tatsache beruht, daß sie das Bewußtsein der Menschen zu verführen sucht. Die Falle des Gemeinwesens öffnet sich in beide Richtungen: Die liberalen Regierungen sind stets etwas weniger liberal als man annimmt, die anderen Regierungen hingegen stets etwas mehr. Machiavellis Pessimismus ist also nicht endgültig. Er hat sogar auf die Bedingungen einer Politik hingewiesen, die nicht ungerecht wäre: Es müßte eine Politik sein, die das Volk zufriedenstellt. Nicht etwa, weil das Volk alles wissen sollte, sondern weil, wenn es einen Unschuldigen gibt, es nur das Volk sein kann: »Man kann nicht auf ehrenhafte Weise und ohne anderen Unrecht zu tun die Großen zufriedenstellen, wohl aber das Volk; denn das Bestreben des Volkes ist ehrenhafter als das der Großen, insofern diese das Volk unterdrücken wollen, das Volk jedoch nicht unterdrückt werden will […] Das Volk verlangt lediglich danach, nicht unterdrückt zu werden.«17 Machiavelli äußert sich in Der Fürst nicht weiter über die Beziehungen von Herrschaft und Volk. Man weiß aber, daß er in den Betrachtungen über die erste Dekade des Titus Livius einen republikanischen Standpunkt eingenommen hat. Vielleicht können wir also seine Aussagen über die Beziehungen des Fürsten zu seinen Ratgebern auf die Beziehungen von Herrschaft und Volk übertragen. Unter dem Namen der Tugend beschreibt er also einen Weg, mit den Anderen zu leben. Der Fürst darf sich in seinen Entscheidungen nicht nach den Anderen richten: Es würde ihm nur Verachtung einbringen. Ebensowenig darf er ganz losgelöst von allem regieren, denn eine solche Absonderung ist nicht gleichbedeutend mit Autorität. Es gibt aber einen möglichen Mittelweg, der zwischen diesen beiden Formen eines zum
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17 Kap. IX. Man ist hier nicht weit entfernt von der Definition des 18 Staates, wie sie in der Utopia von Thomas Morus gegeben wird: »quaedam conspiratio divitum de suis commodis reipublicae nomine tituloque tractantium.«
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Mißerfolg verurteilten Verhaltens liegt. »Pater Luca, ein Vertrauter des jetzigen Kaisers Maximilian, sagte mir, als er über Seine Majestät sprach, daß der Kaiser sich mit niemandem berate und auch nie etwas nach eigenem Ermessen tue; dies kommt daher, daß er es mit dem Gegenteil des oben Gesagten hält. Denn der Kaiser ist ein verschwiegener Mann, teilt seine Pläne niemandem mit und holt keinen Rat ein; da seine Pläne aber, sobald sie zur Ausführung gelangen, bekannt und offenkundig werden, wecken sie Widerspruch bei seiner Umgebung, und da er leicht umzustimmen ist, kommt er wieder von ihnen ab.«18 Es gibt eine Art und Weise, sich zu vergewissern, wer den Anderen zu unterdrükken sucht – und wer ihn zum Sklaven macht. Und es gibt eine Beziehung des Ratschlags und des Austauschs mit dem Anderen, die nicht der Tod ist, sondern das eigentliche Handeln des Ich. Der ursprüngliche Kampf droht immer wieder aufzuflammen: Es muß notwendigerweise der Fürst sein, der die Fragen stellt, und er darf niemandem, bei Strafe der Verachtung, dauerhaft die Genehmigung erteilen, frei zu sprechen. Wenigstens in den Augenblicken aber, in denen er sich berät, tauscht er sich mit den Anderen aus, und dem Entschluß, den er fassen wird, können sich die Anderen anschließen, denn er ist in gewisser Weise auch ihr Entschluß. Die ungebändigte Grausamkeit der Anfänge wird überwunden, wenn sich untereinander die Verbindung des gemeinsamen Werkes und des gemeinsamen Schicksals festigt. Das Individuum wächst dann durch die Gaben selbst, die es dem Herrscher darbringt, es gibt zwischen ihnen einen Austausch. Wenn der Feind das Territorium verwüstet, und wenn die Untertanen, die mit dem Fürsten Zuflucht in der Stadt suchen, ihr Hab und Gut geplündert und verloren sehen, dann verpflichten sie sich unter den gegebenen Umständen ohne jeden Rückhalt: »Liegt es doch in der Natur des Menschen, sich ebenso verpflichtet zu fühlen aufgrund von Wohltaten, die man erweist, wie aufgrund von solchen, die man empfängt.«19 Was soll’s, wird man 18 19
Der Fürst, Kap. XXIII. Kap. X.
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sagen, wenn es sich doch nur um eine weitere Täuschung handelt, wenn es die größte List des Herrschers ist, die Menschen davon zu überzeugen, daß sie gewinnen, obwohl sie verlieren? Machiavelli sagt jedoch an keiner Stelle, die Untertanen würden getäuscht. Er beschreibt die Geburt eines Gemeinwesens, das die Schranken der Eigenliebe nicht kennt. An die Medici gerichtet, beweist er mit seiner Rede, daß die Herrschaft nicht ohne Berufung auf die Freiheit auskommt. In dieser Umkehrung ist es möglicherweise der Fürst, der getäuscht wird. Wenn Machiavelli ein Republikaner war, so deshalb, weil er ein Prinzip der Gemeinschaft gefunden hat. Als er den Konflikt und den Kampf an den Ursprung der sozialen Herrschaft setzte, wollte er damit nicht sagen, daß eine Einigung unmöglich sei, er wollte die Voraussetzung einer Herrschaft hervorheben, die nicht von Täuschungen bestimmt wäre und die eine Beteiligung an der gemeinschaftlichen Situation wäre. Der ›Immoralismus‹ Machiavellis erhält hierdurch seinen wahren Sinn. Man zitiert ihn stets mit den Maximen, die Ehrlichkeit allein im Bereich des Privaten gelten zu lassen und das Machtinteresse zur einzigen Regel in der Politik zu erklären. Betrachten wir jedoch die Gründe, derentwegen er die Politik dem reinen moralischen Urteil entzieht: Er gibt zwei Gründe an. Der erste lautet, daß »ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, zugrunde gehen muß inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind«.20 Ein schwaches Argument, denn man könnte es ebensogut auf das Privatleben anwenden, in dem Machiavelli gleichwohl ›moralisch‹ bleibt. Der zweite Grund hat weitreichendere Konsequenzen: Er besagt, daß Güte sich in der historischen Tat manchmal als katastrophal erweist und daß die Grausamkeit oft weniger grausam ist als eine allzu große Nachsicht: »Cesare Borgia galt als grausam; nichtsdestoweniger hat er durch seine Grausamkeit die Romagna geordnet und geeint sowie dort Frieden und Ergebenheit wiederhergestellt, deren diese Provinz solange Zeit entbehrte. Bei genauer Betrachtung 20
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wird man feststellen, daß er so viel mehr Milde besaß als das Volk von Florenz, das – um dem Ruf der Grausamkeit zu entgehen – zuließ, daß Pistoia zerstört wurde.[21] Einen Fürsten darf es daher nicht kümmern, der Grausamkeit bezichtigt zu werden, wenn er dadurch bei seinen Untertanen Einigkeit und Ergebenheit aufrechterhält; er erweist sich als milder, wenn er nur ganz wenige Exempel statuiert, als diejenigen, die aus zu großer Milde Mißstände einreißen lassen, woraus Mord und Raub entstehen; denn hierdurch wird gewöhnlich einem ganzen Gemeinwesen Gewalt angetan, während die Exekutionen auf Befehl des Fürsten nur gegen einzelne Gewalt üben.«22 Was Milde bisweilen in Grausamkeit verwandelt und Härte in einen Wert, und was die Regeln des Privatlebens durcheinanderbringt, ist der Umstand, daß die Handlungen der Macht in ein bestimmtes Meinungsbild eingreifen, das ihren Sinn verändert; sie rufen mitunter ein übermäßiges Echo hervor; sie weiten oder schließen die verborgenen Risse im Block der allgemeinen Zustimmung und leiten einen molekularen Prozeß in die Wege, der den ganzen Lauf der Dinge verändert. Oder anders gesagt: So wie Spiegel, die man im Kreis aufstellt, eine kleine Flamme in eine ganze Zauberwelt verwandeln, so nehmen auch die Handlungen der Macht, wenn sie sich in der Konstellation verschiedener Bewußtseine spiegeln, eine andere Gestalt an, und die Spiegelungen dieser Spiegelungen schaffen einen Anschein, welcher der eigentliche Ort und, alles in allem betrachtet, die Wahrheit der historischen Tat ist. Die Macht ist von einem Lichthof umgeben, und ihr Fluch – wie übrigens auch der des Volkes, das sich ebensowenig erkennt – liegt darin, nicht das Bild zu sehen, das sie anderen von sich bietet.23 Eine grundlegende Voraussetzung der Politik ist folglich, daß sie sich 21 Da man sich gescheut hatte, die Familien auszulöschen, die Pistoia in sich befehdende Parteien spalteten. 22 Der Fürst, Kap. XVII. 23 »[…] ich denke, man muß Fürst sein, um den Charakter der Völker zu verstehen, und dem Volk angehören, um das Wesen der Fürsten recht zu erkennen.« (Der Fürst, Widmung)
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Anmerkung zu Machiavelli
im äußeren Schein abspielt: »Die Menschen urteilen im allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen, als nach dem, was sie mit den Händen wahrnehmen. Denn allen ist vergönnt zu sehen, aber nur wenigen, zu berühren. Alle sehen, was du scheinst, aber nur wenige erfassen, was du bist; und diese wenigen wagen nicht, der Meinung der vielen zu widersprechen, welche auf ihrer Seite die Majestät des Staates haben, der sie schützt; und bei den Handlungen der Menschen, zumal bei denen der Fürsten, derentwegen man kein Gericht anrufen kann, sieht man auf den Enderfolg. Laß nur einen Fürsten siegen und seine Herrschaft behaupten, so werden die Mittel dazu stets für ehrenvoll gehalten und von jedermann gelobt werden.«24 Dies soll nicht bedeuten, daß es notwendig oder gar vorzuziehen sei, zu täuschen, sondern vielmehr, daß sich in dem Abstand und dem Grad der Allgemeinheit, in dem politische Beziehungen gepflegt werden, eine halbmythische Figur abzeichnet, die aus wenigen Gesten und Worten besteht und von den Menschen blind verehrt oder verabscheut wird. Der Fürst ist kein Betrüger; Machiavelli schreibt ausdrücklich: »Ein Fürst muß bemüht sein, sich einen Ruf der Güte, der Milde, der Frömmigkeit, der Aufrichtigkeit und der Gerechtigkeit zu schaffen; im übrigen muß er all diese guten Eigenschaften auch besitzen […]«25 Sagen will er damit, daß die Eigenschaften des Anführers, selbst wenn sie zutreffen sollten, immer der Mythenbildung preisgegeben sind, weil sie nicht berührt, sondern gesehen werden, weil sie nicht in der Bewegung des sie tragenden Lebens erkannt werden, sondern zu historischen Posen gerinnen. Der Fürst muß also ein Gespür für diese Echos haben, die seine Worte und Taten auslösen, er muß in Kontakt bleiben mit jenen Zeugen, denen er all seine Macht verdankt, er darf nicht als Visionär regieren, sondern muß, selbst im Hinblick auf seine Tugenden, frei bleiben. Der Fürst muß jene Eigenschaften, die er zu haben scheint, tatsächlich besitzen, sagt Machiavelli, aber, so fährt er fort, »er muß zugleich so viel 24 25
Kap. XVIII. Kap. XVII. Hervorhebung von uns.
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Selbstbeherrschung haben, daß er sich auch von seiner anderen Seite zeigen kann, wenn dies ratsam ist.«26 Ein politisches Gebot, das aber ebensogut als Regel einer wahren Moral gelten könnte. Denn das öffentliche Urteil anhand des Scheins, das die Güte des Fürsten in Schwäche verkehrt, ist vielleicht gar nicht so falsch. Was ist denn eine Güte, die nicht fähig wäre zur Härte? Was ist eine Güte, die nur Güte sein will? Es ist eine sanfte Art, den Anderen zu ignorieren und ihn letztlich zu verachten. Machiavelli verlangt nicht, daß man mittels der Laster, der Lüge, des Terrors oder der List regiere, er versucht, eine politische Tugend zu bestimmen, die für den Fürsten darin liegt, mit jenen stummen Zuschauern zu reden, die ihn umgeben und die im Taumel des gemeinschaftlichen Lebens gefangen sind. Eine wirkliche Seelenstärke, denn es geht darum, zwischen dem Wunsch zu gefallen und der Herausforderung, zwischen der selbstgefälligen Güte und der Grausamkeit ein historisches Vorhaben zu bestimmen, dem sich alle anschließen können. Eine solche Tugend ist nicht den Umstürzen ausgesetzt, die der moralisierende Politiker erfährt, da sie uns von Anfang an in eine Beziehung zum Anderen stellt, die dieser Politiker nicht kennt. Diese Beziehung ist es, die Machiavelli zum Zeichen des Wertes in der Politik nimmt – und nicht etwa den Erfolg, da er Cesare Borgia als Beispiel anführt, der nicht erfolgreich war, aber diese virtù besaß, und dem er erst mit deutlichem Abstand Francesco Sforza folgen läßt, der zwar Erfolg hatte, aber nur durch Glück.27 Wie es mitunter vorkommt, liebt der unnachgiebige Politiker die Menschen und die Freiheit wahrhafter als der erklärte Humanist: Es ist Machiavelli, der Brutus lobt, und Dante, der ihn verdammt. Durch die Beherrschung seiner Beziehungen zum Anderen überwindet der Herrscher die Hindernisse der Menschen untereinander und bringt ein wenig Transparenz in unsere Beziehungen – als könnten die Menschen einander nur mit einer Art Abstand nah sein.
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Ebd. Kap. VII.
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Anmerkung zu Machiavelli
Was dazu führt, daß man Machiavelli nicht versteht, ist der Umstand, daß er das deutliche Gefühl der Kontingenz oder des Irrationalen in der Welt mit dem Geschmack am Bewußtsein oder der Freiheit im Menschen verbindet. Beim Blick auf die Geschichte, in der es so viele Ausschreitungen, so viele Formen der Unterdrückung, so viel Unerwartetes und so viele Rückentwicklungen gibt, sieht er nichts, was sie am Ende unweigerlich in einen harmonischen Gleichklang münden ließe. Er erinnert an die Idee eines grundlegenden Zufalls, einer Widersetzlichkeit, welche die Geschichte dem Zugriff selbst der Intelligentesten und Stärksten entziehen würde. Und wenn er diesen bösen Genius schließlich austreibt, so geschieht dies nicht durch irgendein transzendentes Prinzip, sondern durch einen einfachen Rückgriff auf die Gegebenheiten unserer Lebensumstände. Mit ein und derselben Geste weist er sowohl Hoffnung als auch Verzweiflung von sich. Wenn es eine Widersetzlichkeit gibt, so ist sie namenlos, ohne Absichten, wir können nirgends ein Hindernis finden, zu dessen Errichtung wir nicht durch unsere Irrtümer oder unsere Fehler beigetragen hätten, wir können unsere Macht nirgends begrenzen. Welcher Art auch die Überraschungen sein mögen, die das Ereignis birgt, wir können uns von der Erwartung und dem Bewußtsein ebensowenig lossagen wie von unserem Körper. »Dennoch halte ich es – um unseren freien Willen nicht auszuschließen – für wahrscheinlich, daß Fortuna zwar zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel unserer Entscheidung überläßt.«28 Selbst wenn wir zufällig dahin gelangen sollten, in den Dingen ein feindliches Prinzip zu vermuten, so hätte es für uns, da wir seine Pläne nicht kennen, keinerlei Bedeutung: »Die Menschen dürfen sich nie selber aufgeben. Da sie die Absicht des Schicksals nicht kennen und dieses auf krummen und unbekannten Pfaden wandelt, so sollen sie immer Hoffnung haben und nie sich selber aufgeben, in welcher Lage und in welcher Not sie auch sein mögen.«29 28 29
Kap. XXV. Discorsi, II, 29, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 132.
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Der Zufall nimmt nur dann Gestalt an, wenn wir auf das Verstehen und das Wollen verzichten. Fortuna »zeigt ihre Macht dort, wo man nicht die Kraft aufbringt, ihr zu widerstehen, und sie lenkt ihre Gewalt dorthin, wo sie weiß, daß sie nicht durch Dämme und Deiche zurückgehalten wird.«30 Wenn es dabei einen unveränderlichen Lauf der Dinge zu geben scheint, so zeigt sich dieser nur in der Vergangenheit; wenn Fortuna bald günstig, bald ungünstig erscheint, so deshalb, weil der Mensch seine Zeit bald versteht, bald nicht versteht, und dieselben Eigenschaften bedingen je nach Fall seinen Erfolg oder seinen Untergang, aber nicht zufällig.31 Wie in unseren Beziehungen zum Anderen, so bestimmt Machiavelli in unseren Beziehungen zu Fortuna eine Tugend, die ebensoweit von der Einsamkeit wie von der Folgsamkeit entfernt ist. Als unseren einzigen Rückhalt nennt er jene Präsenz gegenüber dem Anderen und gegenüber unserer Zeit, die uns den Anderen in dem Augenblick finden läßt, in dem wir davon absehen, ihn zu unterdrücken – und die uns in dem Augenblick den Erfolg finden läßt, in dem wir auf das Abenteuer verzichten, und uns in dem Augenblick dem Schicksal entkommen läßt, in dem wir unsere Zeit verstehen. Selbst die Widersetzlichkeit nimmt für uns menschliche Gestalt an: Fortuna ist eine Frau. »Ich halte es für besser, stürmisch als besonnen zu sein; denn Fortuna ist ein Weib, und es ist notwendig, wenn man sie niederhalten will, sie zu schlagen und zu stoßen. Man sieht auch, daß sie sich von denen, die so verfahren, eher besiegen läßt als von jenen, die mit kühlem Kopf vorgehen; daher ist sie als Weib stets den Jünglingen zugetan, weil diese weniger besonnen und stürmischer sind und ihr mit größerer Kühnheit befehlen.«32 Für einen Mann gibt es wahrhaftig nichts, das der Humanität ganz und gar entgegenstünde, da sie in ihrer Ordnung für sich steht. Gerade die Vorstellung einer vom Zufall hervorgebrachten Humanität, die sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen 30 31 32
Der Fürst, Kap. XXV. Ebd. Der Fürst, Kap. XXV.
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Anmerkung zu Machiavelli
konnte, verleiht unserer Tugend einen absoluten Wert. Wenn wir verstanden haben, was unter den Möglichkeiten des Augenblicks in menschlicher Hinsicht einen Wert hat, dann fehlt es nie an Zeichen und Vorzeichen: »Darüber hinaus sieht man hier von Gott bewirkte Wunder ohne Beispiel: das Meer hat sich geteilt; eine Wolke hat euch den Weg gewiesen; Wasser ist aus dem Felsen gesprungen; es hat Manna geregnet; alles hat sich zu Eurer Größe zusammengefunden. Das übrige müßt ihr selbst tun. Gott will nicht alles tun, um uns nicht den freien Willen zu nehmen und den Teil des Ruhms, der uns zukommt.«33 Welcher Humanismus ist radikaler als dieser? Machiavelli hat die Werte nicht ignoriert. Er hat sie als lebendig angesehen, so lautstark wie eine Baustelle und an bestimmte historische Tatsachen geknüpft, ein neu zu schaffendes Italien, Barbaren, die es zu vertreiben gilt. Für denjenigen, der sich solcher Vorhaben annimmt, findet die eigene irdische Religion wieder zu den Worten der anderen Religion zurück: »Esurientes implevit bonis, et divites dimisit inanes.«34 Wie A. Renaudet bemerkt: »Dieser Schüler der klugen Kühnheit Roms hat nie die Rolle leugnen wollen, welche die Inspiration, das Genie und die von Platon und von Goethe erkannte Tat irgendeines unbekannten Dämons in der Weltgeschichte spielen […] Damit aber die von der Kraft unterstützte Leidenschaft die Tüchtigkeit besitzt, eine Welt zu erneuern, muß sie ebenso von dialektischer Gewißheit wie vom Gefühl genährt sein. Wenn Machiavelli die Poesie und die Intuition nicht aus dem Bereich der Praxis ausschließt, dann ist diese Poesie Wahrheit, und dann enthält diese Intuition Theorie und Kalkül.«35 * Was man bei ihm verurteilt, ist die Vorstellung, daß die Geschichte ein Kampf ist und die Politik eher ein Umgang mit Menschen als mit Prinzipien. Gibt es denn aber nichts, das mehr Sicherheit 33 34 35
Kap. XXVI. Discorsi, I, 26, zit. von Renaudet, Machiavel, S. 231. Machiavel, S. 301.
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bietet? Hat die Geschichte nicht nach Machiavelli noch deutlicher als vor ihm gezeigt, daß Prinzipien zu nichts verpflichten und daß sie sich zu jedem Zwecke einsetzen lassen? Lassen wir die zeitgenössische Geschichte einmal beiseite. Die schrittweise Abschaffung der Sklaverei war 1789 von Abbé Grégoire vorgeschlagen worden. 1794 wird vom Nationalkonvent über sie abgestimmt, in dem Augenblick, in dem, den Worten eines Kolonisten zufolge, in ganz Frankreich »Diener, Bauern, Arbeiter und Tagelöhner gegen die Aristokratie der Hautfarbe zu Felde ziehen«36 und in dem der Provinzbourgeoisie, die ihre Einkünfte aus San Domingo bezieht, die Macht bereits entzogen ist. Die Liberalen kennen die Kunst, die Prinzipien angesichts des unaufhaltsamen Abstiegs der mißlichen Konsequenzen zu wahren. Mehr noch: Wenn sie in einer passenden Situation zur Anwendung gebracht werden, sind die Prinzipien Instrumente der Unterdrückung. Pitt stellt fest, daß fünfzig Prozent der auf die britischen Inseln importierten Sklaven an die französischen Kolonien weiterverkauft werden. Die englischen Sklavenhändler sind für den Wohlstand San Domingos verantwortlich und erschließen Frankreich den europäischen Markt. Er ergreift daher Partei gegen die Sklaverei: »Er bat Wilberforce«, wie James schreibt, »den Feldzug in die Wege zu leiten. Wilberforce vertrat Yorkshires bedeutendsten Verwaltungsbezirk. Er genoß großes Ansehen. Alles, was über Humanität, Gerechtigkeit, nationale Schandflecke und so weiter zu sagen wäre, würde aus seinem Munde gut klingen […] Clarkson fuhr nach Paris, um die schlummernden Energien (der Gesellschaft der Freunde der Schwarzen) zu mobilisieren, gab ihr Geld, versorgte Frankreich mit britischer Antisklaverei-Propaganda.«37 Man braucht sich keinen Illusionen hinzugeben über das Schicksal, das diese Propaganda den Sklaven von San Domingo bereitete: Einige Jahre später, im Krieg gegen Frankreich, unterschreibt Pitt gemeinsam mit vier Kolonisten ein Abkommen, das die Kolonie bis zum Friedensschluß unter englisches 36 37
James, Die schwarzen Jakobiner, S. 159. Ebd. S. 65 f.
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Protektorat stellt, und er führt die Sklaverei und die Diskriminierung der Mulatten wieder ein. Von entscheidender Wichtigkeit ist insofern nicht nur, zu wissen, welche Prinzipien man wählt, sondern auch, welche Kräfte, welche Menschen sie zum Einsatz bringen. Noch deutlicher: Dieselben Prinzipien können entgegengesetzten Parteien dienen. Als Bonaparte Truppen nach San Domingo schickte, die dort scheitern sollten, »glaubten viele Offiziere und alle Soldaten, für die Revolution zu kämpfen – gegen Toussaint, einen Verräter, der sich den Priestern, Emigranten und Briten verkauft hatte […] Noch verstanden sich die Soldaten als Angehörige einer revolutionären Armee. Doch nachts hörten sie, daß die Schwarzen in der Festung die Marseillaise, das Ça ira und andere Revolutionslieder sangen. Lacroix berichtet, wie die Betrogenen bei diesen Klängen zusammenzuckten und ihre Offiziere anblickten, als ob sie fragen wollten: Haben denn unsere barbarischen Feinde die Gerechtigkeit auf ihrer Seite? Sind wir nicht mehr die Soldaten des republikanischen Frankreich? Sind wir die schäbigen Werkzeuge einer anderen Politik geworden?«38 Wie nun? Frankreich war das Land der Revolution. Bonaparte, der den Anspruch auf einige seiner Erwerbungen gefestigt hatte, zog gegen Toussaint-Louverture zu Felde. Es war also eindeutig: Toussaint war ein Konterrevolutionär im Dienste des Auslandes. Hier kämpft, wie so oft, jeder im Namen derselben Werte: Freiheit und Gerechtigkeit. Ausschlaggebend ist lediglich die Sorte von Menschen, für die man Freiheit oder Gerechtigkeit fordert, mit denen man sich auf die Bildung einer Gesellschaft verständigt: Sklaven oder Herren. Machiavelli hatte Recht: Man muß Werte haben, aber dies allein reicht nicht, und es ist sogar gefährlich, sich nur daran zu halten; solange man nicht diejenigen ausgewählt hat, die damit beauftragt sind, die Werte in den historischen Kampf einzubringen, hat man noch gar nichts getan. Auch beschränkt es sich nicht nur auf die Vergangenheit, zu sehen, wie Republiken ihren Kolonien die Bürgerrechte verweigern, wie sie im Namen der Freiheit töten und im Namen des Gesetzes 38
Die schwarzen Jakobiner, S. 333, S. 362.
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zum Angriff übergehen. Selbstverständlich wird die unerbittliche Weisheit Machiavellis ihnen dies nicht zum Vorwurf machen. Die Geschichte ist ein Kampf, und wenn die Republiken nicht kämpfen würden, wären sie bald verschwunden. Zumindest müssen wir einsehen, daß die Mittel blutig, unerbittlich und schäbig bleiben. Die größte List der Kreuzzüge besteht darin, dies nicht zuzugeben. Es gilt, diesen Kreis zu durchbrechen. Offenkundig ist auf diesem Terrain eine Kritik an Machiavelli möglich und notwendig. Er hatte nicht Unrecht, als er nachdrücklich auf das Problem der Macht verwies. Aber er hat sich damit begnügt, in wenigen Worten eine Herrschaft zu beschreiben, die nicht ungerecht wäre, er hat nicht gerade energisch nach ihrer Bestimmung gesucht. Was ihn entmutigt, ist die Tatsache, daß er die Menschen für unwandelbar hält und glaubt, die Regime folgten einander im zyklischen Wechsel.39 Es wird immer zwei Arten von Menschen geben, jene, die leben, und jene, die den Lauf der Geschichte prägen: den Müller, den Bäcker, den Hotelier, mit denen Machiavelli im Exil seinen Tag verbringt, mit denen er plaudert und Tricktrack spielt (»Dabei«, sagt er, »wird so mancher Einwand erhoben, manchem Ärger und manchem Schimpfwort freier Lauf gelassen, man streitet sich aus dem geringsten Anlaß; es herrscht ein Geschrei, daß man bis nach San Casciano hört. Inmitten dieser Armseligkeit empfinde ich die Boshaftigkeit meines Schicksals zutiefst.«); und die großen Männer, deren Geschichte er abends in höfischer Kleidung liest, die er befragt und die ihm stets eine Antwort geben (»Und während vier langer Stunden«, sagt er, »verspüre ich keinerlei Kummer mehr, ich vergesse all das Elend, ich fürchte keine Armut mehr, der Tod schreckt mich nicht mehr. Ich gehe ganz in diesen Männern auf.«40). Er hat gewiß nie auf die Nähe spontaner Menschen verzichtet: Er würde nicht ganze Tage damit verbringen, sie zu betrachten, wenn sie für ihn nicht einem Mysterium glichen: Ist es wahr, daß diese Menschen dieselben Dinge lieben und verstehen könnten, die er 39 40
Discorsi, I, zit. von A. Renaudet, Machiavel, S. 71. Brief an Francesco Vettori, zit. von A. Renaudet, ebd., S. 72.
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versteht und liebt? Beim Anblick von einerseits so viel Blindheit, andererseits einer so natürlichen Art und Weise, Befehle zu erteilen, ist er versucht zu denken, daß es nicht eine Menschheit gibt, sondern vielmehr nur historisch bedeutende oder duldsame Menschen – und er neigt dazu, sich auf seiten der ersteren einzuordnen. Unter diesen Umständen, da er keinen Grund mehr hat, einen ›bewaffneten Propheten‹ einem anderen vorzuziehen, handelt er nur noch auf gut Glück; er setzt kühne Hoffnungen auf den Sohn Lorenzo de Medicis und die Medici, die ihren eigenen Regeln folgen, bereiten ihm Unannehmlichkeiten, ohne ihm eine Anstellung zu gewähren: Als Republikaner widerspricht er im Vorwort der Geschichte von Florenz dem Urteil, zu dem die Republikaner über die Medici gelangten, und die Republikaner, die ihm dies nicht verzeihen, werden ihn ebensowenig in ihre Dienste nehmen. Machiavellis Verhalten klagt das an, was seiner Politik fehlte: ein roter Faden, der ihm erlaubt hätte, unter den verschiedenen herrschenden Kräften jene zu erkennen, von denen langfristig etwas zu erhoffen war, und die Tugend ganz entschieden über den Opportunismus zu erheben. Der Gerechtigkeit halber muß man hinzufügen, daß die Aufgabe schwierig war. Für Machiavellis Zeitgenossen lag das politische Problem vor allem in der Frage, ob die Italiener aufgrund der Beutezüge Frankreichs und Spaniens und sogar der päpstlichen Truppen lange Zeit in ihrer Landwirtschaft und in ihrem Leben beeinträchtigt würden. Was hätte er vernünftigerweise fordern sollen, wenn nicht eine italienische Nation und Soldaten, die diese Nation errichten? Um Humanität zu erreichen, muß man mit der Gestaltung dieses Stücks menschlichen Lebens beginnen. Wo war angesichts der Uneinigkeit eines Europas, das sich nicht kannte, einer Welt, die ihre eigene Bestandsaufnahme nicht gemacht hatte und in der die weit verstreuten Länder und Menschen noch keine gemeinsamen Standpunkte entwickelt hatten, das universelle Volk, das als Komplize eines italienischen Stadtstaates hätte auftreten können? Wie hätten sich die Völker aller Länder anerkennen, besprechen und wieder vereinigen können? Es gibt keinen ernsthaften Humanismus außer jenem, der
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auf der ganzen Welt der tatsächlichen Anerkennung des Menschen durch den Menschen entgegensieht; er könnte also nicht dem Augenblick vorausgehen, in dem sich die Menschheit ihre Mittel der Kommunikation und der Gemeinschaft selbst an die Hand gibt. Diese Mittel existieren heute, und das Problem eines wirklichen Humanismus, wie es von Machiavelli gestellt wurde, hat Marx vor hundert Jahren aufgegriffen. Kann man behaupten, es sei gelöst worden? Marx hatte im Hinblick auf die Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft genau den Vorsatz gefaßt, sich auf etwas anderes als auf die stets zweideutigen Prinzipien zu stützen. In der Situation und in der vitalen Bewegung der am stärksten ausgebeuteten, unterdrückten, jeder Macht benommenen Menschen hat er das Fundament einer revolutionären Herrschaft gesucht, das heißt einer Herrschaft, die in der Lage wäre, die Ausbeutung und Unterdrückung aufzuheben. Aber es hat sich herausgestellt, daß das ganze Problem eben darin lag, eine Herrschaft der Machtlosen zu errichten. Denn entweder mußte sie, um eine Herrschaft des Proletariats zu bleiben, den Schwankungen im Bewußtsein der Massen folgen, und sie wäre dann schnell beseitigt worden, oder aber sie mußte sich, wenn sie diesem Schicksal entkommen wollte, zum Richter über die Interessen des Proletariats aufschwingen, und unter diesen Umständen hat sie sich als eine Macht im traditionellen Sinne konstituiert, sie war der Entwurf einer neuen Führungsschicht. Die Lösung konnte nur in einer absolut neuen Beziehung der Macht zu den ihr Unterworfenen liegen. Man mußte politische Formen erfinden, die es ermöglichen würden, die Macht zu kontrollieren, ohne sie aufzuheben, man brauchte Anführer, die in der Lage wären, den Unterworfenen die Gründe einer Politik zu erklären, und die im Bedarfsfall von sich aus zu den Opfern bereit wären, die ihnen die Macht für gewöhnlich abverlangt. Diese politischen Formen sind skizziert worden, und diese Anführer sind in der Revolution von 1917 auf den Plan getreten. Seit dem Kronstädter Aufstand hat die revolutionäre Macht jedoch den Kontakt zu einer gleichwohl wahrgenommenen Fraktion des Proletariats ver-
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loren, und um diesen Konflikt zu verbergen, beginnt sie zu lügen. Sie verkündet, das Oberkommando der Aufständischen befinde sich in den Händen der Weißgardisten, so wie Bonapartes Truppen Toussaint-Louverture als Agenten des Auslands behandelten. Die Abweichung wird nun bereits zur Sabotage stilisiert, die Opposition als Spionage. Im Inneren der Revolution sieht man jene Kämpfe wieder aufziehen, die sie doch überwinden sollte. Und als sollte Machiavelli Recht gegeben werden, fehlt es der Opposition, während die Revolutionsregierung zu den klassischen Finten der Macht greift, unter den Feinden der Revolution nicht an Sympathien. Die Frage, ob jede Macht danach strebt, sich ›zu verselbständigen‹, und ob es sich dabei um ein in jeder menschlichen Gesellschaft unvermeidliches Schicksal oder vielmehr um eine zufällige Entwicklung handelt, die an die besonderen Umstände der Revolution in Rußland geknüpft ist, an das Entstehen der revolutionären Bewegung als Untergrundbewegung vor 1917 und an die Schwäche des russischen Proletariats, und die Frage, ob dies eine Entwicklung ist, die in keiner abendländischen Revolution in dieser Form hätte stattfinden können, diese Frage bildet offenbar das zentrale Problem. In jedem Fall können wir nun, da der Ausweg von Kronstadt zum System geworden ist und die Revolutionsmacht sich als führende Schicht ganz entschieden und mit den Attributen der Einflußnahme einer unkontrollierten Elite an die Stelle des Proletariats gesetzt hat, feststellen, daß sich das Problem eines wirklichen Humanismus auch hundert Jahre nach Marx noch unvermindert stellt, und wir können Machiavelli, der dieses Problem nur erahnen konnte, daher mit einiger Nachsicht begegnen. Wenn man als Humanismus eine Philosophie des inneren Menschen bezeichnet, der in seinem Umgang mit Anderen keine prinzipielle Schwierigkeit und in den sozialen Abläufen keinerlei Undurchsichtigkeit entdecken kann, und der die politische Kultur durch die moralische Ermahnung ersetzt, dann ist Machiavelli kein Humanist. Wenn man jedoch als Humanismus eine Philosophie bezeichnet, die dem Umgang der Menschen miteinander und der zwischen ihnen vorgenommenen Konsti-
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tution einer gemeinsamen Situation und Geschichte als einem Problem entgegentritt, dann muß man sagen, daß Machiavelli einige der Voraussetzungen jedes ernsthaften Humanismus formuliert hat. Und die heute so weit verbreitete Mißbilligung Machiavellis erhält unter diesen Umständen einen beunruhigenden Sinn: Sie würde der Entscheidung gleichen, sich den Aufgaben eines wahren Humanismus zu verweigern. Es gibt eine machiavellistische Art und Weise, Machiavelli zu desavouieren, nämlich die List derer, die ihre und unsere Augen zum Himmel der Prinzipien aufheben, um von dem abzulenken, was sie tun. Und es gibt eine ganz im Gegensatz zum Machiavellismus stehende Art und Weise, Machiavelli zu loben, die darin besteht, sein Werk als einen Beitrag zur politischen Klarheit zu ehren.
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D ER M E NS CH U ND D I E W I D ER SE T Z L I CH KE I T D E R D I NGE 1
Es ist schlechthin unmöglich, in einer Stunde die Fortschritte in der philosophischen Reflexion über den Menschen, die in den letzten fünfzig Jahren gemacht worden sind, aufzuzeigen. Selbst wenn man die uneingeschränkte Kompetenz dafür bei einem einzelnen voraussetzen könnte, würde man an den weit voneinander abweichenden Auffassungen der Autoren, über die zu sprechen wäre, scheitern. Es ist offenbar ein Gesetz der Kultur, daß sie immer nur auf Umwegen fortschreitet; jede neue Idee, die von jemandem gestiftet wurde, wird zu etwas anderem, als sie ursprünglich bei ihm war. Der Mensch kann kein Erbe von Ideen antreten, ohne sie eben dadurch umzuwandeln, daß er von ihnen Kenntnis nimmt, ohne seine eigene – und immer andere – Seinsweise in sie hineinzulegen. Sobald sie entstehen, setzt eine unermüdliche Redseligkeit die Ideen in Bewegung, wie nach den Linguisten ein niemals befriedigtes ›Ausdrucksbedürfnis‹ die Sprechweisen in dem selben Augenblick wieder umformt, in dem man geglaubt hat, daß sie am Ziel sind, weil es gelungen war, zwischen den sprechenden Subjekten eine scheinbar eindeutige Verständigung sicherzustellen. Wie könnte man also verbürgte Ideen aufzählen, wo sie doch, selbst wenn sie sich fast allgemein durchgesetzt haben, eben dadurch auch immer andere werden, als sie waren? Im übrigen würde eine Auflistung der sicheren Erkenntnisse nicht genügen. Selbst wenn wir die ›Wahrheiten‹ der ersten Jahrhunderthälfte aneinanderreihen würden, müßten wir, um deren geheime Verwandtschaft deutlich zu machen, die persönlichen und zwischenmenschlichen Erfahrungen wachrufen, auf die sie antworten, und wir müßten die innere Logik der Situationen 1 Vortrag vom 10. September 1951 anläßlich der Rencontres Internationales in Genf.
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aufweisen, in denen sie formuliert wurden. Das wertvolle und große Werk ist niemals ein Effekt des Lebens, sondern immer eine Antwort auf seine sehr speziellen Ereignisse oder seine allgemeinsten Strukturen. Der Schriftsteller hat zwar die Freiheit, ja oder nein zu sagen und seine Zustimmung oder seine Ablehnung verschieden zu begründen und zu umschreiben, aber er kann dennoch nicht umhin, sein Leben in einer bestimmten historischen Umgebung zu wählen, an einem bestimmten Stand der Probleme, der bestimmte Lösungen ausschließt, selbst wenn er keine einzige aufzwingt; dadurch erhalten Gide, Proust, Valéry, so verschieden sie auch sein mögen, die einzigartige Auszeichnung der Zeitgenossenschaft. Die Gedankenbewegung deckt nur dann Wahrheiten auf, wenn sie auf irgendeinen Pulsschlag des zwischenmenschlichen Lebens antwortet; und jede Veränderung in der Erkenntnis des Menschen bezieht sich auf eine neue Existenzweise, die in ihm liegt. Wenn der Mensch das Wesen ist, das sich nicht damit zufrieden gibt, wie ein Ding mit sich selbst übereinzustimmen, sondern das sich selbst darstellt, sich sieht und vorstellt, das treffende oder phantastische Symbole für sich selbst findet, so ist es wohl klar, daß umgekehrt jede Veränderung in der Vorstellung vom Menschen eine Veränderung des Menschen selbst wiedergibt. Man müßte hier also die gesamte Geschichte dieser ersten Jahrhunderthälfte mit ihren Plänen, ihren Enttäuschungen, ihren Kriegen, ihren Revolutionen, ihren Kühnheiten, ihren Schrecken, ihren Erfindungen, ihren Ohnmachtserlebnissen heraufbeschwören. Von einem solchen maßlosen Unterfangen können wir nur Abstand nehmen. Indessen hat jene Veränderung in der Kenntnis des Menschen, von der wir nicht erwarten können, sie durch eine strenge methodische Untersuchung der Werke, der Ideen und der Geschichte zu bestimmen, in uns ihren Niederschlag gefunden; sie ist unsere Substanz, und wir haben ein lebendiges und umfassendes Empfinden dafür, wenn wir uns mit den Schriften oder den Fakten der Jahrhundertwende befassen. Wir können also versuchen, nach zwei oder drei ausgewählten Gesichtspunkten
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die Veränderungen der menschlichen Situation an uns selbst zu beschreiben. Unendliche Erläuterungen und Kommentare wären nötig, tausend Mißverständnisse müßten beseitigt, ganz unterschiedliche Begriffssysteme ineinander übersetzt werden, um eine objektive Beziehung, zum Beispiel zwischen der Philosophie Husserls und dem Werk Faulkners herzustellen. Und doch kommunizieren sie in uns, wenn wir sie lesen. Hinsichtlich eines dritten Zeugen versöhnen sich selbst diejenigen, die sich, wie zum Beispiel Ingres und Delacroix, für Gegner hielten, weil sie auf ein und dieselbe Situation der Kultur antworten. Wir sind die gleichen Menschen, die die Entwicklung des Kommunismus, die den Krieg als ihr Problem erlebt, die Gide, Valéry, Proust und Husserl, Heidegger und Freud gelesen haben. Was auch immer unsere Antworten gewesen sein mögen, es muß ein Mittel geben, die sensiblen Bereiche unserer Erfahrung zu beschreiben und, wenn schon nicht gemeinsame Ideen über den Menschen, so doch zumindest eine neue Erfahrung unserer Situation zu formulieren. Unter diesen Vorbehalten schlagen wir als Ausgangspunkt vor, daß sich unser Jahrhundert durch eine ganz und gar neue Verbindung von ›Materialismus‹ und ›Spiritualismus‹, von Pessimismus und Optimismus auszeichnet, oder vielmehr durch die Überwindung dieser Antithesen. Unsere Zeitgenossen denken gleichzeitig und ohne Schwierigkeiten, daß das menschliche Leben eine ursprüngliche Ordnung erfordert und daß diese Ordnung nur unter bestimmten, ganz präzisen und konkreten Bedingungen dauern und überhaupt erst bestehen kann, die es vielleicht nicht gibt, weil keine natürliche Disposition der Dinge und der Welt sie dazu prädestiniert, ein menschliches Leben möglich zu machen. Um 1900 gab es zwar Philosophen und Wissenschaftler, die bestimmte biologische und materielle Bedingungen für die Existenz der Menschheit aufstellten. Doch das waren gewöhnlich ›Materialisten‹ in dem Sinne, den das Wort gegen Ende des letzten Jahrhunderts hatte. Sie machten aus der Menschheit eine Episode der evolutionären Entwicklung, sie sahen in den Zivilisationen einen speziellen Fall der Anpassung und lösten selbst
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das Leben in seine physikalischen und chemischen Bestandteile auf. Für sie war die eigentlich menschliche Sicht der Welt ein überflüssiges Phänomen, und diejenigen, die die Zufälligkeit der Menschheit sahen, behandelten Werte, Institutionen, Kunstwerke und Wörter normalerweise als ein Zeichensystem, das letztlich auf die Bedürfnisse und elementaren Begierden aller Organismen verwies. Zwar gab es auch ›spiritualistische‹ Autoren, die in der Menschheit andere Triebkräfte als jene vermuteten; aber wenn sie sie nicht aus irgendeiner übernatürlichen Quelle herleiteten, bezogen sie sie auf eine menschliche Natur, die deren unbedingte Wirksamkeit garantierte. Die menschliche Natur verfügte über die Wahrheit und die Gerechtigkeit als Eigenschaften wie andere Arten über Schwimmflossen oder Flügel. Die Epoche war voll von solchen Absoluta und für sich stehenden Begriffen. Da gab es das Absolutum des Staates, und man hielt einen Staat, der seine Gläubiger nicht auszahlte, für unanständig, auch wenn er sich mitten in einer Revolution befand. Ebenso war der Wert einer Währung ein Absolutum, und man dachte kaum daran, diese als ein bloßes Hilfsmittel der wirtschaftlichen und sozialen Funktionsfähigkeit zu behandeln. Daneben gab es den Goldstandard der Moral: die Familie. Die Ehe war schlechthin gut, selbst wenn sie zu Revolte und Haß führte. Die ›Geistesgüter‹ waren schlechthin edel, selbst wenn die Bücher, wie so viele Werke um 1900, nur klägliche Hirngespinste wiedergaben. Es gab die Werte – und ansonsten die Wirklichkeiten; es gab den Geist – und außerdem die Körper; auf der einen Seite befand sich das Innere, auf der anderen das Äußere. Was aber, wenn gerade die Ordnung der Tatsachen in die der Werte eingreift, wenn man wahrnimmt, daß die Dichotomien nur diesseits eines bestimmten Grades von Elend und Gefährdung haltbar sind? Selbst diejenigen unter uns, die das Wort Humanismus heute wieder aufnehmen, vertreten nicht mehr den Humanismus ohne Scham unserer Ahnen. Vielleicht ist es ein Merkmal unserer Zeit, den Humanismus und die Idee einer Menschheit mit vollem Recht zu scheiden und das Bewußtsein von den menschlichen Werten und das der Infrastrukturen, denen sie die Existenz verdanken, nicht
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nur miteinander zu versöhnen, sondern für unzertrennlich zu halten. *
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Unser Jahrhundert hat die Trennungslinie zwischen dem ›Körper‹ (corps) und dem ›Geist‹ (esprit) ausradiert und sieht das menschliche Leben als durch und durch geistig und körperlich, stets auf den Körper bezogen, immer, bis in seine sinnlichsten Formen (modes les plus charnelles), an den zwischenmenschlichen Beziehungen beteiligt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war der Körper (corps) für viele Denker ein Stück Materie, ein Bündel von Mechanismen. Das zwanzigste Jahrhundert hat den Begriff des Leibes (chair), d.h. des lebendigen Körpers (corps animé), wiederhergestellt und vertieft. Es wäre interessant, zum Beispiel in der Psychoanalyse die Veränderung der Auffassung vom Körper (corps) zu verfolgen, die ursprünglich bei Freud die der Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts war und sich zur modernen Auffassung vom erlebten Leib (corps vécu) entwickelt hat. Trat die Psychoanalyse in ihren Anfängen nicht die Nachfolge der mechanistischen Theorien vom Körper an – und versteht man sie nicht noch oftmals so? Erklärt das Freudsche System nicht die komplexesten und ausgefeiltesten Verhaltensweisen des Erwachsenen durch den Trieb, vor allem durch den Sexualtrieb – also durch die physiologischen Bedingungen –, durch ein Zusammenwirken von Kräften, das dem Zugriff unseres Bewußtseins entzogen ist, oder das sich sogar ein für allemal in der Kindheit vor dem Alter der rationalen Kontrolle und der eigentlich menschlichen Bezüge zur Kultur und zu anderen Menschen gebildet hat? Vielleicht war das für einen flüchtigen Leser der Eindruck in den ersten Arbeiten Freuds – in dem Maße aber, wie die Psychoanalyse bei ihm selbst und seinen Nachfolgern, im Kontakt mit der klinischen Erfahrung, jene ursprünglichen Begriffe zurechtrückt, sieht man einen neuen Begriff vom Körper entstehen, der durch die Ausgangsbegriffe hervorgerufen wurde. Es ist nicht falsch zu sagen, daß Freud die gesamte menschliche Entwicklung auf die Entwicklung des Trieblebens hat grün-
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den wollen, entscheidender ist jedoch, daß sein Werk von Anfang an den Begriff ›Trieb‹ umkehrt und die Kriterien auflöst, aufgrund derer man bisher glaubte, ihn umschreiben zu können. Wenn das Wort ›Trieb‹ etwas sagen soll, so ist es eine Disposition im Innern des Organismus, die mit einem Minimum an Aufwand bestimmte Reaktionen sichert, die bestimmten charakteristischen Situationen der Art angemessen sind. Das Wesen der Theorie Freuds besteht jedoch in dem Nachweis, daß der Mensch in diesem Sinne keinen Sexualtrieb hat, daß das ›polymorph perverse‹ Kind zu einer als normal bezeichneten sexuellen Tätigkeit erst am Ende einer schwierigen individuellen Geschichte gelangt. Seiner organischen Ausstattung und seiner Ziele ungewiß führt die Liebesfähigkeit durch eine Reihe von Leistungen, die sich der kanonischen Gestalt der Liebe annähern, wobei sie vorgreift und zurückfällt, sich wiederholt und sich übertrifft, ohne daß man jemals behaupten könnte, daß die als normal bezeichnete sexuelle Liebe nichts anderes als sie selbst sei. Die Bindung des Kindes an die Eltern, so stark sie ist, um jene Geschichte beginnen zu lassen oder sie zu verzögern, ist selbst nicht triebhafter Natur. Sie ist für Freud eine geistige Bindung. Nicht weil das Kind von gleichem Blut ist, liebt es seine Eltern, sondern weil es sich aus ihnen hervorgegangen weiß oder sie zu ihm hingewendet sieht, identifiziert es sich mit ihnen und begreift sich nach ihrem und sie nach seinem Bilde. Die letzte psychologische Wirklichkeit ist für Freud das System von Anziehungskräften und Spannungen, die das Kind mit den Eltern verbindet, und dann, durch sie hindurch, mit allen anderen; innerhalb dieses Systems versucht es nacheinander verschiedene Positionen einzunehmen, deren letzte sein erwachsenes Verhalten sein wird. Nicht nur das Objekt der Liebe entzieht sich jeder Definition durch den Trieb, sondern auch die Art des Liebens selbst. Bekanntlich ist für die Psychoanalyse die Erwachsenenliebe, die von einer Zärtlichkeit getragen wird, die Vertrauen schafft, die nicht in jedem Augenblick neue Beweise einer absoluten Zuneigung fordert und den Anderen in seiner Distanz und Autonomie nimmt, wie er ist, einer kindlichen Liebesbedürftigkeit
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abgerungen, die in jedem Augenblick alles fordert und für alles verantwortlich ist, was in jeder Liebe an Verzehrendem und Unmöglichem zurückbleiben kann. Wenn auch der Übergang zur genitalen Phase für diese Umwandlung notwendig ist, so ist er doch niemals ausreichend, um sie zu garantieren. Schon Freud hat beim Kind einen Bezug zum Anderen beschrieben, der sich vermittels derjenigen Regionen und Funktionen des Körpers herstellt, die am wenigsten einer ausdrücklichen Unterscheidung und Handlung fähig sind: der Mund, der nur saugen oder beißen kann, die Schließmuskeln, die nur zurückhalten oder ausstoßen können. Diese ursprünglichen Formen der Beziehung zum Anderen können nun aber bis ins genitale Geschlechtsleben des Erwachsenen hinein dominierend bleiben. Dann bleibt die Beziehung zum Anderen befangen in der Ausweglosigkeit des unmittelbar Absoluten und schwankt zwischen einer unmenschlichen Forderung, einem absoluten Egoismus, und einer verzehrenden Hingabe, die das Subjekt selbst zerstört. So stellt die Sexualität oder überhaupt die Leiblichkeit, die Freud als den Boden unserer Existenz ansieht, ein Vermögen der Inbesitznahme dar, das zunächst absolut und allgemein ist: Es ist nur insofern sexuell, als es sofort auf die sichtbaren Unterschiede des Körpers und der mütterlichen und väterlichen Rollen reagiert; das Physiologische und der Trieb sind eingebettet in einen zentralen Anspruch auf absoluten Besitz, der nicht Auswirkung eines Stücks Materie sein kann, sondern zur Ordnung dessen gehört, was man gemeinhin Bewußtsein nennt. Dennoch dürfen wir hier nicht von Bewußtsein sprechen, denn damit würden wir die Dichotomie zwischen Seele und Körper in dem Augenblick wieder herstellen, in dem der Freudianismus sie bestreitet und damit unsere Auffassung von Körper und Geist umgestaltet. »Die psychischen Tatsachen haben einen Sinn«, schrieb Freud in einem seiner ältesten Werke. Das sollte heißen, daß beim Menschen kein Verhalten das einfache Ergebnis irgendeines körperlichen Mechanismus ist, daß es beim menschlichen Verhalten nicht ein geistiges Zentrum und eine Peripherie von Automatismen gibt und daß alle unsere Gebärden auf ihre
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Weise an jener einheitlichen Ausdrucks- und Bedeutungstätigkeit teilhaben, die wir selber sind. Mindestens ebensosehr, wie Freud bemüht ist, den Überbau auf den triebhaften Unterbau zurückzuführen, bemüht er sich zu zeigen, daß es im menschlichen Leben nichts ›Minderwertiges‹ oder ›Niederes‹ gibt. Man kann also gar nicht weiter von einer Erklärung ›von unten her‹ entfernt sein. Mindestens ebensosehr, wie Freud das erwachsene Verhalten durch eine aus der Kindheit ererbte Unausweichlichkeit erklärt, zeigt er in der Kindheit ein frühreifes Erwachsenenleben auf, zum Beispiel in den analen Verhaltensweisen des Kindes eine erste Entscheidung darüber, ob es in seinen Beziehungen zum Anderen freigebig oder geizig sein wird. Mindestens ebensosehr, wie Freud das Psychische durch den Körper erklärt, weist er die psychische Bedeutung des Leibes auf, seine geheime oder latente Logik. Man kann also vom Geschlecht nicht mehr als von einem lokalisierbaren Apparat oder als von einem Körper im Sinne einer Materiemasse sprechen, so wie man von einer letzten Ursache spricht. Sie sind weder Ursache noch bloßes Instrument oder Mittel, sondern das Vehikel, der Drehpunkt, das Schwungrad unseres Lebens. Keiner jener Begriffe, die die Philosophie ausgearbeitet hat – wie Ursache, Wirkung, Mittel, Zweck, Materie, Form –, reicht aus, um die Beziehungen des Leibes zum gesamten Leben zu erfassen, die Art und Weise, wie er mit dem persönlichen Leben oder wie dieses mit ihm verschränkt ist. Der Leib ist geheimnisvoll: Er ist zweifellos ein Teil der Welt, aber er ist in eigenartiger Weise einem absoluten Verlangen als dessen Wohnstatt preisgegeben, sich dem Anderen zu nähern und ihn in seinem Körper zu treffen als einem ebenfalls belebten und belebenden, natürlichen Ausdruck des Geistes. Mit der Psychoanalyse geht der Geist in den Körper ein wie umgekehrt der Körper in den Geist eingeht. Diese Untersuchungen erschüttern zwangsläufig mit unserer Auffassung vom Körper auch zugleich unsere Auffassung von seinem Partner, dem Geist. Zugegebenermaßen bleibt hier noch viel zu tun, um aus der psychoanalytischen Erfahrung all das herauszuziehen, was sie enthält. Denn die Psychoanalytiker, angefangen
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mit Freud, begnügen sich mit einem Gerüst wenig zufriedenstellender Begriffe. Um über jene Verflechtung zwischen dem anonymen Leben des Leibes und dem offiziellen Leben der Person, die die große Entdeckung von Freud ist, Aufschluß zu geben, mußte irgend etwas zwischen den Organismus und uns selbst als einer Abfolge bewußter Akte und ausdrücklicher Kenntnisse eingeführt werden. Das war das Unbewußte Freuds. Man braucht nur die Wandlungen dieses proteushaften Begriffs im Werke Freuds, die Verschiedenartigkeit seiner Verwendungen, die Widersprüche, die er nach sich zieht, zu verfolgen, um sich zu vergewissern, daß es sich hier nicht um einen ausgereiften Begriff handelt und daß, wie Freud es in den Essais de psychanalyse zu verstehen gibt, noch korrekt zu formulieren bleibt, was er mit dieser vorläufigen Bezeichnung fassen wollte. Das Unbewußte läßt auf den ersten Blick an den Ort einer Dynamik von Triebkräften denken, von der wir nur das Ergebnis kennen. Und doch kann das Unbewußte kein Prozeß ›in der dritten Person‹ sein, da es selbst ja auswählt, was von uns zur offiziellen Existenz zugelassen wird, da es die Gedanken oder Situationen umgeht, denen wir uns widersetzen, und also kein Nicht-Wissen ist, sondern vielmehr ein nicht-anerkanntes, unformuliertes Wissen, das wir nicht ertragen wollen. In einer noch ungenauen Sprache ist Freud hier im Begriff zu entdecken, was andere treffender als zweideutige Wahrnehmung bezeichnet haben. Forscht man in dieser Richtung weiter, so wird man eine Kennzeichnung für jenes Bewußtsein finden, das seine Gegenstände nur streift, ihnen in dem Augenblick, wo es sie setzt, ausweicht, so wie ein Blinder auf Hindernisse eher reagiert, als daß er sie erkennt; ein Bewußtsein, das von seinen Gegenständen kein Wissen besitzt, das sie ignoriert, insofern es sie versteht, sie versteht, insofern es sie ignoriert, und das unseren ausdrücklichen Handlungen und unseren Erkenntnissen zum Grunde liegt. Wie es auch immer mit den philosophischen Formulierungen steht, es steht außer Zweifel, daß Freud die geistige Funktion des Körpers und die Inkarnation des Geistes immer besser erkannt hat. Im reifen Werk spricht er von der ›aggressiven Sexualbeziehung‹ zum Anderen als von der fundamentalen Gegebenheit un-
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seres Lebens. Da die Aggression nicht auf eine Sache, sondern auf eine Person zielt, bedeutet das Verschlungensein von Sexuellem und Aggressivem, daß die Sexualität sozusagen ein Inneres hat, daß sie in ihrem ganzen Umfang durch einen Bezug von Person zu Person verdoppelt wird, daß das Sexuelle, da wir Leib (chair) sind, unsere sinnliche Weise ist, die Beziehung zu Anderen zu leben. Da die Sexualität Bezug zum Anderen und nicht nur zu einem anderen Körper ist, spinnt sie zwischen dem Anderen und mir ein zirkuläres System von Projektionen und Introjektionen und entfacht die unbegrenzte Serie reflektierender und reflektierter Spiegelbilder, die bewirken, daß ich der Andere bin und er ich selbst ist. Das ist letztlich die Freudsche Auffassung vom inkarnierten Individuum, das sich selbst als auch den Anderen durch seine Verleiblichung gegeben ist, unvergleichlich und doch seines angeborenen Geheimnisses entkleidet, sich Seinesgleichen gegenübergestellt sieht. In dem Augenblick, als Freud diese Theorie aufstellte, brachten die Schriftsteller auf ihre Weise dieselbe Erfahrung zum Ausdruck, ohne daß es sich in den meisten Fällen um einen Einfluß gehandelt hätte. Auf diese Weise ist zunächst die Erotik der Schriftsteller dieser Jahrhunderthälfte zu verstehen. Wenn man in dieser Hinsicht das Werk von Proust oder das von Gide mit den Werken der vorhergehenden Generation vergleicht, so springt der Kontrast in die Augen: Proust und Gide greifen sofort über die Schriftstellergeneration von 1900 hinweg auf die Sadesche und Stendhalsche Tradition eines direkten Ausdrucks des Leibes zurück. Mit Proust und Gide beginnt ein unermüdliches Referat über den Leib; man entdeckt ihn, man befragt ihn, man hört ihm wie einer Person zu, und spioniert den Unregelmäßigkeiten seiner Begierde und, wie man sagt, seiner Inbrunst nach. Mit Proust wird er zum Wächter des Vergangenen, und er ist es, der trotz der Verwandlungen, die ihn fast unkenntlich machen, von Zeit zu Zeit eine substantielle Beziehung zwischen uns und unserer Vergangenheit aufrechterhält. Proust beschreibt in den beiden gegensätzlichen Fällen des Todes und des Erwachens den Berührungspunkt des Geistes mit
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dem Körper, d.h. wie unsere Gebärden auf die Zerstreuung des schlafenden Leibes im Erwachen an eine Bedeutung aus dem Jenseits anknüpfen und wie sich dagegen die Bedeutung in den Zuckungen des Todeskampfs auflöst. Mit der gleichen Ergriffenheit analysiert er die Gemälde von Elstir und die Milchhändlerin, die er flüchtig auf einem Dorfbahnhof gesehen hat, weil es sich hier wie dort um dieselbe eigentümliche Erfahrung handelt, die des Ausdrucks nämlich, um den Augenblick, da die Farbe und der Leib (chair) zu den Augen und dem Körper (corps) zu sprechen anfangen. Als Gide einige Monate vor seinem Tod aufzählte, was er in seinem Leben geliebt hat, nannte er unbesorgt die Bibel und das Vergnügen nebeneinander. Auch bei ihnen tritt mit unausweichlicher Konsequenz das Besessensein vom Anderen in Erscheinung. Wenn der Mensch darauf schwört, allumfassend zu sein, so unterscheidet sich für ihn die Sorge um sich selbst nicht von der Sorge um die Anderen: Er ist Mensch unter Menschen, und die Anderen sind andere Erselbst. Aber wenn er dagegen erkennt, was es von innen heraus an Einzigartigem in der erlebten Verleiblichung gibt, erscheint ihm der Andere notwendig in Form von Qual, Neid oder zumindest Beunruhigung. Durch seine Inkarnation bestimmt, unter einem fremden Blick zu erscheinen und sich vor ihm zu rechtfertigen, dennoch durch dieselbe Inkarnation an seine eigene Situation gefesselt, fähig, das Fehlen des Anderen und das Bedürfnis nach ihm zu empfinden, aber unfähig, im Anderen seine Ruhe zu finden, ist der Mensch in dem Hin und Her des Für-sich-Seins und des Fürden-Anderen-Seins befangen, was die Tragik der Liebe bei Proust ausmacht und was vielleicht am ergreifendsten im Tagebuch von Gide dargestellt ist. Bewundernswerte Formulierungen derselben Paradoxa findet man bei dem Schriftsteller, der vielleicht am wenigsten Gefallen an der Unbestimmtheit der Freudschen Ausdrucksweise findet, nämlich bei Valéry. Denn seine Vorliebe für die Strenge des Ausdrucks ist bei ihm die Kehrseite eines geschärften Bewußtseins vom Zufälligen. Sonst hätte er nicht so treffend vom Leib gesprochen als von einem Wesen mit zwei Gesichtern, das für
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viele Absurditäten, aber auch für unsere sichersten Leistungen verantwortlich ist. »Der Künstler bringt seinen Leib ein, weicht zurück, stellt irgend etwas hin und nimmt es wieder weg, verhält sich mit seinem ganzen Wesen wie sein Auge und wird ganz und gar zu einem Organ, das sich anpaßt, sich verformt, und den Punkt, den einzigen Punkt sucht, der dem in der Tiefe erstrebten Werk virtuell zukommt – das nicht immer das gesuchte ist.«2 Und auch bei Valéry ist das Bewußtsein vom Leib unausweichlich das Besessensein von den Anderen. »Niemand könnte frei denken, wenn seine Augen nicht imstande wären, andere Augen, die ihnen folgen, zu verlassen. Sobald die Blicke einander festhalten, ist man nicht mehr ganz und gar zu zweit, und es wird schwer, allein zu bleiben. Jener Austausch, das Wort ist treffend, verwirklicht in einer sehr kurzen Zeit eine Übertragung, eine Metathese: einen Chiasmus zweier ›Schicksale‹, zweier Gesichtspunkte. Dadurch kommt es zu einer Art wechselseitiger simultaner Einschränkung. Du nimmst mein Bild, meine Erscheinung, ich nehme die deine. Du bist nicht ich, da du mich siehst und ich mich nicht sehe. Was mir fehlt, das ist jenes Ich, das du siehst. Und was dir fehlt, das bist du, den ich sehe. Und wie weit wir auch in der gegenseitigen Erkenntnis voranschreiten, in dem Maße, wie wir uns spiegeln werden, werden wir verschieden sein [...]«3 Je mehr man sich der ersten Hälfte des Jahrhunderts nähert, um so deutlicher ist zu sehen, daß bei den Zeitgenossen die Verleiblichung und der Andere das Labyrinth der Reflexion und der Sensibilität sind – eine Art empfindsame Reflexion. Bis hin zu jener bekannten Stelle, wo eine Person aus dem Roman Conditio humana von Malraux ihrerseits die Frage stellt, ob es wahr sei, daß ich in mir selbst eingemauert bin und daß für mich ein absoluter Unterschied zwischen mir und den Anderen besteht, daß ich mit meinen Ohren auch mich selbst, das ›unvergleichliche Ungeheuer‹, höre, das mich mit meiner Kehle hört, das von dem anderen niemals in der Weise akzeptiert werden kann, wie 2 3
Mauvaises pensées, S. 200. Tel Quel I, S. 42.
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es sich selbst akzeptiert, über alles Gesagte und Getane, über die Verdienste oder Verfehlungen, ja selbst die Verbrechen hinaus? Aber Malraux, und auch Sartre, haben Freud gelesen, und was sie auch schließlich von ihm halten, so haben sie doch mit seiner Hilfe gelernt, sich zu erkennen. Deshalb schien es für uns von größerer Bedeutung, vor ihnen eine Erfahrung des Leibes aufzudecken, von der sie ausgehen, weil sie sich bei den Älteren vorbereitet hatte. * Ein weiteres Kennzeichen der Untersuchungen der ersten Jahrhunderthälfte ist die Annahme einer merkwürdigen Beziehung zwischen dem Bewußtsein und seinem sprachlichen Ausdruck, wie zwischen dem Bewußtsein und seinem Körper. Die gewöhnliche Sprache läßt jedem Wort oder Zeichen ein Ding oder eine Bedeutung entsprechen, die auch ohne irgendein Zeichen vorhanden sein und begriffen werden könne. Doch schon seit langem wird diese gewöhnliche Sprache in der Literatur nicht mehr akzeptiert. Derart voneinander abweichende Unternehmen wie die von Mallarmé und Rimbaud haben dennoch gemeinsam, daß sie die Sprache von einer Kontrolle durch ›Evidenzen‹ befreien; sie vertrauen der Sprache, um neue Sinnbezüge zu entwickeln und zu gewinnen. Die Sprache hört also auf, für den Schriftsteller (wenn sie das je gewesen ist) ein einfaches Instrument oder Mittel zur Mitteilung von Absichten zu sein, die vorher bereits vorlagen. Sie bildet jetzt mit dem Schriftsteller eine Einheit, die Sprache ist er selbst. Die Sprache steht nicht mehr im Dienst von Bedeutungen, sondern sie ist selbst der Akt des Bedeutens; und der sprechende Mensch oder der Schriftsteller lenken die Sprache nicht willentlich, wie der lebende Mensch die Einzelheiten oder die Mittel seiner Gebärden nicht bewußt vorausplant. Von jetzt an gibt es keine andere Art, eine Sprache zu verstehen, als sich in ihr einzurichten und sie zu handhaben. Der Schriftsteller als Meister der Sprache ist ein Meister der Unsicherheit. Seine Ausdrucksweise überbietet sich von Werk zu Werk, jedes Werk ist, wie man es vom Maler gesagt hat, eine von ihm selbst errichtete Stufe, von der aus er mit demselben Risiko eine weitere
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Stufe baut; und was man das Œuvre nennt, ist die Folge jener Versuche, die immer unterbrochen wird, sei es durch das Ende des Lebens oder die Erschöpfung der Sprachkraft. Immer von neuem beginnt der Schriftsteller, sich mit einer Sprache zu messen, die er nicht meistert und die doch ohne ihn nichts ist, die ihre Launen, ihren Reiz hat, welche aber immer erst durch die schriftstellerische Arbeit verdient werden müssen. Die Unterscheidungen von Form und Inhalt, von Sinn und Laut, von Idee und Ausführung werden undeutlich wie die Grenzen zwischen Körper und Geist. Geht man von der ›bezeichnenden‹ (signifiant) Sprache zur reinen Sprache über, so befreit sich die Literatur, ebenso wie die Malerei, von der Ähnlichkeit mit den Dingen und vom Ideal eines vollendeten Kunstwerkes. Wie schon Baudelaire gesagt hat, gibt es vollendete Werke, von denen man nicht sagen kann, daß sie jemals fertiggestellt worden seien, und unvollendete Werke, die alles sagen, was sie sagen wollten. Es ist das Wesen des Ausdrucks, daß er immer nur in einer Annäherung besteht. Jenes Pathos der Sprache ist in unserem Jahrhundert Schriftstellern gemeinsam, die sich zwar gegenseitig verachten, deren Verwandtschaft es jedoch forthin besiegelt. In seinen Anfängen hatte der Surrealismus durchaus den Anschein einer Revolte gegen die Sprache, gegen jeden Sinn und gegen die Literatur selbst. In Wahrheit jedoch hatte Breton nach einzelnen zögernden und rasch korrigierten Formulierungen begonnen, nicht die Sprache zugunsten des Unsinns zu zerstören, sondern einen bestimmten weiterreichenden und radikalen Gebrauch des Wortes zu restaurieren, für den alle sogenannten ›automatischen‹ Texte, wie er selbst zugibt, bei weitem kein ausreichendes Beispiel liefern.4 Maurice Blanchot erinnert daran in seiner berühmten Umfrage Warum schreiben Sie? Breton gibt darauf schon die Antwort, indem er eine Aufgabe oder Berufung des Wortes beschreibt, die sich seit eh und je im Schriftsteller ausspricht und die ihn dazu bestimmt, auszudrükken, mit einem Namen zu versehen, was noch niemals benannt 4
Vgl. Pont du Jour, Le langage automatique.
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worden ist. Schreiben – in diesem Sinne von Offenbaren oder Bekunden –, sagt er abschließend,5 ist niemals eine nichtige oder frivole Beschäftigung gewesen. Die Polemik gegen die kritischen Fähigkeiten oder die bewußte Kontrolle sollte das Sprechen nicht dem Zufall oder dem Chaos überlassen, sondern der Sprache und der Literatur die ganze Reichweite ihrer Aufgabe in Erinnerung rufen, indem sie sie von den kleinen Kunstgriffen des Talents, den dürftigen Rezepten der literarischen Welt, befreite. Es galt auf jene Stufe der Unschuld, Jugend und Einheit zurückzukehren, auf der der Sprechende noch kein Literat oder Politiker oder Edelmann ist, zu jenem ›point sublime‹, von dem Breton an anderer Stelle spricht, wo Literatur, Leben, Moral und Politik äquivalent und untereinander austauschbar sind, weil ja jeder von uns der gleiche Mensch ist, der liebt oder haßt, liest oder schreibt, der akzeptiert oder ablehnt. Jetzt, da der Surrealismus der Vergangenheit angehört und seine Beschränktheit – ebenso wie seine schöne Bissigkeit – aufgegeben hat, können wir ihn nicht mehr durch seine anfänglichen Zurückweisungen definieren, er ist für uns eine der Rückwendungen zur spontanen Sprache, die unser Jahrhundert alle zehn Jahre propagiert. Dadurch verschmilzt er in unserer Erinnerung mit ähnlichen Bewegungen und bildet mit ihnen eine der Konstanten unserer Zeit. Valéry, den die Surrealisten zunächst durchaus schätzten und den sie später verwarfen, bleibt trotz seiner Zugehörigkeit zur Akademie ihrer Erfahrung der Sprache sehr nahe. Man hat nämlich nicht genügend beachtet, daß er der bezeichnenden (signifiant) Literatur nicht, wie man bei oberflächlichem Lesen meinen könnte, eine Literatur der schlichten Ausübung von Sprach- und Prosodiekonventionen entgegenstellt, die um so wirksamer werden, je komplizierter und folglich absurder sie sind. Das Wesen der dichterischen Sprache (manchmal sagt er sogar: das Wesen jeder literarischen Sprache) besteht für ihn darin, daß sie hinter dem, was sie uns mitteilt, nicht verschwindet, sondern, daß der Sinn eben diese Wörter verlangt, denn keine anderen als diese 5
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haben den Sinn mitgeteilt; des weiteren zeigt sich das Wesen der dichterischen Sprache darin, daß man ein Werk nicht zusammenfassen kann, sondern es wieder lesen muß, um es wiederzufinden, daß hier der Gedanke von den Wörtern hervorgebracht wird, nicht auf Grund der lexikalischen Bedeutungen, die ihnen in der Umgangssprache zugeordnet sind, sondern auf Grund von Sinnbezügen einer mehr leiblichen Art, auf Grund von Bedeutungshöfen, die sie ihrer Geschichte und ihrem Gebrauch verdanken, auf Grund des Lebens, das sie in uns führen und das wir in ihnen führen, das von Zeit zu Zeit jene sinnerfüllten Zufälle herbeiführt, die die großen Bücher sind. Auf seine Weise verlangt auch Valéry dieselbe Übereinstimmung der Sprache mit ihrem umfassenden Sinn, die den surrealistischen Gebrauch der Sprache motiviert. Die einen wie die anderen meinen das, was Francis Ponge die ›semantische Dichte‹ und Sartre den ›Bedeutungshumus‹ der Sprache nennen, d. h. das der Sprache eigene Vermögen, als Gebärde, Akzent, Stimme, Modulation der Existenz über das hinaus zu bedeuten, was sie im einzelnen nach den geltenden Konventionen bedeutet. Von da ist es nicht mehr weit zu dem, was Claudel den ›intelligiblen Bissen‹ des Wortes nannte. Und dasselbe Sprachempfinden findet man in den zeitgenössischen Definitionen der Prosa wieder. Auch für Malraux heißt Schreiben, »mit seiner eigenen Stimme sprechen lernen«.6 Und Jean Prévost entdeckt bei Stendhal, der ›wie der Code Civil‹ zu schreiben glaubte, einen wirklichen Stil, d. h. eine neue und sehr persönliche Anordnung der Wörter, der Formen, der Erzählelemente, ein neues Entsprechungssystem zwischen den Zeichen, eine unmerkliche, für Stendhal typische Abwandlung des gesamten Sprachapparates, ein durch die Jahre der Übung und des Lebens geschaffenes System, das Stendhal selbst geworden war, das ihm schließlich zu improvisieren ermöglicht, und das man nicht ein Gedankensystem nennen kann, weil Stendhal selbst sich dessen viel zu wenig bewußt war, sondern ein Sprachsystem.
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Psychologie de l’art.
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Die Sprache ist also jene eigenartige Vorrichtung, die uns wie unser Leib mehr gibt als wir hineingesteckt haben, sei es, daß wir unsere Gedanken erst sprechend erfahren, sei es, daß wir anderen zuhören. Denn wenn ich zuhöre, oder wenn ich lese, lassen die Wörter in mir nicht immer schon vorhandene Bedeutungen anklingen. Sie besitzen die außergewöhnliche Fähigkeit, mich von meinen Gedanken wegzuziehen, sie bringen Risse in meine private Welt hinein, durch die andere Gedanken einbrechen. »Wenigstens in diesem Augenblick bin ich du gewesen«, sagt Jean Paulhan. Wie mein Leib, der ja nur ein Stück Materie ist, sich in Gebärden findet, die über ihn hinausstreben, so füllen sich die Wörter der Sprache, die einzeln betrachtet nur tote Zeichen sind, denen nur eine verschwommene oder banale Idee entspricht, plötzlich mit einem Sinn, der auf andere Menschen überspringt, wenn das Sprechen die Wörter zu einem einzigen Ganzen verknüpft. Der Geist steht nicht mehr abseits, er keimt am Rande der Gebärden, am Rande der Wörter, wie durch eine spontane Zeugung. *
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Diese Wandlungen unserer Auffassung vom Menschen würden nicht soviel Widerhall in uns finden, wenn sie sich nicht in so auffallender Weise mit einer Erfahrung treffen würden, an der wir alle, Wissenschaftler oder nicht, teilhaben, und die folglich mehr als jede andere dazu beiträgt, uns zu bilden: Ich meine die Erfahrung der politischen Beziehungen und der Geschichte. Es scheint uns, daß unsere Zeitgenossen, zumindest seit dreißig Jahren, in dieser Hinsicht ein Abenteuer erleben, das zwar weitaus gefährlicher und doch dem analog ist, was wir in dem harmlosen Bereich unserer Beziehungen zur Literatur oder zu unserem Leib zu finden glaubten. Dieselbe Ambiguität, die bei der Analyse den Begriff des Geistes auf den des Leibes oder der Sprache ausdehnt, hat auch unser politisches Leben befallen. Hier wie dort wird es immer schwieriger, zwischen Gewalt und Idee, zwischen Macht und Wert zu unterscheiden, wobei als gravierender Umstand hinzutritt, daß dieses Ineinandergreifen hier auf politische Krisen und Chaos hinauszulaufen droht.
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Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der offiziell die Weltpolitik eine Rechtsverfassung hatte. Die Rechtlichkeit der Politik war endgültig diskreditiert, als man sah, daß zwei der Siegermächte von 1918 einem wiedererstarkten Deutschland mehr zugestanden als der Weimarer Republik. Keine sechs Monate später riß es auch Prag an sich. Damit war der Beweis erbracht: Die Rechtsverfassung der Politik der Siegermächte war die Maske für ihre Vorherrschaft, die Forderung nach ›Gleichheit der Rechte‹ auf seiten der Besiegten war die Maske für die nächste Vorherrschaft Deutschlands. Man blieb immer in den Kräfteverhältnissen und den Kampf auf Leben und Tod verstrickt, jedes Zugeständnis war eine Schwäche, jeder Gewinn eine Etappe auf dem Weg zu anderem Gewinn. Wichtig ist jedoch, daß der Verfall der Rechtlichkeit der Politik bei unseren Zeitgenossen keineswegs einfach zu einer Rückkehr zur Politik der Stärke oder der Effizienz geführt hat. Es ist auffällig, daß der Zynismus oder sogar die politische Heuchelei ebenfalls diskreditiert sind, daß die öffentliche Meinung in dieser Hinsicht erstaunlich empfindlich geblieben ist, daß die Regierungen sich bis in die letzten Monate hinein hüteten, bei ihr Anstoß zu erregen und daß auch jetzt keine einzige offen zu erklären wagt, daß sie auf die nackte Gewalt setzt oder sie tatsächlich ausübt. Seinen Grund hat dies darin, daß es in der unmittelbaren Nachkriegszeit eigentlich keine Weltpolitik gegeben hat. Die Mächte gerieten nicht aneinander. Sehr viele Fragen wurden offengelassen, aber gerade deshalb gab es ›no man’s lands‹, neutrale Zonen, provisorische Regime oder Übergangssysteme. Das absolut entwaffnete Europa lebte jahrelang ohne Invasion. Bekanntlich haben sich die Dinge seit einigen Jahren geändert; vom einen Ende der Welt zum anderen haben neutrale Zonen zwischen zwei rivalisierenden Mächten ihre Neutralität verloren; Armeen sind im ›no man’s land‹ aufgetaucht; die Wirtschaftshilfen wurden zu Militärhilfen. Es erscheint uns jedoch bemerkenswert, daß diese Rückkehr zur Politik der Stärke nirgends ohne Vorbehalt vor sich geht. Man wird vielleicht sagen, daß es schon immer geschickt gewesen ist, die Gewalt mit Friedenserklärungen zu kaschieren,
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und daß darin die Propaganda besteht. Wenn wir jedoch das Verhalten der Mächte beobachten, fragen wir uns schließlich, ob es sich wirklich nur um Vorwände handelt. Möglicherweise glauben alle Regierungen an ihre Propaganda und wissen in der gegenwärtigen Verwirrung selbst nicht mehr, was wahr und was falsch ist, weil in gewisser Hinsicht alles, was sie gemeinsam sagen, wahr ist. Es ist möglich, daß jede Politik zugleich und tatsächlich kriegerisch und friedlich ist. Hier wäre eine ganze Reihe merkwürdiger Praktiken zu analysieren, die in der zeitgenössischen Politik allgemein verbreitet zu sein scheinen. Zum Beispiel die jeweiligen Praktiken der Säuberung und der Geheimpolitik oder der Politik der fünften Kolonnen. Das Rezept solcher Praktiken stammt von Machiavelli, von dem sie jedoch nur beiläufig empfohlen werden, während sie sich heute überall zu institutionalisieren scheinen. Das setzt jedoch voraus, daß man im Grunde immer damit rechnet, beim Gegner Komplizen und im eigenen Haus Verräter zu finden. Damit gibt man zu, daß alle Angelegenheiten zweideutig sind. Die heutige Politik scheint sich von der früheren durch jenen Zweifel, sogar an der eigenen Sache, zu unterscheiden, der von Strafmaßnahmen zu seiner Unterdrückung begleitet ist. Dieselbe grundsätzliche Unsicherheit drückt sich in der Leichtigkeit aus, mit der die Staatschefs Wendungen vollziehen oder von einer Politik wieder ablassen, ohne daß natürlich diese Schwankungen jemals als solche zugegeben werden. Schließlich hat man selten in der Geschichte erlebt, daß ein Staatschef einen berühmten, lange Zeit unumstrittenen Oberkommandierenden absetzt und seinem Nachfolger ungefähr dasselbe zubilligt, was man jenem einige Monate früher verweigerte. Man hat selten erlebt, daß eine Großmacht sich weigert zu intervenieren, um einen ihrer Schützlinge, der im Begriff ist, einen Nachbarn zu überfallen, zur Mäßigung zu bringen – und nach einem Kriegsjahr die Rückkehr zum Status quo vorschlägt. Solche Schwankungen lassen sich nur verstehen, wenn die Regierungen in einer Welt, in der die Völker gegen den Krieg sind, diesen nicht direkt ins Auge fassen können, ohne daß sie jedoch wagen, Frieden zu schließen, weil sie
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damit ihre Schwäche eingestehen würden. Die reinen Kräfteverhältnisse werden in jedem Augenblick verändert: Man will auch die öffentliche Meinung für sich haben. Jeder Truppentransport wird auch zu einer politischen Operation. Man handelt weniger, um ein bestimmtes faktisches Resultat zu erzielen, als um den Gegner in eine bestimmte moralische Situation zu versetzen. So kommt es zu dem merkwürdigen Begriff Friedensoffensive: Den Frieden vorschlagen, heißt den Gegner entwaffnen, die öffentliche Meinung auf seine Seite ziehen und den Krieg so beinahe gewinnen. Zugleich jedoch spürt man wohl, daß man nicht das Gesicht verlieren darf, daß zuviel vom Frieden sprechen den Gegner ermutigen hieße, so daß man auf beiden Seiten Friedensappelle und Gewaltmaßnahmen, verbale Drohungen und tatsächliche Konzessionen miteinander abwechseln läßt oder sie, besser noch, miteinander verbindet. Die Friedensangebote werden in einem entmutigenden Ton formuliert und von neuen Kriegsvorbereitungen begleitet. Niemand will ein Abkommen schließen, und niemand will die Verhandlungen abbrechen. So kommt es zu tatsächlichen Waffenruhen, die Wochen oder Monate lang eingehalten werden und die niemand legalisieren will, wie es zwischen Beleidigten geschieht, die sich ertragen, aber nicht mehr miteinander sprechen. Man fordert einen alten Verbündeten auf, mit einem alten Gegner einen Vertrag zu unterzeichnen, den er mißbilligt. Aber man rechnet damit, daß er es ablehnen wird. Tut er es dennoch, so ist das ein Treuebruch. Auf diese Weise haben wir einen Frieden, der kein Friede ist, und ebenso einen Krieg, der – außer für die Kämpfenden und die Bewohner – kein wirklicher Krieg ist. Man läßt seine Freunde kämpfen, denn wenn man ihnen die Waffen lieferte, die den Kampf entscheiden würden, riskierte man den wirklichen Krieg. Man zieht sich vor dem Feind zurück und versucht ihn in die Falle einer Offensive zu locken, die ihn ins Unrecht setzen würde. Jeder politische Akt enthält außer seinem offenkundigen Sinn noch einen entgegengesetzten und latenten Sinn. Die Regierungen scheinen sich in ihre Aktionen zu verlieren, und bei der außerordentlichen Subtilität der Beziehungen von Mitteln zu Zwecken selbst
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nicht mehr wissen zu können, was sie tatsächlich tun. Unsere Zeitungen werden von der Dialektik beherrscht, aber es ist die Dialektik eines Wahns, die sich um sich selber dreht und die Probleme nicht löst. In alldem meinen wir weniger Doppelzüngigkeit als Verwirrung, weniger Bösartigkeit als Verlegenheit zu finden. Wir sagen nicht, daß das ungefährlich sei: Es kann geschehen, daß man auf Umwegen in den Krieg stolpert und daß er bei einem jener Winkelzüge der großen Politik, der nicht mehr als irgendein anderer dazu angetan schien, ihn auszulösen, plötzlich da ist. Wir sagen nur, daß jene Merkmale unserer Politik letztlich beweisen, daß der Krieg keine besondere Motivation erfordert. Selbst wenn er aus alldem hervorgeht, wird niemand Grund haben zu behaupten, er sei unausweichlich gewesen. Denn die eigentlichen Probleme der gegenwärtigen Welt liegen weniger im Antagonismus zweier Ideologien als in ihrer gemeinsamen Hilflosigkeit gegenüber bestimmten entscheidenden Fakten, die weder die eine noch die andere unter ihre Kontrolle bringen kann. Wenn es zum Krieg kommt, so wird das ein Ablenkungsmanöver oder ein unglücklicher Zufall sein. Die Rivalität der beiden Großmächte ist am Problem Asiens hervorgetreten und tut das noch heute. Es war keine diabolische Machenschaft der einen oder anderen Regierung, die bewirkt hat, daß Länder wie Indien und China, in denen man seit Jahrhunderten verhungerte, plötzlich Hungersnot, Schwäche, Unordnung oder Korruption ablehnen; die Entwicklung des Radios, ein Minimum an Ausbildung, die Presse, die Kommunikation mit der Außenwelt, die Bevölkerungszunahme haben eine jahrhundertealte Situation plötzlich untragbar gemacht. Es wäre beschämend, wenn uns unsere europäischen Ängste das wirkliche Problem verschleierten, das sich dort unten stellt: das Drama von mittellosen Ländern, das keinen Humanismus gleichgültig lassen kann. Mit dem Erwachen dieser Länder schließt sich die Welt selbst zusammen. Zum erstenmal vielleicht sehen sich die fortgeschrittenen Länder ihrer Verantwortung gegenüber, und man kann von einer Menschheit sprechen, die sich nicht
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auf zwei Kontinente beschränkt. Diese Tatsache selbst ist nicht betrüblich. Wenn wir weniger von unseren eigenen Sorgen besessen wären, würde sie uns beeindrucken. Schwerwiegend jedoch ist, daß alle westlichen Doktrinen zu beschränkt sind, um mit dem Problem der Erschließung Asiens fertig zu werden. Die klassischen Mittel der liberalen Wirtschaft oder selbst die des amerikanischen Kapitalismus scheinen nicht auszureichen, auch nur Indien auszurüsten. Der Marxismus dagegen ist konzipiert worden, um den Übergang eines bereits bestehenden wirtschaftlichen Apparates aus den Händen einer parasitär gewordenen Bourgeoisie in die eines entwickelten, in hohem Maße bewußten und ausgebildeten Proletariats zu gewährleisten. Den Übergang von einem wirtschaftlich rückständigen Land zu den modernen Produktionsformen zu bewerkstelligen, ist etwas ganz anderes, und das Problem, das sich für Rußland gestellt hat, stellt sich noch viel mehr für Asien. Daß der Marxismus, mit dieser Aufgabe konfrontiert, sich tiefgreifend gewandelt hat, daß er faktisch auf seine Auffassung von einer Revolution, die in der Geschichte der Arbeiterklasse wurzelt, verzichtet hat, daß er an die Stelle eines Übergreifens der Revolution Eigentumsveränderungen gesetzt hat, die von oben her durchgeführt werden, und daß er die These vom Absterben des Staates und vom Proletariat als weltweiter Klasse hat fallenlassen, ist ganz und gar nicht überraschend. Das heißt aber auch, daß die chinesische Revolution, die von der Sowjetunion nicht allzusehr ermutigt worden ist, sich der Voraussicht einer marxistischen Politik weitgehend entzieht. In dem Moment also, da Asien als aktiver Faktor in die Weltpolitik eingreift, können wir mit keiner der in Europa entstandenen Konzeptionen diese Probleme Asiens meistern. Das politische Denken klebt hier an historischen und lokalen Umständen und verliert sich in jenen riesigen Gesellschaften. Das läßt die Antagonisten zweifellos vorsichtig werden und gibt uns eine Chance für den Frieden. Vielleicht erliegen sie aber auch der Versuchung eines Krieges, der keine Probleme lösen würde, es aber ermöglichte, sie auf die lange Bank zu schieben. Darin besteht also gleichzeitig unser Kriegsrisiko. Die Weltpolitik ist verwor-
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ren, weil die Ideen, auf die sie sich beruft, für ihr Aktionsfeld zu beschränkt sind. *
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Wenn wir also abschließend für unsere Bemerkungen eine philosophische Formel finden sollten, würden wir sagen, daß unsere Zeit, vielleicht mehr als irgendeine andere, die Erfahrung des Zufälligen gemacht hat und noch macht. Zunächst die Zufälligkeit des Übels: Am Ursprung des menschlichen Lebens gibt es keine Kraft, die es in sein Verderben oder ins Chaos triebe. Im Gegenteil, jede Gebärde unseres Leibes oder unserer Sprache, jeder Akt des politischen Lebens rechnet, wie wir gesehen haben, spontan mit dem anderen und weist, in dem, was ihm eigentümlich ist, über sich hinaus auf einen allgemeinen Sinn hin. Wenn unsere Einfälle in der zähen Masse des Leibes, der Sprache oder in dieser maßlosen Welt, die wir zu vollenden haben, versinken, so haben wir es nicht mit einem bösen Geist zu tun, der uns seinen Willen aufzwingt, sondern mit einer Art Trägheit, einem passiven Widerstand, einer Ohnmacht des Sinnes – einer anonymen Widersetzlichkeit. Aber auch das Gute ist zufällig. Man lenkt weder den Leib, indem man ihn unterdrückt, noch die Sprache, indem man sie vom Denken aus kontrolliert, noch die Geschichte, indem man Werturteile fällt; es gilt immer, jede dieser Situationen zu der seinen zu machen, und wenn sie jeweils zu einer anderen werden, so geschieht das spontan. Der Fortschritt hat keine metaphysische Notwendigkeit: Man kann lediglich sagen, daß sehr wahrscheinlich die Erfahrung schließlich die falschen Lösungen ausschalten und aus Sackgassen herausfinden wird. Aber um welchen Preis? Auf wie vielen Umwegen? Es ist nicht einmal prinzipiell ausgeschlossen, daß die Menschheit mitten auf dem Wege scheitert, wie ein Satz, der nicht dazu kommt, zu Ende gebracht zu werden. Gewiß, die Gesamtheit der Wesen, die unter dem Namen des Menschen bekannt sind und durch die bekannten physischen Merkmale bestimmt werden, haben auch eine natürliche Einsicht, eine Öffnung zum Sein gemeinsam, die die Errungenschaften
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der Kultur allen und ihnen allein mitteilbar macht. Aber jener Funken, den wir in jedem sogenannten menschlichen Blick wiederfinden, läßt sich ebensogut in den grausamsten Formen des Sadismus wie in der italienischen Malerei erkennen. Eben dieser Funke bewirkt es, daß von seiten des Menschen und bis zum Ende alles möglich ist. Der Mensch ist von den Tierarten gerade darin absolut unterschieden, daß er über keine ursprüngliche Ausrüstung für seine Existenz verfügt und daß er der Ort des Zufalls ist, der bald in der Gestalt eines Wunders auftritt, so wie man vom griechischen Wunder gesprochen hat, bald in der Gestalt einer ziellosen widersetzlichen Macht. Unsere Zeit ist ebenso weit von einer Erklärung des Menschen durch niedere Triebe entfernt wie von einer Erklärung durch ein höheres Geschick, und zwar aus den gleichen Gründen. Die Mona Lisa aus der sexuellen Lebensgeschichte Leonardo da Vincis erklären oder durch irgendeinen göttlichen Auftrag, dessen Instrument Leonardo da Vinci gewesen wäre, oder durch irgendeine der Schönheit fähigen menschlichen Natur, heißt immer, dem Trugbild der Retrospektive verfallen, immer, im voraus das Verbindliche realisieren – kurz, immer den menschlichen Augenblick par excellence verkennen, in dem ein aus Zufällen gewebtes Leben sich zu sich selbst zurückwendet, sich wieder fängt und sich ausdrückt. Wenn es heute einen Humanismus gibt, so löst er sich von der Illusion, die Valéry richtig bezeichnet hat, als er von »jenem kleinen Menschen« sprach, »der im Menschen ist und den wir immer in ihm voraussetzen«. Die Philosophen haben bisweilen geglaubt, unser Sehen durch das Bild oder die Abbildung der Dinge auf unserer Netzhaut, erklären zu können. Das lag daran, daß sie hinter dem Netzhautbild einen zweiten Menschen mit anderen Augen annahmen, ein anderes Netzhautbild, das die Funktion hätte, das erste zu sehen. Aber mit diesem inneren Menschen im Menschen bleibt das Problem ungelöst, und es bleibt zu verstehen, wie ein Körper sich belebt und wie jene blinden Organe schließlich Träger einer Wahrnehmung werden. Der »kleine Mensch, der im Menschen ist«, ist nur das Phantom unserer gelungenen Ausdruckshandlungen, der Mensch hingegen, den wir bewundern, ist nicht jenes Phantom, sondern
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derjenige, der, eingerichtet in seinem fragilen Leib, in einer Sprache, die schon soviel gesprochen hat, in einer taumelnden Geschichte, sich sammelt und sich anschickt, zu sehen, zu verstehen und zu bedeuten. Der heutige Humanismus hat nichts Dekoratives oder Schickliches mehr. Er liebt nicht mehr den Menschen gegen seinen Körper, den Geist gegen seine Sprache, die Werte gegen die Tatsachen. Er spricht nur noch nüchtern und verhalten vom Menschen und vom Geist: Der Geist und der Mensch sind niemals, sie lassen sich nur in der Bewegung erkennen, durch die der Körper zur Geste, die Sprache zum Werk, ihr Miteinander Wahrheit wird. Zwischen diesem Humanismus und den klassischen Auffassungen besteht lediglich die Beziehung einer Homonymie. Auf die eine oder andere Weise behaupteten letztere einen Menschen göttlichen Rechts (denn der Humanismus des notwendigen Fortschritts ist eine säkularisierte Theologie). Die großen rationalistischen Philosophen gerieten nur deshalb mit der Offenbarungsreligion in Konflikt, weil sie der göttlichen Schöpfung mit irgendeinem metaphysischen Mechanismus Konkurrenz machten, der ebensowenig die Vorstellung von einer zufälligen Welt umgehen konnte. Der heutige Humanismus stellt der Religion keine Welterklärung gegenüber: Er beginnt mit dem Bewußtwerden der Zufälligkeit, er ist die ständige Feststellung einer erstaunlichen Einheit von Tatsache und Sinn, meinem Leib und mir, mir und anderen, meinem Denken und meinem Sprechen, Gewalt und Wahrheit; er ist die methodische Ablehnung von Erklärungen, weil sie das Gemisch, aus dem wir gemacht sind, zerstören und uns selbst unverständlich machen. Valéry sagt tiefgründig: »Man sieht nicht, woran ein Gott denken könnte« – ein Gott und, wie er übrigens anderswo erklärt, ebensosehr ein Dämon. Der Mephistoteles von Mon Faust sagt sehr richtig: »Ich bin das Wesen ohne Fleisch, das weder schläft noch denkt. Sobald jene armen Irren sich vom Trieb entfernen, verirre ich mich in die Laune, die Nutzlosigkeit oder die Tiefe jener Erregungen ihrer Köpfe, die sie ›Ideen‹ nennen … Ich verliere mich in jenen Faust, der mich bisweilen ganz anders zu verstehen scheint, als es nötig wäre,
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als wenn es eine andere Welt als die andere Welt gäbe! … Hier schließt er sich ein und vergnügt sich mit dem, was er im Gehirn hat, hier braut und wiederkäut er jene Mischung aus dem, was er weiß und dem, was er nicht weiß, was sie Denken nennen […] Ich kann nicht denken, und ich habe keine Seele […]«7 Denken ist Menschensache, wenn Denken heißt, immer auf sich selbst zurückkommen, zwischen zwei Ablenkungen den winzigen leeren Raum einschieben, durch den wir etwas erkennen. Eine strenge und – wenn man uns das Wort erlaubt – fast schwindelerregende Idee. Wir müssen uns ein Labyrinth spontaner Schritte vorstellen, die sich aufnehmen, sich manchmal überschneiden und bestätigen, aber auf wie vielen Umwegen und durch welchen Wust von Unordnung hindurch – das heißt, wir müssen begreifen, daß das ganze Unternehmen auf sich selbst beruht. Es wird verständlich, daß unsere Zeitgenossen vor dieser Idee, die sie ebenso wie wir ahnen, zurückschrecken und sich irgendeinem Götzen verschreiben. Der Faschismus ist (von anderen Annäherungen an das Phänomen abgesehen) die Flucht einer Gesellschaft vor einer Situation, in der die Zufälligkeit der moralischen und gesellschaftlichen Strukturen offenkundig ist. Er ist die Angst vor dem Neuen, die gerade die Ideen, die die historische Erfahrung verbraucht hatte, am Leben erhält und bekräftigt, ein Phänomen, das von unserer Zeit bei weitem nicht überwunden ist. Das Wohlwollen, auf das heute in Frankreich eine okkultistische Literatur stößt, stellt etwas Analoges dar. Unter dem Vorwand, daß unsere ökonomischen, moralischen oder politischen Ideen sich in einer Krise befinden, will das okkultistische Denken Institutionen, Bräuche und Zivilisationstypen errichten, die noch viel weniger unseren Problemen entsprechen, die jedoch ein Geheimnis einschließen sollen, das man zu entziffern hofft, indem man sich von den verbliebenen Dokumenten zu Träumen verführen läßt. Während es die Rolle der Kunst, der Literatur, vielleicht sogar der Philosophie ist, Heiliges zu schaffen, sucht der Okkultismus es als schon Vorhandenes, zum Beispiel 7
Mon Faust, S. 156 f.
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in den Sonnenkulten oder in der Religion der amerikanischen Indianer, wobei er vergißt, daß die Ethnologie uns jeden Tag deutlicher zeigt, aus welchen Schrecken, welchem Verfall, welcher Ohnmacht das archaische Paradies oft bestand. So herrscht die Angst vor der Kontingenz schließlich überall, bis in die Lehren hinein, die dazu beigetragen haben, sie an den Tag zu bringen. Während der Marxismus sich ganz und gar auf ein Überholen der Natur durch die menschliche Praxis gründet, verschleiern die heutigen Marxisten, welches Risiko eine derartige Umformung der Welt in sich schließt. Während der Katholizismus, vor allem in Frankreich, von einer Bewegung hartnäckigen Suchens durchdrungen ist, demgegenüber der Modernismus des Jahrhundertbeginns sentimental und verschwommen erscheint, hält die Hierarchie an den abgenutzten Formen der theologischen Erklärung mittels des Syllabus fest. Man versteht sie: Es ist wohl wahr, daß man die Zufälligkeit der Existenz nicht wirklich denken und sich gleichzeitig an den Syllabus halten kann. Es ist sogar wahr, daß die Religion mit einem Minimum erklärenden Denkens verbunden ist. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel gab François Mauriac zu verstehen, daß der Atheismus einen durchaus rühmlichen Sinn erhalten könne, wenn er sich nur auf den Gott der Philosophen und Wissenschaftler bezöge, auf den Gott als Idee. Aber ohne Gott als Idee, ohne das unendliche und schöpferische Denken der Welt, ist Christus ein Mensch, hören Geburt und Passion Christi auf, Taten Gottes zu sein, um zu Symbolen des menschlichen Daseins zu werden. Es wäre unvernünftig, von einer Religion zu erwarten, daß sie die Menschheit, nach dem schönen Wort Giraudoux’ als die ›Karyatide des Leeren‹ begriffe. Doch die Rückkehr zu einer erklärenden Theologie, die zwangsweise auferlegte Bekräftigung des Ens realissimum, führen wieder zu allen Konsequenzen einer massiven Transzendenz, die die religiöse Neubesinnung zu umgehen suchte: Wieder trennen sich die Kirche, ihr heiliges Vermächtnis und ihr jenseits des Sichtbaren liegendes, nicht zu verifizierendes Geheimnis von der tatsächlichen Gesellschaft, wieder sind der Himmel der Prinzipien und die Erde der Existenz entzweit, wieder ist der philosophische
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Zweifel nur eine Formalität, wieder heißt die Widersetzlichkeit Satan, und der Kampf gegen sie ist schon gewonnen. Das okkultistische Denken verbucht einen Pluspunkt. Von neuem wird das Gespräch zwischen Christen und anderen, zwischen Marxisten und anderen schwierig. Wie sollte es auch einen wirklichen Austausch geben zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht weiß? Was soll man sagen, wenn man keine Beziehung, nicht einmal eine dialektische, zwischen dem Staatskommunismus und dem Absterben des Staates sieht, und ein anderer behauptet, er sähe sie? Wenn man keine Beziehung zwischen dem Evangelium und der Rolle des spanischen Klerus sieht, und ein anderer behauptet, das sei nicht unvereinbar. Man ertappt sich manchmal dabei, davon zu träumen, was die Kultur, das literarische Leben, die geistige Ausbildung sein könnten, wenn alle, die daran teilhaben, ein für allemal alle Idole verwürfen und sich dem Glück, gemeinsam nachzudenken, hingäben … Doch dieser Traum ist unvernünftig. Die Diskussionen unserer Zeit sind deshalb so krampfartig, weil sie sich einer ganz nahen Wahrheit verwehrt, weil sie vielleicht näher als irgendeine andere daran ist, ohne verstellenden Schleier, in allen Gefahren der Widersetzlichkeit der Dinge, die Metamorphosen Fortunas zu erkennen.
G EL EG ENT L I CH E Ä U S S E RU NGE N
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DIE PA RANOISCHE POLITIK
Die New York Times vom 14. Februar 1948 veröffentlichte einen Artikel ihres eigenen Korrespondenten C.-L. Sulzberger, dessen Lektüre für uns alle ein Gewinn sein wird. Der Titel lautete: Die anti-rote Bewegung in Europa bewirkt seltsame Allianzen. Der Untertitel: Die neuen Koalitionen suchen Unterstützung von links, um die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Hier die wesentlichen Auszüge des Textes: Die allmähliche Herausbildung antikommunistischer Fronten in Europa bringt merkwürdige ideologische Kombinationen und bizarre politische Idyllen mit sich. Nahezu alle wichtigen politischen Koalitionen in den Ländern, die auf die finanzielle Hilfe des Marshall-Plans hoffen, unternehmen außergewöhnliche Anstrengungen, sich der Linken zuzuwenden und selbst in irgendeiner Form als ›links‹ zu erscheinen, um auf diese Weise die Unterstützung der Arbeiter zu erhalten und das Etikett des Reaktionären zu vermeiden […]. In Frankreich suchen die Regierungskoalition der ›Dritten Kraft‹ und die rechts von ihr stehende gaullistische Bewegung beide ständig nach einer Unterstützung seitens der Arbeiter. So hat mir André Malraux, der berühmte Schriftsteller, der einst mit der Linken in Spanien und China war und der jetzt einer der wichtigsten Berater Charles de Gaulles ist, die Kopie eines von Victor Serge kurz vor seinem Tod im letzten Jahr in Mexiko an ihn adressierten Briefes gezeigt. Im Brief stand: ›Ich möchte Ihnen sagen, daß ich die politische Haltung, die Sie angenommen haben, für mutig und wahrscheinlich vernünftig halte. Wenn ich in Frankreich gewesen wäre, dann hätte ich zu den Sozialisten gezählt, die mit jener Bewegung zusammenarbeiten, der Sie angehören. Ich halte den Wahlerfolg Ihrer Bewegung für einen großen Schritt, der in Richtung der unmittelbaren Rettung Frankreichs getan wurde […]. Die
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Gelegentliche Äußerungen
endgültige Rettung wird in der Folge von der Art und Weise abhängen, wie Sie und so viele andere das erfüllen werden, was ich Ihre zweifache Aufgabe nenne: die Feinde der europäischen Wiedergeburt zu bekämpfen und die Gefahren zu bannen, die wir alle in uns selbst tragen.‹ Herr Malraux, fährt Sulzberger fort, sagt immer, daß er selbst heute ein trotzkistischer Kommunist wäre, wenn Leo Trotzki seine politische Schlacht gegen Joseph Stalin gewonnen hätte. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Herr Serge diese Gefühle teilt. Victor Serge Kibaltschisch, der 52 Jahre alt war, als er starb, war der Enkel des berühmten Kibaltschisch, der seinerseits in Rußland Mitglied des Volkswillens war, der Zar Alexander II. zu ermorden versuchte. In Mexiko war er ein enger Freund von Herrn Trotzki, bis zu dem Tag, an dem letzterer ermordet wurde. […] Eine der großen Schwierigkeiten, denen man bei dem Vorhaben begegnet, eine wirklich freie europäische Arbeiterbewegung zu schaffen, die sich der von Moskau ausgehenden Linksdiktatur widersetzt, besteht darin, gleichzeitig die kompromittierten Elemente der extremen Rechten auszuschalten. Das andere Problem besteht darin, Sozialisten und NichtSozialisten zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Viele sozialistische Anführer würden die neuen freien Gewerkschaften an sich binden wollen. Dennoch bestehen insbesondere die amerikanischen Berater auf der Notwendigkeit, diese Bewegung außerhalb jeder Art von Politik, sogar einschließlich des abendländischen Sozialismus, zu belassen.1 * Die New York Times vom 9. März 1948 veröffentlichte eine kurze Antwort von Natalia Sedowa Trotzki. Tatsächlich war ihr Brief von der Redaktion gekürzt worden. Im folgenden geben wir den vollständigen Text wieder: 1
Wir übersetzen.
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Die paranoische Politik
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An den Chefredakteur der New York Times Sehr geehrter Herr, man hat mich auf die aus Frankreich telegraphierte Nachricht Ihres Auslandskorrespondenten, Herrn C.L. Sulzberger, in der Times vom 14. Februar 1948 aufmerksam gemacht. Die Erklärungen, die Herrn Malraux zugeschrieben werden, enthalten so himmelschreiende Ungenauigkeiten, daß ich Sie inständig bitte, die beigefügte Antwort zu veröffentlichen, obwohl sie, was nicht zu vermeiden war, mit einiger Verspätung bei Ihnen eintrifft. Mit tiefer Empörung sehen wir Malraux, nach Jahren entschiedener Solidarität mit dem Stalinismus, die Rolle eines trotzkistischen Sympathisanten annehmen, in dem Augenblick, in dem er sich mit dem Kern der französischen Reaktion verbündet. {Es handelt sich hierbei, mit einer neuen Form von Verleumdung, nur um ein neuerliches Beispiel des Revolutionärs, der nicht mehr in der Lage ist, von sich aus zu antworten.} Malraux ist nie ein Sympathisant des Trotzkismus gewesen. Er ist im Gegenteil stets sein Feind gewesen; er ist derjenige, der alles daran gesetzt hat, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der Realität abzulenken, im Falle der infamen Moskauer Schauprozesse derart, daß er sie in der New York Times wie einen rein persönlichen Streit zwischen Trotzki und Stalin abhandelte. Malraux’ Vorgehen als Informationsminister der Regierung de Gaulle, einer Koalitionsregierung mit den Stalinisten, als er die französische trotzkistische Presse verbieten ließ, ist an sich bereits ein ausreichender Kommentar zur heuchlerischen Erklärung Malraux’. Wir erleben einmal mehr einen jämmerlichen Versuch, eine Verquickung von Trotzkismus und Faschismus zu erwirken. {Malraux, der dem Anschein nach mit dem Stalinismus gebrochen hat, äfft nur seine ehemaligen Herren nach, wenn er versucht, eine Verbindung zwischen dem Trotzkismus und der Reaktion herzustellen.}
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Gelegentliche Äußerungen
Der Name Victor Serge dient hier dazu, die Legende einer trotzkistischen Unterstützung der Bewegung de Gaulles glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der Bruch zwischen Serge und Trotzki war total und kann durch eine große Anzahl von veröffentlichten Texten belegt werden. {Folgendes schrieb Trotzki in der Nummer 73 des Bulletins der russischen Opposition (Januar 1939): ›Freunde fragen uns, welche Position Victor Serge gegenüber der Vierten Internationale vertritt. Wir müssen antworten, daß es die Haltung eines Oppositionellen ist […] Die russische Sektion wie insgesamt die Vierte Internationale lehnen jede Verantwortung gegenüber der Politik von Victor Serge ab.‹ In der Nummer 79 desselben Bulletins schrieb Leo Trotzki überdies: ›Und Victor Serge? Er hat keinerlei festen Standpunkt […] Seine moralisierende Haltung ist, wie die vieler anderer, die Brücke, die von der Revolution zur Reaktion führt […]‹ Herr Sulzberger gibt zu verstehen, daß zwischen Serge und Trotzki in Mexiko freundschaftliche Beziehungen bestanden hätten. Er weiß offensichtlich nicht, daß Serge im September 1941 in Mexiko ankam, dreizehn Monate nach dem Tod von L. Trotzki. Der Brief von Serge an Malraux kann bei Serge nur das Fehlen eines Standpunktes bestätigen, von dem Trotzki gesprochen hatte.} Soll Malraux, und sollen andere doch machen, was sie wollen; sie werden Trotzki und die Bewegung, die er gegründet hat, nicht in den Schmutz ziehen können. Mit vorzüglicher Hochachtung.2 Natalia Sedowa Trotzki. Coyoacan Mexiko, 16. Februar 1948. * Der amerikanische Freund, dem einer von uns diesen Text zu verdanken hat, fügt Malraux’ Erklärungen hinsichtlich seiner grundsätzlichen Sympathie für die Position Trotzkis, solange
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Unsere Übersetzung.
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er einige Aussicht darauf hatte, über Stalin zu siegen, folgenden Kommentar hinzu: Dieses Geständnis von Malraux ist aus zwei Gründen besonders erstaunlich. Zum einen scheint es das wohlbekannte stalinistische Argument zu bestätigen, dem zufolge die Trotzkisten in Wahrheit Faschisten sind, die mit der Gestapo zusammenarbeiten – und umgekehrt, die Gaullisten Faschisten sind. Es ist recht merkwürdig, daß Malraux sich zu diesem Zeitpunkt solchen Vorwürfen aussetzt. Zudem hat Malraux trotz seiner Bewunderung für Trotzki in zwanzig Jahren politischer Aktivität nie praktisch unter Beweis gestellt, daß er Trotzki Stalin vorzieht. Im Gegenteil, bei der einzigen Gelegenheit, bei der er von Trotzki vor Gericht zitiert wurde, um während der Moskauer Schauprozesse zu seinen Gunsten über ein Thema auszusagen, das für das Leben und die Ehre der Revolutionäre von Bedeutung war, weigerte Malraux sich, zu sprechen. Während des zweiten Prozesses im Februar 1937 erklärte ein russischer Journalist, Vladimir Romm, in seiner Aussage, er habe Trotzki im Juli 1933 heimlich im Bois de Boulogne getroffen und von ihm Instruktionen hinsichtlich der Sabotage in Rußland erhalten. Trotzki antwortete sogleich, auf dem Wege der Vermittlung durch die New York Times, daß er im Juli 1933, gegen Ende des Monats, in Frankreich angekommen sei, daß er die folgenden Wochen in Royan verbracht habe, von der übrigen Welt durch seine Krankheit abgekapselt, und daß Malraux sich unter jenen befunden hätte, die ihn während der letzten Juliwoche besucht hätten. Und er forderte Malraux auf, der gerade in New York angekommen war, dies zu bestätigen oder zu dementieren. Malraux lehnte jede Aussage ab. Von da an denunzierte Trotzki Malraux als stalinistischen Agenten und als einen der Verantwortlichen für die Niederlage der Arbeiterklasse in China im Jahr 1926 (telegraphierte Nachricht der mexikanischen Universal Press vom 8. März 1937). Malraux nahm in einem an die New York Times adressierten Brief (17. März) ›das Recht für sich in Anspruch, später auf das zu antworten, was den Hintergrund der Debatte bilde und was die
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Gelegentliche Äußerungen
Person von Herrn Trotzki und seiner (selbst) bei weitem übersteige‹. Diese Antwort steht noch aus, und man weiß nicht, wann und warum Malraux mit Stalins Regime gebrochen hat, dessen aktiver Verfechter er über so viele Jahre hinweg gewesen ist.3 * Jeder weiß – außer C.-L. Sulzberger –, daß Victor Serge bereits seit Jahren kein Trotzkist mehr war. Im Januar 1939 veröffentlichten Burnham und Schachtman, die damals Mitglieder der Socialist Workers Party Trotzkis waren, in The New International einen Artikel, der gegen die ›Intellektuellen im Ruhestand‹ und die ›Liga der enttäuschten Hoffnungen‹ gerichtet war, und die Herausgeber des letzten Buches von Trotzki ordnen Victor Serge, gemeinsam mit Hook, Eastman, Suwarin und anderen, jener ›Bruderschaft der Renegaten‹ zu. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen dem Trotzkismus Trotzkis, so wie er uns in seinem posthum erschienenen Werk In Defense of Marxism (Pioneer Publishers, Dezember 1942) vorgestellt wird, und der Truppe der ›Intellektuellen im Ruhestand‹, die keineswegs, nur weil sie sich dem Trotzkismus angenähert haben, weil sie mit ihm in Berührung gekommen sind oder sogar in seinen Reihen gekämpft haben, das Recht erworben haben, ihn aus ihren eigenen Enttäuschungen heraus zu kompromittieren. Der Reporter ist nicht nur unwissend. Er trägt auch Züge eines Doppelagenten. Man meint, daß C.-L. Sulzberger Malraux mit diesem Minimum an Zustimmung zuhört, ohne das kein Gespräch zustande kommt. Malraux erklärt, daß er seinem heutigen Handeln den Sinn gibt, den er einer trotzkistischen Aktion gegeben hätte, wenn sie sich als wirksam erwiesen hätte. Wieder zu Hause, spießt Sulzberger Malraux in seiner Sammlung der Hochstapler auf. Seine persönlichen Motivationen (ob sie nun wohlbegründet sind oder nicht, darüber werden wir später noch reden)
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Unsere Übersetzung.
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sind vergessen, und übrig bleibt nichts weiter als ein Komplize im Täuschungsmanöver des weltweiten Antikommunismus.4 Aber er ist keiner der Reporter ohne Artikel, und der Artikel läßt seine Doppelzüngigkeit zum Ausdruck kommen. Wir überraschen ihn dabei, wie er zu seinem Publikum spricht. In seinen Artikeln in der New York Times zeigt Sulzberger keine Hemmungen: Er spricht offen über die amerikanischen Berater, welche die neuen Gewerkschaften von der Politik und sogar von der Ideologie des ›abendländischen Sozialismus‹ fernhalten wollen. Ist der sozialistische Rahmen also für unsere Berater noch zu gefährlich? Ist also jede Anstrengung unserer Koalitionen, sich rot zu kleiden, von vornherein nicht der Mühe wert? Und sind diejenigen, die hier das Manöver anführen, auch die ersten, die von ihm getäuscht werden? Und läßt sich dies alles offen in einer großen amerikanischen Tageszeitung schreiben? Und versteht sich für ihre Leser all dies von selbst? Solche Fragen sind es, die zu denken geben. Was Malraux’ ›Trotzkismus‹ angeht, so ahnt man über die Anspielungen unserer Texte hinweg, was geschehen ist. Malraux schätzte Trotzki und wäre ihm gefolgt, wenn es ihm gelungen wäre, den Lauf der Ereignisse in der UdSSR und in der Welt zu verändern. Er glaubte jedoch nicht mehr an seinen Erfolg. Er glaubte zudem an den revolutionären Sinn des Regimes der UdSSR. Was er auch gegen die Prozesse hätte einwenden können, er wollte es nicht sagen, oder zumindest nicht sofort, da er sich letztlich der kommunistischen Politik anschloß. Alles in allem ist es die Haltung, die in der Condition humaine und insbesondere in L’Espoir zum Ausdruck kommt. Wenn Trotzki Malraux, nachdem er ihn einer Probe unterworfen hatte und eine Weigerung hatte hinnehmen müssen, als Stalinisten denunziert – da Malraux 4 Wir gehen nicht eine Minute lang davon aus, daß Malraux sich der List bewußt ist. Unter diesen Umständen bleibt ihm aber nichts übrig, als darauf hereinzufallen. Benjamin Péret zufolge (Combat, 3. Juni 1948) wird die Echtheit des Briefes von Victor Serge von seinem Sohn vor Gericht bestritten.
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es, unter allen möglichen Vorbehalten (die seinen Anschluß nur noch ansteckender werden ließen), tatsächlich ablehnte, irgendetwas zu tun, das die kommunistische Aktion hemmen könnte, dann gibt es nichts zu sagen. Man kann nicht von jedermann geschätzt werden, man ist, was man zu tun oder zu billigen wählt, selbst stillschweigend. Im Gegensatz dazu treten wir genau dort in die paranoische Politik ein, wo unser amerikanischer Korrespondent im heutigen Malraux das ewige Wesen des Kommunisten wiederzufinden sucht, oder auch Malraux in der Bewegung de Gaulles einen Ersatz für den Trotzkismus. Ersterer argumentiert folgendermaßen: Malraux ist eine Mischung aus Pseudo-Marxismus und reaktionärem Geist. Er verwirklicht folglich den Kompromiß des Marxismus mit der Reaktion, der die stalinistische Definition des Trotzkismus ist. Er dient insofern der stalinistischen Propaganda. Objektiv ist er ein Stalinist. Es bleibt uns überlassen, ob wir daraus schließen, er bleibe es vielleicht auch subjektiv. Er hat sich schließlich nirgends über seinen Bruch mit dem Stalinismus geäußert. Wäre das von ihm abgelegte Geständnis seiner trotzkistischen Neigungen nicht, wie das Geständnis Rubaschows, der letzte Dienst, den er den Stalinisten erweisen könnte? Hier haben wir ein Beispiel dessen, was man das ultra-objektive Denken in der Politik nennen könnte. Für unseren Korrespondenten ist Malraux selbstverständlich nicht, was er zu sein denkt, aber auch nicht, was er in der Dynamik der zu beobachtenden Geschichte ist, nämlich Anti-Stalinist. In der tiefgreifenden Geschichte – die der Angst der Welt vor der proletarischen Revolution entspricht – ist er im Gegensatz dazu Stalinist, weil der Antistalinismus eines Menschen, der ein Anhänger des RPF ist, dem Regime der UdSSR den trügerischen Aspekt eines revolutionären Regimes verleiht und letzten Endes seiner Propaganda dient. So gesehen ist auch Truman Stalinist, ebenso wie die ganze politische Welt, nach Maßgabe ihrer jeweiligen Polarisierung durch die Rivalität der UdSSR und der Vereinigten Staaten. Die Worte haben in dieser Hinsicht keine Bedeutung mehr. Genau so, wie die Wörter ›Saboteur‹ und ›Spion‹ in den Moskauer Schauprozessen keinen
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eindeutigen Sinn mehr haben, da sie nur eindrucksvolle Formen waren, das Wort ›Oppositioneller‹ zu äußern. Nach einem kurzen, summarischen Urteil im Namen der proletarischen Ziele nivelliert sich die ganze gegenwärtige Welt, die nirgends proletarisch ist, und sie verschwimmt in all ihren Teilen. Das Denken, das in höchstem Maße historisch und objektiv sein wollte und das am Ende all die von den Akteuren des Dramas empfundenen und gelebten Unterschiede nicht kennt, sieht sich Phantasmen ausgeliefert, es spiegelt das Höchstmaß an Subjektivität. Malraux gibt sich seinerseits in der Politik dem Ultrasubjektiven hin, wenn er erklärt, daß sich sein Gaullismus von heute nicht wesentlich von seinem Quasi-Trotzkismus von gestern unterscheide, oder daß (Carrefour, 31. März 1948: Gespräch MalrauxBurnham) der französische Antikommunismus »etwas sei, das der Ersten Republik gleiche«. Er verschließt offenbar die Augen vor dem Personal des RPF, das nicht an die Mitglieder des Konvents denken läßt. Er sagt das, von dem er möchte, daß es wahr sei, er verleiht seinem Handeln einen willkürlichen Sinn. Die Zweideutigkeit besteht im übrigen nicht nur zwischen seinem politischen Willen und dem Apparat, in dem dieser Anwendung findet; sie liegt in diesem Willen selbst. Malraux spricht sich für die Freiheit aus (Rede vom 5. März im Pleyel-Saal). »Diese Eroberung«, sagt er (es geht um die Kunst), »ist nur durch eine freie Suche wirksam. Ich rede nicht etwa deshalb so, weil ich an die Überlegenheit der Zensurfreiheit glaube (ich glaube übrigens daran […]), sondern weil alles, was sich diesem unbeugsamen Willen zur Entdeckung entgegenstellt, […] die Lähmung der fruchtbarsten Fähigkeiten des Künstlers ist. Wir proklamieren also die Notwendigkeit, die Freiheit dieser Suche gegen all das aufrechtzuerhalten, was ihr vorab eine feste Richtung vorgeben will.« Und, wenige Augenblicke später: »Für uns liegt die Garantie der politischen Freiheit und der Freiheit des Geistes nicht im politischen Liberalismus, der zum Tode verurteilt ist, sobald ihm die Stalinisten entgegentreten; die Garantie der Freiheit liegt allein in der Stärke des Staates, der im Dienste aller Bürger steht.« Auf die Zweideutigkeit einer Bewegung, die (aus ihrer Führungsriege) eine Hand-
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voll ehemaliger Kommunisten und, wie die Wahlen zeigen, in der Mehrzahl konservative Mitstreiter in sich vereinigt, antwortet die Zweideutigkeit der Absichten, die zwischen der schöpferischen Freiheit und der Stärke des Staates hin und her schwanken. Indem er der Leidenschaft des Schaffens um jeden Preis nachgibt, gewährt Malraux den Blick auf seine Bewegung nur aus seiner eigenen Vergangenheit heraus, er gibt zu verstehen, daß er derselbe bleibt, daß sein Gaullismus von heute sein Trotzkismus von gestern sei … (Hierzu sei nur eine Frage gestellt: Falls Trotzki gegenüber Stalin den Sieg davongetragen hätte, wäre dann auch General de Gaulle ein Trotzkist gewesen?) Wir stehen inmitten des individuellen Nebels. Aber genau in diesem Augenblick, und gerade in dem Maße, in dem er dem Taumel des Ich nachgibt, hört Malraux auf, ein politischer Fall zu sein, er läßt sich von der Welle mitreißen, die Sulzberger anspricht. Aus Gefälligkeit gegen sich selbst wird er zu einer Sache und zu einem Instrument. Die ultra-objektive und die ultra-subjektive Haltung sind zwei Aspekte einer einzigen Krise des politischen Denkens und der politischen Welt. (Nur in diesem Sinne kann man von einem Stalinismus Malraux’ sprechen; man könnte ebenso gut von einem Fideismus der Stalinisten sprechen, und allgemein von einer Finsternis der Wachsamkeit.) Zwischen den politischen Willensäußerungen und den Organisationen, denen sie jeweils anhängig sind, gibt es so wenig Übereinstimmung, daß weder Malraux noch die Stalinisten auf sich nehmen können, was ihre Parteien mit offenen Augen tun. Zwischen dem politischen Denken und der tatsächlichen Geschichte ist der Abstand von der Art, daß es den Trotzkisten nicht gelingt, die Welt, in der wir uns befinden, zu denken. Man findet nur in Träumereien, im Glauben oder in der wahnwitzigen Interpretation Zuflucht. Das politische Handeln wird nur durch eine sorgfältige Untersuchung dieser Situation zur Vernunft zurückkehren, abseits dieser Parteien – und, da die Dinge im Moment nicht vom Denken zu umfassen sind, auf der Basis eines klar umrissenen Programms. *
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Man könnte denken, es sei übertrieben, anläßlich eines Interviews der New York Times eine Krankheit der heutigen Welt anzuprangern – wenn das gemeinsame Funktionieren von Kommunismus und Antikommunismus nicht im selben Augenblick durch die in France-Dimanche (21. März 1948) zu lesende Veröffentlichung eines angeblichen ›Testaments von Trotzki‹ bestätigt worden wäre, das, wie diese Wochenzeitung tiefsinnig behauptet, »mit Sicherheit sowohl von den Kommunisten als auch von den Antikommunisten verwendet werden wird«. Wenn man darlegen könnte, daß Trotzki 1940 die Idee einer proletarischen Revolution außerhalb der UdSSR aufgegeben hat und als uneingeschränktes Ziel die Zerstörung des stalinistischen Apparates ausgegeben hat, dann erhielte man, zugunsten des Stalinismus, den Beweis, daß Trotzki praktisch einen Kompromiß mit allen Feinden der UdSSR geschlossen hatte; gleichzeitig aber eröffnete man allen antikommunistischen Bewegungen die Möglichkeit, sich auf einen großen Revolutionär zu berufen. Der zentrale Teil des angeblichen Testaments ist wunderbar für diesen zweifachen Dienst geeignet. Die Arbeiterklasse der Sowjetunion müßte von diesem Krieg profitieren, um erbitterte Feindseligkeiten gegenüber der bonapartistischen Bürokratie Stalins freizulegen. Wir müßten hierauf dieselbe wütende Energie verwenden wie jene, die Lenin an den Tag legte, als er sich Kerensky während des Ersten Weltkrieges entgegenstellte. Wir wissen, daß unser Erfolg zwangsläufig die Niederlage des Faschismus nach sich ziehen würde, selbst wenn unsere Aktion ihm helfen sollte, einige vorübergehende militärische Erfolge zu erzielen. Ich gehe noch weiter. Ich behaupte, daß unser im Inneren der Sowjetunion über die bürokratisch-bonapartistische Clique Kain-Stalins davongetragener Sieg die conditio sine qua non für den weltweiten Triumph des Proletariats in den fortschrittlichen kapitalistischen Ländern ist. Tatsächlich verzerrt die Existenz eines pseudo-sozialistischen stalinistischen Staates die Perspektiven der Weltrevolution, weil sie die Arbeiterklasse in den fortschrittlichen kapitalistischen Staaten irreführt.
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Gelegentliche Äußerungen
Ich habe lange Zeit geglaubt, eine Revolution in diesen Ländern zöge notwendigerweise den Sturz von Stalins Clique und die Erneuerung der sowjetischen Demokratie nach sich. Ich halte es für wesentlich, den Arbeitern der Welt offen zu erklären, daß ich nicht mehr dieser Meinung bin (im Originaltext unterstrichener Satz). Die stalinistische Bürokratie, die wie ein einfach auf den Körper des Arbeiterstaates gepfropfter Auswuchs begonnen hatte, ist zu seiner unumschränkten Beherrscherin geworden, einer Herrscherin, die von Klasseninteressen mit einer unheilvollen geschichtlichen Bedeutung bestimmt wird. Der Sieg dieser Bürokratie über die Kräfte der Arbeiterdemokratie wird dem finstersten geschichtlichen Zeitabschnitt, den die Menschheit je gekannt haben wird, Tür und Tor öffnen. Es wird die Zeit der Entwicklung einer neuen Klasse aus der bonapartistischen Bürokratie Stalins geborener Ausbeuter sein. Folglich wird es notwendig sein, zu erkennen, daß diese bürokratische Entartung der Sowjetunion den Beweis der angeborenen Unfähigkeit des Proletariats zur Herausbildung einer herrschenden Klasse mit sich bringt, und daß die Sowjetunion international gesehen zum Vorläufer und Embryo eines neuen und schrecklichen Ausbeuterregimes geworden ist (im Text unterstrichen). Sollte das Proletariat der Sowjetunion an seiner Aufgabe scheitern, diesen Krieg dafür zu verwenden, die stalinistische Ausbeutung zu vernichten, dann würden wir unter der Herrschaft einer totalitären Bürokratie in eine Zeit des Niedergangs der menschlichen Gesellschaft eintreten.« Der Text sei, so heißt es in einer einleitenden Bemerkung, von einem sowjetischen Agenten «Ende Juli 1940» gestohlen und nach Moskau geschickt worden. Drei Kopien seien «in den Händen eines persönlichen Freundes von Trotzki, Kibaltschisch (der in Frankreich unter dem Namen Victor Serge bekannte Schriftsteller[…])«, verblieben. Ein Gefährte von Victor Serge habe den Text dann wieder nach Europa gebracht.
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Ein mittels Matrize vervielfältigtes Kommuniqué des Internationalen Sekretariats der IV. Internationale stellt demonstrativ unter Beweis, daß es sich um eine Fälschung handelt. Wie hätte der Kreml denn ein Dokument nicht verwenden sollen, das die Komplizenschaft von Trotzkismus und Nazismus praktisch beweist, sei es in dem Augenblick, in dem Wischinsky zu diesem Punkt von der amerikanischen Presse befragt wurde, sei es, als so begeisterte Werke wie Die große Verschwörung gegen die UdSSR von Sayers und Kahn (1946) erschienen, oder sei es schließlich, als Trotzkis Witwe vom Nürnberger Gerichtshof verlangte, die Archive der deutschen Regierung im Hinblick auf die angeblichen Machenschaften Hitlers und Trotzkis zu untersuchen? Wie sollte die einleitende Bemerkung aus trotzkistischen Kreisen stammen, wo sie doch einen Anschlag, der am 20. August stattfand, auf den 20. Juli 1940 datiert? Wie hätte Victor Serge zum Verwahrer des ›Testamentes‹ bestimmt werden können, wo er doch politisch seit 1936 mit Trotzki gebrochen hatte und sich zum Zeitpunkt von Trotzkis Tod in Frankreich aufhielt? Was den Inhalt des ›Testamentes‹ angeht, so läßt er sich nicht mit den Thesen in Einklang bringen, die Trotzki bis zu seinem Tod aufrechterhalten hat. »Die ganze Argumentation (Trotzkis)«, sagt die IV. Internationale, »kreiste um die Tatsache, daß die stalinistische Diktatur die Diktatur einer neuen gesellschaftlichen Klasse nicht repräsentierte. In zahlreichen Schriften, die sich auf die Jahre zwischen 1935 und 1940 verteilen, hat Trotzki hartnäckig diese Idee verteidigt. Unter den amerikanischen Trotzkisten entflammte Ende 1939 eine heftige Diskussion über die russische Frage. Diese Diskussion setzte sich bis Mai-Juni 1940 fort. In diese Diskussion griff Trotzki mit Artikeln und Briefen ein, die in einem Buch mit dem Titel Verteidigung des Marxismus publiziert wurden. Über die gesamten 200 Seiten dieses Buches hinweg, die unmittelbar vor dem angeblichen Testament geschrieben wurden, kämpft Trotzki sehr heftig gegen die Idee, die Bürokratie bilde eine neue Klasse. Gegen diese Idee kämpft er ebenso im Manifest der außerordentlichen Konferenz, das zur selben Zeit geschrieben wurde, in dem jenes angebliche Testament hätte verfaßt werden sollen.«
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Gelegentliche Äußerungen
Nachfolgend ein Auszug aus diesem Text: »Glücklicherweise finden sich jedoch die verstaatlichte Industrie und die sowjetische Kollektivwirtschaft unter den Errungenschaften, welche die Oktoberrevolution überdauert haben. Auf dieser Basis können die Arbeitersowjets eine neue und bessere Gesellschaft errichten. Wir können diese Basis unter keinen Umständen der Weltbourgeoisie überlassen. Die Aufgabe der Revolutionäre besteht darin, mit allen Mitteln jede von der Arbeiterklasse eroberte Position zu verteidigen, ob es sich nun um demokratische Rechte, um Lohnstufen oder um eine so große Errungenschaft der Menschheit wie die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Planwirtschaft handelt. Diejenigen, die unfähig sind, die bereits erworbenen Errungenschaften zu verteidigen, können niemals für neue Errungenschaften kämpfen. Wir werden die UdSSR mit all unserer Kraft gegen den imperialistischen Gegner verteidigen. Aber die Errungenschaften der Oktoberrevolution werden dem Volk nur dann nützlich sein, wenn es sich in der Lage zeigt, die stalinistische Bürokratie so zu behandeln wie es einst die zaristische Bürokratie und die Bourgeoisie behandelt hat.« (Vierte Internationale, Oktober 1940.) Die Vierte Internationale fährt fort: »Ende Juni 1940 (einen Monat nach der Niederschrift des angeblichen ›Testaments‹) schrieb Trotzki einen Artikel mit dem Titel ›Wir ändern unseren Kurs nicht‹, in dem er aus der Niederlage des imperialistischen Frankreich gegenüber dem deutschen Imperialismus eine Lehre zieht und nachfolgend sein Vertrauen in die revolutionäre Zukunft des Proletariats in Europa verkündet. Er schreibt: ›In den besiegten Ländern wird sich die Lage der Massen sofort bis zum Äußersten verschlechtern. Zur gesellschaftlichen Unterdrückung tritt die staatliche Unterdrückung, deren Hauptlast ebenfalls von den Arbeitern getragen wird. Von allen Formen der Diktatur ist die totalitäre Diktatur eines fremden Eroberers die unerträglichste […] Es ist unmöglich, hinter jeden polnischen, norwegischen, dänischen, holländischen, belgischen oder französischen Arbeiter oder Bauern einen bewaff-
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neten Soldaten zu stellen […] Man kann mit Gewißheit eine schnelle Verwandlung aller eroberten Länder in ein Pulverfaß voraussehen […] Es ist wahr, daß Hitler sich damit rühmte und versprochen hat, die Vorherrschaft des deutschen Volkes auf Kosten ganz Europas und sogar der ganzen Welt ›auf tausend Jahre‹, zu errichten. Aber es ist offensichtlich, daß dieser Glanz nicht von Dauer sein wird, nicht einmal zehn Jahre lang.« (Vierte Internationale, Oktober 1940.) Das Kommuniqué der IV. Internationale fährt fort, indem es zeigt, daß das angebliche Testament einen authentischen Text verfälscht. In einem Artikel mit dem Titel Die UdSSR im Krieg (25. September 1939) hatte Trotzki geschrieben: »Wenn man jedoch annimmt, daß der gegenwärtige Krieg keine Revolution, sondern den Niedergang des Proletariats hervorrufen würde, dann bleibt eine andere Möglichkeit: ein weiterer Verfall des Monopolkapitalismus, seine engere Verschmelzung mit dem Staat und das Ersetzen der Demokratie, überall dort, wo sie noch existiert, durch ein totalitäres Regime. Die Unfähigkeit des Proletariats, die Führung der Gesellschaft in seine eigenen Hände zu nehmen, könnte tatsächlich unter diesen Bedingungen dazu führen, daß sich eine neue Ausbeuterklasse aus der bonapartistischen faschistischen Bürokratie entwickelt. Dies wäre, allen Anzeichen zufolge, ein Regime des Verfalls, das den Untergang der Zivilisation bedeuten würde. Ein entsprechendes Ergebnis könnte sich ergeben, falls sich das Proletariat der hochentwickelten kapitalistischen Länder, nach der Eroberung der Macht, als unfähig erweisen sollte, sie zu halten, und sie, wie in der UdSSR, an eine privilegierte Bürokratie abtreten sollte. Dann wären wir gezwungen zuzugeben, daß der Grund für den bürokratischen Rückfall nicht in der Rückständigkeit des Landes und nicht in der imperialistischen Umklammerung liegt, sondern in der angeborenen Unfähigkeit des Proletariats, eine herrschende Klasse zu werden. Man müßte folglich rückblickend einräumen, daß die grundlegenden Züge der jetzigen UdSSR der Vorläufer eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab waren.« (In Defense of Marxism, S. 9).
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Gelegentliche Äußerungen
Es handelt sich nur um eine Hypothese (die übrigens von Minderheitselementen der S. W. P. aufgestellt wurde, deren Tendenzen Trotzki hier analysiert) – und die Hypothese lautet ausdrücklich, daß das Proletariat der hochentwickelten kapitalistischen Länder in seiner revolutionären Aufgabe gescheitert sei. Das ›Testament‹ verwandelt die Hypothese in eine Behauptung und überträgt die revolutionäre Aufgabe allein dem russischen Proletariat. Auf diese Weise verfälscht man eine marxistische Politik zu einem antikommunistischen Abenteuer. Die Wochenzeitung fürchtet nicht, ihrerseits Verantwortung zu übernehmen, indem sie den Text des Testaments in die Nähe der von Trotzkis Mörder gegenüber dem Sonderberichterstatter von France-Dimanche gegebenen und 1946 in den Kolumnen des Blattes veröffentlichten Erklärungen rückt. Jacques Mornard hatte die »häufigen Besuche des deutschen Konsuls bei Trotzki« erwähnt und erklärt, daß Trotzki ihn nach China und anschließend nach Rußland schicken wollte, um »(seine) Trupps von Saboteuren auszubilden«. »Trotzkis Testament«, stellt FranceDimanche abschließend fest, »veranschaulicht mit einzigartiger Deutlichkeit die Erklärungen seines Mörders.« Alle, die Trotzki gelesen haben und seine Rolle in der Vergangenheit und seine zeitlosen Thesen kennen, werden wie wir denken, daß die Wochenzeitung France-Dimanche sich mit Schande bedeckt, wenn man sie mit einer Fälschung täuschen kann und sie durch diesen Kommentar die polizeiliche Fiktion von Trotzki als Saboteur und Spion glaubwürdig erscheinen läßt. Ein Brief vom 7. Mai kündigt an, daß Trotzkis Witwe FranceDimanche verklagen wird. * Es ist also sicher, daß Trotzkis Thesen nichts mit dem falschen Testament gemein haben – ebensowenig wie mit der Politik des französischen Antikommunismus. Wenn Trotzki aber 1940 seinen Positionen entschieden treu blieb, so hat er doch sehr scharfsichtig die damit verbundenen Schwierigkeiten erläutert; er hat selbst den Fall in Betracht gezogen, in dem sie unerträg-
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lich werden würden und weist mit einem Wort darauf hin, was in diesem Fall zu tun wäre, wobei jeder Kompromiß mit dem reaktionären Antikommunismus selbstverständlich ausgeschlossen wäre. Konkret ist die Schwierigkeit folgende: Wie soll man gleichzeitig die These von der Demokratie der Werktätigen und jene These von der bedingungslosen Verteidigung der UdSSR anwenden, beispielsweise in einem Moment, in dem die UdSSR in Polen einmarschiert (1939)? Trotzki definiert seinen Kurs mit folgenden Worten: Wir wollen uns für einen Moment vorstellen, die Moskauer Regierung ließe, gemäß dem Pakt mit Hitler, die Rechte des Privateigentums in den besetzten Gebieten unberührt und beschränke sich auf eine ›Kontrolle‹ nach faschistischem Vorbild. Ein solches Zugeständnis hätte eine tiefreichende grundsätzliche Bedeutung, es könnte der Ausgangspunkt eines neuen Kapitels in der Geschichte des sowjetischen Regimes sein und folglich ein Ausgangspunkt für uns, die Natur des sowjetischen Staates neu einzuschätzen. Es ist jedoch wahrscheinlicher, daß die Moskauer Regierung in den Gebieten, die Teile der UdSSR werden sollen, die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verstaatlichung der Produktionsmittel durchführen wird. Diese Variante ist wahrscheinlicher, nicht etwa weil die Bürokratie dem sozialistischen Programm treu bliebe, sondern weil sie weder beabsichtigt noch in der Lage ist, die Macht und die Privilegien, die letztere mit sich bringt, mit den alten herrschenden Klassen in den besetzten Gebieten zu teilen. Eine Analogie bietet sich hier von selbst an. Der erste Bonaparte hat der Revolution mittels einer Militärdiktatur ein Ende gesetzt. Dennoch unterschrieb er, als die französischen Truppen in Polen einmarschierten, einen Erlaß, der besagte: ›Die Leibeigenschaft ist aufgehoben.‹ Diese Maßnahme wurde weder von Napoleons Sympathien gegenüber den Bauern noch von demokratischen Prinzipien diktiert, sondern eher von der Tatsache, daß die bonapartistische Diktatur sich selbst nicht auf feudale, sondern auf bürgerliche Eigentumsverhältnisse stützte. Da die bonapartistische Diktatur Stalins nicht auf pri-
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vatem, sondern auf Staatseigentum beruht, müßte die Invasion Polens durch die Rote Armee […] mit der Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums enden, um auf diese Weise die Regierungsform der besetzten Gebiete der Regierungsform der UdSSR anzupassen […] Wir betrauen den Kreml nicht mit irgendeiner historischen Aufgabe. Wir waren und wir sind gegen jede Besitznahme neuer Gebiete durch den Kreml. Wir sind für die Unabhängigkeit der sowjetischen Ukraine und, wenn die Weißrussen selbst es wünschen, für die Unabhängigkeit des sowjetischen Weißrußlands. Gleichzeitig müssen die Mitglieder der Vierten Internationale in den von der Roten Armee besetzten Teilen Polens die entscheidende Rolle spielen bei der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Kapitalisten, bei der Aufteilung des Landes unter den Bauern, bei der Schaffung von Arbeiterkomitees und Sowjets etc. Dabei müssen sie ihre politische Unabhängigkeit bewahren, sie müssen während der Wahlen zu den Sowjets und den Fabrikkomitees für die völlige Unabhängigkeit der letzteren von der Bürokratie kämpfen; außerdem müssen sie revolutionäre Propaganda führen, die vom Mißtrauen gegenüber dem Kreml und seinen örtlichen Vertretungen geprägt ist. Nehmen wir aber an, Hitler wende seine Waffen nach Osten und greife die von der Roten Armee besetzten Gebiete an. Unter diesen Bedingungen werden die Kämpfer der Vierten Internationale, ohne auf irgendeine Weise ihre Haltung gegenüber der Kremloligarchie zu ändern, den militärischen Widerstand gegen Hitler, als die dringendste Aufgabe der Stunde, in den Vordergrund stellen. Die Arbeiter werden sagen: ›Wir können Hitler nicht den Sturz Stalins überlassen; das ist unsere eigene Aufgabe.‹ Im militärischen Kampf gegen Hitler werden sich die revolutionären Arbeiter bemühen, mit den einfachen Soldaten aus den Reihen der Roten Armee möglichst enge kameradschaftliche Bande zu knüpfen. Während die Bolschewiki-Leninisten Hitler mit der Waffe in der Hand bekämpfen, werden sie gleichzeitig revolutionäre Propaganda gegen Stalin
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führen, um seinen Sturz im nächsten und vielleicht sehr nahen Stadium vorzubereiten (›at the next and perhaps very near stage‹).5 Fest steht, daß dies genau die Sprache von 1917 ist – dem Gewissen ebenso treu wie der Aktion. Fest steht auch, daß die polnischen Kämpfer, die diesem Kurs gefolgt wären – die ihm gefolgt sind –, ihm nicht lange folgen mußten. Kann man in der Lage einer expandierenden Sowjetunion mit dem stalinistischen Apparat eine öffentliche Diskussion beginnen, ohne politisch eliminiert zu werden? Kann man für die Kollektiv- und Planwirtschaft arbeiten, ohne zugleich für den stalinistischen Apparat zu sein? Kann man den Stalinismus und die Errungenschaften der Oktoberrevolution in der Aktion voneinander trennen? Kann man durch Analyse die Grundlagen des Oktoberregimes und den bürokratischen Apparat auseinanderhalten? Ist die Bürokratie nicht nur eine Kaste, ein Parasit, oder ist sie fortan so eng mit dem Regime verbunden, daß sie ein unentbehrliches Teilstück seines Funktionierens ist? Trotzki sagte, der Begriff ›Kaste‹ (den er für die sowjetische Bürokratie verwendet) habe keinen wissenschaftlichen Charakter.6 Es handele sich um eine historische Analogie, die man vorübergehend einsetzen dürfe, um eine Soziologie der Gegenwart zu betreiben, und solange, wie die entsprechende Wirklichkeit noch zweideutig sei. Er erkennt auf diese Weise an, daß seine Thesen zu einer erneuten Prüfung Anlaß geben könnten, wenn sich herausstellen sollte, daß im Funktionieren der UdSSR die Grundlagen des Regimes und der Apparat weder theoretisch noch praktisch mehr voneinander zu trennen sind. Die marxistische Perspektive selbst würde unter diesen Umständen in Frage gestellt, da die Fakten am Rande der marxistischen Alternative von Kapitalismus oder Sozialismus einen Gesellschaftstyp auftauchen ließen, der sich durch keinen der beiden Begriffe definieren ließe. Daher heißt es in einem Text, der auf 5 The USSR in war (25. September 1939), In Defense of Marxism, S. 20. Unsere Übersetzung. 6 In Defense of Marxism, S. 6.
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jenen Text folgt, von dem das oben genannte trotzkistische Kommuniqué spricht: »Die historische Alternative, zu Ende geführt, ist folgende: Entweder ist Stalins Regime ein widerlicher Rückfall im Prozeß der Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische, oder Stalins Regime ist die erste Phase einer neuen auf Ausbeutung gegründeten Gesellschaft. Sollte sich die zweite Prognose als richtig herausstellen, dann wird die Bürokratie selbstverständlich eine neue Ausbeuterklasse werden. Wie beschwerlich der zweite Ausblick auch immer sein mag, wenn sich das Weltproletariat tatsächlich als unfähig erweisen sollte, den Auftrag zu erfüllen, der ihm vom Verlauf der Entwicklung gestellt wurde, dann müßte man notgedrungen anerkennen, daß das sozialistische Programm, das auf die inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft gegründet ist, letztlich eine Utopie ist. Es ist selbstverständlich, daß ein neues ›Minimalprogramm‹ erforderlich wäre – zur Verteidigung der Interessen der Sklaven der totalitären bürokratischen Gesellschaft.«7 Es handelt sich hierbei, wir wollen es noch einmal wiederholen, nur um eine Hypothese, und Trotzki verschob das Urteil über die Fakten an das Ende der gegenwärtigen Zeitspanne: »Es ist ganz selbstverständlich, daß, wenn sich das internationale Proletariat als Ergebnis der Erfahrung unserer ganzen Epoche und des gegenwärtigen neuen Krieges als unfähig erweisen sollte, Herr der Gesellschaft zu werden, dies das Scheitern aller Hoffnung auf eine sozialistische Revolution bedeuten würde, denn es ist unmöglich, irgendwelche anderen günstigeren Voraussetzungen dafür zu erwarten; jedenfalls sieht sie niemand voraus oder wäre in der Lage, sie zu definieren. Marxisten haben nicht das geringste Recht (wenn Enttäuschung und Ermüdung nicht für ›Rechte‹ gehalten werden), die Folgerung zu ziehen, das Proletariat habe seine revolutionären Möglichkeiten preisgegeben und müsse alles Streben nach Vorherrschaft in der unmittelbar folgenden Zeit aufgeben. Fünfundzwanzig Jahre haben in geschichtlichem Maßstab, wenn es um tiefreichendste Veränderungen der 7
Ebd., S. 9.
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ökonomischen und kulturellen Systeme geht, weniger Gewicht als eine Stunde im Leben eines Menschen. Was wäre ein Individuum wert, das wegen irgendeines konkreten Fehlschlags im Verlauf einer Stunde oder eines Tages auf das Ziel verzichtete, das es sich selbst aufgrund einer Erfahrung oder einer Analyse seines ganzen früheren Lebens gesetzt hat? In den Jahren der dunkelsten russischen Reaktion (von 1907 bis 1917) haben wir die revolutionären Möglichkeiten, die das russische Proletariat 1905 entdeckt hatte, zum Ausgangspunkt genommen. In den Jahren der Weltreaktion müssen wir von den Möglichkeiten ausgehen, die das russische Proletariat 1917 aufgezeigt hat. Nicht zufällig nennt sich die Vierte Internationale die Weltpartei der sozialistischen Revolution. Unser Weg darf nicht geändert werden. Wir halten unseren Kurs auf die Weltrevolution und gerade von dort aus auf die Wiederherstellung der UdSSR als Arbeiterstaat.«8 In dieser bemerkenswerten Passage geht Trotzki nicht (wie so viele Mesner des Marxismus) im Namen einer dogmatischen Geschichtsphilosophie, die auf der Annahme einer wie auch immer gearteten Offenbarung des Weltgeistes beruht, der Grundsatzfrage aus dem Weg, er verschiebt sie nur, durch eine Gegenüberstellung, auf die Erfahrung des Scheiterns, die Erfahrung des Sieges und der Jahre seines Lebens, in denen die Geschichte unzweideutig auf die Vernunft antwortete. Dies aber heißt behaupten, daß für uns, die das Jahr 1917 nicht erlebt haben, eine andere Perspektive möglich ist. In dem Maße, in dem wir besser über die relative Wichtigkeit der Zwangsarbeit und der freien Arbeit in der UdSSR informiert sind, über das Ausmaß des Lagersystems, über die Quasi-Autonomie des Polizeisystems, wird es immer schwieriger, die UdSSR als Übergang zum Sozialismus oder sogar als degenerierten Arbeiterstaat zu sehen, kurz gesagt: sie auf 1917 zu beziehen. Mehr noch: Da sich in der UdSSR selbst, auf der jeweiligen Basis der Kollektivproduktion, Verhältnisse der Ausbeutung verfestigen, und da sich die Proletarier in der ganzen Welt weniger als vor dreißig Jahren ihrer 8
Ebd., S. 15.
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geschichtlichen Mission bewußt zu sein scheinen, kommen wir zur Frage, ob das Jahr 1917 wirklich den Zeitpunkt des Hervortretens einer geschichtlichen Logik markiert hat, die früher oder später die Probleme und Lösungen des Marxismus wieder mit sich bringt, oder ob 1917 nicht, ganz im Gegenteil, eine Chance war, ein privilegierter Fall, der außerordentlich günstig für die marxistische Sicht der Geschichte ausfiel. Angenommen, dies sei die herrschende Meinung, dann hätten weder der RPF noch der Antiamerikanismus irgendeinen Gewinn daraus zu erwarten. Wenn wir Malraux, Koestler, Thierry Maulnier, Burnham etc., der ›Liga der verlorenen Hoffnungen‹, den ›Intellektuellen im Ruhestand‹ etwas übel nehmen, dann genau die Tatsache, daß sie hinter den Marxismus zurückgefallen sind, obwohl sie ihn entweder erlebt oder zumindest verstanden haben, und obwohl sie der von uns gestellten Frage begegnet sind. Sie haben nicht versucht, trotz allem dem Humanismus aller Menschen einen Weg zu bereiten, sie haben, jeder auf seine Weise, dem Chaos zugestimmt und sich in den Ruhestand verabschiedet. Sie haben sich der Aufgabe entzogen, das Minimalprogramm, von dem Trotzki sprach, zu entwerfen. Trotzki und seine Partei haben die Frage in Form einer Hypothese gestellt – und die Antwort auf später verschoben. Diese Diskussion um das falsche Testament dürfte nicht schlicht und einfach mit einem Exposé des klassischen Trotzkismus enden. Trotzkis Grab wird, wenn man den Fotografien in den Zeitungen Glauben schenken darf, von einer Sichel und einem Hammer geziert, ohne jeden Unterschied zum Emblem der UdSSR. So erklärt er sich auch weiterhin solidarisch mit den Errungenschaften der Oktoberrevolution. Dies aber ist das Schicksal Trotzkis, es ist Trotzki, der sein Leben zu einem Abschluß bringt. Der Trotzki, der in seinem Geschriebenen noch lebt, suggeriert eine Frage, auf die sein Grabstein nicht antwortet. Es läge bei uns allen, darauf zu antworten. (Juli 1948)
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M A R X I SM US U N D A BE RG L AU BE
Der Marxismus hat stets zugegeben, daß die kulturellen Werte, ebenso wie alles Übrige, der gesellschaftlichen Geschichte fest verbunden waren, aber er hat nie eingestanden, daß beide Entwicklungen Punkt für Punkt parallel zueinander verliefen, daß also die Literatur und die Kritik einfache Hilfsmittel der politischen Aktion, Spielarten der Propaganda waren. Engels sagte, die Evolutionskurve der Ideologien sei sehr viel komplizierter als die Kurve der politischen und gesellschaftlichen Evolution. Marx spricht in einer berühmten Passage vom ›ewigen Reiz‹ der griechischen Kunst. Er hat folglich ein Register der Kunst (und gewiß auch der Literatur) erkannt, in dem Vorwegnahmen oder sogar ›ewige‹ Errungenschaften möglich waren. Dies war der optimistische Kommunismus, der auf die Spontaneität des Schriftstellers oder des Künstlers vertraute, auf die ihrem inneren Wesen entsprechende Entfaltung ihrer Kultur, und er gibt ihnen keine andere Anweisung außer der, aus vollstem Herzen Schriftsteller oder Künstler zu sein, ist er doch überzeugt, daß es hierbei nie zu einem Konflikt kommen kann, sondern im Gegenteil nur zur Übereinstimmung und zu einer Begegnung zwischen den Forderungen der Kultur und der revolutionären Aktion. Der heutige Kommunismus verhält sich dagegen, als gebe es in kulturellen Angelegenheiten keine intrinsischen Kriterien mehr, als seien Literatur und Wissenschaft, neben vielen anderen Maßnahmen, nur Mittel der unmittelbar politischen Aktion, die selbst einfach als Verteidigung der UdSSR begriffen wird. 1946 verteidigte Lukács seine Vorstellung von Selbstkritik in der Terminologie der Kultur: Sie sei das von den Schriftstellern, den Philosophen und den Wissenschaftlern stets für sich in Anspruch genommene Recht, über das hinauszugehen, was sie zuvor gesagt oder geschrieben hatten, ihre eigene Vergangenheit zu verstehen und zu beurteilen, zu reifen und zu wachsen, ohne die
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offensichtlichen Widersprüche zu fürchten, ohne die Sorge, auch weiterhin formal mit sich übereinzustimmen, was in Wirklichkeit eine dekadente Anmaßung ist: die Anmaßung, ein Werk totalisieren zu können, noch bevor es begonnen wurde, einen posthumen Blick auf ein Leben werfen zu können, das noch nicht gelebt wurde. Kurz und gut, wir bezweifeln, daß diese Theorie der Selbstkritik jene Formen der Selbstkritik rechtfertigen konnte, die Lukács ab 1946 praktizierte: Wir können kaum glauben, daß es vom Hegelianismus in Geschichte und Klassenbewußtsein bis zu der realistischen Erkenntnistheorie in den jüngsten Werken einen Reifungsprozeß oder ein Wachstum geben soll. Aber letztlich war zumindest die Theorie unversehrt. Sie war tatsächlich das dem Schriftsteller zugestandene Recht, sich zu täuschen, war die nachdrücklich wiederholte Bekräftigung der Schwierigkeiten und sogar der Zweideutigkeiten des Ausdrucks und der Kultur. Und andererseits war der offensichtliche Liberalismus jener, die seine frühen Werke gegen Lukács verteidigten, vielleicht nur eine gerissene Art, ihn in seiner prä-marxistischen Vergangenheit einzusperren. Heute geht es nicht mehr darum, auf dem Gebiet der Literaturgeschichte nach dem Augenblick zu suchen, in dem der Roman zu seiner größten Ausdruckskraft gelangte, oder herauszufinden, ob Tolstoi und Goethe einen ›ewigen Reiz‹ besitzen, der sie zu Vorbildern werden läßt. Die Vorbilder wurden längst gefunden: Da es in Rußland eine Revolution gegeben hat, zeichnet sich eben auch in Rußland die Zukunft der Literatur ab. Die Verteidigung der UdSSR erfolgt auf dem Gebiet des Romans in ebenso scharfem Ton wie auf dem Gebiet der Diplomatie, sie ist nicht eine der revolutionären Pflichten, sie ist die einzige. Der Rest ist Okzidentalismus. Die von Lukács geübte Selbstkritik im Sinne von 1946 war eine Kulturgegebenheit. Im heutigen Sinne ist sie gerade deren Negation. 1937 erklärte sich Bucharin, als er seine Haltung der vergangenen Jahre in der Perspektive der Weltlage betrachtete, für kriminell, da er eine Opposition gebildet habe, aber er lehnte es ab, sich als Spion oder Saboteur zu bekennen. 1949 gibt sich Rajk, ent-
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gegen allem, was man über ihn wußte, als amerikanischer Agent aus. 1946 beanspruchte Lukács für den Schriftsteller das Recht, über seine Vergangenheit hinauszugehen, 1949 muß er seine Arbeiten als Kritiker und Ästhetiker abqualifizieren, als sei die hohe Wertschätzung, die er Tolstoi und Goethe entgegenbrachte, nur Gedankenlosigkeit und Übereilung gewesen. Auf diese Weise geht der Kommunismus von der historischen Verantwortung zur bloßen Disziplin über, von der Selbstkritik zur Verleugnung, vom Marxismus zum Aberglauben. (Dezember 1949)
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DI E U D S S R U N D DI E L AG E R
Es steht also fest, daß die sowjetischen Bürger im Laufe der Ermittlungen deportiert werden können, ohne Urteil und ohne zeitliche Begrenzung. Das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit der RSFSR1 stellt das Prinzip der administrativen Entscheidung nur für die Straferziehungsarbeit ohne Freiheitsentzug auf.2 Es erwähnt es jedoch in Artikel 443 sehr deutlich hinsichtlich des 1 Chronologische Sammlung der Gesetze und Dekrete des Präsidiums des Obersten Sowjets und Rechtsverordnungen der Regierungen der RSFSR am 1. März 1940. Bd. 9, OGIZ (Zusammenschluß der staatlichen Verlagshäuser Gospolitizdat, 1941). 2 Abschnitt I des Gesetzbuches, Artikel 8. 3 Artikel 44 des Abschnitts II (Freiheitsentzug). »Folgende Personen können an die in Artikel 28 des gegenwärtigen Gesetzbuches angegebenen Orte des Freiheitsentzuges geschickt werden: a) Verurteilte Personen, für einen Zeitraum von nicht mehr als drei Jahren; b) Personen, deren Fall sich in laufenden Ermittlungen oder in einem Prozeßverfahren befindet, auf Anweisung der zuständigen Gremien (Hervorhebung von uns); c) Verurteilte Personen, für Zeiträume von mehr als drei Jahren […]« Die in Artikel 28 erwähnten Orte des Freiheitsentzuges sind insbesondere: »a) Gefängniszellen […]; b) Sammelstellen zur Deportation; c) Kolonien zur Straferziehungsarbeit, Industriekolonien, landwirtschaftliche Kolonien der Massenarbeit, Strafkolonien« (Artikel 28), die derselbe Artikel um Einrichtungen zur Gesundheitsüberwachung und Einrichtungen für Minderjährige unter Freiheitsentzug ergänzt. Nur die Personen, deren Fall sich in laufenden Ermittlungen befindet, können in Gefängniszellen festgehalten werden (Art. 29). Aber sie werden dort nicht notwendigerweise festgehalten. Sie tauchen vielmehr in Artikel 31 wieder auf, der die Sammelstellen zur Deportation betrifft: »Die Personen, deren Freiheit entzogen wurde, oder diejenigen, deren Fall sich noch in laufenden Ermittlungen befindet, werden in den Sammelstellen zur Deportation von den Verurteilten getrennt.« Dem Einsperren in der
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Die UdSSR und die Lager
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Entzugs der Freiheit und der Deportation. Es ist folglich unmöglich, wie Pierre Daix4 die These aufrechtzuerhalten, die administrative Entscheidung gelte nur im harmlosen Fall der Straferziehungsarbeit ohne Freiheitsentzug. Es steht außerdem fest, daß der repressive Apparat in der UdSSR eine andere Art von Macht errichten will. Eine Verordnung vom 27. Oktober 19345 überträgt dem NKWD die Leitung und die Verwaltung der Straferziehungsarbeit, die bis dahin dem Volkskommissariat für Justiz unterstand. Das System hat seine eigenen Einnahmen, die ihm aus der Arbeit der Häftlinge zufließen und die insbesondere dem Unterhalt des Verwaltungsapparates dienen.6 Die Produktion wird von Industrie- und Finanzplänen geregelt, die vom Direktorium der Einrichtungen zur Straferziehungsarbeit aufgestellt und nur vom Volkskommissariat für Justiz unterzeichnet werden. Es steht drittens fest, daß der geordnete Ablauf der Straferziehungsarbeit durch eine Gewaltübertragung auf die gewöhnlichen Strafgefangenen sichergestellt wird7 – nach einer Methode, die sich bewährt hat. Schließlich, da sich die offiziellen Bekanntmachungen auf hundertsiebenundzwanzigtausend Häftlinge berufen, die auf Entscheidung der Regierung nach dem Fertigstellen des Kanals vom Baltikum bis zum Weißen Meer und des Kanals von Moskau bis zur Wolga entlassen worden seien, ist es unter BerückZelle folgt nicht notwendigerweise ein Erscheinen vor einem Tribunal: »Die Personen werden nur bis zum Inkrafttreten des vom Tribunal gefällten Urteilsspruchs oder des Dekretes der anderen zuständigen Gremien in Gefängniszellen festgehalten« (Hervorhebung von uns, Art. 29). 4 Pourquoi D. Rousset a-t-il inventé les camps soviétiques?, S. 6. 5 Dieselbe Sammlung, Zusatz zum Artikel 129 des Gesetzbuches zur Straferziehungsarbeit. 6 Dieselbe Sammlung, Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, Artikel 139 a. 7 Dieselbe Sammlung, Art. 87 des Gesetzbuches: »Ins Überwachungskommando werden die sichersten Häftlinge berufen – die Arbeiter – die Personen, die in erster Instanz wegen gewöhnlicher Verbrechen verurteilt wurden.«
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sichtigung des Umfangs dieser Baustellen in der Gesamtheit des Apparates wahrscheinlich, daß sich die Gesamtzahl an Häftlingen auf mehrere Millionen beläuft: Die einen sagen zehn Millionen, die anderen fünfzehn. Wenngleich hierin keine Klarheit herrscht, so wird man doch zugeben, daß diese Fakten die Bedeutung des russischen Systems gänzlich in Frage stellen. Wir wenden hier nicht Péguys Prinzip auf die UdSSR an, das besagte, jedes Gemeinwesen, das auch nur ein einziges individuelles Elend in sich berge, sei ein verfluchtes Gemeinwesen: So gesehen seien sie alle verflucht, und man müsse zwischen ihnen keine Unterschiede machen. Wir sagen indes, daß es keinen Sozialismus gibt, wenn jeder zwanzigste Bürger in einem Lager steckt. Es nützt nichts, hier zu entgegnen, jede Revolution habe ihre Verräter, oder der Klassenkampf sei mit dem Aufstand noch nicht zu Ende, oder die UdSSR könne sich nicht gegen den äußeren Feind zur Wehr setzen, wenn sie den inneren Feind schone, oder Rußland könne nicht ohne Gewalt in die Großindustrie einsteigen … Diese Antworten haben keine Gültigkeit, wenn es, nach einem Dritteljahrhundert, um ein Zwanzigstel der Bevölkerung geht – ein Zehntel der männlichen Bevölkerung. Wenn es in der UdSSR auf zwanzig Einwohner einen Saboteur, einen Spion oder einen Faulenzer gibt, wo doch mehr als eine Säuberungsaktion das Land bereits hat ›gesunden‹ lassen, wenn man heute zehn Millionen Sowjetbürger ›umerziehen‹ muß, wo doch die Säuglinge vom Oktober 1917 inzwischen gut zweiunddreißig Jahre alt sind, so liegt dies daran, daß das System selbst und unaufhörlich wieder seine Opposition schafft. Wenn es eine ständige Repression gibt, und wenn der repressive Apparat, weit davon entfernt, resorbiert zu werden, sich im Gegenteil verselbständigt, so liegt es daran, daß sich das Regime in einem Ungleichgewicht einrichtet, daß die Produktivkräfte durch die Produktionsformen erstickt wurden. Wenn die gewöhnlichen Strafgefangenen für das Regime eher als sichere Menschen erscheinen als die politischen Gefangenen, dann deshalb, weil es sich eher mit dem ›Lumpenproletariat‹ abfindet als mit ›bewußten Proletariern‹.
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Wenn man ernsthaft ist, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als dieser permanenten Krise des russischen Regimes ins Auge zu sehen: Hält sie am eigentlichen Prinzip der Kollektivproduktion fest, oder bevorzugt sie das Staatseigentum und das Modell der Planwirtschaft, wie es in Rußland praktiziert wird? Kommt sie aus der politischen Struktur der UdSSR, und betrifft sie, unter dieser Annahme, nur die stalinistische Phase oder war sie gar in der bolschewistischen Organisation der Partei vorgeformt, und wenn man dies glaubt, welche andere politische Formation kann man sich vorstellen, welche Garantien kann man sich gegen diesen Verfall ausdenken? Diese und andere Fragen können nicht vermieden werden. Einer von uns schrieb an dieser Stelle vor zehn Jahren, die sowjetische Gesellschaft sei zwiespältig und man finde darin Zeichen des Fortschritts, aber auch Symptome des Rückschritts. Wenn die Zahl der Lagerinsassen sich auf zehn Millionen beläuft – während am anderen Ende der sowjetischen Hierarchie die Gehälter und der Lebensstandard fünfzehn- bis zwanzigmal höher sind als die der freien Arbeiter –, dann wandelt sich die Quantität in Qualität, das ganze System schwenkt um und ändert seinen Sinn, und trotz der Verstaatlichung der Produktionsmittel, obwohl die private Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Arbeitslosigkeit in der UdSSR unmöglich sind, fragt man sich, weshalb wir sie betreffend noch von Sozialismus reden. Solcher Art sind die Fragen, denen sich die französische und europäische äußerste Linke widmen müßte – anstatt ihre Zeit für Plädoyers ohne Zukunft zu verwenden: André Wurmser, der vor einigen Monaten sagte: Es gibt in Rußland keine Lager; Pierre Daix, der vor wenigen Wochen behauptete, die Lager seien »einer der schönsten Ruhmestitel des sowjetischen Regimes«8. *
8 Pierre Daix: Pourquoi David Rousset a-t-il inventé les camps soviétiques?, S. 12.
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Gelegentliche Äußerungen
Ja, die Frage wird immer dringlicher: Wie konnte der Oktober 1917 auf diese grausam hierarchisch gegliederte Gesellschaft hinauslaufen, deren Züge sich immer deutlicher vor unseren Augen abzeichnen? Bei Lenin, bei Trotzki, geschweige denn bei Marx findet sich kein Wort, das nicht vernünftig wäre, das nicht heute noch zu den Menschen aller Länder sprechen würde, das uns nicht dazu diente, zu verstehen, was bei uns geschieht. Und, nach so viel Scharfblick, Aufopferung und Intelligenz – die zehn Millionen sowjetischer Deportierter, die Dummheit der Zensur, die Panik der Rechtfertigungen … Wenn unsere Kommunisten die Frage ignorieren wollen, dann hören ihre Gegner kaum mehr, daß sie gestellt wurde, und nichts in dem von ihnen Geschriebenen liefert uns den kleinsten Ansatz einer Antwort. Von einer Neurose zu sprechen bedeutet nicht, auf die Frage zu antworten: Liest man die Aussagen ehemaliger Häftlinge, so findet man in den sowjetischen Lagern nicht jenen Sadismus, jene Religion des Todes und jenen Nihilismus, die – in einer paradoxen Verbindung mit präzisen Interessen, und mal in Einklang, mal im Widerstreit mit ihnen – schließlich die nationalsozialistischen Vernichtungslager hervorgebracht haben. Ebensowenig bedeutet es, auf unsere Frage zu antworten, wenn man die Bürokratie und die ihr eigenen Interessen anzweifelt: Man sieht kaum Menschen, die sich allein vom Interesse lenken lassen, sie verschaffen sich stets Überzeugungen. Im übrigen sind das Interesse wie der Sadismus besser getarnt. Man bemerkt nicht genügend, daß man das Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit, das von dem britischen Abgeordneten vor der UNO und von Rousset im Figaro Littéraire wie eine Offenbarung präsentiert wurde, seit 1936 in seiner englischen Version bei den Verlegern Smith und Maxwell, Chancery Lane, London, für drei Shilling sechs Pence kaufen konnte. Die Befreiung von hundertsiebenundzwanzigtausend Häftlingen wurde offiziell in Moskau bekanntgegeben.9 Es 9 Ein antinazistischer Deutscher, der aus der deutschen Armee desertiert war, um sich den Russen anzuschließen, und der von ihnen zur Zwangsarbeit eingesetzt wurde, sagte uns, die Existenz der Lager und die
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ist wohl wahrscheinlich, daß die Entwicklung, die vom Oktober 1917 zu den zehn Millionen Sklaven führt und die, nach und nach, bei gleich bleibenden Formen oder Worten, den Sinn des Systems verändert, sich von Schritt zu Schritt vollzogen hat, ohne eine bestimmte Absicht zu verfolgen, von Krise zu Krise, von Notlösung zu Notlösung, und daß sie sich, in ihrer sozialen Bedeutung, ihren eigenen Schöpfern entzieht. In der jedesmal zwingenderen Alternative, diese Entwicklung zu verschlimmern oder politisch zu verschwinden, fahren sie fort, ohne zu verstehen, daß sich das Unternehmen unter ihren Händen wandelt. In Ermangelung eines Hintergrundes, vor dem sie diese Entwicklung sehen könnten, wundern sich die Besten sicherlich über jene Haßrufe, die ihnen aus der kapitalistischen Welt entgegenschallen … Sehen wir genau hin. Die Formeln des Gesetzbuches zur Straferziehungsarbeit sind die Formeln eines geradezu paradiesischen Sozialismus: Es geht nicht mehr darum, zu bestrafen, sondern darum, umzuerziehen; die Kriminellen sind Blinde, man muß sie nur zum Licht führen; in einer Gesellschaft, aus der die Ausbeutung verbannt wurde, sind die Faulheit und die Revolte Mißverständnisse; man muß den Asozialen vor dem tugendhaften Zorn des einmütigen Volkes schützen, während man gleichzeitig das Volk vor den Unternehmungen dieses Rückständigen schützt; das Beste ist, ihn wieder arbeiten zu lassen und ihm dabei mit viel Nachsicht die Größe der neuen Gesellschaft zu erklären. Woraufhin er, besänftigt und gerettet, wieder seinen Platz im gemeinschaftlichen Werk einnehmen wird … Gedanken des 19. Jahrhunderts, die anrührend bleiben und die vielleicht tiefgreifender sind, als man meint, denn alles in allem ist es bis heute noch nie gelungen, die Menschen zu Beginn mit wirklich vergleichbaren Chancen auszustatten, da man sie nie durch das Gute in Versuchung geführt hat … Und mit einem Mal beginnen diese Jugendideen Grimassen zu schneiden wie Greise, diese unschuldigen Gedanken werden zum Gipfel der Scheinheiligkeit und der äußerst hohen jährlichen Verluste seien der Bevölkerung in der Gegend von Leningrad bekannt gewesen.
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Gelegentliche Äußerungen
List, wenn jeder zwanzigste Bürger in ihrem Namen gefangengehalten wird, wenn sie Lager zieren, in denen die Menschen vor Arbeit und Hunger sterben, wenn sie die Repression einer kompromißlos ungleichen Gesellschaft decken, wenn es unter dem Deckmantel einer Umerziehung der vom Weg Abgekommenen darum geht, die politischen Gegner zu brechen, wenn es unter dem Vorwand der Selbstkritik um Verleugnung geht. Unter diesen Umständen verwandelt sich ihre Tugend schlagartig in Gift. Aber dies wird nicht so deutlich empfunden. Neben den Zynikern und den Perversen, die es überall gibt, ergreifen sicherlich so einige junge sowjetische Helden, die nie in einem Land ohne Lager gelebt haben, ohne jede Spur von Skrupel Partei für die Anständigkeit. Haben wir nie dergleichen gesehen? Viele recht begabte Funktionäre mit guten Ansätzen – wie es Krawtschenko in seiner ersten Amtszeit gewesen sein muß –, die den kritischen Geist und die Diskussion im Sinne von 1917 nie gekannt haben, denken weiterhin, die Häftlinge seien exaltierte, asoziale, unwillige Menschen, bis zu dem Tag, an dem das Gefallen an einem Leben in New York ihnen die Gelegenheit gibt, all dies noch einmal zu überdenken. Was die Überlebenden von 1917 angeht, so sind sie nicht die besten Köpfe des marxistischen Humanismus, sie haben den Empirismus stets der Analyse der Situationen vorgezogen, sie haben stets viel mehr an den Apparat als an die Massenbewegungen geglaubt, sie haben als Organisatoren stets größere Erfolge gehabt denn als Volksredner, sie haben stets mehr auf das Taktieren in der Partei vertraut als auf die Bewußtwerdung. In Lenins Gleichung – Sowjets plus Elektrifizierung – haben sie sich immer vorzugsweise für den zweiten Terminus interessiert. Da die UdSSR die Elektrifizierung durchführt, ohne in das System des individuellen Profits zurückzufallen, muß es ihnen daher so scheinen, als sei das Wesentliche der Oktoberrevolution gerettet. Man darf nicht von ihnen verlangen, Marx wieder aufzugreifen, zu bemerken, daß es bei Marx die Produktivkräfte sind, welche die Infrastruktur bilden, mit anderen Worten nicht allein das gesamte Werkzeug und die produzierten Reichtümer, sondern die Menschen
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bei der Arbeit, die immer noch Menschen sind. Sie sind nie bis zu diesen Feinheiten vorgedrungen, und ihr Materialismus ist stets recht wenig dialektisch gewesen … Außerdem ist das alles so weit weg; es ist doch schon lange her, daß man hinsichtlich der Spontaneität der Massen seine Ansprüche zurückschrauben mußte. Koestler, denken sie, hat dies sehr gut erklärt: Man nimmt keine Rücksicht auf das Gefühl, wenn man ihm etwas gibt, nimmt es alles; man darf ihm also nichts überlassen. Denken wir nicht mehr daran. Der Kanal zum Weißen Meer wird gebaut werden. Die Grundlagen der Kollektivproduktion werden gefestigt werden … Und die Kommunisten der ganzen Welt erwarten, daß so viele Kanäle, Fabriken und Reichtümer eines Tages, durch eine Art magische Emanation, den vollständigen Menschen hervorbringen, selbst wenn man, um sie zu schaffen, zehn Millionen Russen versklaven muß, wenn man ihre Familie in Verzweiflung stürzen muß, was weitere zwanzig oder dreißig Millionen Russen ausmacht, wenn man einen anderen Teil der Bevölkerung in der Polizeikunst und zur Denunziation ausbilden muß und die Armee der Funktionäre zur Unterwürfigkeit oder zum Egoismus. So erklärt sich sicherlich der Umstand, warum die besten Kommunisten kein Ohr für zehn Millionen Häftlinge haben. * Indem wir unseren Blick auf den Ursprung des Systems der Konzentrationslager richten, ermessen wir die Illusion der heutigen Kommunisten. Es ist aber auch diese Illusion, die es verbietet, Kommunismus und Faschismus zu vermischen. Wenn unsere Kommunisten die Lager und die Unterdrückung akzeptieren, dann deswegen, weil sie erwarten, daß aus ihnen durch das Wunder des Unterbaus die klassenlose Gesellschaft hervorgehen möge. Sie täuschen sich, aber dies ist es, was sie denken. Ihr Fehler ist, daß sie im Unklaren glauben, aber dies ist es, was sie glauben. Die nationalsozialistischen Lager trugen ihrerseits ebenfalls die berühmten Devisen einer Umerziehung durch Arbeit, aber von jenem Moment an, in dem die Gaskammern errichtet wurden, konnte niemand mehr glauben, daß es, sei es auch
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nur der Absicht nach, um eine Umerziehung ging. Bevor es die Gaskammern gab, waren die deutschen Lager eine Nachahmung der russischen Lager und ihre Strafanstaltsdevisen eine Nachahmung der sozialistischen Ideologie, genau wie die Partei im faschistischen Sinne eine Nachahmung der Partei im bolschewistischen Sinne war und wie der Faschismus dem Bolschewismus die Idee der Propaganda entlehnt hat. Der Faschismus ist ein Angstgefühl vor dem Bolschewismus, dessen äußere Form er aufgreift, um seinen Inhalt um so zuverlässiger zerstören zu können: die internationalistische und proletarische Stimmung. Wenn man daraus schließt, der Kommunismus sei Faschismus, so erfüllt man im nachhinein den Wunsch des Faschismus, der immer darin bestand, die kapitalistische Krise und die menschliche Anregung des Marxismus zu verschleiern. Nie hat sich ein Nazi mit Ideen wie etwa einer Anerkennung des Menschen durch den Menschen, dem Internationalismus oder der klassenlosen Gesellschaft belastet. Es ist wahr, daß diese Ideen im heutigen Kommunismus nur einen unzuverlässigen Träger finden und daß sie ihm mehr als Dekor denn als Motor dienen. Aber immerhin bleiben sie ihm erhalten. Das ist es, was man einem jungen russischen oder französischen Kommunisten beibringt. Wohingegen die Nazipropaganda ihren Hörern den Stolz auf das deutsche Volk, den Stolz auf die Arier und das Führerprinzip beibrachte. Dies bedeutet, daß wir mit einem Nazi nichts gemein haben und daß wir dieselben Werte haben wie ein Kommunist. Ein Kommunist, wird man sagen, hat keine Werte. Er hält nur Vielem die Treue. Wir antworten, daß er wohl tut, was er kann, um dies zu erreichen, daß aber Gott sei Dank niemand leben kann, ohne zu atmen. Er hat Werte ungeachtet seines Willens. Wir können denken, daß er sie kompromittiert, indem er sie im heutigen Kommunismus verkörpert. Darüber hinaus sind sie aber immer noch unsere Werte, und wir haben im Gegenteil immer noch nichts gemein mit so manchen Gegnern des Kommunismus. Nun ist dies aber keine Angelegenheit des Gefühls. Wir wollen behaupten, daß wir in dem Maße, in dem wir uns geographisch
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und politisch von der UdSSR entfernen, auf Kommunisten treffen, die immer mehr Menschen wie wir sind, und auf eine kommunistische Bewegung, die gesund ist. Wenn das Schicksal uns einem der zukünftigen Krawtschenkos begegnen ließe, die Rußland im Überfluß besitzen muß, dann würde es sicherlich sehr wenig Brüderlichkeit geben: Der Verfall der marxistischen Werte ist in Rußland selbst unvermeidlich, die Lager zersetzen die humanistische Illusion, die gelebten Tatsachen vertreiben die vorgestellten Werte wie das schlechte Geld das gute verdrängt. Spricht jedoch einer von uns mit einem Kommunisten aus Martinique über die Angelegenheiten seines Landes, so findet er sich in einem fort in bestem Einvernehmen mit ihm. Ein Leser von Le Monde schrieb neulich an diese Zeitung, alle Erklärungen über die sowjetischen Arbeitslager könnten wohl wahr sein, aber er sei letztlich ein mittelloser und obdachloser Arbeiter und finde bei den Kommunisten immer noch mehr Unterstützung als bei den anderen. Und Le Monde rief sogleich eine Spendenaktion ins Leben, damit nicht gesagt werde, sie sei gefühllos gegenüber dem Elend. Das Mißgeschick besteht nur darin, daß es diesen Brief gebraucht hat, um eine solche Menschenfreundlichkeit herbeizurufen. Gehen wir zum Kollektiven über: Es ist durchaus möglich, daß der chinesische Kommunismus auf lange Sicht der Linie des russischen Kommunismus folgt und am Ende eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft mit einem neuen Typus der Ausbeutung verwirklicht: Darüber hinaus gilt, daß er im Augenblick allein in der Lage scheint, China aus dem Chaos und dem pittoresken Elend hinauszuführen, in dem es der fremde Kapitalismus hinterlassen hat. Welcher Natur die gegenwärtige sowjetische Gesellschaft auch sein mag, die UdSSR steht im Gleichgewicht der Kräfte im großen ganzen auf seiten derer, die gegen die uns bekannten Formen der Ausbeutung kämpfen. Der Niedergang des russischen Kommunismus bewirkt nicht, daß der Klassenkampf zum Mythos wird, daß ein ›freies Unternehmertum‹ möglich oder wünschenswert wird, und auch ganz allgemein nicht, daß die marxistische Kritik überholt sei. Woraus wir nicht etwa schließen, daß man dem Kommunismus mit Nachsicht begegnen
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muß, sondern vielmehr, daß man keinesfalls mit seinen Gegnern paktieren kann. Die einzig gesunde Kritik ist folglich diejenige, die innerhalb und außerhalb der UdSSR auf die Ausbeutung und die Unterdrückung abzielt, und jede Politik, die sich in Abgrenzung zu Rußland definiert und die ihre Kritik auf Rußland beschränkt, ist eine Absolution, die man der kapitalistischen Welt erteilt. Das ist der Grund, warum wir hierzulande immer abgelehnt haben, uns dieser Politik anzuschließen. Wie oft haben amerikanische Freunde, nachdem sie uns gefragt haben, was wir vom Kommunismus hielten, fortgefahren: ›Aber warum steht ihr dann nicht auf unserer Seite?‹ Man muß wissen, für wen oder für was sie sind. Denn sie haben mit dem Stalinismus und dem Trotzkismus jede Art marxistischer Kritik, jede Art radikaler Stimmung über Bord geworfen. Die Fakten der Ausbeutung in aller Welt begreifen sie nur als verstreute Probleme, die es jedes für sich zu untersuchen und zu lösen gilt. Sie haben keine politische Idee mehr. Was die Vereinigten Staaten angeht, so sagen sie, ohne zu lachen: ›Wir haben hier keinen Klassenkampf‹, und sie sehen dabei über fünfzig und mehr Jahre amerikanischer Geschichte hinweg. ›Habt teil am amerikanischen Wohlstand‹, so lautete schließlich der Wahlspruch einer der ihren. Wie auf dem Boden der Welt, so sitzen sie auf dem amerikanischen Wohlstand, der manche Erschütterung erfahren hat und der im Begriff ist, weitere zu erfahren, wenn man nach dem Niedergang der Marshallpolitik und der Pläne zu einer weltweiten Wiederherstellung des Gleichgewichts urteilt, und sie verlangen von uns, aus ihm ein Absolutes zu machen. Und wenn wir ihnen erklären, daß sie im Begriff sind, diesem unsicheren Faktum jede politische Bewertung zu opfern, und daß alles in allem die Anerkennung des Menschen durch den Menschen und die klassenlose Gesellschaft als Prinzipien einer weltweiten Politik weniger vage sind als der amerikanische Wohlstand, daß die historische Mission des Proletariats eine letzten Endes genauere Vorstellung ist als die historische Mission der Vereinigten Staaten, dann antwortet man uns, wie Sydney Hook in Partisan Review, es sei dringend notwendig, einige Meister des
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Denkens von seinem Kaliber hierher zu schicken. »Da ihr ja einig seid, was die Unterdrückung in der UdSSR und das Risiko einer militärischen Expansion des Kommunismus angeht, würdet ihr die Behauptung gelten lassen«, so schlug uns ein anderer vor, »daß die UdSSR der Feind Nr. 1 ist?« – Nein, selbstverständlich lassen wir dies nicht gelten, denn diese Formel hat eine logische Folge: Im Augenblick gibt es keinen Feind außerhalb der UdSSR; die Formel will also besagen, daß man darauf verzichtet, die nichtsowjetische Welt zur Diskussion zu stellen. Als die Frage nach den sowjetischen Lagern vor der UNO gestellt wurde, antwortete die sowjetische Delegation mit der Forderung, man möge auch die Schuldseite des Kapitalismus untersuchen: die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsbedingungen in den Kolonien, die Lebensbedingungen der schwarzen Amerikaner. Der Abgeordnete Großbritanniens beklagte sich über das, was er als Ablenkung bezeichnete. Wir sind der Meinung, daß es sich nicht um Ablenkung handelte. Eine Gesellschaft ist für alles verantwortlich, was sie hervorbringt, und Marx hat recht daran getan, dem liberalen Denken wie einen Betrug, für den man Rechenschaft ablegen muß, die Kunstgriffe vorzuwerfen, mittels derer es die Arbeitslosigkeit, die Kolonialarbeit, die rassische Ungleichheit, die man der Natur oder dem Zufall anlastet, aus der Bilanz nimmt. Unter Bürgern und auf dem Gebiet der rein politischen Rechte – abzüglich der Kolonialarbeiter, der Arbeitslosen und der schlecht bezahlten Lohnarbeiter, haben wir alle Freiheiten … Man hat den Kommunisten zu oft vorgeworfen, die zehn Millionen Lagerinsassen aus ihrer Bilanz zu streichen, um dasselbe Verfahren anzuwenden, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu beurteilen. Der Abgeordnete Großbritanniens hat sich übrigens geschnitten, so wie Freuds Subjekte etwas in dem Augenblick eingestehen, in dem sie es verneinen: Als er von den russischen Arbeitslagern sprach, ist ihm der Satz entschlüpft: ›Dies ist das Kolonialsystem der UdSSR.‹ Dann aber müßte man darin übereinkommen (mit den notwendigen Abstufungen), daß die Kolonien die Arbeitslager der Demokratien sind.
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Auf das, was wir da behaupten, gibt es eine und nur eine Antwort (es ist merkwürdig, daß uns niemand diese Antwort gegeben hat): Die Kritik an allen Unterdrückungszuständen schwächt die Demokratien, da sie hierzulande greift, aber nicht im Ural. Wenn es das ist, was man denkt, dann muß man allerdings die Konsequenz sehen: Die Gesellschaftskritik muß bis zum Verschwinden des sowjetischen Systems verstummen, und wenn sich die Lager in Sibirien endlich öffnen, werden wir hier eine Generation ohne politische Bildung haben, die infolge des westlichen Patriotismus und nach Jahren antikommunistischer Propaganda an Halluzinationen leidet. Was uns betrifft, so vertrauen wir angesichts dieser Aufgabe auf die Regierungen und die Führungsstäbe. Alles zeigt, daß es ihnen nicht an Hilfskräften fehlen wird. Es ist dringlicher, zumindest einige kleine Inseln zu bewahren, auf denen man die Freiheit anders als gegen die Kommunisten liebt und praktiziert. * Wir brauchen uns gegenwärtig nicht lange über die Initiative von David Rousset auslassen, die den Anlaß zu diesen Seiten geboten hat. Es war notwendig, das sowjetische Gesetzbuch zur Straferziehungsarbeit zu veröffentlichen. Wir sind hiervon so überzeugt, daß wir uns anschicken, es in dem Augenblick zu drucken, in dem Rousset, der das Dokument aus anderen Quellen bezogen hatte, den bekannten Gebrauch von ihm gemacht hat. Wir mißbilligen diesen Gebrauch ganz entschieden, und wir denken, daß Rousset von dieser Kampagne an die politische Linie verläßt, die ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und eine Propaganda einleitet, in die wir uns durch die Erinnerung, die man von unserer heute endgültig beendeten Zusammenarbeit mit ihm bewahren konnte, auf keinen Fall einbezogen sehen. »[…] Um mit der Aussicht auf einigen Erfolg gegen die Ausbeutung des Menschen kämpfen zu können, muß man die Schläge auf das System konzentrieren, das sie am schonungslosesten walten läßt, das die stärksten Beeinträchtigungen mit sich bringt und am unerbittlichsten jede Zukunft einer Befreiung verschließt. Wir reden nicht allgemein von Ungerechtig-
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keit, sondern von jener präzisen Ungerechtigkeit, die man die lagereigene nennt«.10 Rousset lehnt dementsprechend jede Untersuchung ab, die sich gleichzeitig auf Rußland, Spanien und Griechenland bezieht.11 Um so weniger könnte er in seinen Protest die diffusen oder verborgenen Formen der Sklaverei einfließen lassen: die Zwangsarbeit der Kolonien, die Kolonialkriege, die Lebensbedingungen der amerikanischen Neger. Dann aber, und wenn es nicht darum geht, jedes Volk gegen die Unterdrükkungen aufzuwiegeln, deren Zeuge es ist, und gleichzeitig gegen die Unterdrückung in Rußland – wenn allein die Unterdrücker Sibiriens und des Ural zur Debatte stehen (obwohl der Figaro littéraire, so glauben wir, auch ohne den eisernen Vorhang kaum bis in diese Gebiete Einfluß nehmen könnte), kann dieses Vorgehen nur alles, was es in der Welt an Revolte geben mag, auf das russische System übertragen und konzentrieren, und überall den Zusammenschluß der Klassen gegen dieses System verwirklichen. Inwiefern wäre der Kampf ›wirkungsvoller‹, weil man die Ungerechtigkeiten, die nicht die des sowjetischen Systems sind, getrennt behandelt? Sicherlich insofern, als daß er ein Publikum zusammenschließen wird, das sich entziehen würde, wenn man die spanische oder die griechische Regierung, die Kolonialverwaltung Englands oder Frankreichs in Frage stellen würde. Wer sind also diese so delikaten Zuhörer? Wird man glauben, es seien die Völker, und insbesondere das französische Volk? Ist es den Kolonialkriegen oder dem Francoregime so wohlgesinnt? Alles zusammengenommen: Für wen schreibt Rousset? Ist es, wie er sagt, für die ehemaligen kommunistischen Deportierten? Indem er aber erklärt, er suche nur bei der UdSSR die Schuld, liefert er ihnen gerade die einzige Entschuldigung, die sie finden können, um sich zu entziehen. Es kann folglich nur darum gehen, ein Publikum zusammenzuschließen, das nicht vom Gedanken an Lager und Gefängnisse gequält wird, solange es sich nicht um sowjetische Lager und Gefängnisse handelt. Die heilige Union 10 11
Figaro littéraire, 12. November 1949. Ebd., 19. November 1949.
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gegen das russische System wendet sich hier an all jene, die es aus schlechten ebenso wie aus guten Gründen verabscheuen, sie wird über das System der Lager jede sozialistische Inspiration anstreben und erreichen. Rousset schließt sich alles in allem dem Prinzip des ›Feindes Nr. 1‹ an, das wir soeben diskutiert haben: zunächst gegen das russische System; dann, in einem Regime, das die Zukunft nicht so wie jenes verschließt, wird man weitersehen. Aber entweder will die Ordnung der Dringlichkeit nichts besagen, oder sie will besagen, daß der Feind Nr. 2 im Moment kein Feind ist. Die Wahl einer Ordnung der Dringlichkeit ist die Wahl eines Publikums, die Wahl eines Verbündeten, und sie paktiert letztlich mit allem, was nicht sowjetisch ist. Dieses Publikum, dieser Verbündete, das sind nicht mehr die Völker. Hat Rousset also aufgehört, Marxist zu sein, obwohl er dem Marxismus in seinen Artikeln noch eine offen gestanden sehr diskrete Ehre erweist? Lenin sagte gerade, den wahren Revolutionär erkenne man daran, daß er die Ausbeutung und die Unterdrückung in seinem eigenen Land verurteilt. Rousset hat unlängst erklärt, der Marxismus müsse noch einmal überprüft werden, und er hatte Recht. Darüber hinaus muß man, wenn man eine Überprüfung des Marxismus in Angriff nimmt, wissen, was man von ihm übernimmt und was man wegläßt. Andernfalls gelangt man am Ende, wie so viele amerikanische Intellektuelle, die alles hinter sich gelassen haben, zum politischen Nichts, und das Nichts ist regierungsfreundlich. Glaubt Rousset noch, ja oder nein, die einzige politische Kraft, deren Unterstützung man suchen muß, sei diejenige, die aufgrund ihrer Stellung so unabhängig ist von den nationalen, finanziellen und wirtschaftlichen Interessen wie die Spekulationen des Führungsstabes – das heißt das Volk? Und glaubt er noch, diese Kraft verliere das Bewußtsein ihrer selbst und löse sich auf, wenn man sie Kompromisse mit der kolonialen und gesellschaftlichen Unterdrückung eingehen läßt? Wenn man seine jüngste Kampagne heranzieht, muß man antworten: Nein. Aber dann muß er es sagen. Er muß seine neue Position formulieren. Sie kann nur unzulässig sein. Sie wird aber zumindest aufhören, doppelsinnig zu sein.12
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Es ist einfach zu antworten, daß es nicht so vieler Prinzipien bedürfe, um ein Unrecht offenzulegen, und daß es Rousset genüge, sein Gewissen oder seine Erinnerungen als Deportierter zu befragen, um zu wissen, was er tun solle. Die absolute Schreckenserfahrung des Lageraufenthalts, wird man sagen, zwingt denjenigen, der sie erlebt hat, seinen Blick zunächst auf das Land zu richten, das sie verlängert. Aber nicht wir sind es, die verlangen, daß man die Deportierten vergesse, es ist Rousset. Durch die ›Konzentration seiner Schläge‹ auf das sowjetische System achtet er Spaniens Strafgefangene und Griechenlands Deportierte gering. Es ist gut, daß die Erfahrung der Lager, wenn man sie durchlebt hat, für immer verbietet, einem System anzuhängen, das an Lagern festhält. Sie verbietet nicht weniger, mit seinen Gegnern zu paktieren, wenn diese über Lager verfügen. Die Wahrheit ist, daß selbst die Erfahrung eines Absoluten wie des Schreckens der Lager keine Politik vorgibt. Die Tage des Lebens sind nicht die Tage des Todes. Wenn man ins Leben zurückkehrt, gut oder schlecht, dann beginnt man wieder vernünftig zu überlegen, man wählt genau aus, woran man festhält, und gegenüber dem, was man aufgibt, scheint man gleichgültig zu sein, scheint man zu vergessen. Man vergißt den Tod immer, wenn man lebt. Daix vergißt die russischen Lagerinsassen. Rousset vergißt die griechischen Deportierten, die in diesem Augenblick auf den Inseln sterben, die mit Lebensmitteln versorgt werden, wenn es dem Meer und der Regierung gefällt. Daß sie sich aber, zur Rechtfertigung so vergeßlicher Politiken, nicht auf ihre treue Rechtschaffenheit als ehemalige Deportierte berufen. Sie wären sich selbst nur treu, wenn sie nach einer Politik suchen würden, die sie nicht verpflichtete, ihre Deportierten auszuwählen. (Januar 1950)
12 Rousset reicht vor Gericht Klage ein gegen die Beschimpfungen der Lettres Françaises. Dennoch weiß er durch das Beispiel des KrawtschenkoProzesses sehr gut, daß solche Debatten die beiden Blöcke auseinanderspalten. Ist es das, was er will?
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DI E V E RT R ÄGE VON JA LTA
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Der Marxismus bagatellisiert nicht die menschliche Aktion. Der Unterbau der Geschichte, die Produktion, bildet immer noch ein Netz menschlicher Aktionen, und der Marxismus lehrt, daß die Menschen ihre eigene Geschichte machen. Er fügt lediglich hinzu, daß sie nicht irgendeine Geschichte machen: Sie operieren in Situationen, die sie nicht gewählt haben und die nur eine begrenzte Anzahl von Lösungen ihrer Wahl überlassen. Für einen Beobachter, der am Ende der Welt stünde, ließen sich die Wahlmöglichkeiten sogar in zwei Reihen gruppieren, von denen die eine der proletarischen Revolution entgegenginge, die andere dem Chaos. Die Geschichte ist aus menschlichen Aktionen und Interaktionen gemacht, die von der Logik der Situationen in ein anonymes Drama verwandelt werden. Es sind, sagte Marx, »Beziehungen zwischen Personen, die durch Dinge vermittelt werden«, die in Systemen inkarniert sind, bei denen die Intention der wirkenden Kraft oft nicht erkennbar ist. Die Menschen machen ihre Geschichte, wenngleich sie oftmals die Geschichte nicht kennen, die sie machen. Diese Vorstellung läßt Raum für alle Kausalitäten, insbesondere jene der Diplomatie. Wenn man sich nicht nur auf die Formeln von Marx und Engels bezöge, sondern auch auf Marx’ Arbeit selbst, dann würde man sehen, daß er das immanente Studium der Diplomatie ebenso wenig einschränkte wie die Wirksamkeit der diplomatischen Aktion. Er hat lange Tage im British Museum damit verbracht, Auszüge aus den diplomatischen Manuskripten anzufertigen, die das Thema der anglo-russischen Zusammenarbeit Peters des Großen bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts berühren, und er hat ihnen eine detaillierte Studie1 gewidmet, in
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Die Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert,
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der die ökonomische und gesellschaftliche Geschichte nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wie sollte es anders sein? Der Marxismus wollte nicht einer jener ›Gesichtspunkte‹ sein, eine jener ›Weltanschauungen‹, eine jener ›Geschichtsphilosophien‹, welche die Wirklichkeit um ein willkürlich gewähltes Prinzip anordnen – er wollte vielmehr der Ausdruck der Wirklichkeit, die Formulierung einer Bewegung der Geschichte sein, welche die Ideen, die Literatur, die Moral, die Philosophie und die Politik, ebenso wie die Produktionsverhältnisse antreibt. Wie könnte er seine Untersuchung nur auf einen Sektor des Wirklichen beschränken? Wie sollte er anders als pluralistisch sein? Wie könnte er nicht überall wieder auf dieselbe Wahrheit stoßen? Nichts verhindert prinzipiell, daß man auf verschiedene Arten Zugang zur Geschichte findet: Sie führen alle zu demselben Knotenpunkt der einzelnen Wege. Die ›persönlichen Vorstellungen‹ von Roosevelt, Churchill und Stalin in Jalta sind also für die marxistische Geschichtsphilosophie kein Stein des Anstoßes. Sicherlich decken sie die Improvisation, das Beinahe, die Vorurteile und die Träumereien schonungslos auf. Selbst wenn man die Gelegenheitsäußerungen, die beachtlichen Finten und die erkünstelte Frivolität der Tischgespräche berücksichtigt, haben diese Marotten doch etwas Shakespearehaftes, wenn man bedenkt, daß sie so illustren Köpfen innewohnen: – »Marschall Stalin machte darauf aufmerksam, daß er nicht glaube, daß es der Arbeiterpartei jemals gelingen könnte, in England eine Regierung zu bilden.« – »Roosevelt erklärte, es brauche drei Generationen Erziehung und Training, bevor China zu einem ernstzunehmenden militärischen Faktor werde.« – »Die Engländer schienen zu glauben, daß die Amerikaner die Ordnung in Frankreich wieder herstellen müßten, um an-
die nie ins Russische übersetzt wurden, die aber jüngst unter dem Titel La Russie et l’Europe auf französisch erschienen sind.
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schließend die politische Kontrolle wieder den Engländern zu übergeben.« – »Marschall Stalin sagte, er verstehe nicht, warum (die Kommunisten und die Kuo-Min Tang) nicht miteinander auskommen könnten, denn sie müßten doch eine einheitliche Front gegen Japan bilden. Er schätze, Tschang Kai-Shek müsse hier die Richtung vorgeben. Er erinnerte in diesem Zusammenhang daran, daß es die einheitliche Front einige Jahre zuvor gegeben hatte. Er verstünde nicht, warum sie nicht aufrechterhalten worden sei.« Wenn man – großzügigerweise – davon ausgeht, daß diese Äußerungen machiavellistisch sind, dann muß es zumindest im Geist des Gesprächspartners, der sie ernst nahm, einen Rest an Unbestimmtheit gegeben haben. Warum aber sollte diese Invasion der Psychologie einen marxistischen Historiker stören? Die wirren Ideen und Phantasmen sind kein eigenes Reich im Reich der Geschichte: Sie sind Teil der gesellschaftlichen Dynamik, und sie ist es wiederum, die in ihnen spielerisch zur Anwendung gelangt. Für einen Marxisten gibt es kein Phantasma, das nicht einen Sinn hätte, wenngleich es nicht sein offensichtlicher Sinn ist. * Ein philosophischer, strenger, kohärenter Marxismus läßt die Pluralität der Ursachen in der Geschichte zu, entziffert in jeder Ursache dieselbe Dialektik und bezieht die ›persönlichen Vorstellungen‹ ein statt sie auszuschließen. In dem Maße jedoch, in dem er so verfährt, verwandelt er sich in eine andere Philosophie, die sich deutlich vom Vulgärmarxismus unterscheidet und in der Marx sich gewiß nicht hätte wiedererkennen wollen. Selbst wenn auch die ›Vorstellungen‹ und ›Ideologien‹ ihre interne Logik besitzen, die sie der allgemeinen Logik der Geschichte einverleibt – daß Stalin, Roosevelt und Churchill von Angesicht zu Angesicht gedacht, gesprochen und einen Vertrag abgeschlossen haben, wie sie es in Jalta getan haben, daß solche Proben ihrer Ideologien in diesem Kompromiß hervorgebracht, miteinander konfrontiert und kombiniert worden waren, dies ist ein Ereig-
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nis, das sich, so verständlich es auch hinterher in der Dynamik der allgemeinen Geschichte sein mag, nicht von ihr ableiten läßt und das Wahrscheinliche ins Wirkliche übergehen läßt. Wenn die Menschen die Geschichte, die sie machen, nicht kennen, so machen sie nicht ihre wahre Geschichte. Wenn in der Geschichte alles zählt, dann ist die Entwicklung nicht wirklich notwendig, da sie ebenso von den Kontingenzen eines ›Psychismus‹ wie von der gesellschaftlichen Dynamik getragen wird. Man kann nur sagen, wie Max Weber es tat, daß selbst wenn ein Begleitumstand zufällig gefehlt haben sollte, auf anderen Wegen, welche die Logik der Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit eröffnet hätte, dieselbe Lösung herbeigeführt worden wäre. Tatsächlich gibt es in der Geschichte Fälle, bei denen das ›unmittelbar bevorstehende‹ Ereignis die Bedingungen seines eigenen Auslösens zu schaffen scheint. Wie aber könnte man bestätigen, daß es immer so ist und daß die Geschichte als Ganzes ein Prozeß dieser Art ist, der sich selbst anhand einer Norm reguliert und seine Zielrichtung wie eine Radarkanone korrigiert? Wenn in der Geschichte alles zählt, dann kann man nicht mehr wie die Marxisten behaupten, daß die geschichtliche Logik in letzter Analyse stets ihre Wege findet, daß sie allein eine entscheidende Rolle spiele und daß sie die Wahrheit der Geschichte sei. Die Bolschewiken haben praktisch zugegeben, daß die Gelegenheiten nicht wiederkommen. Trotzki schreibt: »Es ist noch nicht lange her, daß man noch die Meinung hören konnte: wenn wir nicht im Oktober die Macht ergriffen hätten, hätten wir es zwei bis drei Monate später getan. Das ist ein grober Irrtum! Wenn wir nicht im Oktober die Macht ergriffen hätten, dann hätten wir sie überhaupt nicht bekommen.«2 Schön und gut. Aber dann darf man nicht behaupten, die Revolution sei ›unabwendbar‹. Man muß zwischen der Revolution als Handlung und als Wahrheit wählen. Genau darin besteht das wahre marxistische Drama, eher als im Widerstreit zwischen den ›Überbauten‹ und den ›Unterbauten‹ oder zwischen den Menschen und den Dingen. 2
Trotzki: Über Lenin, S. 77–78.
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Gelegentliche Äußerungen
In seiner klassischen Periode versuchte der Bolschewismus, dieses Drama zu überwinden und die Aktion vor dem Pragmatismus und dem Zufall zu retten, indem er sich an jene von Lenin aufgestellte Regel hielt, die richtige Linie müsse allen Proletariern aller Länder erklärt und von ihnen verstanden werden können. Man muß in Mein Leben sehen, mit welcher Sorgfalt Trotzki und Lenin am Vorabend von Brest-Litowsk die Nachteile erwogen, die sich aus dem Friedensschluß mit dem deutschen Imperialismus für die Revolution ergeben könnten, wenn die abendländischen Proletarier ihn nicht verstünden – mit welcher Strenge Trotzki es ablehnt, nachdem er das Prinzip des demokratischen, ohne Annexionen auskommenden Friedens und das Recht zur Selbstbestimmung der Völker verkündet hat, die Annexionen, die ihm die Deutschen auferlegen, zu verschleiern. Die weltweite Meinung der Proletarier, dieses Motiv schien Lenin schwerwiegend genug, so daß er einwilligte, sich Trotzkis Lösung anzuschließen, die darin bestand, den Vertrag erst unter dem Druck einer deutschen Offensive zu unterzeichnen, die den neuen sowjetischen Staat letztlich mehrere Provinzen kosten würde. Da die Franzosen und Engländer der sowjetischen Regierung militärische Unterstützung im Kampf gegen Deutschland anboten, erwirkte Lenin während der Verhandlungen beim Zentralkomitee die Annahme dieses Angebots, mit der Formel: »Die Hilfe der Schurken des französischen Imperialismus gegen die deutschen Schurken annehmen.«3 Man kämpfte also gegen die Zweideutigkeit. Stalin trifft nicht so viele Vorsichtsmaßnahmen. »Marschall Stalin sagt, er sei bereit, im Einverständnis mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien die Rechte der kleinen Mächte zu schützen, er würde jedoch nie einwilligen, eine beliebige Handlung irgendeiner der großen Mächte dem Urteil der kleinen Mächte zu unterstellen.« Der Stil hat sich verändert, und Stalin scheint keine große Mühe zu haben, den Tonfall seiner Gesprächspartner anzunehmen. Allein jene Unverfrorenheit ist neu. 3
Trotzki: Mein Leben, hg. v. Rosmer, S. 398.
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Die Verträge von Jalta
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Die Schwierigkeit gab es bereits vor Stalin, sie war sogar noch deutlicher spürbar, weil die revolutionäre Idee lebendig war. Sie ist das Kreuz der revolutionären Politik. (April 1955)
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DI E Z U K U N F T DE R R E VOLU T ION
Jeder spürt, daß in der Geschichte des Kommunismus etwas vor sich geht. Handelt es sich, in großem Maßstab betrachtet, nur um eine jener Perioden der Entspannung, die stets im Wechsel mit Perioden einer harten Politik einhergingen? Vielleicht haben wir auch den Moment erreicht, in dem Revolution und Konterrevolution aufhören werden, jeweils einander abzulösen, wie sie es seit 1917 tun, und in dem die Politik sich nicht mehr, wie seit zehn Jahren, auf die Wahl zwischen der UdSSR und dem Rest beschränken wird. Als einfache Tatsache ist die Koexistenz vom Marxismus niemals ausgeschlossen worden. Wenn sie aber zu einem Prinzip wird, dann kann sie nicht beide Regime unversehrt lassen, ihr Widerspruch muß aufhören, ein Antagonismus zu sein, jeder muß die Existenz des anderen und in diesem Maße auch eine Art Pluralismus zulassen. Daß man bürgerlicherseits Pluralist ist, versteht sich von selbst. Simone de Beauvoir schreibt nachdrücklich: »Die Wahrheit ist eine, der Fehler ist vielfältig, folglich versteht man, daß die Bourgeoisie pluralistisch ist.«1 Wenn der Kommunismus es wird, so bedeutet dies also, daß er sich nicht mehr als die eine, totale und finale Wahrheit begreift. Sind wir schon so weit? Was genau bedeutet es in der Geschichte der Sowjetunion, daß Malenkow, dann Bulganin und Jukow an die Macht gelangten? Malenkow sagte – ein wenig zu früh, aber seine Nachfolger haben die These aufgegriffen –, daß die Atombombe die sozialistische ebenso wie die restliche Zivilisation bedrohe. Ist die Revolution von nun an dieser Vorbedingung der Existenz unterworfen, nämlich den Atomkrieg nicht zu riskieren? Deklassieren die atomaren Techniken, die in den Lauf der Dinge einen massiven Faktor der Zerstörung – und morgen vielleicht der Produktion – einbrin1
La pensée de droite aujourd’hui, I, Les Temps Modernes, Mai 1955.
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gen, der jenen Faktoren, welche die marxistische Analyse berücksichtigte, nicht vergleichbar ist, die von Marx beschriebenen Antagonismen, und bringen sie die Marxisten zum ersten Mal zu einem prinzipiellen Pazifismus? Wir wissen es nicht genau. Aber diese Fragen sind nicht so entscheidend. Wie sehr das Verschwinden Stalins, die Übernahme der Macht durch eine andere Generation, durch andere gesellschaftliche Kräfte und schließlich, in der UdSSR und andernorts, die Entwicklung atomarer Techniken auch ins Gewicht fallen mochten, die neuen Menschen dieser neuen Zeit hätten weiterhin behaupten können, wie sie es einige Monate lang getan haben, daß der Sozialismus gegen den Atomkrieg gefeit sei. Wenn sie dies nun nicht mehr behaupten und wenn sie entschlossen sind, dieser Gefahr Rechnung zu tragen, dann müssen sie es auf irgendeine Weise verstanden haben, die Revolution mit diesen äußeren Widersetzlichkeiten zu konfrontieren. Nicht nur in einigen sensationellen Tatsachen, sondern in den Berührungen des Regimes mit dem Außen und in seiner Entwicklung muß man den Ursprung der neuen sowjetischen Politik suchen. Nun sind wir allerdings über diese Entwicklungen durchaus im Bilde. Die universitären Umstände haben mir eine bemerkenswerte, noch unveröffentlichte Arbeit über die ostdeutsche Geschichte nach 1945, geschrieben von Benno Sarel, zur Kenntnis gebracht.2 Durch die Abspaltung Ost-Berlins gewinnt man Einblick in das Innenleben des Systems. Selbstverständlich erklären die Ereignisse in Ostdeutschland nicht die neue Politik: Sie sind ihr nachgefolgt und haben sie, in unmittelbarer Folge, eher gebremst als in Gang gebracht. Sie sind jedoch ein bevorzugtes Dokument der Begegnung zwischen dem sowjetischen Regime 2 Classe ouvrière et nouveaux rapports de production dans les entreprises propriété du peuple de la République démocratique allemande (d’après les sources officielles). Der Autor gestattet mir liebenswürdigerweise, auf seine Analysen und die Fakten, die er zusammengetragen hat, Bezug zu nehmen – selbstverständlich vorbehaltlich der Gesamtinterpretation, die er von ihnen geben will.
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Gelegentliche Äußerungen
und einem Land mit der einst vertretenen Kultur der Politik und der Arbeiter. Sie erhellen das Problem der Beziehungen zum Außen, dem die neue Politik entgegentreten will, und geben folglich vielleicht die Bedeutung dieser Politik innerhalb der Geschichte der russischen Revolution wieder. I Bevor wir zu den Fakten übergehen, wollen wir uns fragen, woran man erkennen kann, wie es um eine marxistische Revolution steht. Das Wesentliche der revolutionären Politik liegt in der Beziehung von Proletariat und Partei. Das Proletariat ist die Negation und die lebende Kritik am Kapitalismus. Die geschichtlich revolutionäre Maßnahme kann jedoch nicht der einfache, direkte, unmittelbare Ausdruck der Gedanken oder der Wünsche des Proletariats sein. Dieses wird nur dann zu einem geschichtlichen Faktor, der in der Lage ist, die bestehende Gesellschaft zu revolutionieren und von ihr ausgehend eine neue anzuregen, wenn die Partei ihren ›spontanen‹ Kampf korrigiert, erhellt und zu einem politischen Kampf weiterentwickelt, wenn sie ihn auf die Ebene des gesellschaftlichen Ganzen überträgt, mit dem sie sich messen muß. Das Proletariat, das keine Güter, keine Interessen, beinahe keinen positiven Zug besitzt, ist gerade dadurch bereit für eine universelle Rolle: Es ist ihm geradezu natürlich, keine Sekte oder Bande zu sein und die Errichtung der Gesellschaft von unten aus neu zu beginnen. Es ist an sich Revolution. Aber dies weiß es zunächst nicht und kennt weder die Mittel noch die Wege, weder die Episoden noch die Institutionen, durch die sich das ausdrücken sollte, was Marx das ›Geheimnis seiner Existenz‹ nannte. Es ist die Partei, die seine Revolte in eine positive und langfristige Aktion verwandelt. Philosophisch ausgedrückt: Die Partei geht über die Revolte des Proletariats hinaus, sie verwirklicht sie, indem sie sie als unmittelbare Revolte zerstört, sie ist die Negation dieser Negation, oder mehr noch: Sie ist ihre Vermittlung, sie bewirkt, daß die negierende Klasse zu einer begründenden Klasse und schließlich zu einer klassenlosen
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Gesellschaft wird. Diese philosophische Sprache ist weit davon entfernt, überflüssig zu sein: Sie ist gewissermaßen die algebraische Formel der Revolution, sie gibt von ihr in aller Strenge den abstrakten Umriß und kommt auf denkbar genaueste Weise in der Praxis zum Ausdruck. Es wird dann eine Revolution geben, wenn die Partei das Proletariat erzieht, während das Proletariat der Partei Leben verleiht. Ein autoritärer Apparat, in dem das Proletariat nicht lebendig wäre, und eine Partei, die jedem Hin und Her des Proletariats aufgeschlossen wäre, sind gleichermaßen ausgeschlossen. Die revolutionäre Aktion beruht auf jenen beiden Prinzipien, daß in letzter Instanz die Partei immer Recht hat, und daß man in letzter Analyse niemals gegen das Proletariat im Recht sein kann. Um diese beiden Prinzipien zur selben Zeit beachten zu können, muß die revolutionäre Aktion eine Wechselbeziehung zwischen der Partei und dem Proletariat sein, es bedarf einer Partei, welche die Kritik der Proletarier akzeptiert, solange es sich nicht als eine zweite Macht, Clique oder Fraktion konstituiert – und einem Proletariat, das die Partei kritisiert, aber auf loyale, brüderliche Weise, als sei sie sein eigenes politisches Sprachrohr, und nicht etwa eine andere Partei oder ein Rivale; kurz gesagt, es bedarf einer Kritik, die eine Kritik seiner selbst oder eine Selbstkritik wäre. Man kann den Zustand einer Revolution verstehen, kann begreifen, an welchem Punkt ihrer Geschichte sie sich befindet und wo sie hingeht, wenn man untersucht, wieviel Vermittlung sie enthält, deren Formel wir gerade in Erinnerung gerufen haben. In diesem Zusammenhang sind die Fakten, die B. Sarel zusammengetragen hat, wertvoll. Sie stellen außer Zweifel, daß die ostdeutsche Gesellschaft weit davon entfernt ist, homogen zu sein oder harmonische Produktionsverhältnisse aufzuweisen. Selbst in den ›volkseigenen‹ Betrieben reichen verschiedene Positionen in der Produktion aus, um eine Abkapselung, Spannungen, Bündnisse und Umkehrungen von Bündnissen zu schaffen. Wir haben es hier mit einer keineswegs verbürgten Geschichte des Regimes zu tun, der gegenüber die Partei eher wie eine äußere Kontrollinstanz erscheint. Diese Feststellungen sind nur für
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Gelegentliche Äußerungen
denjenigen neu, der sich von der Revolution und von der Volksdemokratie eine vollkommen theoretische Idee bildet. Mangels ausreichender Informationen stehen wir jedoch beinahe alle an jenem Punkt, und das größte Verdienst einer Arbeit wie der von B. Sarel besteht darin, die Fragen so zu stellen, wie sie sich vor Ort stellen. 1) Die Betriebsleiter Zunächst einmal gibt es eine relative Autonomie der Betriebsleiter. Zur selben Zeit, in der man das Prinzip der Mitbestimmung der Arbeiter aufstellte, präzisierte man es dahin, daß die neue Verwaltung, »insofern als sie das Volk repräsentiert […] die Aufgabe hat, Pläne aufzustellen.«3 Die Initiative der Arbeiterschaft konnte nur darin bestehen, die besten Mittel zu finden, um die Projekte der Leitung zu unterstützen. »Man gewöhne sich endlich«, schreibt das Neue Deutschland vom 11.3.1950 voller Ungeduld, »an jene Idee, daß die Verantwortung für die Normen der Produktion der Leitung zufalle […] Die Aufgabe der Gewerkschaften ist es, die Arbeiter mit einem neuen Bewußtsein, mit einer neuen beruflichen Qualifikation auszustatten.« Andererseits sind die neuen Betriebsleiter nur in den wenigsten Fällen ehemalige Arbeiter. Den Zahlen zufolge, die Ulbricht 1947 angibt,4 zählen zu ihnen, auf die gesamte Zone bezogen, 21,7% Arbeiter, 30,7% Angestellte, 17,8% Ingenieure, 23,6% Kaufleute und 6,2% ehemalige Direktoren. Ab 1951–1952 wird der Zugang der Arbeiter zur Betriebsleitung noch weiter verlangsamt. Der Leiter gehört der Partei an. Dennoch kommt es vor, daß »die Leitung die Bilanzen fälscht, ihre Gewinne geheim hält und mehr Rohstoffe fordert, als sie benötigt […] Sie hat ihren eigenen Investitionsplan«5 – dergestalt, daß eine Anweisung vom Juli Neuaufbau der deutschen Wirtschaft, Berlin, 1946, S. 10. Protokolle des 2. Parteitages, Berlin, 1947, S. 321. 5 Benno Sarel, op. cit., S. 66 und 67, Verweis auf Volksbetrieb, Januar 1949, Juli 1950, Tägliche Rundschau, 31.3.1949, 25.2.1950, etc. 3 4
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1949 in den volkseigenen Betrieben einen obersten Buchprüfer vorsehen wird, der die Betriebsleitung kontrolliert, und nach Juni 1953 wird man in den Statuten der Partei die Vormachtstellung des parteieigenen Betriebsausschusses gegenüber der Leitung festschreiben. Die relative Autonomie der Betriebsleiter wirkt sich manchmal zum Nutzen der Arbeiter gegen die Partei aus. Auf der Konferenz der verstaatlichten Fabriken Brandenburgs, die am 12.8.1949 stattfand, widersetzen sich die Betriebsleiter einer Erhöhung der Normen, wie sie die Aktivisten vorgeschlagen hatten. Dann wieder verläuft die Trennlinie zwischen den Arbeitern und der Leitung. »In der Betriebsgruppe findet man immer die ›Herren‹ der Betriebsleitung, der Bezirksleitung oder der Leitung irgendeines anderen Bereiches, die untereinander diskutieren; jene, die im Umgang mit Worten nicht geübt sind, können an der Diskussion nicht teilnehmen […] Manchmal werden Genossen in Leitungspositionen von ihren eigenen Genossen wie eine Art höhere Autorität angesehen, die man nicht vertrauensvoll und offen aufsuchen kann. Sie denken an das Sprichwort: Wenn du nicht gerufen wirst, geh nicht zu deinem Fürsten.«6 Der gesellschaftliche Abstand wird durch das unterschiedliche Gehalt unterstrichen, das bei einem wichtigen Betriebsleiter bis zu fünfzehntausend Mark im Monat betragen kann.
2) Die Techniker Der Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Technikern verstärkt sich ab den Jahren 1951–1952, das heißt ab dem Beginn der Planung. Er folgt also jenem Antagonismus von Arbeitern und Betriebsleitung, da die alten Techniker, die zunächst zögerlich waren, oft durch die Planung an das Regime gebunden
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Neues Deutschland, 13.8.1949.
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werden. Am 25. April 1951 schrieb das Zentralkomitee die Erstellung individueller Verträge für die technische Intelligenzija vor und erklärte dem Egalitarismus den Krieg.7 Im Dezember 1951 verlangte das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes für die Intelligenzija angemessene Restaurants und Clubs.8 Etwa zu diesem Zeitpunkt wird die Verwendung des Begriffs Intelligenzler auf die ganze Führungsschicht der Fabrik ausgeweitet. Manche Arbeiter sagen: »Wir schreiten der Bildung einer Klasse von Intelligenzlern und Aktivisten entgegen.«9 Ein Arbeiter aus einer Fabrik in Stralsund spricht von einer Diktatur der Intelligenzija.10 Weihnachten 1951 sabotieren vier Parteimitglieder, Arbeiter der Werft in Warnemünde, die den Intelligenzlern ihres Unternehmens vorbehaltene Feier, indem sie das Kabel durchtrennten, das den Tanzsaal mit Strom versorgte.11 Ein Arbeiter sagte auf einer Betriebsgewerkschafterversammlung: »Man will, daß wir kameradschaftliche Beziehungen zur Intelligenzija pflegen. Warum also sollten wir unsere Mahlzeiten getrennt einnehmen?«12 Diese Äußerungen und diese kleinen Fakten sollen nicht als die Wahrheit über Ostdeutschland gelten. Die Tatsache, daß sie in der offiziellen Presse erschienen sind, reicht jedoch, um zu zeigen, daß sie hier nicht völlig undenkbar sind.
3) Die Arbeiterelite Ab 1949 kommt es vor, daß ein Aktivist in den Minen oder in der Schwerindustrie tausend Mark im Monat verdient, sechs mal mehr als seine Genossen mit dem niedrigsten Gehalt. Die wichtige Beteiligung der Frauen und der jungen Arbeiter an der 7 8 9 10 11 12
Dokumente der SED; Bd. III, S. 479. Neues Deutschland, 22.12.1951. Ebd., 4.6.1952. Ebd., 31.7.1952. Ebd., 4.5.1952. Ebd.
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Aktivistenbewegung13 und die hartnäckige14 Opposition, mit der sich die erwachsenen Arbeiter, beispielsweise unter den Eisenbahnern, der Einstellung von Frauen entgegenstellen, scheinen wohl zu zeigen, daß der Aktivismus zunächst nur in den am wenigsten reifen Elementen der Arbeiterklasse Erfolg hatte. Die Parteizeitschrift Neuer Weg von Dezember 1950 beschreibt eine thüringische Spinnerei, wo von hundertachtzig Mitgliedern der Partei nur zweiundzwanzig Frauen sind, wo aber andererseits die Arbeiterinnen die Mehrheit der Aktivisten bilden.15 Selbst wenn man die Vorteile nicht berücksichtigt, die den Stachanowisten gewährt wurden, so hat sich die Ausdifferenzierung der Gehälter seit dem Beginn der Planung doch verstärkt.16 »Im Jahr 1950 staffeln sich die Stundenlöhne der Arbeiter zwischen einem Maximum von 1,95 Mark in den Kohlenbergwerken bis zu einem Minimum von 0,59 Mark in der Spielzeugindustrie.«17 In ein und derselben Branche betragen die Unterschiede zwischen den Kategorien I und VIII bald rund 100%. Diese auf administrativem Wege festgelegte Skala der Löhne will sagen, daß die Planung eine Arbeiterelite an sich bindet und gewissermaßen ihr Proletariat heranzieht. Dies ist auch der Sinn der Wettbewerbsbewegung, die sich im selben Augenblick entwickelt. Alexander Stark schreibt im August 1949: »Die Wettbewerbe wurden von oben angeordnet […] In den Betrieben hat man kaum über die Bedeutung des Wettbewerbs diskutiert. In den Reihen unserer Verantwortlichen ist die Zahl derer groß, die Angst hatten, mit den Arbeitern zu diskutieren. Für sie, die
13 Informationsmaterial für Gewerkschaftsfunktionäre, August 1949, Berlin FDGB. 14 Neues Deutschland, 20.1.1950. 15 B. Sarel, op. cit., S. 80. 16 Die breite Fächerung der Löhne wird nach 1953 wieder zurückgenommen werden. 17 B. Sarel, S. 109. Die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Industriebranchen ist ein Mittel, die Arbeitskräfte auf die wesentlichen Sektoren auszurichten.
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Betriebsgewerkschaftsleitung, war es bequemer, mit einer anderen Gewerkschaftsleitung einen vermeintlichen Wettbewerb zu beschließen, statt ihre eigenen Kollegen zu mobilisieren und auf diese Weise eine wirkliche Wettbewerbsbewegung zu entwickeln.«18 Im März 1950 sagt H. Warnke: »[…] Wir müssen die unbestreitbare Stagnation der Wettbewerbsbewegung überwinden […] Die Wettbewerbe zwischen Betrieben können nur dann eine Krönung sein, wenn es an der Basis, in den Werkstätten, eine Massenbewegung gibt, die wirklich ernsthaft für den Wettbewerb im Innersten des Betriebes selbst eintritt (Zwischenrufe: Sehr richtig!).«19 Auf der Gewerkschaftskonferenz von 1950 trat der Rektor der zentralen Gewerkschaftsschule, Duncker, ein Mann von achtundsiebzig Jahren, mit einem Beitrag in Erscheinung, der die Ernsthaftigkeit und den ideologischen Reichtum der früheren deutschen Arbeiterbewegung in Erinnerung rief: »[…] Für uns ist wichtig«, sagt er, »daß es sich vor allem um einen neuartigen Wettbewerb handelt, der sich von der ›Konkurrenz‹ einer überholten Zeit unterscheidet, über die wir leider noch nicht hinausgekommen sind […] Es scheint so, als könne sich, ausgehend von einem kurzsichtigen Wettbewerbsgeist, von einem individualistischen Wettbewerbsgeist, ein Egoismus entwickeln, der dann, als ein Betriebsegoismus, dazu führt, die Produktionsmethoden […] wie ein Betriebsgeheimnis für sich zu behalten.«20 Dieser Beitrag wurde mit keiner Antwort erwidert. Im Zusammenhang mit der Festlegung der Normen erscheint der Widerstand der Arbeiterschaft gegenüber der Planung von oben gut und die von den Aktivisten gespielte Rolle des Proletariats maßgeschneidert. Zur selben Zeit, in der sich eine Bewegung für die Selbsterrichtung der Normen herausbildet und die Aktivisten beschließen, ihre Normen immer dann eigenständig 18 19 20
Berliner Beschlüsse, S. 21. Berliner Beschlüsse, S. 8. Ebd., S. 75.
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zu erhöhen, wenn sich die Möglichkeit bietet (was ihnen oft den Titel von Normbrechern, Lohnverderbern und Streikbrechern einbringen wird), richtet man ein Zentrum für technisch begründete Arbeitsnormen ein, das dazu dienen soll, Zeitnehmer auszubilden. Die Selbsterrichtung der Normen gab immer wieder Anlaß zu Mißbrauch, indem die Arbeiter die Normen zu tief ansetzten und sich auf diese Weise Prämien zur Lohnerhöhung für eine mittelmäßige Produktion verschafften, ein Verfahren, das unter dem Namen Normenschaukelei bekannt wurde. Andererseits hatten die Zeitnehmer in Deutschland bereits unter Hitler gearbeitet; es waren oft dieselben Männer, die man wieder in der Werkstatt erscheinen sah, und die Rationalisierung wurde nach denselben, gleichwohl vom Taylorismus selbst aufgegebenen Prinzipien gesteuert: »Die Messung der ›Elementarzeiten‹ jeder einzelnen Geste in einem Zyklus von Bewegungen, der eine Arbeit stereotyp werden läßt und die lebendige und individuelle Beziehung zerstört, die sich zwischen Mensch und Maschine einstellen soll.«21 Es ist wahr, daß die ›technische‹, ›objektive‹ oder ›wissenschaftliche‹ Bestimmung der Normen bis 1951 nur als ein Argument unter vielen präsentiert wurde, ebenso wie das Beispiel der Aktivisten. Die Arbeiter waren eingeladen, die Normen im Rahmen einer Gewerkschafterversammlung zu bestätigen. Die Versammlung stand jedoch »unter dem Vorsitz des Repräsentanten eines höheren Komitees […] Die Arbeiter, die nicht gewohnt waren, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen, sorgten ihrerseits nur für Unterbrechungen […] Im Augenblick der Abstimmung fragte der Vorsitzende zunächst nach den Gegenstimmen, die durch ein Heben der Hand anzuzeigen seien.«22 Die Festlegung der Normen wurde zu einer ideologischen23 oder politischen Angelegenheit. 1951 gewinnt die autoritäre Normerhöhung aufgrund von Zeitnahme gegenüber der Selbsterrichtung der Normen die Oberhand. 1952 kehrt man zur freiwilligen 21 22 23
B. Sarel, S. 121–122. B. Sarel, S. 124. Neues Deutschland, 8.6.1949.
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Normerhöhung zurück. Man weiß, daß der Aufstand vom Juni 1953 stattfand, als die Macht den Arbeitern des Gebäudes an der Stalinallee auf autoritäre Weise neue Normen auferlegen wollte. Ob man nun an das ›subjektive‹ Argument der politischen Loyalität appelliert oder an den ›objektiven‹ Zwang der Zeitnahme, in beiden Fällen läßt man sich nicht von den Anforderungen der Tätigkeit an die Arbeiter leiten, und in beiden Fällen ist es offensichtlich, daß sich das Proletariat entzieht.
4) Das Proletariat und seine Organisationen Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Spaltung, dieser Spannungen, kann man vermuten, daß nicht das Proletariat die Triebfeder des politischen und gewerkschaftlichen Apparates ist, der seinerseits eher der Ort eines Gesellschaftskampfes ist. In der Tat zeigt B. Sarel, wie in der Gewerkschaft die Verantwortlichen der Basis (mitunter auch jene der Partei) die Kampagne zur Erhöhung der Normen bremsen. Es gibt »Betriebsparteigruppen, die um so niedrige Normen wie möglich feilschen.«24 Manch ein Gewerkschaftsvertreter erklärt: »Ich bin gegen den Stachanowismus. Wir anderen Arbeiter wissen, daß auch der Kapitalismus uns die Möglichkeit gab, die Produktivität der Arbeit zu steigern, daß er uns aber in der Folge mit der Erhöhung der Normen in die Enge trieb.«25 Durch die Umwandlung der Arbeitstrupps in Brigaden versucht die Macht, die Arbeiterklasse enger an die Produktion und den Plan zu binden. Der Brigadier (der von der Betriebsleitung unter Zustimmung seiner Genossen ernannt wird) gibt seinerseits zumindest ebenso den Druck der Arbeiter an die Leitung weiter wie er den ›Druck von oben‹ an die Arbeiter weitergibt. 1951 werden die Betriebskollektivverträge, die eine Steigerung der Produktivität sichern sollen, bei den Brigaden und Gewerk24 25
Neuer Weg, Juli-September 1949. Tägliche Rundschau, 3.6.1949.
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schaften zur Diskussion gestellt. Die Diskussionen gelangen zu keinem Ende: »Am 14. Oktober«, schreibt B. Sarel, »veröffentlicht die zentrale Parteizeitung auf zwei Seiten einen selbstkritischen Artikel über die Frage der Betriebsverträge. Der Artikel benennt die unmittelbar Verantwortlichen für die herrschende Spannung in den Fabriken: die Gewerkschaftsfunktionäre. Nachdem sie auf diktatorische Weise die Verträge durchgesetzt haben, fehlt diesen Funktionären nun der Mut, sich vor den Arbeitern zu zeigen. Wenn sie vor ihnen auftreten, so ›laufen sie geduckt wie schüchterne Waisenkinder, darauf bedacht, nichts zu zerbrechen‹.«26 Werden die Gewerkschaften zu Sündenböcken, und wird die Krise auf ihre Kosten bewältigt werden? Nein. In einer zweiten Episode sind es die Gewerkschaften, die Kritik an der Partei üben. »Der Rat des Gewerkschaftsbundes veröffentlicht seinerseits (am 26.10.1951) ein Kommuniqué, in dem er seinen Teil der Verantwortung übernimmt, in dem er aber auch zum Gegenangriff übergeht, indem er nachweist, daß sich auch die Parteifunktionäre in einer ganzen Reihe von Fabriken ihrerseits autoritär oder abweichlerisch verhalten haben, indem sie den Widerstand auf die Verträge gestützt oder ihn sogar gelenkt haben.«27 »Bei Leuna, bei Zeitz, bei Karl Marx Babelsberg und andernorts […] gab es Parteimitglieder, die im Laufe der Diskussion Unterschriften gegen den Vertrag und für den Rücktritt der Betriebsgewerkschaftsleitung sammelten. Bei Mannesmann in Leipzig erhob sich der Parteisekretär gegen den Branchenkollektivvertrag. Und leider handelt es sich hierbei nicht um Einzelfälle […] Viele Mitglieder der Betriebsgewerkschaftskomitees, die im vorangegangenen Jahr gewählt worden waren, waren (zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses) nicht mehr im Amt. Sie waren durch die Leitung der Betriebsparteigruppen von ihrer Funktion entbunden […] und durch andere Genossen ersetzt worden, ohne daß irgendeine Wahl stattgefunden hätte […] Diese nicht gewählten Mitglieder der Betriebsgewerkschaftsleitungen erwiesen sich als 26 27
Neues Deutschland, 14. Okt. 1951. B. Sarel, S. 158.
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völlig unfähig, die Arbeiter zu überzeugen […] Sie haben Angst, sich vor dem Personal zu zeigen, das sie fragen könnte, woher sie kommen. Es sind insbesondere diese Betriebsgewerkschaftsleitungen, die sich dafür einsetzten, die Verträge mit bürokratischen Mitteln durchzusetzen […]«28 Die Polemik endet mit einem Kommuniqué des Politbüros, das den Gewerkschaften mit Strafe droht, ohne indes eine Säuberungsaktion anzukündigen. Ein Teil der ständigen Gewerkschaftsvertreter auf den höheren Ebenen wird lediglich ebenso dauerhaft in die Betriebskomitees geschickt. Diese wechselseitigen Anschuldigungen, die jedermann einbeziehen, entlasten auch jeden einzelnen ein wenig. Dennoch braucht man nicht anzunehmen, daß sie aus einem durchdachten Plan hervorgingen, und man darf nicht glauben, daß wir es hier nur mit einer Parodie der Polemik zu tun haben. Nein. In einer gleichzeitig autoritären und volksnahen Gesellschaft sind die Spannungen nicht gekünstelt, sie nehmen vielmehr, auch spontan, die ›verantwortliche‹ Sprache der Selbstkritik oder des brüderlichen Verweises an. Die entgegengesetzten Instanzen sind im Fehler und in der Unschuld solidarisch, da die eine wie die andere die von oben gekommene Bewegung in die Massen haben einbringen müssen und da ihnen dies nicht gelungen ist.
II Diese wenigen Fakten erlauben es, die Natur des Regimes und den gegenwärtigen Zustand der Revolution zu erahnen. Angesichts der Widersprüche und Spannungen, wie man sie in einer Gesellschaft wie der Ostdeutschlands feststellt, kommt die antikommunistische Polemik – und kommen auch gewisse Marxisten – zu dem Schluß, das System sei eine erneute Ausbeutung des Proletariats. In unserem Sinne – und B. Sarel scheint derselben Meinung zu sein – kann sich das System weder in sei28
Neues Deutschland, 26.10.1951.
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nen Absichten und ›subjektiv‹, noch in seinen vorhersehbaren Ergebnissen und ›objektiv‹ selbst definieren als eine Umlage auf die Arbeit aller zugunsten weniger. Solche Umlagen gibt es, aber wenn sie zu einer Entwicklung der Produktion führen, dann wird diese gesteigerte Produktion, wenn nicht nach dem Prinzip der Gleichheit, so doch zumindest zum Nutzen des Proletariats verteilt, da es auf seiten einer privaten gesellschaftlichen Macht keine Möglichkeit der Anhäufung gibt. Mit der Abschaffung des Eigentums von Produktionsmitteln, bleibt das Volksprinzip der Partei erhalten: Es ist stets das Proletariat, an das sich die Partei richtet. Es ist außergewöhnlich, daß sie reinen Zwang anwendet. Selbst wenn sie willkürlich gegen die Gewerkschaftsinstanzen vorgeht, so ist es letztlich doch die Wahl, auf die sie zurückgreifen muß. Alles, was die Partei unternimmt, um das Proletariat zu hintergehen, verwandelt sich für das Proletariat in Mittel, Druck auf sie auszuüben. Alle Informationen, die B. Sarel zusammenstellt, stammen aus Presseberichten und offiziellen Publikationen. Wie er tiefgründig bemerkt, enthält das Regime einen Liberalismus ›sui generis‹.29 In dem Augenblick selbst, in dem die Aktivistenbewegung, die Wettbewerbsbewegung und die Akkordarbeit dieses mustergültige Proletariat, wie es das Regime beschwört, von den Massen trennen, beschäftigt man sich mit den Parteilosen. 1949 hatte der prozentuale Anteil von Arbeitern, die in Ferienheimen aufgenommen wurden, nur 29% betragen. 1951 sind es 51%. Hunderttausend Personen im Jahr 1948, dreihundertfünfundsiebzigtausend im Jahr 1951 und fünfhunderttausend im Jahr 1952 verbringen ihren Urlaub in Ferienheimen.30 Man bekämpft ausdrücklich die Tendenz, die Masse der Parteilosen zu bevormunden.31 Es ist folglich so, daß diese Tendenz existiert. Es ist aber auch so, daß sie offiziell nicht existieren darf. Das System ist zwischen seinen beiden Prinzipien geteilt (die Partei hat immer Recht, und: Man kann nicht gegen das Proleta29 30 31
B. Sarel, S. 71. Ebd., S. 155. Neues Deutschland, 25.3.1950.
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riat im Recht sein), weil der Austausch zwischen Partei und Proletariat, die revolutionäre Vermittlung, nicht funktioniert haben. Es ist die gesellschaftliche Form, die erscheint, wenn die Revolution nicht ›greift‹. Die Partei behauptet um so dringender, mit dem Proletariat identisch zu sein, als das Proletariat sich weigert, dies anzuerkennen. Man könnte beinahe sagen, ihre Macht und ihre Privilegien seien die Form, welche die proletarische Revolution annimmt, wenn sie vom Proletariat angefochten wird. Selbst dann sind Macht und Privilegien folglich nie ein göttliches Recht. Das Regime hat kein einzigartiges Wesen, es besteht einzig und allein im Hin und Her zwischen seinen beiden Prinzipien. Bald zieht man in Betracht, mit allen Mitteln Disziplin zu erzwingen, bald kehrt man zurück zur Beratung und zur Diskussion. Das Regime würde auseinanderbrechen, wenn es einer der beiden Tendenzen bis zum Ende folgen würde. Der Zickzack oder die Spiralbewegung sind sein Gesetz. Es verfügt über kein anderes Mittel, seinen Fortbestand zu sichern. Es reicht nicht zu sagen, seine Politik sei widersprüchlich: In Wahrheit gibt es nicht einmal zwischen den Phasen der Entspannung und den Phasen der Spannung einen Widerspruch. Wenn sich die Münder öffnen, wenn man zur Selbstkritik übergeht, dann besiegelt diese ›Liberalisierung‹ erneut die Einheit von Proletariat und Partei, sie gliedert das Proletariat wieder ein, sie reiht es ein in den Kader und bereitet es auf eine neue Periode der ›harten‹ Politik vor. Umgekehrt ist die Säuberung selten eine reine Repression: Sie stellt die Vertreter bestimmter Widerstandsbewegungen kalt, aber man trägt den von ihnen repräsentierten Widerstandsbewegungen Rechnung, man greift sogar oft ihre Politik auf. Eine wesentliche Zweideutigkeit, bei der die Freiheit der Autorität zugute kommt, bei der die Repression die von ihr unterdrückten Widerstandsbewegungen authentifiziert, bei der die Kritik eine Aussöhnung ist, die Verurteilung eine Rechtfertigung, bei der sich alles zum Ausdruck bringt, jeder Ausdruck jedoch indirekt, umgekehrt und stillschweigend ist, bei der die Wahrheit selbst einen Ausdruck von Falschheit annimmt, weil man hinter ihr unmittelbar drohend die andere Wahrheit spürt, bei der die Lügen selbst
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an das erinnern, was das Regime hätte sein sollen, was es sein wollte … 1950 und 1951 schreibt das Neue Deutschland: »Was die Partei sagt, ist wahr«, dann: »Die Partei hat immer Recht«, und schließlich: »Was die Partei sagt, ist das einzig Wahre.«32 Am 21. Juni 1953, kurz nach dem Aufstand, nimmt das Zentralkomitee der Partei eine Entschließung an, die folgendes besagt: »Wenn die Massen der Arbeiter die Partei nicht verstehen, dann sind nicht sie die Schuldigen, sondern die Partei.«33 Und Grotewohl erklärt zwei Tage später vor den Arbeitern der Fabrik Karl Liebknecht: »Die Partei erfreut sich nicht mehr der Liebe, der vollkommenen Zuneigung der großen Massen an Werktätigen. Wir selbst sind schuld daran […] Die Partei hat die Aufgabe, diesen Irrtümern, diesen Versuchen, den Massen Befehle zu erteilen […] und sie wie Untergeordnete zu betrachten, radikal ein Ende zu bereiten.«34 Der Arbeiter Bremse von Siemens-Plania erklärt gegenüber Rudolf Herrnstadt, der Mitglied des Zentralkomitees und Chefredakteur des Neuen Deutschlands ist: »Ich bin stolz auf den 17. Juni. Am 17. Juni haben die Arbeiter gezeigt, daß sie eine Kraft sind, daß sie einen Willen haben.«35 Aber dies ist nicht alles: Am 24. Juli wird Herrnstadt aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen, und Grotewohl verlangt, man möge in der Partei dem ›Geist der Bußfertigkeit‹ ein Ende bereiten. Man ›macht weiter‹, wie es in Huis Clos heißt … Was kann man der Partei vorwerfen? Was hätte sie nach allgemeinem Dafürhalten tun sollen? Alle Tendenzen sind in diesen Fragen vertreten, alle Schwierigkeiten kommen hierin zum Ausdruck. »Zwischen Partei und Klasse«, sagt Ulbricht, »existiert beinahe kein Unterschied, keine Grenze. Alle Argumente, die unter den Arbeitern oder den Werktätigen in Umlauf sind, können auf den Versammlungen der MitglieNeues Deutschland, 17.3.1950, B. Sarel, S. 143–144. Ebd., 23.6.1953. 34 Ost-Berliner Radio, 23.6.1953. Die Presse, so bemerkt B. Sarel, wird nur Auszüge aus der Rede Grotewohls veröffentlichen (S. 182). 35 Neues Deutschland, 26.6.1953. 32 33
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Gelegentliche Äußerungen
der oder der Verantwortlichen der Partei ebenso vernommen werden […] Die Partei hegt dieselben Bedenken wie die Arbeiterklasse oder die Werktätigen.«36 Sie diskutiert aufrichtig und entscheidet sich für das Beste. Was erwarten die Arbeiter, damit sie sich in ihr wiedererkennen? Sie erwarten Zeichen: daß die Produktionssteigerung nicht durch den Taylorismus, die Konkurrenz oder eine vermehrte Anstrengung erreicht werde und daß sich das Volkseigentum in den Arbeitsweisen zeige. Für die Partei ist es dennoch einfacher, sich für das Proletariat zu halten als für das Proletariat, sich in der Partei zu vergegenständlichen. Sicherlich ist das Regime unwiderlegbar: Man kann immer behaupten, die Antagonismen und die Sezession der erwachsenen Arbeiter seien provisorisch, eine neue (von ihm herangezogene) Generation werde sich im System wiedererkennen. Man kann dies insbesondere dann behaupten, wenn man in der Zukunft lebt, als führende Kreise. Wenn man nur seine Gegenwart hat, wie die anderen, so kann man stets antworten, daß ein Proletariat nach dem Bild des Regimes eine Minderheit sein werde, da die Vorteile, die man ihm verschafft, es per Definition auszeichnen werden, und daß die Arbeit der Frauen und der Jugendlichen ein klassischer Notbehelf der Ausbeutungsgesellschaften sei. Das Regime ist nur deswegen unwiderlegbar, weil es auch nicht beweisbar ist. Die Vermittlung zwischen Proletariat und Partei tritt erst im Denken der Führenden ein, im Glauben der Jungen und im Arrivismus der Elite. Ein Betriebsleiter ruft: »Kollegen, die Spinnerei ist jetzt Volkseigentum […] Nun dient eure Arbeit dem Volke […] Es muß euch eine Ehre sein, durch eure Arbeit dem deutschen Vaterland zu dienen!« Der Autor fügt hinzu: »Einzelne Lacher waren zu hören. Wirklich patriotische Worte waren der Mehrzahl der Arbeiter fremd, insbesondere den Männern.«37 Dies liegt daran, daß man ihnen nicht zeigt, wie ihre Bedürfnisse und Wünsche in sichtbare Institutionen übertragen werden. Es liegt daran, daß man von ihnen zu glauben verlangt, der Betrieb 36 37
Ebd., 22.8.1948. Helden der Arbeit, Berlin, Verlag Kultur und Fortschritt, 1951, S. 63.
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gehöre ihnen, durch eine namentliche Festlegung, da er keiner Person mehr eigne – und es bliebe im Wettbewerb keine Spur von Konkurrenz, in den technisch begründeten Normen keine Spur von Taylorismus übrig. Anstelle der Vermittlung schlägt man ihnen die Transsubstantiation vor … Es ist also nicht angemessener, von einem ›proletarischen‹ Regime zu reden, als von einem Regime der ›Ausbeutung‹. Jene, die das Regime bilden und eine Zukunft darauf projizieren, können in gutem Glauben sozialistisch denken. Jene, die es ertragen, ohne es selbst zu bilden, und die folglich nicht dieselben Motive haben, ihm eine absolute und abstrakte Zuneigung zu gewähren, sehen außer in der Ideologie keine proletarische Zivilisation in Erscheinung treten. Sauvy hat verschiedentlich geschrieben, es gebe keine ökonomische Würdigung des Kommunismus und seiner Leistungsfähigkeit, weil er dort, wo er ›nimmt‹, im voraus mit einer grenzenlosen Aufopferung rechnet, mit einer Vermehrung der Anstrengung, mit einem Fortschritt der Produktion selbst ohne technischen Fortschritt (die ostdeutsche Presse hat diese These vertreten), und daß man infolgedessen die Fortschritte der Produktion nicht den von ihm errichteten Produktionsverhältnissen zugute halten kann: Sie gehen vielmehr auf einen Heroismus zurück. Das System urteilt strenggenommen nicht über sich selbst, man will es oder man will es nicht, es ist bestenfalls der Wunsch, einer nicht stattgefundenen Vermittlung Stärke zu verleihen. Worin es sicherlich neuartig ist. Aber es ist nicht die Revolution, deren Theorie der Marxismus lieferte, nicht die Produktion, die durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse von ihren Antagonismen befreit wäre. Sicher ist, daß das System eine schnelle Entwicklung der neuen Länder garantiert. Die Leistungsfähigkeit sinkt, wenn es, wie in Deutschland, auf ein aus früheren Zeiten stammendes Proletariat trifft, das Vergleiche anstellt, Beweise verlangt und sich nicht ohne weiteres mit dem Betrieb identifiziert, weil es auch andere Betriebe gesehen hat. B. Sarel übernimmt aus The Times Review of Industry eine Tabelle über die industrielle Produktion in der Tschechoslowakei, in Polen und in Ostdeutschland, die anhand
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Gelegentliche Äußerungen
offizieller Angaben erstellt wurde. Man kann daraus klar ersehen, daß das System eine größere Übereinstimmung mit den unterentwickelten Ländern aufweist.38 Sollte die Erfahrung der UdSSR außerhalb ihrer Grenzen das System nicht gelehrt haben, daß man wissen muß, wann es aufzuhören und dem Teufel seinen Anteil zu lassen gilt?
III
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Die Entspannung, welche die UdSSR heute betreibt, ist nicht eine jener zweideutigen Episoden, die ein erneutes Angehen der Angelegenheit vorbereiten. Eine Entspannung, die Tito Recht gibt, könnte die jugoslawische Partei kaum wieder zur Disziplin bringen. Es ist eine neue und beachtliche Tatsache, daß Malenkow, der anläßlich der Frage des Atomkrieges Mißbilligung erfahren hatte, nicht eliminiert wurde. Man kann also der Partei bezüglich der Wahrheit voraus sein, ohne eine Gefahr für das Regime zu sein? Man kann also anders sein, ohne ein Feind zu sein? Etwas funktioniert nicht mehr in jenem Zusammenwirken von Repression und Selbstkritik, das wir beschrieben haben. Zwar ist die Verminderung des repressiven Drucks progressiv, auch sie hat ihre Pausen, ihre plötzlichen Sprünge, ihre Zweideutigkeiten, aber diesmal scheint sie unumkehrbar zu sein. Überdies betrafen die taktischen Entspannungen die sozialistischen oder christlichen Werktätigen. Bis heute war noch nie die Rede davon, eine Entspannung gegenüber dem Kapitalismus zu erwägen. Zum ersten Mal gesteht das revolutionäre System ein, daß es nicht die ganze Geschichte abdeckt. Vielleicht hat es durch sein Verlassen 38
Hier die Tabelle (in tausend Dollar, Preise von 1938):
Polen Tschechoslowakei Ostdeutschland
1938 ⎯⎯ 711 875 2.162
1947 ⎯⎯ 739 761 1.020
1948 ⎯⎯ 946 893 1.280
1949 ⎯⎯ 1.180 964 1.500
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der Grenzen, speziell in Deutschland, gelernt, auch anderes zu berücksichtigen. Dies ist auf jeden Fall der Sinn, den die neue Politik im Licht der deutschen Episode annimmt. Was wären also die Perspektiven? B. Sarel zieht eine sehr nüchterne Linie in die Zukunft, und zwar auf marxistische Weise. Es gibt das Proletariat, das aus all seinen Erfahrungen lernt und seinen Glauben bezieht. Indem es die Versuche, sich die Macht zu erschleichen, seinerseits gegen die Macht richtet, nähert sich das Proletariat, entgegen dem Anschein, der Betriebsführung an. Über Enttäuschungen und Frustrationen hinweg entwickelt es sich so, daß es wirklich die Rolle der führenden Klasse übernimmt, sei es zugunsten eines neuen revolutionären Vorstoßes, oder sei es vielleicht sogar durch das Spiel der inneren Dynamik des Systems. B. Sarel denkt weiterhin, die proletarische Zukunft sei, sobald das Privateigentum abgeschafft sei, an der Tagesordnung. Sie ist von Privilegien und Widersprüchen verdeckt, aber sie ist im gesellschaftlichen Kampf, den das Proletariat verfolgt, gegenwärtig … Dies bedeutet, die Existenz der Widersprüche, die derselbe Autor so gut beschrieben hat, unerklärt zu lassen – oder aber, sie mit recht allgemeinen und vagen Ursachen wie ›den Interessen‹ oder ›den Irrtümern‹ der Bürokratie zu erklären. Wenn die proletarische Revolution in Rußland nur zur Planung übergehen und eine Produktion organisieren konnte, indem sie einer ›Führungsschicht‹ Platz machte, dann geschah dies vielleicht auch deswegen, weil die Planung von unten, die ›von unten angetriebene Diktatur‹ und letztlich auch die proletarische Gesellschaft, in der Proletariat und Partei eins sind, nichts als Phantasmen sind, und weil es keine Vermittlung durch die Diktatur, keine vermittelnde Diktatur, keine autoritäre geschichtliche Schöpfung gibt. Wie sollte man sich nun, nachdem so gut beschrieben wurde, was eine Volksdemokratie von einer proletarischen Revolution unterscheidet, nicht fragen, warum die proletarische Revolution in Volksdemokratien endet? Wie könnte man die proletarische Revolution in der Zukunft der Volksdemokratien ansiedeln, wo sie sich doch in der Vergangenheit dieser Demokratien befindet? Es
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Gelegentliche Äußerungen
ist wahrscheinlicher, daß die Volksdemokratien und die UdSSR selbst ihre Produktionsverhältnisse nicht durch eine neue revolutionäre Anstrengung, sondern gerade durch die Entspannung, durch Zugeständnisse an den Konsum und durch irgendeine neue und vorsichtige Modalität einer ›formalen Demokratie‹, durch irgendeine Berufung auf die Mystifikationen der Ideologie, zu harmonisieren suchen … Was man ernsthafter bewerten kann, ist die Auswirkung der Entspannung auf die nicht-kommunistischen Länder. Für den Augenblick scheint die im übrigen erstarrte Politik der westlichen Parteien von den Erfordernissen der internationalen Entspannung beherrscht zu werden. In Frankreich setzt man die verbale Opposition gegenüber der amtierenden Regierung fort, aber die marokkanische Partei wird dem französischen Gouverneur einen Friedensplan unterbreiten, und die CGT schließt sich bei ihren Bemühungen um die Wiederherstellung der Ruhe in Saint-Nazaire den Maßnahmen der Regierung an. Die westlichen Parteien werden nicht lange, bei Strafe einer inneren Krise, alles der internationalen Entspannung opfern können. Sie werden sicher dazu gebracht werden, eine eigene Politik zu definieren, wenn selbst die UdSSR ihren Wünschen nicht entgegenkommt, indem sie ihnen feierlich ihre Unabhängigkeit zurückgibt. Die Studie Vlahovitchs, die in Belgrad erschienen ist und die endgültige Auflösung des Kominform und die Errichtung einer neuen Internationalen ohne disziplinierende Anbindungen vorschlägt, kann schwerlich den Sowjets angelastet werden. Nach dem Besuch der sowjetischen Minister in Belgrad kompromittiert sie die Sowjets zumindest ein wenig. Wenn dies etwas anderes ist als eine Träumerei, dann wäre die neue sowjetische Politik kein Kapitel der Geschichte der proletarischen Revolution, sondern die Entscheidung, die ›Diktatur des Proletariats‹ auf den geographischen Bereich zu begrenzen, in dem sie existiert, und sie wäre für den Rest der Welt die Anerkennung anderer Formen des Gesellschaftskampfes und die Einladung, diese Formen zu bestimmen oder sie zu erfinden, ohne die Volksdemokratien zum Modell zu nehmen. Man würde dann
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sehen, daß die Linke kein leeres Wort ist, wie die revolutionären und konterrevolutionären Denker einstimmig behaupten. Was das Leben der revolutionären Länder umgibt, ist nicht die zivilisatorische Kraft einer Klasse, es ist das krampfhafte Wunschdenken einer ›Elite‹. Um in einer Zivilisation an den Bedürfnissen, am Leid und an der Ausbeutung der Proletarier etwas zu ändern, muß man, eher als auf eine in ihrem Namen errichtete Diktatur, auf ihre erneut mit unmittelbarer Heftigkeit auftretenden Ansprüche zählen, und auf das, was sie von den neuen Techniken fordern, derer sich die Menschen in naher Zukunft bemächtigen werden. (August 1955)
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Ü BE R DI E E N T S TA L I N I SI E RU NG
»Das große Modewort lautet Entstalinisierung.« Marcel Servin (L’Humanité, 12.11.56.)
Auf den Aufruf der ungarischen Intellektuellen durften wir nicht, selbst wenn dies in unserer Macht gestanden hätte, mit dem Krieg antworten. Wir schulden ihnen aber viel mehr als ein ›Ja‹, eine Unterschrift und das momentane tiefe Mitgefühl. Die Intellektuellen sind nicht dazu da, einen Block zu bilden, sondern dazu, sofern sie es können, Licht in die Dinge zu bringen. Die Ehrerbietung, die wir den Ungarn schuldig sind, besteht darin, ihr Opfer zu verstehen und es laut zu erklären, damit es nicht irgendwann vergeblich sein wird. So haben disziplinierte Kommunisten – diszipliniert bis hin zu den denkbar schmerzlichsten Formen der Selbstkritik und den schlimmsten Beschimpfungen, wenn ich beispielsweise an Lukács denke – Nagy vertraut, der das ›bourgeoise‹ Gericht der UNO anrufen, freien Wahlen zustimmen und den Warschauer Pakt aufkündigen mußte. Jene, die Nagy gefolgt sind, haben feierlich gegen das Prinzip verstoßen, dem zufolge man bei Auseinandersetzungen unter Kommunisten nie Hilfe von außen sucht. Dies bedeutet, daß es keine proletarische Solidarität mehr gibt und buchstäblich keinen Kommunismus mehr, wenn eine ›kommunistische‹ Macht ihr ganzes Proletariat gegen sich hat und es mit militärischen Mitteln niederschlägt. Der Appell an die UNO ist die angemessene, richtige Antwort auf die militärische Intervention: Die eine wie die andere versehen eine Krise des Kommunismus, die bis ins Innere des Systems reicht, mit einem bestimmten Datum. Jene ungarischen Kommunisten haben ihre politische Ehre und ihr Leben nicht infolge eines Mißverständnisses oder aus größter Bedrängnis aufs Spiel gesetzt. Sie waren
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nicht leichtsinnig oder vom Pech verfolgt. Wir haben nicht das moralische Recht, ihnen die Ehre zu erweisen, wenn wir ihre Entscheidung, die das Ende des durch die militärische Intervention zerstörten kommunistischen Paktes bestätigte, mit Stillschweigen übergehen. Nun spricht man jedoch in den ›linken‹ Protesterklärungen (welche die einzigen sind, auf die ich hier mein Augenmerk richte), die in diesen Tagen veröffentlicht werden, den sowjetischen ›Sozialismus‹ stillschweigend frei von jedem Verdacht. Man spricht von den ›Irrtümern‹ Chruschtschows, der die Entstalinisierung auf allzu auffällige Weise in Gang gebracht hatte, vom ›Fehler‹ Gerös, der die Russen um Hilfe ersuchte. Andere präsentieren die ungarischen Ereignisse wie eine bedauernswerte Auswirkung der ›Ungleichheit der Entwicklung‹, die dazu führt, daß die Satellitenstaaten nach Konsumgütern verlangen, die sie noch nicht produzieren können, während das russische Volk, das seine Schwerindustrie errichtet hat und sie produzieren könnte, nicht nach ihnen verlangt: Die Niederschlagung des Budapester Aufstands wird in der erhabenen Geschichte der ›sozialistischen‹ Wirtschaft zu einer Lappalie. Unterschwellig versteht man, oder man sagt, daß eine bessere Taktik, eine bessere Planung all dies hätten vermeiden können und es künftig vermeiden werden. Als schließe das Problem nicht alles ein, so wie es die Revolte getan hat. Diese gelehrten Kindereien laufen nur darauf hinaus, dort eine Krise zu verbergen, wo alles in Frage gestellt ist, sie setzen eine Ideologie als selbstverständlich voraus, die das Ereignis gerade bestreitet. Alles in allem sind die Aufständischen von Budapest in einem zweifelhaften Fall ums Leben gekommen: Wir anderen, die nicht tot sind, können Gott sei Dank die Ungeschicklichkeiten, die Irrtümer, die Fehler und die ungleiche Entwicklung berücksichtigen und unser Vertrauen in den sowjetischen ›Sozialismus‹ beinahe vollständig wahren … Der Aufstand der ungarischen Kommunisten bedeutet, daß der Stalinismus bis zum sozialistischen Wesen des Regimes gelangt ist, daß die Entstalinisierung im System keine Retusche oder ein taktischer Wechsel ist, sondern eine radikale Transformation, bei der es sein
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Gelegentliche Äußerungen
Leben riskiert und zu deren Durchführung es dennoch angehalten ist, wenn es wieder achtbar werden soll. Auf die Entstalinisierung zurückkommen, ihren ganzen Sinn ohne jeden Vorbehalt aufzeigen, das ist die einzige Ehrerbietung der Linken, die für die Aufständischen annehmbar wäre. Wir wissen, daß es zu früh ist, um als Historiker sagen zu können, was die Entstalinisierung ist. Man kann nicht wie einen Lehrsatz unter Beweis stellen, daß die Niederschlagung des Budapester Aufstands die Alterskrankheit des Kommunismus ist. Aber man kann beweisen, daß keines seiner Prinzipien unbeschadet daraus hervorgeht, daß die Krise keines ausspart und daß von der Entstalinisierung nichts übrig bleibt, wenn sie keine radikale Reform eines ›Systems‹ ist – das Wort wurde von Togliatti ausgesprochen und von Gomulka, von Tito aufgegriffen – und seine Anfechtung durch sich selbst. Um sicher zu sein, reicht es im übrigen, die Fakten dieser letzten Monate aus einiger Nähe zu betrachten. Wir möchten hier nur einige von ihnen hervorheben, die seltsamerweise bereits in Vergessenheit geraten sind. Nicht Chruschtschow ist leichtfertig, unsere Intellektuellen sind es, welche die Texte nicht lesen oder sich nur an die Artikel der Tagespresse halten. Wenn sie die von der kommunistischen Partei Frankreichs veröffentlichten Dokumente heranziehen würden1 – oder zumindest die bemerkenswerte Analyse, die uns Claude Lefort von ihnen liefert2 –, dann würden sie sehen, daß man heute von einer wirklichen Regimekritik sprechen kann. Nicht nur in der Rede Chruschtschows, sondern auch in den Reden Bulganins, Suslows und Malenkows ist die Beschreibung des ökonomischen und politischen Lebens der UdSSR so beschaffen, daß sie die beiden grundlegenden Prinzipien des Systems in Frage stellt: das Prinzip der Diktatur des Proletariats und das 1 Les Cahiers du Communisme, März 1956, und der von ihnen unter dem Titel XX. Kongreß der kommunistischen Partei der SU herausgegebene Band. 2 Socialisme ou barbarie, Juli-September 1956, Nr. 19, besonders die Seiten 43-72. Die folgenden Zitate stammen von Claude Lefort.
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Prinzip der autoritären Planung, das die moderne Form des ersteren ist. Man dachte, die autoritäre Planung habe das Verdienst, das zu organisieren, was andernorts dem Schicksal, das heißt den Interessen, überlassen wird, und in der Planwirtschaft seien beispielsweise die Löhne in Anlehnung an die Bedürfnisse, die Erfordernisse der Produktion und die Menge der konsumierbaren Produkte festgelegt. Im folgenden erfahren wir, was Chruschtschow darüber denkt: »Man muß sagen, […] daß sich im System der Löhne und Tarife eine Menge Unordnung und Verwirrung feststellen läßt […] Es kommt häufig vor, daß die Löhne vereinheitlicht werden. Es kommt aber auch vor, daß dieselbe Arbeit in unterschiedlichen Betrieben und selbst im Rahmen eines einzigen Betriebes unterschiedlich bezahlt wird […] Daher stehen wir vor einer wichtigen politischen und ökonomischen Aufgabe: Die Vergütung der Arbeit zu reglementieren.«3 Man dachte, in der Planwirtschaft seien die Menge und das Tempo der Arbeit in Anlehnung an die Erfordernisse einer vorgesehenen, durchdachten und kontrollierten Produktion festgelegt. Bulganin erklärt, die offiziellen Normen seien im Gegenteil ein Mittel, diese Erfordernisse zu drehen und den Bedürfnissen der Lohnempfänger so gut es eben geht gerecht zu werden: »Die Festlegung herabgesetzter Normen, und infolgedessen ihr erhebliches Überbieten, steht am Ausgangspunkt eines trügerischen Anscheins von Wohlstand in den Betrieben, und sie schwächt die Aufmerksamkeit der Arbeiter, Vorarbeiter und Ingenieure gegenüber einer wirklichen Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Im Grunde werden die Normen gegenwärtig nicht durch das technische Niveau und das Niveau der Organisation der Arbeit definiert, sondern vom Wunsch, sie an ein bestimmtes Lohnniveau anzupassen.«4 Die wirklichen Produktionskosten stehen also in keinem Verhältnis zu den veranschlagten Kosten, 3 4
Les Cahiers du Communisme, S. 318. XX. Congrès, S. 164.
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Gelegentliche Äußerungen
und die Produktivität wird nicht gesteuert. All dies muß letzten Endes wohl irgendwo in Erscheinung treten: Es kommt ein Augenblick, in dem der Abstand zwischen Wunsch und Ergebnis offenkundig wird. Dann ist der Druck der Tatsachen so stark, daß das System darauf verzichtet, Bilanz zu ziehen: »Wenn man untersucht«, sagt Chruschtschow, »wie manche Region oder mancher Distrikt, wie manche Kolchose oder Sowchose sich ihrer sozialistischen Verpflichtungen entledigt, dann wird man bemerken, daß die Worte nicht den Taten entsprechen. Überzeugt man sich übrigens ganz allgemein von der Richtigkeit dieser Verpflichtungen? Nein, in den meisten Fällen sieht man davon ab. Niemand ist in moralischer oder in materieller Hinsicht verantwortlich für die Nichterfüllung der Verpflichtungen.«5 So näherungsweise sie auch zutreffen mag, wenn sie in einem unterentwickelten Land auf eine gelehrige Arbeiterschaft einwirkt, so kreativ ist die autoritäre Planung, und es ist hinlänglich bekannt, zu welcher Macht die UdSSR herangereift ist. Dies ist nicht die Frage. Sie ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß die sowjetischen Machthaber vom XX. Kongreß an vor einer reifer gewordenen Bevölkerung nicht länger zu verbergen suchen, daß die autoritäre Planung nicht ausreicht, um die Wirtschaft zu lenken. Nachdem es durch heroische Mittel, ohne einen Appell an das Kapital, seine eigene Industrie gegründet hat, verspürt das Regime das Bedürfnis, von der ›Planung‹ zur Bilanzierung überzugehen, von der reinen Autorität zur Erkenntnis, vom Heroismus zur Vernunft. Der XX. Kongreß ist ein Appell an die Wahrheit und an das Bewußtsein, das aus den Erfordernissen der russischen Wirtschaft entsteht, und nicht etwa eine kühne Improvisation, die von den Schwierigkeiten der Satellitenstaaten angeregt wird. Wenn er zur politischen Kritik übergeht, so ist es dieselbe Trennung des Offiziellen vom Wirklichen, die in Erscheinung tritt, diesmal sogar im Zentrum des Regimes. Die Diktatur müßte vom Proletariat getragen werden, oder – da das Proleta5
Les Cahiers du Communisme, S. 347.
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riat in der Geschichte nicht ohne einen Apparat handeln kann, der seinen Auftrag in jedem Moment neu interpretiert – das Proletariat müßte sich zumindest in seiner Partei wiedererkennen. Dem XX. Kongreß zufolge befindet sich die Partei am Rande des wirklichen Lebens und der wirklichen Gesellschaft, die Erkenntnisse, die sie davon anhand von Informationen und Statistiken zu erlangen sucht, sind unnütz, ihr Handeln unbedeutend. Chruschtschow erklärt: »Die qualifizierten Arbeiter, die dem Parteiapparat angehören, sind weniger mit der Organisation als mit dem Sammeln aller Arten von Informationen und Statistiken beschäftigt, die übrigens in der Mehrzahl der Fälle unnütz sind. Aus diesem Grund befindet sich der Parteiapparat allzu oft in einem Leerlauf.«6 Suslow beschreibt die Tätigkeit eines Verwaltungssekretärs in einer Kolchose folgendermaßen: »Sein Tisch und all seine Schubladen sind mit Akten und Heften überhäuft. Er erledigt die Buchführung oder verzeichnet die Arbeit der Parteigruppen, die Arbeit unter den Frauen, die Arbeit mit den jungen Kommunisten, die zur Organisation des Komsomol beigetragene Hilfe, die Bitten und die Beschwerden, die den Kommunisten übertragenen Aufgaben, die Erziehungsarbeit der Partei und jene des Kreises von Amateurkünstlern. Er hat Akten mit der Aufschrift: ›Wandzeitungen‹, ›Offizielle Berichte‹, ›Wettstreit in der Viehzucht‹, ›Wettstreit in der Landwirtschaft‹, ›Die Freunde der Forstplantagen‹. Die Arbeit der Propagandisten wird in drei Heften schriftlich festgehalten: ›Verzeichnis der Propagandistentätigkeit‹, ›Die politische Arbeit für die Massen‹ und ›Die täglichen Aufgaben der Propagandisten‹. Stellen Sie sich vor, wie viel Zeit man zum Ausfüllen all dieses Papierkrams braucht, der unvermeidlich zu Lasten der lebendigen Organisationstätigkeit geht. Gleichzeitig muß man feststellen, daß in der Kolchose keinerlei Erziehungsarbeit unter den Melkerinnen und Hirten geleistet wird. Die Farmen sind nicht mechanisiert, es gibt keine Zeitpläne, keine festen Rationen für das Vieh. Die Produktivität der Zucht ist extrem niedrig. Der jährliche Durchschnitt der 6
Les Cahiers du Communisme, S. 345.
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von einer Kuh gelieferten Milch beträgt 484 Liter. Den Akten des Sekretärs zufolge haben die Kolchosbauern gar keine Milch abgeliefert. In dieser Hinsicht haben sie sich also als absolut unproduktiv erwiesen.«7 Der Kongreß lacht und applaudiert, merkt das Protokoll an dieser Stelle an. Ein unvergleichliches Vergnügen, endlich öffentlich gesagt zu hören, was man seit langem wußte, ohne es auszusprechen. Chruschtschow dehnt diese Bemerkungen auf alle politischen Kader aus: »Auf den ersten Blick«, sagt er, »scheinen sie sehr aktiv zu sein, und tatsächlich arbeiten sie viel, aber all ihre Aktivität ist absolut unproduktiv. Sie sitzen bei ihren Versammlungen bis zum frühen Morgen beisammen, sie rennen in die Kolchosen, tadeln die Zuspätkommenden, halten Konferenzen ab und Reden, die voller Gemeinplätze und in der Regel vorab geschrieben sind und dazu aufrufen, sich ›auf der Höhe zu zeigen‹, ›die Schwierigkeiten zu überwinden‹, ›eine Wende zu bewirken‹, ›vertrauenswürdig zu sein‹ etc. Ein Machthaber dieser Sorte kann sich jedoch noch so sehr ereifern, am Ende des Jahres wird es keinerlei Verbesserung geben. So wie man sagt ›Er hat sein Bestes getan‹, was ihn nicht daran gehindert hat, so unbeweglich wie ein Ölgötze dazusitzen.«8 Kurz gefaßt sind die Führungskräfte ›beschäftigte Nichtstuer‹. Und es handelt sich nicht um eine menschliche Schwäche. Die Wirkungslosigkeit hängt mit der Ideologie zusammen: »Unsere ideologische Arbeit«, sagt Suslow, »ist größtenteils unnütz, denn sie beschränkt sich darauf, immer wieder dieselben bekannten Formeln und Thesen zu wiederholen, und sie zieht mitunter Glossatoren und Dogmatiker heran, die fernab vom Leben stehen.«9 Die Entartung der Ideologie läßt sich auf allen Ebenen feststellen. Die Wirtschaftswissenschaftler, sagt Chruschtschow, »beteiligen sich im Verlauf der vom ZK der KPdSU einberufenen Konferenzen nicht an der Untersuchung der wesentlichen Fragen der 7 8 9
XX. Kongreß, S. 237 f. Les Cahiers du Communisme, S. 346. XX. Kongreß, S. 239.
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Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. Dies bedeutet, daß unsere Wirtschaftsinstitute und ihre Mitarbeiter sich vollkommen von der Praxis des kommunistischen Aufbaus losgesagt haben.«10 (Dies beinhaltet vielleicht eine gewisse Ungerechtigkeit: Ist es nicht der politische Apparat, der den Wirtschaftswissenschaftlern die Beschränkung auf die technischen Aufgaben auferlegt hat? Und wenn er erst heute die Dimension der Wirtschaft entdeckt, ist dies dann der Fehler der Wirtschaftswissenschaftler?) Mikojan geht mit den Philosophen sogar noch strenger um: »Man hätte ein paar Worte an unsere Philosophen richten sollen. Im übrigen müssen sie selbst begreifen, daß ihre Situation kaum noch glänzend ist und daß sie vor der Partei noch mehr schuldig geblieben sind als die Historiker und die Wirtschaftswissenschaftler.«11 Alles in allem geht es darum, ob die ›geplante‹ Wirtschaft zu einer Planwirtschaft werden und die Diktatur des Proletariats sich bei ihr Gehör verschaffen kann, anstatt ihm unnützerweise in den Ohren zu liegen, ob der aus der Wirklichkeit herausgefallene Schein sie wieder einholen kann. Der XX. Kongreß ist die Denunziation eines fiktiven und verbalen Lebens, die Kritik an Nominalismus und Fetischismus und ein Aufruf zum Konkreten. Der Apparat und die gesetzmäßige Gesellschaft suchen den Kontakt zur realen Gesellschaft, den Menschen bei der Arbeit und den Dingen. Die Liberalisierung ist kein vages Zugeständnis oder eine Taktik: Die reine Autorität, der Voluntarismus und die Diktatur verfehlen ihr Ziel, indem sie den Betrug, die Komplizenschaft der Betrüger, die Passivität und die Mythologie schaffen, und sie zerstören jene Verbindung von Wirtschaft und menschlichem Denken, die man Planung nennt, ebenso wie jene Verbindung von realer Gesellschaft und Macht, die man Diktatur des Proletariats nennt. Man steht einem Regime gegenüber, das sich bemüht, seinen schwindenden Sinn wiederzufinden. Die antistalinistische Polemik hat genau in diesem Kontext ihren festen Platz: Sie ist die Kritik an einem Überbau oder 10 11
Les Cahiers du Communisme, S. 346. Ebd., S. 253.
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Gelegentliche Äußerungen
einer Folgeerscheinung. Die Diktatur hat psychologische Mechanismen, Sitten und Gebräuche, einen Lebenswandel, einen Stil geschaffen. Ein Regime, das machen und nichts wissen will, behandelt das Scheitern wie Sabotage und die Diskussion wie Verrat. Es will sich nicht in dem erkennen, was es ist: Dies hieße, bereits ins Relative zu verfallen. Es umgibt sich also mit einem Geheimnis, und zwar so sorgfältig, daß es ihm unterlaufen kann, sich in gutem Glauben selbst zu verkennen. Es kann sich nur als die Tugend schlechthin denken, als Negation der Untugenden des Gegners, und es nimmt alles, was sich außerhalb von ihm befindet, nur als Hindernis oder als Hilfsmittel wahr. Seine große Regel ist es, zu urteilen, ohne verurteilt zu werden – zu urteilen, ohne zu kennen, und sich der Kenntnis zu entziehen, um nicht verurteilt zu werden. All dies verurteilt der XX. Kongreß unter dem Namen Stalins. Er riskiert bereits einen Blick auf das Äußere: Er bemerkt, daß der Kapitalismus keinesfalls ein Schatten ist, daß sein Überleben andauert und sich noch lange fortsetzen kann, daß all dies nichts Negatives ist, daß es technische, vielleicht auch gesellschaftliche Fortschritte gibt und daß der Übergang zum Sozialismus vielleicht dabei ist, sich anders als auf dem Wege eines Aufstands oder gar der Diktatur auf sein Ziel vorzubereiten. Kurzum, die kapitalistische Welt ist anders als die UdSSR, aber sie ist nicht mehr das Böse schlechthin, das absolut Andere. Sie existiert, mit ihren Makeln und ihren relativen Qualitäten. Und die UdSSR selbst willigt ein, anders als im Imaginären zu existieren, sie verzichtet auf ihr Leben als Traumgestalt und beschließt, sich selbst zu erkennen … Allein, sollte diese Bekehrung zur Erkenntnis vollständig sein, dann flöge die Diktatur in Stücke. Der XX. Kongreß weicht keinen Schritt breit vom Monopol der Partei ab. Es ist also immer noch die Partei, an die er sich richtet, um die Aktivität der Partei zu reformieren. Von diesem erschöpften und ›nichtstuerischen‹ Apparat, der von der Produktion und der realen Gesellschaft abgeschnitten ist, verlangt man, daß er sich ihnen wieder anschließe, indem er seine Aktivität verdoppelt. Alles in allem verlangt man von ihm das Unmögliche: Man hat gezeigt, daß er überall ein
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Doppelgänger oder ein Double ist, und man lädt ihn ein, durch eine Vervielfachung seiner lästigen Interventionen wieder zu einem realen Faktor der Geschichte zu werden.12 Der Aufruf zur Wahrheit und zum Wirklichen konnte also nicht konsequent und ohne Verheimlichungen sein, wenn die Diktatur die Diktatur bleiben muß. Der Bruch zwischen der Produktivität und dem Plan, zwischen dem Proletariat und der Diktatur konnte nicht offen angeprangert werden, ohne das Wesen und die Philosophie des Regimes in Frage zu stellen. Und dennoch mußte man, da es hierbei um die Produktivität und das Leben des Systems geht, einen entscheidenden Schlag führen … Die Lösung bestand darin, die Regimekritik in Form einer Mißbilligung Stalins zu präsentieren. Das Sakrileg war ausreichend und die Parole deutlich genug, um einen Schock auszulösen. Und gleichzeitig ließ die auf eine Person und den Kult, den man ihr gewidmet hatte, gebündelte Kritik die Prinzipien und das System unberührt. Man focht das System an, indem man es verstärkte, man verstärkte es, indem man es anfocht. Darin liegt vielleicht die Meisterleistung des Kommunismus: in einer Bewußtwerdung ohne das Wissen des Subjekts, einer unmerklichen Revolution und den Vorteilen des Wiedererstarkens ohne die Unannehmlichkeiten eines Schuldbekenntnisses. Wie alle Meisterleistungen, so ist auch diese schwierig. Indem sie die Vorteile auf sich vereinigte, zog die Entstalinisierung auch die Gefahren auf sich: Es gab auch jenes Risiko, daß die einen nicht hören wollen, was man ihnen mit Hilfe von Andeutungen sagte – und daß die anderen nur zu gut verstehen und alles in eine deutliche Sprache übertragen. Dies ist, was sich bis zu diesem Zeitpunkt ereignet hat. Man begreift, daß die Offenheit des XX. Kongresses die westlichen Parteien zusammenfahren ließ. Wenn Suslow ironisch über die Akten spricht, die keine Milch produzieren, dann geben sich die Aktivisten ganz dem Vergnügen hin, zu sehen, wie sich das Offizielle mit dem Wirklichen zusammenschließt, und das Regime zieht alsbald Gewinn daraus. Um diesen höheren Humor 12
Lefort, S. 55.
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auskosten zu können, fehlt den westlichen Aktivisten ein Sinn für das Relative, den man nur durch das kommunistische Leben erlangen kann. Sie müssen sich die Ohren zuhalten, oder aber die Sarkasmen des XX. Kongresses werden bei ihnen, wenn sie zuhören, Fragen, Erinnerungen und überwundene Revolten wieder wachrufen, und sie werden alsbald über das Maß hinausgehen. Genau dies ist Togliatti geschehen. In gewissem Sinne kamen die Thesen des XX. Kongresses seinen Gedanken und Wünschen zuvor. Aber gerade weil sie einige seiner alten Zweifel rechtfertigten, konnte er den russischen Machthabern nicht dankbar sein, daß sie diese Zweifel heute ihrerseits aufgreifen, nachdem sie sie einst unterdrückt hatten. Dennoch sind die Rachsucht, die schlechte Stimmung und die Gewalt bei Togliatti nicht alles – darin geht er allerdings weit über die französischen Machthaber hinaus. Aus all dem versteht er ein wenig marxistische Einsicht zu ziehen. Am Ende, so sagt er, geht es nicht um die Frage, ob Stalin gut oder böse war: »Man beschränkt sich im wesentlichen darauf, die persönlichen Fehler Stalins als Ursache aller Übel zu denunzieren. Man bleibt im Bereich des Personenkultes. Ganz am Anfang schrieb man alles Gute den übermenschlichen positiven Eigenschaften eines Menschen zu. Gegenwärtig schreibt man alle Übel den außergewöhnlichen und sogar verblüffenden Fehlern desselben Menschen zu. Im einen wie im anderen Fall stehen wir außerhalb des Kriteriums eines Urteils, wie es dem Marxismus eigen ist. Die eigentlichen Probleme entziehen sich, […] jene Probleme, die an die Mittel und Gründe rühren, welche die sowjetische Gesellschaft dazu verleitet haben, sich von bestimmten Punkten des ursprünglich von ihr vorgezeichneten demokratischen und legalen Weges zu entfernen, und die sie sogar zu gewissen Formen der Entartung verleitet haben.« Hier tritt die Dialektik wieder in Erscheinung: Die antistalinistische Polemik geht über sich selbst hinaus, die Kritik am ›Personenkult‹ kann nicht darin bestehen, die Vorzeichen zu ändern und aus dem großen Mann den Sündenbock zu machen. Dies ist eine stalinistische Art und Weise, Stalin zu kritisieren. Die einzige Kritik, die wirklich über Stalin hinausgeht und die folglich
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eine wahre Kritik wäre, ist jene, die bis zum System reicht. Wie immer bei einem guten dialektischen Vorgehen, so kann das Ziel nicht auf beliebigem Wege erreicht werden: Die Kritik am System wurde ›von oben her‹ begonnen – und es könnte gar nicht anders sein, da gerade das System ›das demokratische Leben eingeschränkt‹ hatte. Zumindest muß sie, die von oben gekommen ist, sich bis hin zur Basis fortentwickeln: »Ein normales demokratisches Leben wieder zu erlernen – nach dem von Lenin in den ersten Jahren der Revolution errichteten Vorbild –, das heißt die Initiative im Bereich der Ideen und der Praxis wieder zu erlernen, die Suche nach der leidenschaftlichen Diskussion, jenen Grad der Toleranz gegenüber den Irrtümern wieder zu erlernen, der unabdingbar ist, um die Wahrheit aufzudecken, die vollkommene Unabhängigkeit des Urteils und des Charakters wieder zu erlernen […] die Kader einer Partei umzuerziehen, mehrere hunderttausend Männer und Frauen, und durch sie die ganze Partei und ein unendlich großes Land, in dem die zivilen Lebensbedingungen von Region zu Region immer noch sehr verschieden sind, dies ist eine gewaltige Aufgabe, die weder durch drei Jahre Arbeit noch durch einen Kongreß erfüllt werden kann.« Togliatti kommt dreimal darauf zurück: Das Übel war allumfassend, und genauso allumfassend muß die Abhilfe sein. Es gibt dabei »allgemeine Irrtümer« und ein »zentrales Problem, das der Gesamtheit der Bewegung gemein ist«. Wenn die Kritik bis dorthin reicht, wenn es im Regime nichts gibt, das von ihr ausgenommen werden könnte, stellt sie es dann nicht in seinem Wesen und seinen Prinzipien in Frage? Es wäre ein Irrtum, dies zu glauben, sagt Togliatti, aber man kann sich hierin in gutem Glauben täuschen: »Ich schließe nicht aus […], und ich lege Wert darauf, dies in aller Offenheit zu sagen, daß es Leute gibt, die sich in allerbestem Glauben […] schließlich fragen, ob man heute nicht, angesichts der an Stalin geübten Kritik, und angesichts der Tatsache, daß Stalin über einen sehr langen Zeitraum hinweg der Hauptvertreter der kommunistischen Politik gewesen ist, die Glaubwürdigkeit aller Stufen dieser Politik in Frage stellen muß […], indem man letztlich […] – warum nicht? – bis zu den entscheidenden
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Handlungen der Oktoberrevolution zurückgeht […]« Er hatte nur allzu gut verstanden, er würde die so delikate Operation einer halben Bewußtwerdung auslassen. Beim Bestreben, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, konnte man sich auf die französische Partei verlassen, und die Russen haben sich ihren Ansichten gebeugt. Dem Ganzen wurde ein Riegel vorgeschoben, und Togliattis marxistische Frage wurde von der Resolution des Zentralkomitees der KPdSU vom 30. Juni zurückgewiesen. Dennoch ergaben sich, auch dabei, immer neue Schwierigkeiten. Die Arbeit war beinahe nicht durchführbar. »Man kann nicht«, heißt es in der Resolution, »einverstanden sein mit der von Genosse Togliatti gestellten Frage, ob die sowjetische Gesellschaft nicht zu bestimmten Formen der Entartung geführt hat. Es gibt keinen Grund, diese Frage zu stellen.«13 Togliatti hatte dennoch einen sehr guten Grund genannt: Wie hätten in einer gesunden revolutionären Gesellschaft solche Verheerungen möglich sein sollen? Man versteht, oder man gibt vor zu verstehen, daß er Stalin die übermäßige Macht zuschreibt, eine Gesellschaft zu verderben: »Zu denken, daß eine Persönlichkeit, mag sie auch so wichtig wie Stalin sein, unser gesellschaftliches und politisches Regime hat ändern können, heißt den Tatsachen, dem Marxismus, der Wirklichkeit zu widersprechen, heißt in Idealismus zu verfallen. Dies würde bedeuten, einer Persönlichkeit unglaubliche übernatürliche Kräfte zuzusprechen, wie etwa die Fähigkeit, das gesellschaftliche Regime zu ändern, ja sogar das gesellschaftliche Regime, in dem die Millionen von Arbeitern eine entscheidende Kraft bilden.«14 Machen sich die Verfasser der Resolution über die Aktivisten lustig, oder sind sie selbst verwirrt? Dies ist die Frage, die der ganze XX. Kongreß stellt: In welchem Maße erkennen die Reformatoren, was sie tun? Es ist durchaus möglich, daß sie Togliattis Frage nicht verstanden haben. Vielleicht stellen sie sich nicht einmal mehr vor, wie eine Untersuchung der UdSSR als ein 13 14
L’Humanité, 3.7.1956. Ebd.
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zu erkennender Gegenstand aussehen könnte, was eine marxistische Studie ihrer inneren Dynamik wäre? Vielleicht denken sie die Gesellschaft wie ein Agglomerat von Dingen und Menschen, von juristischen Institutionen (den Formen des Eigentums, der berühmten »Basis des Sozialismus«) und willkürlichen Anordnungen, so daß die Analyse des Stalinismus, da sie nicht an die »Basis« gerührt hat, auf die Psychologie Stalins hinausläuft? Die Verfasser der Resolution übersetzen sogar die Frage Togliattis in die stalinistische Sprache. Fest steht, daß die Juni-Resolution auf diese Weise die Lawine aufzuhalten vermag. Die französische Partei atmet auf. Man bleibt in den Überbauten, und da Stalin alles in allem Russe war, muß man hierzulande nichts Wesentliches verändern. Unter diesen Umständen tauchen die Fragen der Planung und der Diktatur erneut, und zwar auf eklatante Weise, im Bericht Gomulkas auf. Dabei erfährt man überdies, daß sich die Planung in ihr Gegenteil verkehrt hat. Zwischen 1949 und 1955 hat sich die Kohleförderung von 74 auf 94,5 Millionen Tonnen Kohle gesteigert. Im gleichen Zeitraum hat sich aber der Arbeitsertrag von 1320 Kilo je Bergarbeiter auf 1163 Kilo verringert: Von den 20 Millionen gewonnenen Tonnen Kohle wurden 14 Millionen außerhalb der normalen Arbeitszeiten, in Überstunden, abgebaut. Es gibt keine Steigerung der Produktivkraft. Die Planung plant nicht. Das Regime zahlt Überstunden, um die Fördermenge zu steigern. Es kontrolliert das Bruttoergebnis, nicht das Nettoergebnis. »Man müßte vor allem wissen«, sagt Gomulka, »wie hoch die tatsächlichen Produktionskosten sind.« »Die Praxis der Umsetzung des Sechsjahresplans bestand darin, daß man in bestimmten Bereichen das Maximum an Investitionsmitteln konzentriert hat, ohne die Bedürfnisse der anderen Bereiche des Wirtschaftslebens zu berücksichtigen. Und dennoch bildet die nationale Wirtschaft ein vereinigtes Ganzes.« Dies muß man sich nach zehn Jahren polnischer Planung und fünfundzwanzig Jahren russischer Planung in Erinnerung rufen. Das Prinzip der Planung selbst bleibt toter Buchstabe, weil der Planungsentwurf nicht das konkrete Ganze der polnischen Wirtschaft abdeckt und weil sich die Produzenten
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entziehen. Der Plan ist irreal, weil er ein voluntaristisches Projekt und nicht etwa ein Versuch ist, die Erfordernisse der Produktivität zu verstehen und sie auf ein bestimmtes Ziel auszurichten. Wir haben es uns nicht zur Aufgabe gemacht, zu sagen, was die Entstalinisierung ist. Was auch immer aber aus ihr werden mag, wir sehen bereits, was sie nicht ist und nicht sein kann: eine Reform in begrenztem Umfang. Sie verbreitet sich aus eigener Kraft im ganzen Regime, sie bringt überall ein gefährliches und nützliches Ferment ein, ein Risiko und eine Hoffnung. Es gibt zwei Arten, diese Hoffnung zugrunde zu richten. Die eine besteht darin, von der Entstalinisierung die Fetischprinzipien abzuziehen, als seien sie gar nicht betroffen. Die andere ist jene der Logiker und Geometer, die oft auch streitlustig sind. Da sie im Regime einen Widerspruch entdeckt haben, tun sie so, als ob die UdSSR, die ja kein Begriff ist, nichts wäre. Sie haben es immer gesagt: Diktatur des Proletariats und Planung sind zwei Wörter, die der Quadratur des Kreises gleichen – und die Entstalinisierung ist nur ein Trick, um diese Formeln zu retten. Sie haben die UdSSR und China widerlegt, so wie man eine Meinung widerlegt. Man muß nur alles ausstreichen und von vorn beginnen. Es ist die symbolische Abschaffung, während man auf die physische Abschaffung wartet. Was werdet ihr also an diese Stelle setzen? Es ist doch bemerkenswert, daß niemand in Ungarn oder Polen eine Wiederherstellung des alten Eigentumsregimes vorschlägt. Es muß folglich eine gute Art geben, die verstaatlichte Wirtschaft zu führen. Warum sollte man nicht Gomulka nach ihr suchen lassen? Die Entstalinisierung bringt den fundamentalen Widerspruch des Regimes ans Licht. Es gibt aber durchaus widersprüchliche historische Wirklichkeiten, die sogar in diesem Widerspruch Bestand haben. Angefangen mit der ökonomischen Wirklichkeit des Kapitalismus, die von Widersprüchen wimmelt und dennoch nicht kurz davor ist, zu verschwinden. Die Entstalinisierung ficht das Wesen der Diktatur an: Solange sie andauern wird – und sie muß von Dauer sein, wie Togliatti sagte, denn dies ist keine Angelegenheit von drei Jahren und einem Kongreß – , wird sie das Re-
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gime in Gefahr bringen, sie ist also im voraus zu Rückfällen und Umwälzungen prädestiniert. Aber warum sollte ein Regime nicht mit einer Wunde in seiner Seite leben können? Dies ist überall dort der Fall, wo Freiheit herrscht. »Der Schlüssel zur Lösung der Schwierigkeiten, die sich aufgetürmt haben«, sagt Gomulka, »liegt in den Händen der Arbeiterklasse.« Dies ist ein Aufruf zum Vertrauen, und er ergänzt ihn nur durch sehr verhaltene Reformen. Das Vertrauen hat er allerdings. Aber für wie lange, wenn er sich keine Lösungen und Institutionen einfallen läßt? Von der Diktatur wird verlangt, sich selbst anzufechten, ohne sich auslöschen zu lassen, und vom Proletariat, sich zu befreien, ohne eine Kontrolle der Diktatur abzulehnen. Das ist schwierig, beinahe unmöglich. Die Welt hat nur die Wahl zwischen diesem Weg und dem Chaos. Eine Lösung muß in erst noch zu schaffenden gesellschaftlichen Formen gesucht werden. Die einzige angemessene Haltung ist also die, den Kommunismus im Relativen zu sehen, wie eine Tatsache ohne jedes Privileg, wie ein Unternehmen, das von seiner eigenen Widersprüchlichkeit verfolgt wird, das sie erahnt und über sie hinausgehen muß. Er ist keine Lösung, denn wir sehen ihn wieder auf seine Prinzipien zurückkommen. Er ist genau genommen keine Realität, da man uns sagt, die Planung sei erst noch vorzunehmen, und das Leben der Partei sei imaginär. Die Diktatur ist ein fehlgeschlagener Versuch, fehlgeschlagen deshalb, weil der Versuch kein solcher sein wollte, sondern das Endziel der Geschichte. Als universelles Modell, als Zukunft der Menschheit, ist die Diktatur gescheitert. Aber auch die Französische Revolution ist gescheitert. 1793 gab es Leute, die Robespierre zu Recht haßten. Trotz dieses Umstandes ist die Französische Revolution eine Stufe unserer Geschichte, dieser Umstand bewirkt nicht, daß die Geschichte nach der Revolution wieder nach vorrevolutionärem Muster beginnt. Was sich seit 1917 ereignet hat, ist kein Exkurs, sondern in jedem Wortsinn der Beweis des revolutionären Voluntarismus, der noch blutiger und schmerzhafter als der erste ist. Man kann in angemessener Form über die UdSSR reden, aber nur dann, wenn sie es akzeptiert, sich wieder in die Reihe der Geschichte
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einzufügen, und wenn man nicht an sie glaubt, weder im Sinne eines Guten noch im Sinne eines Bösen, wenn man auf die Fetische verzichtet hat. Wir möchten zum Abschluß einige Zweideutigkeiten hervorheben, welche die Entstalinisierung und den Frieden bedrohen. In gewissem Sinne bewirken die Entscheidungen des XX. Kongresses nichts anderes als eine Übertragung der stalinistischen Praxis in Formeln. Der koreanische Waffenstillstand und die nach 1944 in der Regierung vertretenen Kommunisten, dies war bereits eine Politik der Koexistenz. Wenn man die Dinge von nahem betrachtet, dann gehen die Entstalinisierer, offen gestanden, nicht darüber hinaus. Chruschtschow sagt, die Revolution gehe nicht unbedingt mit einem Aufstand oder einem Bürgerkrieg einher – auch nicht unbedingt mit Gewalt. Man könne auch »den parlamentarischen Weg nutzen, um zum Sozialismus überzugehen« und »eine stabile Mehrheit im Parlament erobern«. Einige Zeilen weiter heißt es jedoch: »Für alle Formen des Übergangs zum Sozialismus ist die politische Führung der Arbeiterklasse, mit ihrer Avantgarde an der Spitze, die ausdrückliche Voraussetzung, die entscheidende Voraussetzung.« Nun ist aber die Avantgarde, wie wir wissen, die Partei, und wenn die parlamentarische Aktion nur – wie sie es bei Lenin immer gewesen ist – eine der Aktionsmöglichkeiten der Partei ist, die man ›auch‹ zum Einsatz bringt, dann ist das, was Chruschtschow dort vorschlägt nur einer jener politischen Ansätze einer Nationalen Front, die Stalin nach dem Krieg ins Leben gerufen hatte. Mikojan findet noch deutlichere Worte. Marxismus und Reformismus, sagt er, bleiben vollkommen unterschiedlich. Für die Marxisten »muß die Staatsführung in der Gesellschaft von der Arbeiterklasse übernommen werden, damit […] sie, nachdem sie die Mehrheit hinter sich gebracht hat, die Macht in ihre Hände nehmen kann […] Man muß sich in Erinnerung rufen, daß die Revolution, ob sie nun friedlich oder nicht friedlich ist, immer eine Revolution sein wird.« Das einzig Neue an diesen Texten ist im Grunde der Umweg über die parlamentarische Mehrheit. Sobald sie die parlamentarische Mehrheit erobert hat, wird die Arbeiterklasse »die
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Macht in ihre Hände nehmen«. Man sagt nicht, ob diese Macht von genau jener Mehrheit kontrolliert werden wird, die sie geschaffen hat, und noch weniger, was auf dieser beunruhigenden zweiten Stufe aus der Minderheit werden wird … Selbstverständlich ist es bezeichnend, daß man Zweideutigkeiten zu schaffen sucht und daß Mikojan sich dagegen wehrt, ein Reformist zu sein. Unter den Worten, den Begriffen, spürt man, daß die Diktatur sich lockert und daß das Andere in Betracht gezogen wird. Wenn Suslow, anstatt von Sozialismus oder Kommunismus zu reden, von einem »neuen sozialen Regime« spricht, dann ist dies nicht der Ton von Marx und Lenin, und man hätte seine liebe Mühe, zwischen dem Zugeständnis und der List eine Entscheidung zu treffen. Nichts in den vorgeschlagenen Formeln liefert jedoch eine absolute Garantie, daß es etwas Neues geben wird. Und man kann sich, ohne irgendetwas an ihnen zu ändern, auf die Gewalt und den Kalten Krieg zurückziehen. Die Entstalinisierer sind immer noch Stalinisten. Die Doppelnatur des Stalinismus schließt alles in sich ein, auch die Entstalinisierung. Die besten Beobachter haben bemerkt, daß das politische Leben des Kommunismus im stalinistischen Regime um so panischere Kämpfe mit sich brachte, je weniger sich mehrere politische Ansätze gegenüberstanden und je weniger offen die Opposition in Erscheinung treten konnte. Hinsichtlich der stalinistischen Politik des Kompromisses und der Koexistenz gab es keinerlei die Lehre betreffende Abweichung, und man gab den ›Hardlinern‹ lediglich die Genugtuung, die Kompromisse mit bedrohlichen Demonstrationen zu begleiten. Die Eigenart des Stalinismus oder des linken Opportunismus besteht darin, sagt Hervé, eine Politik der Zusammenarbeit zu betreiben und gleichzeitig eine kompromißlose Ideologie zu bewahren. Der mit dröhnender Stimme vorgetragene Kompromiß, der brüllend angesprochene Frieden, diese Mischung aus politischem Zugeständnis und verbaler Gewalt sind der Stalinismus selbst. Wenn es heute einige Entstalinisierer in der Führungsspitze der französischen Partei gibt, so haben sie deswegen nicht aufgehört, Stalinisten zu sein. Wie Togliatti sagte, wird dies viele lange Jahre dauern.
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Man kann all dies nicht vergessen, wenn es beispielsweise darum geht, den Bruch Hervés selbst mit dem Stalinismus einzuschätzen. Das Beispiel ist um so bezeichnender, als es, mit seinem unerwarteten Eintreten vor dem XX. Kongreß und außerhalb von jedem Ultimatum der Ereignisse, die reife Frucht einer Erfahrung ist, die Tatsache eines Mannes, der genügend Scharfblick hatte, um die Entwicklung des Kommunismus vorwegzunehmen, und genügend Mut, um in das allgemeine Schweigen hinein zu reden, der Herr seiner Kritik ist wie er zuvor Herr seiner Anhängerschaft war, der kurz gesagt sich selbst treu geblieben ist. Aber es ist gerade diese seltene Würde, die seine Politik in der Zweideutigkeit beläßt. Sie ist in vielerlei Hinsicht nur eine bewußtere Form der stalinistischen Politik. »Was die Meinung angeht«, sagt er selbst, »der zufolge ich im Vergleich zum Kurs der Führung des PCF keinen ›oppositionellen Kurs‹ eingeschlagen haben soll, so ist auch sie verständlich. Unter dem Zwang der Dinge und so gut es eben geht verfolgt die Führung des PCF praktisch eine Politik, die durch ihre Reden widerlegt wird.« Er legt Wert darauf, die bewußte und aktive Koexistenz als eine marxistische und sogar leninistische Politik darzustellen. Lassen wir einmal Marx und Engels beiseite, aus denen man mehr als eine politische Philosophie ableiten kann. Natürlich können Lenin und Trotzki der Kritik am Stalinismus dienen, aber sie rücken nicht zur selben Seite hin von ihm ab wie die Entstalinisierer. Selbst als er die NEP vorschlug, hat Lenin nie die Koexistenz und den Wettstreit von Kapitalismus und Sozialismus zum Prinzip erhoben. Im übrigen stammt die NEP aus einer Zeit vor der Planung, eine NEP nach fünfundzwanzig Jahren der Planung hat einen ganz anderen Sinn. Ist die Politik der aktiven Koexistenz eine bolschewistische Politik? Politisch gesehen ist das, was Gomulka vorschlägt, ein Kompromiß mit der parlamentarischen Demokratie, eine Art Reichstag, der ›die Arbeit der Regierung schätzt‹ und ›kontrolliert‹, eine Partei, die ›lenkt‹ und nicht regiert, ein Staatsapparat, der seine Autonomie gegenüber der Partei wiederfindet; kurzum, eine Art ›konstitutioneller Kommunismus‹ in dem Sinne, wie man von konstitutioneller Monarchie spricht. All dies hat nichts gemein
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mit Trotzkis ›Demokratie der Arbeiter‹ und auch nicht mit den Thesen aus Der Staat und die Revolution. Die Entstalinisierung kehrt nicht zu dem zurück, was vor Stalin war. Sie geht über Stalin hinaus einer anderen Zukunft entgegen. Der Horizont eines entstalinisierten Kommunismus ist nicht Lenins Horizont. Hervé stellt sich zu Beginn von La Révolution et les fétiches die Frage, ob die Revolution durch die Koexistenz auf unbestimmte Zeit aufgeschoben wird. Am Ende gelangt er zu dem Schluß: Sie wird weder aufgeschoben noch ausgelassen, sie verändert ihren Charakter. Denn die Revolution kommt nicht unbedingt in Form eines Aufstandes, nicht einmal mit Gewalt oder gar mit einem ›Prager Staatsstreich‹.15 Er verlangt, daß man »den Begriff der Reform noch einmal überdenkt«, ebenso wie die Begriffe Planung, Verstaatlichung und Staatskapitalismus.16 Er spricht mit einem Fragezeichen vom »tatsächlichen Reformismus« und sieht schließlich »Reformen« entgegen, »die in der politischen Situation vorübergehend nicht anwendbar wären, die aber aufgrund ihrer Anziehungskraft auf die Massen den Kampf vorantreiben und die Bedingungen ihrer praktischen Umsetzung schaffen könnten.«17 Damit ist er nicht weit von der klassischen Vorstellung der Reformen als Mittel zur Agitation und Auftakt zur Machtübernahme entfernt … Wozu sollte man dann aber noch die Reformen und den Rest berücksichtigen? Diese klugen Untersuchungen werden von der Logik des Kampfes schnell überholt sein. »Es scheint so, wenn man Chruschtschow Glauben schenkt, als könne die Form der Diktatur des Proletariats gar nicht notwendig sein.« Zu einem Thema dieser Art würde man lieber etwas Positiveres hören. Man müßte wissen, daß es nur darum geht, den Voluntarismus der Diktatur des Proletariats und der autoritären Planung – und einer intelligenteren und offeneren Form des Stalinismus – auf andere Weise in Gang zu bringen. 15 16 17
La Révolution et les fétiches, S. 138. Ebd., S. 129. Lettre à Sartre, S. 82.
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Ein bewußterer Stalinismus ist jedoch kein Stalinismus mehr. Es geht um etwas ganz anderes, wie man an der Kritik der Fetische und der kommunistischen Haltung ablesen kann. »Man muß«, sagt Hervé, »im Hinblick auf die großen Probleme des nationalen Lebens Stellung beziehen, man muß Lösungen vorschlagen und sich engagieren. Wie wollt ihr sonst erreichen, daß die Demokraten und die Sozialisten uns vertrauen? Liegt es bei ihnen, Verantwortung zu übernehmen? Liegt es bei uns, Forderungen aufzustellen? Eine bequeme Haltung, aber wenig überzeugend.« Wie sollten die Aktivisten und die Partei, wenn sie an die Revolution als Lösung glauben, sich mit der Frage beschäftigen, ob eine Reform möglich ist, anstatt »den Kampf voranzutreiben«, indem sie nicht anwendbare Reformen vorschlagen? Geht es darum, die Republik leben zu lassen, oder darum, sie in Richtung der Diktatur zu durchschreiten? Es genügt nicht, eine Sache unentschieden zu lassen, um die Kommunisten und die anderen in einer Aktion zu versöhnen. »Mir scheint«, sagt Hervé außerdem, »daß die Partei das Recht in Anspruch nimmt, sich zu allen äußeren und inneren Fragen der anderen Organisationen zu äußern. Wie könnte sie dies im Gegenzug verbieten? Auf welches Prinzip würde sie sich berufen? Auf das Prinzip, daß sie ›keine Partei wie die anderen‹ ist? Wenn sie effektiv größere Allianzen schmieden und sich nicht mit zweitklassigen Anhängern oder Ehrenmitgliedern der Partei zufrieden geben will, wie könnte sie dann dieses Prinzip anderen Parteien auferlegen? Wie sollte ein Einvernehmen möglich sein, wenn die kommunistische Partei ihr Prinzip aufrechterhält, daß sie über Rechte verfügt, die die anderen nicht haben?«18 Wenn aber das Proletariat eine geschichtliche Mission hat und wenn die Partei der Interpret dieser Mission ist, dann hat sie besondere Rechte, dann ist sie keine Partei wie die anderen. Der Kommunismus kann nur dann eine Wechselbeziehung mit den anderen eingehen, wenn er bereit ist, sich auch mit ihren Augen zu sehen, das heißt sich zu relativieren. 18
Lettre à Sartre, S. 111.
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Man sieht also, was man über die Parole einer Volksfront denken muß, die von Hervé, und jüngst auch noch von Sartre, aufgegriffen wurde. Sie gehört nicht zu jenen Parolen, die zur politischen Klarheit beitragen. Denn von welcher Volksfront spricht man schließlich? Es gibt die gesellschaftliche Bewegung von 1936, die Streiks mit ihren Fabrikbesetzungen, die eine Übernahme der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse auf die Tagesordnung setzten. Es ist sicher nicht diese Volksfront, an die man als ein Mittel zur Vereinigung der Linken denkt. Ist es die Volksfront im Sinne von Thorez, die den Streiks ein Ende bereitet, die aber, kraft verbaler Gewaltanwendung, die Partei aus ihrer Verantwortung entläßt? Oder denkt man gar an das Dreiparteiensystem der Nachkriegszeit, bei dem kommunistische Minister gegen eine Regierung stimmten, der sie weiterhin angehörten? Es ist das genaue Gegenteil dieser ›konstitutionellen Politik‹, dieses Engagements für die Probleme des Tages, dieser ernsthaften Gemeinschaftsaktion mit den Nicht-Kommunisten, das Hervé mit Togliatti ersehnt. Denkt man schließlich an die Volksfront im Sinne Blums, dieser janusköpfigen, die sich der Arbeiterklasse wie der Beginn des Sozialismus präsentiert und den Betriebsleitern wie ihre letzte Chance, die letztlich weder das eine noch das andere ist und auf der Ebene der Reform ebenso scheitert wie auf der Ebene der Revolution? Man kann nur dann ernsthaft von einer Volksfront reden, wenn man das Problem aufgreift, auf das Blum selbst gestoßen ist – wenn man eine Aktion bestimmt, die tatsächlich die Überwindung der kapitalistischen Anarchie ist, ohne der Beginn der Diktatur des Proletariats zu sein. Dies nennt man einen Reformismus. In Wahrheit ist der Reformismus keine alte Sache: Er steht allein auf der Tagesordnung. Gomulka stellt fest, daß man eine Bilanz der Nation ziehen müsse, daß es ohne Bilanz keinen Plan gibt, daß das Problem einer effektiven Führung der Wirtschaft durch den Menschen nach der Übertragung der Produktionsmittel an den Staat ganz erhalten bleibt und daß die diktatorische Wirtschaft nur an der Schwelle zu diesem Problem steht. Dies bedeutet, daß die rivalisierenden Formen des Eigentums anhand
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ihrer Fähigkeit zu bewerten sind, dieses Problem zu lösen oder nicht zu lösen, und daß weder die eine noch die andere Form an sich eine Lösung ist. Um die tatsächlichen Produktionskosten, die Bedürfnisse und die Möglichkeiten des Konsums zu ermitteln, ist die Marktwirtschaft ein abgegriffenes Instrument, das so gut es eben geht an unvorhergesehene Anwendungen angepaßt ist. Es ist das einzige Instrument, über das wir bis heute verfügen. Wenn man ein besseres haben will, so muß man es erfinden. Ähnliche Probleme finden sich am Horizont der Diktatur und am Horizont des Kapitalismus. Für die Diktatur geht es darum, zu einer Planung überzugehen, die keinen Zwang ausübt, wie es umgekehrt für den Kapitalismus darum geht, die Mechanismen der Marktwirtschaft einer Lenkung durch das öffentliche Interesse zu unterstellen. Auf beiden Seiten geht es darum, ›künstliche Mechanismen‹ oder Servomechanismen zu schaffen, die eine Wirtschaft ohne Diktatur anregen und organisieren. Die Alternative ›Reform oder Revolution‹ ist vor dem neu auftauchenden Problem, das von der Revolution nicht gelöst wurde, nicht länger zwingend. Zunächst ist eine reformistische Arbeiter- und Bauernpartei ein Eindringen in das politische Leben einer Masse von Wählern, die gegenwärtig, zum Glück für die Rechte, keine Beachtung findet. Sie ist auch das Ende des sozialistischen Doppelspiels. Es wäre noch weitaus schwieriger, die sozialistischen Aktivisten zur Annahme der besagten Politik zu bewegen, wenn der Ehrenpunkt des ›sozialistischen Programms‹, ständiger Trost und dauerhafte Rechtfertigung, zufällig fehlen sollte. Die Forderung nach einer realen, manifesten und verifizierbaren Politik würde die sozialistische Partei mindestens genauso transformieren wie die kommunistische Partei. Und es handelt sich dabei nur um eine einzige Operation: Der Sozialismus hat nur deshalb in diesem Maße entarten können, weil die kommunistische Politik seine reformistische Aufgabe unmöglich gemacht hat und ihm unermüdlich alle nützlichen Vorwände und Ablenkungen lieferte. Man sucht von verschiedenen Seiten ein Kriterium der Linken: Es ist nicht allzu schwierig zu finden. Ein Mann der Linken ist
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derjenige, der den Erfolg der Entstalinisierung wünscht – einer konsequenten Entstalinisierung ohne vorgeschobenen Riegel –, die über die Grenzen des Kommunismus hinaus auf die ganze Linke ausgedehnt wird, die er ›eingefroren‹ hat. (November 1956)
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Ü BE R DI E E RO T I K
Ist die Erotik eine Form des intellektuellen Mutes und der Freiheit? Was aber würde aus Valmont ohne die Unschuld Céciles werden, ohne die Keuschheit der Präsidentin? Es gäbe für ihn nichts zu tun. Was würde ohne die guten Gefühle aus den schlechten Gefühlen werden? Das Gefallen an der Profanierung setzt die Vorurteile und die Unschuld voraus. Es setzt sie vielleicht sogar beim Schänder selbst voraus, und am Ende des Buches vermutet man, daß zumindest Mme de Merteuil sich nur deshalb auf den Wettstreit der Boshaftigkeit, den sie und Valmont untereinander begonnen haben, eingelassen hat, weil ihr an Valmont lag. Es gibt nur Blumen des Bösen, wenn es ein Gut und ein Böse gibt, und nur dann läßt sich die Sache Satans vertreten, wenn auch Gottes Sache vertreten wird. Eine bestimmte Art von Erotik setzt alle traditionellen Verbindungen voraus und hat weder den Mut, sie zu akzeptieren, noch den Mut, mit ihnen zu brechen. In diesem Fall ist ›libertin‹ eine Verkleinerungsform. Die surrealistische Erotik wäre eine eigene Studie wert. Sie ist etwas ganz anderes als das Gefallen an der Profanierung. Sie ist die Rückkehr zur primordialen Einheit, zum Unmittelbaren, zur Unterschiedslosigkeit von Liebe und Begehren, so wie das automatische Schreiben der Aufruf zu einem nicht geleiteten und in seinem Sinn unklaren Sprechen war. Zu Recht haben die Surrealisten jedoch bald begriffen, daß nicht jedes unwillkürliche Schreiben diese Kraft besitzt: Die Worte der Sibylle nutzen sich ab, jene, die überdauern, liegen nicht fertig vorgeformt in unserer Kehle, sondern zeichnen sich im Versuch des Lebens und Sprechens ab. Es hat einen Surrealismus gegeben, der nach den Wundern im Rohzustand suchte, in jeder Zersetzung der bestehenden Welt. Im Extremfall ist dies die Kunst der Possen und Neckereien. Der Surrealismus, der Bestand hatte, begnügte sich nicht damit, die gewohnte Welt zu zerreißen, er bildete aus ihr eine neue. Die
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Über die Erotik
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Amour fou gilt es erst noch zu schaffen, über die Eigenliebe, die Lust an der Herrschaft und das Gefallen an der Sünde hinweg. Die profanierende Erotik hängt zu sehr mit dem zusammen, was sie leugnet, um eine Form der Freiheit sein zu können. Sie ist nicht immer ein Zeichen seelischer Stärke. Ich kannte einen Schriftsteller, der von nichts als Blut und Zerstörung sprach, und der, da man ihn fragte, was er fühle, nachdem er getötet habe, antwortete, er habe ja überhaupt niemanden getötet, aber wenn er es getan hätte, dann hätte er sicher das Gefühl, ›in ein Loch gefallen‹ zu sein. Unsere sadistischen Mitmenschen sind oft sehr gutmütig. Es gibt Briefe von de Sade, die ihn als jämmerlich und eingeschüchtert von der öffentlichen Meinung zeigen. Weder Laclos noch de Sade haben während der Französischen Revolution die Rolle Luzifers gespielt. Und andererseits zeigt uns das, was wir vom privaten Leben Lenins und Trotzkis wissen, daß sie herkömmliche Menschen waren. Die Treuherzigkeit und der Optimismus der marxistischen Thesen über die Sexualität haben keinen großen Bezug zur Libertinage. Das Abenteuer einer Revolution wird auf einer luftigeren Bühne als der von de Sade gespielt, und Lenin gleicht eher Richelieu als de Sade. Ziehen wir auch in Betracht, daß unsere großen Erotiker stets die Feder in der Hand halten: Die Religion der Erotik könnte sehr wohl nur ein literarisches Faktum sein. Die Eigenart der Literatur besteht darin, dem Leser glaubhaft zu machen, man finde im Menschen und in dem, was er erlebt, in konzentrierter Form jene seltene Substanz, die seine Werke erahnen lassen. Dies ist jedoch nicht wahr: Im Buch ist alles vorhanden, oder zumindest das Beste. Die Leserschaft glaubt lieber, der Schriftsteller müsse, wie ein Wesen von unbekannter Art, bestimmte Empfindungen haben, in denen alles enthalten sei und die gewissermaßen schwarze Sakramente sind. Der erotische Schriftsteller setzt auf diese Legende (und verbreitet sie nur um so mehr, desto mehr Menschen allein das Geschlecht einen Zugang zum Außergewöhnlichen verschafft). Darin zeigt sich jedoch ein Spiel der wechselseitigen Spiegelung von Geschriebenem und Erlebtem. Ein gut Teil der Erotik findet nur auf dem Papier statt. Der nicht erotische, offe-
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nere, mutigere Schriftsteller geht seiner Aufgabe nicht aus dem Weg, die darin besteht, das Leben der Zeichen zu verändern, auf sich allein gestellt und ohne Komplizen. Was die Philosophen angeht, so gibt es unter ihnen sehr große, wie Kant, die für so wenig erotisch wie möglich gehalten werden. Wie könnten sie prinzipiell im Labyrinth von de Sade und Masoch gefangen bleiben, da sie all dies zu verstehen suchen? Tatsächlich befinden sie sich, wie alle Menschen, mitten in diesem Labyrinth, aber mit der Idee, ihm zu entkommen. Wie Theseus, so tragen auch sie einen Faden mit sich. Als Schriftsteller, die auch sie sind, bemißt ihre Freiheit des Blicks sich nicht anhand der Heftigkeit dessen, was sie empfinden, und es kommt vor, daß sie von einem Stück Wachs viel über die fleischliche Welt lernen können. Das menschliche Leben wird nicht nur auf einem Register gespielt: Vom einen zum anderen gibt es Echos, Formen des Austauschs, aber manch einer, der sich nie gegen die Leidenschaften zur Wehr gesetzt hat, bietet der Geschichte die Stirn, manch einer, der auf gewöhnliche Weise denkt, geht frei mit den Sitten um, und manch einer, dessen Gedanken alle Dinge entwurzeln, führt dem Anschein nach ein Leben wie jedermann. (Oktober 1954)
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Ü BE R DI E L OK A L NAC H R IC H T E N
Vielleicht gibt es keine Lokalnachricht, die nicht zu tiefgehenden Gedanken veranlaßt. Ich erinnere mich, im faschistischen Italien, im Bahnhof von Genua, einen Mann gesehen zu haben, der sich von der Höhe eines Bahndamms auf die Gleise warf. Die Menge strömte herbei. Bevor sie überhaupt daran dachten, dem Verletzten zu helfen, drängten die ›Bahnmilizen‹ die Menge rüde zurück. Dieses Blut stiftete Unordnung, man mußte es schnellstens beseitigen, auf daß die Welt wieder ihr beruhigendes Aussehen eines Augustabends in Genua annähme. Alle Schwindelgefühle sind miteinander verwandt. In dem Moment, in dem sie einen Unbekannten sterben sehen, hätten diese Menschen lernen können, über ihr eigenes Leben zu urteilen. Man verteidigte sie gegen jemanden, der über sein Leben frei verfügt hatte. Das Gefallen an der Lokalnachricht ist der Wunsch, zu sehen, und sehen heißt, in einer Falte des Gesichts eine ganze Welt zu erahnen, die der unsrigen gleicht. Aber sehen heißt auch, zu lernen, daß das grenzenlose Vergnügen und der maßlose Schmerz, die uns erfüllen, für den fremden Zuschauer nur eine armselige Grimasse sind. Man kann alles sehen – und leben, nachdem man alles gesehen hat. Das Sehen ist jene eigenartige Weise, sich zu vergegenwärtigen und gleichzeitig Distanz zu wahren, und die Anderen dabei, ohne Anteil zu nehmen, in sichtbare Dinge zu verwandeln. Der Sehende glaubt, er sei unsichtbar: Seine Handlungen bleiben für ihn in der schmeichelhaften Umgebung seiner Absichten, und er gesteht den Anderen dieses Alibi nicht zu, er reduziert sie auf einige Worte, auf einige Gesten. Der Voyeur ist sadistisch. Stendhal, der es leidenschaftlich liebte, Beobachtungen anzustellen, der sich aber auch selbst beobachtete, hat sehr wohl verstanden, daß selbst die Entrüstung manchmal suspekt ist: »Auf was für Anekdoten über die gut bezahlten Magistraten bin ich doch auf meinem Weg
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Gelegentliche Äußerungen
von Bordeaux nach Bayonne, Pau, Narbonne, Montpellier und Marseille gestoßen! Wenn ich älter und noch gezeichneter sein werde, dann werden diese so traurigen Dinge in der Geschichte meiner Zeit erscheinen. Aber, großer Gott, welche Häßlichkeit offenbart sich hier! War die Welt immer schon so bestechlich, von so niederem Antrieb und so unverfrorener Scheinheiligkeit? Bin ich böswilliger als jemand anders? Bin ich neidisch? Woher kommt diese unbändige Lust in mir, beispielsweise jenem Magistraten von […] mit dem Knüppel eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen?« * Es gibt also einen guten und einen schlechten Gebrauch der Lokalnachrichten, vielleicht sogar zwei Sorten von Lokalnachrichten, je nach der Art der Enthüllung, die sie mit sich bringen. Was verborgen bleibt, ist zunächst einmal das Blut, der Leib, die Wäsche, das Innere der Häuser und der Lebensläufe, die Leinwand unter der abblätternden Malerei, die Materialien unter dem, was Form angenommen hatte, die Kontingenz und schließlich der Tod. Den Unfall auf der Straße (den man durch eine Scheibe sieht), den Handschuh auf dem Gehweg, eine Rasierklinge dicht vor dem Auge, das Prickeln des Begehrens und seine Lähmung – Buñuels Der andalusische Hund hat all diese Begegnungen mit dem Vormenschlichen beschrieben, und man kann stets dieselbe Klarheit des Traumes erlangen, man kann dieselbe überraschende Gefühlsregung jedesmal erzielen, wenn man sich vom Geschehen abschneidet, wenn man sich zum Fremden macht: Bei einem Mann, der am Telefon spricht und dessen Worte ich nicht hören kann, ist jener Anschein einer lächerlichen Intelligenz, sind jene Abstufungen ins Absurde ein faszinierendes Schauspiel –, aber sie geben uns alles in allem nur unseren Standpunkt eines verständnislosen Beobachters zu verstehen. Wir müssen die kleinen wahren Begebenheiten Stendhals beiseite oder in übergeordneter Position lassen. Sie decken nicht bloß das Darunterliegende auf, den Staub, den Schmutz und den Bodensatz eines Lebens – sondern vielmehr die unbestrittenen
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Seiten eines Menschen, das, was er in den Grenzfällen ist, wenn er durch die Umstände vereinfacht wird, wenn er nicht daran denkt, einen bestimmten Eindruck zu erwecken, im Unglück oder im Glück. Stendhal rettet sich an einem Regentag in Toulon mit zwei Bildern vor der Langeweile: »Ein flüchtender Soldat, der sich selbst verachtete, beschlagnahmt ein Pferd, erneuert den Zündstoff seiner Pistolen, läßt dieses Pferd den Weg hinter der Hecke hinauflaufen, tötet einen Feind, verletzt einen anderen und beendet so eine wilde Flucht.« »Wie könnte ich«, fährt Stendhal fort, »nach einer so glanzvollen Berühmtheit noch wagen zu behaupten, ich sei geläutert worden und habe aus meinem Tag tatsächlich die Langeweile vertrieben, indem ich das Dampfboot bestieg. Ich amüsierte mich über das galante Verhalten eines Matrosen gegenüber einer wirklich sehr hübschen Frau aus der Klasse der wohlhabenden Leute, die gemeinsam mit einer ihrer Begleiterinnen von der Hitze aus ihrem untenliegenden Zimmer vertrieben worden war. Er bedeckte sie mit einem Schleier, um sie ein wenig zu schützen, sie und ihr Kind, aber der starke Wind verfing sich im Schleier und störte sie. Er schmeichelte der schönen Reisenden und entdeckte sie, während er doch vorgab, sie zuzudecken. Es lag viel Fröhlichkeit, viel Natürliches und sogar Anmut in dieser Handlung, die eine Stunde lang dauerte. Die nicht umworbene Freundin wurde auf mich aufmerksam und sagte: ›Dieser Herr setzt seinen Ruf aufs Spiel.‹ Ich hätte mit ihr reden sollen; sie war ein hübsches Geschöpf, aber der Anblick jener Anmut bereitete mir mehr Vergnügen.« * Die kleine wahre Begebenheit braucht nicht heldenhaft oder anmutig zu sein. Sie kann auch ein Leben sein, das im gesellschaftlichen Arrangement erstickt und untergeht: der Provokateur Korthis, dem ein Soldat eine Kugel in den Bauch schießt und der den Innenminister, der ihn einstellt, seine Geheimnisse ausplaudern läßt – aber nur ein wenig, weil er weiß, daß man ihn im Krankenhaus vergiften kann, da er, wie Leuwen, ein ehemaliger Soldat ist, da er an das Elend gewöhnt ist und ahnt, daß man das
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Schweigen eines Elenden nicht sehr teuer bezahlt. Dasselbe nie endende Ringen mit dem Unglück und dasselbe erschöpfende Spiel mit den Gesetzen, den Bestimmungen und Notwendigkeiten führen heute entkräftete und verrückt gewordene Frauen in die Polikliniken: Zu viert in einem Zimmer zu leben, aufzustehen und um fünf die Kinder aus dem Bett zu holen, um Platz zu haben, das Frühstück vorzubereiten, sie zur Hausmeisterin zu bringen, die auf sie aufpaßt, bis es Zeit ist, zur Schule zu gehen, anderthalb Stunden Bus und U-Bahn zu fahren, um in Paris arbeiten zu gehen, abends um acht Uhr zurückzukommen, um einzukaufen und das Abendessen zu bereiten, am nächsten Tag wieder von vorn zu beginnen und nach einigen Jahren nicht mehr zu können – das sind die Enthüllungen, welche die Zeitungen ihren allerjüngsten Lesern ohne Schwierigkeit bieten könnten. Die kleinen wahren Begebenheiten sind keine Bruchstücke des Lebens, sondern Zeichen, Embleme, Appelle. Nur mit ihnen kann sich der Roman vergleichen. Er bedient sich ihrer, er bringt wie sie etwas zum Ausdruck, und selbst wenn er erfindet, sind es noch fiktive ›kleine Tatsachen‹, die er erfindet: die Hälfte von Mathildes Haaren, die Julien durch das Fenster zugeworfen wird, der Direktor des Armenhauses, der die Gefangenen zum Schweigen bringt, weil diese Gesänge ihm das Essen verderben würden. Dennoch gibt es im Roman mehr und gibt es weniger als in den kleinen wahren Begebenheiten. Er bereitet die Geste oder das Wort des Augenblicks vor, er kommentiert sie. Der Autor paßt sich seiner Romanfigur an und läßt uns in ihren inneren Monolog eintreten. Der Roman liefert den Kontext. Demgegenüber erschüttert die Lokalnachricht, weil sie das Eindringen eines Lebens in jene Leben bedeutet, die nichts von ihm wußten. Die Lokalnachricht nennt die Dinge beim Namen, der Roman benennt sie nur anhand dessen, was die Personen fühlen. Stendhal verrät Octaves Geheimnis nicht: »Es wird einiger Jahrhunderte bedürfen«, schrieb er an Mérimée, »bevor man mit Schwarz und Weiß malen kann.« Octaves Leid wird dann zum Leid des Unmöglichen – noch unheilbarer, aber weniger schmerzlich als sein wirkliches Leiden. Der Roman enthält mehr
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Über die Lokalnachrichten
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Wahrheit, weil er eine Totalität hervorbringt und weil man mit lauter wahren Details eine Lüge konstruieren kann. Die Lokalnachricht enthält hingegen mehr Wahrheit, weil sie verletzt und weil sie nicht schön ist. Nur bei den Größten schließen sich beide zusammen, bei jenen, die – wie man gesagt hat – die »Poesie des Wahren« finden. (Dezember 1954)
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Wenn ein Genie derjenige ist, dessen Worte mehr Sinn enthalten, als er selbst in sie hineinlegen könnte, derjenige, der mit der Beschreibung der Reliefs seines privaten Universums in den verschiedensten Menschen eine Art Erinnerung an das wecken kann, was er im Begriff ist zu sagen, so wie die Tätigkeit unserer Augen ganz unschuldig ein Schauspiel vor uns entfaltet, das auch die Welt der Anderen ist, dann ist Claudel manchmal ein Genie gewesen. Ob er es genauso oft gewesen ist wie Shakespeare oder wie Dostojewski, zwei seiner Vorbilder, oder ob im Gegenteil das Claudelsche Schnurren, wie Adrienne Monnier es ausdrückte, eine gewisse Art, das Verpuffen der Worte zu organisieren, nicht oftmals Claudels Wort ersetzen würde, dies ist eine andere Frage, die nicht so wichtig ist. Auf jeden Fall gibt es kein Genie, das auf Dauer ein solches wäre, das Genie ist keine bestimmte Gattung oder Rasse der Menschheit. Ob man es nun tut, um Claudel zu ehren, indem man ihn zu den Übermenschen zählt, oder im Gegenteil, um das Werk auf Umwegen mittels einiger ausgewählter Anekdoten einzuholen, von Genie zu sprechen bedeutet, zu postulieren, ein Mensch könne aus demselben Stoff gemacht sein wie das, was er geschrieben hat, und er habe das Geschriebene so hervorgebracht wie ein Apfelbaum Äpfel hervorbringt. Im Augenblick des Todes, in dem der Lebende und der Schriftsteller mehr denn je miteinander verbunden sind, da sie gemeinsam enden und man zum ersten Mal das Schweigen jener Stimme vernimmt, in diesem Augenblick ist es natürlich, daß man versucht ist, die Frage nach dem Genie zu stellen. Ob man dies aber pietätvoll oder boshaft tut, man unterliegt immer demselben grausamen Irrtum hinsichtlich der schriftstellerischen Situation. Liebe und Haß kommen darin überein, daß man ihnen die Ehre erweist, aber auch die Pflicht auferlegt, unvermeidlich gewesen zu sein. Wollte man ihm ge-
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genüber zu einer angemessenen Haltung gelangen, dann müßte man auf diesen Fetischismus verzichten. Es ist nie angebracht, gegenüber keinem als Ganzes betrachteten Menschen, das Zeugnis eines Genies zu verleihen oder zu verweigern. Die prosaischen Seiten Claudels kennt man: Sie sind oft genug hervorgehoben worden. Mit öffentlichen Ereignissen hatte er kein Glück. Früher hat er von den ›Frontsoldaten‹ (poilus) gesprochen, und erst neulich hat er dies wiederholt, in einem Ton, der den Kriegsteilnehmern unerträglich ist. Er hat den Staatsmännern, zwischen denen man eine Wahl hätte treffen müssen, mit beinahe denselben Worten seine Verehrung ausgedrückt. In Le Figaro hat er einige gefährlich kriegerische Einschätzungen der Weltlage vorgetragen. Unter diesen extremen Umständen war er kaum weitblickender oder unnachgiebiger als ein mittlerer Beamter vom Quai d’Orsay. Man braucht von ihm nicht jene Intoleranz gegenüber den Titeln und den Verwaltungsräten zu fordern, die für die professionellen Schriftsteller Ehrensache ist. Aber dies ist nicht unser Thema: Nicht darin lag sein Genie, wenn es denn ein Genie geben sollte. Es gibt da noch etwas viel wichtigeres: Er hat beinahe all jene enttäuscht, die bei ihm Zuflucht suchten, um sich der Sorge zu entledigen, sie selbst zu sein. Jacques Rivière, der ihm sein unaufgeräumtes Inneres beschrieb (und der, nebenbei, boshaft einige Dummheiten in seine Briefe einfügte, um zu sehen, ob der große Mann sie bemerken würde), erhielt von Claudel die Antwort, er müsse sich »auf den Beichtstuhl begeben«. Er befiehlt Gide ausdrücklich, Sodom zu verurteilen, unter Androhung der Strafe, andernfalls nicht mehr sein Freund zu sein. Einer kultivierten Dame, die ihn hinsichtlich unserer Anstrengungen bei der Begründung rein menschlicher Werte befragte, antwortet er – und dies geht noch über den strengsten Integralismus hinaus –, »die moralischen Werte sind die Gebote Gottes und der Kirche. Darüber hinaus gibt es keinen moralischen oder spirituellen Wert. Was unsere Schriftsteller entdecken, erscheint mir lächerlich.« Aber ihre Tragik, erwidert die Dame, ihre Loyalität … »Das ist mir völlig gleichgültig«, sagt Claudel. »Sollen sie doch sehen,
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wie sie zurechtkommen.« Solcherart ist dieser Sektierer. Und solcherart sind, sagt Gide, jener »willentliche (und instinktive) Unverstand, dieses vorsätzliche Leugnen dessen, was man nicht annektieren kann.«1 Und dennoch ist es ein Atheist, Philippe Berthelot, dem er, wie er selbst sagt, »durch eine stärkere Zuneigung und eine größere Anerkennung als er je für ein menschliches Wesen empfunden hat, verbunden war.«2 Hier gab es allerdings auch nichts zu annektieren: »Jeder Aufruf, den ich an ihn gerichtet habe, traf bei ihm nur auf Schweigen und einen ausweichenden Blick.«3 Berthelot rief, als er an seinem Schreibtisch am Quai d’Orsay unter einer Angina pectoris litt, einen seiner Mitarbeiter zu sich und sagte zu ihm: »In zehn Minuten werde ich tot sein […] Ich möchte, daß Sie wissen, daß es nach dem Tod nichts gibt und daß ich mir dessen sicher bin.« Claudel kommentiert: »Es ist die ehrliche und mutige Feststellung einer Tatsache und eines persönlichen Unvermögens, weiter darüber hinauszusehen.«4 Am 6. April 1925 erfährt Claudel auf dem Schiff vom Tod Jacques Rivières. Und er, der so rundweg ablehnte, in Rivières Labyrinthe einzutreten, er leiht ihm nun seine Stimme und schreibt für die Feuilles de Saints: »Wie aber soll man all dieses Denken, das gleichsam aus dem Wasser geboren wird, verstehen, ohne daran teilzunehmen? All dies Geräusch, das dabei ist, ein Wort zu werden, ist alles in allem vielleicht interessant. Wer wird da sein, um zu verstehen, wenn ich scheitere? Wer wird da sein, um zu hören, wenn ich mich ganz von einem tauben Gott vereinnahmen lasse? Dessen fortschreitende, Faser für Faser an mir wirkende Arbeit ich während jener vier Gefängnisjahre nur allzu sehr habe spüren können?« 1 2 3 4
Journal, 2. November 1930. Accompagnements, S. 182. Ebd., S. 205. Ebd., S. 193.
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Auf diese Weise ist es wohl deutlich: Er, der das Unverständnis zu seinen Eigenschaften zählte, hatte perfekt verstanden. Warum also stritt er es ab? Wenn man das Werk betrachtet, drängt sich die Frage noch weit mehr auf. Denn die Welt der Dramen Claudels ist so wenig konventionell, so wenig vernünftig und so wenig ›theologisch‹, wie man sich nur denken kann. Dieser Botschafter hat nie Monarchen oder große Persönlichkeiten in Szene gesetzt, die nicht unmerklich lächerlich waren: der spanische König und sein Hof, in Le Soulier de Satin, die bei ihren Ausführungen ständig von den Bewegungen des Pontons unterbrochen werden, auf dem sie ihren Wohnsitz gewählt haben – Papst Pius, der vor Coûfontaine einschläft, und es ist diese Schläfrigkeit eines alten Mannes, die auf Erden und auf der Bühne des Théâtre-Français den Widerstand der Kirche gegenüber der Gewalt verkörpern soll – der amputierte Rodrigue, der sich in die Gespräche einer provozierenden Schauspielerin verwickeln läßt, die der König von Spanien geschickt hat, gibt sich die Blöße, vor dem Hof, und in was für einem Tonfall, dreiste Machtansprüche zu erheben, um letztlich zwei Soldaten übergeben zu werden, denen es nicht einmal gelingt, ihn zu verkaufen … Die einzigen Personen, die Claudel ganz ernst nimmt, sind jene, die ganz in einer einfachen Leidenschaft, einem Kummer oder einem irdischen Gut aufgehen: Mara ist zu recht eifersüchtig, weil sie häßlich und ungefällig ist, Sygne hat recht, im letzten Moment das Opfer abzulehnen, das sie dennoch gebracht hat, weil ›alles ausgeschöpft ist‹ und niemand von einem menschlichen Wesen verlangen kann, darüber hinauszugehen, und Turelure hat auf ihre Weise nicht unrecht daran getan, die Mönche der Abtei in jenem Jahr I, in dem die Renekloden so gut waren, ins Paradies zu stoßen. »Wir waren im Begriff, alles zu öffnen, wir waren im Begriff, alle zusammen zu schlafen, wir wollten gerade ohne Zwang und ohne Höschen inmitten des wiederbelebten Universums spazieren gehen, wir wollten uns gerade über die ganze, von Göttern und Tyrannen befreite Erde hinweg in Bewegung setzen!
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Schuld sind auch all diese alten Dinge, die nicht solide waren, es war zu verlockend, ein wenig an ihnen zu rütteln, um zu sehen, was passiert! Ist es unsere Schuld, wenn alles über uns hereingebrochen ist? Wahrhaftig, ich bereue nichts.« Man muß wirklich lesen können, um in diesen gewundenen Linien die gerade Schrift Gottes wiederzufinden. Im ersten Augenblick handelt es sich eher um ein überbordendes Chaos, ein Übermaß an nutzlosen oder abgeschmackten Details. Von Don Mendez Leal, der durch die Nase spricht, bis zur Negerin Jobarbara, vom heiligen Adlibitum bis zum neapolitanischen Unteroffizier, von den Kaiserreichen bis zu den Kontinenten, den Rassen, den Krankheiten und den Sternbildern bietet auf den ersten Blick nichts einen Anlaß zur Ehrerbietung. Wenn diese Welt ein Gedicht ist, dann nicht etwa deshalb, weil man zuerst ihren Sinn erkennen würde, sondern weil sie aus Zufällen und Paradoxen besteht. »Ich sehe Waterloo; und dort unten, im Indischen Ozean, sehe ich zur selben Zeit einen Perlenfischer, dessen Kopf plötzlich nahe bei seinem Katamaran aus dem Wasser auftaucht.«5 Wenn Claudel, wie man weiß, nie aufgehört hat, das in diesem Durcheinander wirkende Prinzip zu verehren, dann hat er es einmal als Stille, als Abgrund bezeichnet, und nie hat er jene zweideutige Aussage zurückgezogen, die lautet: »Die Zeit ist das allem je Seienden dargebotene Mittel, zu sein, damit es nicht mehr sein muß. Es ist die Einladung zum Sterben, sich mit jedem Satz im erklärenden und totalen Einverständnis aufzulösen, das Wort der Verehrung im Ohr von Sigè dem Abgrund verklingen zu lassen.«6 Was ihn so viele seinen Glaubensüberzeugungen gleichwohl fremd gegenüberstehenden Menschen berühren läßt, ist der Umstand, daß er einer der wenigen französischen Schriftsteller ist, die das Getöse und die Verschwendungssucht der Welt fühlbar gemacht haben. Die neue Logik, von welcher die Art poétique 5 6
Art poétique, S. 53. Ebd., S. 57.
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sprach, hat nichts zu tun mit jener Logik der klassischen Theodizeen. Claudel macht es sich nicht zur Aufgabe, zu beweisen, daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei, und auch nicht, die Schöpfung herzuleiten. Er nimmt sie, wie sie ist, mit ihren Wunden, ihren Beulen, ihrem schwankenden Schritt, und er bestätigt nur, daß man in ihr von Zeit zu Zeit unverhoffte Begegnungen feststellen kann, daß das Schlimmste nicht immer gewiß ist. Durch diese Zurückhaltung, diesen Freimut und diesen Humor reicht sein Handeln über den Katholizismus hinaus. Aber dies führt uns auf unsere Frage zurück: Noch einmal sei gefragt, warum der so überaus ›offene‹ Dichter im denkbar verschlossensten Menschen zu finden war? Es ist ein religiöser Widerspruch: Alle Dinge tragen zum Guten bei, auch die Sünden, sagt Augustinus, und Claudel wiederholt: »das Gute fügt zusammen«, es ist in der Lage, das Schlechte vergleichsweise gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Ohne Mara, ohne Turelure und ohne Coûfontaine würde es keine Violaine und keine Sygne geben. Das Schlechte ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn es nun einmal geschehen ist. Vor dem Tatbestand bleibt es das Schlechte, und das Gesetz lautet weiterhin, es um jeden Preis zu vermeiden. In der Religion gibt es ein universelles Verzeihen, aber in jedem Augenblick auch die Gefahr der Verdammnis. Deshalb strebte Coûfontaine eilig seinem Ziel entgegen, in der Gewißheit, daß man ihm verzeihen werde, wenn er es nur schnell genug erreichte: »Was wissen wir über Gottes Willen, wenn für uns das einzige Mittel, ihn zu kennen, darin liegt, ihm zu widersprechen?« Deshalb hat Claudel aber auch nie erkennen lassen, wie sehr er die Anderen verstand. Deshalb hat er dieses Bollwerk aus absichtlichem Unverständnis um sich errichtet. Zunächst einmal muß man auf das Schlechte verzichten, und erst dann kann man es vergleichsweise rechtfertigen. Diese jungen Leute oder diese Literaten, die sich nähern, muß man grob behandeln. Sie wollen geradewegs zur Freiheit fortschreiten, ohne Opfer in Kauf nehmen zu müssen. Gott weiß, was ihnen einfallen würde, um ihre persönliche Führung aus dem etiam peccata zu ziehen. Beginnen wir damit, sie in den Beichtstuhl
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›hineinzustecken‹ und ihnen die Gebote Gottes und der Kirche beizubringen … Hinter dem religiösen Widerspruch verbirgt sich ein anderer, allgemeinerer, der das Los aller beruflich mit der Wahrheit Beschäftigten ist, aller Schriftsteller, aller Menschen des öffentlichen Lebens – und der bewirkt, um an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren, daß kein Mensch ein Äquivalent des von ihm Geschriebenen ist, daß kein Mensch ein Genie ist. Bevor Claudel sagt: »Ich bin wie ein Truthahn, der nicht klug wird aus einer Ente«, hatte Stendhal, den die Frömmigkeit nicht in Verlegenheit brachte, bereits gesagt: »Ich bin Hund, Sie sind Katze, wir können uns nicht verstehen.« Der Mensch entzieht sich zu Recht den meisten Diskussionen, die sein Werk hervorruft, weil sie von einem Mißverständnis ausgehen: Für den Genießer ist das Buch eine unmittelbar zu verarbeitende Nahrung, für den Schriftsteller ist es das Ergebnis einer Beständigkeit, einer Übung, eines schwierigen Lebens. Der Gipfel der Illusion ist es, sich vorzustellen, der Mensch sei eine bessere Fassung seiner eigenen Werke. Auf diese fanatische Bewegung, die ihm die Leser zutreibt, als sei er ein Sakrament, kann der Autor nur antworten, indem er Barrikaden errichtet. Die Anderen zulassen, sie reden lassen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihnen entgegen der eigenen Meinung Recht zu geben, das ist in den Büchern leicht, darin besteht ihre Tugend, und dies ist ein Glück. Im Leben ist es weniger leicht, weil die Anderen an das Genie glauben und ihm alles abverlangen. Der Schriftsteller weiß für seinen Teil wohl, daß es keinen gemeinsamen Maßstab gibt zwischen dem Wiederkäuen seines Lebens und dem, was es an Klarstem und Lesbarstem hat hervorbringen können, daß die Komödie hier darin bestünde, das Orakel zu spielen, daß er alles in allem, wenn man ihn treffen will, mit den Verehrern bereits in seinen Büchern eine Verabredung getroffen hat, daß der kürzeste Weg zu ihm über seine Bücher führt und schließlich, daß er ein Mensch ist, der arbeitet, um zu leben, ohne jemanden von der Arbeit des Lesens und der Arbeit des Lebens befreien zu können. (März 1955)
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Gide, so sagt man, ging unter dem Vorwand nicht zur Wahl, daß seine Stimme genausoviel zähle wie die seiner Concierge. Diese Bemerkung ist der Überlegung wert. Hätte Gide ein Mehrstimmenwahlrecht für kultivierte Menschen gefordert, dann wäre die Forderung seinerseits übertrieben gewesen. Er wußte besser als jeder andere, daß die Kultur keine Gewähr für die Urteilskraft bietet. In den Augen des Gide von 1930 muß der Gide von 1916, der Leser der Action Française, so etwas wie ein ›Concierge‹ gewesen sein. In den Augen des Gide von 1940, war es auch jener von 1930. Die kleinste Rückbesinnung auf sich selbst mußte Gide davon abbringen, Anspruch auf ein Lenken der Menschen zu erheben. Sicher wollte er etwas anderes sagen. Nicht, daß die Wahrheit in den Händen der Kulturmenschen liegt, sondern daß sie diese Wahrheit nur aus den Händen anderer empfangen können. Wer an der Wahl teilnimmt, legt seine sorgfältig gereiften Überzeugungen ab, er ist einverstanden damit, daß sie nur als eine ›Meinung‹ in der allgemeinen Bestandsaufnahme der Meinungen zählen, er billigt im voraus die Entscheidung der Anderen. Warum sollte er ihnen auf einmal bei einer Abstimmung zugestehen, was er ihnen in einem Gespräch nicht zugestehen würde? Wenn es eine Wahrheit gibt, dann aufgrund freier Überlegung. Gide wird folglich eine Zeremonie ablehnen, bei der sich das eigene Urteil dem Urteil der Anderen unterwirft. Sollen sie doch gegen ihn regieren, wenn sie wollen, aber nicht daß man ihn bitte, hierzu seine Unterschrift zu leisten … Was Gides Besonderheit ausmacht, ist der Purismus, der ihn daran hindert, zur Wahl zu gehen, weil er das Prinzip der Wahl nicht zuläßt. Die meisten Wähler ziehen es vor, ihre List in den Spielregeln selbst anzuwenden. Aber im Grunde akzeptieren sie das Prinzip genausowenig wie er. Wer unter uns respektiert denn
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das Resultat einer enttäuschenden Abstimmung? Wir wählen, weil wir hoffen, unsere Meinung würde den Sieg davontragen, unsere Wahl trägt die Züge von Gewalt. Tragen wir den Sieg nicht davon, dann sinnen wir bereits auf Rache. Außer vielleicht in England (obwohl man erst noch herausfinden müßte, was sich hinter der Legende vom Fair Play verbirgt) lehnt jeder die Stimmabgabe der Anderen ab, und der Liberalismus bleibt unauffindbar. * Die revolutionäre Politik weiß dies seit langem, und sie widmet sich dem Spiel nur, um darüber hinauszugehen. Der Revolutionär, der die wahren Interessen des Proletariats vertritt, kann dieses nicht in jedem Augenblick zum Richter über diese Aufgabe erheben: Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Mehrheit – selbst unter den Proletariern – jene Notwendigkeiten erkennt, die nur den am stärksten Benachteiligten und den am besten Informierten bewußt werden. Die Wahl befragt die Menschen, während sie sich erholen, außerhalb der Berufstätigkeit und außerhalb des Lebens, sie appelliert an die Vorstellungskraft, die oft schwach ist, so daß die Frage, wie man leben will, die Schwelle zur Wahlkabine nicht überschreitet. Wie sollte eine Mehrheit revolutionär sein? Die Vorhut ist nicht der Großteil des Heeres. Nicht das Übereinkommen der Meinungen wird irgendwann eine Revolution bewirken, sondern die praktische Übereinstimmung der Unterdrückten im Gesellschaftskampf. Nicht ihre Gedanken zählen, sondern das ›Geheimnis ihrer Existenz‹ (Marx). Es geht nicht darum, eine vorgefertigte Gesellschaft zu verwalten, man muß sie zuerst hervorbringen, und zwar ebenso wahr, ebenso lebendig wie die Übereinstimmung der Unterdrückten in ihrem Kampf. Herr Dulles erklärt gegenüber Herrn Molotow, nie sei ein kommunistisches Regime freiwillig akzeptiert worden. Er erzählt ihm nichts Neues. Es ist, als ob er sagte, unsere wichtigen Entscheidungen seien nie ganz deutlich und auch nicht zu verdeutlichen. Daran wäre nichts auszusetzen, wenn die Revolution wirklich über das Spiel der Stimmabgabe hinausginge, wenn sie nicht, in
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ihrem eigenen Werdegang, die Frage der Anderen wiederfinden würde. Aber sie findet sie wieder, solange sie lebt. Sie hat ihre Gegner. Befragt sie diese aber oder toleriert sie sie auch nur, wird sie sogleich auf das Problem des Wahlrechts zurückgeführt. Unterdrückt sie sie hingegen, dann ist sie nicht mehr jene totale Übereinstimmung der Unterdrückten, die sie sein müßte. Zieht man Meinungen heran, dann wird es nie eine Revolution geben – wenn aber die Revolution nie kontrolliert wird, handelt es sich dann um eine Revolution, um eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Unterdrückung? Wenn sie sich nicht mit Zahlen, mit Vergleichen, mit offiziellen und unabhängigen Schätzungen vor einer Opposition rechtfertigen muß, wer weiß dann, was sie kostet und was sie einbringt, wer ihren Preis zahlt und wem sie etwas einbringt, und schließlich: was sie ist? Aus diesem Grund kann es der Revolution schon einmal passieren, daß sie Verfassungen proklamiert und Befragungen organisiert. Das Zugeständnis ist jedoch rein formaler Art: Wenn sie günstig ausfallen, liefern die Wahlen eine Bestätigung, sollten sie ungünstig ausgefallen sein, verurteilen sie die Revolution aber nicht. Fragt man sie nach ihren Beweisen, so wird sie stets antworten, daß der Beginn einer Beweisführung schon ein Verrat sei. Meinetwegen, setzt der Konservative wieder an, aber die Minderheit, die nichts zu verlieren hat, ist nicht in der Lage, die relativen Verdienste eines Regimes zu schätzen, das sie ausschließt. Dies ist die Angelegenheit von Statistiken und Wahrscheinlichkeiten, wohingegen das Elend seinerseits kategorisch ist. Es bleibt also nichts anderes übrig, als die Minderheit in Schach zu halten. So setzt sich das Duell jener fort, die um das Bestehende fürchten, und jener, die das wollen, was nicht oder noch nicht existiert. Den einen wie den anderen setzen die liberalen Regime nur eine vollendete Kunst entgegen, die Widersprüche zu verwässern, die Probleme indirekt zu stellen, die Aktion im Verfahren zu ersticken, günstige oder ungünstige Vorurteile zu schaffen, die Mehrheiten selbst abzustumpfen, wenn sie nicht folgsam sind, und sie dorthin zu führen, wohin sie nicht gehen wollen, die Geister zu manipulieren, ohne an sie zu rühren – mit einem Wort,
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sie legen eine juristische und durchtriebene Form der Gewalt an den Tag. Hatte Gide also Recht? Hat man nur die Wahl zwischen der offenen Gewalt und dem prekären Kompromiß zwischen den Gewalten? Muß man apolitisch, muß man Misanthrop sein? * Weder ist alles so einfach noch so schwarz zu sehen. Die Menschenfeindlichkeit wird immer Unrecht haben, weil die Laster der Politik am Ende darauf bestehen, daß es bei den Menschen etwas von größerer Gültigkeit gibt: ihre Idee der Wahrheit. Wer etwas gesehen hat und es für wahr hält, der glaubt, es sei für alle wahr. Sehen die Anderen es nicht, so liegt es daran, daß sie Fanatiker sind, daß sie nicht frei urteilen können. Auf diese Weise macht der freie Mensch seine Evidenzen zum Maß aller Dinge, und er wird gerade in dem Augenblick zum Fanatiker, in dem er sich über den Fanatismus der Anderen beklagt. Alles in allem läßt sich jedoch sagen, daß der Umstand, daß jeder ›sich in die Angelegenheiten der Anderen einmischt‹, und daß er sich an ihre Stelle setzt, auch darauf zurückzuführen ist, daß er ›sich in ihre Lage versetzt‹, weil die Menschen nicht wie Kieselsteine nebeneinander liegen, sondern weil jeder einzelne in allen anderen lebt. Es kommt also ein Tag, an dem derjenige, der sich aus dem politischen Spiel zurückziehen wollte, gerade durch jenen Geschmack der Freiheit, den er zu seinem Vorteil kultivierte, wieder auf die Politik zurückgeführt wird. Gide hat es oftmals geäußert: Der extreme Individualismus sensibilisiert für die anderen Individuen, und sein Tagebuch erzählt, wie sprachlos er war, als er beim Einsteigen in ein Taxi, mit dem er einen Kranken in der (einst luxuriösen) Klinik der Rue Boileau besuchen fahren wollte, und verwundert darüber, daß der Fahrer diese nicht kannte, die einfache Antwort erhielt: ›Unsereins geht nach Lariboisière.‹ Man kann mit den Anderen sein Spiel treiben oder Träume erfinden, in denen sie verschwimmen – das ›wirkliche Frankreich‹, das reine Proletariat –, aber man kann es nicht ablehnen, jeman-
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dem zuzuhören, der über sein Leben spricht. Es gibt mindestens ein Thema, über das die Anderen souverän urteilen können: ihr Schicksal, ihr Glück oder ihr Unglück. In dieser Hinsicht ist jeder einzelne unfehlbar, und dies führt die Allgemeinplätze über das Wahlrecht, deren Echo sich Gide nicht zu sein scheute, auf ihnen angemessene Dimensionen zurück. Andererseits ist diese Kompetenz sehr weitreichend. Gides Concierge hatte vielleicht nicht so nuancierte Ansichten von der Geschichte wie Gide. Aber was soll’s? Wählen bedeutet nicht, eine Abhandlung über Politik oder die Weltgeschichte zu schreiben. Es bedeutet, ja oder nein zu sagen zu einem Handeln, das anhand seiner Konsequenzen für das Leben beurteilt wird, die für jeden einzelnen in perfekter Weise spürbar sind, die sogar nur für ihn spürbar sind. Die beginnende russische Revolution hatte dies sehr wohl verstanden, als sie die neue Macht auf die Sowjets stützte, auf Menschen, die in ihr berufliches Umfeld und in den Zusammenhang ihres Lebens eingebunden waren. Dieses wirkliche Wahlrecht und dieses abrupte Urteil, das in einem Wort besteht, sprechen aus, was jeder einzelne aus seinem Leben zu machen oder nicht zu machen gedenkt. Selbst wenn sie hundertmal Recht hätten, könnten jene ›Wissenden‹ jedoch ihre (übrigens wackligen) Erkenntnisse nicht an die Stelle dieses Einverständnisses oder dieser Ablehnung setzen. Die Mehrheit hat nicht immer Recht, aber man kann auf lange Sicht nicht gegen sie im Recht sein, und wenn man dem Beweis auf unbestimmte Zeit aus dem Weg geht, dann nur deshalb, weil man ihm gegenüber im Unrecht ist. Hier stoßen wir auf Fels. Nicht etwa, weil die Mehrheit ein Orakel wäre, sondern vielmehr weil sie die einzige Kontrolle bietet. Es fragt sich noch, wie man jene Stimmabgabe auszählen kann, wie man sie gegen Unregelmäßigkeiten schützen kann, durch welche Institutionen, und dies ist nicht einfach, denn das Gefühl, das jeder von seinem Leben hat, hängt unglaublich von den Ideologien ab. Insbesondere in einer angespannten Situation wird das Abstrakte selbst konkret, und jeder lebt so sehr in den gesellschaftlichen Symbolen, daß es schwierig ist, in ihm wieder
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einen geschützten Bereich der ihm eigenen Gewißheiten zu finden. Darüber hinaus gibt es eine Komödie der liberalen Gesellschaften, die bewirkt, daß die Kontrolle in ihr Gegenteil verkehrt wird. Alain dachte, man könne die Kontrolle nicht mißbrauchen, die Rolle der Staatsbürger sei ein für alle Mal, nein zu sagen, und die Rolle der Macht sei es, bis zur Tyrannei vorzustoßen. Wenn jeder sein Amt auf bestmögliche Weise ausübt, dann sind die Gesellschaft und die Menschheit alles, was sie sein können. Er hatte jenen Rollentausch nicht vorhergesehen, bei dem die Freiheit und die Kontrolle dazu dienen, die Tyranneien aufrechtzuhalten, während die Interessen der Freiheit auf die Seite der Macht übergehen. Jede Macht ohne Kontrolle führt zum Wahnsinn. Das ist wahr. Aber was soll man tun, wenn es überhaupt keine Macht mehr gibt, wenn nur noch Kontrolleure übrig bleiben? Der Staatsbürger gegen die Staatsgewalt, das ist nicht immer ein Gleichgewicht zwischen Tyrannei und Chaos, es ist manchmal auch ihre Mischung, eine Gesellschaft ohne Aktion, ohne Geschichte. Das Problem des Wahlrechts liegt als Ganzes vor uns. Wir können noch nicht erahnen, wie eine Gesellschaft beschaffen wäre, die dieses Problem gelöst hätte. Aber es gilt, das miteinander zu verbinden, was man sagt und was man tut. Wir wissen also bereits, daß eine Gesellschaft, die Bestand haben wird, nicht weniger frei, sondern freier sein wird als unsere. Mehr Ausbildung, mehr und genauere Information, mehr konkrete Kritik, die Offenkundigkeit des realen sozialen und politischen Funktionierens sowie Probleme, die alle mit höchst verletzenden Begriffen formuliert werden – so verletzend, wie es das Unglück ist und wie es alle guten Räsonnements sind –, dies sind die Bedingungen, die ›transparenten‹ Gesellschaftsbeziehungen vorausgehen. (Juli 1955)
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Die Temps modernes haben im Dezember einen Leitartikel über Indochina veröffentlicht, den man als unvollständig erachten könnte: Er hat keine Politik bestimmt, sondern ausgeführt in welchen Gefühlen man den Ansatz zu einer Politik suchen muß. Er sagte, daß wir a priori im Unrecht seien, wenn wir nach achtzig Jahren immer noch wie Feinde gehaßt würden, und daß eine militärische Rückeroberung wörtlich genommen unsere Schande sei. Daß ein Sohn unserer Freunde, der gerade seinen Dienst in Indochina geleistet hat, uns heute schreibt: Die Soldaten dort unten sind Opfer, und es ist härter zu sterben als Protestartikel zu verfassen, finden wir ganz normal. (Wenn man sein Leben riskiert hat, ist es schmerzlich einzusehen, daß es für eine fragwürdige Sache geschah. Aber gerade dann muß man gegen eine Presse protestieren, die tote Soldaten als beispielhaft hinstellt, um andere Opfer zu rechtfertigen.) Erstaunlicher ist es schon, daß man sich in den Augen eines Obersten disqualifiziert, wenn man von Moral redet und den Heroismus überall dort würdigt, wo er zutage tritt. Dieser Oberst geht aus den Bildern von Epinal hervor, und wir haben im Laufe des Krieges ganz andere Kaliber seiner Art kennengelernt. Daß jedoch eine moralische Protestaktion bei einem Christen wie François Mauriac zu einer »wirklichen Betroffenheit«1 führen kann, läßt uns unsererseits doch sehr betroffen dastehen. Ihr redet von einer Stimmung, sagt er. Und gewiß existiert die Moral, aber sie darf nicht zur Gesetzgeberin werden, ohne die Einzelfälle zu betrachten. – Auch wir sind gegen eine abstrakte 1 Le Figaro, 4. Februar 1947: Le Philosophe et l’Indochine. Wir gehen über die sehr provinzielle Idee hinweg, den Verfasser eines kollektiven Leitartikels erraten zu können. Das Komischste dabei ist, daß sich der Graphologe in seiner Vermutung irrt.
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Moralität. Aus diesem Grund schließen wir uns nicht den Antikommunisten an, die den Kommunismus verurteilen, ohne die Probleme der UdSSR zu betrachten. Darüber hinaus müssen die Werte in ihrem momentanen Erscheinungsbild erkennbar sein. Aus diesem Grund, da wir im heutigen Kommunismus nicht die Werte des marxistischen Humanismus erkennen, sind wir keine Kommunisten. In der Indochinafrage haben wir uns nicht der Kolonisierung der prinzipiellen Argumente, wie etwa der Gleichheit der Menschen oder ihrem Recht auf Selbstbestimmung, widersetzt. Wir sind zu jener sehr konkreten Feststellung gelangt, daß wir nach achtzig Jahren in Indochina kaum tolerierte ›Besatzungsautoritäten‹ sind,2 daß dies einem Scheitern gleichkommt und daß eine militärische Lösung eine Bestätigung dieses Mißerfolgs wäre. Wir möchten, daß man zwischen der reinen und der angewandten Moral unterscheidet. Darüber hinaus muß es zwischen ihnen irgendeine Beziehung geben. Wenn sie aus nichts als verbalen Allgemeinplätzen besteht, dann wird die reine Moral zum Alibi und zur Finte. Man muß sie also wörtlich nehmen. Man muß sagen, und wir wiederholen es noch einmal: ›Laßt uns Frieden schließen oder gehen‹. Wenn man sich auf eine relative Moral einläßt, dann muß man genau wissen, was man am Ende will, und man muß entschlossen sein, nicht irgendeinen Ausgang zu akzeptieren. François Mauriac verwechselt den Sinn für das Reale mit dem Respekt vor dem Realen. Wie könnt ihr es wagen, so fährt er fort, zu schreiben, das Gesicht der Franzosen in Indochina sei das Gesicht der Deutschen in Frankreich? Die Deutschen haben Europa geplündert, und wir haben dort unten eine ›wohltuende Zivilisation‹ errichtet. Wir geben zur Antwort, daß die Deutschen, wenn sie ein Dreivierteljahrhundert in Frankreich geblieben wären, sicherlich irgendwann Fabriken errichtet hätten, in denen Franzosen gearbeitet 2 »Wir sind dort unten«, hieß es im Leitartikel, »Deutsche ohne Gestapo und ohne Konzentrationslager – zumindest wollen wir dies hoffen.« – Eine vergebliche Hoffnung. Der Artikel von J. Cuisinier wird zeigen, daß wir noch viel zu optimistisch waren.
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hätten, sowie Straßen und Brücken, die wir benutzt hätten – und sie hätten am Ende sogar, für die Pflege der Weinberge in Familienbesitz, Schwefel und Sulfat an die Eigentümer verteilt. Dadurch wären ihnen die hingerichteten Geiseln noch lange nicht verziehen worden. Wenn die Italiener in Abessinien hätten bleiben können, dann hätten sie das Land versorgt. François Mauriac war wohl leichtsinnig, als er das äthiopische Unternehmen verurteilte. Er mußte nur die Stunde der Brücken und der Straßen abwarten. Was sagen wir? Zumindest die strategischen Straßen waren bereits in Betrieb genommen. Die französische Politik in Indochina hat nicht nur die Bauern nicht aus dem Wucherzins befreit, sondern auch nicht einmal die Bildung eines Industriebürgertums zugelassen. So erklärt sich, warum wir dort unten eine Besatzungsmacht bleiben. Man beurteilt uns anhand dessen, was wir getan haben und anhand dessen, was wir nicht getan haben. Letztlich, sagt François Mauriac, ist die Kolonisierung eine Art Kreuzzug, genauso zweideutig wie alle Kreuzzüge. Ihre Gewalttaten sind nur »die Korruption einer großen Idee«. Die Idee aber findet sich im Geist François Mauriacs oder in unseren Geschichtsbüchern. Die Vietnamesen jedoch haben von ihr vor allem die ›Korruption‹ zu Gesicht bekommen. Es ist geradezu skandalös, daß ein Christ sich dermaßen unfähig zeigt, von sich selbst und seinen ›Ideen‹ Abstand zu nehmen, und daß er es ablehnt, sich auch nur einen Moment lang mit den Augen des Anderen zu sehen. Die weniger revolutionär Gesinnten unter uns haben durch den Spanischen Bürgerkrieg und die deutsche Besatzung ein für alle Mal begriffen, daß die Ehre mitunter in den Gefängnissen zu suchen ist. Sie haben gelernt, was die großen ›Ideen‹ der Macht für die Unterdrückten bedeuten. Aber der Krieg ist vorbei, die Deutschen sind gegangen, und alles ist zur Ordnung zurückgekehrt. Die jetzige Macht sind wir, sie kann also nur ehrenhaft sein. Erneut zählt der Standpunkt der Irregulären nicht. Wie in den Tagen seiner behüteten Kindheit ist François Mauriac taub gegenüber den Schreien derer, die sich mit dem Töten und Sterben befassen. Seien wir geduldig. Es ist nichts als die Korruption
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einer großen Idee »und, wörtlich genommen, einer verratenen Berufung«. Wir behaupten, daß ein Christ nicht in der Lage ist, seine Berufung zu verraten oder jene zu entschuldigen, die sie verraten, und wir sind nicht die einzigen, die dies behaupten. Ein Priester schreibt uns: »Ich bin gerade aus Vietnam zurückgekehrt, wo ich sieben Jahre verbracht habe. Die Lektüre Ihrer Anmerkung […] zum Thema Vietnam hat mir sehr gut getan, wofür ich Ihnen dankbar bin […] Ich hätte Ihnen nicht geschrieben, wenn mir nicht der Artikel von Herrn Mauriac in Le Figaro vom 4. Februar zufällig unter die Augen gekommen wäre […] Ist er alt geworden? Verbittern ihn die Leiden seines eigenen Landes? Was ist aus dem Christen geworden? […] Kann man überrascht sein, daß andere beabsichtigen, ihre Stelle einzunehmen, solange so viele Christen es ablehnen, sich dort einzufinden, wo man es erwartet?« Gewiß lehnt François Mauriac den Kolonialismus »so wie er im XIX. Jahrhundert praktiziert wurde« ab (als ob er sich seitdem derart verändert hätte). Er lädt uns ein, »bevor es zu spät ist«, mit Vietnam »die neuen Grundlagen einer Verständigung und einer Kooperation zu entdecken«. Man kann nicht sagen, daß uns sein Artikel hierbei eine große Hilfe wäre. Wie kann es sein, daß er nicht spürt, daß dieser Artikel, von außen betrachtet, genau die moralische Rückendeckung einer gewaltsamen Lösung darstellt?3 Ein Vietnamese sagte zu uns: Euer System funktioniert ausgezeichnet. Ihr habt eure Kolonialisten. Und ihr habt, unter euren Verwaltern, euren Schriftstellern und euren Journalisten, viele Menschen, die guten Willens sind. Die einen handeln, die anderen reden und sind die moralische Unterstützung der ersteren. Auf diese Weise werden die Prinzipien gewahrt – und die Kolonisierung bleibt tatsächlich das, was sie immer gewesen ist. Am Ende eines Artikels, der geschrieben wurde, um uns ein gutes Gewissen zu verschaffen und unsere Machtstellung in Indochina 3 Man weiß nicht einmal, ob die Formulierung »bevor es zu spät ist« bedeutet, wie wir hoffen, »bevor sich die militärische Repression durchsetzen wird«, oder, wie wir befürchten, »bevor wir vertrieben werden«.
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zu rechtfertigen, fallen die versöhnlichen Sätze zum Schluß nicht ins Gewicht. Ein Beamter aus Indochina erwähnte uns gegenüber neulich: «Sie hatten Recht, es geht darum, die Leute wachzurütteln.« Der Artikel von François Mauriac taugt allerdings nur dazu, sie einzuschläfern. Wenn sie auf ihn hören, dann werden sie den Dingen ihren Lauf lassen – bis die kalte Jahreszeit kommt, die vietnamesischen Truppen müde und die Bauern überdrüssig werden und der Viet-Minh bedingungslos kapituliert. In diesem Augenblick wird man ohne jedes Zugeständnis Verhandlungen führen können, und der Kolonialismus wird die Forderungen des Volkes von Indochina, so begründet sie auch sein mögen, im Namen des ›Kommunismus‹ und gemeinsam mit der tatsächlich kommunistischen Führungsriege des Viet-Minh, endgültig zurückweisen. Sicherlich ist es für einen Minister schwierig, Verhandlungen zu eröffnen, ohne den Viet-Minh zu stärken. Deshalb wird ständig wiederholt, daß jedes Wort, das in der französischen Presse zugunsten der Vietnamesen gesprochen wird, den Kampf verlängert, weil es bei ihnen Hoffnungen weckt. Man muß jedoch sehen, daß die andere Formel: ›Seien wir heute die Sieger und wir werden morgen gerecht sein‹‚ wieder darauf hinausläuft, die Reformen abzuschreiben. In Indochina gibt es seit dem Krieg eine doppelte Machtebene. Die Logik des Kolonialismus erfordert es, daß man die ›ungebetenen Gäste‹ beseitigt. Er wird sich in der Stunde seines Triumphes keiner Reform unterwerfen. Für eine militärische Lösung zu sein bedeutet, die seit achtzig Jahren geführte französische Politik in Indochina gutzuheißen. Daß sich ein den Geschehnissen nicht mehr gewachsener Minister dieser Politik anschließt, ist nicht überraschend. In der Stunde jedoch, in der ihm beinahe die ganze Presse beipflichtet, gehen die unabhängigen Schriftsteller nicht ihrem Beruf nach, wenn sie dieses Vorgehen erleichtern. Den Zynikern, die diese Operation leiten, muß man jene Art von Größe zugestehen, die den Staatsmännern seit jeher zu eigen ist. Aber was soll man über die schönen Seelen sagen, die sich ihrem Vorgehen anschließen, ohne den Mut zu haben, Terror zu nennen, was Terror ist? Unsere Zeit hat gegenüber anderen Zeiten jenen unvergleichlichen Vorteil, dem
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Publikum einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte gewährt und einige ihrer groben Finten ans Licht gebracht zu haben. Es ist unsere Aufgabe, dieses Privileg zu verteidigen. All dies ist so klar, daß man ›betroffen‹ ist, es noch einmal sagen zu müssen, insbesondere gegenüber François Mauriac, der bei anderen Gelegenheiten sehr scharfblickend gewesen ist. Was also ist mit ihm geschehen? Dieser Artikel ist nicht eindeutig. Man spürt, daß er über eine Sache spricht und auch an eine andere denkt. Woher rührt dieser irreführende Tonfall, den er nie gehabt hat, wenn es um Moral oder Religion ging, und den er in der Politik schon vor langer Zeit abgelegt hatte? Wie das Subjekt der Psychoanalyse gibt er uns beiläufig die Antwort. Gegen Ende seines Artikels, und so, als ginge er zu den nebensächlichen Aspekten des Problems über, fragt unser Autor: »Stimmt es oder stimmt es nicht, daß eine andere Macht (sogar jene, von deren Geist der Viet-Minh durchzogen ist) an die Stelle des gescheiterten Frankreichs treten würde?« Da sind wir beim Kern des Problems angelangt. Es bedarf keiner langen Umfragen, um herauszufinden, daß die der Regierung angeschlossenen französischen Kommunisten mitverantwortlich sind für deren Kolonialpolitik, daß der Viet-Minh von der UdSSR nicht ernsthaft unterstützt wurde, daß die UdSSR ihrer allgemein vorsichtigen Politik entsprechend den Kompromiß wünscht und keinen Krieg, der eine angelsächsische Intervention nach sich ziehen könnte, daß die Waffen des Viet-Minh aus China kommen, meist durch Vermittlung eines französischen Hauses, und daß schließlich die kommunistische Führungsriege des Viet-Minh den Stamm einer nationalistischen Bewegung Indochinas gebildet hat, die in weiten Teilen durch die französische Politik in Indochina motiviert war und die nicht auf den Machiavellismus des Kremls zurückreichte … All dies ist unwichtig. Es genügt, daß Ho-Chi-Minh Kommunist ist und François Mauriac dies verstanden hat. Es handelt sich dabei nur um einen Fangarm der UdSSR. Ein leuchtendes Beispiel jenes politischen Nominalismus, der das öffentliche Leben in Frankreich verfälscht. Ob es sich nun um Indochina oder um etwas anderes handelt, jeder wählt seine Position im
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Hinblick darauf, ob sie die UdSSR schwächt oder stärkt, und er arrangiert sich, so gut es geht, mit ihren Ideen. Genau deswegen gibt es keine politischen Probleme, aber auch keine wirkliche politische Diskussion mehr. Die Kommunisten glaubten früher, daß die Fortschritte der Weltrevolution der UdSSR, aufgrund der Logik der proletarischen Bewegung, ungemein nützlich wären. Hinsichtlich der Taktik konnten sie vielleicht zögern und sich zu gegebener Zeit fragen, ob die proletarische Offensive opportun sei. Aber es war zumindest abgemacht, das Problem durch eine ernsthafte Analyse der lokalen Situation und eine Einschätzung der weltweiten Konjunktur zu lösen, bei der man den Druck der nationalen Proletariate auf ihre Regierungen berücksichtigen würde. Heutzutage haben sie nicht mehr so großes Vertrauen in den Lauf der Dinge, sie glauben nicht mehr an eine vernünftige Entwicklung der Geschichte und an das heimliche Einverständnis der berechtigten Forderung mit ihrer wirksamen Umsetzung. Ihre Diplomatie berechnet, wie die Diplomatie aller Kanzleien, die Kräfteverhältnisse anhand der geographischen und militärischen Bedingungen und ohne das tatsächlich immer schwächer gewordene Klassenbewußtsein heranzuziehen. Der Antikommunismus behandelt seinerseits keine Frage gründlich. Er ist so frei von Ideen und so fern aller Tatsachen, daß er sich nicht einmal auf eine Stufe stellt mit dem linksradikalen Manöver, obwohl es unter diesen Umständen so einfach wäre. Er fällt schlicht und einfach zurück in den alten Konservatismus und verwechselt in blinder Zurückweisung die sowjetische Diplomatie und die spontanen Massenbewegungen. Bei einer Angelegenheit wie der Indochinafrage, bei der trotz allem klar ist, daß man kein Problem lösen wird, indem man Jagd macht auf das Phantom der UdSSR, hält sich der Antikommunismus an die Auffassung eines Polizeipräfekten, der zufolge alle Probleme von einigen Rädelsführern geschaffen werden. Wir verstehen nun, was mit François Mauriac geschehen ist. Als der französische Patriotismus im Sinne der Humanität blies, konnte er über die Mächtigen urteilen. Er aber verlangte nur danach, eine so ermüdende Klarheit aufzugeben. Der Krieg hatte
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jenen Nachteil, ihn zu verpflichten, das Legale und das Gerechte voneinander zu unterscheiden. Vergessen wir, denkt er, jene Schrecken. Öffnet nicht wieder unsere Wunden. Die Verwundung kommt für ihn nicht aus der Indochinafrage, sondern aus der Schande der Vichyregierung. Dort unten kann gerade von dem Moment an Blut fließen, in dem unsere Wunden vernarben. (März 1947)
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(Interview) Haben Sie, als Philosoph und politischer Denker, eine Meinung über den Algerienkrieg, und können Sie uns diese mitteilen? Ich habe eine Meinung, und ich verberge sie nicht. Darin liegt aber vielleicht keine Lösung mehr, selbst wenn es vor zweieinhalb Jahren eine war. Nichts beweist, daß ein gegebenes Problem zu einem beliebigen Zeitpunkt lösbar wäre, und es wäre falsch, uns vorzuwerfen, wir hätten keine Lösung, wenn man zugelassen hat, daß sich das Problem verschlimmert. Ich sehe nur partielle Wahrheiten: 1. Ich bin unbedingt gegen die Repression und insbesondere gegen die Folter. Derjenige, der La Question geschrieben hat, weiß, was Ehre und wahrer Ruhm sind; erinnern Sie sich an jene Worte, als er im Flur des Gefängnisses Muslime trifft, die ihm Mut zusprechen: »[…] und in ihren Augen nahm ich eine solche Solidarität, eine solche Freundschaft und ein so vollkommenes Vertrauen wahr, daß ich mich stolz fühlte, gerade weil ich Europäer bin, meinen Platz unter ihnen gefunden zu haben«. Derjenige, der dies gedacht hat, und seinesgleichen im ganz wörtlichen Sinne retten die Ehre, unsere Ehre und die unserer Minister. Man sagt, und dies ist wahr, die Folter sei die Antwort auf den Terrorismus. Dies rechtfertigt die Folter aber nicht. Man muß so handeln, daß der Terrorismus gar nicht erst entsteht. 2. Es scheint mir jedoch unmöglich, von diesem Urteil über die Folter auf eine bestimmte Politik in Algerien zu schließen. 1 Der Aufenthalt auf Madagaskar, um den es hier geht, fand im Oktober-November 1957 statt, und der Text des Interviews stammt von JanuarFebruar 1958. Wir ordnen ihn hier wieder seinem Entstehungsdatum zu. Obwohl er bereits im Express vom 3. Juli angekündigt worden war, erschien er darin erst am 21. August 1958.
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Es reicht nicht, zu wissen, was man von der Folter hält, um zu wissen, was man von Algerien hält. Politik ist nicht das Gegenteil von Moral, sie beschränkt sich nie auf die Moral. Der Pole Hlasko sagte neulich, die politischen Überzeugungen der französischen Schriftsteller interessierten ihn nicht sonderlich, weil sie nur moralische Haltungen seien. Mir scheint, er hatte Recht. Was bezeichnen sie als moralische Haltung? Beispielsweise die Haltung derer, die denken, die Weißen hätten im Rest der Welt nichts verloren, sie hätten Unrecht daran getan, dorthin zu fahren, und ihre einzige Aufgabe und ihre einzige Rolle sei es gegenwärtig, sich wieder von dort zurückzuziehen, die sich selbst überlassenen Länder in Übersee würden dann zwar auf große Schwierigkeiten stoßen, aber es liege nicht bei uns, sich darum zu kümmern, vielmehr müssen diese Länder ihnen entgegentreten und nach eigenem Ermessen über eine totale Freiheit verfügen, die man ihnen zunächst einmal zugestehen muß. Dieses Empfinden, das man bei einem Großteil der nichtkommunistischen Linken erahnen kann, ist alles, was in ihr von der eigentlich revolutionären Haltung übrig geblieben ist. Allerdings war die revolutionäre Haltung eine Politik: Man dachte, es gebe in der Welt wirklich eine geschichtliche Kraft, die reif und bereit sei, das Erbe der Menschheit anzutreten, und in diesem Kampf seien die Kolonialstaaten und die Proletariate der weiter entwickelten Länder nur eins, und die revolutionäre Politik bestehe darin, die Aktionen der einen und der anderen zu kombinieren. Heute ist hinreichend klar geworden, daß das Proletariat nicht einmal in den Ländern an der Macht ist, in denen die Bourgeoisie diese verloren hat; die Idee selbst einer proletarischen Macht ist problematisch geworden. Viele Menschen, die nicht mehr glauben, die UdSSR sei eine solche Macht, gerade weil sie es nicht mehr glauben, übertragen die revolutionäre Ideologie auf die kolonisierten Länder. Genau deswegen, weil sie keine Kommunisten mehr sein können, ziehen sie in der Kolonialpolitik keinen Kompromiß in Betracht.
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Dennoch ist klar, daß man ohne ihre treibende Kraft, das heißt ohne die proletarische Macht, keine revolutionäre Politik aufrechterhalten kann. Wenn es keine ›universelle Klasse‹ und keine Ausübung der Macht seitens dieser Klasse gibt, dann wird der revolutionäre Geist wieder zu einer reinen Moral oder zu einem moralischen Radikalismus. Die revolutionäre Politik, das war ein Schaffen, ein Realismus, die Geburt einer Kraft. Die nicht-kommunistische Linke bewahrt davon oft nur die Negationen. Dieses Phänomen ist ein Kapitel des großen Niedergangs der Revolutionsidee. Und warum dieser Niedergang? Weil die wichtigste Hypothese, die Annahme einer revolutionären Klasse, vom tatsächlichen Lauf der Dinge nicht bestätigt wurde. Es genügt, eines der Länder in Übersee zu bereisen, um gleichzeitig zu verstehen, in welchen Punkten das revolutionäre Schema fiktiv ist und warum es dennoch aus den Ereignissen eine ganz offensichtliche Rechtfertigung erfährt. Nehmen wir zum Beispiel Madagaskar, wo ich vor einigen Monaten gewesen bin. Man ist zunächst einmal von der Tatsache erschüttert, daß die nationalistischen Intellektuellen von Tananarive sehr weit von dem entfernt sind, was uns eine revolutionäre Vorstellung von Geschichte vermuten ließe. Einer von ihnen äußerte mir gegenüber, die Unterscheidung zwischen den Adligen und den Bürgerlichen sei ein durchgängiger Zug der madagassischen Persönlichkeit; ein anderer sagte, man müsse sich nach der Unabhängigkeit damit befassen, die in die Stadt ziehende Bevölkerung im Dorf zu halten; noch ein anderer, ein Katholik, sagte, man müsse eine Art Feudalsozialismus errichten; ein anderer, Liberia sei ein Beispiel für alle Völker Afrikas; schließlich meinte einer, nichts sei wichtiger als die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten in Tananarive. Diese Intellektuellen sind weit davon entfernt, für eine mögliche Revolution bereit zu sein. Darauf wird ein Marxist antworten, daß sie eine nationalistische Bourgeoisie bilden und daß diese Bourgeoisie den Massen und den spontan eingesetzten Anführern, die sich die Massen wählen werden, die Türen zur Macht
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öffnen wird. Trotz aller Bedenken, die man angesichts der Unzulänglichkeit einer kurzen Reise und auch angesichts der Möglichkeit unerwarteter Ereignisse (1947 glaubte beinahe niemand an den Aufstand) äußern kann, muß man doch zugeben, daß man im Land zu keinem Zeitpunkt den Eindruck einer schlummernden Revolution hatte. Daß viele Madagassen, insbesondere in Tananarive, von der französischen Macht genug haben, ist eine Sache. Daß dies ein schnelleres Heranreifen des Proletariats im marxistischen Sinne ankündigt, ist eine andere. In der Region Betsileo, im Süden, in der Gegend von Tulear und Fort-Dauphin und sogar in Issotry, dem Vorort von Tananarive, wo das Wasser der Reisfelder in der Regenzeit die Häuser überschwemmt, und wo man in den Auslagen der Geschäfte undefinierbare Gegenstände zum Verkauf findet, die das grausamste Symbol des Elends sind, fühlt sich der einsam Reisende nicht von Zorn umgeben. Selbst wenn all dies morgen explodieren sollte, so wird zu beweisen bleiben, daß es sich um einen von der Geschichte vorbereiteten Ausbruch handelt. Ich weiß, daß man unter der äußeren Erscheinung suchen muß, aber man müßte beweisen, daß es in ›den Tiefen‹ ein revolutionäres Proletariat im klassischen Sinne von Marx gibt. Das ist also der Grund, weswegen die Geschichte dennoch den Eindruck erweckt, im Sinne des Kommunismus zu verlaufen: Wenn die Franzosen Madagaskar unverzüglich und vollständig aufgeben würden, dann würde die Bourgeoisie, von der ich vorhin gesprochen habe, die zwar gut ausgebildet, aber nicht zahlreich genug ist, wahrscheinlich versuchen, sich des Landes zu bemächtigen, und wahrscheinlich würde ein Teil der Küstenbevölkerung sich gegen sie erheben (wir versuchen nur, diese Haßgefühle auszunutzen, aber sie existieren wirklich, und wir haben sie nicht geschaffen; im Anschluß an eine Konferenz über die Rassenidee habe ich festgestellt, daß die Merina von Tananarive mich wirklich zu wenig rassistisch fanden: Es gelang ihnen nicht, die Schwarzen der Küste als ihresgleichen zu empfinden). Kurzum, die nationalistischen Madagassen geben bereitwillig zu, daß dem Abzug der Franzosen blutige Auseinandersetzungen
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folgen würden. Da das Leben aber irgendwie weitergehen muß, würden dann mit einem Mal aus den Massen aufgetauchte Männer tatsächlich ihre Autorität durchsetzen, würden dem Land Arbeit geben und ohne Kapitalien und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln die Aufgabe der Entwicklung angehen. Dies wäre sehr langwierig und sehr hart. Ich sehe keinen Grund zu behaupten, darin bestehe der immanente Sinn der Geschichte, die von ihr vorbereitete Lösung der Probleme des Elends. Selbst wenn, was nicht der Fall ist, alle in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonialstaaten sich am Ende militarisieren und eine Art Kommunismus verwirklichen, dann würde dies keineswegs bedeuten, daß die marxistische Geschichtsphilosophie wahr ist, sondern vielmehr, daß ein autoritäres und nicht bürgerliches Regime der einzig mögliche Ausweg ist, wenn die politische Unabhängigkeit der ökonomischen Reife vorangeht. Wenn man sich an das hält, was man beobachten kann, dann erinnert auf Madagaskar nichts an das klassische Schema des kolonialen Proletariats, das die Stufen in der Entwicklung überspringt und das den Proletariaten der weiter entwickelten Länder manchmal an revolutionärer Reife voraus ist. Die scheinbare Bestätigung des Schemas trübt unseren Blick für die Tatsachen und Probleme, die der Marxismus als zweitrangig einstuft oder sogar mit Stillschweigen übergeht. Wenn man sich in Tananarive mit fortschrittlichen Intellektuellen unterhält, ist man überrascht, wie wenig Interesse sie beispielsweise den Entwicklungsproblemen oder auch dem Studium der Sitten und der madagassischen Gesellschaft entgegenbringen. Einer von ihnen, der sein Universitätsstudium in Frankreich verbracht hat, sagte mir, es sei ihm fast unmöglich, seine madagassische Persönlichkeit und seine Persönlichkeit als Wissenschaftler miteinander zu verbinden, und im übrigen erscheine jede im Geist der Wissenschaft vorgenommene Beschäftigung mit den madagassischen Glaubensformen seinesgleichen wie ein Verrat. Ihr Aufbegehren gegen uns ist nicht intellektueller Art (sie lieben und praktizieren in bewundernswerter Weise die französische Art der Konversation), es ist ganz emotional und moralisch.
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Man kann antworten, der Rest käme mit der Unabhängigkeit. Ich glaube, in Wirklichkeit würden die Unabhängigkeit und ihre Folgeerscheinungen einen brutalen Schnitt bedeuten, aber nicht das Problem lösen, das darin besteht, eine Art des europäischen Denkens mit dem zusammenzuschweißen, was von einer archaischen Zivilisation übrig bleibt. Vielleicht bewältigt der Kommunismus dieses Problem wie alle anderen nur, indem er ihm die Möglichkeit nimmt, in Erscheinung zu treten. Als Rabemananjara in einer Pariser Zeitung die Wünsche der Madagassen zum Ausdruck bringen wollte, konnte er die Lobrede auf die europäischen Techniken und den Anspruch auf eine unmittelbare Beziehung zur Natur, deren Geheimnis die madagassische Zivilisation, wie er sagte, seit jeher bewahre, nur aneinanderreihen, ohne zu erläutern, wie diese poetische Beziehung zur Natur mit der Arbeit und der Produktion auf abendländische Weise vereinbar sei. Césaire rechnet es den Schwarzen zur Ehre an, den Kompaß nicht erfunden zu haben, und man versteht, was er sagen will: Der Kompaß, die Dampfmaschine und alles andere haben nur allzu sehr dazu gedient, das Tun und Treiben der Franzosen zu überdecken. Aber letztlich behandelt man das historische Problem der Entwicklung sehr leichthin, wenn man schlicht und einfach Partei gegen den Kompaß ergreift. Die Unabhängigkeit würde den Verfall der archaischen Strukturen nicht aufhalten, sie würde ihn im Gegenteil noch beschleunigen. Man kann überdies antworten: Die Idealisierung der archaischen Vergangenheit ist eine Suche nach Sicherheit und verbirgt die revolutionäre Angst. Man kann dies so sagen, und es ist immer dieselbe Zuflucht zu einer abgründigen Geschichte. Wenn man sich an das hält, was man beobachten kann, dann gibt es nichts, das die Feststellung erlauben würde, die sofortige und unbedingte Unabhängigkeit sei die Abrechnung mit einem erschöpften Imperialismus seitens einer reifen Nation, damit diese von sich aus leben kann. Es wäre eher die Ausstellung eines Wechsels auf das Unbekannte, eine Herausforderung des Schicksals, und genau das ist es, was die Revolutionsideologie vor der französischen Linken verbirgt.
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Kann man aus dem von Ihnen Gesagten schließen, daß es den traditionellen Kritiken, die man dem Kolonialismus entgegenbringt, an Realismus und insbesondere an Aktualität mangelt? Der Kolonialismus ist, von welcher Annahme man auch ausgehen mag, zu drei Vierteln beendet. Als die Europäer fünfzehn Millionen Schwarzafrikaner nach Amerika verschleppten, als sie die Herden der argentinischen Pampa wie Steinbrüche für Leder und Talg behandelten, als sie in Brasilien die Wanderkultur des Zuckerrohrs entwickelten, die den Boden ausgezehrt zurückließ und das Land, unterstützt durch die tropische Erosion, in eine Wüste verwandelte, oder als die französische Verwaltung in Afrika noch von den großen Kompanien dominiert wurde, da gab es einen Kolonialismus. Ich denke über die vergangenen Tatsachen, von denen ich gerade gesprochen habe, was ich über alle Niederträchtigkeiten denke, die in den historischen Unternehmungen nie fehlen, in der römischen Geschichte ebensowenig wie in der Geschichte der französischen Monarchie. Auf diese Weise haben doch Nantes oder Bordeaux die Geldmittel angehäuft, welche die industrielle Revolution ermöglichen sollten. Ich billige dieses Blut, diese Leiden und diese Schrecken ebensowenig wie ich die Hinrichtung von Vercingetorix billige. Ich sage, daß man, unter der Bedingung, daß dies aufhört, nicht zum Prinzip erheben muß, die Weißen müßten nach Hause zurückkehren, denn in Afrika sind sie heute etwas anderes als jener Kolonialismus. Sie werden in dem von Ballandier herausgegebenen Buch Le Tiers Monde sehen, daß die öffentlichen Investitionen Frankreichs in den Ländern südlich der Sahara seit dem Gesetz vom August 1946 rund eine Milliarde Dollar betragen, in zehn Jahren so viel wie in den vierzig vorangegangenen Jahren, die Entsprechung, hat man gesagt, zu einem afrikanischen Marshallplan. Sie werden in Germaine Tillions Buch sehen, daß unter den 1.200.000 Nicht-Muslimen in Algerien 19.000 im strengen Sinne Kolonisten sind, von denen 7.000 arm, 300 reich und etwa zehn sehr reich sind. Der Rest der Algerienfranzosen sind Angestellte, Ingenieure und Händler, die drei Viertel der ökonomischen In-
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frastruktur des Landes ausmachen. Unterdessen arbeiten 400.000 algerische Arbeiter in Frankreich und ernähren in Algerien sogar zwei Millionen Algerier. Ich behaupte nicht, daß die französischen Firmenchefs sie aus Menschenfreundlichkeit einstellen. Ich stelle nur fest, daß diese Beziehung zwischen Algerien und Frankreich nichts mit Kolonialismus zu tun hat. Vor allem in den Sitten und Gebräuchen, in den Arten des Denkens, sogar in den administrativen Praktiken bleibt viel mehr als nur Spuren des Kolonialismus erhalten. Man kann über das bescheidene Niveau des allgemeinen garantierten Mindestlohns in so mancher Region Madagaskars nachdenken, in der sich ein wichtiges Privatunternehmen niedergelassen hat, das nebenbei erwähnt das Verdienst für sich in Anspruch nimmt, etwas höhere Gehälter auszuzahlen. Man kann nicht mehr behaupten, das System sei für die Ausbeutung gemacht; es gibt keine ›Ausbeutungskolonie‹ mehr, wie man es einst gesagt hat. Warum sieht man unter diesen Umständen immer mehr Länder in Übersee, die sich für ihre Unabhängigkeit erheben oder sie zumindest einfordern? Werfen wir noch einmal einen Blick in Ballandiers Buch: Ein Zehntel der Weltbevölkerung verfügt über 80% ihres Einkommens; auf Asien, das die Hälfte der Menschheit beheimatet, entfällt nur ein Fünftel des weltweiten Einkommens. 500 Millionen Menschen in den sogenannten weiter entwickelten Ländern leben mit einem jährlichen Einkommen von 500 bis 1.000 Dollar; 400 weitere (die UdSSR, Japan, zwei oder drei Länder Osteuropas, eine oder zwei südamerikanische Republiken) leben mit einem jährlichen Einkommen von 100 bis 500 Dollar, der Rest – das heißt 1.500 Millionen Menschen – mit weniger als 100 Dollar im Jahr. Zwei Drittel der Weltbevölkerung hungern; ein Deutscher, ein Engländer, ein Amerikaner verfügten 1950 über 5.000 Energieeinheiten im Jahr, ein Afrikaner oder ein Chinese über 150, ein Hindu oder ein Indonesier über weniger als 100. Hinzu kommt, wie Sie wissen, die hohe Geburtenrate der unterentwickelten Länder, in der Größenordnung von 40 bis 50 auf
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tausend; die europäische Rate lag vor der Geburtenbeschränkung nur bei 30 bis 40 auf tausend. Ohne die Geburtenbeschränkung hat man errechnet, daß die europäischen Frauen erst mit etwa fünfunddreißig Jahren heiraten dürften, nur damit sie in der Ehe nicht mehr Kinder hätten, als sie heutzutage haben. Der Einsatz medizinischer Techniken hat die Sterblichkeitsziffer sinken lassen, wie man oft gesagt hat, aber die Zahlen sind verblüffend: Von 1946 bis 1952 ist die Lebenserwartung in Ceylon von 42,8 auf 56,6 Jahre gestiegen; Frankreich hat seinerseits fünfzig Jahre gebraucht, von 1880 bis 1930, um von der ersten zur zweiten Zahl zu gelangen. Alles in allem werden die unterentwickelten Länder im Jahr 2000 von 1.800 auf 4.000 Millionen Einwohner angewachsen sein, die anderen Länder von 900 auf 1.150 Millionen. All dies und der Verfall der gewohnten Strukturen, kurz gesagt das, was Germaine Tillion die ›Clochardisierung‹ von drei Vierteln der unterentwickelten Bevölkerungsgruppen nennt, und schließlich die Fortschritte der Information und des politischen Bewußtseins erklären weitgehend den Aufstand der unterentwickelten Länder. Das Wenige, das die Kolonisatorenländer für sie getan haben (in Algerien waren 1954 95% der Männer im Französischen des Lesens und Schreibens unkundig), hat ihr Aufbegehren eher vorangetrieben als verzögert. All dies erteilt dem Rassismus der Weißen und den Fakten der Ausbeutung keine Absolution, aber jene, von denen wir sprechen, sind von anderem Format und von anderem Gewicht. Alfred Sauvy, dem man vertrauen kann, schrieb jüngst, die Lebensordnung der Algerier habe sich seit der Ankunft der Franzosen in Algerien beinahe wie die der politisch unabhängigen arabischen Länder entwickelt. Da sich aber die kolonisierten Länder nicht selbst verwalteten, und da die Macht hier eine fremde Macht sei, sei es natürlich, daß sie ihr das eigene Leid anlasten. Wenn das Wesentliche aller Übel, unter denen die kolonisierten Länder leiden, nicht dem Kolonialismus zur Last zu legen ist, gibt es dann nicht auch eine Lösung? Es gibt keine kurzfristige Lösung, die Unabhängigkeit ist ebensowenig eine Lösung wie es der Kommunismus wäre. Man hat
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Gelegentliche Äußerungen
ausgerechnet, daß man zur Anhebung des Lebensstandards um 1% in einem entwickelten Land 4% des Volkseinkommens einbehalten müßte, und in einem unterentwickelten Land wäre es wahrscheinlich weit mehr. Unter Berücksichtigung der Wachstumsrate der Bevölkerung sind es 12% bis 20% des Volkseinkommens, die man einbehalten und investieren müßte, um ein recht dürftiges Resultat zu erzielen. Was die Hilfe von außen angeht, so schätzt man, daß die entwickelten Länder (ohne überhaupt die Diskrepanz zwischen ihrer demographischen Fortentwicklung und dem Bevölkerungswachstum der anderen zu berücksichtigen) vom ersten Jahr an 4% bis 7% ihres globalen Einkommens beitragen müßten, um in fünfunddreißig Jahren den Lebensstandard der unterentwickelten Völker zu verdoppeln, das heißt um ihr Einkommen auf 70.000 Francs pro Jahr und pro Kopf anzuheben. Warum sagen Sie, daß der Kommunismus keine Lösung wäre? Weil er innerhalb und außerhalb der UdSSR auf die Probleme der Unterentwicklung gestoßen ist; zwar hat er sie in der UdSSR, wo die Ressourcen in außergewöhnlichem Maße vorhanden sind, und in allem, was den industriellen Sektor betrifft (ein Agrarproblem bleibt anscheinend bestehen), überwunden. Was aber die Volksdemokratien angeht, so hätte, wie der Engländer Mandelbaum sagt, die Umwandlung der Agrarländer in Industrieländer, beispielsweise die jährliche Integration von 700.000 Personen in die ungarische Industrie, die Investition von einem Fünftel des Volkseinkommens erfordert. Unter Berücksichtigung der einer rein autoritären Planung eigenen Mängel und all ihrer menschlichen Folgen haben sich Polen und Ungarn vielleicht angesichts dieser übermäßigen Anstrengung erhoben. Die Probleme, die Sie beleuchten – und die von all jenen, die über die Politik nachdenken nicht immer bemerkt wurden –, scheinen tatsächlich die wesentlichen Probleme zu sein, die unsere Epoche beherrschen werden und die sie bereits beherrschen. So immens sie uns aber auch erscheinen mögen, man kann nicht mit ihnen fertigwerden, ohne eine bestimmte Art des Umgangs mit ihnen ins Auge zu fassen oder zu versuchen, sie wenn auch
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nur in geringem Maße zu kontrollieren. Haben Sie hierzu keine Vorschläge? Man muß sicherlich etwas vorschlagen, aber dies ist nicht die Äußerung einer unmittelbaren Lösung. Ich wünsche nicht, daß Algerien, Schwarzafrika und Madagaskar unverzüglich zu unabhängigen Staaten werden sollen, weil die politische Unabhängigkeit, die zwar die Probleme der beschleunigten Entwicklung nicht löst, ihnen andererseits aber die Mittel zu einer andauernden Unruhe im weltweiten Maßstab an die Hand geben würde, die Spannung zwischen der UdSSR und Amerika verschärfen würde, ohne daß eine der beiden Parteien für die Probleme der Unterentwicklung eine Lösung unterbreiten könnte, solange beide ihr Bemühen um Aufrüstung fortsetzen werden. Unmittelbar wünsche ich von den Regierungen vielmehr eine interne Autonomie oder einen Föderalismus, als Übergang zur Unabhängigkeit, mit darin vorgesehenen Fristen und Etappen. Da es keine kurzfristige technische und ökonomische Lösung gibt, müssen diese Länder die Mittel zu einer politischen Willensbekundung bekommen, damit ihre Angelegenheiten wirklich in ihrer Hand liegen und damit ihre Vertreter von Frankreich das Maximum dessen erhalten, was es im Sinne der ›Ökonomie der Gabe‹ tun kann. Glauben Sie, daß eine solche Politik, wenn man sie beschließen würde, Chancen hätte, Anwendung zu finden? Die Schwierigkeiten sind offensichtlich. In einem Madagaskar, das durch ein Rahmengesetz regiert wird, denken viele Madagassen, daß sich nichts verändert hat. Heutzutage, in einem Madagaskar, das einer Ordnung der internen Autonomie untersteht, ließ ein madagassischer Journalist mir gegenüber verlauten, daß die Verwaltung absichtlich Buschfeuer (die verboten sind) lege, um vermeintlich Schuldige verurteilen zu können. Ich habe den Journalisten aus Tananarive, der mir dies sagte, darauf hingewiesen, daß er vor zehn Jahren im Gefängnis war und heute Redakteur einer Zeitung in Tananarive sei. Viele Franzosen, ich muß sogar sagen viele Verwaltungsbeamte, stehen dem Rahmengesetz offen oder stillschweigend feindlich gegenüber.
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Einer von ihnen sagte mir: ›Wir bringen ihnen bei, ohne uns auszukommen.‹ Er hatte Recht. Dies ist genau die Mission der französischen Verwalter in einem Regime der internen Autonomie. Wenn es jedoch um die Karriere geht, so gibt es dort genug, womit man eine ganze Karriere ausfüllen kann, so groß ist die Aufgabe der Schaffung von Schulen und der Bildung, so lange wurde sie hinausgeschoben. Man muß hinzufügen, daß manche Verwalter das Spiel mit einer Offenheit, einer Aktivität und übrigens auch einem Erfolg betreiben, die bewundernswert sind; mit viel Charakter, Unabhängigkeit und Talent habe ich einige gesehen, denen es gelungen war, hier und dort im Anschluß an Wahlen, welche die alte Regierungsschicht hinweggefegt hatten, ihre moralische Autorität durchzusetzen. Mehr noch: Ein Verwalter, ein Mann der Rechten, sagte mir mit Bedauern: ›Als Herr Defferre Minister war, wurden wir mit Runderlässen voller Durchführungsrichtlinien bedrängt. Man verlangte von uns das Unmögliche, aber man verlangte es immerhin von uns.‹ Ich glaube, daß viele Menschen, die zögern oder taktieren, sich an die Arbeit machen würden, wenn sie hinter sich eine Bewegung und eine Erwartung spüren würden … Sie wünschen nicht, daß Frankreich sich aus Afrika zurückzieht. Können Sie die wesentlichen Gründe für diese Haltung erläutern? Ich sage es ganz ungeniert: Weil ich glaube, daß Frankreich dort etwas Gutes ausrichten konnte oder noch kann, und weil ich lieber einem Land angehöre, das in der Geschichte etwas bewirkt, als einem Land, das sie hinnehmen muß. Im Grunde genommen ist das, was mich bei jenen unter meinesgleichen stört, die allzu leicht von Unabhängigkeit reden, der Umstand, daß die Aufgaben, die sie uns vorschlagen, immer Unterlassungen sind. Ich habe Leute gesehen, die Mendès-France große Ehre erwiesen, weil er die Genfer Abkommen unterzeichnet hat. In Genf hat er getan, was er konnte. Was ihn ehrt, ist nicht Genf, sondern Tunis, die Abkommen von Karthago, die nichts mit der französischen Politik in Marokko zu tun haben. Auf der einen Seite
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eine Initiative; auf der anderen eine Mischung aus Schwäche und Gerissenheit. Sie scheinen an eine Überlegenheit unserer Werte zu glauben, der Werte der abendländischen Zivilisationen, gegenüber jenen der unterentwickelten Länder … Gewiß nicht an ihren moralischen Wert, und noch weniger an ihre überlegene Schönheit, aber, wie soll ich sagen, an ihren historischen Wert. Wie überrascht war ich, als ich nach einem Monat auf Madagaskar frühmorgens in Orly landete, so viele Straßen, so viele Objekte, so viel Geduld, Mühe und Wissen zu sehen und in den angehenden Lichtern so viele unterschiedliche Leben zu erahnen, die am Morgen erwachen. Dieses große fiebrige und überwältigende Arrangement der sogenannten entwikkelten Menschheit ist es, das letztlich eines Tages bewirken wird, daß alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen haben. Es hat bereits bewirkt, daß die Menschen jeweils in den Augen des Anderen existieren, statt daß sie sich nur, jeder für sich, wie Bäume in ihrem Land ausbreiten. Die Begegnung ist mit Blut, Angst und Haß einhergegangen, und dies ist es, was enden muß. Ich kann sie nicht ernsthaft als ein Übel betrachten. In jedem Fall, so viel ist abgemacht, kann keine Rede davon sein, den Archaismus neu zu erschaffen, wir sind alle in diese Angelegenheit verstrickt, und es ist nicht nichts, diese Partie begonnen zu haben.
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Die Ultras in Algier haben sich also erhoben, um eine Regierung an die Macht zu befördern, die jene Politik betreibt, die MendèsFrance vor zweieinhalb Jahren oder noch früher gefordert hatte. Die Offiziere in Algier haben die Disziplin aufgegeben, um eine Regierung zu erhalten, die sie wieder zu selbiger zurückführt. Guy Mollet, ein Verräter seines eigenen Sozialismus, dann der republikanischen Verteidigung und morgen, wie ich annehme, an General de Gaulle, erfreut sich der Wertschätzung de Gaulles; Robert Lacoste, der in Algier eine Rebellion ausgebrütet hat, vor der er floh, so wie manche Vögel die Eier ihrer Artgenossen ausbrüten, erfreut sich seiner ganzen Freundschaft. Die sozialistischen Parlamentarier, die einstimmig gegen de Gaulle gerichtet sind, warten darauf zu wiederholen, daß Herr Coty ihnen mit dem Bürgerkrieg gedroht habe, und des weiteren, daß General de Gaulle sich zu sehr engagiert habe, um sein Wort zurücknehmen zu können – sie wiederholen es mit gedämpfter Stimme und erhalten, ebenso mit gedämpfter Stimme, Beschwichtigungen zur Antwort, die Herrn Deixonne zutiefst erschüttern. Besteht die Politik immer nur aus diesen Dummheiten, diesem Laisser-faire, diesen nervlichen Krisen, diesen sogleich widerrufenen Schwüren – diesen Schwüren, die man leistet, um über den Rücktritt von ihnen zu verhandeln? Oder haben wir es hier nicht vielmehr mit einer Politik der Dekadenz zu tun, und sind wir nicht durch ein viel tiefer greifendes Übel zur Parodie und zum Irrealen verurteilt, einem Übel, das die Institutionen von morgen ebenso wie die von gestern verderben wird? Man darf nicht vergessen, daß das Auftreten General de Gaulles auch die Folge und gewissermaßen das Meisterstück des Molletismus ist. Ich bin nicht sicher, ob es auch sein Ende bedeutet. Von Tamanrasset bis Dünkirchen sieht man nur Franzosen, die mit offenen Augen träumen, die berauschende Situationen schaf-
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fen, um die wirklichen Probleme zu vergessen und die auf der Stelle, eher als einem Bürgerkrieg, einer Art politischem Nichts entgegengehen. Denn schließlich weiß man nicht, was die Fallschirmjäger in Paris, wenn das ›System‹ erst einmal zerstört wäre und die Linksintellektuellen im Gefängnis säßen, mit einem ausradierten und fehlenden Land anfangen würden, was sie Bourguiba oder dem König von Marokko, der FLN oder den Männern in Kairo sagen würden. Was die ›Linkstotalitaristen‹ angeht, wer würde da behaupten wollen, selbst im Falle eines siegreichen Widerstandes der Arbeiterklasse, daß die UdSSR einen offenen Konflikt riskieren würde, um hierzulande eine Volksdemokratie zu unterstützen? Dies sind gleichwohl die Schreckensszenarien, in die man das Leben der Franzosen einzuordnen sucht. Die Personen des Dramas sind zum Teil imaginär. Am Anfang steht die Bewegung von Algier, über die man in politischer Hinsicht nichts sagen kann: Sie ist nicht einmal der Entwurf einer Politik. Die Ultras haben sich erhoben, um das Algerienproblem zu vergessen, das sie allmählich entdecken, sie machen eine Szene, bevor sie abtreten, und wenn sie über die Dinge reden müssen, dann nur, um die Slogans aus der Zeit vor Guy Mollet aufzugreifen. Was jedoch wichtig ist, das ist die Armee. Nach allem, was man darüber weiß, durchlebt sie noch einmal Glanz und Elend des Militärs. Am Rand der Nation und stets in falscher Stellung ihr gegenüber – ausgebildet zur Opferbereitschaft akzeptiert sie diese, wie Vigny sagt, bis in die »sinistren Funktionen« hinein, die sie mit sich bringt, und da sie auf die Freiheit des Denkens und Handelns verzichtet hat, »weiß sie weder, was sie tut, noch, was sie ist«, sie »muß gehorchen und ihren Willen, wie eine schwere und lästige Sache, in andere Hände legen«. Ist sie Sklavin oder Königin des Staates? Aber Sklavin kann sie ja nicht sein, wenn es keinen Staat mehr gibt. Und was soll man mit der Macht anfangen, wenn man gar nichts will? »Die Armee ist blind und stumm […] Sie will nichts und handelt nach ihrer Zuständigkeit. Sie ist ein großes Ding, das man bewegt und das tötet; sie ist aber auch ein Ding, das leidet.« Als Sündenbock, als »zugleich grausamer
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Gelegentliche Äußerungen
und unterwürfiger Märtyrer«, der an die Verachtung des Todes, also auch des Lebens, und an die Verachtung der Menschen, also auch seiner selbst gewöhnt ist und durch all dies den Menschen fremd, die das Jahrhundert bevölkern, und manchmal ›kindisch‹ vor ihrem Leben stehend; andererseits aber frei im Geist und in der Lage, sich ihnen, wenn er sie entdeckt, zu widmen, teilt der Soldat nicht ihre Interessen, aber man darf von ihm nicht verlangen, eine Politik zu verfolgen. Nun ist es jedoch ein Soldat, der hier damit beauftragt ist, das Übel zu heilen. Er hat sicherlich mehr Anteil am Glanz als am Elend des Militärs und scheint wahrhaftig in ausreichendem Maße unbeschädigt aus den Verwüstungen des passiven Gehorsams hervorzugehen. Ist er auch der Krankheit der Verachtung entkommen? Wie menschenverachtend man doch sein muß, um den Franzosen Guy Mollet und Robert Lacoste als Modell vorzuhalten! General de Gaulle kann zwar die Gesetze ändern, aber er wird das Leben Frankreichs nicht verändern, weil dies nicht die Angelegenheit eines einzelnen Menschen ist, weil ein einzelner Mensch immer eine zu einfache Vorstellung vom System hat. Seiner Art entsprechend, weil er sich seiner gut zu bedienen weiß, ohne eine Lüge, aber auch ohne einen Irrtum! Diese unvermeidliche Rebellion, »was auch immer er hätte sagen können …«, schreibt er an Vincent Auriol, also eine vorhergesehene und keineswegs angeratene Rebellion, die er aber wie eine Tatsache hinnimmt – die er im Verlauf der Verhandlung nicht »gutheißen kann«, die er jedoch nutzt –, die er nicht mißbilligt, die er aber besser versteht als sie sich selbst und die er auf ihren wahren Sinn zurückführen wird – all dies ist sehr geschickt eingefädelt, es ist Arbeit an den Menschen, dieselbe Art einer abweisenden Wendigkeit, einer egalitären Verachtung, die General de Gaulle 1944 die Macht übertragen hat – und die nicht ausgereicht hat, um sie ihm zu bewahren, nicht nur weil das ›System‹ wieder begonnen hat, sondern weil es, während es zur Eroberung der Macht ausreicht, die Menschen zu manipulieren, zu ihrer Bewahrung eines Interesses an den Dingen bedarf, bestimmter Neigungen und eines Korpus an Ideen hinsichtlich der Probleme. Es hat in
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der Regierung nie eine Bewegung hinter de Gaulle gegeben, weil er keine Politik verfolgte, weil er schlichtete, ohne zu regieren. Man scheint in diesen Tagen zu vergessen, daß die französische Armee und die Nationalversammlung nicht die Welt sind. Wie soll man sich gegenüber Tunesien und Marokko verhalten? Wie soll man mit der FLN verhandeln, die zu keinem Zeitpunkt eine Integration, freie Wahlen oder einen Waffenstillstand akzeptiert und die immer nur von Unabhängigkeit gesprochen hat? Wenn man, um diese Unbeugsamen in die Knie zu zwingen, ihren Waffennachschub unterbinden will, wird man sich dann noch lange das Wohlwollen Bourguibas erhalten können? Bedeutet es, sich in eine Position der Stärke zu begeben, wenn man die Herstellung des Friedens innerhalb von sechs Monaten ankündigt? Den Inszenierungen in Algier haftet etwas Traumhaftes an, mit dieser Art, die Hindernisse durch das Denken abzuschaffen, die Begeisterung der Algerienfranzosen auf den Gegner zu übertragen, als sei das Universum beteiligt und gehorche den Rauschzuständen des Forums in Algier. General de Gaulle ist in seiner Einsamkeit gefangen wie die Menge in Algier in ihrer Wut gefangen ist und Guy Mollet in seiner Lobbyarbeit. Wo ist in diesem Moment die Idee geblieben, wo ist der politische Einfallsreichtum und, wenn es keine Lösung gibt, was bedeutet dieser Karneval? Ich wünsche mir sehnlichst, mich zu täuschen, da ich nicht an die Tugenden des Nichts glaube, aber vielleicht wird man in sechs Monaten, in sechs Wochen einem noch schlimmeren Ende ins Auge sehen. Genau unter diesen Umständen fordert Sirius seine Leser auf, ja oder nein zu de Gaulle zu sagen, ihn mit ihrem Beitrag zu unterstützen, wenn sie in ihrem tiefsten Inneren seinen Erfolg wünschen, den »vergeblichen Diskussionen« ein Ende zu bereiten und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die totalitären Kräfte der Rechten und der Linken zu richten. So werden wir innerhalb von fünf Tagen vom »geringsten Übel« zur heiligen Union geführt. Es gibt keinen Platz mehr für eine Opposition, es herrscht Einigkeit hinsichtlich der mutmaßlichen Ziele. Man muß dafür oder dagegen sein. Aber für oder gegen was? Die »totalitären
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Kräfte der Rechten und der Linken«, ruft dies bei Sirius nichts in Erinnerung? Es sind dieselben Worte, die Herr Pflimlin verwendet hat. Wir haben es hier mit der Sprache des ›Systems‹ zu tun. Wenn man die kommunistische Partei und die CGT so brav erlebt hat, wie sollte man dann nicht spüren, daß es auch die Sprache der politischen Erpressung und der Mythen ist? Diesen Beitrag, den Sirius von uns fordert, hat General de Gaulle gar nicht von den Franzosen erbeten. Seit er in sein Amt eingesetzt wurde, hat er sich überhaupt nicht an sie gewandt. So beschäftigt, wie er damit ist, das System unschädlich zu machen, schont er seine Kräfte sicherlich für Algier. Dies beruhigt keineswegs. Zwischen ihm und Algier gilt es noch eine Rechnung zu begleichen. Ihn allein betrifft dies, nicht uns. Er ist allein, wie er es gewollt hat. Sein Scheitern wäre schlimm, aber wir können ihm weder zu einem Erfolg verhelfen noch ›Alles oder nichts‹ bei seinem Unternehmen spielen, als gäbe es nach ihm und nach uns nichts. Unsere Rolle besteht darin, zu verstehen, was gerade aufgehört hat und was beginnt. Ich für meinen Teil möchte den Lesern zwei untrennbare Überlegungen unterbreiten. Die erste lautet, daß in Übersee keine liberale Politik möglich sein wird, solange die Regierungen, die in der Lage wären, sie auszuüben, auf die Unterstützung der Franzosen verzichten müssen, die einhundertvierzig kommunistische Abgeordnete ins Parlament entsenden. Diesmal wird recht deutlich, daß der berühmte Abzug der kommunistischen Stimmen Frankreich um eine bestimmte Zahl seiner Staatsbürger beschneidet, die sind, was sie sind, aber sicher keine Ultras, er deckt im voraus die Operationen der Rechten, kündigt den Entschluß zur Kapitulation an und ist im Bürgerkrieg der erste Akt der Erpressung. Mendès-France hat die kommunistischen Stimmen in dem Augenblick in Abzug gebracht, in dem er mit Rußland und China in Verhandlungen eintrat; er hatte Recht damit, es zu jenem Zeitpunkt zu tun, falls verhandeln nicht gleichzusetzen ist mit kapitulieren. Der Erfinder des ›Systems‹ bleibt General de Gaulle, mit dem Thema der ›Separatisten‹. Die Erpressungen seitens einer Rechten in der Minderheit und ihre Allmacht, die Unterstellungen von Absichten, der generalisierte
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Verdacht, kurzum: Die paranoische Politik, die Lähmung der liberalen Regierungen, die Degradierung der Mächtigen werden so lange weitergehen, wie die Masse der kommunistischen Wähler in Frankreich weiterhin wie ein Fremdkörper behandelt wird. Nun wird sie es aber so lange bleiben, wie die kommunistische Partei sich nicht als das zeigt, was sie ist: eine Arbeiterpartei, deren ganzes Gewicht in dem liegt, was sie für den Arbeitersinn hält – und darin hat sie Recht –, die mit dem revolutionären Marxismus aber nichts gemeinsam hat, weder theoretisch noch praktisch, und die darüber hinaus in keiner Weise damit beauftragt ist, in Frankreich eine Volksdemokratie zu errichten. Auch in dieser Hinsicht sind die jüngsten Ereignisse klar: Man wird kaum annehmen, daß ein revolutionärer Staat General de Gaulle mit der diskreten Gunst empfangen hätte, die ihm die sowjetische Regierung bezeugt hat. Da der Kommunismus tatsächlich an Reformen und Kompromisse geknüpft ist, dient die Ehrensache des verbalen Bolschewismus nur dazu, die Propaganda von rechts zu unterstützen. Es herrscht in der kommunistischen Partei eine Tendenz zum Reformismus und zum ›Programm‹. Sie setzt sich allmählich durch, und sie wird eines Tages den Sieg davontragen. Solange die kommunistische Partei ihre Wandlung nicht durchlaufen hat, wird es in Frankreich keine Demokratie geben. Unsere Gegenwart ist übervoll an Phantomen. Dies ist kein Grund, um ihr noch weitere hinzuzufügen. Man darf nicht daran denken, die Republik wiederherzustellen, insbesondere nicht so, wie sie seit zwei Jahren beschaffen ist. Es geht darum, sie neu zu errichten, befreit von ihren Ritualen und ihren Obsessionen, in aller Klarheit. (5. Juni 1958)
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(Interview) Haben die Ereignisse in Algier Ihre Vorstellung von den Problemen in Übersee verändert? Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nie für eine revolutionäre oder eine Politik ›von unten‹ war. Heute bin ich es noch viel weniger: Sie würde Gefahr laufen, den Faschismus, der in Algerien in Erscheinung getreten ist, auf die Hauptstadt auszudehnen. Denn es handelt sich um einen Faschismus, wie zunehmend deutlich wird, je mehr Informationen zu uns durchdringen. Nicht zufällig hat sich die 5. Abteilung in Algier mehrere Monate vor dem Aufstand einen Plan von der Funktionsweise des Radios geben lassen. Nach der Einsetzung von Herrn Pflimlin hörte man, wie die Offiziere den paramilitärischen Gruppierungen zusetzten, indem sie vortäuschten, sie im Stich zu lassen. Es geht hier nicht mehr um die klassischen Unruhen der Armee: Es geht vielmehr um eine Theorie des Terrors, nicht nur als Mittel des Kampfes in Algier, sondern auch als Mittel der Regierung in der Hauptstadt und als ›Philosophie‹ der Geschichte. Übertreibt man nicht, wenn man den Offizieren eine ganze Politik unterstellt? Wird ihre Haltung nicht vor allem von den Problemen des Krieges bestimmt? Sie werden in der Presse bald den Bericht über einen Vortrag lesen, der am 7. Juni in Algier von Oberst Trinquier gehalten wurde, und Sie werden darin, mit einigen Vorbehalten oder Vorsichtsmaßnahmen, die Versuchung finden, die in Algier eingesetzten Mittel auf die Hauptstadt auszudehnen, um die Bevölkerung ›kommandierbar‹ zu machen. Diese Politik wird in einem Buch, das ich neulich erhalten habe, deutlich dargelegt: La troisième guerre mondiale est commencée von Pierre Debray. Der Krieg wird kein sichtbarer Krieg mehr sein, er ist es bereits
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nicht mehr. Er wird ein heimlicher Krieg sein, oder vielmehr ist es schon. Seit 1917 setzt sich allmählich in aller Welt der Wunsch nach Subversion durch, dessen Theorie uns der Bolschewismus geliefert hat und der sich Punkt für Punkt nach dem bolschewikischen Kalender entwickelt: »Wir haben Tunesien und Marokko aufgegeben, als die subversive Aktion erst bei der zweiten der von Trotzki definierten Phasen angelangt war. In Algerien ist schon jetzt die vierte Phase erreicht. Wer kann mit aller Vernunft behaupten, die Hauptstadt selbst befinde sich erst in der ersten Phase?« Wir sind im Bereich des Geheimen. Die ganze Geschichte des Kommunismus seit Trotzki, die Aktionen und Reaktionen, die Höhen und Tiefen, die Säuberungen und die Wendepunkte, alles Feststellbare, alle Ereignisse werden unserem Blick entzogen: Es gibt nur eine Substanz der Geschichte, die Fortschritte der Subversion. Dieser abstrakte Feind ist ständig um uns und rechtfertigt einen permanenten Verdacht, unabhängig davon, wohlgemerkt, ob es sich nun um die UdSSR oder die Vereinigten Staaten handelt. Es könnten auch Deutschland, Italien oder drei Viertel Frankreichs sein. Der Feind lauert selbst dann in uns, wenn wir im engagierten Kampf gegen ihn von manchen Dingen Abstand nehmen. Man darf nicht, sagt Pierre Debray, vor der Einbeziehung der Armee und der Polizei zurückschrecken. Der Soldat, der sich zum Lehrer und Verwalter gewandelt hat, muß wieder zum Kämpfer oder sogar zum Henker werden. »Das Waffenhandwerk hat sich verändert, das ist alles. Wir führen einen Krieg, der uns aufgezwungen wurde, einen Krieg ohne Regeln, einen Krieg ohne ›Ehre‹, einen plebejischen Krieg.« Wenn der Soldat etwas an dieser Rolle ablehnt, »so wird er von der Partei des Verrates annektiert«. »Wer der Wahl aus dem Weg geht, der verdammt sich dazu, sich wenn nicht subjektiv, so doch zumindest objektiv wie ein Partisan des Verzichts zu verhalten.« Was die Antikommunisten aus ihrer Erfahrung und ihren Lektüren behalten, ist also gerade der Apparat des dekadenten Kommunismus, die Guillotine des ›objektiv Gesehenen‹, der Formalismus, der Manichäismus, das agglutinierte oder amalgamierte Denken, das sich bei ihnen noch verschlimmert, da ihre Bewegung sich keinerlei Perspek-
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tive schafft und sich im Widerstand gegen ein unsichtbares Gift zusammenfassen läßt. Wenn diese Offiziere sich, trotz seiner grotesken Untertöne, das Wort Subversion angeeignet haben, so nur deshalb, weil ›Revolution‹ an ein positives Unternehmen erinnern könnte, während es doch darum geht, den Feind als die Kraft der Negation darzustellen. Ganz offensichtlich haben sie Augen und Ohren, sie wissen, daß es eine sichtbare Geschichte gibt, und in den Momenten der Entspannung bemerkt Pierre Debray, die Kommunisten seien Politiker, sie ordneten den Krieg der Politik unter und könnten folglich Unterbrechungen, Etappen und Aufschübe in der Destruktion zulassen. Es ist die FLN, die eine unmittelbare Negation bedeutet, einen »absoluten Krieg« – und sie kann nichts anderes sein, da es keine algerische Nation gibt, »kein Algerien«. War Ramdane nicht »ein großer Leser von Clausewitz«? Der absolute Krieg und die physische Gewalt der FLN übersetzen nur deutlicher, was heute das einzig Wesentliche der Geschichte ist, die ›Metaphysik‹ der Phänomene: die Subversion. Und der Kommunismus ist nur eine raffiniertere Technik und eine Verallgemeinerung der Subversion. Diesem Gift, das in allem steckt, kann man sich nur durch den »absoluten Gegenkrieg« widersetzen. Die Schlußfolgerungen sind klar: Man muß in der Hauptstadt eine »revolutionäre Legalität« schaffen, den »hauptstädtischen Apparat der kommunistischen Subversion« zerstören und die Zensur sowie die Todesstrafe für Journalisten einführen. In Algerien wäre die einheitliche Sekundarstufe eine List, um die Unabhängigkeit herbeizuführen. Es wäre dennoch absurd, Krieg zu führen, um Wahlen zu ermöglichen, aus denen die Unabhängigkeit hervorgehen könnte. Das einzige Ziel ist es, »die algerischen Partisanen (die Fellagha) zu vernichten«. »Unsere Aufgabe Marokkos und Tunesiens belastet die Situation mit einer schweren Hypothek«, die Operation von Sachiet »hatte nur den Fehler, daß sie zu spät und vor allem zu zaghaft war«. Man kann über den letzten Sinn dieser Haltung diskutieren. Ich werde den Gedanken nicht los, daß jene Soldaten, die sich von der tunesischen Grenze abwenden, um sich in Algier dem
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Aufstand anzuschließen, und die ihre feindliche Wut nun gegen ihren Landsmann richten, in Wirklichkeit kaum noch die Hoffnung haben, den Feind zu besiegen. Wie Robert Lacoste sagte: Es ist nicht leicht, an zwei Fronten zu kämpfen. Pierre Debray schreibt: »Entweder versetzen wir die Nation in den Kriegszustand, oder wir hören lieber sofort auf, unsere Soldaten töten zu lassen […] Was können wir dafür? Wir finden keinen Gefallen an unnötigen Opfern.« Ich kann ebenfalls nichts dafür und bin im übrigen nicht befugt, wen auch immer zum Opfer zu bringen, sei es nun hilfreich oder unnötig. Ich werde daher nur folgendes sagen: Die Soldaten, die ich in meinem nächsten Umfeld gekannt habe, wären errötet, wenn sie in diesem Tonfall hätten sprechen sollen. Da Pierre Debray sich ja so häufig auf den Bolschewismus bezieht, müßte er sich daran erinnern können, daß es oft die besiegten Armeen sind, welche die Revolutionen anführen. Lassen wir jedoch die Psychologie beiseite. Wichtig ist vielmehr, daß wir es hier mit einem aggressiven Nihilismus zu tun haben, der jede Politik ausschließt. Wenn der Autor versucht, eine bestimmte Politik zu entwerfen – mit einem bedauernden Seufzen, denn letztlich wäre die »vernünftigste Lösung« vielleicht, idealerweise, den Afrikanern gar nichts vorzuschlagen –, dann geschieht dies, um von einem »intellektuellen Wagnis«, von »spektakulären Wandlungen« und von einer »technischen Revolution des 20. Jahrhunderts« zu sprechen, deren Natur er ansonsten nicht näher erläutert und von der man nur weiß, daß sie das Gegenteil der Revolution von 1917 sein wird. Die Wahrheit ist, daß die Voraussetzungen für eine Politik durch ein Denken abgeschafft wurden, das nicht unbedingt totalitär ist, das aber ein Monismus des Terrors ist – die Angst, das Scheitern und die Scham, die man in der Verzweiflung auf sich nimmt und in politisches Handeln kleidet. All dies ist ein Faschismus im strengsten Sinne des Wortes – eine Wiederaufnahme und äußerliche Imitation der revolutionären Vorgehensweise im Kampf, eine Nachahmung des revolutionären Pathos, eine Unterschätzung des Sichtbaren zugunsten des Verborgenen, eine aus der Distanz heraus vorgenommene Iden-
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tifizierung der Gegner unter ihnen und des Antibolschewismus mit den eigenen Gegnern. Welche Beziehungen sehen Sie zwischen diesen Tendenzen und jenen der Pariser Regierung? Man braucht nicht lange darzulegen, daß das Unternehmen de Gaulles in keiner Beziehung steht zu dieser Geisteshaltung. Die einheitliche Sekundarstufe, die für die Faschisten ein Verrat ist, war in Algerien sein erstes Wort; die Evakuierung Tunesiens, die ein ›Aufgeben‹ war, seine erste Handlung. General de Gaulle hat mit den faschistischen Offizieren nur die Polemik gegen das ›System‹ gemeinsam; dies hat bei ihm in den vergangenen Jahren dazu geführt, eine Parteinahme abzulehnen, als die Republikaner versuchten, die Republik dem politischen Nichts zu entreißen – in jüngster Zeit führte es zu seiner Ablehnung, die Bewegung von Algier zu mißbilligen: Wenn das ›System‹ das Übel schlechthin ist, dann ist alles, was darauf ausgerichtet ist, es zu zerstören, vergleichsweise gerechtfertigt. Was General de Gaulle jedoch an die Stelle der IV. Republik setzen will, hat nichts zu tun mit dem aggressiven Nihilismus der Offiziere. Er ist ein Mensch und ein Soldat alter Schule, ich meine, mit einem gefestigten Überbau, ein homo historicus und kein homo psychologicus der neuen Generation. Die verborgenen Realitäten, an die er glaubt, sind nicht etwa die Phantasmen der Subversion, sondern der Archetyp Frankreichs, den er in sich bewahrt, und das Volk, das am anderen Ende des historischen Feldes und vor dem Hintergrund seines Alltagslebens ja sagen wird zu Frankreich. Die Metaphysik des Schlichters und des Volkes, der eine diesseits, das andere jenseits der Parteien, das ist etwas ganz anderes als der faschistische Aktivismus. Glauben Sie, daß die Pariser Regierung in der Lage sein wird, jenen Teil der Armee an ihre Politik zu binden, von dem Sie gerade gesprochen haben? Das kann ich ebensowenig abschätzen wie alle anderen. Ich bezweifle, daß der Regierung dies durch Überzeugung gelingen wird. Der reine Zwang, das wäre hingegen die Ablehnung der Verstärkung und des Wesentlichen. Die Frage ist vielleicht, wie
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man einen Teil der französischen Bevölkerung und der Armee vom Faschismus abtrennen kann. Und hier fürchte ich, daß die innenpolitischen Überzeugungen de Gaulles (die sehr viel weniger persönlich und originell sind als er selbst) ihn blenden und ihn daran hindern, in der öffentlichen Meinung die Unterstützung zu suchen, die er bräuchte. Sieht er und sagt er denn letztlich genau, warum die IV. Republik nicht zu einer Reformpolitik in der Lage gewesen sein soll, wie er sie angeht? Er glaubt, der französischen Politik fehle es an Kontinuität. Ist es die Kontinuität, die der IV. Republik fehlte? Haben die einander folgenden Regierungen nicht, abgesehen von einer Ausnahme, dieselbe Politik verfolgt? Fehlte es ihnen nicht vielmehr, ganz im Gegenteil, kontinuierlich an Initiative, an Bewegung, an Neuheit, ohne die Suezaffäre hiervon auszunehmen, die eher eine Verkrampfung als eine Aktion darstellt, da man nicht entschlossen war, sie bis zum Ende durchzuführen? Hofft man, diese Kontinuität der Untätigkeit dadurch abzuschaffen, daß man den Machtbereich des Präsidenten der Republik erweitert, was in einer Hinsicht auch bedeutet, die Macht des Ratspräsidenten dementsprechend einzuschränken? Wenn der Präsident der Republik nicht mehr de Gaulle sein wird, dann wird er wieder zu dem, was er immer gewesen ist: ein Mann, der einer langen Karriere der Ehrungen gefolgt ist und der eher zu den gewohnten Lösungen neigt als zu jenen, die Phantasie, neues Wissen und Initiative erfordern. Und selbst wenn es de Gaulle sein wird, so bleibt die Frage, ob das französische Problem darin besteht, einen Schlichter zu finden, der jedem ein wenig von dem zuspricht, was er verlangt, oder ob es nicht eher darin besteht, eine Macht zu haben, die regiert, die also das Land zur Aktion bewegt und es dabei umwandelt, statt es so zu lassen, wie es ist, und hinter seinem Rücken eine große Politik zu entwerfen, von der man es nicht zu überzeugen sucht, zu der man es nur einlädt, ja zu sagen. Ich fürchte, daß es der französischen Politik zwischen der heimlichen Vermittlung des Schlichters und der versteckten Antwort des Referendums nicht mehr oder weniger als zuvor an Luft fehlt, und daß Frankreich unter dieser Regierung nicht weiterhin
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das sein wird, was es ist: ein im Bewußtsein fortschrittliches und in der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Praxis rückständiges Land. De Gaulle stellt auch das Regime der Parteien in Frage. Da er im Gegenzug aber nicht die Einheitspartei vorschlägt, möchte er folglich ›sammeln‹, eine Verbindung außerhalb jeder Partei herstellen, was gleichzeitig als selbstverständlich voraussetzt, daß eine Opposition zwischen den Parteien auf nichts in den Dingen Liegendes antwortet, daß sie von sich aus eine Ursache der Lähmung ist, und daß es genügt, sie abzuschaffen, damit alles gerettet sei. Nun ist aber die Opposition einer Politik von rechts und einer Politik von links so wenig eine Illusion, daß de Gaulle bis heute genau die Politik der sogenannten linksgerichteten Regierungen wieder aufgegriffen hat: die Unabhängigkeit Tunesiens, Wahlen anläßlich der einheitlichen Sekundarstufe, Reformen und Ausrüstung in Algerien – eine Politik, die von der Rechten nur in dem Maße akzeptiert wurde, in dem sie verbal blieb. Was sich de Gaulle nicht eingesteht oder was er den Franzosen nicht sagt, ist, daß alle Lösungen, wenn es überhaupt Lösungen gibt, liberal sind. Im Grunde weiß dies beinahe jeder, in Algier wie in Paris. Ich sehe nicht, daß man heute in Algier so sehr davon spricht, die Fellagha zu vernichten: Und dies nicht nur deshalb, weil man allgemein glaubt, sie hätten sich angeschlossen, sondern weil die Daseinsberechtigung der Regierung de Gaulle darin besteht, den Krieg durch Zugeständnisse zu beenden, von denen die Unabhängigkeit allerdings ausgeschlossen bleibt. Die Bewegung von Algier (mit Ausnahme vielleicht der faschistischen Elemente) hat de Gaulle nicht an die Macht befördert, um ›Krieg zu führen‹ im Sinne Clemenceaus, sie hat ihn an die Macht gebracht, um Frieden zu schließen, ohne das Scheitern des Krieges einzugestehen. Die Politik, die er aufgreift, ist jene, über die sich die Linke und die Mitte-links-Parteien verständigt hatten, und mit der sich die kommunistische Partei selbst begnügt hat, als sie der Regierung Mollet per Wahl die Vollmacht zugestand. Dies hieße jedoch, wie man nicht erst sagen muß, der Bewegung in Algier ihren Trost zu rauben, einem General nachzugeben, es
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hieße, die Operation zu kompromittieren. Die großen Dramen der französischen Politik rühren vielleicht daher, daß man die Rechte eine liberale Politik schlucken läßt und dies mit einem antiparlamentarischen Gongschlag begleitet. Entweder bleiben die freien Wahlen, die einheitliche Sekundarstufe und die soziale Gleichheit reine Papierkonstrukte, wie es bis heute der Fall war (die soziale Gleichheit wird es in jeder Hypothese bleiben, wie es die Theorie der Unterentwicklung eindeutig zeigt) – oder aber es wird de Gaulle gelingen, aus diesen Wörtern einen neuen Status Algeriens hervorgehen zu lassen, aber dies bleibt eine vage Möglichkeit. Für den Augenblick sind wir immer noch bei den Wörtern, bei denselben Wörtern, welche die Linke lanciert hatte und welche die Rechte nur unter der Voraussetzung akzeptierte, daß sie Worte bleiben. Es ist also wohl vergebens, das Regime der Parteien in dem Moment in Frage zu stellen, in dem man die Politik einer dieser Parteien aufgreift. Jedenfalls hat das Regime der Parteien diese Politik nicht ausführen können, es konnte nur über sie reden: Dies ist das einzige Argument, das zählt, aber es zählt. Man muß noch sagen warum, und dies ist kein großes Geheimnis. Das Regime der Parteien konnte keine liberale Politik betreiben, weil es nach dem Ausschluß der kommunistischen Stimmen zum Preis einer täglichen Kontrolle, welche die Regierungsfunktion zunichte machte, die Stimmen der Rechten kaufen mußte. Die Partei der Unabhängigen kündigte an, daß sie ihre Minister abziehen würde, wenn die tunesischen Flugplätze evakuiert würden. Wie jeder bemerkt hat, akzeptiert sie heute, was sie gestern abgelehnt hat. Die parlamentarische Rechte kämpfte also nicht von wirklichen Standpunkten aus, sie kämpfte gegen das Aufgeben, das ohne jedes Gesetz, wie ein Gespenst, auftauchte und wieder verschwand. Der Regierung blieb nur der verborgene Weg, aber sie verstärkte das Mißtrauen und verkleinerte noch den Handlungsspielraum. Edgar Faure, der seinem Gouverneur in Marokko eine Politik des Widerstands diktierte, wohl wissend, daß sie nicht befolgt werden konnte (zumindest hat er dies später behauptet), und der selbst die Demonstration seiner Machtlosigkeit organisierte, während
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er darauf wartete, sie zynisch einzufordern – diese Episode war von enormer Bedeutung gewesen; es gab allen zu denken, den Franzosen ebenso wie den Muslimen, daß die offiziellen Standpunkte der Regierung jederzeit umgekehrt werden konnten, sie hat die einen in der Neurose des Aufgebens bestätigt, die anderen in der Kompromißlosigkeit. Nach der Unterredung mit dem Bey wurde die französische Kolonie in Tunis empfangen; man weiß, wie Guy Mollet nach der Affäre in Marokko in Algier empfangen wurde. Die Vernichtung der Regierungsfunktion resultiert aus dem, was die Regierung als zugleich Strenges und Schwaches hartnäckig im Krieg verfolgen konnte, auf die Gefahr hin, am Ende zu kapitulieren, keinesfalls jedoch um eine ernsthafte politische oder diplomatische Aktion ins Leben zu rufen. Nicht die Vielfalt der Parteien und die ›Spaltung der Franzosen‹ haben die Regierungen daran gehindert, eine liberale Politik zu praktizieren, sondern vielmehr die Existenz einer ideenlosen Rechten, die durch die List des Stimmenabzugs der Kommunisten innerhalb der französischen Politik zum Schlichter geworden ist. Indem er das Regime der Parteien in Frage stellt, überträgt de Gaulle ins Passiv der Demokratie, was man ins Passiv der Rechten setzen muß. Nun geht es aber hier nicht um eine vergebliche Suche nach längst überholten Verantwortlichkeiten. Da das neue Regime, an dem man arbeitet, auf diese Einschätzung gegründet sein wird, erwarte ich für meinen Teil nichts Gutes von ihm. Es ist eine verfälschte Demokratie, die der legale Staatsstreich verurteilt hat, es ist nicht die Demokratie an sich, und Abhilfe könnte geschaffen werden, indem man beim Gegenstück zu der Seite zu suchen beginnt, auf der man gegenwärtig sucht. Ist denn aber die wahre oder korrigierte Demokratie nicht die Volksfront? Die Demokratie ist durch die politische Armut der Rechten in Verbindung mit einer schwankenden kommunistischen Politik verfälscht worden: Es ist dieses Paar, das die französische Politik einem Hang zum Irrealen hat nachgeben lassen und das sie zur Lähmung verurteilt hat. Wenn es sich zwischen der Rech-
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ten und den Kommunisten um einen Klassenkampf handeln würde, dann wäre es reichlich naiv, ihn anprangern zu wollen. Aber dies ist nicht der Fall. Vergessen wir nicht, daß Herr Pinay für etwas in der Unabhängigkeit Marokkos eintritt und daß die Kommunisten 1946 die Repression des Constantinois geduldet und der Regierung Guy Mollet die Vollmacht übertragen haben. Zwischen der Rechten und der Kommunistischen Partei gibt es keine wirkliche Opposition, denn sie kämpfen nicht um eine Politik, von der beide Seiten gleich mehrere besitzen. Beide Seiten sind keine Parteien mehr, sie sind ›Pressure groups‹. In ihrem Zusammenschluß übten sie Druck auf das Regime aus und stürzten gemeinsam die Ministerien, aber weder die einen noch die anderen übernahmen die Verantwortung für das politische Leben in Frankreich. Sie, die Unabhängigen, haben sich aus der Verantwortlichkeit gezogen, weil sie keinerlei Idee haben: Nie sah man sie einen Blick auf die Zukunft werfen, auch nicht auf die Gegenwart, ihre Daseinsberechtigung besteht allein in der Opposition – gegenüber dem Kommunismus, sagen sie, aber wenn es nicht dieser Vorwand wäre, dann würden sie einen anderen suchen. Was die Kommunisten angeht, so kann man beinahe alles von ihnen verlangen, außer sich an einer Aktion zu beteiligen; selbst in der Regierung, selbst angesichts der gewaltigen Kompromisse blieben sie dem, was sie taten, gleichgültig gegenüber, denn nicht dort saß ihr Herz, nicht dafür erwarteten sie, verurteilt zu werden und nicht dafür setzten sie sich ernsthaft ein. Sie greifen zwar den Begriff der ›Volksfront‹ auf, aber für sie ist die Volksfront keine Formel der Aktion. Ich sehe noch, zwischen der Nation und der Republik, Herrn Ramadier vor mir, wie er unter der Hitze leidend die Reihen der Demonstranten verläßt und mit rotem Gesicht, mit dem verlorenen Blick eines Mannes am Ende seiner Kräfte, vermutlich auf eine Apotheke zuläuft. Eine Gruppe von Kämpfern umgibt ihn wie einen Fetisch, mit erhobener Faust und unter ›Volksfront‹-Rufen. Dieser sichtbar müde Mann, der in der Nationalversammlung einen Augenblick lang, umgeben von jungen, fröhlichen und unerbittlichen Burschen, wieder zum
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Helden der alten Tage zurückgefunden hatte, dies ist ein Bild, das man nicht vergißt. Es wird keine korrekte oder wahre Demokratie geben, solange die Kommunisten es ablehnen, positiv in die Regierung einzutreten, solange sie ihre Praxis des Kompromisses hinter den lautstarken und ablenkenden Thesen von einer ›absoluten Verarmung der Massen‹ verbergen. Dennoch wissen sie sehr wohl, daß es erst dann eine Volksdemokratie in Frankreich geben wird, wenn die Vereinigten Staaten durch einen Atomkrieg besiegt wurden. Was erwarten sie also? Niemand weiß es, nicht einmal sie selbst, vermute ich. Wie stehen die Chancen für eine wahre Demokratie? Wenn dies die Gründe sind, die sie verfälscht haben, dann gibt es kaum eine Chance, daß wieder eine wahre Demokratie entsteht. Es ist nicht erkennbar, was die Unabhängigen aufklären könnte. Es ist nicht erkennbar, wie der verbrauchte Führungsstab, dem es gelungen war, die Entstalinisierung wie ein Schwamm ›aufzusaugen‹, in dem Moment zu einer politischen Initiative in der Lage sein sollte, in dem ihn die Hinrichtung von Imre Nagy und seiner Gefährten gerade in seiner tiefen Einsicht bestätigt hat. Es ist nicht erkennbar, wie er vor dem Land das Problem der Voraussetzungen für Demokratie und Freiheit stellen könnte. Wäre die Demokratie von 1956-58 lebensfähig? Das ist die Frage, die zählt, und es ist die Frage, welche die Kommunisten ignorieren wollen. Sie werden die Franzosen also einladen, für die Wiedererrichtung jener Demokratie zu kämpfen, die sich selbst zerstört hat. Wenn aber die neue Verfassung im Referendum bestätigt wird? In den Versammlungen, die sie schaffen wird, werden sich die Regierungen, ob sie nun präsidial sind oder nicht, ob mit oder ohne ein Recht zur Auflösung ausgestattet, von dem man prinzipiell nicht häufig Gebrauch machen darf, vor demselben Dilemma wiederfinden: Entweder man befürwortet die Volksfront, das heißt eine Politik, die keine ist: die Evakuierung der Länder in Übersee, eine rein der Geltendmachung von Forderungen dienende Sozialpolitik, keinerlei Steuerung des Kapitalismus, nichts
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Organisches, keinerlei Aktion – oder aber man befürwortet den ›Abzug der kommunistischen Stimmen‹, das heißt die Zerstörung der Regierungsfunktion durch die Rechte. Was soll man also tun? Unter dem Zwang der Verhältnisse können die wahren Fragen nur außerhalb der Rechten und außerhalb der kommunistischen Partei gestellt werden, in der Hoffnung, daß diese sich, und das Land mit ihnen, am Ende dafür interessieren werden. Wenn die bestehenden Kräfte verworren sind, muß man zunächst einmal angemessene Worte finden, ohne auf das unmittelbare Ereignis abzuzielen. Die IV. Republik wird nicht wieder aufleben: Sie verdient kein Bedauern, da sie nur der Schatten einer Republik gewesen ist. Die französische Krise rührt daher, daß eine mögliche Lösung der Probleme nur liberal sein kann und daß es in Frankreich keine Theorie und keine Praxis der liberalen Politik mehr gibt. Wir leben auf den Trümmern des Denkens des XVIII. Jahrhunderts, und dieses Denken gilt es von Grund auf zu erneuern. Jemand hat mich darauf hingewiesen, daß Montesquieu die Freiheit in der Teilung und dem Gleichgewicht der Gewalten sieht und daß die Gewalten, bevor sie geteilt oder in ein Gleichgewicht gebracht werden können, zunächst einmal existieren müssen. Heute liegt das Problem darin, sie neu zu schaffen. Vor fünfzig Jahren konnte Alain die Republik noch über die Kontrolle und die ständige Polemik des Bürgers gegenüber den Gewalten definieren. Was aber bedeutet die Kontrolle, wenn es keine Aktion mehr zu kontrollieren gibt? Die einzige Aufgabe bestand im Jahr 1900 wie bereits zwei Jahrhunderte zuvor darin, die Kritik zu organisieren. Heute muß man, wenn man die Kritik fortsetzt, die Macht neu organisieren. Man mag manche Dummheit gegen die ›persönliche Macht‹ oder die ›starke Macht‹ äußern: Es sind die echte Kraft und die Persönlichkeit, die der Macht der IV. Republik gefehlt haben. Auch unser Begriff der Meinung muß noch einmal überprüft werden: Er gründet auf einer Philosophie des Urteils und der Entscheidung, die ein wenig zu kurz greift; die Wirklichkeit eines
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Regimes ist, nicht mehr als die Wirklichkeit eines Menschen, eine instantane Serie von Meinungen. Es gibt keine Freiheit in der Gefügigkeit gegenüber jedem Zittern der Meinung. Die Freiheit bedarf des Wesentlichen, wie Hegel sagte, sie bedarf eines Staates, der sie trägt und dem sie Leben verleiht. Eine Analyse des Parlamentes müßte ein Unternehmen aus diesem Blickwinkel sein: Wir wissen nahezu nichts über sein wirkliches Funktionieren. Ich weiß nur, da ich einigen Sitzungen der Nationalversammlung beigewohnt habe, daß es dort weder an Intelligenz noch an Wissen fehlte, daß man aber in den Sitzungen dasselbe Unbehagen verspürte wie in einem ›Kreis‹, in dem man nicht eingeführt ist. In manchen Augenblicken entbehrte das Ganze nicht der Größe, bei anderen Gelegenheiten (ich erinnere mich an einige Lacher unter den Eingeweihten, an einige versteckte Anspielungen) war es eher eine schlechte Gesellschaft oder der Salon von Mme Verdurin. Der Höhepunkt des Regimes war sicherlich erreicht, als die Kommunisten für die Regierung Pflimlin stimmten, um sie zu verpflichten, sie mit einzubeziehen, und als die Unabhängigen, aus Angst vor einer Volksfront, ebenfalls für diese Regierung stimmten, während Herr Pflimlin sich ganz leise darauf vorbereitete, zu gehen. Darin liegt vielleicht etwas erhaben Parlamentarisches, und ich bezweifle, daß die Nation es ausgekostet hat. Wenn die Regierung Mendès-France das politische Leben Frankreichs einen Augenblick lang, so wie es keine andere Regierung seit 1944 getan hat, aus der Angst und dem Überdruß befreien konnte, dann deshalb, weil sie die Regierung als eine Initiative auffaßte, die zusammenschließt, und die Aktion als eine Bewegung, die nicht in jedem Augenblick mit Fragen bedrängt werden kann, sondern die sich Begegnungen mit der Nation verschafft, ihre eigene Pädagogik organisiert und alles in dem Maße offenlegt, wie sie, die Bewegung, sich entwickelt. Genau das zeichnet eine lebendige Macht aus, nicht die Erscheinung auf dem Sinai. Mendès-France aber handelte instinktiv auf diese Weise, ich möchte behaupten: weil er aus gutem Hause stammt; er hat nie versucht, seine Praxis in eine Theorie zu überführen.
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Die Frage ist, wie man Institutionen schaffen kann, die diese Praxis der Freiheit in den Umgangsformen etablieren. Diese Verständigung zwischen dem Staatsmann und der Nation, die bewirkt, daß die Nation nicht mehr einem Schicksal unterliegt und daß sie sich in dem wiederfindet, was in ihrem Namen unternommen wird, dies ist, wie ich befürchte, gerade das, was de Gaulle nie, außer in den ›großen Ereignissen‹ von 1940 und 1944, erfahren und auch nicht gespürt hat. Als Beweis möchte ich nur die globale Zustimmung anführen, die er allen Männern des Systems gegeben hat, Pleven ebenso und noch deutlicher gegenüber Mendès-France. Der Geist, der stets verneint, sagte er neulich. Wie man sich doch täuschen kann! Was uns auf der Hut sein läßt, ist gerade sein Skeptizismus. Es bedürfte eines großen Skeptizismus, um mir den Respekt zu nehmen, den ich de Gaulle entgegenbringe. Wir schulden ihm jedoch etwas anderes, und mehr als nur Ergebenheit: Wir schulden ihm unsere Stellungnahme. Er ist zu jung, um unser Vater zu sein, und wir sind nicht mehr in dem Alter, die Kinder zu spielen. Haben die Oppositionspolitiker ein besseres Gespür für das Problem? Man ist tief bestürzt, wenn man jene Überlegungen der Kommissionsmitglieder liest. Man möchte ihnen entgegnen: Dieses Kapitel ist abgeschlossen, es geht nicht mehr darum, eine Regierung zu untergraben, ihr müßt vielmehr eine Regierungsform schaffen. Konfrontiert die Ideen miteinander, und wenn ihr könnt, sprecht mit den Franzosen. Man ist überrascht, in Le Populaire anläßlich der jüngsten Wahlen und angesichts der »Stabilität der Wählerschaft« zu lesen, daß »es dem System gut gehe«. Um den heutigen Fragen entgegentreten zu können, müßte nicht nur der kommunistische Parteiapparat ein Gebet sprechen. Wer wird einmal die Komödie der sozialistischen Partei beschreiben, deren ganze Struktur, die einst als Struktur einer Arbeiterpartei und einer marxistischen Partei entworfen wurde, um die Gewählten der Aufmerksamkeit der Aktivisten zu unterstellen, heute in den Händen des Generalsekretärs ein weiteres Mittel ist, die parlamentarische Gruppe seinen Manövern zu unterwerfen? Alles in allem wissen dies aber viele Menschen besser als ich … Wer bin
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ich denn, daß ich so lange darüber rede? Die Offiziere ergehen sich in Weissagungen, und die Professoren spitzen ihre Schreibfedern. Wo sind die Berater des Volkes, und haben sie uns nichts anderes zu sagen, als nur ihr Bedauern auszudrücken? (Juli 1958)
SIGL E N V E R Z E IC H N I S
In den Anmerkungen des Herausgebers wird auf die Schriften Merleau-Pontys vermittels folgender Siglen verwiesen: SdV
Die Struktur des Verhaltens, übers. und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels, Berlin/New York 1976. PdW Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. und mit einem Vorwort versehen von Rudolf Boehm, Berlin 1966 (photomechanischer Nachdruck 1974). KdV Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949-1952, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels, übers. von Antje Kapust, mit Anmerkungen von Antje Kapust und Burkhard Liebsch, München 1994. SNS Sinn und Nicht-Sinn, übers. von Hans-Dieter Gondek, München 2000. HuT Humanismus und Terror, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1966 (Suhrkamp), Nachdruck Frankfurt/M. (Hain) 1990. AdD Die Abenteuer der Dialektik, übers. von Alfred Schmidt und Herbert Schmitt, Frankfurt/M. 1968. Prosa Die Prosa der Welt, hrsg. von Claude Lefort, übers. von Regula Giuliani, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Bernhard Waldenfels, München 11984, 21993. Vorl. Vorlesungen I. Schrift für die Kandidatur am Collège de France. Lob der Philosophie. Vorlesungszusammenfassungen. Die Humanwissenschaften und die Phänomenologie, übers. und mit einem Vorwort versehen von Alexandre Métraux, Berlin/New York 1973. Natur Die Natur. Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000.
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SuU
AuG
Siglenverzeichnis
Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort, München 11986, 21994. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, neu bearbeitet, kommentiert und mit einer Einleitung hrsg. von Christian Bermes, Hamburg 2002.
A NM E R KU NGE N DES HERAUSGEBERS
Vorwort (S. 1–51) 1 Vgl. hierzu Freuds Aussage in Der Humor: »Wenn es wirklich das Über-Ich ist, das im Humor so liebevoll tröstlich zum eingeschüchterten Ich spricht, so wollen wir daran gemahnt sein, daß wir über das Wesen des Über-Ichs noch allerlei zu lernen haben. […] Und endlich, wenn das Über-Ich durch den Humor das Ich zu trösten und vor Leiden zu bewahren strebt, hat es damit seiner Abkunft von der Elterninstanz nicht widersprochen.« Sigmund Freud, Der Humor, in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. XIV, Werke aus den Jahren 1925–1931, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt/M. 1948, S. 383-389, hier: S. 389. 2 Vgl. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange (1841), in: ders., Gesamtausgabe (MEGA), Bd. 1, Berlin 1975, S. 1–91, hier: S. 68: »Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstracten Totalität herabgesetzt, d. h. es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht […] So ergibt sich die Consequenz, daß das Philosophisch-werden der Welt zugleich ein Weltlich-werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust […] ist.« 3 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Paulhan Prosa S. 36, S. 133 f. 4 Vgl. Michel de Montaigne, Essais, Bd. I. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 454: »Was immer wir tun, enthüllt uns.« 5 Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, Paris 21982, hier: S. 420. 6 Paul Nizan, Aden Arabie, Préface de Jean-Paul Sartre, Paris 1960; vgl. dt.: Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, Vorwort von Jean-Paul Sartre, Dossier zum »Fall Nizan«, hrsg. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7 – 43.
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Anmerkungen des Herausgebers
7 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Unterwegs zu Swann, in: Werke II, Bd. I, hrsg. v. Luzius Keller, Frankfurt/M. 1994, 42002, hier: S. 269: »Weil ich an die Dinge, die Wesen glaubte, während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen, die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst nehmen kann und die mir Freude schenken. Ob nun der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir heute zum ersten Mal zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor.« 8 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O., S. 37. 9 Ebd., S. 35. 10 Ebd., S. 40. 11 Ebd., S. 30. 12 Nizan sowie seine Frau Henriette und Merleau-Ponty trafen sich im Sommer 1939 auf Korsika im Ministerium für ehemalige Frontkämpfer mit Laurent Casanova; danach gemeinsame Rückkehr nach Paris, von wo aus Nizan sich am nächsten Tag zur Truppe nach Orléans begeben mußte; vgl. hierzu Dossier zum »Fall Nizan«, in: Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O. 13 Paul Nizan, Aden – Die Wachhunde – Zwei Pamphlete, a. a. O., S. 41. 14 Ebd., S. 43. 15 Ebd., S. 42. 16 Ebd., S. 32. 17 Ebd., S. 12. 18 Ebd., S. 21. 19 Ebd., S. 22. 20 Ebd., S. 32. 21 Ebd., S. 13. 22 Ebd., S. 21. 23 Ebd., S. 13. 24 Ebd., S. 44. 25 Ebd., S. 36.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
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Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens (S. 53–116) 1 Merleau-Ponty publiziert diesen Aufsatz im Sommer 1952 in zwei Teilen in den Temps Modernes, 7, n° 80, Juni 1952, S. 2113–2144, und 8, n° 81, Juli 1952, S. 70–94; als Grundlage dienen ihm große Teile des Fragment gebliebenen Werkes Prosa der Welt, das er auch in der Schrift für die Kandidatur am Collège de France angekündigt hat; aus diesem Grund findet sich noch in der Erstpublikation des Aufsatzes in den Temps Modernes eine Anmerkung direkt zu Anfang des Textes: »Extrait de La prose du monde, en préparation«; die Prosa der Welt wurde nicht abgeschlossen; zur verwickelten Entstehungsgeschichte vgl. auch die Ausführungen von Claude Lefort in: Prosa, S. 15–24; Lefort verweist ebenso auf die Auseinandersetzung MerleauPontys mit Sartres 1947 erstmals publiziertem Aufsatz Qu’est-ce que la littérature, der z. T. als verborgene Ideenmatrix im Hintergrund der hier vorgetragenen Überlegungen steht und zu dem Merleau-Ponty ein kritisches Verhältnis einnimmt. 2 Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Saussure vgl. auch die beiden Arbeiten Schrift für die Kandidatur am Collège de France, AuG, S. 99–110, Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 47–69 sowie die hier abgedruckten Aufsätze Über die Phänomenologie der Sprache und Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss. 3 Zur ›chaîne parlée‹ resp. ›chaîne phonique‹ vgl. auch die Ausführungen von Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (frz. 1916), übersetzt v. Herman Lommel, hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin 21967, S. 44 ff., 147 ff. 4 Merleau-Ponty bezieht sich hier und in der Folge u.a. auf das Kapitel Naissance d’un espace in: Pierre Francastel, Peinture et société. Naissance et destruction d’un espace plastique. De la Renaissance au cubisme (1952), Paris 1977, S. 17ff., vgl. auch S. 341ff. 5 P. Francastel, Peinture et société, a. a. O., S. 20 f. 6 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 165. 7 Stéphane Mallarmé, Crise de vers (1886), in: ders., Kritische
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Anmerkungen des Herausgebers
Schriften, französisch – deutsch, hrsg. v. Gerhard Gobel und Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 210–231, hier: S. 228/229. 8 Vgl. zum folgenden auch die Ausführungen in: Prosa, S. 65 ff. 9 Henri Bergson, L’évolution créatrice (1907), in: ders., Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 487–809, hier: S. 576. 10 Zum folgenden vgl. auch die Ausführungen in dem Kapitel Die indirekte Sprache in: Prosa, S. 69–131. 11 Vgl. La Bruyère, Les caractères ou les mœurs de ce siècle, in: ders., Œuvres complètes, texte établi et annoté par Julien Benda, Paris 1976, S. 69. 12 André Malraux, La condition humaine, Paris 1946, S. 68; dt. Conditio Humana, übers. von Ferdinand Hardekopf, Zürich 1948, S. 55; vgl. dazu auch die Ausführungen Merleau-Pontys in Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge. 13 Die Auseinandersetzung mit den psychologischen Untersuchungen Henri Wallons, die dieser u. a. 1947 unter dem Titel Les origines de la pensée chez l’enfant vorgelegt hat, findet sich in den Vorlesungen zur Entwicklungs- und Kinderpsychologie, die Merleau-Ponty von 1949 bis 1952 an der Sorbonne gehalten hat. Hier diskutiert er auch das Phänomen der ›ultra-choses‹, wie es von Wallon vorgestellt wird, vgl. dazu KdV, S. 250 ff., 316–328. 14 André Malraux, Psychologie de l’art, Bd. 1: Le musée imaginaire, Bd. 2: La création artistique, Bd. 3: La monnaie de l’absolu, Genf 1947, 1948, 1950. Die ersten beiden Bände dieser Ausgabe sind auf deutsch erschienen: André Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 1: Das imaginäre Museum, Bd. 2: Die künstlerische Gestaltung, übers. v. Jan Lauts, Hamburg 1957, 1958. Die von Malraux überarbeitete und erweiterte Fassung, auf die Merleau-Ponty hinweist und die 1952 unter dem neuen Titel Les voix du silence bei Gallimard in Paris erschien, wurde ebenfalls ins Deutsche übertragen: André Malraux, Stimmen der Stille, übers. v. Jan Lauts, Berlin/Darmstadt/Wien 1960. – An dieser Stelle wird auf Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 34 f., verwiesen. 15 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 51. 16 Ebd., S. 54.
Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens
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17 Vgl. Malraux, Stimmen der Stille, a. a. O., S. 576. 18 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 80. 19 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 41. 20 Auf die ›écriture automatique‹ bzw. die ›langage automatique‹, eine im Surrealismus entwickelte Sprach- und Schreibform, kommt Merleau-Ponty auch in dem Beitrag Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge zu sprechen. 21 Malraux, Le musée imaginaire, a. a. O., S. 79 f.; Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 51. 22 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 28. 23 Ebd., S. 88. 24 Ebd., S. 88. 25 Ebd., S. 91. 26 Maurice Blanchot, Le musée, l’art et le temps (Rez. v. André Malraux, Psychologie de l’art), in: Critique 6 (1950), S. 195–208, hier: S. 204. 27 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 86. 28 Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? (1947), in: ders., Situations, II, Paris 1948, S. 55–330, hier: S. 61; dt.: Was ist Literatur? Ein Essay, übers. v. Hans Georg Brenner, Hamburg 1958, S. 9. 29 Sartre, Was ist Literatur?, a. a. O., S. 8. 30 Ebd., S. 9. 31 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 63. 32 Ebd., S. 79. 33 Vgl. Arthur Rimbaud, Illuminationen (Illuminations), mit einem Vorwort von Paul Verlaine, übers. von Gerhart Haug, Hamburg 1947. 34 Malraux, Die künstlerische Gestaltung, a. a. O., S. 84. 35 Zum Begriff der ›Stiftung‹ und zu den folgenden Gedankengängen vgl. besonders die Überlegungen Husserls in der Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie sowie in Husserls nachgelassenem Fragment Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, das bereits 1939 in der Revue de Philosophie erschien: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana Bd.VI, Den Haag 21962,
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Anmerkungen des Herausgebers
S. 56ff., 71 ff., 365–386; zu Merleau-Pontys Rekurs auf dieses Thema vgl. auch seine Ankündigung zu der Vorlesung aus den Jahren 1959/60 Husserl an den Grenzen der Phänomenologie, Vorl., S. 118–123. 36 Vgl. Malraux, Le musée imaginaire, a. a. O., S. 52; Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 30 f. 37 Vgl. Malraux, La monnaie de l’absolu, a. a. O., S. 40 ff.; zusätzlich: Malraux, Stimmen des Schweigens, a. a. O., S. 462 ff. 38 Sartre, Was ist Literatur?, a. a. O., S. 20 ff. 39 Vgl. die Interpretation Freuds hinsichtlich der Heiligen Anna Selbdritt da Vinicis: Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: ders., Studienausgabe, Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 2000, S. 89–159; vgl. zudem S. 89 f. der Editorischen Vorbemerkung, wo u.a. darauf aufmerksam gemacht wird, daß die Freudsche Interpretation auf einer falschen Übersetzung fußt – Leonardo spricht von einem Milan, nicht von einem Geier. Vgl. weiterhin mit Blick auf die Deutungen die Ausführungen bei Malraux, Stimmen des Schweigens, a. a. O., S. 404 ff., sowie die Bemerkungen von Merleau-Ponty dazu in dem Beitrag Der Zweifel Cézannes, AuG, S. 3–27, hier: S. 23 f., vgl. weiterhin KdV, S. 363 f. 40 Malraux, Das imaginäre Museum, a. a. O., S. 30 f. 41 Zu dieser Kritik an Malraux und dem Konzept des ›ÜberKünstlers‹ vgl. auch die Ausführungen in Merleau-Pontys Vorlesung Die Fremderfahrung von 1952, KdV, S. 421 f. 42 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Merleau-Pontys in dem Aufsatz Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 47–69, hier: S. 52 ff. 43 Vgl. zu dieser Kritik auch Merleau-Pontys Ausführungen in den Abenteuern der Dialektik, AdD, S. 245 ff. 44 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1995, S. 24. 45 Ebd., S. 218. 46 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’homme et les choses (1944), in: ders., Situations I, Paris 1947, S. 226–270. Sartre setzt sich hier mit Francis Ponge und der ›épaisseur semantique‹ auseinander, vgl. auch Francis Ponge, Le parti pris des choses (1942), in: ders., Œuvres complètes, édition publiée sous la direction de Bernard Beugnot, Paris
Über die Phänomenologie der Sprache
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1999, S. 13–161; dt. Im Namen der Dinge, übers. v. Gerd Henninger Frankfurt/M. 1973. Vgl. dazu auch den hier abgedruckten Aufsatz Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge. 47 Vgl. dazu auch Merleau-Pontys Ausführungen und den Bezug auf Simone de Beauvoir in seiner Vorlesung von 1959/60 zum Naturbegriff: Natur, S. 288.
Über die Phänomenologie der Sprache (S. 117–137) 1 Der Aufsatz erschien zuerst in: Problèmes actuels de la phénoménologie. Actes du premier Colloque international de phénoménologie. Bruxelles avril 1951, hrsg. v. H. L. van Breda, Paris 1952, S. 89– 109. 2 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Husserliana XIX/1, Den Haag 1984, S. 301–351, bes. S. 301 f., S. 342–348; vgl. hierzu ebenso die Analysen Merleau-Pontys in Der Philosoph und die Soziologie. 3 Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, hrsg. v. Paul Janssen, Husserliana XVII, Den Haag 1974, S. 26. 4 Edmund Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, in: ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 21962, S. 365-386, hier: S. 368 f. Merleau-Ponty zitiert die Erstausgabe des Husserlschen Textes in: Revue Internationale de Philosophie 1 (1939), S. 203–225. 5 Hendrik J. Pos, Phénoménologie et Linguistique, in: Revue Internationale de Philosophie 1 (1939), S. 354–365. 6 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye, übers. v. Herman Lommel, Berlin/New York 2001, S. 116 f. 7 Vgl. hierzu auch Merleau-Pontys Bezug auf Guillaume und das
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Anmerkungen des Herausgebers
›sublinguistische Schema‹ in seinem Aufsatz Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 54. 8 Zur ›chaîne parlée‹ resp. ›chaîne phonique‹ vgl. auch die Ausführungen von Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a. a. O., S. 44, S. 147; vgl. weiterhin dazu die Ausführungen Merleau-Pontys in Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens. 9 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Werke Bd. VII, hrsg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1907, S. 86–94. 10 Zum ›Ich kann‹ und seiner phänomenologischen Explikation vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Husserliana IV, Den Haag 1952, § 59, S. 253 ff. Vgl. weiterhin PdW, S. 166; SuU 285. 11 Vgl. auch Merleau-Pontys Ausführungen in Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens zu diesem Beispiel. 12 Vgl. hierzu auch Merleau-Pontys Bezug auf André Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 2: Die künstlerische Gestaltung, übers. v. Jan Lauts, Hamburg 1958, S. 86, in Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens. 13 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. v. S. Strasser, Husserliana I, Den Haag 1950, S. 121 ff. 14 Ebd., S. 141 ff.; vgl. hierzu weiterhin die Ausführungen MerleauPontys in Der Philosoph und sein Schatten. 15 Vgl. die Ausführungen Husserls in: Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, a. a. O. 16 Vgl. hierzu die folgende Bemerkung in Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 175: »Nun kompliziert sich alles, sobald wir bedenken, daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie ist: konstitutiv fungierendes Ich.« 17 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787), A 113 f.
Der Philosoph und die Soziologie
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Der Philosoph und die Soziologie (S. 139– 161) 1 Der Aufsatz ist zuerst erschienen in den Cahiers internationaux de Sociologie 6 (1951), S. 50–69. 2 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. v. Ursula Panzer, Husserliana XIX/1, Den Haag 1984, S. 301–351, bes. S. 347 f.; vgl. hierzu ebenso die Analysen Merleau-Pontys in Über die Phänomenologie der Sprache. 3 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (1911), in: Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), mit ergänzenden Texten hrsg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana XXV, Dordrecht 1987, S. 3–62; hier S. 43 ff. 4 Ebd., S. 52. 5 Ebd., S. 58. 6 Hendrik J. Pos, Phénoménologie et linguistique, in: Revue internationale de Philosophie, Revue trimestrielle I, no. 2, 15. Janvier 1939, S. 354 – 365. 7 Vgl. hierzu Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hrsg. v. Karl Schuhmann, Husserliana III/1, Dordrecht 1995, S. 15, S. 150. 8 Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), hrsg. v. Paul Jansen, Husserliana XVII, Den Haag 1974, S. 297. 9 Edmund Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, in: ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 21962, S. 365-386, hier: S. 368 f; vgl. auch MerleauPontys Bemerkungen dazu in Über die Phänomenologie der Sprache. 10 Vgl. hierzu die folgende Bemerkung in Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 175: »Nun kompliziert sich alles, sobald wir bedenken, daß Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie ist: konstitutiv fungierendes Ich.«
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Anmerkungen des Herausgebers
11 Vgl. zu den folgenden Zitaten: Edmund Husserl, Briefwechsel, Bd. VII: Wissenschaftlerkorrespondenz, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann hrsg. v. Karl Schuhmann, Dordrecht 1994, S. 161–164. 12 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 13 f.
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss (S. 163–179) 1 Der Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel De Mauss à Claude Lévi-Strauss in La nouvelle revue française, n. s., 14 (1959), S. 615– 631. 2 Vgl. dazu die im Januar 1960 gehaltene Antrittsvorlesung Das Feld der Anthropologie von Claude Lévi-Strauss am Collège de France (abgedruckt in: Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M. 1992). Für Lévi-Strauss wurde erstmals in Frankreich ein Lehrstuhl errichtet, dessen Bezeichnung ›Anthropologie sociale‹ lautete und an dessen Besetzung Merleau-Ponty seinen Anteil hatte. Zur weiteren Vorgeschichte vgl. den von Lévi-Strauss verfaßten und Mauss gewidmeten Beitrag La sociologie française: Claude LéviStrauss, La sociologie française, in: Georges Gurvitch (Hg.), La sociologie au XXe siècle, Bd. II: Les études sociologiques dans les différents pays, Paris 1947, S. 513–545. 3 Der Essay erschien erstmalig in der neuen Serie der L’Année Sociologique, Bd. 1, 1923–1924. 1968 folgte eine deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer mitsamt dem Vorwort von Evans-Pritchard: Marcel Mauss, Die Gabe, Frankfurt/M. 21994 (Der Essay wurde später aufgenommen in den von Claude Lévi-Strauss eingeleiteten Sammelband Sociologie et anthropologie, Paris 1950, erweiterte 3. Aufl. 1966; dt. in 2 Bänden: Soziologie und Anthropologie, München 1975). Merleau-Ponty bezieht sich wiederholt auf die Einleitung von LéviStrauss zu diesem Sammelband (Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie I, München 1974, S. 7–41) sowie auf dessen oben zitierte Darstellung der französischen Soziologie.
Von Mauss zu Claude Levi-Strauss
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4 Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (frz. 1895), hrsg. und eingel. v. René König, Neuwied/Berlin 31970, S. 115: »Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten«; vgl. dazu auch Merleau-Pontys Ausführungen in dem Aufsatz Das Metaphysische im Menschen, AuG, S. 47–69. 5 Vgl. zur ›prälogischen Mentalität‹ bei Lucien Lévi-Bruhl insbesondere die Schrift Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (1910), dt: Das Denken der Naturvölker, aus dem Französischen übersetzt v. Paul Friedländer, Wien/Leipzig 21926, bes. S. 58 ff. 6 Vgl. hierzu auch Marcel Mauss, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (frz. 1902/03), in: ders., Soziologie und Anthropologie I, a. a. O., S. 44–179. 7 M. Mauss, Die Gabe, a. a. O., S. 178. 8 M. Mauss, Wirkliche und praktische Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie (frz. 1924), in: ders., Soziologie und Anthropologie II, a. a. O., S. 145–173, hier: S. 173. 9 Im folgenden vgl. auch den Überblick in C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 30–37. 10 Zu ›phonème zéro‹ und ›signifiant flottant‹ vgl. C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 39 ff. 11 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (frz. 1916), übersetzt v. Herman Lommel, hrsg. v. Charles Bally, Albert Sechehaye, Berlin 21967, S. 143 ff. 12 Dimitrij Iwanowitsch Mendelejew (1834–1907), russischer Chemiker, der unabhängig von Lothar Meyer 1869 ein Periodensystem der chemischen Elemente aufstellte. 13 Vgl. dazu auch die Bemerkung in Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1991, S. 398. 14 Vgl. dazu die Arbeit Lévi-Strauss’ The strcutural study of myth (1955), aufgenommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 226–254, bes. S. 234 ff. 15 Vgl. dazu die Arbeit Lévi-Strauss’ Le sorcier et sa magie (1949), aufgenommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 183–203, bes. S. 234 ff. 16 Vgl. hierzu ebenfalls die Äußerungen von Lévi-Strauss, der die-
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Anmerkungen des Herausgebers
ses Zitat Bohrs (aus: Natural philosophy and human culture, in: Nature 143 (1939), S. 9) zuweilen anführt: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 321, 389. 17 Vgl. hierzu auch C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 28 f.; vgl. weiterhin die Arbeit Lévi-Strauss’ L’Analyse structurale en linguistique et en anthropologie (1945), aufgenommen, in: C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 43–67. Überall und nirgends (S. 181–231) 1 Dieser Beitrag versammelt die Einführungen Merleau-Pontys zu den unterschiedlichen philosophischen Epochen in dem von Merleau-Ponty herausgegebenen Sammelband: Les Philosophes Célèbres, Paris 1956. 2 Jean-Paul Sartre, Présentation des Temps Modernes, in: Situations II. Qu‘est-ce que la littérature? Paris 1948, S. 7–30, hier S. 16. 3 Ebd., S. 15. 4 Vgl. hierzu Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 2 1787), B 370. 5 Fong Yeou-Lan, Précis d’histoire de la philosophie chinoise, Paris 1952; zitiert wird aus dem Unterkapitel zu Kapitel I »Les procédés d’expression des philosophes chinois«, S. 33–35. 6 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Merleau-Pontys: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie, a. a. O., S. 365–400, hier: S. 387 f; vgl. weiterhin ebd., S. 86 ff., 94 ff., 132 ff., 266 ff. 7 Vgl. ebd., S. 395 ff. 8 Vgl. ebd., S. 366. 9 Merleau-Ponty zitiert aus La crise des sciences européennes et la phénoménologie transcendantale – Une introduction à la philosophie phénoménologique, in: Les Études philosophiques 1949, S. 127–159, hier. S. 140; vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana VI, Den Haag 1976, hier S. 14: »Erst damit wäre entschie-
Überall und nirgends
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den, ob das europäische Menschentum eine absolute Idee in sich trägt und nicht ein bloß empirischer anthropologischer Typus ist wie ›China‹ oder ›Indien‹.« 10 Ebd., S. 508: »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt«. 11 Vgl. ebd., S. 13 f. : »Damit allein entscheidet sich, ob das dem europäischen Menschentum mit der Geburt der griechischen Philosophie eingeborene Telos, ein Menschentum aus philosophischer Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein zu können […], ein bloßer historisch-faktischer Wahn ist […]; oder ob nicht vielmehr im griechischen Menschentum erstmalig zum Durchbruch gekommen ist, was als Entelechie im Menschentum als solchen wesensmäßig beschlossen ist. […] Philosophie, Wissenschaft wäre demnach die historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchen ›eingeborenen‹ Vernunft«; vgl. hierzu auch die Ausführungen Merleau-Pontys in Der Philosoph und die Soziologie. 12 La notion de philosophie chrétienne, Séance du 21 mars 1931, in: Bulletin de la Société française de Philosophie 1931; beteiligt an der Diskussion waren Gilson, Léon, Bréhier, Maritain, Brunschvicg, Le Roy und Lenoir; dem Text beigefügt sind je ein Brief Blondels mit dem Titel La philosophie chrétienne existe-t-elle comme philosophie? und Jacques Chevaliers, unbetitelt. 13 Vgl. Blondel, La philosophie chrétienne existe-t-elle comme philosophie?, in: La notion de philosophie chrétienne, a. a. O., S. 88. 14 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la Nature de la Grace fondés en Raison, Monadologie / Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Monadologie, Hamburg 1969, § 7, S. 12: »Ce principe posé: la première question qu’on a droit de faire, sera, pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien«; und S. 13: »Ist dieses Prinzip aufgestellt, so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein, warum es eher Etwas als Nichts gibt«. 15 Ferdinand Alquié, La découverte métaphysique de l’homme chez Descartes, Paris 1950; vgl. zu den angeführten Themen v. a. Kapitel 11 Inifinité de Dieu und Kapitel 16 Situation de l’homme.
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Anmerkungen des Herausgebers
16 Vgl. Léon Brunschvicg, Écrits philosophiques I. L’humanisme de l’occident, Descartes – Spinoza – Kant, Paris 1951, v. a. Kapitel II »Spinoza«, S. 109–177. 17 Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946; sowie dt.: Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947. 18 Vgl. Nicolai Hartmann, Hegel et le problème de la dialectique du réel, in: Revue de Métaphysique et de Moral 38 (1931), S. 285–316.
Der Philosoph und sein Schatten (S. 233– 264) 1 Der Beitrag erschien unter dem Titel Le philosophe et son ombre erstmals in der Festschrift zur hundertsten Wiederkehr des Husserlschen Geburtstages: Herman L. van Breda, Jacques Taminiaux (Hg.), Edmund Husserl. 1859–1959. Recueil commémoratif publié à l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, Den Haag 1959, S. 195–220. 2 Zur Entfaltung dieses Gedankens vgl. Husserls Krisis-Schrift sowie Husserls Fragment Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem, das bereits 1939 in der Revue de Philosophie erschien: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana Bd.VI, Den Haag 21962, bes. S. 365 ff. 3 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (1957), hrsg. von Petra Jaeger, Gesamtausgabe, Bd.10, Frankfurt/M. 1997, S. 105; MerleauPonty zitiert die Französische Übersetzung im Haupttext und das deutsche Original in der Fußnote. 4 Vgl. u. a. Edmund Husserl, Nachwort zu den Ideen I, in: ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, hrsg. v. Marly Biemel, Husserliana V, Den Haag 1952, S. 138–162, bes. S. 148 f., 161. 5 Vgl. hierzu insbesondere Husserls Rekurs auf Augustinus am
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Schluß der Cartesianischen Meditationen: Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen (frz. 1931) und Pariser Vorträge, hrsg. v. Stephan Strasser, Husserliana I, Den Haag 21963, S. 183. 6 Vgl. die §§ 45, 77 und 78 der Ideen I: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), hrsg. v. Walter Biemel, Husserliana III, Den Haag 1950, S. 104 ff., 177–185. 7 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Husserliana IV, Den Haag 1952. – Im folgenden wird sich Merleau-Ponty hauptsächlich auf die Überlegungen Husserls aus den Ideen II und III beziehen und die Bände IV und V der Husserliana zu Grunde legen. Wenn den Verweisen, die Merleau-Ponty selbst anführt, nichts hinzuzufügen ist, so wird von Herausgeberanmerkungen abgesehen; wenn Merleau-Ponty zur Verdeutlichung in dem ein oder anderen Fall in der Fußnote den deutschen Originaltext anführt, um die französische Übersetzung zu erläutern, so wird diese Angabe nicht aufgenommen, sondern direkt das Original im Haupttext zitiert. 8 Zur Reduktion als ›Ausschaltung‹ bzw. ›Einklammerung‹ vgl. Husserl, Ideen I, a. a. O., § 31, S. 63 ff. 9 Zu Husserls Gedanken, daß die Reduktion nicht zu einem ›Verlust‹ der Gehalte der natürlichen Einstellung führe, daß diese vielmehr erst vermittels der Reduktion und ihrem ›Sinn‹ nach thematisch werden, vgl. u. a. Husserl, Ideen I, a. a. O., S. 67 ff., 118 f.; vgl. auch Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, a. a. O., S. 154 f. 10 Vgl. u. a. Husserl, Ideen I, a. a. O., § 104, S. 257 ff.; Husserl stellt insbesondere in seiner Späthilosophie, etwa der Krisis-Schrift, diesen Befund in den Mittelpunkt seiner phänomenologischen Untersuchungen. 11 Zur Phänomenologie als einer Art ›Archäologie‹ vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, hg. v. Rudolf Boehm, Husserliana Bd.VIII, Den Haag 1959, S. 29; vgl. auch das Fragment ›Phänomenologische Archäologie‹ in: Alwin Diemer, Edmund Husserl. Versuch einer syste-
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Anmerkungen des Herausgebers
matischen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim am Glan 21965, S. 11 in Fn. 6; vgl. weiterhin: Vorl., S. 54. 12 Zum ›Ich kann‹ und seiner phänomenologischen Explikation vgl. Husserl, Ideen II, a. a. O., § 59, S. 253 ff.; vgl. weiterhin zu diesem für Merleau-Ponty zentralen Gedanken u. a. PdW, S. 166, SuU, S. 285. 13 Zu diesem bei Merleau-Ponty zentralen Beispiel der Doppelempfindung, auf das er immer wieder zu sprechen kommt, vgl. auch Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., S. 128. 14 Zur Konstitution der ›animalischen Natur‹, der ›Animalia‹ vgl. Husserl, Ideen II, a. a. O., S. 27 ff., 32 f., bes. S. 162 f. 15 Husserl kommt u. a. auf diesen Befund in §51 der V. Cartesianischen Meditation zu sprechen; zum ›intentionalen Übergreifen‹ vgl.: Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., S. 142, vgl. weiterhin ebd., S. 147. 16 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (11790, 21793), § 70, A 309/B 313: »So fern die Vernunft es mit der Natur, als Inbegriff der Gegenstände äußerer Sinne, zu tun hat, kann sie sich auf Gesetze gründen, die der Verstand teils selbst a priori der Natur vorschreibt, teils, durch die in der Erfahrung vorkommenden empirischen Bestimmungen, ins Unabsehliche erweitern kann.« 17 Zu Husserls Ausarbeitung der ›Fundierung‹ vgl. insbesondere seine detaillierten Ausführungen in der III. Logischen Untersuchung zur Lehre von den Ganzen und Teilen: Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (11901, 21913), hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1984, S. 267 ff. 18 Eugen Fink, Die intentionale Analyse und das Problem des spekulativen Denkens, in: Hermann Leo van Breda (Hg.), Problèmes actuels de la phénoménologie, Brouwer 1952, S. 53–87; der Beitrag wurde wieder aufgenommen in: Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München 1976, S. 139–157; vgl. in dieser Ausgabe: S. 153 f. 19 Das Fragment Husserls Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht ist abgedruckt in: Marvin Farber (Hg.), Philosophical essays in memory of Edmund Husserl, New York 1968, S. 307–325.
Der Philosoph und sein Schatten
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20 Ebd., S. 324. 21 Zur ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ vgl. auch MerleauPontys Ausführungen in PdW, S. 418; vgl. zu diesem Topos ebenso die Ausführungen Eugen Finks in seinem Entwurf zu einer VI. Cartesianischen Meditation, den Merleau-Ponty bereits früh und eingehend rezipiert hat: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, hrsg. von Hans Ebeling u. a., Husserliana-Dokumente, Bd.II/1, Dordrecht/Boston/London 1988, S. 8 f. 22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter, Fragmente in den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1946, S. 51; vgl. zu Merleau-Pontys Diskussion der Philosophie Schellings auch: Vorl., S. 94 ff. und Natur, S. 60 ff. 23 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf die bereits angeführten Überlegungen Husserls in dem Fragment Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht, a. a. O., hier: S. 314. 24 Merleau-Ponty rekuriert auf folgende Gedankengänge Husserls aus dem Fragment Umsturz der kopernikanischen Lehre, ebd. S. 318: »Es ist aber auch möglich, daß der Erdboden sich erweitert, etwa in der Art, daß ich verstehen lerne, daß im Raum meines ersten Erdbodens große Luftschiffe sind, die in ihm längere Zeit fahren: auf einem bin ich geboren, lebt meine Familie, es war mein Seinsboden, bis ich lernte, daß wir nur Schiffer sind auf der größeren Erde, etc. So kann eine Vielheit von Bodenstätten, Heimstätten zur Einheit einer Bodenstätte kommen.« S. 319 f.: »Nehmen wir nun Sterne, nachdem wir uns klargemacht haben die Möglichkeit von fliegenden Archen (das könnte auch ein Name sein für Urheimstätte), die sich herausstellen in der ›Erfahrung‹ (das ist in der Historizität, in der sich die Welt und in ihr körperliche Natur, naturaler Raum und Raumzeit, Menschheit und animalisches Universum konstituieren) als bloße ›Luftschiffe‹, ›Raumschiffe‹ der Erde, von ihr ausgegangen und wieder zurückkehrend, von Menschen bewohnt und geführt, die nach ihrem letztlichen generativen und für sie selbst historischen Ursprung auf dem Erdboden als ihrer Arche beheimatet sind. Dafür nehmen wir also jetzt ›Sterne‹ – zunächst Lichtpunkte, Lichtflecke. Im Lauf der sich ausbildenden
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Anmerkungen des Herausgebers
Erfahrung apperzipiert als Fernkörper, aber ohne die eintretende Möglichkeit der normalen Erfahrungsbewährung, derjenigen im ersten Sinne, im engeren einer direkten Ausweisbarkeit. ›Himmelskörper‹: wir behandeln sie gleich den nur zufällig faktisch für uns (aber ev. für Andere) gegenwärtigen, zeitweilig unzugänglichen Körpern und machen in bezug auf sie Erfahrungsschlüsse […] Alles das ist auf die Arche Erdboden und ›Erdkugel‹ relativ und auf uns, die irdischen Menschen, und die Objektivität ist auf die Allmenschheit bezogen. Wie die Arche Erde selbst? Sie ist nicht selbst schon Körper, nicht ein Stern unter Sternen. Erst wenn wir unsere Sterne als sekundäre Archen uns vorstellen mit ihren ev. Menschheiten, etc., uns fingieren als dorthin versetzt und unter diese Menschheiten, dorthin etwa fliegend, wird es anders. Dann ist es wie mit Kindern, auf den Schiffen geboren, doch etwas abgewandelt. Die Sterne sind ja hypothetische Körper in einem bestimmten Als-ob-Sinne, und so ist auch die Hypothese, dass sie Heimstätten im besonderen Sinne sind, von besonderer Art.« Vgl. weiterhin ebd., S. 323 f. 25 Ebd., S. 309. Bergson im Werden (S. 265– 279) 1 Der Aufsatz erschien erstmals unter dem Titel Discours prononcé le 19 mai 1959 lors de la séance d’hommage à l’occasion du centenaire de la naissance de Henri Bergson in: Bulletin de la Société française de Philosophie 54 (1960), S. 35–45. Der Titel Bergson se faisant verweist auf Charles Péguy, Nota Conjuncta, übers. v. Friedhelm Kemp, Wien, München 1956, S. 19 f. Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Bergson vgl. ebenso seinen Aufsatz Lob der Philosophie in AuG, S. 177–224, bes. S. 181 ff. 2 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf die erst 1914 verfaßte Beigefügte Anmerkung über Herrn Descartes und die cartesianische Philosophie, in: Péguy, Nota Conjuncta, a. a. O., S. 51–309, hier S. 120: »Daß der Mann, welcher der Welt die Freiheit zurückgebracht hat, die Politiker der Freiheit, und noch dazu in einem solchen Grade, gegen sich hatte«, sowie S. 122: »Er hatte zu Widersachern alle, die er ruiniert hat. Er hat zu Widersachern alle, die ihm alles verdanken […] Mit einem
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Wort, der Mann, der einen falschen Intellektualismus aufgelöst hat, hat die Partei der Wissenschaftler wider sich. Das ist gut und recht. Aber der Mann, der die Freiheit zurückgebracht hat, hat die Partei der Radikalen wider sich. Der Mann, der das französische Denken der deutschen Knechtschaft entrissen hat, hat die Partei der Action française wider sich. Der Mann, der das geistliche Leben wiedergebracht hat, hat die Partei der ›Frommen‹ wider sich«. 3 Gemeint ist die Académie des sciences morales et politiques, in die Bergson 1901 gewählt wurde, bevor er 1914 Mitglied in der Académie française wurde. 4 Henri Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion (1932), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 979–1247; dt.: Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. v. E. Lerch, Nachdruck Olten/Freiburg 1980, ursprünglich Jena 1933. 5 Vgl. u. a. Péguy, Anmerkung über Herrn Bergson und seine Philosophie, in: Nota conjuncta, a. a. O., S. 9–50, hier S. 32, 39. 6 Henri Bergson, Matière et mémoire, Essai sur la relation du corps à l’esprit (1896), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 161–379; dt.: Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, übers. v. Julius Frankenberger, mit einer Einleitung von Erik Oger, Hamburg 1991. Sowie Henri Bergson, L’évolution créatrice (1907), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 487–809; dt: Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, übers. v. Gertrud Kantorowicz, Jena 1912, wieder abgedruckt in Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Nobelpreis 1927 Frankreich, Zürich 1928, S. 37–363. 7 Vgl. Jules Grivet, La théorie de la personne d’après Henri Bergson – Cours au Collège de France, in: Les Études, no. 16, 20. 11. 1911, S. 449 – 485, aufgenommen in: Mélanges, textes publiés et annotés par André Robinet, Paris 1972, S. 847–875, hier S. 847. 8 Zum Begriff der coïncidence partielle vgl. Bergson, Matière et mémoire, a. a. O., S. 352 f., 355 f., dt. S. 218, 222. Merleau-Ponty kommt auf die »berühmte Bergsonsche Koinzidenz« auch in seinem Beitrag Lob der Philosophie, AuG, S. 185, zu sprechen.
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9 Merleau-Ponty verweist mit dem Jahr 1889 auf die Dissertation Bergsons Essais sur les données immédiates de la conscience, Bergsons Thèse principale de doctorat, die zusammen mit seiner lateinischen Thèse complémentaire unter dem Titel Quid Aristoteles de loco senserit 1889 erscheint, vgl. Henri Bergson, Essais sur les données immédiates de la conscience (1889), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 3–157; dt.: Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, übers. v. P. Fohr, Jena 1911. 10 Henri Bergson, Durée et simultanéité (1922), in: Mélanges, textes publiés et annotés par André Robinet, Paris 1972, S. 57–244. 11 Vgl. Henri Bergson, L’évolution créatrice, a. a. O., S. 492: »On dira que, même ainsi, nous ne dépassons pas notre intelligence, puisque c’est avec notre intelligence, à travers notre intelligence, que nous regardons encore les autres formes de la conscience. Et l’on aurait raison de le dire, si nous étions de pures intelligences, s’il n’était pas resté, autour de notre pensée conceptuelle et logique, une nébulosité vague, faite de la substance même aux dépens de laquelle s’est formé le noyau lumineux que nous appelons intelligence. Là résident certaines puissances complémentaires de l’entendement, puissances dont nous n’avons qu’un sentiment confus quand nous restons enfermés en nous, mais qui s’éclaireront et se distingueront quand elles s’apercevront elles-mêmes à l’œuvre, pour ainsi dire, dans l’évolution de la nature«; dt. Bergson, Schöpferische Entwicklung, a. a. O., S. 46: »Freilich wird man sagen, daß wir unseren Intellekt selbst solchergestalt nicht überholten; denn eben kraft unseres Intellekts und durch das Medium unseres Intellekts erblickten wir auch jene anderen Bewußtseinsformen. Und man hätte recht, es zu sagen, wenn wir reine Intelligenzen wären, wenn nicht rings um unser begriffliches Denken eine schwanke Nebelschicht stehengeblieben wäre; eine Schicht, die aus jener Substanz selber besteht, daraus der leuchtende Kern sich gebildet hat, den wir Intellekt nennen. Hier walten Kräfte, die den Verstand ergänzen; Kräfte, von denen wir nur ein verworrenes Gefühl haben, solange wir in uns beschlossen bleiben, die aber klar werden und hervortreten, sobald sie sich in der Entwicklung der Natur gleichsam selber am Werke sehen.«
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12 Vgl. hierzu Bergson, Matière et Mémoire, a. a. O., u. a. S. 184 f., 216 f., 296, 324; vgl. dt.: Bergson, Materie und Gedächtnis, a. a. O., S. 19, 57 f., 151, 184 f. 13 Vgl. Henri Bergson, La pensée et le mouvant (1935), in: Œuvres, Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier, Paris 1970, S. 1249 – 1482, hier S. 1358: »La vérité est qu’au-dessus du mot et au-dessus de la phrase il y a quelque chose de beaucoup plus simple qu’une phrase et même qu’un mot: le sens, qui est moins une chose pensée qu’un mouvement de pensée, moins un mouvement qu’une direction«; dt.: Henri Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. und hrsg. v. L. Kottje, Meisenheim 1948, Hamburg 32000, hier S. 140: »In Wahrheit gibt es dem Wort im Satz übergeordnet etwas viel Einfacheres als den Satz oder sogar ein Wort: nämlich den Sinn, der weniger eine gedachte Sache ist als eine gedankliche Bewegung, oder sogar noch weniger eine Bewegung als eine Richtung.« 14 Vgl. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion, a. a. O., hier S. 1154 f.: »L’ensemble eût pu être très supérieur à ce qu’il est, et c’est probablement ce qui arrive dans des mondes où le courrant est lancé à travers une matière moins réfractaire«; dt.: Bergson, Die beiden Quellen der Moral, a. a. O., S. 209: »Das Ganze hätte feilich viel vollkommener sein können als es ist, und das ist wahrscheinlich der Fall in Welten, wo der Strom durch eine weniger widerspenstige Materie hindurchströmt.« 15 Vgl. dt. Péguy, Beigefügte Anmerkung über Herrn Descartes und die cartesianische Philosophie, a. a. O., S. 221.
Einstein und die Krise der Vernunft (S. 281–289) 1 Der Beitrag Merleau-Pontys ist zuerst erschienen in: L’Express, Nr. 103, 14. Mai 1955, S. 13. 2 Das englische Original ist erschienen als: Albert Einstein and Leopold Infeld, The Evolution of Physics: The growth of ideas from early concepts to relativity and quanta, New York 1938; frz.: Albert
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Einstein et Leopold Infeld, L’évolution des idées en physique des premiers concepts aux théories de la rélativité et des quanta, traduit par Maurice Solovine, Paris 1938, S. 286: »La science n’est pas une collection de lois, un catalogue de faits non reliés entre eux. Elle est une création de l’esprit humain au moyen d’idées et de concepts librement inventés. Les théories physiques essaient de former une image de la réalité et de la rattacher au vaste monde des impressions sensibles. Ainsi, nos constructions mentales se justifient seulement si, et de quelle façon, nos théories forment un tel lien«; dt.: Albert Einstein und Leopold Infeld, Die Physik als Abenteuer der Erkenntnis, Leiden 1938, 2 1949, hier S. 196: »Wissenschaft ist nicht einfach eine Sammlung von Gesetzen, ein Katalog unzusammenhängender Tatsachen. Sie ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes mit ihren frei erfundenen Ideen und Begriffen. Physikalische Theorien versuchen eine Verbindung zwischen unserem Bild der Wirklichkeit und der großen Welt unserer Sinnesempfindungen aufzustellen. Die einzige Rechtfertigung unserer gedanklichen Konstruktionen liegt somit in dem Maße, ob und in welcher Weise unsere Theorien ein solches Glied bilden.« 3 Vgl. Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel 1916 – 1955, kommentiert v. Max Born, Geleitwort v. Bertrand Russell, Vorwort v. Werner Heisenberg, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 152 ff., Brief Albert Einsteins an Max Born vom 07. 09. 1944 (!), hier S. 154: »In unserer wissenschaftlichen Erwartung haben wir uns zu Antipoden entwickelt. Du glaubst an den würfelnden Gott und ich an volle Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objectiv Seiendem, das ich auf wild spekulativem Wege zu erhaschen suche. Ich glaube fest, aber ich hoffe, daß einer einen mehr realistischen Weg, bezw. eine mehr greifbare Unterlage finden wird, als es mir gegeben ist.« 4 Albert Einstein, Comment je vois le monde, Paris 1934, S. 155: »La mission la plus haute du physicien est donc la recherche de ces lois élémentaires les plus générales, desquelles on part pour atteindre, par simple déduction, l’image du monde. Aucun chemin logique ne mène à ces lois élémentaires: seule, l’intuition s’appuyant sur le sentiment de l’expérience y conduit. […] Mais le développement de la question a montré que, de toutes les constructions imaginables, une seule, pour le moment, s’est manifestée comme absolument, supérieure à toutes
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les autres. Aucun de ceux qui ont approfondi réellement le sujet ne saurait nier que le monde des observations détermine pratiquement, sans ambiguïté, le système théorique et que néanmoins aucune voie logique ne conduit des observations aux principes de la théorie: c’est ce que Leibniz a si heureusement appelé l’harmonie ›préétablie‹«; dt.: Albert Einstein, Mein Weltbild, Amsterdam 1934, S. 168: »Höchste Aufgabe des Physikers ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition. […] Aber die Entwicklung hat gezeigt, daß von allen denkbaren Konstruktionen eine einzige jeweilen sich als unbedingt überlegen über alle anderen erwies. Keiner, der sich in den Gegenstand wirklich vertieft hat, wird leugnen, daß die Welt der Wahrnehmungen das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der Theorie führt; dies ist es, was Leibniz so glücklich als ›prästabilierte Harmonie‹ bezeichnet.« 5 Einstein, Comment je vois le monde, a. a. O., S. 35: »Tous ces types de religion ont un point commun, c’est de la caractère anthropomorphe de l’idée de Dieu. […] Mais, chez tous, il y a encore un troisième degré de la vie religieuse […]: je l’appellerai la religiosité cosmique. Elle est fort difficile à saisir nettement par celui qui n’en sent rien, car aucune idée d’un Dieu analogue à l’homme n’y correspond«; dt.: Einstein, Mein Weltbild, a. a. O., S. 39: »All diesen Typen gemeinsam ist der anthropomorphe Charakter der Gottesidee. […] Bei allen aber gibt es noch eine dritte Stufe religiösen Erlebens […]; ich will sie als kosmische Religiosität bezeichnen. Diese läßt sich demjenigen, der nichts davon hat, nur schwerlich deutlich machen, zumal ihr kein menschenartiger Gottesbegriff entspricht.« 6 Vgl. L’évolution des idées en physique, a. a. O., 289: »La physique quantique formule des lois qui régissent des foules et non des individus. Ce ne sont pas des propriétés, mais des probabilités qui sont décrites: elle ne formule pas des lois qui dévoilent l’avenir des système, mais des lois qui régissent les changements des probabilités dans le temps et se rapportant à de grands ensembles d’individus«; vgl. dt.:
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Die Physik als Abenteuer der Erkenntnis, a. a. O., S. 198: »Die Quantenphysik formuliert Gesetze für Gesamtheiten einer großen Anzahl von Systemen und nicht für Individuen. Nicht Eigenschaften, sondern Wahrscheinlichkeiten werden beschrieben; nicht Gesetze für das zukünftige Verhalten von Systemen werden angegeben, sondern Gesetze, welche die zeitlichen Änderungen der Wahrscheinlichkeiten beherrschen und sich auf große Gesamtheiten von Individuen beziehen.« 7 Vgl. Albert Einstein, Hedwig und Max Born, Briefwechsel 1916 – 1955, a. a. O., S. 161 ff., Brief Albert Einsteins an Max Born vom 03.03.1947 (!), hier S. 162: »Aber davon bin ich fest überzeugt, daß man schließlich bei einer Theorie landen wird, deren gesetzmäßig verbundene Dinge nicht Wahrscheinlichkeiten sondern gedachte Tatbestände sind, wie man es bis vor kurzem als selbstverständlich betrachtet hat. Zur Begründung dieser Überzeugung kann ich aber nicht logische Gründe, sondern nur meinen kleinen Finger als Zeugen beibringen, also keine Autorität, die außerhalb meiner Hand irgendwelchen Respekt einflößen kann.« 8 Vgl. Antonina Vallentin, Le drame d’Albert Einstein, Paris 1955, S. 9: »[…] il a livré – incidemment – un des rares mots-clés sur luimême en remerciant G.-B. Shaw des paroles flatteues ›adressées à mon homonyme mythique qui me rend la vie singulièrement dure‹«; dt.: Antonina Vallentin, Das Drama Albert Einsteins, Eine Biographie, Stuttgart 1955, S. 11: »[…] als er G. B. Shaw für schmeichelhafte Worte dankte, die dieser ›an seinen mythischen Namensbruder gerichtet habe, der ihm das Leben so seltsam schwer mache‹.« 9 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf das Treffen Einsteins mit Bergson, Léon, Langevin, Hadamard, Cartan, Painlevé, Lévy, Perrin, Becquerel, Brunschvicg, Le Roy, Meyerson und Piéron, das am 6. April 1922 in der Société française de Philosophie stattfand; zu beachten ist im folgenden, daß Merleau-Ponty die Zitate aus dem Protokoll mit Durée et simultanéité vermischt und Einstein auf Fragen antworten läßt, die Bergson zwar geschrieben, so jedoch nicht in der Diskussion formuliert hat. 10 Henri Bergson, Durée et simultanéité. A propos de la théorie d’Einstein, Paris 1922, in: Mélanges, textes publiés et annotés par André Robinet, Paris 1972, S. 126.
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11 Séance du 6 avril 1922, La théorie de la relativité, in: Bulletin de la Société française de Philosophie, Comptes rendus des séances 1922, S. 91 - 113; hier: S. 107. 12 Ebd. Montaignelektüre (S. 291–310) 1 Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Les Temps Modernes 3/27 (1947–1948), S. 1044–1060. 2 Michel de Montaigne, Essais, Bd. III. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 342: »Mein Blick ist klar, aber ich hefte ihn auf nur wenige Gegenstände; und obwohl meine Sinne empfindsam und beeindruckbar sind, bin ich schwer von Begriff und weiß mit vielem nichts recht anzufangen; ebendarum lasse ich mich selten auf etwas ein.« 3 Ebd., S. 229: »Kurz, man muß mit den Lebenden leben und das Wasser unter der Brücke hinfließen lassen, ohne sich darum zu kümmern – oder zumindest, ohne deswegen den Kopf zu verlieren.« 4 Ebd., S. 33: »Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich nie. Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung.« 5 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne, New York/Paris 1944, S. 154. Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hrsg. von Arthur Buchenau, Hamburg 1915, Nachdruck 1994, S. 337. 6 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 341. 7 Ebd., S. 34. 8 Ebd., S. 229. 9 Ebd., S. 459. 10 Ebd., S. 88: »Quintilian behauptet, Schauspieler gesehen zu haben, die von einer Trauerrolle derart ergriffen worden seien, daß sie noch zu Hause geweint hätten; und er selbst habe sich den Schmerz, den er jemand anderm zugefügt, einmal so zu eigen gemacht, daß er
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plötzlich nicht nur erbleicht und in Tränen ausgebrochen, sondern auch wie ein wirklich gramgebeugter Mann zusammengesunken sei.« 11 Ebd., S. 118 f. 12 Ebd., S. 149; dem angegebenen Zitat schließen sich folgende Zeilen an: »[…] wenn ich all das betrachte und bedenke, dann glaube ich, daß Platon mit seiner Bemerkung recht hatte, der Mensch sei das Spielzeug der Götter – wie grausam, daß aus Lust am Quälen/sie uns zu ihren Opfern wählen – und daß die Natur aus schierer Spottsucht uns das aufwühlendste Tun als unser gewöhnlichstes vermacht hat, um uns alle gleichzusetzen und Narren wie Weise, Menschen wie Tiere auf eine Stufe zu stellen.« 13 Montaigne, Essais, Bd. II, a. a. O., S. 160: »Die Natur selber, fürchte ich, hat dem Menschen einen gewissen Trieb zur Unmenschlichkeit eingepflanzt: Niemand macht es zu seinem Zeitvertreib, den Tieren beim Spielen und Kosen zuzusehen; ihnen aber zuzusehn, wenn sie sich gegenseitig zerfetzen und zerfleischen – jeder.« 14 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 157: »Die Italiener spielen selbst bei jenen Frauen den schmachtenden Verehrer, die käuflich sind; und sie verteidigen dies wie folgt: Es gebe Stufen im Liebesgenuß, und indem sie auch Dirnen hofierten, wollten sie dessen höchste für sich erreichen. Dergleichen Frauen verkauften ja nur den Körper, ihre Gefühle aber stünden nicht zum Verkauf, denn hierüber behielten sie ihr freies Verfügungsrecht; darum, sagen diese Männer, machten sie gerade die Gefühle zum Ziel ihres Werbens. Wie recht sie haben! In der Tat sind es die Gefühle, die man umwerben und gewinnen muß. Die Vorstellung entsetzt mich, daß ich einen Körper als mir gehörend umarmen könnte, der ohne Seelenregung ist.« 15 Ebd., S. 152. 16 Ebd., S. 304: »Wenn ich fürchtete, woanders als am Ort meiner Geburt zu sterben, wenn ich glaubte, fern von den Meinen schwerer zu sterben, dann würde ich Frankreich, dann würde ich mein Kirchspiel kaum jemals ohne Zittern und Zagen verlassen – fühle ich doch ständig den Krallengriff des Todes in Kehle und Lende. Aber ich bin aus anderm Holz geschnitzt: Für mich ist er überall derselbe. Hätte ich freilich zu wählen, würde ich, davon bin ich freilich überzeugt, lie-
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ber als im Bett zu Pferde sterben, fern von meinem Haus und den Meinen. Das letzte Abschiednehmen von unsren Lieben zerreißt uns mehr das Herz, als es uns tötet.« 17 Ebd., S. 79. 18 Ebd., S. 79 f. 19 Ebd., S. 306: »Im Gegensatz zum Aberglauben der Römer, bei denen der als unglücklich galt, der wortlos starb und seine nächsten Angehörigen nicht um sich hatte, ihm die Augen zu schließen, habe ich mit der eignen Tröstung genug zu tun, ohne andre trösten zu müssen, Gedanken genug, die mir durch den Kopf gehen, ohne daß ich die Umstehenden brauchte, mir neue beizusteuern, und Stoff genug, mich zu beschäftigen, ohne daß ich auf erborgten angewiesen wäre. Dieser Akt ist nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Rollenspiels – diesen Akt spielt jeder allein.« 20 Ebd., S. 452. 21 Ebd., S. 228: »Die Welt ist nur eine Schule der Erkenntnissuche. Trefflich zu zielen zählt in ihr mehr, als zu treffen. Einer, der Richtiges sagt, kann es auf so falsche Weise tun, daß er an Narrheit dem gleichkommt, der Falsches sagt: Keineswegs um das Was geht es hier, sondern um das Wie. Ich möchte die Form jedenfalls nicht minder im Auge behalten als den Inhalt und gemäß der Empfehlung des Alkibiades den Sachwalter nicht minder als die Sache.« 22 Ebd., S. 148, weiter heißt es: » – gerade noch deutlich genug, um mich zur quälenden und aufreibenden Suche nach dem Entschwundnen anzutreiben. Vergebens.« 23 Léon Brunschvicg, Descartes et Pascal. Lecteurs de Montaigne, a. a. O., S. 64–93. 24 Montaigne, Essais, Bd. II, a. a. O., S. 186: »Die Anmaßung ist unsere naturgegebene Erbkrankheit. Das unglückseligste und gebrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch, gleichzeitig jedoch das hochmütigste. Er sieht und fühlt sich hienieden im Schmutz und Kot der Erde angesiedelt, dem übelsten, totesten und stinkigsten Winkel des Weltalls untrennbar verhaftet, hausend im untersten und vom Himmelsgewölbe entferntesten Geschoß des Bauwerks, nur den Tieren des Landes zugesellt, die von allen drei Gattungen doch am schlechtesten weggekommen sind; und da geht er hin, setzt sich in seiner Ein-
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bildung über den Mondkreis und macht den Himmel zum Schemel seiner Füße!« 25 Ebd., S. 176. 26 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 523: »Nichts im Leben des Sokrates fände ich schwer nachvollziehbar, wären da nicht seine Ekstasen und Daimonereien, und nichts an Platon dünkt mich so menschlich wie gerade das, wofür man ihn, wie es heißt, göttlich nannte; und von unsren Wissenschaften scheinen mir die am niedrigsten und erdverfallendsten, die sich am höchsten verstiegen haben; und nichts im Leben Alexanders finde ich so armselig und sterblich wie die Gedankenspiele, mit denen er sich seine Erhebung in die Unsterblichkeit ausmalte.« 27 Ebd., S. 45. 28 Ebd., S. 522. 29 Ebd., S. 452, weiter heißt es: »Kein mir eignes Wissen könnte es je von seinem Weg abbringen: Mir zuliebe wird es sich gewiß nicht ändern! Es wäre Torheit, das zu erhoffen, und eine noch größere, sich deswegen zu grämen, bleibt dieses Gesetz doch aus Notwendigkeit immer gleich, allumfassend und allgültig.« 30 Ebd., S. 431: »Ich hingegen liebe eine Tugend, welche die Gesetze und Religionen nicht erschaffen, sondern der sie lediglich Geltung und Spielraum zur Vervollkommnung verschaffen – eine Tugend, die sich stark genug fühlt, ohne fremde Hilfe zu bestehn, und die mit ihren eignen Wurzeln aus der Saat der allumfassenden Vernunft heranwächst, an der jeder der Natur nicht entfremdete Mensch in seinem Innern teilhat.« 31 Ebd., S. 343: »Jenen Leidenschaften, die mich von mir wegziehn und an sonstwen binden wollen, widersetze ich mich folglich mit aller Kraft. Meine Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte, sich hingeben aber nur ans eigne Selbst.« 32 Ebd., S. 171: »Ein junger Mann fragte den Philosophen Panaitios, ob es sich für einen Weisen gezieme, verliebt zu sein. ›Lassen wir den Weisen beiseite‹, antwortete er, ›aber du und ich, die wir keine sind, sollten uns nicht in etwas derart Ungestümes und Aufwühlendes hineinziehen lassen, das uns zu Sklaven anderer und zu Verächtern unserer selbst macht!‹ Er hatte damit insoweit recht, als
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wir dieser abgründigen Leidenschaft keine Seele aussetzen sollten, die unzureichend gerüstet ist, ihrem Ansturm standzuhalten und jenen Ausspruch des Agesilaos, Weisheit und Liebe könnten nicht miteinander auskommen, durch die Tat zu widerlegen.« 33 Ebd., S. 224. 34 Ebd., S. 11. 35 Ebd., S. 26. 36 Ebd., S. 403, weiter heißt es: »und allein Gott zu bitten, daß er mit seiner allmächtigen Hand eingreifen möge.« 37 Ebd., S. 365. 38 Ebd., S. 326: »Wer sich in die Menge begibt, muß sich drehn und wenden, muß die Ellbogen einziehn, muß zurückweichen oder sich vordrängen und oft sogar, je nachdem, wer und was sich ihm entgegenstellt, seinen graden Weg verlassen. Er ist gezwungen, sich im Leben weniger nach sich selbst als nach den andern zu richten, nicht nach dem Ziel, das er sich setzt, sondern nach dem, das ihm gesetzt wird; und nach der Zeit; und nach den Menschen; und nach dem Stand der Dinge.« 39 Ebd., S. 423: »Es leuchtet ein, daß wir von Natur aus den Schmerz, keineswegs aber, daß wir den Tod als solches fürchten – ist er doch ein nicht minder wesentlicher Teil unsres Seins als das Leben. Wozu hätte die Natur uns Haß und Abscheu gegen ihn einflößen sollen, da er für sie doch die höchst nützliche Rolle spielt, das Wechselspiel ihrer Werke in steter Folge fortzuführn und so in diesem universalen Gemeinwesen mehr dem Werden und Wachsen als dem Sterben und Verderben zu dienen? So widerstehn die Dinge all sich stets erneuernd dem Verfall, // weil Leben tausendfach entsteht aus einem Leben, das vergeht.« 40 Ebd., S. 447: »Unsre Streitigkeiten sind rein verbal. Ich frage, was Natur sei und was Wollust, was Kreis und was Substitution – doch das sind bloß Wortmünzen, und Wortmünzen wechselt man dafür ein. ›Ein Stein ist ein Körper.‹ Nun gut. Hakte einer aber nach: ›Und was ist ein Körper?‹ – ›Substanz.‹ – ›Und was ist Substanz?‹ – und so immer fort, würde den Erklärer sein Lexikon bald im Stich lassen. So tauscht man ein Wort gegen ein andres, oft noch weniger bekanntes. Ich weiß besser, was ein Mensch als was beseelt ist oder sterblich oder
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vernünftig. Um mir einen Zweifel zu nehmen, gibt man mir drei dafür: das Haupt der Hydra!« 41 Ebd., S. 38. 42 Ebd., S. 313: »So lasse ich an Kenntnis von mir nichts zu wünschen oder zu erraten. Wenn man sich über mich unterhalten will, möchte ich, daß es der Wirklichkeit entspreche und mir gerecht werde. Stellte einer mich anders dar, als ich war – und sei es, um mich zu ehren –, käme ich stracks aus dem Jenseits zurück, um ihn Lügen zu strafen. Selbst von den Lebenden spricht man, wie mir auffällt, stets anders, als sie sind; und hätte ich mich nicht für das lebenswahre Bild eines Freundes nach dessen Tod mit aller Kraft eingesetzt, würde man ihn mir in tausend sich widersprechende Teile auseinandergerissen haben.« 43 Ebd., S. 171. 44 Es handelt sich hier um eine Ergänzung im Exemplaire de Bordeaux von 1588, die in den meisten Ausgaben nicht verzeichnet ist. Siehe: Montaigne, Œuvres complètes, ed. par Albert Thibaudet et Maurice Rat, Paris 1962, S. 961, Fußnote 3 sowie S. 1652. 45 Montaigne, Essais, Bd. III, a. a. O., S. 67. 46 Ebd., S. 130 f. 47 Ebd., S. 348. 48 Ebd., S. 370. 49 Ebd., S. 211. 50 Ebd., S. 13, 15, 356. 51 Ebd., S. 349. 52 Ebd., S. 370. 53 Ebd., S. 398: »Haltet Einkehr, und ihr werdet in euch alle Argumente der Natur gegen den Tod finden – wahrhafte, die euch in der Not am besten helfen können. Sie sind es, die einen Bauern, ja ganze Völker ebenso standhaft sterben lassen wie einen Philosophen.« 54 Ebd., S. 418. 55 Ebd., S. 229. 56 Ebd., S. 322. 57 Ebd., S. 185. 58 Ebd., S. 304. 59 Ebd., S. 245. 60 Ebd., S. 168.
Anmerkung zu Machiavelli
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Anmerkung zu Machiavelli (S. 311– 331) 1 Der Beitrag Merleau-Pontys ist zuerst erschienen in: Les Temps Modernes 5/48 (1949–1950), S. 577–593. 2 Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übers. und hrsg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, XXV, S. 191 f.: »Es ist mir wohl bekannt, daß viele die Meinung vertraten und viele sie vertreten, die Dinge dieser Welt würden auf solche Weise von Fortuna und von Gott geleitet, daß die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht ändern könnten, ja überhaupt kein Mittel dagegen hätten, und die daher zu dem Urteil kommen könnten, man solle sich nicht viel mit den Dingen abplagen, sondern sich der Leitung des Schicksals überlassen.« 3 Ebd., XIV, S. 113 ff., so auch S. 115: »Und daher kann ein Fürst, der nichts vom Heerwesen versteht, zu allem anderen Unglück – wie bereits gesagt – sich weder der Achtung seiner Soldaten erfreuen noch ihrer Treue sicher sein.« 4 Ebd., XII, a. a. O., S. 93 f.: »Die hauptsächlichen Grundlagen, die alle Staaten brauchen – sowohl die neugegründeten wie die altererbten oder die aus diesen gemischten – sind gute Gesetze und ein gutes Heer. Und da es keine guten Gesetze geben kann, wo es kein gutes Heer gibt, aber dort, wo ein gutes Heer ist, auch gute Gesetze sein müssen, will ich die Erörterung der Gesetze übergehen und nur vom Heerwesen sprechen.« 5 Vgl. hierzu nicht den Principe, sondern die Discorsi. Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn, Stuttgart 1977, Erstes Buch, 46. Kapitel, S. 122: »Aus diesen Vorgängen ergibt sich die Regel, daß die Menschen, noch während sie darauf bedacht sind, ohne Angst leben zu können, schon beginnen, ihren Mitmenschen Furcht einzuflößen, und daß sie die Unbill, die sie von sich abwehren, einem anderen zufügen, als ob sie nicht leben könnten, ohne einen anderen zu verletzen oder von ihm verletzt zu werden.« 6 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, XVIII, a. a. O., S. 135: »Ihr müsst nämlich wissen, daß es zweierlei Kampfweisen gibt: die eine mit der Waffe der Gesetze, die andere mit bloßer Gewalt; die erste ist dem Menschen eigen, die zweite den Tieren; da aber die erste oftmals
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Anmerkungen des Herausgebers
nicht ausreicht, ist es nötig, auf die zweite zurückzugreifen. Daher muß ein Fürst es verstehen, von der Natur des Tieres und von der des Menschen den rechten Gebrauch zu machen.« Siehe auch die dazugehörigen Ausführungen in dem von Merleau-Ponty angegebenen Kapitel. 7 Ebd., XVIII, S. 135. 8 Ebd., III, S. 21: »Die Römer taten daher in diesen Fällen das, was alle klugen Fürsten tun müssen: diese haben nicht nur auf die gegenwärtigen Unruhen zu achten, sondern auch auf die zukünftigen, und müssen sie unter Aufbietung all ihrer Kräfte im Keim ersticken; denn wer rechtzeitig vorbeugt, kann leicht heilen; wenn man jedoch wartet, bis die Unruhen ausgebrochen sind, kommt jede Medizin zu spät, denn die Krankheit ist unheilbar geworden.« 9 Ebd., XVI, S. 127: »Daher liegt mehr Klugheit darin, sich mit dem Ruf der Knauserigkeit abzufinden, der zwar Unehre, aber keinen Haß erzeugt, als den Ruf der Freigebigkeit anzustreben und dadurch genötigt zu sein, sich den der Raubgier einzuhandeln, der Unehre und Haß zugleich erzeugt.« 10 Ebd., XVII, S. 131: »Gleichwohl darf ein Fürst nur soviel Furcht verbreiten, daß er, wenn er dadurch schon keine Liebe gewinnt, doch keinen Haß auf sich zieht; denn er kann sehr wohl gefürchtet werden, ohne verhaßt zu sein; dies wird ihm stets gelingen, wenn er das Eigentum seiner Bürger und Untertanen sowie ihre Frauen respektiert.« 11 Ebd., XX, S. 165. 12 Ebd., V, S. 37. 13 Vgl. auch ebd., III, S. 13, 15. 14 Ebd., III, S. 17: »Es gilt also festzuhalten, daß man die Menschen entweder verwöhnen oder vernichten muß; denn für leichte Demütigungen nehmen sie Rache, für schwere können sie dies nicht tun; also muß der Schaden, den man anderen zufügt, so groß sein, daß man keine Rache zu fürchten braucht.« 15 Ebd., V, S. 39. 16 Ebd., XVII, S. 131. 17 Ebd., IX, S. 77, 79. 18 Vgl. Thomas Morus, Utopia, übers. von Gerhard Ritter, Darmstadt 1973, S. 111: »Wenn ich daher alle unsere Staaten, die
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heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte, und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen.« 19 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, a. a. O., XXIII, S. 185. 20 Ebd., X, S. 87. 21 Ebd., XV, S. 119: »Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit.« 22 Ebd., XV, S. 127 ff. 23 Ebd., Widmung, S. 7. 24 Ebd., XVIII, S. 139 ff. 25 Vgl. ebd., XVIII, S. 139. 26 Vgl. ebd. 27 Ebd., VII, S. 51. 28 Ebd., XXV, S. 193. 29 Vgl. Augustin Renaudet, Machiavel. Étude d’histoire des doctrines politiques, Paris 1942, S. 132 f. 30 Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, a. a. O., XXV, S. 193. 31 Ebd., XXV, S. 195: »Diese beruht meiner Meinung nach zunächst auf den vorher ausführlich erörterten Gründen, daß nämlich ein Fürst, der sich ganz auf das Glück verläßt, untergeht, sobald dieses wechselt; ferner glaube ich, daß der Glück hat, der seine Handlungsweise den Zeitumständen anpaßt, und ebenso jener ins Unglück gerät, dessen Handlungsweise nicht den Zeitumständen entspricht. […] Davon hängt auch der Wechsel des Erfolgs ab; wenn nämlich
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Anmerkungen des Herausgebers
ein Fürst mit Besonnenheit und Geduld verfährt und die Zeit wie die Umstände sich so gestalten, daß seine Methode geeignet ist, so wird er Erfolg haben; wenn aber die Zeiten und die Umstände sich ändern, so geht er unter, da er seine Handlungsweise nicht geändert hat.« 32 Ebd., XXV, S. 199. 33 Ebd., XXVI, S. 203. 34 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 231. Es handelt sich um eine Anmerkung in Fußnote 26. 35 Vgl. hier und die folgenden Zitate entsprechend in: C. L. R. James, Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti, übers. v. Günter Löffler, Köln 1984. 36 Renaudet, Machiavel, a. a. O., S. 70 f. 37 Ebd., S. 73.
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge (S. 333– 360) 1 Der Vortrag wurde 1951 gehalten, er erschien zuerst 1952 in dem Sammelband La connaissance de l’homme au XXe siècle, Neuchâtel 1952, S. 51–75; die anschließende Diskussion ist wieder abgedruckt in Merleau-Ponty, Parcours deux, 2000, S. 321–376. 2 In der Erstpublikation folgt der Satz: »C’est ce que nous voudrions faire voir en examinant notre sentiment du corps et de l’individu, notre sentiment du langage et notre expérience du rapport social et historique.« 3 Vgl. zum folgenden auch die Vorlesungen, die Merleau-Ponty von 1949 bis 1952 an der Sorbonne zur Kinderpsychologie gehalten hat; besonders die Vorlesung aus den Jahren 1950/51 zu den Beziehungen des Kindes zum Anderen, KdV, S. 303 ff., bes. S. 336 ff. 4 Vgl. zum ›Sinn‹ der psychischen Phänomene u. a. Freuds Erarbeitung dieses Befunds in: Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. I, hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt/M. 2000, S. 34–445, bes. S. 59, 63 ff., u. ö. 5 Sigmund Freud, Essais de psychanalyse. I. Au-delà du principe
Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge
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du plaisir. II. Psychologie collective et analyse du moi. III. Le moi et le soi. IV. Considérations actuelles sur la guerre et sur la mort. V. Contribution à l’histoire du mouvement psychanalytique, trad. de S. Jankélevitch, Paris 1927. 6 Paul Valéry, Mauvaises pensées, in: ders., Œuvres II, établie et annotée par Jean Hytier, Paris 1960, S. 783–909, hier: S. 895 f. 7 Paul Valéry, Tel Quel, in: ders., Œuvres II, a. a. O., S. 469–781, hier: S. 491 f.; vgl. dt.: Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, übers. von Bernhard Böschenstein, Hans Staub, Peter Szondi, Frankfurt/M. 1995, S. 112. 8 André Malraux, La condition humaine, Paris 1946, S. 67 f.; dt. Conditio Humana, übers. von Ferdinand Hardekopf, Zürich 1948, S. 55 f. 9 Auch in dem hier abgedruckten Aufsatz Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens kommt Merleau-Ponty darauf zu sprechen; als Fundort nennt er Malraux, der in Le musée imaginaire ebenfalls diesen Topos anführt; dt.: André Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 1: Das imaginäre Museum, übers. v. Jan Lauts, Hamburg 1957, S. 41. 10 André Breton, Le message automatitque (1933), in: ders., Point du jour, nouvelle édition revue et corrigée, Paris 1970, S. 172–198. 11 André Breton, Légitime défense (1926), in: ders., Point du jour, a. a. O., S. 32–54, hier: S. 46. 12 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’homme et les choses (1944), in: ders., Situations I, Paris 1947, S. 226–270. Sartre setzt sich hier u. a. mit dem Begriff der ›épaisseur semantique‹ auseinander, wie er von Francis Ponge gebraucht wird, vgl. Francis Ponge, Im Namen der Dinge, Frankfurt/M. 1973. 13 Zu Merleau-Pontys ausgiebiger und detaillierter Auseinandersetzung mit Malrauxs Psychologie de l’art vgl. den in dem vorliegenden Band abgedruckten Artikel Die indirekte Sprache und die Stimmen des Schweigens, Merleau-Ponty bezieht sich auf: André Malraux, Psychologie de l’art, Bd. 1: Le musée imaginaire, Bd. 2: La création artistique, Bd. 3: La monnaie de l’absolu, Genf 1947, 1948, 1950. Die ersten beiden Bände dieser Ausgabe sind auf deutsch erschienen: André Malraux, Psychologie der Kunst, Bd. 1: Das imaginäre Museum, Bd. 2:
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Anmerkungen des Herausgebers
Die künstlerische Gestaltung, übers. v. Jan Lauts, Hamburg 1957, 1958. 14 Vgl. hierzu besonders das abschließende Kapitel Du style de Stendhal in Jean Prévost, La création chez Stendhal. Essai sur le métier d’écrire et la psychologie de l’écrivain, préface de Henri Martineau, Paris 1951, S. 483–506. 15 Jean Paulhan, Les fleurs de Tarbes ou la terreur dans les lettres, Paris 1941, S. 129; Merleau-Ponty kommt auf dieses Zitat auch in: Prosa, S. 36, zu sprechen; zur weiteren Auseinandersetzung mit Paulhan vgl. ebd., S. 133 ff. 16 In der Erstpublikation folgen die Sätze: »Je sens vivement à quel point le peu que je vais en dire est inégal à ce sujet. On ne peut cependant éviter d’en parler: comment ne pas relier les remarques un peu abstraites qui precedent à ce ton fundamental que prennent, même chez les moins politiques d’entre nous, nos rapports vécus avec l’histoire et la politique?« 17 Vgl. hierzu die Ausführungen Merleau-Pontys in den Abenteuern der Dialektik hinsichtlich des geschichtlichen Prozesses als einer fortschreitenden Eliminierung von ›non-sens‹ und nicht als dem Befolgen eines fixierten Sinnes; AdD, S. 50. 18 Paul Valéry, Mon Faust, in: ders., Œuvres II, a. a. O., S. 276–403, hier: S. 354.
gelegentliche äusserungen Die paranoische Politik (S. 363– 384) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Communisme et anticommunisme in: Les Temps Modernes 3/34 (1948–1949), S. 175188. 2 Der Artikel findet sich in der New York Times vom 10. März 1948, S. 26. Die von der Redaktion gekürzten Textstellen sind durch { } kenntlich gemacht.
Gelegentliche Äußerungen
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Marxismus und Aberglaube (S. 385–387) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Georges Lukács et l’autocritique. Commentaire, in: Les Temps Modernes 5/50 (1949–1950), S. 1119–1121.
Die UdSSR und die Lager (S. 388–403) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Les jours de notre vie in: Les Temps Modernes 5/51 (1949–1950) zusammen mit Jean-Paul Sartre, S. 1153–1168; der Beitrag reagiert auf den von Pierre Daix veröffentlichten Artikel Pourquoi D. Rousset a-t-il inventé les camps soviétiques? 2 Vgl. VIII. Gesamtrussischer Sowjetkongreß, 22.–29. Dezember 1920, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, April – Dezember 1920, Berlin 4 1970, S. 457–531, hier S. 513: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.« 3 Sidney Hook, Report on the International Day against Dictatorship and War, in: Partisan Review, Juli 1949, XVI, no. 7, S. 722–732.
Die Verträge von Jalta (S. 404–409) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Le marxisme est-il mort à Yalta? in: L’Express Nr. 98, 9. April 1955, S. 3-4. 2 Karl Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert, hrsg. und eingeleitet von Karl August Wittfogel, Frankfurt/M. 1981. 3 Leo Trotzki, Über Lenin. Material für einen Biographen, übersetzt v. G. Blumenthal, Frankfurt/M. 1964, S. 67. 4 Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930, S. 375.
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Anmerkungen des Herausgebers
Die Zukunft der Revolution (S. 410– 431) 1 Zuerst erschienen in: L’Express Nr. 118, 27. August 1955, S. 7–10. 2 Simone de Beauvoir, La pensée de droite, aujourd’hui, in: Les Temps Modernes, 10, nos. 112–113, numéro spécial ›La Gauche‹, 1955, S. 1539–1575, hier S. 1539. 3 Benno Sarel, La classe ouvrière en Allemagne orientale. Essai de chronique (1945–1958), (Les Editions Ouvrières), Paris 1958; dt.: Benno Sarel, Arbeiter gegen den ›Kommunismus‹ – Zur Geschichte des proletarischen Widerstandes in der DDR (1945–1958), (Schriften zum Klassenkampf 43), übers. v. Heidrun Leschke und Peter Liebl, München 1975. 4 Im Original betitelt mit La ›médiation‹ révolutionnaire. 5 Im Original betitelt mit La médiation avorte. 6 Jean-Paul Sartre, Huis Clos. Pièce en un acte, in: ders., Théatre. Les Mouches. Huis Clos, Paris 1947, S. 111–168, hier: S. 168; dt. in Jean-Paul Sartre, Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dirne. Drei Dramen, Hamburg 1949, S. 7–43, hier: S. 43. 7 Im Original betitelt Conclusion: Un communisme ›détendu‹?
Über die Entstalinisierung (S. 432–455) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Réforme ou maladie sénile du communisme? in: L’Express no. 283, 23. November 1956, S. 13–17. 2 Marcel Servin, Les Termites et leurs alliés, in: L’Humanité vom 12. 11. 1956. 3 Im März 1921 von Lenin in Sowjetrussland eingeführtes Wirtschaftsprogramm (Nowaja Ekonomitschetskaja Politika, »Neue Ökonomische Politik«), um die katastrophale Ernährungslage der Bevölkerung am Ende des Bürgerkrieges zu verbessern. Von Stalin 1927/28 beendet, der im Rahmen einer ›Revolution von Oben‹ die Industrialisierung der UdSSR und die Kollektivierung der Landwirtschaft forcierte. 4 Pierre Hervé, La Révolution et les Fétiches, Paris 1956. 5 Vgl. ebd. S. 129.
Über die Erotik
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6 Vgl. Pierre Hervé, Lettre à Sartre et à quelques autres par la même occasion, Paris 1956. Über die Erotik (S.456–458) 1 Erstpublikation unter dem Titel Le libertin est-il un philosophe? in: L’Express no. 73, 16. Oktober 1954, S. 3–4; Merleau-Ponty antwortet mit diesem Artikel auf eine Frage von Claude Escaille, die dem vorliegenden Text vorangeht: »Dans son dernier numéro L’Express fait un cours, peut-être un peu pompeux mais intéressant, sur le libertinage. Il en résulterait que le libertin est un homme qui cherche à s’affranchir des interdits moraux et religieux de son époque, pour devenir celui ›qui agit et non pas qui est agi‹. Successivement étiqueté comme libre-penseur, révolutionnaire, aventurier, ne possède-t-il pas toutes les qualités d’autonomie et de courage intellectuel du philosophe?« Weiter heißt es im Original: »M. Merleau-Ponty répond: ›L’article de L’Express décrivait un des fétiches du monde littéraire, et il ne le faisait pas sans réserves, il me semble. Au risque de choquer, je voudrais aggraver ces réserves.‹« 2 Merleau-Ponty verweist hier auf Protagonisten in Pierre Ambroise Francois Choderlos de Laclos, Les liaisons dangereuses, ou Lettres recueilles dans un société, et publiées pour l’instruction de quelques autres, Amsterdam 1782; dt.: Pierre Ambroise Francois Choderlos de Laclos, Die Gefährlichen Liebschaften, übers. v. August Brücher, Berlin 1914, sowie Pierre Ambroise Francois Choderlos de Laclos, Gefährliche Freundschaften, übers. v. Heinrich Mann, Berlin 1922. 3 Der Nebensatz »vers Satan que s’il y a une postulation« findet sich nicht in der Erstpublikation, Zusatz in Signes.
Über die Lokalnachrichten (S. 459–463) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Le goût pour les faits divers est-il malsain? in: L’Express no. 82, 18. Dezember 1954, S. 3–4. Vorangestellt ist folgende Frage von Françoise Longemeau: »Ce qu’on
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Anmerkungen des Herausgebers
appelle le ›fait divers‹ est, de l’avis de tout de monde, un des éléments de vente les plus sûrs d’un grand nombre de journaux. On l’a bien vu à l’occasion du procès Dominici. De graves censeurs considèrent que ces journaux flattent le goût malsain des lecteurs. Mais je me suis demandé récemment en lisant certains romans contemporains, et même en relisant Balzac, si le goût du fait divers n’était pas le même que le goût du roman et si, grâce à l’un comme à l’autre, les lecteurs ne cherchent pas tout simplement dans la vie d’autrui le reflet et l’élargissement de la leur. Qu’en pensez-vous?« 2 Stendhal, Voyage dans le midi de la France, Paris 1930, S. 281 f. 3 Ebd., S. 283 f. 4 Ebd., S. 284 f. 5 Vgl. Stendhal, Le rouge et le noir. Chronique du XIXe siècle, Paris 1831; dt.: Stendhal, Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert, hrsg. und neu übersetzt von Elisabeth Edl, München 2004. Über Claudel (S. 464–470) 1 Erstpublikation unter dem Titel Claudel était-il un genie? in: L’Express no. 93, 5. März 1955, S. 3–4; Merleau-Ponty anwortet mit diesem Artikel auf folgende, von Philippe Lemasson gestellte Frage: »Claudel était, à mon avis, un grand homme, un grand dramaturge certainement. Etait-il un génie? Et qu’est-ce que le génie en 1955? Y a-t-il, parmi nos contemporains, des hommes qui méritent cette étiquette? Et si Claudel était un génie par quoi et pourquoi?« 2 André Gide, Journal 1889–1939, Paris 1951, Saint-Clair am 2. November 1930, hier S. 1014. 3 Vgl. Paul Claudel, Accompagnements, Essais, Paris 1949. 4 Paul Claudel, Feuilles de saints, Paris 1925, S. 198. 5 Paul Claudel, Le Soulier de Satin, Paris 1925; dt.: Paul Claudel, Der seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu, übers. v. Hans Urs von Balthasar, Salzburg 1939. 6 Vgl. Paul Claudel, L’Otage, drame, Paris 1911; dt.: Paul Claudel, Der Bürge, ein Drama in drei Akten, übers. v. Albrecht Joseph, Hellerau 1926.
Über die Enthaltung
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7 Vgl. Paul Claudel, L’annonce faire à Marie, mystère en quatre actes et un prologue, Paris 1912; dt.: Paul Claudel, Verkündigung, ein geistliches Stück in 4 Ereignissen und einem Vorspiel, übers. v. Jakob Hegner, Berlin 1912. 8 Vgl. Claudel, L’Otage, a. a. O.; dt.: Paul Claudel, Der Bürge, a. a. O. 9 Ebd. 10 Vgl. Paul Claudel, Art poétique, Paris 1900; dt.: Paul Claudel, Ars poetica mundi, übers. und mit Vorrede v. Robert Grosche, Hellerau 1929. Über die Enthaltung (S. 471–476) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel La majorité a-t-elle raison? in: L’Express no. 11 1, 9. Juli 1955, S. 12. Bei diesem Text handelt es sich um eine Erwiderung Merleau-Pontys auf die Aussage Michel Labordes: »André Gide ne votait pas car la voix de sa concierge avait autant d’importance que la sienne, ce qu’il n’admettait pas. Si cette question lui parait digne d’intéret, j’aimerais que M. Merleau-Ponty fasse connaître aux lecteurs de ›L’Express‹ les réflexions que l’abstention de Gide suscite en lui? Il y a là, à la fois, un problème general et d’actualité.« Merleau-Ponty leitet den Artikel ein: »Je ne connais pas le passage de Gide auquel M. Laborde pense.«
Über Indochina (S. 477–484) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Indochine S.O.S. in: Les Temps Modernes, 2, no. 18, 1946–1947, S. 1039–1052. Der von Merleau-Ponty in Signes aufgenommene Text gibt die Seiten 1039 bis 1044 wieder, nicht aufgenommen wurden die Seiten 1045 bis 1052. 2 Vgl. Et Borreaux, et victimes… in: Les Temps Modernes, 2/1, no. 15, 1946, S. 23–24. 3 An dieser Stelle im Original aus den Temps Modernes: »[…] par l’article de Claude Lefort […]«.
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Anmerkungen des Herausgebers
Über Madagaskar (S. 485–497) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel La France en Afrique in: L’Express no. 375, 21. August 1958, S. 12–13. Folgender vorangehender Absatz findet sich im Original: »Après un séjour à Madagascar, M. Maurice Merleau-Ponty précise sa conception du rôle qu’a joué et que doit encore jouer la France en Afrique. Voici sur Madagascar, sur l’Afrique Noire, sur l’Algérie – et sur France – en suivant l’itinéraire du voyage politique qu’entame le général de Gaulle cette semaine, les réflexions d’un des premiers philosophes français. Le texte que nous publions ici cette semaine, pour des raisons évidentes d’actualité, fait partie d’un entretien général dont nous publierons la suite (sur : ›La situation de la philosophie aujourd’hui‹) dans un prochain numéro de ›L’Express‹.« 2 Vgl. Georges Balandier, Le »Tiers Monde«. Sous-développement et développement, Presses Universitaires de France 1956, S. 50. 3 Vgl. Germaine Tillion, L’Algérie en 1957, Paris 1957, S. 16. 4 Im Original findet sich an dieser Stelle folgender Satz: »Aujourd’hui, à Madagascar, en régime d’autonomie interne, un journaliste malgache laissait entendre devant moi que l’administration allumait, à dessein des feux de brousse (qui sont interdits) pour pouvoir faire condamner de prétendus coupables.« Er wird später, vgl. folgende Anmerkung, eingefügt. 5 Einfügung des vorangehenden Satzes; vgl. vorangehende Anmerkung. Über den 13. Mai 1958 (S. 498–503) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel Du moindre mal à l’union sacrée in: Le Monde, 5. Juni 1958, S. 4.
Morgen … (S. 504–518) 1 Zuerst erschienen unter dem Titel La démocratie peut-elle renaître en France? in: L’Express no. 368, 3. Juli 1958, S. 15–17.
Morgen …
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2 Pierre Debray, La troisième guerre mondiale est commencée, Paris 1958. 3 Ebd., S. 96. 4 Ebd., S. 186, 187, 208. 5 Ebd., S. 170f. 6 Ebd., S. 186. 7 Ebd., S. 189, 179, 185. 8 Ebd., S. 208. 9 Ebd., S. 213, 216, 218.
PER S ONE NV E R Z E I CH NI S
Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten. Alain 225 f., 515 Alquié, Ferdinand 218 Aristoteles 183, 233 Aron, Raymond 82, Augustinus 82, 206, 236, 469 Auriol, Vincent 500 Bachelard, Gaston 78 Bacon, Francis 141 Ballandier, Georges 491 f. Balzac, Honoré de 106 Baudelaire, Charles 346 Beaufret, Jean 227 Beauvoir, Simone de 115, 410 Bergson, Henri 38, 225–227, 265, 266–278, 285 f., 287 Berthelot, Philippe 466 Biemel, Marly 259 Biran, Maine de 222 Blanchot, Maurice 346 Blondel, Maurice 203, 225 f., 269 Bohr, Niels 175 Borgia, Cesare 318, 321 Born, Max 281 f. Breda, H.L. Van 153 Bréhier, Émile 203, 205 Breton, André 246 f. Brunelleschi, Filippo 56 Brunschvicg, Léon 203, 218, 225, 292, 298 Bulganin, Nikolai Alexandrowitsch 410, 434 Burnham, James 368, 371, 384 Césaire, Aimé 490 Cézanne, Paul 70
Chateaubriand, François-René de 27 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 4, 7, 433–438, 448, 451 Churchill, Winston 405 f. Clarkson, Thomas 325 Claudel, Paul 97, 348, 463–470 Comte, Auguste 281 Coty, René 498 Croce, Benedetto 225–227 Cuisinier, Jaenne 478 Daix, Pierre 389, 391, 403 Da Vinci, Leonardo 87 f., 356 Debray, Pierre 505–507 Defferre, Gaston 496 Deixonne, Maurice 498 Delacroix, Eugène 81, 335 Descartes, René 13, 28, 113 f., 182–184, 190, 208, 215, 217 f., 221, 230, 283, 291, 295, 298 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 464 Dreyfus, Alfred 2 Dulles, John Foster 472 Duncker, Hermann Ludwig Rudolph 418 Durkheim, Émil 164 Eastman 368 Einstein, Albert 281–286, 288 Engels, Friedrich 385, 404 Euklid 170 Evans-Pritchard, Edward Evan 163 Faulkner, William Cuthbert
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Personenverzeichnis
Fink, Eugen 256 Francastel, Pierre 55 Frazer, James 172 Freud, Sigmund 4, 23, 87, 174, 335, 337–342, 399 Galilei, Galileo 141, 144, 171 Gaulles, Charles de 163, 165 f., 370, 372, 498, 500–503, 508–511, 517 Gide, André 334 f., 342 f., 365 f., 471, 474 f. Gilson, Étienne Henry 203 Giraudoux, Jean Hyppolyte 359 Goethe, Johann Wolfgang von 386 f. Gomulka, Wladyslaw 434, 445– 447, 450, 453 Grégoire, Henri ›Abbé‹ 325 Grotewohl, Otto 425 Gueroult, Martial 183 Guillaume, Gustave 120 Hartmann, Nikolaus von 227 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 56, 89, 98–101, 113 f., 157, 177, 182–184, 186, 189, 195–200, 215, 227, 236, 516 Heidegger, Martin 7, 37, 137, 223, 228, 234 f. Heraklit 7, 112 Herrnstadt, Rudolf 425 Hervé, Pierre 449, 452 f. Hitler, Adolf 44, 375, 377, 379 f. Hl. Anna 87 Hlasko, Marek 486 Ho-Chi-Minh 482 Homer 298 Hook, Sydney 368, 398 Hsün-Tse 193 Humboldt, Wilhelm von 123 Husserl, Edmund 21, 80 f., 117, 119, 129, 131, 136, 139, 144–147, 149–154, 157–159, 198–201,
225–227, 233–239, 241–243, 246 f., 250–253, 255, 256, 257– 264, 335 Infeld, Leopold 282 Ingres, Jean-AugusteDominique 81, 335 James, Cyril Lionel Robert Joubert, Joseph 27 Jukow, Anton 410
325
Kahan, Théo 281 f. Kant, Immanuel 125, 136, 183, 219, 223, 251, 265 Kerensky, Alexander Fjodorowitsch 373 Kibaltschitsch, Nikolai Iwanowitsch 374 Kierkegaard, Søren 222 Klee, Paul 70 Koestler, Arthur 384, 395 Krawtschenko, Jurij Fedorowitsch 397, 403 Kuo-Hsiang 193 f. La Boétie, Étienne de 305 La Bruyère, Jean de 64 Laclos, Pierre-Ambroise-François Choderlos de 457 Lacoste, Robert 498, 500, 507 Lacroix, Paul 326 Lao-Tse 193 Lefort, Claude 434, 441 Leibniz, Gottfried Wilhelm 217, 230 f., 283 Lenin, alias Wladimir Iljitsch Uljanow 7, 40, 373, 392, 394, 402, 407, 408, 448–451, 457 Lévi-Strauss, Claude 163, 166, 177 f., 194 Lévy-Bruhl, Lucien 153, 164 Ludwig XIV 283 Lukács, Georg 7, 385–387, 432
Personenverzeichnis Machiavelli, Niccolò 311 f., 314, 316, 318, 320–322, 324, 326–331 Malebranche, Nicolas 203, 206, 209–211, 215, 217 Malenkow, Georgi Maximilianowitsch 410, 434 Mallarmé, Stéphane 60, 114, 345 Mallet, Serge 15 f. Malraux, André 64–66, 69–73, 76 f., 79, 81, 83, 87, 89, 104, 148, 344 f., 348, 363–372, 384 Mandelbaum, Kurt 494 Maritain, Jacques 40, 203 Marivaux, Pierre Carlet de 30 Marquis de Sade, Donatien Alphonse François 342, 457 f. Marx, Karl 7, 9, 12–16, 106, 186, 189, 329 f., 385, 392, 394, 399, 404, 406, 411 f., 449 f., 472, 488 Maspéro, François 32 Masson-Oursel, Paul 192 Matisse, Henri 62 Maulnier, Thierry 384 Mauriac, François 359, 477–483 Maurras, Charles 1 Mauss, Marcel 163–166 Mencius 193 Mendelejew, Dimitrij Iwanowitsch 169 Mendès-France, Pierre 497 f., 502, 516 f. Mérimée, Prosper 462 Merleau-Ponty, Maurice 36 Mikojan, Anastas Iwanowitsch 448 f. Mill, John Stewart 141 Mollet, Guy 498–501, 512 f. Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 472 Mornard, Jacques 378 Monnier, Adrienne 464 Montaigne, Michel Eyquem de 30,
567
221, 223, 291–293, 295 f., 298, 300, 302 f., 305 f., 308–310 Nagy, Imre 432, 514 Napoléon Bonaparte 326, 330, 379 Nikolaus von Kues 206 Nizan, Paul-Yves 32–49 Ockham, Wilhelm von 206 Ödipus 99 Parmenides 182, 224 Pascal, Blaise 111, 203, 206, 221, 292, 298, 300 Paulhan, Jean 24, 349 Péguy, Charles Pierre 83, 265, 273 f., 278, 390 Péret, Benjamin 369 Pflimlin, Pierre Eugène Jean 502, 504, 516 Picasso, Pablo Ruiz 6 Platon 113, 183 Pleven, René 517 Plutarch 306 Ponge, Francis 104, 348 Pos, Hendrik J. 118, 120, 148, 150 Poussin, Nicolas 61 Prévost, Jean 348 Proust, Marcel 334 f., 342 f. Rajk, László 386 Ramadier, Paul 513 Ramdane, Abane 506 Renaudet, Augustin 324, 327 Renoir, Pierre-Auguste 76, 86 Richelieu 457 Ricœur, Paul 93 Rimbaud, Arthur 345 Rivière, Jacques 465 f. Robespierre, Maximilien Marie Isidore de 447 Romm, Vladimir 367 Roosevelt, Theodore 405 f. Rosmer, Alfred 408
568
Personenverzeichnis
Rousset, David 389, 391, 400–403 Rubaschow, Schneur Salman 370 Sacher-Masoch, Leopold von 458 Sarel, Benno 411, 413 f., 417, 419, 421, 423, 425, 429 Sartre, Jean-Paul 7, 23, 31–39, 41–47, 49 f., 53, 75, 78, 86, 137, 189, 224, 226, 348, 451, 452 Saussure, Ferdinand de 53–55, 59, 112, 120, 123, 175 Sauvy, Alfred 427, 493 Schachtman, Max 368 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 260 Serge Kibaltschisch, Victor 363 f., 366, 386, 369, 374 f. Sertillanges, Antonin-Gilbert 266 Sforza, Francesco 321 Shakespeare, William 464 Shaw, Bernard 283 Sirius 502 Sokrates 298 Sophokles 36 Sorel, Georges 265 Spencer, Herbert 267 Spinoza, Baruch 41, 215, 217, 230 f., 282 Stalin, Joseph 7, 367 f., 372–374, 379 f., 382, 405 f., 408 f., 440–445, 451 Stark, Alexander 417 Starobinski, Jean 30 Stendhal 28, 71, 111, 342, 348, 459, 461, 470, Sulzberger, Cyrus L. 363–365, 368, 372 Suslow, Michail Andrejewitsch 434, 437 f., 441, 449 Suwarin, Boris 368 Thomas Morus 316 Thomas von Aquin 206 Thorez, Maurice 453 Tillion, Germaine 493
Tito, Josip Broz 428, 434 Togliatti, Palmiro 434, 442–444, 446, 449, 453 Tolstoi, Leon 386 f. Toussaint-Louverture, FrançoisDominique 326, 330 Trinquier, Roger 504 Trotzki, Leo Lew Dawidowitsch 364–369, 372–379, 381–384, 392, 407 f., 450, 457, 505 Trotzki, Natalia Sedowa 364, 366 Troubetzkoy, Nikolai Sergejewitsch 176 Truman, Harry S. 370 Tschang Kai-Shek 406 Tschuang-Tse 193 f. Tschu-Hi 194 Ulbricht, Walter Ernst Paul 414, 425 Valéry, Paul Ambroise 19, 25, 83, 262, 334 f., 343 f., 347 f., 356 f. Vallentin, Antonina 283 Van Gogh, Vincent Willem 20, 72, 78 Velan, Yves 15 Vermeer, Jan 83 f. Vettori, Francesco 327 Viète, François 283 Vuillemin, Jules 87 Wahl, Jean 220 Wallon, Henri 67 Warnke, Herbert 418 Weber, Max 407 Wilberforce, William 325 Wischinsky, Andrej 375 Wurmser, André 391 Yeou-Lan, Fong Zenon 53, 182
193