DAISETZ TEITARO SUZUKI
Zen und die Kultur Japans
ROWOHLT HAMBURG
Herausgeber: Ernesto Grassi Redaktion: Ursula Schw...
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DAISETZ TEITARO SUZUKI
Zen und die Kultur Japans
ROWOHLT HAMBURG
Herausgeber: Ernesto Grassi Redaktion: Ursula Schwerin Eginhard Hora / Ragni M. Gschwend München Titel der englischen Originalausgabe ‹Zen-Buddhism and its Influence on Japanese Culture› / Übertragen von Otto Fischer Umschlagentwurf Karl Gröning jr. / Gisela Pferdmenges unter Verwendung eines Bildes ‹Kuchenkorb mit Zweig der Nandina domestica› China 14. Jahrhundert, aus Fischer, Die Kunst Indiens, Chinas und Japans, Propyläen-Kunstgeschichte, mit freundlicher Genehmigung der Ostasiatischen Kunstabteilung der ehemaligen Staatlichen Museen Berlin Schriftgestaltung des Umschlages Werner Rebhuhn Satz aus der Aldus-Linotype und der Palatino (D. Stempel AG) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
1.-30. Tausend 31.-33. Tausend 34.-38. Tausend
April 1958 August 1967 Januar 1970
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg, April 1958 Leickt gekürzt herausgegeben in der Reihe ‹rowohlts deutsche enzyklopädie› mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten Printed in Germany ISBN 3 499 55066 0 Digitalisiert von Xela
INHALTSVERZEICHNIS ENZYKLOPÄDISCHES STICHWORT GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DES ZEN
234
(Zur vorherigen Lektüre empfohlene Einführung in den Problemkreis, dem das Thema entstammt)
I. DER ZEN-BUDDHISMUS UND SEIN EINFLUSS AUF DIE KULTUR JAPANS 1. EINFÜHRENDES ÜBER ZEN-BUDDHISMUS 2. ALLGEMEINES ÜBER DIE KÜNSTLERISCHE KULTUR JAPANS 3. ZEN UND DER SAMURAI 4. ZEN UND DIE SCHWERTMEISTERSCHAFT 5. ZEN UND DER TEEKULT 6. RIKYU UND ANDERE TEEMEISTER
7 17 38 67 102 133
II. DER ZEN-BUDDHISMUS UND DIE JAPANISCHE NATURLIEBE 1. KUNST UND KOSMISCHES BEWUSSTSEIN 2. STEIGERUNG DES JAPANISCHEN NATURGEFÜHLS DURCH ZEN
147 162
3. JAPANISCHE KIRSCHBLÜTEN-DICHTUNG ALS AUSDRUCK JAPANISCHER NATURLIEBE
194
ANHANG I: FRAGEN DER RELIGION UND PHILOSOPHIE ANHANG II: DAS NO-SPIEL ÜBER DEN VERFASSER LITERATURHINWEISE
208 224 243 245
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT
Franz Altheim, Münster / Henri Bedarida †, Paris (Sorbonne) / Ernst Benz, Marburg / Carl J. Burckhardt, Basel / Enrico Castelli, Rom / Francisco Javier Conde Garcia, Madrid / Alois Dempf, München / Mircea Eliade, Bukarest-Chicago / Vicente Ferreira da Silva, Sao Paulo / Hugo Friedrich, Freiburg / Hans-Georg Gadamer, Heidelberg / Eugenio Garin, Florenz / Juan Gomez Millas, Santiago de Chile / Henri Gouhier, Paris (Sorbonne) / Rudolf Großmann, Hamburg / Romano Guardini †, München / Hermann Heimpel, Göttingen / Georg Henneberg, Berlin / M. P. Hornik, Oxford / Ernst Howald †, Zürich / G. Kaschnitz Frhr. v. Weinberg †, Frankfurt-Main / Werner Kemper, Rio de Janeiro / Karl Kerényi, Zürich / Lawrence S. Kubie, Baltimore / Pedro Lain Entralgo, Madrid / Karl Löwith, Heidelberg / Arthur March †, Innsbruck / Hans Marquardt, Freiburg / Adolf Meyer-Abich, Hamburg / Alexander Mitscherlich, Heidelberg / J. Robert Oppenheimer †, Princeton / Walter F. Otto †, Tübingen / Enzo Paci, Pavia / Massimo Pallottino, Rom / Adolf Portmann, Basel / Emil Preetorius, München / Hans Rheinfelder, München / Salvatore Riccobono †, Rom / David Riesman, Harvard / Jan Romein †, Amsterdam / Fritz Schalk, Köln / Helmut Schelsky, Münster / Günter Schmölders, Köln / Percy Ernst Schramm, Göttingen / Hans Sedlmayr, Salzburg / Wilhelm Szilasi †, Freiburg / Giuseppe Tucci, Rom / Thure von Uexküll, Ulm / Giorgio del Vecchio, Rom / Centre International des Études Humanistes, Rom / Centro Italiano di Studi Umanistici e Filosofici, München / Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel / Lincombe Lodge Research Library, Boars Hill – Oxford
I. DER ZEN-BUDDHISMUS UND SEIN EINFLUSS AUF DIE KULTUR JAPANS
1. EINFÜHRENDES ÜBER ZEN-BUDDHISMUS Zen eine besondere Form des Buddhismus Es ist bekannt, daß die meisten Sachverständigen, Japaner wie Ausländer, die überhaupt unparteiisch und verständnisvoll über das sittliche, kulturelle oder geistige Leben des japanischen Volkes schrieben, von der Bedeutung des Zen-Buddhismus für den Aufbau des japanischen Wesens in gleicher Weise überzeugt sind. An anderer Stelle habe ich Äußerungen über dieses Thema von dem verstorbenen SIR CHARLES ELIOT und von SIR GEORGE SANSOM angeführt, als von zwei der jüngsten und kenntnisreichsten ausländischen Schriftsteller: die eine über japanischen Buddhismus, die andere über japanische Kultur. Es scheint mir überflüssig, mich auch noch auf ältere oder neuere japanische Autoren zu berufen, die über das Tatsächliche des Zen-Einflusses auf das Volk Japans alle gründlich unterrichtet sind. Näherliegend und notwendiger ist es, hier ein paar Worte über Zen selber zu sagen, denn ich denke, meine Leser wissen darüber nur sehr wenig. Das ist aber keine ganz leichte Aufgabe. Zen ist nämlich für jeden, der noch gar nichts darüber gehört oder gelesen hat, schwer zu begreifen, denn es erhebt den Anspruch, jenseits aller Auslegung durch Worte und Begriffe zu stehen, und es ist auch noch niemals in allgemein verständlicher Weise dargestellt worden. Diejenigen, die sich speziell mit Zen beschäftigen, möchte ich bitten,
meine früheren Arbeiten über dieses Thema zu Rate zu ziehen1. Im folgenden aber können nur die nacktesten Grundlinien aufgerissen werden, die vielleicht hinreichen mögen, ein leidliches Verständnis für seine Einwirkung auf den Charakter und die Kultur Japans zu eröffnen. Zen ist eine besondere Form des Buddhismus, die sich in China in der frühen T’ang-Zeit, das heißt im 8. Jahrhundert, entwickelt hat. Seine Ursprünge sind weit älter, es nahm mit der Ankunft BODHIDHARMAS aus Südindien in China in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts seinen Anfang. Seine Lehre unterscheidet sich nicht von der allgemeinen Lehre des Mahayana2-Buddhismus, ihr Inhalt ist kein anderer als die Predigt BUDDHAS. Allein Zen macht den Versuch, den wesentlichen Sinn der BUDDHA-Lehre den Menschen zu öffnen, indem es alles Oberflächenhafte, das sich um die Lehre des Meisters während ihrer Fortentwicklung in Indien, Zentralasien und China selber angehäuft hat, beiseiteschiebt. Dieses ‹Oberflächenhafte› mag im Ritus, in der Doktrin oder auch im Wesen der verschiedenen Rassen begründet sein. Zen aber verlangt, daß wir unmittelbar den Geist BUDDHAS erfassen.
Essays in Zen Buddhism I, II und III. 1927, 1933, 1934. Introduction to Zen-Buddhism. 1934 (deutsch unter dem Titel: Die große Befreiung. Leipzig 1939). A Manual of Zen-Buddhism. 1935. 2 Mahayana (= großes Fahrzeug), der nördliche, in China, Japan, Korea, Vietnam, Nepal usw. verbreitete Buddhismus, Hinayana (= kleines Fahrzeug) seine südliche Form, in Ceylon, Burma, Siam, Kambodscha usw. herrschend. (Anm. d. Red.) 1
Der Geist des Buddhismus Was ist nun dieser Geist? Was ist es, das die wesentliche Lehre des Buddhismus ausmacht? Es ist Prajna und Karuna. Prajna und Karuna sind Begriffe des Sanskrit, Prajna kann man als transzendentales Wissen, Karuna mit ‹Liebe› oder ‹Mitleid› übersetzen. Prajna schenkt uns die Einsicht in die Wirklichkeit der Dinge jenseits ihrer Erscheinungsformen, darum haben wir, sobald Prajna erlangt wird, eine Erkenntnis von der grundlegenden Bedeutung des Lebens und der Welt, und wir brauchen uns nicht mehr um die Anliegen und Leiden des Einzelmenschen zu bekümmern. Karuna aber ist dadurch frei geworden, ihr eigenes Wesen zu entfalten, das will sagen, daß Liebe ungehemmt von ihren selbstischen Verhüllungen sich über alle Dinge ausbreiten kann. Im Buddhismus erstreckt sie sich sogar bis zu den unbeseelten Wesen, denn der Buddhismus glaubt, alle Wesen, was immer die Form ihres gegenwärtigen Zustandes und Daseins ist, seien letzten Endes dazu bestimmt, die Buddhaschaft zu erreichen, sobald die Liebe sie durchdringt. Zen unternimmt es, Prajna zu erwecken, die gewöhnlich unter einem dicken Gewölk von Unwissenheit und Karma in uns schläft. Unwissenheit und Karma kommen daher, daß wir uns bedingungslos der Herrschaft des Verstandes ergeben haben, Zen aber revoltiert gegen diesen Zustand der Dinge. Und da das Verstandeswesen sich in Begriffen und ihrer Logik ausspricht, so verschmäht Zen die Logik und bleibt sprachlos, wenn man verlangt, daß es sich erkläre. Die Würde des Verstandes gilt erst, wenn zuvor das Wesen der Dinge erfaßt ist. Das bedeutet, daß Zen den gewohnten Lauf des Wissens umkehren will und seinen eigenen, besonderen Weg finden muß, unser Inneres zu bilden zur Erweckung der transzendentalen Weisheit (prajna).
Methode und Geist von Zen Die folgende Geschichte, die FA-YEN (gestorben 1104), ein Priester der Sung-Dynastie, berichtet, wird uns eine gute Hilfe sein, die Methode und den Geist von Zen zu begreifen, die gegen jede auf Verstand, Logik und Worte gegründete Lehre sich wenden. ‹Wenn die Leute mich fragen, was die Art von Zen sei, so möchte ich sagen, es gleiche der Art, wie die Kunst des Einbrechers erlernt wird. Einst sah der Sohn eines Einbrechers, wie sein Vater älter wurde, und dachte bei sich: Wenn er bald nicht mehr imstande ist, seinem Beruf nachzugehen, wer soll dann der Familie das Brot schaffen außer mir selber? Ich muß also sein Handwerk erlernen. Er sprach mit seinem Vater darüber, und der war einverstanden. Eines Nachts nahm der Vater den Sohn mit zu einem reichen Hause, brach durch die Mauer, drang in das Haus ein, öffnete eine der großen Truhen und hieß den Sohn hineinsteigen und die Kleider herausholen. Sowie er drinnen war, schlug der Deckel zu, und die Schlösser wurden befestigt. Der Vater ging jetzt in den Hof hinaus, pochte laut an die Tür und weckte das ganze Hauswesen auf, worauf er stillschweigend durch das Loch in der Mauer sich davonmachte. Die Hausbewohner gerieten in große Aufregung und suchten mit Kerzen nach dem Dieb, fanden aber, daß der Einbrecher schon entwischt war. Der Sohn steckte die ganze Zeit in der verschlossenen Truhe und dachte, wie grausam sein Vater an ihm gehandelt habe. Er war ganz verzweifelt, bis ihm plötzlich ein trefflicher Einfall kam. Er machte ein Geräusch wie das Nagen einer Ratte. Die Leute im Hause hießen die Magd eine Kerze nehmen und die Truhe untersuchen. Wie sie den Deckel auf schloß, stürzte der Gefangene heraus, blies das Licht aus, stieß die Magd beiseite und entfloh. Die Leute rannten ihm nach. Am Weg sah er einen Brunnen, hob einen schweren Stein auf und warf ihn
ins Wasser. Die Verfolger sammelten sich alle um den Brunnen und suchten den Einbrecher herauszuholen, der, wie sie meinten, im Dunkeln sich selbst ertränkt hätte. Inzwischen aber kehrte er heil in seines Vaters Haus zurück. Er machte dem Vater schwere Vorwürfe, daß er so mit knapper Not davongekommen war. Sprach der Vater: Nichts für ungut, mein Sohn, erzähl mir, wie du es angestellt hast! Als der Sohn ihm nun sein ganzes Abenteuer berichtet hatte, bemerkte der Vater: Du bist so weit, du hast meine Kunst gelernt.› Diese Radikalmethode, die Kunst des Einbrechers zu lehren, ist ein gutes Beispiel für die Methodenlehre von Zen. Wenn ein Schüler den Meister bittet, ihm Zen zu erklären, so schlägt dieser ihm vielleicht ins Gesicht und schreit ihn an: ‹Was für ein nichtsnutziger Bursche bist du!› Wenn einer zum Meister kommt und sagt: ‹Ich habe einen Zweifel über die Wahrheit, die uns von den Fesseln der Leidenschaften befreien soll›, oder ähnliche Fragen stellt, so führt ihn der Meister vielleicht vor die versammelte Mönchsgemeinde und erklärt: ‹Schaut her, ihr Mönche, hier ist einer, der einen Zweifel hegt!› Er verbannt vielleicht den armen Mönch aus seiner Gegenwart und zieht sich gleichgültig in seine Behausung zurück. So scheint es, als wäre Zweifeln ein Verbrechen oder mindestens etwas, womit man sich ja nicht abgeben dürfe, während doch ein jeder frei und ungehindert alles selber zu prüfen hat. Und wenn der Meister gefragt wird, ob er die Buddhalehre verstehe, wird er sagen: ‹Nein, ich verstehe sie nicht.› Und weiter befragt, wer denn die Buddhalehre verstehe, deutet er bloß auf den Holzpfeiler vor seiner Hütte. Wenn der Zen-Meister seine Logik veranschaulichen will, widerspricht er grundsätzlich der gewohnten Weise, zu denken und zu bewerten. Da heißt es nicht nur: ‹Schön ist häßlich, und häßlich ist schön›, sondern ‹du bist ich, und ich bin du›. Tatsachen gibt es nicht,
und Worte werden auf den Kopf gestellt. Um zu zeigen, wie entgegengesetzt die Zen-Methode der Erörterung unserer gewohnten Weise der Überlegung ist, gebe ich im ersten Anhang ein oder zwei Beispiele aus einem Zen-Text.
Zentrale Bedeutung persönlicher Erfahrung Der japanische Fechtmeister bedient sich zuweilen der Zen-Methode im Unterricht. Als einst ein Schüler zu einem Meister kam, um die Fechtkunst zu erlernen, erklärte sich der Meister, der sich in eine Hütte in den Bergen zurückgezogen hatte, bereit, ihn zu lehren. Er hielt den Schüler dazu an, Reisig zu sammeln, Wasser aus der Quelle zu holen, Holz zu spalten, Feuer zu machen, Reis zu kochen, die Stube und den Garten zu kehren und überhaupt für den ganzen Haushalt zu sorgen. In der Fechtkunst gab er ihm keinerlei rechte Unterweisung. Nach einiger Zeit wurde der junge Mensch unzufrieden, denn er war nicht gekommen, um dem alten Herrn als Knecht zu dienen, sondern um die Kunst des Schwerts zu erlernen. So trat er eines Tages zu seinem Meister und bat ihn um Unterricht. Dem war es recht. In der Folge aber konnte der junge Mann gar keine Arbeit in Ruhe mehr verrichten. Denn wenn er früh am Morgen den Reis zu kochen anfing, erschien der Meister und schlug ihn von hinten mit dem Stock. Wenn er mitten im Kehren war, spürte er plötzlich wieder einen Hieb von irgendwoher, aus unbekannter Richtung. Er hatte keinen Frieden mehr, hatte fortwährend sich in acht zu nehmen. Ein paar Jahre vergingen, bis er mit Erfolg einem Hieb ausweichen konnte, von wo immer er kommen mochte. Aber der Meister war noch immer nicht recht mit ihm zufrieden. Eines Tages war der Meister dabei, sein eigenes Gemüse am Feuer zu kochen. Der Schü-
ler dachte, nun wolle er auch einmal die Gelegenheit nutzen. Er griff nach seinem großen Stock und schlug ihn dem Meister, der sich gerade über den Kochtopf beugte, um den Inhalt umzurühren, über den Kopf. Doch der Meister parierte den Stock mit dem Topfdeckel. Nun ging dem Schüler das Geheimnis der Kunst auf, das ihm bisher verborgen und fremd geblieben war. Jetzt zum erstenmal erkannte er, wie klug und freundlich der Meister sich gegen ihn bezeigte. Hierin liegt etwas von der Schulungsweise, die Zen eigentümlich ist und darin besteht, jede Wahrheit, welcher Art sie auch sei, persönlich zu erfahren, ohne irgendeine verstandesmäßige, systematische oder theoretische Lehre. Diese befaßt sich nur mit technischen Einzelheiten, bleibt daher an der Oberfläche und führt nie in den Mittelpunkt ihres Gegenstandes. Die theoretische Bemühung mag ausgezeichnet sein, um Baseball zu spielen, Fabriken zu bauen, Festungen zu errichten, Industriewaren oder Mordinstrumente der verschiedensten Art zu erzeugen, sie genügt aber nicht, um Kunstwerke zu schaffen oder etwas hervorzubringen, das ein unmittelbarer Ausdruck der Menschenseele ist oder ein Leben zu führen, das seine eingeborene, innerste Bestimmung erfüllt. In der Tat ist alles, was mit dem Schöpferischen im wahren Sinne zu tun hat, ‹unübertragbar›, das heißt jenseits des unterscheidenden Verstandes. Daher der ZenWahrspruch: ‹Kein Verlaß auf Worte!›
Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Zen In dieser Hinsicht ist Zen allem, was Wissenschaft oder wissenschaftlich heißt, entgegengesetzt. Zen ist persönlich, Wissenschaft unpersönlich. Das Unpersönliche ist abstrakt und hat mit der Erfahrung des Einzelmenschen nichts zu schaffen. Das Persönliche ist ganz
dem einzelnen zu eigen und bedeutet gar nichts ohne das eigene Erlebnis. Wissenschaft bedeutet Systematik, und Zen ist genau das Gegenteil. Worte sind notwendig für Wissenschaft und Philosophie, aber sie sind ein Hindernis für Zen. Warum? Weil Worte Vorstellungen und nicht Wirklichkeiten sind, aber Wirklichkeiten das, was Zen am höchsten bewertet. Wenn Zen sich der Worte bedient, so haben sie ihm keinen höheren Wert als Geldmünzen für den Handel. Wir können kein Geld anziehen, um uns vor der Kälte zu schützen, wir können kein Geld essen, um Hunger oder Durst zu stillen. Geld muß in wirkliche Speisen, wirkliche Wolle und wirkliches Wasser umgesetzt werden, um einen wirklichen Wert für das Leben zu gewinnen. Wir vergessen fortwährend diese einfache Wahrheit und sammeln immer wieder das Geld zu Haufen. Ganz ebenso lernen wir Worte auswendig, spielen mit Vorstellungen und halten uns deshalb für weise. Weise sind wir vielleicht, aber diese Art Weisheit ist wertlos gegenüber den Wirklichkeiten des Lebens. Hätte sie einen Wert, müßte dann nicht das Tausendjährige Reich schon gekommen sein?
Überlegenheit intuitiven Wissens Im großen ganzen genommen gibt es drei Arten von Wissen. Die erste gewinnt man durch Lesen oder Hören, sammelt sie im Gedächtnis und hält sie gewöhnlich für einen wertvollen Besitz; die Masse des sogenannten Wissens ist von dieser Art. Wir können nicht über die weite Erde wandern und alles selber prüfen, darum sind wir für das Wissen von der Erde auf eine Karte angewiesen, die andere für uns ausgearbeitet haben. Die zweite Art Wissen ist das, was man unter Wissenschaft zu verstehen pflegt. Dies ist das Ergebnis von Beobachtungen und Versuchen, Analyse und Spekulation. Sie besitzt
eine festere Grundlage als die erste Art, denn hier ist in einem gewissen Umfang etwas Persönliches und Selbsterlebtes. Die dritte Art Wissen wird durch ein intuitives Begreifen erlangt. Für alle, die an der zweiten Art Wissen hängen, hat die intuitive Wissensform keine feste Grundlage in Tatsachen und ist daher nicht unbedingt verläßlich. Aber in Wirklichkeit ist das sogenannte wissenschaftliche Begreifen keineswegs erschöpfend und bedarf immer neuer Berichtigung, denn es ist auf den Umkreis seiner eigenen Grenzen eingeschränkt. Wenn ein Notfall eintritt, namentlich ein persönlicher Notfall, so haben Wissenschaft und Logik keine Zeit mehr, auf ihren Vorrat von Wissen und Berechnung zurückzugreifen, auch das Gedächtniswissen ist nicht zur Hand, denn dem Verstand kann es mißlingen, alles das früher im Gedächtnis Aufgespeicherte heraufzurufen. Das intuitive Wissen aber bildet die Grundlage einer jeden Art von Glauben, vor allem des religiösen Glaubens, und mit sicherer Wirkung, mit gewissem Erfolg steht es auf und meistert die Not. Was Zen erreichen will, ist diese dritte Art Wissen, die tief in die Wurzeln des eigenen Daseins hinabreicht, oder besser: die aus den Tiefen unseres eigenen Wesens emporwächst. Ich bin ein wenig vom Thema abgeschweift. Allein diese grundsätzliche Einstellung von Zen gegenüber dem Verstandesmäßigen, soweit es sich darum handelt, den Geist des Buddhismus wirklich zu machen, erklärt uns, wie in der geistigen Zen-Atmosphäre bestimmte bezeichnende Gedanken- und Gefühlsrichtungen den Dingen der Welt gegenüber entstanden sind, nämlich: 1. Seine Konzentration auf den Sinn führt zur Vernachlässigung der Form. 2. Oder besser: in den Formen jeglicher Bezeichnungsweise entdeckt es die Gegenwart des Sinnes.
3. Die mangelhafte oder unvollkommene Form scheint ihm besser geeignet, den Sinn auszusprechen, denn die Vollkommenheit der Form lenkt die Aufmerksamkeit auf die Form selber und nicht auf ihre innere Wahrheit. 4. Die Verachtung der Form aber, des Konventionellen und Rituellen führt den Sinn dahin, daß er in seiner Nacktheit oder Einsamkeit ganz in sich selber steht. 5. Diese transzendentale Erhabenheit oder Einsamkeit des Unbedingten ist der Geist der Askese, der die Ausschaltung jeder möglichen Spur des Unwesenhaften bezweckt. 6. Einsamkeit, in die Sprache des Weltlebens übertragen, bedeutet Nichthaften und Freiheit. 7. Wenn Einsamkeit im buddhistischen Sinn des Worts unbedingt geworden ist, versetzt sie sich selber in alle Dinge, vom geringsten Gras auf dem Felde bis zu den höchsten und herrlichsten Erscheinungen der Welt. Nach dieser Einführung möchte ich auf den folgenden Seiten die Rolle behandeln, die der Zen-Buddhismus in der Formung der japanischen Kultur und des japanischen Wesens gespielt hat. Diese zeigt sich besonders in den Künsten ganz allgemein, in der Entwicklung des Bushido (‹des Weges der Krieger›), im Studium und der Ausbreitung der konfuzianischen Lehre wie überhaupt der Erziehung, und im Aufkommen des Teekults. Auch auf einige andere Punkte wird bei Gelegenheit hinzuweisen sein.
2. ALLGEMEINES ÜBER DIE KÜNSTLERISCHE KULTUR JAPANS
Zens Beitrag zum Aufbau der japanischen Kultur Nach den oben gegebenen Erläuterungen der geistigen Atmosphäre, die von Zen ausgeht, wollen wir versuchen, den Beitrag zu begreifen, den Zen zum Aufbau der japanischen Kultur geleistet hat. Es ist eine bezeichnende Tatsache, daß alle anderen Schulen des Buddhismus ihren Einfluß fast ganz auf das geistliche Leben unseres Volkes beschränkt haben. Zen ist darüber hinausgegangen. Zen ist innerlich eingedrungen in jede Phase des kulturellen Lebens in Japan. In China war dies nicht notwendig der Fall. Zen hat sich hier in großem Umfang mit dem Glauben und der Praxis des Taoismus verbunden, auch mit den sittlichen Lehren des Konfuzianertums, aber es hat die Kultur Chinas nicht so tief berührt, wie dies in Japan geschehen ist. – Liegt es vielleicht an der rassischen Eigenart des japanischen Volkes, daß Zen so intensiv und gründlich von ihm aufgenommen wurde, daß es so innerlich auf sein Leben eingewirkt hat? – Immerhin ist auch in China die bemerkenswerte Tatsache nicht zu übersehen, daß Zen der Entwicklung der chinesischen Philosophie unter der Sung-Dynastie und auch der Entfaltung einer bestimmten Schule der Malerei einen starken Antrieb gegeben hat. Eine große Zahl von Werken dieser letzteren wurde seit der Kamakura-Zeit1 im 13. Jahrhundert nach Japan gebracht, als ein beständiges Hinund Herreisen der Zen-Priester zwischen den beiden Ländern vor sich ging. Die Bilder der Südlichen Sung fanden so ihre glühendsten Bewunderer auf dieser Seite des Meeres und gehören heute zu den 1
Ende des 12. bis Mitte des 14. Jahrhunderts. (Anm. d. Red.)
japanischen Nationalschätzen, während man in China keine Beispiele dieser Art Malerei mehr findet. Bevor wir weitergehen, mögen einige allgemeine Bemerkungen über eine besondere Eigentümlichkeit der japanischen Kunst am Platze sein, die mit der Weltanschauung von Zen eng verknüpft, ja, letzten Endes aus ihr abzuleiten ist. Unter den für das japanische Kunstschaffen besonders charakteristischen Zügen ist der sogenannte ‹Eineckstil› zu erwähnen, der von MA YUAN, einem der größten Meister der Südlichen Sung, ausgegangen ist. Dieser ‹Eineckstil› ist psychologisch verknüpft mit der japanischen Malertradition des sparsamen Pinsels, die darauf ausgeht, mit der kleinstmöglichen Anzahl von Linien oder Strichen sichtbare Formen auf der Seide oder dem Papier festzuhalten. Beides ist ganz in Harmonie mit dem Zen-Geist. Ein einfaches Fischerboot mitten im leichtgewellten Wasser ist genug, um im Sinn des Betrachters ein Gefühl der Weite des Meeres und zugleich des Friedens und der inneren Stille aufzuwecken – das Zen-Gefühl der tiefen Einsamkeit. Scheinbar schwebt das Boot hilflos in der Weite. Es ist ein höchst primitives Fahrzeug ohne mechanische Einrichtung, die es stabil und kühn über die wilden Wogen zu steuern erlaubt, ohne wissenschaftliches Gerät, um allen Unbilden des Wetters zu trotzen – ganz im Gegensatz zum modernen Dampfer von soundsoviel Tonnen. Aber gerade in dieser Hilflosigkeit liegt die Stärke des Fischerboots, und im Gegensatz zu ihr empfinden wir die Unbegreiflichkeit des Unbedingten, das über das Boot und alle Dinge regiert. Oder: ein einsamer Vogel auf dem dürren Zweig, an dem kein Strich, keine Schattierung, kein Fleckchen zuviel ist, genügt vollkommen, uns die Verlorenheit eines Herbsttages fühlen zu lassen, wenn das Licht karger wird und die Natur die Prachtgewänder ihres üppigen Som-
merwachstums abzulegen beginnt2. Vor einem solchen Bild wird man nachdenklich und empfindet die Veranlassung, den Blick auf das innere Leben zu lenken. Und wenn man diesem sich zuwendet, breitet es all seine reichen Schätze willig vor unsere Augen.
Der Hang zum ‹einfachen Leben› Hier sehen wir ein Erkennen des transzendental Erhabenen inmitten des tausendfach Mannigfaltigen – das, was das Wörterbuch der japanischen Kulturbegriffe ‹Wabi› nennt. ‹Wabi› heißt eigentlich ‹Armut› oder, negativ ausgedrückt, ‹der feinen Gesellschaft fremd sein›. Arm sein, das heißt unabhängig sein von den Dingen der Welt, Reichtum, Macht und Ansehen, und doch im Innersten die Gegenwart eines Etwas empfinden, das hoch über Zeit und Rang den Wert des Unbedingten besitzt – das ist die wesentliche Bedeutung von Wabi. Will man es in Worten des täglichen Lebens ausdrücken, so heißt Wabi, mit einer kleinen Hütte zufrieden sein, mit einem Raum von zwei oder drei Tatami (Matten) gleich der Hütte THOREAUS3, und mit einem Pflanzengericht, das man auf dem nächsten Feld aufgelesen hat, und vielleicht dem Tropfenfall eines zarten Frühlingsregens lauschen. Später will ich noch etwas mehr über Wabi sagen, hier aber nur feststellen, daß die Liebe zu Wabi tief in die Kultur des japanischen Volkes eingedrungen ist. Es ist in Wahrheit die VerÜber Bilder ähnlicher Art vgl. meine Zen-Essays II und III. Hier ist das ‹Fischerboot› als eines der bezeichnendsten Beispiele abgebildet. 3 HENRY DAVID THOREAU (1817–1862), amerikanischer Philosoph und Schriftsteller, verbrachte 2 Jahre in völliger Einsamkeit in einer Blockhütte am Walden-See und berichtete darüber in seinem berühmten Tagebuch: ‹Walden or the Life in the Woods›. (Anm. d. Red.) 2
ehrung der Armut – vermutlich ein höchst angebrachter Kultus in einem armen Lande wie dem unseren. Bei allem modernen Luxus und allen Annehmlichkeiten des Westens, die über uns gekommen sind, haben wir immer noch eine unausrottbare Sehnsucht nach der Liebe zu Wabi. Sogar im geistigen Leben streben wir nicht nach Reichtum der Gedanken, nicht nach Glanz oder Strenge in der Führung von Ideengängen und im Aufbau philosophischer Systeme. Still zufrieden zu sein in der mystischen Anschauung der Natur und mit dem weiten All sich eins zu fühlen, scheint uns ein tiefer beglückendes Geschäft, zum wenigsten manchen von uns. So ‹zivilisiert› wir sein mögen und aufgewachsen in einer künstlichen Umwelt, haben wir doch wohl alle eine angeborene Sehnsucht nach schlichter Einfachheit, die dem natürlichen Lebenszustand nahe bleibt. Darum schlagen die Stadtmenschen im Sommer ihr Zelt in den Wäldern auf oder wandern in die Einöden oder suchen die unbetretenen Pfade. Wir möchten ab und zu heimkehren an den Busen der Natur und ihren Herzschlag unmittelbar vernehmen. Die ZenGeistesrichtung, die alle künstlichen Formen der Menschheit durchbricht und festhalten möchte, was hinter ihnen liegt, hat den Japanern geholfen, daß sie den Mutterboden nicht verloren, sondern mit der Natur immer auf freundschaftlichem Fuße blieben und ihre ungekünstelte Einfalt zu schätzen wissen. Zen hat keinen Geschmack an Kompliziertheiten, die an der Oberfläche des Lebens liegen. Das Leben selber ist einfach genug, nur wenn es vom Verstand aus betrachtet wird, bietet es dem analysierenden Geist einen Anblick von unglaublicher Verworrenheit. Mit dem ganzen Kontrollapparat der Wissenschaft haben wir die Geheimnisse des Lebens noch nicht ergründet. Schwimmen wir aber selber in seinem Strom, so glauben wir es in all seiner scheinbaren Unendlichkeit der Vielfalt
und Verwicklungen doch zu begreifen. Sehr wahrscheinlich ist es der eigentümlichste Zug an der Menschheit des Ostens, daß sie das Leben von innen statt von außen erfassen möchte. Und Zen hat gerade in diese Kerbe geschlagen. Eine Mißachtung der Form ergibt sich, wenn die Allbedeutung des Geistes zu sehr beachtet oder betont wird. Auch der ‹Eineckstil› und die Sparsamkeit mit dem Pinselstrich tragen dazu bei, das Sicherhabenfühlen über konventionelle Regeln zu fördern. Wo man erwarten möchte, einen Linienzug, eine Masse, ein Gegengewicht zu finden, da fehlt es, und doch verursacht gerade dies ein unverhofftes Gefühl der Befriedigung. Trotz aller Mängel und Unebenheiten, die gewiß nicht fehlen, empfindet man sie doch nicht als solche, und gerade dieses Unvollendete wird zu einer Form des Vollendeten. Offenbar bedeutet Schönheit nicht notwendig Vollendung der Form. Dies ist ein beliebter Kunstgriff der japanischen Meister gewesen: Schönheit in der Gestalt des Unvollendeten oder sogar des Häßlichen zu verkörpern. Wo diese Schönheit des Unvollendeten mit dem Altertümlichen oder Ungehobelt-Ursprünglichen verbunden ist, findet man den Hauch des Sabi, das die japanischen Kenner so hoch schätzen. Altertümliches und Ursprüngliches brauchen nicht zeitgemäß zu sein. Wenn ein Kunstwerk auch nur oberflächlich das Gefühl des Vergangenen aufweckt, liegt Sabi in ihm. Sabi besteht in ländlicher Anspruchslosigkeit oder archaischer Unvollkommenheit, anscheinender Schlichtheit oder Mühelosigkeit der Ausführung und Reichtum an historischen Erinnerungen – die aber nicht immer vorhanden sein müssen –, und letzten Endes hat es etwas Unerklärbares in sich, das dem betreffenden Werk den Rang einer künstlerischen Schöpfung verleiht. Man pflegt eben dieses aus dem Zen-Charakter abzuleiten.
Die Geräte, die man im Teeraum verwendet, sind zumeist von dieser Art. Das künstlerisch Wesenhafte, das Sabi ausmacht – wörtlich bedeutet dies Alleinsein oder Einsamkeit – hat ein Teemeister mit folgenden Versen angedeutet: ‹Wenn ich herauskomme In dies Fischerdorf Spät am herbstlichen Tag, Da finde ich keine Blumen Und kein leuchtendes Ahornlaub.4› Einsamkeit lenkt in der Tat zur Beschaulichkeit und eignet sich nicht zu irgendeiner Schaustellung. Sie mag höchst armselig, unbedeutend und erbarmungswürdig aussehen, besonders wenn man sie gegen eine moderne oder abendländische Umgebung stellt. Allein sein ohne wehende Fahnen und krachendes Feuerwerk, allein unter unendlich wechselnden Formen und Farben – das ergibt eigentlich überhaupt nichts Sehenswertes. Man nehme irgendeine japanische Sumi-ye-(Tusche-) Skizze, vielleicht mit HAN-SHAN und SHI-TE5, und hänge sie in eine europäische oder amerikanische Gemäldegalerie, so wird man sehen, ob sie irgendeine Wirkung auf den Sinn der Besucher ausübt. Das Ideal der Einsamkeit ist dem Osten eigentümlich und ist nur da heimisch, wo es entstanden ist. Nicht allein das Fischerdorf am herbstlichen Abend entspringt diesem Gefühl der Einsamkeit, auch ein Flecken Grün im beginnenden Frühling – und vielleicht drückt dieses noch besser als jenes das 4 5
Von FUJIWARA SADAIYE (1162 – 1241). Zen-Dichter und Einsiedler der T’ang-Dynastie.
Ideal des Sabi oder Wabi aus. Denn in dem grünen Fleckchen liegt die Andeutung des Lebenstriebs mitten in der winterlichen Öde, wie man im folgenden Einunddreißigsilbengedicht liest: ‹Wer allein nach der Kirschenblüte sich sehnt, Dem möchte ich den Frühling zeigen, Wie er aus einem Fleckchen Grün aufglänzt Inmitten des schneebedeckten Dorfs in den Bergen.6› Dies stammt von einem der alten Teemeister und spricht vollkommen das Sabi aus, als den leitenden Grundsatz des Teekults, des Chano-yu. Ein ganz schwaches Beginnen der Lebenskraft äußert sich in der Form eines winzigen Fleckens Grün, aber wer ein Auge hat, zu sehen, kann darin sogleich den Frühling spüren, der unter der dichten Schneedecke sich schon emporhebt. Es ist vielleicht nur eine Ahnung, die hier sein Herz berührt, aber dennoch ist es das Leben selber und nicht bloß ein schwaches Zeichen seiner Macht. Für den Künstler liegt darin das Leben in seiner vollen Kraft und nicht weniger, als wenn das ganze Feld mit Grün und Blüten bedeckt wäre. Man kann dies als die mystische Einstellung des Künstlers ansehen.
6
Von FUJIWARA IYETAKA (1158 – 1237).
Vorliebe für das Asymmetrische Asymmetrie ist ein anderer Zug, der die japanische Kunst kennzeichnet. Dieser Grundsatz ist ohne Zweifel aus dem ‹Eineckstil› des MA YUAN abgeleitet. Die klarsten und ausdrucksvollsten Beispiele findet man in den Grundrissen der buddhistischen Tempel. Hier liegen vielleicht die Hauptgebäude wie das hochgetürmte Tor, die Dharma-Halle, die Buddha-Halle und andere in einer geraden Flucht, allein die ergänzenden oder minder wichtigen Baulichkeiten, oft sogar die wichtigsten, sind nicht symmetrisch wie Flügel zu beiden Seiten der Achse angeordnet. Sie liegen meist unregelmäßig über den Klosterbezirk verstreut, je nach den Besonderheiten des Geländes. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man einige buddhistische Tempel in den Bergen besucht, zum Beispiel den Schrein des Jyeyasu in Nikko. Es darf gesagt werden, daß Asymmetrie charakteristisch für diesen Teil der japanischen Baukunst ist. Ein Zeugnis dafür ist auch der Aufbau des Teeraums. Blicken wir nur zur Decke empor, so ist sie auf mindestens drei verschiedene Arten ausgeführt, oder auf die Gerätschaften, die zur Bereitung und zum Genuß des Tees dienen, oder auch auf die Anordnung der Wegsteine und Steinpforten im Garten. Da finden wir ebenso viele Beispiele von Asymmetrie oder sozusagen von Unvollkommenheit oder vom ‹Eineckstil›. Manche japanische Psychologen versuchen diese Vorliebe unserer Künstler für das unsymmetrisch Geformte, dieses Widerstreben gegen die regelhaften oder besser geometrischen Kunstgesetze durch die Theorie zu erklären, die Menschen seien dazu erzogen worden, sich nirgends aufzudrängen, sondern eher im Hintergrund zu bleiben, gleichsam sich selber zu verwischen, und die so entstandene Gesinnung der Selbstauslöschung zeige sich nun in der Kunst
darin, daß der Künstler die wesentliche Mitte einfach leer lasse. Meiner Ansicht nach ist diese Theorie nicht ganz zutreffend. Ist die Erklärung nicht viel einleuchtender, daß der künstlerische Genius des japanischen Volkes durch die Zen-Anschauung geformt worden ist, nach der jedes Einzelding in sich selber vollkommen ist und zugleich das Wesen der Ganzheit in sich verkörpert, das dem All-Einen zugehört? Das Prinzip einer asketischen Ästhetik ist nicht so grundlegend wie das der Zen-Ästhetik. Die künstlerischen Impulse sind ursprünglicher oder tiefer eingeboren als die moralischen Antriebe. Die Kunst spricht unmittelbarer zum Wesen des Menschen. Die Sittenlehre setzt Regeln, aber die Kunst ist schöpferisch. Das eine ist ein Anspruch von außen her, das andere ein ununterdrückbares Sichäußern des Inneren. Zen ist unlösbar verbunden mit der Kunst, nicht aber mit einer Sittenlehre, Zen kann ohne Moral bleiben, aber nicht ohne Kunst. Wenn der japanische Künstler Dinge schafft, die vom Standpunkt der Form unvollkommen sind, und wenn er sogar geneigt ist, den künstlerischen Antrieb dazu dem beliebten Begriff eines moralischen Asketentums zuzuschreiben, so brauchen wir seiner eigenen Auslegung so wenig wie der der Kenner allzuviel Gewicht beizulegen. Unser bewußtes Verhalten ist im allgemeinen kein sehr verläßlicher Maßstab der Beurteilung. Mag es damit wie immer bestellt sein, so bleibt die Asymmetrie gewiß ein bezeichnendes Merkmal japanischer Kunst. Das ist auch einer der Gründe, daß eine gewisse Leichtigkeit und Anmut den japanischen Werken eigentümlich ist. Symmetrie erzeugt ein Gefühl von Schönheit, Würde und Eindrücklichkeit ebenso wie die formale Logik oder der Aufbau abstrakter Gedankensysteme. Die Japaner gelten vielfach nicht für verstandesmäßig und philosophisch einge-
stellt, weil ihre Kultur im ganzen nicht so vom Verstande aus gestaltet und durchdrungen ist. Diese Beobachtung hängt, glaube ich, mit der japanischen Vorliebe für das Asymmetrische zusammen. Der Verstand strebt seinem Wesen nach zum Gleichgewicht, und der Japaner ist imstande, darauf gar nicht zu achten, ja, dem Unausgeglichenen mit Vorliebe sich zuzuneigen. Unausgeglichenheit, Asymmetrie, ‹Eineckstil›, Armut, Vereinfachung, Sabi oder Wabi, Einsamkeit und andere verwandte Ideale als die offenbaren und bezeichnendsten Wesenszüge japanischer Kunst und Kultur – sie alle sind Ausstrahlungen des einen zentralen Gedankens der Zen-Wahrheit: des Einen in Allem und des Alls in dem Einen.
Die Klöster als Zentren geistiger und künstlerischer Bildung Eine der Ursachen, daß Zen die künstlerischen Impulse des japanischen Volks angeregt und gesteigert, daß es ihre Schöpfungen mit seinen Idealen durchdrungen hat, liegt in folgenden Tatsachen. Die Zen-Klöster waren die Mittelpunkte der Bildung und der Kunst zum mindesten während der Kamakura- und der Ashikaga-Zeit7. Die Zen-Priester hatten dauernd Gelegenheit, mit fremden Kulturwelten in Berührung zu stehen. Das Volk im allgemeinen und besonders die herrschende Klasse suchte bei den Zen-Priestern Vorbild und Antrieb ihrer schöpferischen Betätigung. Diese selber waren Gelehrte, Künstler und Mystiker. Sie wurden sogar von den staatlichen Machthabern darin unterstützt, daß sie Reisen unternahmen und die ausländischen Erzeugnisse von Kunst und Handwerk nach Ja7
15. Jh. bis Mitte des 16. Jhs. (Anm. d. Red.)
pan brachten. Die Aristokratie und die politisch einflußreichen Klassen Japans waren die Förderer ihrer Einrichtungen und unterwarfen sich selber gern den Zen-Übungen. So übte Zen nicht bloß unmittelbar auf das religiöse Leben Japans, sondern auch in stärkster Weise auf die Kultur überhaupt seinen Einfluß aus. Die Tendai-, die Shingon- und die Jodo-Schule8 haben vor allem dazu beigetragen, die Japaner von Grund aus mit dem Geist des Buddhismus zu durchtränken. Durch ihr Bilderwesen haben sie das Gefühl für Plastik, farbenprächtige Malerei, Baukunst, edle Gewebe und die Metallarbeit stark entwickelt. Allein die Tendai-Philosophie ist zu abstrakt und verworren, um von der Menge begriffen zu werden, das Shingon-Ritual zu reich ausgestaltet, zu verwickelt und daher auch zu kostspielig, um volkstümlich zu sein. Shingon und Tendai haben herrliche Bildwerke, Gemälde und kunstvolle Gerätschaften für ihren täglichen Gottesdienst geschaffen. Die berühmtesten ‹Kunstschätze der Nation› stammen aus der Tempyo-, der Nara- und der Heian-Periode9, während deren diese beiden buddhistischen Schulen im Aufblühen waren und mit den gebildeten Volkskreisen in enger Verbindung standen. Die Jodo-Schule verkündigt die Lehre vom Reinen Lande, mit all seinem Glanz des Buddhas des unendlichen Lichtes und seines Gefolges von Bodhisattvas, und sie begeisterte so die Künstler zu den wundervollen Amida-Bildern, die verschiedene buddhistische Tempel Japans bewahren. Nichiren- und Shin-Schule sind Schöpfungen rein japanischer Religiosität. Nichiren hat unserer Kunst und Kultur keinen besonderen Antrieb gegeben; die Shin-Schule ist eher bilderfeindlich gewesen und hat an
Diese sind mit der Shin- und Nichiren-Schule die bedeutendsten Schulen des japanischen Buddhismus. 9 Anfang des 8. bis Ende des 12. Jhs. (Anm. d. Red.) 8
Kunst und Literatur nichts Nennenswertes hervorgebracht mit Ausnahme der Wasan-Gesänge und der Sendschreiben, besonders des Rennyo (1415 – 1499). Zen ist nach Shingon und Tendai nach Japan gekommen und sogleich von der Kriegerklasse begeistert aufgenommen worden. Es war mehr oder weniger ein geschichtlicher Zufall, daß Zen der vornehmen Priesterschaft entgegentrat. Der hohe Adel wollte anfangs auch von der neuen Lehre nichts wissen, benutzte seinen politischen Einfluß und setzte sich Zen entgegen. Im Anfang der japanischen Zen-Geschichte hielt sich Zen darum fern von der Hauptstadt Kyoto und begründete seinen Hauptsitz unter dem Schutze des Hojo-Hauses in Kamakura. Dieses als der damalige Mittelpunkt der Feudalregierung wurde auch zum Hauptquartier der Zen-Schulung. Viele Zen-Priester aus China ließen sich in Kamakura nieder und fanden die mächtigste Förderung durch HOJO TOKIYORI, HOJO TOKIMUNE, ihre Nachfolger und Gefolgsleute. Die chinesischen Meister brachten viele Kunstwerke und Künstler mit sich in das Land, und die Japaner, die aus China zurückkehrten, trugen ebenfalls Werke der Kunst und Literatur nach Hause. Bilder von MU-CH’I, LIANG K’AI, MA YUAN und anderen fanden so ihren Weg nach Japan, Handschriften der berühmten chinesischen Zen-Meister gelangten ebenso in unsere Klöster. Die Schrift ist in Ostasien eine Kunst so gut wie die Sumi-ye-(Tusche-)Malerei, sie wurde unter den gebildeten Klassen in der alten Zeit ganz allgemein geübt und geehrt. Der Geist, der aus den Zen-Bildern und Zen-Schriften sprach, machte den stärksten Eindruck auf sie, er fand bereitwillige Aufnahme und Nachfolge. In ihm ist etwas Mannhaftes und Unerschütterliches. Die milde, verfeinerte und anmutvolle – man möchte fast sagen weibliche – Manier, die in den Zeiten
vor der Kamakura-Periode vorgeherrscht hatte, weicht jetzt dem männlichen Ideal, das vor allem in der Plastik und der Schrift dieser Zeit seinen Ausdruck findet. Die rauhe Mannhaftigkeit, die den Kriegern der Kwanto-Gegenden eigen ist, ist sprichwörtlich geworden und steht in schroffem Gegensatz zu der Anmut und Verfeinerung der Hofleute von Kyoto. Dieses ritterliche Wesen, das seine mystische Geistesrichtung, seine Erhabenheit über weltliche Geschäfte betont, legt den höchsten Wert auf die Willenskraft. In dieser besonderen Hinsicht geht Zen Hand in Hand mit dem Geiste des Bushido. Dazu kommt ein anderer Zug der Zen-Schulung oder besser des klösterlichen Lebens, in dem Zen sein Lehrsystem durchführt. Da das Kloster zumeist in den Bergen liegt, so stehen seine Insassen in der innigsten Verbindung mit der umgebenden Natur, sie sind ihre nahen, mitfühlenden Schüler und Erforscher. Sie beobachten die Gewächse, die Vögel, das Wild, die Felsen, die Bäche und alle die Naturerscheinungen, die dem Menschen in der Stadt fremd und unbeachtet bleiben. Und das Eigentümliche ihrer Beobachtung ist es, daß diese ihre Weltanschauung oder besser ihre Intuition tiefsinnig widerspiegelt. Es ist nicht die eines bloßen Naturforschers. Sie dringt in das Leben der Dinge selber ein, mit denen der Mönch sich beschäftigt. Was für ein Stück Natur er malend wiedergeben mag, es muß unweigerlich seine Intuition aussprechen. Den Geist der Berge spürt man leise atmend in seinen Werken. Die grundlegende Anschauung, welche die Zen-Meister durch ihre Schulung gewinnen, regt offenbar ihre künstlerische Begabung an, wenn sie überhaupt Sinn für die Kunst besitzen. Das intuitive Schauen scheint eng mit dem Gefühl für Kunst verbunden zu sein, das die Meister veranlaßt, Schönheit zu erschaffen, das heißt den Sinn für Vollkommenheit selbst durch das Häßliche und Unvollkommene
auszusprechen. Die Zen-Meister geben vielleicht keine guten Philosophen ab, jedoch sehr häufig edle und große Meister der Kunst, sogar ihr technisches Können ist sehr oft vom höchsten Range. Dazu aber verstehen sie, uns gerade das Einzigartige und Ursprüngliche zu vermitteln. Ein Beispiel dafür ist MUSÔ, der ‹Lehrer der Nation› (1275 – 1351), zur Zeit des ‹nördlichen› und ‹südlichen Hofes› im 14. Jahrhundert. Er war ein feiner Schriftkünstler und ein großer Landschaftsgärtner. Wo immer er sich niederließ, an einer Reihe von Orten in Japan, entwarf er herrliche Gärten, von denen einzelne noch vorhanden und durch den Wechsel der Zeiten wohlerhalten geblieben sind. Unter den bekannten Zen-Malern des 14. und 15. Jahrhunderts sind CHO DENSU (gestorben 1431), REISAI (wirkte um 1435), JŌSETSU (1410), SHUBUN (wirkte 1414 – 1465), SESSHU (1421 bis 1506) und andere anzuführen. Nach GEORGES DUTHUIT, dem Verfasser von ‹Chinesische Mystik und moderne Malerei›, der den Geist der Zen-Mystik begriffen zu haben scheint, liegt die Sache so: ‹Wenn der chinesische Künstler malt, so ist ihm das Wesentliche die Konzentration des Gedankens und die unmittelbare, kraftvolle Reaktion der Hand auf den leitenden Willen. Seine Überlieferung heißt ihn das Werk, das er schaffen will, zuerst als ein Ganzes sehen oder besser empfinden, bevor er mit der Ausführung beginnt. ,Sind die Gedanken eines Menschen verworren, so wird er der Knecht äußerer Bedingungen.’ Und weiter: ,Wer überlegt und den Pinsel bewegt mit der Absicht, ein Bild zu schaffen, wird die wahre Kunst der Malerei gewißlich verfehlen.’ Diese erscheint wie eine Art selbsttätiges Schreiben. Zeichne zehn Jahre lang Bambus, werde selber zum Bambus. Dann vergiß alles, was Bambus heißt, wenn du malst! Im Besitz eines unfehlbaren Könnens unterwirft sich der Mensch unter die Gnade der Eingebung.›
Zum Bambus zu werden und dann zu vergessen, daß man eins mit ihm ist, während man malt – das ist das Zen des Bambus, das heißt im ‹Lebensrhythmus des Sinnes› sich bewegen, der im Bambus ebenso wie im Künstler selber atmet. Was hier gefordert wird, bedeutet ein sicheres Erfassen des Sinnes und doch sich dessen bewußt sein. Dies ist eine unendlich schwere geistige Aufgabe, die nur nach langer geistiger Übung zu bewältigen ist10. Die Menschen des Ostens sind seit der frühen Geschichte ihrer Kultur dazu angehalten worden, dieser Art Schulung sich zu unterwerfen, wenn sie auf dem Gebiet der Kunst und des Glaubens etwas erreichen wollten. Zen hat dies mit dem Wahrspruch angedeutet: ‹Das Eine in Allem und das All im Einen.› Wo dies vollkommen begriffen wird, da ist schöpferisches Genie.
Die fundamentale Bedeutung des Satzes vom ‹Einen in Allem und Allem im Einen› Es ist hier von höchster Wichtigkeit, diesen Satz in seinem wahren Sinn zu erläutern. Die Leute pflegen sich einzubilden, es bedeute nichts anderes als Pantheismus, und einzelne Gelehrte, die über Zen schreiben, scheinen damit einverstanden. Das ist bedauerlich, denn Pantheismus ist weit entfernt von Zen und auch von der wirklichen Einstellung des Künstlers zu seinem Werk. Wenn die Zen-Meister erklären, das Eine sei in Allem und das All im Einen, so meinen sie nicht, es gebe ein Ding, das man das Eine oder das All heißt, und es liege das eine im andern oder umgekehrt. Da das Eine in Allem ist, so bildet man sich ein, Zen sei eine pantheistische Lehre. Weit 10
Vgl. TAKUAN, Vom Unbewegten Begreifen. S. 75 ff.
entfernt! Zen anerkennt weder das Eine noch das All als etwas voneinander Unterschiedenes. Der Satz ‹Eines in Allem, Alles in Einem› ist als die vollständige Feststellung einer unbedingten Tatsache zu verstehen und nicht in seine Einzelbegriffe zu zerlegen. Wenn wir den Mond erblicken, so wissen wir, es ist der Mond, und das genügt. Wer die Erfahrung zergliedern und eine Erkenntnistheorie aufbauen will, der ist kein Zen-Jünger. Er hört auf, es zu sein, wenn er es je gewesen ist, und zwar in dem Augenblick, wo er zergliedern will. Zen steht fest zu seiner Erfahrung, zu seinem Erlebnis, und lehnt es ab, sich irgendeinem philosophischen System zu unterwerfen. Selbst da, wo Zen sich auf eine verstandesmäßige Erörterung einläßt, hat es niemals einer pantheistischen Weltdeutung zugestimmt. Denn zum ersten gibt es kein Eines für Zen. Wenn Zen überhaupt von dem Einen spricht, als ob es dies anerkenne, so bedeutet dies nur ein Sichherablassen zum gewöhnlichen Sprachgebrauch. Für den Zen-Jünger ist das Eine das All und das All das Eine. Eines ist immer dasselbe wie das andere, und beide sind niemals zu trennen. Die Dinge sind in und durch Sunyata (Leere) mit all ihrer Sobeschaffenheit (tathata). Diese Sobeschaffenheit ist die Leere selbst. Tathata ist Sunyata und Sunyata ist Tathata. Das folgende Mondo11 mag deutlicher erklären, was ich über die Zen-Einstellung zu der sogenannten pantheistischen Deutung der Natur betonen möchte. Ein Mönch fragte T’OU-TZE, einen Zen-Meister der T’ANG-Zeit: Wenn ich recht verstehe, sind alle Laute die Stimme des BUDDHA. Ist dies richtig?› Der Meister sprach: ‹Es stimmt.› Und der Mönch fuhr fort: ‹Könnte der Meister nicht aufhören, ein Geräusch hervorzu11
Lehrgespräch.
bringen, das den Laut einer gärenden Masse Kot widertönt?› Darauf schlug der Meister den Mönch. Der Mönch fragte weiter den T’OU-TZE: ‹Habe ich recht, wenn ich die Lehre des BUDDHA dahin verstehe, daß alles Reden, so gewöhnlich oder schädlich es auch sei, ein Teil der höchsten Wahrheit ist?› Der Meister sprach: ‹Ja, du hast recht.› Der Mönch fuhr fort: ‹Darf ich Euch dann einen Esel heißen?› Darauf schlug ihn der Meister. Es wird nötig sein, dieses Mondo in verständlichen Worten zu erklären. Jeden Laut, jeden Lärm, jedes mögliche Gerede als dem Brunnquell der einen Wirklichkeit, das heißt des göttlich Einen entspringend zu erklären, ist Pantheismus, stelle ich mir vor. Denn ‹er gab allem Leben, Odem und alle Dinge› (Apostelgeschichte 17, 25) und wiederum: ‹In ihm leben, weben und sind wir› (Apostelgeschichte 17, 28). Wenn dies der Fall ist, so tönt auch aus eines ZenMeisters rauher Kehle der melodische Widerhall der Stimme, die dem goldenen Mund des BUDDHA entströmt, und sogar wenn einem großen Lehrer nachgesagt wird, er erinnere einen an einen Esel, muß auch diese Beschimpfung als Widerhall irgendeiner höchsten Wahrheit gelten. Alle Formen des Bösen müssen irgendwie das Wahre, Gute und Schöne verkörpern und ein Beitrag zur Vollkommenheit der wahren Wirklichkeit sein. Um es noch genauer zu sagen: schlecht ist gut, häßlich ist schön, unvollkommen ist vollkommen und ebenso umgekehrt. Das ist in der Tat der Gedankengang jener, die meinen, das göttliche Wesen sei allen Dingen immanent. Und man hat Zen oft den Vorwurf gemacht, in seinen Darlegungen stecke dieselbe Tendenz. Allein T’OU-TZE trat mit dem Fuß auf eben solche verstandesmäßigen Auslegungen und schlug den Mönch. Dieser hatte höchstwahrscheinlich erwartet, er habe den Meister mit seinen Folgerun-
gen, die aus seiner vorherigen Zustimmung logisch sich ergeben, ausgestochen. Der Meister wußte, wie alle Zen-Meister, es wäre nutzlos, den Mönch mit Worten zu widerlegen. Denn das Wortespalten führt von einer Verwicklung in die andere, und da wäre kein Ende. Vielleicht der einzig wirksame Weg, jemandem wie dem betreffenden Mönch die Verkehrtheit seines gedankenmäßigen Begreifens verständlich zu machen, ist, ihn zu schlagen und ihn so an sich selber die Wahrheit des ‹Eins in Allem und Alles in Einem› fühlen zu lassen. So wird er zum Erwachen aus seinem logischen Schlafzustand aufgerufen. Daher T’OU-TZES Radikalmittel. HSÜEH-TOU gibt einen Kommentar dazu in folgenden Versen: ‹Schade, daß Menschen ohne Zahl ihr Spiel mit der rollenden Flutwoge treiben, Denn alle verschlingt sie zuletzt und läßt sie untergehn. Machet sie plötzlich erwachen (aus der Sackgasse), Schauen, wie alle die Flüsse, schwellend und steigend, nach rückwärts strömen!› Hier ist eine plötzliche Umkehr, ein plötzliches Erwachen notwendig, durch welches die Zen-Wahrheit dem Menschen aufgeht. Diese ist weder Transzendenz noch Immanenz, noch eine Verquikkung von beiden. Die Wahrheit ist so, wie sie T’OU-TZE im folgenden Gespräch erklärt: Ein Mönch fragt: ‹Was ist der BUDDHA?› T’OU-TZE antwortet: ‹Der BUDDHA.› Der Mönch: ‹Was ist Tao?› T’OU-TZE: ‹Tao.› Der Mönch: ‹Was ist Zen?›
T’OU-TZE: ‹Zen.12› Der Meister antwortet wie ein Papagei, er ist das Echo selber. In der Tat aber gibt es keinen anderen Weg, den Sinn des Mönchs zu erleuchten, als die Bestätigung: was ist, ist – und dies ist die endgültige Erfahrungstatsache. Nun noch ein anderes Beispiel zur Erläuterung. Ein Mönch fragte den CHAO-CHOU; einen Meister der T’ang-Zeit: ‹Es steht geschrieben, der vollkommene Pfad kenne keine Schwierigkeiten, doch verachte er jegliche Unterscheidung. Was ist unter Nichtunterscheidung zu verstehen?› CHAO-CHOU sprach: ‹Über den Himmeln und unter den Himmeln bin ich allein der Eine Hochverehrte.› Der Mönch bemerkte: ‹Noch immer eine Unterscheidung!› Des Meisters Antwort war: ‹O dieser unnütze Bursche! Wo ist die Unterscheidung?› Der Mönch blieb sprachlos. Mit Unterscheidung meinen die Zen-Meister nicht die Wahrnehmung und Anerkennung von Tatsachen, so wie sie sind, sondern das verstandesmäßige Fortschreiten des Nachdenkens über sie, des Zergliederns in Begriffe und endlich des Wiederkauens derselben in einem unfruchtbaren Kreislauf der Überlegung. CHAO-CHOUS Bejahung ist endgültig, sie läßt keine Zweideutigkeit und keine Beweisführung zu. Wir haben sie in ihrem sichtbaren Sinne anzunehmen und damit zufrieden zu sein. Falls wir sie aus irgendeinem Grunde nicht annehmen können, so lassen wir sie einfach stehen und gehen
Diese Mondo von T’OU-TZE, HSÜEH-TOUS dichterische Kommentare und CHAO-CHOUS ‹Nicht-Unterscheidung› stammen aus dem Pi-yen-chi, einer Sammlung von Zen-Texten. Das Pi-yen-chi ist für ungeschulte Leser ein Buch mit sieben Siegeln. 12
an einen anderen Ort, um unsere eigene Erleuchtung zu suchen. Der Mönch vermochte den Standort CHAO-CHOUS nicht zu fassen, ging weiter und bemerkte: ‹Das ist noch immer eine Unterscheidung!› Die Unterscheidung war aber in Wirklichkeit auf der Seite des Mönchs, und nicht CHAO-CHOUS. Daher verwandelte sich der ‹Eine Hochverehrte› in einen ‹unnützen Burschen›. Wie ich schon zuvor bemerkte, darf der Satz ‹Alles in Einem und Eines in Allem› nicht zuerst in die Begriffe ‹Eines› und ‹Alles› zerlegt und dann das Bindewort dazwischen gesetzt werden. Hier ist keine Unterscheidung vorzunehmen, sondern das Ganze zu ergreifen und in ihm Ruhe zu finden. Das ist alles, was hier gefordert wird. Der Meister schlägt zu oder scheint zu verhöhnen, nicht weil er empört oder jähzornig ist, sondern weil er damit seine Schüler aus dem Brunnenloch herausreißen will, in das sie gefallen sind. Hier hilft keine noch so lange Beweisführung und keinerlei Überzeugen mit Worten. Der Meister allein weiß, wie er sie aus der logischen Sackgasse herausführen und ihnen einen neuen Weg öffnen kann: sie sollen ihm ganz einfach folgen. Wenn sie ihm folgen, kehren sie alle heim in ihre ursprüngliche Heimat. Das, was man ein intuitives oder erfahrendes Begreifen der Tatsache ‹Alles in Einem und Eines in Allem› heißen kann, ist die grundlegende Wahrheit des Buddhismus, die von allen seinen verschiedenen Schulen gelehrt wird. In der Bezeichnungsweise der PrajnaSchule des Buddhismus ist Sunyata gleich Tathata, und Tathata ist Sunyata: Sunyata oder Leere ist die Welt des Absoluten, und Tathata oder die Sobeschaffenheit ist die Welt des Gesonderten. Einer der gebräuchlichsten Zen-Sprüche lautet: Weiden sind grün, und Blumen sind rot. Die Welt des Gesonderten wird hier bejaht, in der, wiederum, Bambus gerade und Kiefern knorrig verwachsen sind.
Erfahrungstatsachen werden anerkannt, wie sie sind, Zen ist kein Nihilismus. Allein zu gleicher Zeit gehören sie alle der Leere an, freilich nicht in ihrem relativen, sondern im absoluten Sinn. Leere im absoluten Sinn ist nicht ein Begriff, den man auf dem Wege zergliedernder Überlegung erreicht, sondern ebensosehr eine Erfahrungstatsache wie der gerade Wuchs des Bambus und das Rotsein einer Blume. Denn es ist die Feststellung einer intuitiven oder wahrnehmenden Anschauung. Wenn der Sinn des Menschen, anstatt nach außen in die Richtung des Verstandes zu gehen, seine Aufmerksamkeit nach innen lenkt, so erfaßt er, daß alle Dinge aus der Leere kommen und zu ihr heimkehren und daß dieses Hinausgehen und wieder Heimkehren nur eine einzige Bewegung ist, obgleich wir es so beschreiben müssen, als wären es zwei. Diese dynamische Gleichsetzung als solche ist die Grundlage all unserer Erfahrung, und auf ihr beruht das ganze Spiel unseres tätigen Lebens. Zen lehrt uns, bis zu dieser Grundlage hinabzugraben. Aus diesem Gesichtspunkt antwortet der Meister, wenn er gefragt wird: ‹Was ist Zen› zuweilen ‹Zen› und zuweilen ‹Nicht-Zen›. Jetzt vermögen wir einzusehen, wie der Grundsatz der Sumi-ye(Tusche-) Malerei aus der Zen-Erfahrung abgeleitet ist und wie Unmittelbarkeit, Einfalt, Bewegung, Geistigkeit, Vollendung und ähnliche Eigenschaften, die wir im Sumi-ye-Stil der ostasiatischen Malerei beobachten, organisch mit Zen verbunden sind. Es gibt keinen Pantheismus im Sumi-ye, wie es keinen in Zen gibt.
3. ZEN UND DER SAMURAI
Zen und kämpferische Gesinnung Es kann merkwürdig erscheinen, daß Zen auf irgendeine Weise mit dem Geist der Kriegerklasse Japans in Verbindung stehen soll. Der Buddhismus, welche Form immer er in den verschiedenen Ländern seiner Ausbreitung angenommen hat, ist eine Religion des Mitleidens, und in seiner ganzen reichen Geschichte ist er nie in kriegerisches Handeln hineingezogen worden. Wie kommt es also, daß Zen den kämpferischen Geist des japanischen Rittertums gekräftigt hat? In Japan ist Zen vom Anbeginn seiner Geschichte mit dem Leben des Samurai aufs innigste verknüpft gewesen. Wenn es auch diesen niemals aktiv dazu aufgefordert hat, sein blutiges Handwerk fortzuführen, hat es ihn doch passiv darin bestärkt, wenn er aus irgendeinem Grunde diese Laufbahn einmal betreten hatte. Zen hat ihn in zweierlei Weise, sittlich und weltanschaulich, gestärkt. Sittlich, denn Zen ist ein Glaube, der lehrt, nicht rückwärts zu blicken, wenn die Richtung des Weges einmal entschieden ist. Weltanschaulich, denn Leben und Tod sind für Zen nicht zweierlei Dinge. Jenes Nichtrückwärtsblicken entspringt letzten Endes auch seiner weltanschaulichen Überzeugung, aber da Zen eine Religion des Willens ist, so wendet es sich mehr als sittliche Forderung denn als weltanschauliche Lehre an den Geist des Samurai. Vom philosophischen Standpunkt aus tritt Zen für die Intuition und gegen den Verstand ein, denn Intuition ist der geradere Weg zur Wahrheit. Sittlich und weltanschaulich also hat Zen eine große Anziehungskraft für die Kriegerklasse besessen, deren Sinn verhältnismäßig schlicht und keineswegs dem Philosophieren zugeneigt ist – gerade dies ist ja eine der wesentlichen
Eigenschaften des Kämpfers –, daher auch in Zen eine wesensverwandte Einstellung erblicken mußte. Dies ist wahrscheinlich eine der Hauptursachen für die enge Verbindung zwischen Zen und dem Samurai. Zweitens ist die Zen-Schulung einfach, unmittelbar, selbstbewußt, selbstüberwindend, und diese asketische Richtung steht der kämpferischen Gesinnung nahe. Der Kämpfer kann nur einen Gedanken, nur einen Gegenstand vor Augen haben, nämlich zu kämpfen und nicht nach rückwärts oder seitwärts zu blicken. Geradeaus marschieren, um den Feind zu vernichten, ist alles, was von ihm verlangt wird. Darum muß er unbelastet bleiben, sei es körperlich, gefühlsmäßig oder geistig. Verstandesmäßige Bedenken sind, wenn sie überhaupt im Sinne des Kämpfers Eingang finden, starke Hindernisse für seine Vorwärtsbewegung. Gefühlsmäßige und körperliche Beschwerungen aber sind die schwersten Hemmungen, denen er ausgesetzt sein kann, wenn er mit Erfolg in seinem Beruf sich betätigen will. Tüchtige Kämpfer sind zumeist Asketen oder Stoiker, das heißt: sie besitzen eine eiserne Willenskraft. Wenn es not tut, kann Zen ihnen diese Tugenden schenken. Drittens besteht eine historische Verbindung zwischen Zen und der japanischen Kriegerklasse. EISAI13 (1141 – 1215) gilt allgemein als der erste buddhistische Priester, der Zen nach Japan gebracht hat. Allein sein Wirken war mehr oder weniger auf Kyoto beschränkt, und Kyoto war zu jener Zeit der Mittelpunkt der älteren buddhistischen Schulen. Die Einführung eines neuen Glaubens war bei dem starken Widerstand derselben hier nahezu unmöglich. EISAI sah sich in gewissem Umfang zu Kompromissen und zu einer versöhnlichen Haltung gegenüber Tendai und Shingon genötigt. In Kamakura aber, 13
YOSAI soll,
wie ich höre, die richtige Aussprache des Namens sein.
dem Sitz der Hojo-Regierung, bestanden keine derartigen Schwierigkeiten. Die Gesinnung der Hojo-Leute war kriegerisch, da sie die Nachfolger des Minamoto-Geschlechts waren, das selber sich gegen die Sippe der Taira und den Hofadel empört hatte. Dieser letztere hatte seinen Einfluß als regierende Macht durch übermäßige Verfeinerung, weibisches Wesen und Entartung verloren. Die Hojo-Regierung ist bekannt für ihre strenge Einfachheit, ihre sittliche Selbstzucht wie für ihren machtvollen Verwaltungs- und Kriegsapparat. Die führenden Köpfe dieser kräftigen Regierungsmacht erkoren sich Zen zum geistigen Leitstern, da sie von der Tradition auch im Religiösen nichts wissen wollten. So mußte denn Zen mit Notwendigkeit einen mannigfachen Einfluß auf die Kultur Japans gewinnen. Es hat ihn seit dem 13. Jahrhundert, während der ganzen AshikagaZeit und auch noch unter den Tokugawa ausgeübt. Zen besitzt kein eigentliches Lehrgebäude oder philosophisches System aus starren Begriffen und logischen Lehrsätzen, es macht lediglich den Versuch, den Menschen aus den Fesseln von Geburt und Tod zu erlösen, und zwar durch eine bestimmte intuitive Art des Begreifens, die ihm allein eigentümlich ist. Darum vermag es sich mit großer Schmiegsamkeit fast jeder weltanschaulichen oder sittlichen Lehre anzupassen, solange seine intuitive Unterweisung durch sie nicht gestört wird. Es kann sich mit anarchistischen oder faschistischen, kommunistischen oder demokratischen Idealen, mit Atheismus oder Idealismus, mit jedem politischen oder wirtschaftlichen Dogma befreunden. Immerhin ist Zen im allgemeinen von einem gewissen revolutionären Kampfgeist beseelt, und wenn die Entwicklung in eine Sackgasse führt, sowie es häufig bei einem herrschenden Konventionalismus, Formalismus und verwandten Ismen der Fall ist, so offenbart sich Zen wohl einmal als eine zerstörende
Kraft. Der Geist der Kamakura-Zeit stand in dieser Hinsicht im Einklang mit dem mannhaften Geiste von Zen. Wir haben in Japan das Sprichwort: ‹Tendai ist für das Kaiserhaus, Shingon für den Adel, Zen für die Kriegerklasse und Jodo für die Menge.› Dies Sprichwort ist recht bezeichnend für die buddhistischen Schulen Japans. Tendai und Shingon besitzen ein reiches Ritual, ihre gottesdienstlichen Gebräuche werden in einem höchst zeremoniellen und prunkhaften Stil begangen, der dem Geschmack der feingebildeten Stände entspricht. Jodo wendet sich seinem Wesen nach mehr an die Bedürfnisse des niederen Volkes, denn sein Glaube und seine Lehre sind sehr einfach. Neben seinem unmittelbaren Verfahren, an das Ziel des Glaubens zu gelangen, ist Zen eine Religion der Willenskraft, und Willenskraft ist das höchste Erfordernis des Kriegers, auch wenn sie der Erleuchtung durch Intuition bedarf.
Hojo-Regenten und Zen Der erste Zen-Anhänger aus dem Hojo-Geschlecht war TOKIYORI (1227 – 1263), der seinem Vater YASUTOKI in der Regierung nachfolgte. Er lud die japanischen Zen-Meister in Kyoto und auch einige chinesische Meister aus dem Reich der Südlichen Sung ein, nach Kamakura zu kommen, und ergab sich unter ihrer Leitung ernstlich dem Zen-Studium. Es gelang ihm schließlich, das Ziel zu erreichen, und dieser Erfolg muß allen seinen Gefolgsleuten ein starker Ansporn gewesen sein, dem Vorbild ihres Herren zu folgen. GOTTAN, der chinesische Zen-Meister, unter dessen Anleitung TOKIYORI nach einundzwanzigjährigem Bemühen die endgültige Er-
leuchtung erfuhr, verfaßte aus diesem Anlaß folgende Verse für seinen erlauchten Schüler: ‹Keine Buddhalehre habe ich mehr, von der ich jetzt noch zu dir sprechen könnte, Keinen Sinn hast du jetzt mehr, mir in der Hoffnung auf Erlösung zu lauschen: Wo nicht Predigt, nicht Erlösung noch harrende Seele ist, Da treffen sich Shakyamum und Dipankara Buddha zum tiefsten Gespräch.› Nach einer höchst erfolgreichen Regentschaft starb TOKIYORI im Jahre 1263 nur siebenunddreißig Jahre alt. Als er fühlte, daß die Stunde des Scheidens gekommen war, legte er sein Priesterkleid an, setzte sich auf eine Strohmatte, wie sie den Meditationsübungen dient, schrieb sein Abschiedsgedicht und erlosch in Frieden. Das Gedicht lautet: ‹Der Karma-Spiegel, der so hoch Ob siebenunddreißig Jahren stand, Zerbrach mit einem Hammerschlag. Der wahre Weg glänzt ewig rein.› HOJO TOKIMUNE (1251 – 1284) war sein einziger Sohn. Als er 1268 das Erbe des Vaters antrat, war er noch nicht achtzehn Jahre alt. Er erwies sich als einer der größten Männer, die Japan hervorgebracht hat. Ohne ihn wäre die Geschichte unseres Landes nicht, was sie heute ist. Ihm gelang es, mit vollkommener Wirkung den Einfall der Mongolen niederzuwerfen, der jahrelang oder eigentlich wäh-
rend seiner ganzen Regentschaft, von 1268 bis 1284, das Fortbestehen des Reiches bedrohte. Es sieht so aus, als wäre TOKIMUNE ein Sendbote des Himmels gewesen, um das schlimmste Verhängnis, das die Nation befallen konnte, abzuwehren, denn mit der Vollendung dieser größten Tat der japanischen Geschichte schied er dahin. Sein ganzes kurzes Leben war schlicht und völlig dieser Aufgabe geweiht. Er war damals Leib und Seele der Nation. Sein unbezwingbarer Geist übersah in jedem Augenblick die Lage, und sein Leib in Gestalt eines vollkommen in sich gefestigten Heeres stand wie ein Fels gegen die wilde Wogenbrandung des Westmeers. Noch wunderbarer an dieser fast übermenschlichen Gestalt will es aber scheinen, daß TOKIMUNE die Zeit, die Kraft und den Willen fand, sich unter der Anleitung chinesischer Meister der Zen-Unterweisung zu widmen. Er ließ Tempel für sie erbauen, darunter besonders einen für BUKKO KOKUSHI14, der zugleich bestimmt war, die Seelen der während des Mongoleneinfalls gefallenen Japaner und Chinesen zu versöhnen. TOKIMUNES Grab ist heute noch in diesem Tempel, dem Engakuji, erhalten. Auch einige Briefe sind hier aufbewahrt, die seine verschiedenen geistlichen Lehrer ihm geschrieben haben und aus denen hervorgeht, mit welchem Fleiß und welcher Kraft er sich Zen ergeben hat. Die folgende Geschichte ist vielleicht nicht sicher überliefert, aber sie kann uns doch eine Vorstellung von Über sein Zen-Erlebnis vgl. meine Zen-Essays I, p. 239 ff. Als er, noch in Südchina weilend, von den Mongolenkriegern bedroht wurde, tat er folgenden Ausspruch: ‹Im Himmel und auf Erden ist keine Ritze, in die man auch nur einen Stab hineinstecken könnte. Froh bin ich, daß alle Dinge leer sind, die Welt und ich. Gelobt sei das Schwert, das drei Fuß lange, das der große Kriegsmann der Yüan erhebt! Denn es ist wie ein Blitz, der die Frühlingswinde durchzuckt.› 14
seiner Einstellung zu Zen vermitteln. TOKIMUNE soll einst BUKKO, den Lehrer der Nation (KOKUSHI), befragt haben: ‹Der ärgste Feind in unserem Leben ist Feigheit. Wie vermag man ihr zu entrinnen?› BUKKO erwiderte: ‹Schneide den Ursprung der Feigheit ab!› TOKIMUNE: ‹Und was ist ihr Ursprung?› BUKKO: ‹Es ist TOKIMUNE selbst.› TOKIMUNE: ‹Von allen Dingen ist mir Feigheit am tiefsten verhaßt. Wie kann sie denn aus mir selber kommen?› BUKKO: ‹Versuche, wie es dir ergeht, wenn du dein geliebtes Ich, das TOKIMUNE heißt, von dir wirfst! Ich will dich wiedersehen, wenn du das vollbracht hast.› TOKIMUNE: ‹Und wie kann dies vollbracht werden?› BUKKO: ‹Schließ allen Gedanken das Tor!› TOKIMUNE: ‹Wie kann ich die Gedanken aus meinem Bewußtsein ausschließen?› BUKKO: ‹Setze dich mit gekreuzten Beinen in Versenkung und schaue den Ursprung all deiner Gedanken an, von denen du meinst, sie seien TOKIMUNES Gedanken.› TOKIMUNE: ‹Ich habe für so viele Dinge der Welt zu sorgen, und es fällt mir schwer, einen Augenblick der Muße für die Versenkung zu finden.› BUKKO: ‹Was immer für Dinge der Welt dich beschäftigen, nimm sie als Anlaß zu innerlicher Betrachtung, und eines Tages wirst du erkennen, wer dieses Ich, dieser geliebte TOKIMUNE ist.› Ein Gespräch dieser Art muß einmal zwischen TOKIMUNE und BUKKO stattgefunden haben. Denn als jener die bestimmte Meldung erhielt, daß die Mongolen mit Heeresmacht über das Meer von Tsukushi sich nahten, begab er sich zu BUKKO, dem Lehrer der Nation,
und sprach: ‹Das größte Ereignis meines Lebens ist nun gekommen.› BUKKO fragte: ‹Wie willst du ihm entgegentreten?› TOKIMUNE rief: ‹Kwatsu!›, als wollte er in diesem Augenblick alle seine Feinde hinwegbrüllen. BUKKO war zufrieden und sprach: ‹Wahrlich, eines Löwen Junges brüllt wie ein Löwe.› So war TOKIMUNES Tapferkeit beschaffen, mit der er den übermächtigen Feinden entgegentrat, die vom Festland herüberkamen, und sie erfolgreich zurückwarf. Historisch gesehen, war es jedoch nicht seine Tapferkeit allein, die diese größte Heldentat der japanischen Geschichte vollbracht hat. Vielmehr entwarf er die Pläne zu allem, was die Aufgabe erforderte, und seine Gedanken wurden von den in den verschiedenen Landesteilen stehenden Heeren ausgeführt, so daß die Übermacht der Eindringlinge zusammenbrach. Er selbst verließ Kamakura nicht, aber seine Heere fern an den westlichen Küsten Japans befolgten seine Befehle genau und wirksam. Das war wirklich ein Wunder in jenen frühen Zeiten, als es keine schnelleren Verbindungen gab als Kurierposten. Hätte er nicht das unbedingte Vertrauen aller seiner Untergebenen besessen, so wäre es ihm unmöglich gewesen, solch ein Werk zu vollbringen. BUKKOS Lobrede auf TOKIMUNE bei seinem Leichenbegängnis zieht die Summe seiner Persönlichkeit. ‹Zehn Wunder gab es in seinem Leben, das in Wahrheit die Erfüllung des großen Pranidhi-Gelübdes eines Bodhisattva gewesen ist: Er war seiner Mutter ein liebender Sohn, er war seinem Kaiser ein treuer Untertan, er strebte ehrlich nach der Wohlfahrt des Volkes, als Zen-Jünger erfaßte er die tiefste Wahrheit, in zwanzigjähriger Lenkung der Staatsgeschäfte des Rei-
ches bezeigte er weder Freude noch Zorn, als er mit der Gewalt eines Sturmes die drohenden Wolken der Barbaren hinweggefegt hatte, empfand er keinerlei Stolz, als er das Kloster Engakuji gründete, gedachte er des geistlichen Trostes für die Gefallenen (Japaner und Mongolen!)15, und indem er den Lehrern und Vätern (des Glaubens) Ehrfurcht erwies, strebte er nach der Erleuchtung – all dies beweist, daß er nur um des Dharma willen unter uns erschienen ist. Und als er dann im Begriff war zu scheiden, brachte er es noch fertig, von seinem Lager aufzustehen, nahm aus meinen Händen das Priesterkleid, zog es über seinen schwachen Körper und schrieb in voller Geistesklarheit sein Abschiedsgedicht. Ein solcher Mann ist wahrhaftig ein Der Gedanke, Freunde und Feinde seien nach dem Tode mit gleicher Achtung zu behandeln, stammt aus dem Buddhismus. Denn dieser lehrt, wir seien alle desselben Buddha-Wesens teilhaftig. Während wir in dieser Welt der Sonderungen leben, mögen wir den verschiedensten Parteien und Grundsätzen anhängen, doch diese Zwistigkeiten verschwinden, sobald wir aus dem Einzeldasein zum andern Ufer jenseitigen Wissens gelangen. Vom Standpunkt des Samurai aus wird auf das Ideal der Treue und Aufrichtigkeit der allerhöchste Wert gelegt: nun sind die Feinde ihrer Sache ebenso treu wie wir der unsern ergeben, und dieses Gefühl ist hoch zu achten, wo und wie immer es in echter Art sich bewährt. Daher das gleiche Gedächtnismal für Freund und Feind. Das Geschlecht der Shimadzu ließ auf dem Berg Koyasan ein großes steinernes Denkmal für alle Gefallenen im Krieg gegen Korea von 1591 bis 1598 errichten. Das ist ohne Zweifel auf den geistigen Einfluß SHIMADZU NISSHINSAIS (1492 – 1568) zurückzuführen, eines der größten Gelehrten und Adligen der Feudalzeit. Interessant ist es, daß SHIMADZU YOSHIHIRO, ein Enkel NISSHINSAIS, für seine Untertanen, die sich schlecht aufführten, eine neue Art Strafe einführte, die Tera-iri oder ‹Eintritt ins Kloster› heißt. Die Übeltäter mußten während ihres Klosteraufenthalts unter persönlicher Aufsicht des Leiters der Mönche die konfuzianischen Texte studieren. Wenn sie im Verständnis der Klassiker bemerkenswerte Fortschritte machten, durften sie in ihr bürgerliches Leben wieder zurückkehren. 15
erleuchtetes Wesen oder ein Fleisch gewordener Bodhisattva zu nennen.› TOKIMUNE war zur Größe geboren, gewiß, aber sein Zen-Studium muß ihm auch eine große Stütze gewesen sein in seiner Behandlung der Staatsgeschäfte wie im persönlichen Leben. Auch seine Frau war eine fromme Zen-Jüngerin und stiftete nach seinem Tod ein Nonnenkloster in den Bergen, gegenüber dem Engakuji. Wenn wir sagen, Zen sei für die Krieger, so hat diese Feststellung eine besondere Bedeutung für die Kamakura-Zeit. TOKIMUNE war nicht bloß ein kämpfender Feldherr, sondern ein großer Staatsmann, dessen Ziel der Friede war. Sein Gebet zum BUDDHA, bei Gelegenheit einer großen religiösen Feier, die unter Leitung des Abts im Kenchoji veranstaltet wurde, als die Kriegsdrohung des ersten Mongoleneinfalls eben eingetroffen war, lautet folgendermaßen: ‹TOKIMUNE, ein Jünger des BUDDHA, hat nur den einen Wunsch und das eine Gebet: Möge er in der kommenden Zeit der Wächter der Buddhalehre sein! Möchten die vier Meere unaufgerührt bleiben und kein Pfeil verschossen werden! Möchten alle bösen Geister in Unterwerfung verharren, ohne daß eine Lanzenspitze enthüllt werden muß. Möchte das Volk die Wohltaten einer wohlmeinenden Verwaltung empfangen, so daß es ein langes glückliches Leben für immer genießen darf! Möchte die Finsternis des menschlichen Herzens durch die Berührung der überirdischen Weisheit, der hoch zu erhebenden, erleuchtet werden! Möchten die Armen fürsorglich unterstützt und die von Gefahren Bedrängten gerettet werden durch ein weit geöffnetes Herz des Erbarmens! Möchten alle Götter kommen und uns beschirmen, alle Weisen ihre stillschweigende Hilfe verbreiten und jede Stunde des Tages eine Ansammlung heilbringender Vorzeichen verkünden!› TOKIMUNE ist ein großer Geist im Sinne des BUDDHA und ein auf-
richtiger Jünger von Zen gewesen. Seiner Hilfe und seinem Vorbild ist es zu verdanken, daß Zen in Kamakura, dann in Kyoto eine feste Heimstätte fand und einen sittlichen und geistigen Einfluß unter der Kriegerklasse auszubreiten begann. Der ununterbrochene Strom des Austauschs, der zwischen den japanischen und den chinesischen ZenPriestern eröffnet wurde, ging sogar über die Grenzen der gemeinsamen Glaubensinteressen hinaus: Bücher, Bilder, Porzellan, Gewebe und viele andere Kunstwerke wurden aus China herübergebracht, selbst Zimmerleute, Maurer, Baumeister und Köche kamen mit ihren Priestern nach Japan. So nahm der Handelsverkehr mit China, der später in der Ashikaga-Zeit sich so üppig entfaltet hat, in der Kamakura-Periode seinen Anfang. Unter der Führung so starker Charaktere wie TOKIYORI und TOKIMUNE ist Zen mit günstiger Verheißung in das japanische Leben und besonders in das Leben des Samurai eingepflanzt worden. Als Zen in Kamakura mehr und mehr Einfluß gewann, verbreitete es sich auch in Kyoto, wo japanische Zen-Meister ihm eine mächtige Stütze wurden. Diese fanden bald ernsthafte Jünger unter den Mitgliedern des Kaiserhauses, an ihrer Spitze die Kaiser GODAIGO, HANAZONO und andere. Gewaltige Klöster wurden in Kyoto errichtet, und Meister, die um ihrer Tugend, Weisheit und Gelehrsamkeit willen berühmt waren, wurden als Gründer und spätere Äbte dieser Mönchsverbände gewonnen. Manche Shogune aus dem Geschlecht der Ashikaga waren ebenfalls große Förderer des Zen-Buddhismus, und die meisten ihrer Heerführer folgten ihnen nach. In diesen Zeiten, darf man sagen, wandte sich der japanische Genius entweder dem Priestertum oder dem Kriegertum zu. Aus dem geistigen Zusammenwirken beider entstand mit innerer Notwendigkeit jenes Ideal, das heute als Bushido, als ‹der Weg des Kriegers›, bekannt ist.
An dieser Stelle möchte ich auf eine der inneren Beziehungen hinweisen, die zwischen der Gefühlsrichtung des Samurai und Zen bestehen. Was Bushido, so wie wir es heute verstehen, letzten Endes bestimmt hat, ist, daß es ein unanfechtbarer, göttlicher Wächter über die Ehre des Samurai zu werden bestimmt war. Diese Ehre beruht in der Treue, der Sohnesliebe und wohlmeinender Gesinnung. Allein zur rechten Erfüllung dieser Pflichten bedarf es zweier Dinge: das eine ist Selbstzucht durch sittliche Askese, nicht allein in praktischer Übung, sondern auch in der weltanschaulichen Vorbereitung; das andere ist eine stete Bereitschaft zu sterben, das heißt sich ohne Zögern selber zu opfern, sobald dies gefordert wird. Um dies zu erfüllen, bedarf es einer langen seelischen und geistigen Schulung. Es gibt ein Dokument, das neuerdings viel besprochen worden ist im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen in China. Es ist unter dem Namen Hagakure16 bekannt, das bedeutet wörtlich: ‹Unterm Laube verborgen›, denn es ist eine der Tugenden des Samurai, sich selber nicht in Szene zu setzen noch ins eigene Horn zu blasen, sondern sich vor den Augen der Menge fernzuhalten und im stillen seinen Mitmenschen Gutes zu tun. Zur Zusammenstellung dieses Buchs, das aus verschiedenen Aufzeichnungen, Anekdoten, Sittensprüchen usw. besteht, hatte auch ein Zen-Priester beizutragen. Das Werk entstand um die Mitte des 17. Jahrhunderts unter NABESHIMA NAOSHIGE, dem Lehensherren von Saga auf der Insel Kyushu. Das Buch legt den größten Wert auf die Bereitschaft des Samurai, jeden Augenblick sein Leben hinzugeben, und es stellt fest, daß keine große Tat je ohne Wahnsinn vollbracht worden ist, das heißt in heutiger Ausdrucksweise: ohne daß die gewohnte Bewußtseinsebene durchDer vollständige Text ist 1937 in zwei Bänden im Kyozaisha-Verlag, Tokyo, veröffentlidit worden. 16
brochen und die verborgenen tieferen Kräfte entfesselt worden wären. Diese Kräfte mögen manchmal dämonischer Natur sein, aber ohne Zweifel sind sie übermenschlich und vollbringen Wunder. Wenn das Unbewußte berührt wird, so steigt es über die Begrenzung des Individuellen empor. Damit verliert auch der Tod seinen Stachel, und an diesem Punkte berührt sich die Schulung des Samurai mit Zen. Um eine der Geschichten aus dem Hagakure anzuführen: YAGYUTAJIMA-NO-KAMI war ein großer Meister im Schwertkampf und unterwies den damaligen Shogun TOKUGAWA JYEMITSU in dieser Kunst. Einer der Leibwächter des Shogun kam eines Tages zu TAJIMA-NOKAMI und bat ihn um Unterricht im Fechten. Der Meister sprach: ‹Soviel ich sehe, scheint Ihr selber ein Meisterfechter zu sein. Bitte, teilt mir mit, welcher Schule Ihr angehört, bevor wir in das Verhältnis von Lehrer und Schüler treten. Der Leibwächter sprach: ‹Zu meiner Beschämung muß ich bekennen, daß ich die Kunst nie erlernt habe.› ‹Wollt Ihr mich verspotten? Ich bin der Lehrer des ehrwürdigen Shogun selber und weiß, mein Auge kann nicht trügen.› ‹Es tut mir leid, wenn ich Eurer Ehre zu nahe trete, aber ich besitze wirklich keine Kenntnisse.› Dieses entschiedene Bestreiten machte den Schwertmeister nachdenklich, und schließlich sagte er: ‹Wenn Ihr es sagt, muß es so sein. Aber ganz sicher seid Ihr in irgendeinem Fache Meister, wenn ich auch nicht genau sehe, worin.› ‹Ja, wenn Ihr darauf besteht, will ich Euch folgendes berichten. Es gibt ein Ding, in dem ich mich als vollkommenen Meister ausgeben darf. Als ich noch ein Knabe war, kam mir der Gedanke, als Samurai dürfe ich unter gar keinen Umständen mich vor dem Tode fürchten, und seither habe ich – es sind jetzt einige Jahre – mich fortwährend
mit der Frage des Todes herumgeschlagen, und zuletzt hat diese Frage aufgehört mich zu bekümmern. Ist es vielleicht dies, worauf Ihr hinauswollt?› ‹Genau dies!› rief TAJIMA-NO-KAMI, ‹das ist’s, was ich meine. Es freut mich, daß mein Urteil mich nicht betrog. Denn das letzte Geheimnis der Schwertkunst liegt auch darin, vom Gedanken an den Tod erlöst zu sein. Ich habe viele Hunderte meiner Schüler im Hinblick auf dieses Ziel unterwiesen, aber bis jetzt hat keiner von ihnen den höchsten Grad der Schwertkunst erreicht. Ihr selber bedürft keiner technischen Übung mehr, Ihr seid bereits Meister.›
Der Samurai und der Tod Die Frage des Todes ist eine große Frage für einen jeden von uns, noch dringlicher aber ist sie für den Samurai, für den Soldaten, dessen Dasein ausschließlich dem Kampf geweiht ist, und Kampf bedeutet Tod für einen der Kämpfer. Im Mittelalter konnte niemand vorhersagen, wann diese tödliche Begegnung stattfinden werde, und der Samurai, der dieses Namens würdig war, hatte immer bereit zu sein. Ein Krieger und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, DAIDOJI YUZAN, führt daher am Anfang seines Buches ‹Lehrbuch des Bushido› aus: ‹Der notwendigste und unentbehrlichste Gedanke des Samurai ist der an den Tod. Ihn muß er Tag und Nacht, Nacht und Tag, vom Morgendämmern des ersten bis zur letzten Minute des letzten Tages im Jahre sich vor die Seele stellen. Wenn du in dieser Anschauung lebst, dann bist du fähig, deine Pflicht im vollsten Umfang zu erfüllen: du bist treu deinem Herrn, ein gehorsamer Sohn deinen Eltern und kannst jede Art von Unheil vermeiden. Damit wird nicht nur dieses Leben selber verlängert, sondern auch deine menschliche Würde erhöht. Bedenke,
was für ein gebrechliches Ding das Leben ist, besonders das eines Samurai. Tust du das, so wirst du dazu kommen, daß du jeden Tag deines Lebens als den letzten ansiehst und ihn zur Erfüllung deiner Pflichten nutzest. Laß die Vorstellung eines langen Lebens nie Gewalt über dich gewinnen, denn sonst wärest du fähig, in Zerstreuungen aller Art dich selbst zu verlieren und deine Tage mit Schande zu beschließen. Aus diesem Grunde hat MASASHIGE, wie es heißt, seinem Sohne MASATSURA empfohlen, den Gedanken an den Tod allezeit im Herzen zu tragen.› Der Verfasser dieses Lehrbuchs hat ganz richtig ausgesprochen, was unbewußt im Sinne des Samurai vor sich zu gehen pflegt. Die Gewißheit des Todes lenkt auf der einen Seite die Gedanken über die Schranken dieses beschränkten Daseins hinaus und macht sie auf der anderen Seite schärfer, so daß das tägliche Leben ernster genommen wird. So lag es für jeden nüchtern denkenden Samurai nahe, sich mit der Idee der Überwindung des Todes Zen zuzuwenden. Zens Verheißung einer Lösung dieses Problems ohne Ansprüche an Gelehrsamkeit oder sittliche Schulung oder ein besonderes Ritual muß für das verhältnismäßig unkomplizierte Gemüt des Samurai eine starke Anziehung bedeutet haben. Es bestand eine Art logische Verwandtschaft zwischen seiner psychologischen Einstellung und der unmittelbar praktischen Schulung durch Zen. Weiter lesen wir folgendes im Hagakure: ‹Bushido bedeutet den entschlossenen Willen zu sterben. Wenn du am Scheideweg stehst, zögere nicht, den Weg des Todes zu wählen. Aus keinem anderen Grund, als weil dein Sinn so erzogen und zu diesem Geschäft berufen ist. Es mögen manche sagen, wenn du ohne dein Ziel zu erreichen sterbest, so sei das ein nutzloser Tod, wie ein Hund zu sterben. Allein wenn du am Scheideweg stehst, so brauchst du keinen Plan mehr, dein
Ziel zu erreichen. Wir alle ziehen das Leben dem Tode vor, unser Planen und Sinnen ist naturgemäß auf das Leben gerichtet. Wenn du dann dein Ziel verfehlst und am Leben bleibst, so bist du in Wahrheit ein Feigling. Das ist sehr zu bedenken. Falls du stirbst, ohne das Ziel zu erreichen, so mag das ein Hundetod sein, der Tod des Wahnsinns, aber deine Ehre ist unbefleckt. Für Bushido kommt die Ehre zuerst. Darum halte dir jeden Morgen und jeden Abend den Tod recht lebhaft vor Augen! Ist deine Entschlossenheit, in jedem Augenblick zu sterben, fest und unerschütterlich, so gelangst du zur Meisterschaft des Bushido, dein Leben ist ohne Tadel, und deine Pflicht ist erfüllt.› Ein Kommentator fügt eine Strophe von TSUKEHARA BOKUDEN17 bei: ‹Das letzte Ziel der Zucht des Samurai Und jeder Zucht, von welcher Art sie sei, Ist eins und eins allein: Im Angesicht des Tods bereit zu sein.› NAGAHAMA INOSUKE sagt nach dem Hagakure: ‹Das Wesen der Schwertkunst besteht darin, daß man sich selber ganz und gar an die Aufgabe hingibt, den Gegner zu treffen. (Solange man an die eigene Sicherheit denkt, kann man den Kampf niemals gewinnen.) Ist der Feind ebenso bereit, sein Leben dafür hinzugeben, so stehen zwei Ebenbürtige einander gegenüber. Die Entscheidung ist Glaube und Schicksal.› Die Worte des Kommentars lauten: ‹ARAKI MATAYEMON (ein großer Schwertmeister der frühen Tokugawa-Zeit) erteilte seinem Neffen WATANABE KAZUMA folgende Belehrung, als sie im Begriff Einer der größten Schwertmeister, 1490 – 1572. Über ihn weiter unten Näheres. 17
standen, den Entscheidungskampf mit ihren Feinden zu beginnen: ‹Wenn der Gegner deine Haut ritzt, so schneid in sein Fleisch; schneidet er dir ins Fleisch, so hau ihm in die Knochen; trifft er deine Knochen, so nimm ihm das Leben!› An einer andern Stelle erteilt ARAKI den Rat: ‹Wenn du dabei bist, das Schwert mit deinem Feinde zu messen, so sei bereit, dein eigenes Leben vor ihm zu vergessen. Solange du im geringsten daran denkst, wie du heil davonkommen könntest, bist du schon verloren.› Weiterhin stellt das Hagakure fest: ‹Der Samurai taugt nichts, bis er nicht über Leben und Tod hinausgehen kann. Wenn es heißt, in allen Dingen sei ein und dasselbe Bewußtsein, magst du glauben, es gebe so etwas, das man Bewußtsein heißt. Aber in Wahrheit muß das Bewußtsein, das an Leben und Tod hängt, aufgegeben werden, um große Taten zu vollbringen.› Das bedeutet, daß alles vollendet ist, sobald dies Bewußtsein den Zustand der Nichtbewußtheit erreicht, so wie es der große Zen-Meister TAKUAN oben ausspricht. Das ist ein Zustand, für den die Frage Tod oder Unsterblichkeit nicht mehr vorhanden ist. Da gerade von TSUKEHARA BOKUDEN die Rede war, einem jener Schwertmeister, die wirklich den Sinn des Schwerts begriffen haben, nicht als einer Mordwaffe, sondern als eines Werkzeugs der geistigen Selbstzucht, so möchte ich hier die beiden bekanntesten Vorfälle seines Lebens anführen: Als BOKUDEN einmal mit einer Anzahl Mitreisender in einem Ruderboot über den Biwa-See fuhr, befand sich unter diesen ein wild dareinschauender Samurai, grimmig und hochmütig in jeder Weise. Der prahlte mit seiner Gewandtheit in der Schwertkunst und erklärte sich für den besten Meister in ihr. Die Mitreisenden lauschten begierig seinen ruhmredigen Worten, aber BOKUDEN träumte vor sich hin,
als hörte er nichts um sich her. Das reizte den Bramarbas gar sehr. Er trat auf BOKUDEN zu, stieß ihn an und sagte: ‹Ihr tragt ja auch zwei Schwerter, warum sagt Ihr kein Wort?› BOKUDEN antwortete ganz ruhig: ‹Meine Kunst ist nicht die Eure, sie besteht darin, andere nicht zu besiegen, aber auch selber nicht besiegt zu werden.› Das war für jenen erst recht eine Herausforderung. ‹Zu welcher Schule gehört Ihr denn?› ‹Die meine heißt Mutekatsu-Schule› (das bedeutet ‹Ohne-HandSchule›, womit gemeint ist, daß man den Gegner, ohne das Schwert zu berühren, besiegt). ‹Wozu tragt Ihr dann selber ein Schwert?› ‹Das Schwert bedeutet Selbstlosigkeit, nicht andere töten.› Der Samurai geriet in eine grenzenlose Wut und rief mit brüllender Stimme: ‹Vermeßt Ihr Euch wirklich, ohne Schwert gegen mich zu kämpfen?› ‹Warum nicht?› erwiderte BOKUDEN. Der Bramarbas schrie nun dem Bootsmann zu, er solle ans nächste Ufer fahren. Allein BOKUDEN riet, man steure besser zu einer etwas entfernteren Insel, denn am Ufer könnten Leute zusammenlaufen und in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Samurai war es zufrieden. Das Schiff hielt also auf eine öde Insel zu, die nicht gar zu weit ablag. Sowie es sich dem Strande näherte, sprang der Samurai an Land und zückte sein Schwert zum Kampf. BOKUDEN legte behaglich sein Schwert ab und übergab es dem Bootsmann. Es sah so aus, als wollte er dem Samurai auf die Insel folgen, da nahm er plötzlich dem Bootsmann das Ruder fort, stemmte es gegen das Ufer und stieß das Boot ab. Dieses entfernte sich ganz überraschend von der Insel und trieb sicher im tieferen Wasser dem Samurai davon. BOKUDEN aber meinte lächelnd: ‹Das ist meine Ohne-Schwert-Schule.›
Eine andere merkwürdige und lehrreiche Anekdote wird von BOKUDEN erzählt, dessen Meisterschaft tatsächlich weit über bloßes Geschick im Spiel der Schwerter hinausging. Er hatte drei Söhne, die alle in der Schwertkunst geübt waren. Er wollte ihr Können prüfen. So steckte er ein kleines Kissen über den Vorhang am Eingang seines Zimmers, und zwar so, daß eine leichte Berührung des Vorhangs, den man beim Eintreten aufheben mußte, das Kissen dem Eintretenden gerade auf den Kopf fallen ließ. BOKUDEN rief zuerst den ältesten Sohn herein. Als er kam, bemerkte er das Kissen über dem Vorhang, nahm es herab und setzte es wieder an seine Stelle, als er das Zimmer betreten hatte. Nun wurde der zweite Sohn gerufen. Er berührte den Vorhang, um ihn aufzuheben, und sowie er sah, daß das Kissen herabfiel, faßte er es mit der Hand und brachte es sorgfältig wieder an seinen Platz. Nun war der dritte Sohn an der Reihe, den Vorhang anzufassen. Er trat rasch herein, und das Kissen fiel ihm auf die Schultern. Aber er hieb es mit dem Schwert in zwei Stücke, noch bevor es den Boden erreichte. BOKUDEN traf folgende Entscheidung: ‹Mein ältester Sohn, du bist tüchtig zur Schwertkunst.› Mit diesen Worten übergab er ihm ein Schwert. Zum zweiten sprach er: ‹Du hast noch fleißig zu üben›; aber der jüngste wurde aufs strengste getadelt, da er ein Unglück für die Familie sei. TAKEDA SHINGEN (1521 – 1573) und UESUGI KENSHIN (1530 bis 1578) waren zwei große Feldherren des 16. Jahrhunderts, als Japan durch innere Kriege zerrissen war. Die beiden werden gewöhnlich zusammen genannt, denn ihre Provinzen – die eine im nördlichen, die andere im mittleren Japan – lagen nahe beieinander, und sie hatten mehrere Male um die Vorherrschaft zu kämpfen. Sie waren als tüchtige Kriegsleute und gute Verwalter einander würdig, beide waren
auch Zen-Anhänger. Als KENSHIN einst hörte, SHINGEN leide sehr unter Salzmangel für seine Untertanen, war er großmütig genug, seinem Feind den nötigen Vorrat aus seiner eigenen Provinz zur Verfügung zu stellen. Denn Echigo an der Japan-See brachte Salz genug hervor18. In einer der erbitterten Schlachten von Kawanaka-jima wurde KENSHIN, so heißt es, ungeduldig über das langsame Vorrükken seines Heeres, er wollte mit einem Schlag das Los des Tages entscheiden und ritt deshalb selber in das Lager des Gegners. Als er dessen Feldherrn friedlich auf seinem Lagerstuhl mit wenigen Wachen um sich sitzen sah, zückte KENSHIN sein Schwert und ließ es quer über SHINGEN Haupt niederfallen mit den Worten: ‹Was wirst du in diesem Augenblick sagen?› – eine richtige Zen-Frage. SHINGEN blieb völlig unbewegt, und mit der Antwort: ‹Eine Schneeflocke auf dem brennenden Ofen› parierte er die drohende Waffe mit einem eisernen Fächer, den er gerade zur Hand hatte. Dieses Mondo ist wahrscheinlich nicht historisch, aber die Geschichte zeigt treffend, was die beiden furchtlosen Krieger mit ihren geschorenen Köpfen für Zen-Jünger waren. KENSHIN war auf folgende Weise dazu gekommen, Zen allen Ernstes unter YEKIWOS Leitung zu studieren. Als YEKIWO eines Tages Die Salznot in der Provinz Kai war auf folgende Weise entstanden. Kai ist von Bergen umschlossen, und die Bevölkerung mußte ihren Salzvorrat aus dem südlich gelegenen Bezirk am Stillen Ozean beziehen. Allein SHINGEN war mit den Lehensherren dieses Bezirks verfeindet, und diese hatten vereinbart, die Salzlieferung nach Kai einzustellen. UESUGI KENSHIN, der selbst mit SHINGEN im Krieg lag, hörte davon und war über das feige Verhalten dieser Kriegsherren von der Küste empört. Er war der Ansicht, jeder Kampf müsse auf ehrlicher Grundlage, nämlich auf dem Schlachtfeld entschieden werden. Er schrieb daher an SHINGEN und fragte, ob er den benötigten Vorrat aus Echigo annehmen würde. SHINGEN wußte den Edelmut seines großherzigen Gegners im Norden entsprechend zu schätzen. 18
über BODHIDHARMAS ‹Ich weiß es nicht!› predigte, befand sich KENSHIN unter seinen Hörern. Er wußte einiges über Zen und beschloß, den Mönch auf die Probe zu stellen. Er trug die Kleidung eines gewöhnlichen Samurai wie alle anderen und wartete auf seine Gelegenheit. Da wandte sich der Mönch plötzlich ihm zu und fragte: ‹Herr Oberbefehlshaber, was meinte Dharma mit seinem ,Ich weiß es nicht?’› KENSHIN war verblüfft und wußte nicht, was er sagen sollte. Darauf fuhr YEKIWO fort: ‹Herr Oberbefehlshaber, warum gebt Ihr mir heut keine Antwort, wenn Ihr doch sonst so geläufig über Zen zu reden wißt?19› KENSHINS Stolz schwand dahin. Er begann jetzt, unter der Anleitung dieses Mönchs mit großem Eifer sich Zen zu widmen, und YEKIWO pflegte ihm zu sagen: ‹Wenn du wirklich Zen erfassen willst, so mußt du sogleich dein Leben wegwerfen und stracks in den Brunnen des Todes springen.› KENSHIN hinterließ seinen Gefolgsmännern später folgende Ermahnung: ‹Die am Leben haften, werden sterben, und die den Tod verachten, werden leben. Auf das Innere kommt es an. Schaut hinein in das Innere, haltet es fest, und ihr werdet erfahren, daß in euch etwas lebt, das jenseits von Geburt und Tod besteht und weder im Wasser ertrinken noch im Feuer verbrennen kann. Ich selbst habe die Erkenntnis dieses Samadhi gewonnen und weiß, was ich euch sage. Wer sein Leben nicht hingeben und den Tod nicht erwählen mag, ist kein wahrer Krieger.› Auch SHINGEN spielte in seiner ‹Grundlegung› auf Zen und den Tod an. ‹Zollt Verehrung den Göttern und dem BUDDHA! Sind eure Gedanken im Einklang mit BUDDHAS Gedanken, so werdet ihr mächtiger. Wenn eure Herrschaft über andere aus euren bösen Gedanken entspringt, so werdet ihr in Gefahren geraten und darin umkommen. 19
Zen-Essays I, p. 175.
Sodann: Gebt euch dem Zen-Studium hin! Zen hat kein anderes Geheimnis als das ernstliche Nachdenken über Geburt und Tod.› Diesen Zeugnissen ist unmißverständlich zu entnehmen, daß eine notwendige innere Verbundenheit zwischen dem Kriegerwesen und Zen besteht. Das ergibt sich ebenso klar aus dem Verhalten der ZenMeister selber, die zuweilen ein richtiges Spiel mit dem Tode trieben. SHINGENS Zen-Lehrer war KWAISEN, der Abt des Yerin-ji in der Provinz Kai. Nach SHINGENS Tod wurde sein Kloster am 3. April 1582 von ODA NOBUNAGAS Truppen belagert, weil der Abt sich weigerte, NOBUNAGAS Gegner auszuliefern, die bei ihm Zuflucht gesucht hatten. Die Soldaten zwangen sämtliche Mönche und Kwaisen selbst, in das obere Stockwerk des Tempeltors zu steigen. Es war ihre Absicht, die Widerspenstigen lebendig zu verbrennen, indem sie das Gebäude in Brand setzten. Die Mönche mit dem Abt an der Spitze versammelten sich schweigend und nahmen dem BUDDHA-Bild gegenüber ihre vorgeschriebenen Plätze ein. Wie immer hielt der Abt seine Ansprache und sagte: ‹Wir sind jetzt von Flammen umgeben. Wie wollt ihr nun im entscheidenden Augenblick das Rad des Dharma drehen? Ein jeder von euch gebe mir seine Antwort!› Darauf sprach ein jeder sich aus, wie es dem Licht seines Verständnisses entsprach. Als alle geendet hatten, gab der Abt seine Auffassung kund, und alle gingen ein in das Flammen-Samadhi. Des Abts Worte waren diese: ‹Zum Frieden der Versenkung braucht es nicht Berg und Strom. Ist das Denken gestillt, wird auch das Feuer erquickend und kühl.› Gerade im 16. Jahrhundert hat Japan, von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, manche Beispiele edler Menschlichkeit hervorgebracht. Das Reich war politisch und sozial in Stücke zerschlagen. Über das ganze Land standen die Lehensherren im Krieg gegeneinander.
Das Volk selber muß schwere Leiden durchgemacht haben, aber diese Entscheidungskämpfe um die militärische und politische Vorherrschaft, die von der Kriegerklasse ausgefochten wurden, trugen dazu bei, die geistigen und sittlichen Kräfte auf jede denkbare Weise und bis zum Äußersten zu stählen. Mannhaftigkeit bewährte sich in allen Lebenskreisen als das Höchste. Man darf sagen: die meisten Tugenden, die das Ideal des Bushido ausmachen, haben sich in dieser Zeit durchgebildet, und SHINGEN und KENSHIN sind typische Vertreter der Samurai-Oberherren gewesen. Beide waren persönlich tapfer und zitterten im Angesicht des Todes nicht; sie waren weise, vorsorgend und einfallsreich nicht im Krieg allein, sondern auch in der Regierung über ihre Untertanen. Sie sind nicht einfach Kämpfer gewesen, unwissend und verschlagen, sie besaßen eine vollendete literarische Bildung und eine tiefe Religiosität. Es ist bedeutsam, daß beide, SHINGEN und KENSHIN, fromme Buddhisten waren. SHINGENS weltlicher Name war HARUNOBU und KENSHINS Name TERUTORA, aber beide sind unter ihren buddhistischen Benennungen besser bekannt. Beide waren schon in der Jugend in buddhistischen Klöstern erzogen worden und ließen sich im Mannesalter als ‹Nyudo› – wörtlich: die den Pfad betreten – das Haupthaar scheren. KENSHIN lebte ehelos und fleischlos wie ein buddhistischer Mönch. Gleich den meisten gebildeten Japanern liebten sie die Natur und machten japanische und chinesische Gedichte. Eines der Gedichte KENSHINS, das er verfaßte, als er gegen eine Nachbarprovinz im Felde lag, hat etwa folgenden Inhalt: ‹Die stärkende kalte Herbstluft weht über die Krieger im Lager. Die Nacht rückt vor, der Wildgänse geregelten Flug sieht man im Mondlicht. Wie Schattenrisse stehen die Berge von Ecchu über den
träumenden Wellen der Noto-Bucht – (Wie schön dieses Bild, und wie entzückt es mich!) wären wir nicht fern den Heimischen, die jetzt vielleicht unseres Feldzuges gedenken (da sie zum gleichen Mond emporschauen).› SHINGENS Naturgefühl war nicht geringer als das seines Gegners in Echigo. Als er einst einen Buddhatempel in einem abgelegenen Winkel seiner Provinz besuchte, in dem Achala (Fudo Myowo) Verehrung genoß, bat ihn der Abt des nahen Klosters, auf dem Heimweg auch dieses aufzusuchen. SHINGEN lehnte zuerst die Einladung ab; da ihn die Vorbereitung eines in wenigen Tagen zu eröffnenden Feldzugs zu sehr in Anspruch nehme, habe er für diesmal keine Zeit, den Abt zu sehen. Er fügte hinzu, sobald er von diesem Unternehmen zurückkehre, wolle er gern das Kloster besuchen. Aber der Abt, nebenbei derselbe, der sich später von den Soldaten ODA NOBUNAGAS lebendig verbrennen ließ, drängte: ‹Die Kirschbäume beginnen eben jetzt zu blühen, und ich habe schon einen Ruheplatz für Euch herrichten lassen, von dem aus Ihr die ganze Pracht des Frühlings genießen könnt. Ich hoffe, Ihr verschmäht es nicht, die Kirschblüte zu bewundern.› SHINGEN war einverstanden: ‹Gegen die Kirschen kann ich meinen Kopf nicht durchsetzen, und auf die dringende Bitte des Abts muß ich Rücksicht nehmen.› Zum Preise der schönen Gelegenheit, sich an den Blüten und dem rein geistigen Gespräch mit dem Abt zu erfreuen, verfaßte SHINGEN folgende japanische Verse: ‹Hätte mein Freund mich nicht eingeladen, wie sehr hätte ich den herrlichen Anblick der Kirschblüte entbehrt! Vielleicht wäre das Kloster im nächsten Frühling, wenn ich es aufgesucht hätte, ganz im
Schnee begraben gewesen.20› Diese wunschlose Freude an der Natur, wie sie SHINGEN und KENSHIN mitten in ihren Kriegszügen empfanden, bezeichnet man als Furyu, und Menschen ohne dies Gefühl für Furyu gelten als die ungebildetsten in Japan. Es ist nicht ein bloß ästhetisches Gefühl, sondem hat auch eine religiöse Bedeutung. Vielleicht entspringt es derselben Gesinnung, wenn gebildete Japaner verschiedenster Berufe im letzten Augenblick ihres Lebens noch ein japanisches oder chinesisches Gedicht niederzuschreiben pflegen. Diese Verse sind bekannt als ‹Abschiedsverse vom Leben›. Die Japaner sind darin erzogen und geübt worden, selbst in der äußersten Erregung, in der sie sich befinden mögen, einen Augenblick der Muße und Abkehr zu finden. Der Tod ist die ernsthafteste Angelegenheit, die den ganzen Menschen beschäftigt, aber gebildete Japaner sind der Meinung, sie müßten fähig sein, weiter zu blicken und ihn sachlich anzusehen. Die Gewohnheit, ein Abschiedsgedicht zu hinterlassen, ist zwar auch in der Feudalzeit nicht von allen Gebildeten unbedingt eingehalten worden, aber sie entstand höchst wahrscheinlich in der Kamakura-Periode unter den Zen-Priestern und ihren Anhängern. Als der BUDDHA in Nirwana einging, versammelte er seine Jünger um sich und richtete eine letzte Ermahnung an sie. Die Liebe zur Kirschblüte scheint das andere Ich der Japaner zu sein. Einst zur Tokugawa-Zeit lag im Kerker von Koishikawa eine Gefangene, die zum Tode verurteilt war und vor dem Frühling hingerichtet werden sollte. Wenn sie zu ihrem Fenster hinausblickle, sah sie da einen Kirschbaum stehen und hegte Sehnsucht, ihn blühen zu sehen. Als das Urteil gesprochen wurde, sprach sie den dringenden Wunsch aus, seine Blüte noch erleben zu dürfen, bevor sie scheide. Der Kerkermeister war ein freundlicher Mann, er wußte was Furyu ist, und erfüllte ihren letzten Wunsch. Es heißt, sie habe dann voller Glück und Frieden den Tod erwartet. Der Kirschbaum wurde unter dem Namen Asatsuma berühmt. 20
Das ist wohl von den chinesischen Buddhisten nachgeahmt worden, besonders von den Zen-Buddhisten, die statt einer Abschiedsunterweisung für ihre Anhänger die Summe ihrer Lebensweisheit aussprachen. TAKEDA SHINGENS Abschiedsworte waren ein Zitat aus der ZenLiteratur: ‹Sie baut vor allem auf ihre angeborene Leibesschönheit und hat es nicht nötig, zu Puder und Farben zu greifen, um schön zu erscheinen.› Das bezieht sich auf die unbedingte Vollkommenheit der Wirklichkeit, aus der wir alle kommen, zu der alle heimkehren und in der wir alle leben und sind. Eine Welt von Wandlungen schwindet dahin und kehrt wieder, aber was hinter ihr steht, bleibt immer unwandelbar in vollendeter Schönheit. UESUGI KENSHIN hinterließ die folgenden Gedichte, eines auf chinesisch, das andere japanisch: ‹Selbst ein lebenslanges Glück ist nur eine Schale Sake. Neunundvierzig Jahre sind vorbei wie ein Traum. Ich weiß nicht, was ist Leben, noch, was ist Tod? Jahrein und jahraus – es ist all nur ein Traum.› ‹Himmel und Hölle liegt fern zurück. Ich stehe im dämmernden Mond, Vom Gewölk der Gebundenheit frei.› Aus den folgenden Berichten über den Tod der Kamakura-Krieger, wie sie im Taiheiki im späten 14. Jahrhundert zusammengestellt worden sind, wird ebenso wie aus dem Ende der Yerin-ji-Mönche sich klar ergeben, welchen Einfluß Zen auf Bushido, vor allem im Hinblick auf die Einstellung zum Tode, ausgeübt hat.
Unter den Gefolgsmännern HOJO TAKATOKIS, des Letzten aus dem Hojo-Geschlecht, war einer namens SHIAKU SHINSAKON NYUDO, der einen mittleren Rang in der Samurai-Hierarchie von Kamakura bekleidete. Als er im Begriff war, Selbstmord zu begehen, um seinem Herrn, dessen Ende gewiß war, nachzufolgen, rief er seinen ältesten Sohn SABUROZAEMON zu sich und sprach zu ihm: ‹Kamakura ist verloren, da es auf allen Seiten vom Feinde umzingelt ist, und ich gehe als getreuer Gefolgsmann, das Los meines Herrn zu teilen. Du aber bist noch jung, du warst noch nicht zum Dienst verpflichtet und standest in keiner so nahen Verbindung mit dem Herrn wie ich selber. Sieh zu, wie du dem kommenden Verhängnis entrinnst, und wenn du dein Leben rettest, so werde ein Mönch, diene dem BUDDHA und bete für das Heil all unserer Seelen. Keiner wird dich deswegen schelten.› SABUROZAEMON jedoch zeigte kein Verlangen, seines Vaters vernünftigem Rat zu folgen, denn er sagte: ‹Wenn ich auch noch keine Dienstverpflichtung und keine persönliche Verbindung unserem Herrn gegenüber habe, so bin ich doch als dein Sohn unter dem gütigen Schutz seiner Huld aufgewachsen. Lebte ich jetzt schon im Stand des Mönchs, so wäre es etwas anderes. Da ich im Haus eines Samurai geboren bin, wie kann ich dich und unsern Herrn im Stich lassen und mich selber retten, um ein Mönch zu werden? Es gäbe keine ärgere Schande. Wenn du das Los unseres Herren teilen sollst, so laß mich dein Führer ins künftige Leben sein.› Noch bevor er die letzten Worte beendet hatte, schnitt er sich den Leib auf und verschied. Sein Bruder SHIRO, der dazukam, machte sich eilends bereit, seinem Beispiel zu folgen. Aber sein Vater NYUDO tat ihm Einhalt und sagte: ‹Sei nicht so eilig! Du mußt die Reihenfolge einhalten und auf mich warten.› SHIRO steckte sein Kurzschwert in die Scheide und ließ sich gehorsam vor seinem Vater nieder, seiner weiteren Befehle ge-
wärtig. Der Vater hieß ihn jetzt einen Stuhl bringen. Auf diesen setzte er sich mit gekreuzten Beinen in der Haltung eines Zen-Priesters, rieb in aller Ruhe Tusche an, netzte seinen Pinsel und schrieb auf einen Streifen Papier sein Abschiedsgedicht: ‹Dies mein Schwert streck ich aus, Schneide den Wahn entzwei. Mitten im Feuerbrand Strömt ein erquickender Wind.› Als er zu Ende geschrieben, beging er als tapferer Samurai den Selbstmord, und SHIRO vollendete die Tat, indem er nach dem Ehrenkodex des Samurai seines Vaters Haupt abschnitt. Er selber bohrte sich dasselbe Schwert bis zum Griff in den Leib und sank tot nach vorwärts zu Boden Zur Zeit des Sturzes der Hojo lebte auch ein anderer Zen-Krieger namens NAGASAKI JIRO TAKASHIGE. Er ließ einen Zen-Lehrer kommen, der zufällig auch der Lehrer HOJO TAKATOKIS war, und fragte ihn: ‹Wie soll sich ein tapferer Krieger in einem Augenblick wie diesem verhalten?› Der Zen-Meister erwiderte sofort: ‹Geh geradeaus und führe dein Schwert!› Der Krieger verstand sogleich, was er meinte. Er kämpfte aufs tapferste und fiel vor den Augen seines Herrn TAKATOKI. Dies war der Geist, den Zen unter seinen Krieger-Anhängern pflegte. Zen trug ihnen keine Argumente vor über die Unsterblichkeit der Seele oder über die Weisheit der Wege Gottes oder über einen sittlichen Wandel, sondern es verlangte einfach von ihnen, jeden Schluß, zu dem der Mensch gekommen ist, ob vernünftig oder unvernünftig, geradeaus durchzuführen. Das Philosophieren kann man
ruhig den verstandesmäßig Eingestellten überlassen, Zen fordert, daß gehandelt wird, und das wirksamste Handeln ist, vorwärts zu gehen und nicht zurückzublicken, sobald der Weg klar ist. In dieser Hinsicht ist Zen wahrhaftig die Religion des Samurai. Ein ‹Isagi-yoku-Sterben› ist einer der liebsten Gedanken des japanischen Herzens. Bei manchem Tode, wo dies vorhanden ist, werden selbst Unrecht und Verbrechen des Schuldigen milde beurteilt. Isagiyoku bedeutet ‹kein Bedauern hinterlassen›, ‹mit reinem Bewußtsein›, ‹wie ein tapferer Held›, ‹ohne Bedauern›, ‹bei voller Seelenstärke› und so weiter. Der Japaner haßt es, wenn man dem Tod mit Unentschlossenheit und Zaudern entgegensieht, er möchte fortgeweht werden wie die Kirschblüten im Wind. Offenbar geht diese japanische Einstellung zum Tode trefflich mit der Zen-Lehre zusammen. Der Japaner besitzt vielleicht keine ihm eigentümliche Lebensanschauung, aber ganz gewiß hat er eine Todesanschauung, die zuweilen höchst radikal erscheinen mag. Der Geist des Samurai, der Zen tief in sich eingeatmet hatte, hat diese Gesinnung sogar dem gewöhnlichen Volke eingeflößt. Auch wo dieses nicht besonders geschult ist für den Weg des Kriegers, hat es seinen Geist mit dieser Gesinnung erfüllt und ist bereit, sein Leben zu opfern für jede Sache, die ihm eine gute scheint. Das hat sich oft erwiesen in allen Kriegen, die Japan bis heute zu bestehen gehabt hat. Ein Ausländer, der über den japanischen Buddhismus geschrieben hat, bemerkt treffend, Zen sei der Charakter des Japaners.
4. ZEN UND DIE SCHWERTMEISTERSCHAFT
Das doppelte Amt des Schwertes ‹Das Schwert ist die Seele des Samurai.› Wenn also vom Samurai irgendwie die Rede ist, so muß auch vom Schwert gesprochen werden. Vom Samurai wird, wenn er seiner Berufung treu sein will, verlangt, daß er sich über die Frage von Geburt und Tod, von Entstehen und Vergehen erhebt und jeden Augenblick bereit ist, sein Leben hinzugeben, das heißt sich dem Schwerthieb des Gegners auszusetzen oder seine Waffe gegen sich selber zu kehren. Das Schwert gewinnt so eine ganz innerliche Verbindung mit dem Leben des Samurai; es ist das Sinnbild seiner Treue und Selbstaufopferung geworden. Die Verehrung, die ihm ganz allgemein und in verschiedener Weise zuteil wird, beweist dies. Das Schwert hat somit ein doppeltes Amt zu erfüllen: das eine bedeutet die Vernichtung alles dessen, was dem Willen seines Trägers sich widersetzt, das andere den Verzicht auf jeden Antrieb, der aus dem Selbsterhaltungstrieb entspringt. Das erstere verbindet sich mit dem Geist der Vaterlandsliebe und des Kriegertums, das letztere hat im Hinblick auf Treue und Hingabe des Selbst eine religiöse Färbung. Im ersteren Fall kann das Schwert häufig nichts anderes als Zerstörung bezwecken, dann ist es einfach das Sinnbild der Kraft, zuweilen einer dämonischen Kraft. Daher muß es von seiner anderen Bestimmung überwacht und geweiht werden. Sein gewissenhafter Träger ist sich dieser Wahrheit immer bewußt geblieben. Denn so wendet sich die Zerstörung gegen den Geist des Bösen. Das Schwert wird auf
diese Weise gleichgesetzt mit der Vernichtung der Mächte, die sich dem Frieden, dem Recht, dem Fortschritt und der Menschlichkeit entgegenstellen. Und es vertritt jegliche Kraft, die für das geistige Wohl auf Erden wirkt. So wird es zur Verkörperung des Lebens und nicht des Todes. Zen spricht von dem Schwert des Lebens und von dem Schwert des Todes, und es ist die Aufgabe eines großen Zen-Meisters, zu wissen, wann und wie das eine oder das andere zu führen ist. Der Bodhisattva Manjusri trägt ein Schwert in der Rechten und Sutra in der Linken. Das mag an den Propheten MOHAMMED erinnern, allein das heilige Schwert Manjusris ist nicht dazu da, irgendein lebendes Geschöpf zu töten, sondern unsere eigene Gier, Zorn und Torheit. Es ist gegen uns selbst gerichtet, denn wenn es diese Bestimmung erfüllt, wird die äußere Welt, die nur das Spiegelbild unseres Inneren ist, gleichfalls befreit von Gier, Zorn und Torheit. Achala (Fudo Myowo) trägt ebenso das Schwert und will damit alle feindlichen Kräfte, die der Herrschaft der buddhistischen Tugenden sich widersetzen, zunichte machen. Manjusri ist positiv und Achala negativ eingestellt. Achalas Zorn ist lodernd wie das Feuer und läßt nicht nach, bis der letzte Schlupfwinkel des Feindes ausgebrannt ist. Dann erst wird er seine ursprüngliche Gestalt wieder annehmen und Vairochana Buddha sein, dessen dienende Offenbarung er ist. Vairochana hält nicht das Schwert, denn er selber ist das Schwert und thront einsam, alle Welten in seinem Inneren bergend. In dem folgenden Mondo hat ‹das eine Schwert› diese Bedeutung. KUSUNOKI MASASHIGE (1294 bis 1336) kam eines Tages in ein Zen-Kloster zu Hyogo, als er im Begriff stand, auf das übermächtige Heer ASHIKAGA TAKAUJIS zu stoßen, und fragte den Meister: ‹Wenn ein Mann am Scheideweg zwischen Leben und Tod steht, wie soll er sich da verhalten?› Der Mei-
ster antwortete: ‹Zerschneide die Zweiheit21 und richte das eine Schwert still in sich selber gegen den Himmel auf!› Dieses absolute ‹eine Schwert› ist weder das Schwert des Lebens noch das Schwert des Todes, sondern das Schwert, aus dem diese Welt der Zweiheit entspringt und in dem aller Zwiespalt seine Einheit besitzt, es ist Vairochana Buddha selber. Erfasset ihn, und ihr werdet wissen, wie ihr euch am Scheidewege verhalten sollt. Das Schwert bedeutet nunmehr die Kraft und Unmittelbarkeit der religiösen Intuition, die im Gegensatz zum Verstande sich nicht zergliedert und so den eigenen Durchgang versperrt. Es geht geradeaus, ohne nach rückwärts und seitwärts zu blicken. Es gleicht dem Metzgermesser CHUANG-TSES, das die Gelenke zertrennt, als ob sie nur auf es warteten, um sich zu lösen. CHUANG-TSE möchte sagen: Die Gelenke trennen sich von selber, und das Messer bleibt so auch nach langen Jahren des Gebrauchs ebenso scharf wie damals, da es zum erstenmal geschliffen war. Das eine Schwert der Wirklichkeit wird niemals stumpf, wenn es noch so viele Opfer des Selbstwahns durchschnitten hat. Das Schwert ist auch mit dem Shinto-Glauben verbunden, doch glaube ich nicht, daß es hier eine so hochentwickelte geistige Bedeutung wie im Buddhismus gewonnen hat. Es trägt hier noch die Spur seines wörtlichen Ursprungs. Es ist nicht ein Sinnbild, sondern ein Gegenstand, der magische Kräfte besitzt. In der Feudalzeit Japans hat die Samurai-Kaste auf diesen Gedanken Wert gelegt, doch ist es schwer, genau zu bezeichnen, was sie sich darunter vorstellte. Sicher hegte sie eine hohe Verehrung für das Schwert: beim Tode des Samurai wurde es an seinem Lager aufgebahrt, und bei der Geburt eines Wörtlich: ‹Schneide die zwei Häupter ab, und Ein kaltes Schwert steht gegen den Himmel!› 21
Kindes hatte es seinen Platz im Zimmer. Es war wohl die Absicht, damit die bösen Geister aus dem Raume abzuwehren, die Sicherheit und Glück der abgeschiedenen oder der ankommenden Seele bedrohen konnten. Hier steckt noch ein Rest animistischer Vorstellungen. Auch die Idee des ‹heiligen Schwerts› ist wohl auf diese Weise zu erklären.
Die Legende vom Schwertschmied Masamune Es ist zu beachten, daß der Schwertschmied, wenn er ein Schwert zu fertigen hatte, die Hilfe eines schirmenden Gottes anrief. Um ihn in die Werkstatt einzuladen, umschließt der Schmied diese mit geweihten Seilen und verhindert damit das Eindringen böser Geister. Dann vollzieht der Schmied an sich selber die Reinigungsgebräuche und legt die Zeremonialkleidung an, in der er seine Arbeit verrichtet. Während der Eisenbarren gehämmert und mit Feuer und Wasser geläutert wird, befinden sich der Schmied und seine Gehilfen in der höchsten inneren Spannung. Im Vertrauen auf den Beistand des Gottes, der ihrem Werk zuteil werden soll, strengen sie sich bis zur äußersten Grenze ihrer Seelen-, Körper- und Geisteskräfte an. Das Schwert, das so geschaffen wird, ist in Wahrheit ein Kunstwerk und muß etwas vom Geist seines Schöpfers widerspiegeln. Das ist wohl der Grund, daß im japanischen Schwert etwas steckt, das tief zur Seele unseres Volkes spricht. In der Tat betrachtet es das Schwert nicht als ein Werkzeug der Zerstörung, sondern als einen Gegenstand der Begeisterung. Daher die Legende von dem Schwertschmied MASAMUNE und wie man seine Werke bewertet. MASAMUNE wirkte in der späten Kamakura-Zeit, und seine Werke werden von allen Schwertkennern wegen ihrer hervorragenden
Eigenschaften einhellig gepriesen. Was die Schärfe der Klinge betrifft, ist MASAMUNE22 vielleicht MURAMASA, einem seiner besten Schüler, nicht überlegen, aber es heißt von ihm, seine Arbeiten hätten etwas das Herz Befeuerndes, das seiner sittlichen Persönlichkeit entDATE MASAMUNES Zusammentreffen mit diesem Zen-Priester geschah auf folgende Weise. MASAMUNE, dessen Gedichte auf den Fuji-Berg an anderer Stelle angeführt sind, war ein eifriger Zen-Jünger. Als er einst nach einem tüchtigen Abt für den Zen-Tempel, in dem die Seelentafeln seiner Ahnen bewahrt standen, sich umsah, hörte er von einem Mönch, der in einem unbedeutenden Landkloster lebte und der ihm empfohlen wurde. Um seine Eignung zu prüfen, lud er ihn auf seine Burg in Sendai. Der Mönch, sein Name war RIN-AN, folgte der Einladung und traf am vereinbarten Tage in der Stadt ein. Er wurde sofort in MASAMUNES Residenz geleitet. Nachdem er einen langen Gang durchschritten hatte, ward ihm gesagt, der Herr erwarte ihn in einem der folgenden Räume. Er öffnete die Schiebetür und betrat den Raum, doch war niemand darin. So durchschritt er ihn und trat in den nächsten, doch auch hier begrüßte ihn niemand. Das erschien ihm seltsam, doch schritt er weiter, und als er die nächste Tür öffnete, empfing ihn Herr MASAMUNE plötzlich mit gezücktem Schwert, als wolle er ihn erschlagen, und sagte: ‹Was hast du in diesem Augenblick zwischen Leben und Tod zu sagen?› Der Mönch zeigte keinerlei Schreck über diese ungewöhnliche Begrüßung durch seinen Oberherrn. Denn RIN-AN trat unter dem gezückten Schwert flugs einen Schritt vor, packte MASAMUNE um die Hüften und schüttelte ihn kräftig. Der große Kriegsgott und Herr über den ganzen Nordosten Japans rief aus: ‹Du spielst ein gefährliches Spiel!› Der Mönch aber stieß ihn zurück und erwiderte: ‹Was für ein anspruchsvoller Mensch!› In alten Zeiten gab es manche solche Begegnungen zwischen Zen-Möndien und mächtigen Lehensherren, die persönlich und handgreiflich die Dhyana-Schulung zur Zen-Erkenntnis jener auf die Probe stellen wollten. Da sie Krieger waren, die dem Tod jeden Augenblick auch in ihrem anscheinend friedlichen Leben zu Hause ins Gesicht sehen mußten, so suchten sie darin auf eine durchaus sachliche und keineswegs scholastische Weise sich zu üben. Sie brauchten keine sogenannte Philosophie oder Religion, sondern eine praktische und unmittelbare Anleitung für ihr Berufsleben. Zen war der rechte Führer, dessen sie bedurften. 22
springe. Die Legende berichtet: Wenn einer die Schärfe eines MURAMASA-Schwerts erproben wollte, so hielt er es in fließendes Wasser und beobachtete, wie es sich gegen die abgefallenen Blätter verhielt, die auf der Strömung herabschwammen. Und er sah, wie die Klinge jedes Blatt, das auf sie traf, entzweischnitt. Hielt er dann ein MASAMUNE-Schwert hinein, so fand er zu seiner Überraschung, daß die Blätter der Klinge auswichen. Das MASAMUNE-Schwert war nicht darauf aus, zu töten, es war mehr als ein Schneidegerät, aber das MURAMASA-Schwert besaß nur diese Eigenschaft in der Vollkommenheit, es lag keine göttlich begeisternde Kraft in ihm. Das MURAMASA-Schwert ist Furcht erregend, aber das MASAMUNE-Schwert ist menschlich. Das erstere strebt nach Herrschaft und Gewalt, das letztere hat etwas Übermenschliches, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. MASAMUNE grub seinen Namen fast nie in den Griff, obgleich dies unter den Schwertschmieden der Brauch war.
Sittliche und geistige Bedeutung des Schwertes Das No-Spiel Kokaiji gibt uns eine Vorstellung von der sittlichen und geistigen Bedeutung des Schwerts für den Japaner. Das Stück ist wahrscheinlich in der Ashikaga-Zeit entstanden. KAISER ICHIJO (regierte 986 – 1011) bestellte einst ein Schwert bei KOKAIJI MUNECHIKA, einem der größten Schwertschmiede seiner Tage. MUNECHIKA fühlte sich hochgeehrt, doch konnte er den Auftrag nicht ausführen ohne einen Gehilfen, der ihm an Können ebenbürtig war. Er betete zum Gott von Inari, seinem Schutzgott, er möge ihm jemand senden, der dem Werke gewachsen sei. Inzwischen bereitete er die geweihte Plattform genau nach den hergebrachten Vorschriften. Als die Reinigungsgebräuche vollbracht waren, sprach er folgendes Gebet: ‹Das
Werk, an das ich gehe, dient nicht meinem eigenen Ruhm, es geschieht nach dem erhabenen Befehl des Kaisers, der die Erde beherrscht. Ich bete zu allen Göttern, deren Menge unzählbar wie der Sand des Ganges ist, sie mögen herbeikommen und dem geringen MUNECHIKA ihre Hilfe gewähren, der jetzt die höchste Anstrengung unternimmt, ein Schwert, der Tugend seines erhabenen Gönners würdig, hervorzubringen. Indem er zum Himmel emporschaut und sich zu Boden wirft, bringt er den Göttern dieses Nusa dar als Zeichen seines ernstlichen Verlangens, daß er das Werk mit Erfolg vollbringen möge. Möge die Gottheit seiner aufrichtigen Gesinnung sich erbarmen!› Jetzt vernimmt man eine unbekannte Stimme: ‹Bete, bete, MUNECHIKA, mit aller Hingebung und allem Ernst! Die Zeit ist gekommen, das Eisen zu hämmern. Vertraue auf die Götter, und das Werk wird getan.› Eine geheimnisvolle Gestalt erschien ihm und half ihm, das Schwert zu schmieden, dieses kam zur rechten Zeit aus der Esse hervor und wies alle Zeichen der Vollkommenheit und glückhaften Vorbedeutung auf. Der Kaiser war mit dem Schwert zufrieden und hielt es für würdig, als heilig und Verdienst befördernd in seinem Schatz bewahrt zu werden. Da eine göttliche Kraft bei der Herstellung des Schwerts beteiligt ist, so muß auch sein Eigentümer und Träger dieser Berufung entsprechen. Er soll ein geistiger Mann, nicht ein brutaler Mensch sein. Seine Gesinnung soll im Einklang stehen mit der Seele, die die kalte Fläche des Stahls belebt. Die großen Schwertmeister sind nicht müde geworden, dieses Gefühl in die Herzen ihrer Jünger zu pflanzen. Wenn der Japaner sagt, das Schwert sei die Seele des Samurai, so muß man an all die Tugenden sich erinnern, von denen oben die Rede war: Treue, Selbstopferung, Ehrfurcht, Wohlwollen und Hingabe an den Glauben. Darin liegt das Wesen des Samurai.
Zen-Lehre und Schwertkunst Der Samurai trug zwei Schwerter, das eine längere zum Angriff und zur Verteidigung, das andere kurze zur Selbstvernichtung, wenn sie geboten war. Und naturgemäß hatte er sich mit dem größten Eifer in der Kunst der Schwertführung zu üben. Er war unzertrennlich von der Waffe, die in der Tat mehr als irgend etwas anderes das Sinnbild seiner Würde und Ehre war. Die Übung in ihrem Gebrauch war, abgesehen von ihrem praktischen Zweck, zugleich das Mittel, ihn geistig und sittlich tüchtig zu machen. Hier berührte sich die Gesinnung des Schwertträgers mit Zen. Wenn diese Tatsache auch in gewissem Umfang schon dargelegt wurde, so möchte ich noch einige weitere Stellen anführen, die jene innere Verbundenheit zwischen Zen und dem Schwert noch besser erläutern. Hier steht zunächst TAKUANS Brief an YAGYU TAJIMA-NO-KAMI über die Verbindung von Zen und der Schwertmeisterschaft. Er trägt die Überschrift: ‹Vom Unbewegten Begreifen.› Einen ganz kurzen Abschnitt daraus habe ich schon in einem meiner Bücher über Zen mitgeteilt. Da er zu lang für eine genaue und vollständige Übersetzung ist, habe ich ihn hier knapper zusammengefaßt, aber alle seine Grundgedanken bewahrt. Er ist in mehr als einer Hinsicht ein gewichtiges Zeugnis, da er ebensosehr das Wesen der Zen-Lehre wie die Geheimnisse der Schwertkunst berührt. In Japan gilt, wie vielleicht auch in anderen Ländern, die rein technische Beherrschung einer Kunst als nicht hinreichend, um einen Mann wirklich zu ihrem Meister zu machen, sondern er muß zugleich tief in ihren Geist eingedrungen sein. Dieser Geist aber ist erst dann erfaßt, wenn sein Herz in vollkommenem Einklang mit dem Prinzip des Lebens selber steht, das heißt, wenn er den geheimnisvollen Seelenzustand erreicht, der als ‹Mushin› oder ‹Nicht-Bewußtsein› bezeichnet wird. In der bud-
dhistischen Ausdrucksweise heißt dies die Überwindung der Zweiheit von Leben und Tod. An diesem Punkt mündet eine jede Kunst in Zen. TAKUAN betont in seinem Brief an den großen Meister der Schwertkunst notwendig die Bedeutung von Mushin, das in gewisser Hinsicht dem Begriff des Unbewußten entspricht. Psychologisch gesprochen ist es ein Gemütszustand absoluter Passivität, in dem die Seele sich uneingeschränkt einer fremden ‹Kraft› überläßt. Hier wird der Mensch sozusagen zum Automaten, was seine Bewußtheit betrifft. Aber wie TAKUAN auseinandersetzt, ist dies nicht zu verwechseln mit der Fühllosigkeit und hilflosen Passivität einer unorganischen Masse, wie etwa eines Felsens oder eines Holzblocks. ‹Unbewußt und dennoch bewußt› – dies verblüffende Paradox beschreibt allein diesen Seelenzustand.
Eine zentrale Lehre: Takuans Brief über das Unbewegte Begreifen Die Buddhalehre unterscheidet zweiundfünfzig Stufen der geistigen Entwicklung. Eine von diesen heißt ‹Einhalten›, wo der Mensch an einer Stelle sich festgerannt hat und nicht mehr weiterkommt. Du hast in deinem Schwertspiel etwas Dementsprechendes: wenn dein Gegner zum Streich gegen dich ausholt und dein Sinn ganz auf sein Schwert gesammelt ist, so bist du nicht mehr freier Herr deiner eigenen Bewegung, sondern stehst unter seinem Bann. Dies nenne ich ‹Einhalten›, denn du bleibst an einer Stelle eingehalten. Wenn du aber bemerkst, wie deines Gegners Schwert auf dich zufährt, aber deine Aufmerksamkeit nicht an dasselbe gefesselt stockt, so hast du deinerseits keinen gebundenen Plan, wie du ihm begegnen willst, sondern du folgst dem Schwert einfach bis zur Person deines Geg-
ners selbst, und das heißt: ihn mit seiner eigenen Waffe schlagen. In der Zen-Lehre gibt es einen Satz, der dasselbe meint: ‹Ergreif des Feindes eigenes Schwert, kehr es um, und du schlägst ihn damit.› Wenn deine Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick durch das Schwert in des Feindes Hand gefesselt ist, oder durch dein eigenes Schwert, daß du überlegst, wie du es führen sollst, oder durch Persönlichkeit, Waffe, Ziel oder Bewegung, so gibst du gewiß dem Feind eine Blöße, dich zu treffen. Du darfst dich auch nicht um den Gegensatz zwischen dir und deinem Gegner kümmern, sonst gewinnt dieser einen Vorteil über dich. Daher darfst du auch an dich selber nicht denken. Möglichst auf seiner Hut sein, die Aufmerksamkeit bis zum äußersten Grad anspannen – das ist ganz recht für Anfänger, aber es führt dahin, daß dein Herz durch das Schwert hinweggerafft wird. Sobald deine Aufmerksamkeit auf diese oder jene Weise gebunden ist, verlierst du die Meisterschaft. Dieses ‹Einhalten› muß im Glauben so gut wie in deiner Fechtkunst überwunden werden. In jedem von uns steckt etwas, das Unbewegtes Begreifen heißt. Dies gilt es zu üben. Unbewegt soll nicht bedeuten, daß man wie ein Felsblock oder ein Baumstamm ohne Begreifen verharrt. Unbewegtes Begreifen ist das beweglichste Ding der Welt: es ist bereit, in jede denkbare Richtung zu gehen, und hat doch keinen Einhaltepunkt. Fudo, der Gott des unbewegten Begreifens, trägt ein Schwert in seiner Rechten und eine Fangschnur in seiner Linken, und seine Zähne sind grimmig, seine Augen brennend vor Zorn, er bedräut die bösen Geister, die der Lehre Schaden tun möchten. Er ist das Sinnbild der Unbewegten Erkenntnis, er ist nicht wirklich vorhanden und haust irgendwo auf Erden, sondern er nimmt diese Erscheinungsform an, um der Schirmherr der Lehre gegen alle ihre Feinde zu sein. Gewöhnliche Menschen können die Bedeutung dieser Gestalt nicht begreifen,
aber die nach Erleuchtung streben, erfassen sie und bemühen sich, ihre Unwissenheit und Verworrenheit zu bekämpfen, um seine Gegenwart in ihrem eigenen Wesen zu spüren. Fudo vertritt das Unbewegte Begreifen, das heißt unser eigenes Herz, das für immer gestillt und doch allezeit beweglich verharrt. ‹Unbewegt› bedeutet ohne Aufregung sein, die Aufmerksamkeit nicht auf eine Stelle heften und sie dort ‹einhalten› lassen, sonst könnte sie nicht sich anderen Stellen zuwenden, die ohne Unterlaß aufeinander folgen. Sowie ein Gegenstand vor dir erscheint, wirst du ihn ganz von selber wahrnehmen, aber du darfst nicht bei ihm ‹einhalten›. Tust du aber dies, so häuft sich die Menge der Unterscheidungen in deinem Herzen, und jede will die Herrschaft gewinnen. Wenn du sie aber beruhigen und niederschlagen willst, so bleibt dein Herz erst recht in Verwirrung. Bist du von Gegnern umringt, und jeder von ihnen zückt sein Schwert gegen dich, so parierst du und bewegst dich von einem Schwert zum ändern. Du tust nicht ‹Einhalt› bei einem einzelnen, das auf dich zufährt. So kannst du mit allen gleich fertig werden. Wenn deine Aufmerksamkeit auf eines allein sich heftet und nicht sogleich zu den ändern weitergeht, so bist du deinen Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Ebenso mußt du dein Herz frei machen, daß nicht ein einzelner Gegenstand es gefangen nimmt, und es seine angeborene Regsamkeit bewahrt. Wenn du Kwannon Bosatsu (den Bodhisattva Avalokitesvara) mit seinen tausend Armen erblickst, so magst du dich fragen, wie er sie denn alle gebrauchen kann. Das würde stimmen, wenn sein Herz ‹einhielte›, zum Beispiel bei dem Bogen, den er in einer Hand trägt, denn dann wäre er unfähig, mit den übrigen neunhundertneunundneunzig etwas auszurichten. Aber weil er es nicht ‹einhalten› läßt bei irgendeinem der Gegenstände, die er in Händen hält, kann er mit je-
dem von ihnen wirken. Wenn das Unbewegte Begreifen in dir erweckt ist, kannst du ebensolche Wunder tun. In Wahrheit braucht Kwannon so viele Arme nicht; die Absicht ist nur, zu zeigen, daß wir, wenn Unbewegtes Begreifen in uns erwacht ist, jegliche Zahl von Armen, einen jeden zum Besten, gebrauchen können23. Da steht ein Baum mit so vielen Ästen, Zweigen und Blättern. Wenn dein Sinn bei einem der Blätter einhält, so kannst du alle übrigen nicht mehr sehen. Statt dessen wollen wir uns ohne vorgefaßte Meinung oder gefesselte Aufmerksamkeit dem Baume gegenüberstellen, so werden wir jedes einzelne seiner Blätter wahrnehmen können. Darum kein ‹Einhalten› an irgendeiner Stelle, die aus der gesamten Folge des Daseins herausgegriffen wird. Wer diese Wahrheit nicht erfaßt, verneigt sich vor Kwannon und bildet sich ein, dies sei eine wundertätige Gottheit mit tausend Armen und tausend Augen. Wer mit seinem bißchen Verstand sich brüstet, erklärt, es gebe keine solche Wesen wie Kwannon, das alles sei nur Einbildung. Aber in Wahrheit begreifen es die Weisen viel besser als die blinden Gläubigen und die Bilderfeinde. Die ersteren sind in mancher Hinsicht besser als die letzteren – es kommt nur darauf an, daß wir die verborgene Wahrheit in diesen Bildern erfassen. Geht man auf die letzten Gründe zurück, so entspringt alles aus einer grundlegenden Erfahrung.
Das erinnert an die Geschichte vom Tausendfuß. Als man ihn fragte, wie er es fertigbringe, so viele Beine zu gleicher Zeit und in Übereinstimmung miteinander zu bewegen, machte die Frage ihn ‹einhalten› und nachdenken. Dieses Einhalten und Nachdenken brachte unter seinen Beinen große Verwirrung hervor, und jedes versuchte auf seine eigene Weise sich zu bewegen. So verlor der Tausendfuß sein Leben. Auch CHUANG-TSES Geschichte vom Chaos (Hun-lun) ist in diesem Zusammenhang beachtenswert. 23
Wenn deine Unbewegte Erkenntnis erwacht ist, so kehrst du gewissermaßen zu der Stelle zurück, von der du ausgegangen warst. Erleuchtung ist letzten Endes ganz ähnlich der Unwissenheit selber In ihr gewinnst du deine ursprüngliche Unbefangenheit wieder. Bei deiner Schwertkunst weiß der Anfänger auch nicht, wie er das Schwert halten, wie er sich decken soll und so weiter. Darum ist er ganz frei von der Einstellung des ‹Hinhaltens›: wenn der Gegner zuschlägt, so pariert er einfach. Sobald er aber die Kunst zu erlernen anfängt und vielerlei über sie erfährt, so verliert er sogleich sein früheres Selbstvertrauen, sein Sinn wird veranlaßt, an der und jener Stelle ‹einzuhalten›, und er fühlt sich nicht mehr sicher. Er ist jetzt schlechter daran als vorher. Wenn er jedoch Jahre hindurch seine Übung fortsetzt, so meistert er endlich die Kunst, er kümmert sich nicht mehr um das einzelne, alles wird ihm selbstverständlich, und er ist wieder derselbe, der er früher gewesen ist. Es ist wie mit dem Zählen: wenn du bis zu zehn gelangt bist, so fängst du wieder mit eins an; eins und zehn sind Nachbarn geworden. Genauso steht es mit dem Lehrgang des BUDDHA-Jüngers. Wenn du seinen höchsten Grad erreicht hast, so kann man dich einem einfältigen Kinde vergleichen, das nichts vom BUDDHA und nichts vom Dharma weiß. Du bist frei von Ichwahn und frei von Heuchelei. Dann kannst du sagen, die Unbewegte Erkenntnis sei gleich dem Nichtwissen – sie sind beide nicht zweierlei, sondern eins, denn in ihr ist kein unterscheidender Verstand mehr, der den Menschen schwanken läßt, ob er eine Seite oder die andere wählen soll, und also nirgendwo ein ‹Einhalten›, das den Seelenzustand des ‹Nicht-Denkens› (mushin oder munen) so sehr zu gewinnen hindert. Die Unwissenden haben ihre Erkenntnis noch nicht erweckt und darum ihre Ursprünglichkeit bewahrt. Die Weisen sind bis an das Ende des Erkennens gelangt, dar-
um brauchen sie nicht mehr zu ihm zurückzukehren. Die beiden sind gleichsam gute Nachbarn geworden. Nur die mit der ‹halben Erkenntnis› haben ihr Hirn vollgestopft mit Unterscheidungen. Es gibt zwei Arten von Schulung, die eine im letzten Begreifen, die andere in der Methode. Die erste ist, wie gesagt, darauf gerichtet, den letzten Sinn der Dinge zu begreifen, für den keine vorgeschriebenen Regeln das Handeln beschränken: da gibt es nur den einen Sinn, der seinen eingeborenen Weg geht. Allein die Meisterschaft der Einzelmethoden ist ebenfalls notwendig. Hast du keine Kenntnis von ihnen, so weißt du nicht, wie du deine Aufgabe anfassen sollst. In deinem Fall also mußt du wissen, wie das Schwert zu führen, wie ein Ausfall zu machen ist, welche Stellungen während des Kampfes man einzunehmen hat und so weiter. Beide Formen der Schulung sind notwendig, sie sind wie zwei Räder an einem Wagen. Es gibt ein Wort, das wir oft anwenden: ‹Es darf kein Haar breit dazwischen sein.› Damit ist die Unmittelbarkeit der Antwort gemeint. Klatscht man in die Hände, so entsteht im selben Augenblick ein Schall, da ist keines Haares Breite zwischen den beiden Ereignissen. Der Schall kennt kein Überlegen, ob er herauskommen will oder nicht, sobald die Hände zusammenschlagen, er folgt unmittelbar auf den Schlag. Wenn des Gegners Schwert auf dich niederfährt und dein Sinn hält dabei ein, so entsteht ein Zwischenraum, der sogleich deinem Gegner zum Vorteil wird. Wenn aber kein Zwischenraum, nicht von eines Haares Breite, zwischen deines Feindes Hieb und deinem Gegenschlag belassen bleibt, so wird sein Schwert das deine sein. In Zen ist dieser Zwischenraum des ‹Hinhaltens› besonders verpönt, man heißt ihn Bonno (klesa), eine zerstörende Leidenschaft. Es gilt, das Gemüt allezeit schwimmend zu halten, wie einen Ball auf dem strömenden Fluß.
Dies Keinen-Zwischenraum-Lassen, bis die Antwort folgt, wird auch mit dem Springen der Funken verglichen, wenn man auf Feuerstein schlägt. Es gibt keinen leeren Augenblick zwischen dem einen und dem andern Geschehen – Schlag und Funke entsprechen sich beinahe zu gleicher Zeit. Es kommt hier auch nicht mehr so sehr auf die Schnelligkeit des Aufeinanderfolgens an, sondern das ‹Nie-Einhalten› des Gemüts in seiner Tätigkeit ist gemeint. Wenn du schnell sein willst, nur um der Schnelligkeit willen, so hält dein Sinn bei dieser Vorstellung ein, und du bist nicht länger Meister deiner selbst. Als SAIGYO eine Buhlerin von Eguchi bat, bei ihr übernachten zu dürfen, antwortete sie ihm mit folgenden Versen: ‹Da du ein Mann bist, der aus der Welt entflieht, So bet’ ich, du mögest nicht Einhalt tun Beim Gedanken an eine weltliche Wohnung.› Der wesentliche Punkt dieser Strophe ist das Nichteinhalten des Herzens, das hier als weltliche Wohnung gedeutet wird. Wenn ein Mönch fragt: ‹Was ist der BUDDHA?› so erhebt vielleicht der Meister nur seine Faust. Wenn er gefragt wird: ‹Was ist der letzte Sinn der Lehre?› so ruft er vielleicht, noch ehe der Frager seinen Satz beendet hat: ‹Ein blühender Pflaumenzweig› oder ‹Eine Zypresse im Klosterhof›. Das Entscheidende ist, daß das antwortende Gemüt nicht irgendwo einhält, sondern stracks antwortet, ohne nur daran zu denken, ob die Antwort glücklich oder unglücklich trifft. Dies ‹Nichteinhaltende Gemüt› bleibt unbewegt, da keine Relativität es ablenken kann. Es ist die ‹Substanz› der Dinge, ist Gott, ist der BUDDHA, das ‹Wesen› von Zen, das ‹Tiefste Geheimnis› usw. Wenn deine Antwort nach einer Überlegung erfolgt, so gehört sie zur Kategorie der ‹stö-
renden Leidenschaft›, mag sie als Wort und Gedanke noch so geistreich sein. Die Antwort muß unmittelbar wie ein Blitz erfolgen. Wenn man zu dir spricht, und du sagst sogleich ‹Ja› – dies heißt Unbewegte Erkenntnis. Spricht man zu dir, und du überlegst, und du wunderst dich, was gemeint oder beabsichtigt sein mag, so heißt das dem Herzen Einhalt tun – das bedeutet Verwirrung und Unwissenheit, daraus geht hervor, daß du noch ein Mensch von gewöhnlicher Erkenntnis bist. Das, was auf einen Anruf sofort erwidern läßt, ist BUDDHA-Weisheit, an der alle Wesen teilhaben, auch Götter und Menschen, Weise und Unwissende. Tust du, was solche Weisheit dir eingibt, so bist du ein BUDDHA oder ein Gott. So verschieden die Lehren des Shinto, der Dichtkunst, des K’UNG-FU-TZE sein mögen, sie zielen letzten Endes alle auf die Erfassung des ‹Einen Herzens›: (Ein Herz, BUDDHA-Weisheit und Unbewegte Erkenntnis sind Namen für ein und dasselbe). Worte sind unzulänglich, das Herz zu erklären. Versuchen wir es, so wird das Herz gespalten, und es erscheint Ich und Nicht-Ich, und wir überlassen uns (zufolge dieser Zweiheit) aller Art von gutem und bösem Tun und werden zum Spielzeug des Karma. Das Karma entspringt wahrhaftig aus dem Herzen, und was uns am meisten nottut, ist die Einsicht in das Wesen des Herzens. Wenige haben diese Einsicht erlangt, die meisten von uns begreifen von seinem Wirken nichts. Aber mit der Einsicht allein ist es nicht getan, wir müssen diese Einsicht im täglichen Leben verwirklichen. Was hilft es uns, die ganze Zeit von Wasser zu reden, wenn wir in Wirklichkeit durstig sind. Und soviel wir uns über das Feuer unterhalten mögen, so werden wir nicht warm davon. BUDDHAS und K’UNG-TZES Lehre haben das Wesen des Herzens erhellt, aber solange wir es nicht in unserem täglichen Leben leuchten lassen, haben wir noch keine wirkliche Einsicht in sei-
ne Wahrheit. Die Hauptsache ist, immer daran zu denken und es im eigenen Ich wirklich zu machen. Wohin soll das Herz sich wenden (beim Schwertkampf)? Wendet es sich den Bewegungen des Gegners zu, so hält es dabei ein. Wendet es sich auf das Schwert des Gegners, so hält es hier ein. Wendet es sich auf den Gedanken, ihn niederzuschlagen, so hält es bei diesem Gedanken ein. Wendet es sich auf den Gedanken, vom Gegner nicht erschlagen zu werden, so hält es bei diesem Gedanken ein. Wendet es sich auf die Stellungen des Gegners, so hält es bei diesen ein. Wohin soll das Herz sich wenden, wenn man will, daß es frei und ungehemmt wirke? Man hat schon gefragt: Wenn das Herz sich auf alle diese Einzelpunkte wendet, so hält es ein, und der Gegner gewinnt sicher die Oberhand – ist es nicht besser, man hält es einfach im Leib zurück? Dadurch kann man den Bewegungen des Gegners folgen und entsprechend handeln. Ich denke, das ist ein ausgezeichneter Rat. Allein von der höchsten Stufe der BUDDHA-Schulung aus gesehen, ist dies Verfahren recht unvollkommen, es ist noch die Stufe des Anfängers und entspricht der ehrfurchtsvollen Haltung des K’UNG-TZE oder auch der Belehrung des MENG-TZE, man solle das davoneilende Herz zu halten suchen. Das ist noch nicht der Gipfelpunkt. Denn wenn du darauf bedacht bist, dein Herz sicher in deinem Leib zu bewahren, so hemmt eben dieser Gedanke, es dort zu bewahren, das Wirken des Herzens, und du wirst in deinem Handeln gar sehr behindert. Frage: Wohin soll das Herz sich also wenden, wenn es nicht im Leibe zurückgehalten wird? Antwort: Wenn es deiner rechten Hand sich zuwendet, so hält es in der Rechten ein und stört die freie Bewegung des übrigen Körpers. Wenn es den Augen sich zuwendet, so hält es dort ein und hemmt
das Wirken des ganzen Körpers. Ebenso an jedem andern Teil des Körpers. Du darfst dein Herz nicht an irgendeine einzelne Stelle binden, denn das würde für alle andern eine Hemmung sein. Wohin soll also das Herz sich wenden, damit die höchste Schlagkraft des Geistes und des Leibes erreicht wird? Meine Antwort lautet: Denke gar nicht daran, wohin das Herz sich wenden soll, dann wird das Herz den ganzen Leib bis zu den Finger- und Zehenspitzen erfüllen. Wenn die Hände bewegt werden sollen, so gehorchen sie dem Herzen sogleich; sollen die Augen umherschauen, so folgen sie dem Befehl des Herzens im Augenblick. Das gilt von jedem Teil des Körpers, und so wird er mit vollkommener Wirkung arbeiten. Das Herz also darf nicht an irgendeinen Körperteil überlassen werden, es muß mit voller Kraft in allen Körperteilen sich auswirken. Der Gedanke an ein bestimmtes Tun lenkt das Herz auf eine Seite, und alle andern Seiten kommen zu kurz. Mache dir keinen Gedanken, keine Überlegung, keine Unterscheidung, so wird das Herz überall gegenwärtig und in seiner vollsten Fähigkeit die jeweilige Aufgabe erfüllen. In allen Dingen müssen wir uns vor Einseitigkeit hüten. Ist das Herz einmal in einem Teil des Körpers festgehalten, so muß es von dieser Stelle fortgenommen und da zur Wirkung gebracht werden, wo es gebraucht wird. Dieses Übertragen ist in der Tat keine leichte Aufgabe, denn das Herz haftet genau da, wo es einmal ‹eingehalten› hat. Es kostet Zeit, auch wenn die Übertragung sofort geschieht. Du darfst dein Herz nicht an einen Pfahl binden wie eine Katze, damit sie bei dir bleibe. Damit es an allen zehn Stellen wirkt, laß es an keiner von ihnen verharren! Verharrt es irgendwo, so läßt es zuletzt die übrigen neun im Stich. Dazu gehört aber große und lange Übung. Man muß zwischen dem ‹ursprünglichen› Herzen (honshin) und dem ‹oberflächlichen› Herzen (moshin) unterscheiden. Das ursprüng-
liche Herz erfüllt den ganzen Körper. Wenn man es an einer Stelle ‹einhalten› und an ihr haften läßt, so verliert es seine Beweglichkeit und wird zum oberflächlichen Herzen. Da kein ursprüngliches Herz mehr vorhanden ist, so ist der Körper behindert. Das ursprüngliche Herz gleicht dem Wasser, es ist allezeit flüssig, aber das oberflächliche ist wie Eis, man kann sich nicht einmal damit waschen. Um es zu gebrauchen, muß man es schmelzen, so daß es wieder durch den Körper in allen seinen Teilen strömen kann. Wir unterscheiden auch zwischen Ushin ‹gegenwärtiges Herz› und Mushin ‹Nicht-Herz›. Unter gegenwärtigem Herzen versteht man ein Herz, das einseitig verhaftet ist ähnlich wie das oberflächliche Herz. Dieses ‹hält ein›, überlegt und unterscheidet. Es bleibt gegenwärtig, und damit ist das Strömen des ursprünglichen Herzens gehemmt. Das Mushin-Herz ist das ursprüngliche Herz, das keine Festlegung, kein ‹Einhalten›, kein Überlegen und kein Unterscheiden kennt. Dafür durchdringt es das ganze Wesen und ist im höchsten Grade lebendig. Es ist nicht wie ein Steinblock oder ein Holzklotz. Es hält an keiner Stelle ein, denn Einhalten würde die Gegenwart eines Etwas, das heißt ein Hemmnis bedeuten (und wo etwas Hemmendes ist, da ist Mushin nicht). Mushin bedeutet, nicht irgendein Herz haben, und eben durch dieses Nicht-Herz-Haben bewegt sich das Herz von einem zum andern. Das klingt seltsam, aber in Wahrheit ist dieses ‹Nicht-Herz› gleich dem Wasser, das einen Teich füllt, aber jederzeit bereit ist, abzufließen, wohin es gebraucht wird. Wiederum gleicht es dem Rad, das um eine Achse sich dreht, die nicht zu straff noch zu locker ist. Wenn das Rad zu straff an der Achse sitzt, so dreht es sich nicht mehr und kann seine Aufgabe nicht erfüllen. Wenn das Herz auf einen Gegenstand geheftet ist, so nimmt es andere Gegenstände nicht mehr wahr. Wenn du von bestimmten Gedanken beses-
sen bist, so ist dein Herz in demselben Maß andern Gedanken verschlossen. Bist du in Anspruch genommen, so kannst du nichts hören noch sehen, hältst du aber dein Herz leer, das heißt offen, so kannst du alles aufnehmen, was an dich herantritt – das heißt Mushin. Denkst du aber nur daran, dein Herz leer zu halten, so wird gerade dieser Herzenszustand dich daran hindern, Mushin oder das ursprüngliche Herz zu verwirklichen. Hier liegt die Schwierigkeit in der Erlangung des Nicht-Herz-Zustandes. Wenn dein Üben aber zur Reife gelangt, so kommt er von selber. Du kannst diesen MushinZustand nicht beschleunigen24. So heißt es in einem alten Gedicht: ‹Auf Nichtdenken bedacht sein, ist immer noch Denken. O war ich erst jenseits von Denken und von Nichtdenken!› Drückt man einen leeren Flaschenkürbis auf das Wasser, so tanzt er bei jeder Berührung auf und nieder, und man kann ihn nie an einer Stelle festhalten. Wenn das Herz durch kein Ding angehalten wird, so ist es genauso lebendig wie der Flaschenkürbis. ‹Halte dein Herz wach, damit es nirgends hafte!› – Das steht im Prajnaparamita Sutra geschrieben und bedeutet, daß man das Herz ohne Hemmung durch irgendeinen Gegenstand bewahren soll. Wenn es zu einer Tätigkeit sich bewegt, so hält es bei ihr ein und kann nicht weitergehen. Alle Haftung und Verstrickung entsteht aus diesem ‹Einhalten›, und auch das Wiedergeborenwerden nimmt hier seinen Ursprung. Das Herz, das auf diese Weise ‹einhält› oder eingehalten wird, ist die Ursache von Geburt und Tod. Die Weisen, die das Geheimnis irgendeiner Kunst erfaßt haben, verhalten sich anders: sie gehen umher und handeln wie andere Menschen, aber ihr Herz hält nie ein und bewahrt 24
Vgl. die Geschichte von Satori, S. 89 ff.
seine ursprüngliche Beweglichkeit. Sie betrachten die Blumen und bewundern ihre Schönheit, aber sie halten dabei nicht ein. Die Blumen blühen, weil dies ihr Wesen ist, sie sind im Zustand des Mushin, des Nicht-Herz-Seins. Aber die Betrachter haften an ihnen, und um dieses Haftens willen sagt man, ihre Herzen seien befleckt. Die Lehre des K’UNG-TZE von der Haltung der Ehrfurcht ist für die Anfänger im Tao bestimmt, dessen Erfüllung wird erst in der BUDDHA-Lehre vom Nicht-Herzen erreicht. Die Haltung der Ehrfurcht geht darauf aus, das Herz zu bändigen, daß es nicht in die Irre schweift. Ist dies nach langen Jahren der Übung gelungen, so fällt jede Hemmung des Herzens von selbst von ihm ab und wird nicht mehr beachtet. Dann ist das Erwachtsein des Herzens erreicht, und es gibt nirgends ein ‹Einhalten› mehr. Solange es aber noch jede Minute in der Stunde bewacht werden muß, gleicht es einem eben erst angenommenen Kätzchen, das noch am Strick festgebunden ist25. Es hat noch keine Freiheit, und ohne Freiheit kann es in seiner vollen Kraft noch nicht wirken. Das Endziel ist aber, daß das Kätzchen im Haus und außer dem Haus frei umherstreifen darf und daß es sogar einem Vöglein, das mit ihm gehalten wird, kein Leid antut. Wendet man dies auf die Meisterschaft in der Schwertkunst an, so ist der höchste Grad der Vollendung erreicht, sobald dein Herz sich nicht mehr darum bekümmert, wie der Gegner zu treffen ist, und doch das Schwert in der wirksamsten Weise zu führen weiß, wenn du ihm gegenüberstehst. Du streckst ihn einfach zu Boden und denkst nicht daran, daß du ein Schwert in der Hand hältst und daß einer vor dir steht. Da ist kein Gedanke an Ich und Du mehr – alles ist Leere,
Abendländischen Lesern mag dies seltsam klingen, aber in Japan pflegt man ein junges Kätzchen oft eine Zeitlang anzubinden, bis es sich an die neue Umgebung gewöhnt hat. 25
der Gegner, du selbst, das gezückte Schwert und die schwertführenden Arme, ja sogar der Gedanke der Leere ist nicht mehr da. Aus solcher absoluten Leere entspringt die wunderbarste Entfaltung des Tuns. Als BUKKO KOKUSHI, der Gründer des Engakuji, noch in China weilend, von einer Mongolenhorde mit dem Tode bedroht war, da sprach er von ‹dem Blitz, der den Frühlingswind entzweischneidet›. Das Schwert, das der Yuan-Krieger über ihm gezückt hielt, erschien ihm nicht anders als ein Blitzstrahl. Daß ihn einer ermorden wollte, das berührte ihn selber nicht mehr als der sanfte Frühlingswind, der ihn umwehte. Das Schwert, das sein Leben bedrohte, galt ihm für nichts, der Mensch, der ihn erschlagen wollte, galt ihm für nichts, das sogenannte Ich, das im Begriff war, ausgelöscht zu werden, galt ihm ebenso für nichts. In diesem Spiel der Leere gab es kein Herz, das angehalten, keine Stelle, an der es eingehalten wurde. Der Blitz zuckt, der Wind weht, das Schwert fährt nieder, der Mensch stürzt, und die Leere bleibt, was sie von Ewigkeit war. Dasselbe kann man auch von der Tanzkunst sagen. Du nimmst einfach den Fächer in die Hand und stampfst mit den Füßen auf, indem du dich umherbewegst. Sowie du aber von dem Gedanken besessen bist, wie du deine Arme und Beine richtig und wirksam bewegen sollst, so ist dein Herz festgehalten, und dein Tanz ist verdorben. Vollkommene Hingabe bedeutet ein vollkommenes Vergessen des Ich und aller Dinge, die mit ihm zusammenhängen.26 –
TAKUANS Brief geht noch weiter, verliert sich aber mehr oder weniger in Einzelheiten. Er ist daher an dieser Stelle gekürzt und abgeschlossen. 26
Das Wesen von Mushin Zur Ergänzung von TAKUANS Ausführungen sei noch die folgende Geschichte mitgeteilt, da sie den Zustand des ‹Nicht-Herz-Seins› deutlich macht. Ein Holzfäller war einst eifrig damit beschäftigt, in den abgelegenen Bergen Bäume zu fällen. Da erschien ein Tier namens Satori. Es war ein Geschöpf von fremdartigem Aussehen, das in den Dörfern selten gefunden wurde. Der Holzfäller hätte es gerne lebend eingefangen. Das Tier las in seinem Herzen: ‹Nicht wahr, du möchtest mich lebend einfangen?› Der Mann erschrak sehr und wußte nicht, was er sagen sollte, worauf das Tier sprach: ‹Du wunderst dich offenbar, daß ich Gedanken lesen kann.› Noch mehr verblüfft, dachte er daran, das Tier mit einem Axthieb niederzustrecken, worauf Satori ausrief: ‹Jetzt möchtest du mich gar umbringen.› Der Baumfäller fühlte sich nun ganz verwirrt, und da er einsah, daß er gegen das geheimnisvolle Tier überhaupt nichts ausrichten konnte, wollte er wieder an seine Arbeit gehen. Satori ließ ihn aber nicht in Ruhe, sondern folgte ihm und meinte: ‹Jetzt hast du mich also ganz aufgegeben.› Der Baumfäller wußte nicht mehr, was mit dem Tier noch was mit sich selber anfangen. Er nahm also die Sache einfach, wie sie war, ergriff seine Axt und begann mit aller Kraft wieder auf die Bäume einzuschlagen und an nichts anderes zu denken. Das Tier aber beachtete er gar nicht mehr. Wie er so arbeitete, löste sich das Eisen der Axt vom Griff, flog dem Tier an den Kopf und erschlug es. Denn mit all seiner klugen Gedankenleserei hatte es nicht verstanden, im Herzen des ‹Nicht-Herzens› zu lesen. Auf der höchsten Stufe der Schwertmeisterschaft gibt es eine Geheimlehre, die nur den vollkommenen Meistern eröffnet wird. Die rein technische Übung ist nicht genug, dieses Können geht über das
Lehrlingsstadium nicht hinaus. Die Geheimlehre ist unter den Meistern bekannt als ‹Der Mond im Wasser›. Einem Schriftsteller zufolge wird dies auf folgende Art erklärt, die in Wahrheit nichts anderes bedeutet als die Zen-Lehre, die Lehre von Mushin: ‹Was versteht man unter dem Mond im Wasser?› Das wird von den verschiedenen Schulen der Schwertkunst verschieden erklärt, aber der Grundgedanke ist, daß man die Weise erfaßt, auf die der Mond sich überall spiegelt, wo eine Wasserfläche ist, und das geschieht durch den Zustand von Mushin. Eines der kaiserlichen Gedichte, die am Teiche von Hirosawa verfaßt wurden, lautet: ‹Der Mond hat nicht die Absicht, sein Bild irgendwohin zu werfen, Noch hegt der Teich den Wunsch, den Mond zu Gast zu haben. Wie heiter-still ruhn Hirosawas Wasser!› Aus diesen Versen kann man einen Einblick in das Wesen von Mushin gewinnen, in dem es keine Spur von künstlichem Bestreben gibt und die Natur selber ganz unberührt sich auswirkt. ‹Wiederum ist es gleich dem einen Mond, der in Hunderten von Strömen sich spiegelt: das Mondlicht teilt sich nicht in viele Abbilder, sondern das Wasser spiegelt es zurück. Das Mondlicht bleibt immer dasselbe, auch wo kein Wasser ist, es abzuspiegeln. Wiederum ist es dem Mond gleichgültig, ob so viele Wasserflächen oder auch nur eine kleine Pfütze da ist. Durch dieses Gleichnis kann man das Geheimnis des Herzens besser begreifen. Mond und Wasser aber sind greifbare Dinge, das Herz jedoch hat keine Gestalt, und sein Wirken
ist schwer zu erspüren. Die Sinnbilder enthalten nicht die ganze Wahrheit, sie können nur andeuten.›
‹Unbewegte Erkenntnis› am Erlebnis eines Stierkämpfers erläutert ‹The Atlantic Monthly› vom Februar 1937 enthält den Bericht eines spanischen Stierkämpfers namens JUAN BELMONTE über seine Erfahrungen in dieser Kunst. Der Stierkampf besitzt offenbar viel Ähnlichkeit mit der japanischen Fechtkunst. Dieser Bericht ist voll von höchst beachtenswerten Andeutungen, ich führe daher hier einen Teil der Anmerkung des Übersetzers und JUAN BELMONTES eigene Erzählung über den Stierkampf an, der ihm den Ruhm des besten Kämpfers seiner Tage verschafft hat. Bei diesem Kampf erlebte er jenen Gemütszustand, von dem in TAKUANS Brief an YAGYU TAJIMA-NOKAMI die Rede war. Hätte der spanische Held eine buddhistische Schulung genossen, so hätte er sicher einen Einblick in die Unbewegte Erkenntnis gewonnen. Die Anmerkung des Übersetzers lautet zu einem Teil folgendermaßen: ‹Der Stierkampf ist nicht ein Sport, und man kann ihn nicht mit einem solchen vergleichen. Der Stierkampf, mag man ihn lieben oder nicht, mag man ihn billigen oder nicht, ist eine Kunst wie Malerei oder Musik und läßt sich nur als Kunst beurteilen. Seine Erregung ist geistiger Art und rührt an Tiefen, die man nur mit den Tiefen vergleichen kann, wie sie ein Symphoniekonzert unter einem großen Kapellmeister in einem Menschen aufwühlt, der die Musik kennt, versteht und liebt.›
JUAN BELMONTE beschreibt seinen Gemütszustand im entscheidendsten Augenblick seines Kampfs mit folgenden Worten: ‹Sowie mein Stier die Arena betrat, ging ich ihm entgegen, und beim dritten Schritt hörte ich schon das Geschrei der Menge, die von den Plätzen aufgesprungen war. Was hatte ich denn getan? Auf einmal vergaß ich die Zuschauer, die andern Stierkämpfer, mich selber und sogar den Stier. Ich begann zu kämpfen, wie ich sooft schon des Nachts in den Hürden und auf der Weide für mich allein gekämpft hatte, und mit solcher Genauigkeit, als hätte ich eine Zeichnung auf einer Wandtafel zu entwerfen. Man sagte mir später, meine Schritte mit dem Umhang und meine Arbeit mit der Muleta an diesem Nachmittag seien eine Offenbarung der Kunst des Stierkampfs gewesen. Ich weiß es nicht und kann nicht darüber urteilen. Ich kämpfte einfach so, wie ich glaubte, man müsse kämpfen, und hatte keinen Gedanken außer meinem eigenen Glauben an mein Tun. Bei dem letzten Stier gelang es mir zum erstenmal in meinem Leben, mit Leib und Seele mich der reinen Freude des Kampfs hinzugeben, ohne daß die Zuschauer in meinem Bewußtsein überhaupt noch vorhanden waren. Wenn ich früher allein auf dem Lande mit den Stieren spielte, so pflegte ich mit ihnen zu sprechen, und an diesem Nachmittag hatte ich wieder eine lange Unterhaltung mit dem Stier, die ganze Zeit über, während der meine Muleta die Arabesken der Faena beschrieb. Als ich nicht wußte, was ich sonst mit dem Stier anfangen sollte, kniete ich unter seinen Hörnern nieder und brachte mein Gesicht seiner Schnauze ganz nahe. Komm her, Stierchen! flüsterte ich ihm zu. Pack mich! Dann stand ich wieder auf, breitete ihm die Muleta unter die Nase und setzte mein Selbstgespräch fort, um ihn wieder zum Angriff aufzumuntern.
Hierher, Stierchen! Greif mich nur hübsch an! Es geschieht dir! nichts. – Da bist du ja. – Da bist du wieder. – Siehst du mich, Stierchen? – Was? Du bist müde? – Komm her! Pack mich! Sei kein Feigling! – Pack mich! So führte ich die ideale Faena aus, die Faena, die ich so oft und mit so vielen Einzelheiten in meinen Träumen gesehen hatte, daß jeder Zug mit mathematischer Schärfe in mein Gehirn eingezeichnet war. In meinen Träumen hatte die Faena immer mit einem Unglück geendet, denn wenn ich vorging, um den Stier zu töten, traf mich dieser jedesmal am Bein. Es muß eine Art unbewußtes Wissen um ein gewisses Ungeschick zum letzten Streich gewesen sein, das mir immer diesen tragischen Schluß suggeriert hat. Trotzdem fuhr ich jetzt fort, meine ideale Faena auszuführen, ich stellte mich genau zwischen die Hörner des Stiers und hörte nur wie ein fernes Murmeln den Beifallsjubel der Menge. Da im letzten Augenblick traf mich, genau wie ich geträumt hatte, der Stier noch und verwundete mich am Schenkel. Ich war so berauscht, so außer mir selber, daß ich es kaum bemerkte. Ich stach zu, und der Stier brach vor meinen Füßen zusammen.› Es muß noch hinzugefügt werden, daß BELMONTES Gemüt vor seinem letzten Kampf mit dem Stier in einem höchst aufgeregten und verworrenen Zustand gewesen war: Gedanken an die Nebenbuhler, Verlangen nach Erfolg, ein Gefühl der Minderwertigkeit und die Furcht, die Zuschauer seien bereit, sich über ihn lustig zu machen – das alles erfüllte ihn. Er bekennt: ‹Ich war ganz verzweifelt. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, ich sei zum Stierkämpfer geschaffen? Du hast dich selber zum Narren gehalten, dachte ich. Weil du ein paarmal bei Novilladas (Anfängerkämpfen) ohne Picadores Glück gehabt hast, könnest du etwas ausrichten.› Aus diesem Gefühl der Verzweiflung heraus aber entdeckte BELMONTE etwas anderes,
das bis dahin ganz ungeahnt in ihm geschlummert hatte, als er den Stier herauskommen und ihm entgegentreten sah. Dieses Etwas war zuweilen schon in seinen Träumen dagewesen, das heißt, es hatte tief in seinem Unbewußten geschlafen, aber es war nie ans helle Tageslicht durchgebrochen. Das Gefühl der Verzweiflung trieb ihn an den Rand des seelischen Abgrunds, aus dem er mit einem letzten Sprung sich rettete. Und das Ergebnis war: ‹Ich war so berauscht, so außer mir selber, daß ich es kaum bemerkte› – nicht nur es (nämlich seine Verwundung), sondern in Wahrheit alles und jedes. Die Unbewegte Erkenntnis war sein Führer, und er überließ sich gänzlich dieser Führung. Ein bekannter Zen-Meister der Kamakura-Zeit singt: ‹Der Bogen zerbrach, Kein Pfeil ist mehr da – Jetzt aber gilt’s: Nimm dein Herz in die Hand! Schieß mit Macht und Gewalt!› Ein Pfeil ohne Schaft, vom Bogen ohne Sehne geschnellt, muß ja den Felsen spalten, wie es einst in einer Geschichte der ostasiatischen Menschheit geschehen ist. In allen Kunstzweigen so gut wie im Zen-Buddhismus gilt dieses Hindurchbrechen durch die Krisis als entscheidend, um an den Lebensquell aller wahren Schöpferwerke zu gelangen. Dies möchte ich vom Standpunkt der Religionspsychologie noch in einem besonderen Werk über Zen näher untersuchen.
Die Geheimlehren der Fechtschulen Shinkage-ryu hieß eine der beliebtesten Fechterschulen im mittelalterlichen Japan. Sie war in der Ashikaga-Zeit aufgekommen und KAMI-IDZUMI ISE-NO-KAMI ihr Gründer, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewirkt hat, während ihr ursprünglicher Schöpfer behauptete, er habe das Geheimnis seiner Kunst unmittelbar von dem Gotte von Kashima empfangen. Ohne Zweifel hat die Schule seither noch weitere Entwicklungsstufen durchgemacht, und ihre sogenannten Geheimlehren müssen einen beträchtlichen Umfang gewonnen haben, denn gegenwärtig gibt es eine Reihe verschiedener Vermächtnisse, die der Meister seinen besten und würdigsten Schülern hinterlassen haben soll. Unter diesen Zeugnissen gibt es Sätze und Kurzgedichte, die sehr nach Zen schmecken und, oberflächlich betrachtet, mit der Schwertführung gar nichts zu tun haben. Das endgültige Dokument zum Beispiel, das den Adepten als Meister dieser Schule beglaubigt, enthält nichts als einen Kreis. Man nimmt an, dieser solle einen glänzenden Spiegel bedeuten, rein von allem Staub und Schmutz, und hierin liegt ohne Zweifel eine Anspielung auf die buddhistische Lehre der ‹großen vollkommenen Spiegel-Weisheit›, das heißt der ‹Unbewegten Erkenntnis› TAKUANS, von der oben die Rede war. Des Fechters Herz soll sich vollkommen frei bewahren von selbstsüchtiger Leidenschaft und verstandesmäßiger Berechnung, damit die ‹ursprüngliche Intuition› sich völlig auswirken kann – das ist der Zustand des ‹NichtHerzens›. Rein technisches Können in der Schwertführung genügt zur vollen Eignung als Schwertmeister nicht. Dieser muß die letzte Stufe geistiger Übung erreicht haben, nämlich den Zustand des NichtHerzens, dessen Sinnbild ein leerer Kreis ist.
Es gibt unter manchen rein technischen Vorschriften in den geheimen Lehrzeugnissen der Shinkage-ryu-Schule einen Ausdruck, der anscheinend keine Beziehung zur Kunst in ihrem wörtlichen Sinne hat. Da alle diese Geheimlehren mündlich überliefert werden sollen und da ich ihnen durchaus fern stehe, so bin ich nicht in der Lage, zu ermitteln, was dieser besondere Ausdruck für eine organische Verbindung mit der tatsächlichen Schwertführung hat. Allein soviel ich beurteilen kann, muß er aus der Zen-Literatur abgeleitet sein und ist außer diesem Zusammenhang überhaupt nicht zu verstehen. Er lautet: ‹Die Wasser im Westfluß›. Ein Kommentator, der offenbar den wirklichen Sinn nicht entdeckt hat, meint, dies bezeichne einen abenteuerlich-gewalttätigen Gemütszustand, der nicht davor zurückschrecke, den ganzen Fluß zu verschlingen. Das wäre zum mindesten lächerlich. In Wahrheit wird auf ein Zen-Mondo angespielt, das zwischen MA-TSU (gestorben 788) und seinem Laienschüler P’ANG CHÜ-CHIH in der T’ang-Zeit stattgefunden hat. P’ANG fragte: ‹Welcher Art ist der Mensch, der keine Gemeinschaft mit irgend etwas (oder irgend jemandem) hat?› ‹Ich sage dir’s›, erwiderte MA-TSU, ‹wenn du mit einem Schluck alles Wasser im Westfluß verschlungen hast.› Diese Worte sollen P’ANGS Herz geöffnet und ihm eine Erleuchtung geschenkt haben. Denken wir an diesen Vorfall, so können wir verstehen, warum der Ausdruck ‹Die Wasser im Westfluß› Eingang in die Geheimlehren der Fechtschule gefunden hat. P’ANGS Frage hat ihre große Bedeutung und ebenso MA-TSUS Antwort. In der Zen-Schulung wird dieses Mondo häufig verwendet, und ohne Zweifel befanden sich unter den Fechtern der Feudalzeit manche Schwertmänner, die sich
dem Zen-Studium ergeben hatten, um den Zustand des absoluten ‹Nicht-Herzens› im Zusammenhang mit ihrer Kunst zu erreichen. Wie schon früher erwähnt, ist der Gedanke an den Tod der größte Hemmschuh für den Sieg in einem Kampf, wo es um Leben und Sterben geht. Die Geheimlehren enthalten auch eine Anzahl Waka, das heißt Kurzgedichte, im Hinblick auf die Meisterschaft in der Schwertkunst, von denen manche den Zen-Geist sehr deutlich spiegeln. ‹An einer Seele, die völlig frei von Gedanken und Erregung ist, Findet selbst der Tiger keine Stelle, seine Krallen einzuheften.› ‹Ein und derselbe Wind streift Über die Kiefern am Berg und die Eichen im Tal – Warum klingt ihr Rauschen denn so verschieden?› ‹Manche meinen, Zuschlagen sei einfach Zuschlagen. Aber Zuschlagen ist nicht Zuschlagen Und Töten ist nicht Töten.› ‹Kein Denken, keine Spiegelung, Vollkommene Leere – Aber etwas regt sich in ihr, Strömt den eigenen Weg.› ‹Das Auge sieht ihn, Doch keine Hand kann ihn fassen – Den Mond im Wasser: Das ist meiner Schule Geheimnis.›
‹Wolken und Nebel Sind doch nur Luftgestalten: Über ihnen strahlt ewig die Sonne, der Mond.› ‹Sieg gehört nur dem Einen, Vor des Kampfes Beginn schon, Der seines Ich nicht gedenkt, Der im Ursprung, im Nicht-Ich wohnt.› Dies deckt sich offenbar mit dem Grundsatz der ‹Leere›, wie sie MIYAMOTO MUSASHI als das letzte Geheimnis der Schwertkunst gelehrt hat, das nur nach langer und harter Übung der Kunst zu erlangen ist. Der hohe Wert, der hier auf die geistige Zucht gelegt wird, verleiht der Kunst das Recht auf den Namen des Schöpferischen. MUSASHI ist nicht nur als Schwertmeister, sondern auch als Sumi-ye-Maler groß gewesen.
Der Zustand der Ichlosigkeit Ein moderner Autor, der über den Weg des Schwerts und seine Geschichte geschrieben hat27, bemerkt folgendes über den Grundsatz der Kunst: Im Kendo (Weg des Schwerts) ist das wesentliche Ziel über die Technik hinaus das geistige Element, das die Kunst durch und durch beherrscht. Dies ist ein Zustand des Herzens, der Munen oder Muso, Nichtspiegelung oder Nichtdenken heißt. Das bedeutet nicht etwa, daß man geradezu ohne Gedanken, Absichten, Gefühle und so weiter sein soll, wenn man das Schwert in der Hand dem 27
HIROMASA TAKANO.
Gegner gegenübersteht. Es bedeutet, man solle seine natürlichen Anlagen walten lassen in einem Bewußtseinszustand, der frei von Gedanken, Spiegelungen oder Gemütsbewegungen irgendwelcher Art ist. Dieser Zustand heißt auch ‹Ichlosigkeit› (muga), in der man keine ichbezogenen Gedanken, keine Bewußtheit des eigenen Vollbringens hat. Das sogenannte Sabi-Shiwori-Ideal, das die Kunst SAIGYOS oder BASHOS beherrscht, dürfte ebenfalls einem Geisteszustand der Ichlosigkeit entspringen. Man vergleicht es mit der Spiegelung des Mondes im Wasser. Weder der Mond noch das Wasser haben irgendeine vorgefaßte Absicht, die Wirkung hervorzubringen, die wir den Mond im Wasser nennen. Das Wasser ist in einem Zustand des Nichtbewußtseins so gut wie der Mond. Aber wo ein Streifen Wasser ist, da erblickt man den Mond darin. Der Mond ist nur einer, aber seine Spiegelbilder sieht man überall, wo es Wasser gibt. Wer dies begreift, dessen Kunst ist vollkommen. Endlich sind Zen und der Weg des Schwerts darin eins, daß beide als letztes Ziel die Überwindung der Zweiheit von Geburt und Tod anstreben. Daher haben die Schwertmeister dies von altersher anerkannt, und die Großen unter ihnen haben ausnahmslos am Tore von Zen angeklopft, wie die Beispiele YAGYU TAJIMA-NO-KAMIS und TAKUANS, MIYAMOTO MUSASHIS und SHUNZANS beweisen. Der Verfasser des genannten Buches teilt auch die interessante Nachricht mit, daß in der Feudalzeit Japans ein Schwert- oder Speermeister häufig ‹Osho› (im Sanskrit Upadhyana) genannt wird, das heißt den Titel eines buddhistischen Mönchs oder Priesters führt. Der Ursprung dieser Sitte scheint darauf zurückzugehen, daß einst im Kofukuji-Tempel zu Nara ein berühmter Mönch gelebt hat. Er gehörte einem der Nebenklöster namens Jizo-in an, das unter der Gerichtsbarkeit des Kofukuji stand. Er war im Speerwerfen ge-
übt, und alle Mönche des Jizo-in lernten die Speerkunst von ihm. So war er naturgemäß ein Osho für seine Schüler, und diese Bezeichnung wurde in der Folge auf alle Meister des Speers und des Schwerts übertragen, unabhängig von ihrem Zusammenhang mit dem Buddhismus. Die Halle, in der die Schwertkunst ausgeübt wird, heißt Dojo. Dojo ist eigentlich der Name eines Ortes für religiöse Übungen, seine ursprüngliche Bedeutung im Sanskrit ist Bodhimandala, das heißt der Ort der Erleuchtung. Ohne Zweifel ist auch dieser Name dem Zen-Buddhismus entlehnt worden. Noch etwas anderes haben die Schwertmänner vom Zen-Mönch übernommen. In alten Zeiten pflegten sie ganz Japan zu durchwandern, um sich in ihrer Kunst zu vervollkommnen, indem sie Entbehrungen und Gefahren jeder Art auf sich nahmen und Übungen von jeder Art unter aller Art Meistern durchmachten. Auch dies geschah nach dem Vorbild der Zen-Mönche, die dieselbe Wanderschaft zu unternehmen hatten, bevor sie an das Ziel der Erleuchtung gelangten. Diese Praxis hieß Angya oder Fußwanderung unter den Mönchen, während die Schwertmänner sie Musha-Shugyo oder ‹Kriegerschaft betätigen› genannt haben. Ich weiß nicht, wie früh diese Sitte unter den Schwertmännern aufgekommen ist, immerhin liest man über den Gründer von Shinkage-ryu, daß er das ganze Land durchwandert habe. Ein Ereignis auf der Reise bringt ihn mit einem Zen-Mönch in Verbindung, der in derselben Art Übung begriffen war. Als KAMI-IDZUMI ISE-NO-KAMI in einer abgelegenen Berggegend durch ein kleines Dorf kam, fand er die Einwohner in großer Aufregung. Ein verzweifelter Geächteter hatte sich in ein leeres Haus geflüchtet und einen kleinen Dorfknaben mit sich geschleppt. Er drohte nun, das Kind umzubrin-
gen, wenn die Dorfleute versuchen wollten, ihn zu fangen oder ihm etwas zuleid zu tun. ISE-NO-KAMI begriff den Ernst der Lage. Da er einen Mönch in der Nähe vorübergehen sah, ohne Zweifel einen wandernden Zen-Mönch, so bat ihn der Mann des Schwerts, ihm für eine kurze Weile sein Mönchsgewand zu leihen. Darauf ließ er sich den Kopf rasieren, so daß er wie ein richtiger Mönch aussah. Nun ging er mit zwei Frühstücksschachteln auf das Haus zu und erzählte dem Geächteten, die Eltern des Kindes möchten nicht, daß es Hungers sterbe, und hätten ihn beauftragt, ihm etwas zu essen zu bringen. Mit diesen Worten zog er eine der beiden Schachteln hervor und stellte sie vor den Mann. Dann fuhr ISE-NO-KAMI fort: ‹Da du selber Hunger haben wirst, so habe ich eine zweite Schachtel für dich mitgebracht.› Als der Verbrecher die Hand ausstreckte, um sie in Empfang zu nehmen, nutzte der vermeintliche Mönch den Augenblick, packte seinen Arm, warf ihn zu Boden und machte ihn so zum Gefangenen. Das Mönchsgewand wurde seinem Eigentümer wieder zurückgegeben. Dieser lobte den andern hoch mit den Worten: ‹Du bist ein echter Mann des Schwerts› und übergab ihm das Kara, ein Sinnbild des Mönchtums, das der Zen-Mönch um den Nacken gehängt vor der Brust zu tragen pflegt – eine Art abgekürztes Kesa (Kashaya im Sanskrit). Es heißt, ISE-NO-KAMI habe es immer getragen. Der wandernde Zen-Mönch dürfte kein gewöhnlicher Novize gewesen sein, er muß schon eine gewisse Erkenntnis besessen haben. ‹Ein Mann des Schwerts› ist nämlich ein Ausdruck, der in Zen häufig gebraucht wird, um einen gereiften Zen-Priester zu bezeichnen, der wirklich die Grenzlinie von Leben und Tod überschritten hat. ISE-NO-KAMI hat also guten Grund gehabt, das Kara als Geschenk des Mönchs ‹auf der Fußreise› in Ehren zu halten.
5. ZEN UND DER TEEKULT
Teekult als Symbol des ‹einfachen Lebens› Zen und dem Teekult ist das beständige Streben nach Einfachheit gemeinsam. Die Ausschaltung des Überflüssigen erreicht Zen in seinem intuitiven Erfassen der letzten Wirklichkeit und der Teekult in seiner Lebenskunst, deren typische Handlung das Darbieten des Tees im Teeraum ist. Der Teekult ist die Bejahung der ursprünglichen Einfachheit. Sein Ideal, der Natur nahezukommen, wird dadurch verwirklicht, daß man sich unter ein Strohdach zurückzieht und in einem Raum von kaum zehn Quadratfuß niederläßt, der aber mit künstlerischem Geschmack erbaut und eingerichtet sein muß. Auch Zen hat das Ziel, alle künstlichen Verhüllungen abzustreifen, die die Menschheit ersonnen hat, vermutlich, um sich selber recht feierlich vorzukommen. Zen bekämpft vor allem den Verstand, denn so groß seine praktische Nützlichkeit sein mag, so widerstreitet er dem Bemühen, in die Tiefen unseres Wesens einzudringen. Die Philosophie mag Fragen jeglicher Art aufwerfen, um sie zu einer verstandesmäßigen Lösung zu bringen, aber sie wird uns niemals eine geistige Befriedigung geben können, die einem jeden unter uns zugänglich ist, mag sein Verstand noch so wenig entwickelt sein. Die Philosophie eröffnet sich nur dem Menschen, der eine besondere Begabung für sie mitbringt, sie kann daher nie eine allgemeine Wertschätzung erlangen. Zen oder im weiteren Sinne der Glaube bedeutet, daß der Mensch alles von sich wirft, was er meint zu besitzen, und zu dem tiefsten Zustand des Seins, der ursprünglichen Heimat oder gleichsam zu Vater und Mutter zurückkehrt. Dazu ist jeder von uns imstande, denn nur durch jenes, durch
ihn oder sie sind wir, was wir sind, und ohne dieses sind wir nichts. Dies ist die höchste Stufe des Einfachwerdens zu nennen, weil die Dinge nicht auf etwas noch Einfacheres zurückzuführen sind. Der Teekult stellt dafür mit einer einsamen Hütte unter einer Kiefer sein Sinnbild auf. Ist die Urform auf diese Weise einmal zum Symbol geworden, so erlaubt sie auch eine künstlerische Gestaltung. Selbstverständlich muß das Prinzip der Gestaltung in vollkommener Harmonie mit dem Grundgedanken bleiben, der sich hier ausgesprochen hat, das heißt mit Ausschaltung alles Überflüssigen.
Die Begründer von Teekultur und Teekult Der Tee ist in Japan schon vor der Kamakura-Zeit bekannt gewesen, allein der Anstoß zu einer weiteren Verbreitung soll auf EISAI (1131 – 1215), den Zen-Meister, zurückgehen, der Setzlinge des Teestrauchs aus China mitgebracht und sie in seinem Klosterland angepflanzt hat. Angeblich hat er sein Buch vom Tee zugleich mit dem Tee, den er aus seiner Pflanzung bereitet hatte, dem damaligen Shogun MINAMOTO SANETOMO überreicht, als diesen eine Krankheit befallen hatte. So ist EISAI als Vater der Teepflanzung und Teebereitung in Japan bekannt geworden. Er glaubte, der Tee besitze heilkräftige Eigenschaften und sei ein Mittel gegen mancherlei Krankheiten. Anscheinend hat er für die Ausführung der Teezeremonie keine Vor Schriften, gegeben, obgleich er diese während seines Aufenthalts in den chinesischen Zen-Klöstern kennengelernt haben muß. Die Teezeremonie ist eigentlich eine Art Unterhaltung für die Besucher des Klosters oder auch für dessen eigene Insassen untereinander. Der Zen-Priester, der sie in Japan einführte, war DAI-O, der Lehrer der Nation (1236 – 1308, er kehrte 1267 aus China zu-
rück), etwa ein halbes Jahrhundert nach EISAI. Auf DAI-O folgten verschiedene Priester, die Meister der Teezeremonie geworden sind, und zuletzt lehrte IKKYU (1394 – 1481), der bekannte Abt des Daitokuji, den Hergang einem seiner Schüler, SHUKO (1422 – 1502), dessen künstlerischer Genius ihn weiter ausgebildet und dem japanischen Geschmack angepaßt hat. So ist SHUKO der Begründer des Teekults geworden. Er unterwies darin den damaligen Shogun ASHIKAGA YOSHIMASA (1435 – 1490), der ein großer Beschützer aller Künste war. Später haben ihn SHO-O (1503 – 1555) und namentlich RIKYU weiter verbessert und dem, was heute Cha-no-yu heißt – gewöhnlich Teezeremonie oder Teekult übersetzt –, die endgültige Form gegeben. Die ursprüngliche Teezeremonie, so wie sie in den Zen-Klöstern geübt wurde, lebt daneben unabhängig von dem im großen Publikum modischen Verfahren weiter.
Tee als Sinnbild des Buddhismus Es ist mir oft der Gedanke gekommen, den Teekult mit dem Leben des gläubigen Buddhisten zu vergleichen, da so viele gemeinsame Züge sie verbinden. Tee hält den Geist frisch und wach, hat aber nichts Berauschendes. Er besitzt Eigenschaften, die von Gelehrten und Mönchen ihrer Lebensweise entsprechend besonders geschätzt werden müssen. Es liegt im Wesen der Sache, daß man sich in den buddhistischen Klöstern des Tees in großem Umfang bediente und daß er zuerst durch die Mönche in Japan eingeführt worden ist. Wenn man den Tee als ein Sinnbild des Buddhismus betrachtet, könnte man dann nicht sagen, der Wein vertrete das Christentum? Wein wird von den Christen in großem Umfang getrunken. Er dient in der Kirche als Sinnbild für CHRISTI Blut, das nach den Kirchen-
vätern für die Sünden der Menschheit vergossen wurde, und wahrscheinlich aus diesem Grunde unterhielten die Mönche des Mittelalters Weinkeller in ihren Klöstern. Vergnügt und selig sieht man sie um das Weinfaß versammelt und die Gläser erheben. Der Wein begeistert zuerst, dann macht er trunken. Er bildet in vieler Hinsicht einen Gegensatz zum Tee, und derselbe Gegensatz besteht zwischen Buddhismus und Christentum. Es läßt sich nun beobachten, daß der Teekult nicht nur in seiner tatsächlichen Entwicklung eine innerste Verbindung mit Zen besitzt, sondern vor allem, wenn man auf den Geist achtet, der in der Zeremonie selber sich durchwaltend ausspricht. Ihr Geist besteht, nach der Seite des Gefühls hin bezeichnet, aus Harmonie, Ehrfurcht, Reinheit und Stille. Diese vier Elemente sind unentbehrlich, um den Kult mit Erfolg durchzuführen, sie sind auch die wesentlichen Eigenschaften eines brüderlichen und geordneten Lebens, das heißt eben des Lebens in den Zen-Klöstern. Daß die Mönche ein höchst geordnetes Betragen pflegten, kann man einer Bemerkung des CHENG MING-TAO, eines konfuzianischen Gelehrten der Sung-Zeit, entnehmen: ‹Hier sehen wir in der Tat das Ritual des Benehmens in seiner klassischen Ausbildung, so wie es unter den ersten drei Dynastien ausgeübt wurde.› Die alten drei Dynastien sind das goldene Zeitalter, von dem jeder chinesische Philosoph und Staatsmann träumt, in dem alle Dinge in idealen Beziehungen standen und das Volk alle Wohltaten einer vollkommenen Regierung genoß. Bis zum heutigen Tage werden die Zen-Mönche als einzelne und in ihrem Zusammenwirken zur Ausführung der religiösen Zeremonien sorgfältig geschult. Die Ogasawara-Schule des formvollendeten Betragens ist, wie man glaubt, aus den ‹Klosterregeln› des PAI-CHANG28 28
Ein großer Zen-Meister der T’ang-Dynastie (720 – 814).
(HYAKUJO SHINGI) erwachsen. Und während die Zen-Bildung darauf ausgeht, über die Form hinauszuschreiten und den Geist zu erfassen, unterläßt sie es nie, daran zu erinnern, daß die Welt, in der wir leben, eine Welt der gesonderten Formen ist und der Geist nur durch das Mittel der Form seinen Ausdruck finden kann. Darum ist Zen zugleich auf die Antinomien des inneren und auf die Zucht des äußeren Lebens bedacht.
Teezeremonie und ‹geistige Anmut› Das Schriftzeichen für ‹Harmonie› bedeutet auch ‹Anmut des Geistes›, und für mein Gefühl bezeichnet diese ‹geistige Anmut› am besten die Haltung, die im ganzen Hergang der Teezeremonie sich ausspricht. Harmonie bezieht sich mehr auf die Form, während Anmut eher eine Gefühlsweise andeutet. Die allgemeine Atmosphäre des Teeraums soll diese Art Anmut rings um sich her verbreiten – Anmut der Berührung, Anmut des Geruchs, Anmut der Behandlung und Anmut des Klangs. Man nimmt eine Teeschale in die Hand: sie ist vom Töpfer in unregelmäßigen Formen wie zufällig gestaltet, die Glasur ist in der Regel nicht gleichmäßig über sie geflossen, aber trotz dieses primitiven Charakters hat dies kleine Gerät einen besonderen Zauber des Anmutigen, Stillen und Unaufdringlichen. Der Weihrauch, der verbrannt wird, duftet nie streng und aufreizend, sondern mild und schmeichelnd. Die Fenster und Schiebewände sind wiederum eine Quelle des anmutvollen Zaubers, der hier waltet. Das Licht, das sie dem Räume zuführen, ist immer gedämpft, ruhevoll und recht zum Nachdenken geschaffen. Und der sanfte Wind, der durch die Nadeln der alten Kiefer über dem Teehaus streift, tönt harmonisch mit dem Sieden des Eisenkessels über
dem Feuer zusammen. So spiegelt die ganze Umgebung die Gesinnung des Menschen, der sie geschaffen hat. ‹Das Wertvollste ist Anmut des Geistes, das Wesentlichste, andern nicht zu widersprechen› – dies sind die ersten Worte, mit denen die sogenannte ‹Verfassung in siebzehn Hauptpunkten› beginnt. Diese Verfassung ist von PRINZ SHOTOKU im Jahre 604 verfaßt. Sie enthält eine Art sittlicher und geistlicher Ermahnung, die der Prinzregent an seine Untertanen gerichtet hat. Es ist sehr bezeichnend, daß eine solche Ermahnung, was immer ihre politische Tragweite sein mochte, davon ausgeht, daß sie einen so ungewöhnlichen Nachdruck auf die Anmut des Geistes legt. In der Tat ist dies die früheste Äußerung der japanischen Gesinnung, zu der unser Volk nach Jahrhunderten der Zivilisation erwacht ist. Wenn auch Japan in der jüngsten Zeit als eine kriegerische Nation – und dies zu Unrecht – bekannt geworden ist, so ist doch das Bewußtsein, das sie von ihrem eigenen Wesen hat, im ganzen das einer liebenswürdigen Veranlagung. Und die Japaner haben guten Grund, dies zu glauben, denn schon die physische Atmosphäre, die ihre Insel einhüllt, zeichnet sich durch eine große Milde der klimatischen und meteorologischen Bedingungen aus. Das liegt vor allem an dem reichlich in der Luft vorhandenen Wasserdunst. Die so in Duft gehüllten Berge, Wälder und Dörfer bieten ein sanft verschwebendes Bild, die Blüten haben in der Regel nicht starke, sondern gedämpfte und zarte Farben, nur das Frühlingslaub ist vom frischesten Grün. Empfindsame Gemüter, die in einer solchen Umgebung heranwachsen, nehmen notwendig etwas davon in sich auf, und dies ist Anmut des Geistes. Allerdings sind wir imstande, von dieser grundlegenden Tugend des japanischen Wesens uns zu entfernen, sobald wir mit den Schwierigkeiten der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und Rassefragen
in Berührung kommen. Hier haben wir uns vor Ansteckungsgefahren zu hüten, und Zen ist uns darin zu Hilfe gekommen. Als DOGEN (1200 – 1253) nach einem Zen-Studium von einigen Jahren aus China heimkehrte, wurde er gefragt, was er dort gelernt habe. Er meinte: ‹Nicht viel außer Sanftmütigkeit.› Sanftmütigkeit oder Zartgefühl bedeutet hier nichts anderes als Anmut des Geistes. Im allgemeinen sind wir zu ichsüchtig und voller Widerspruchsgeist. Wir sind zu sehr Individualisten und unfähig, die Dinge anzunehmen, wie sie sind oder wie sie auf uns zukommen. Widerstreben bedeutet Reibung, und Reibung ist die Quelle aller Unruhe. Wo kein Ich ist, da ist die Seele sanft und setzt dem, was von außen in sie einströmt, keinen Widerstand entgegen. Das will keineswegs Unempfindlichkeit heißen. Aber vom geistlichen Standpunkt aus wissen Christen und Buddhisten, DOGEN nachzufolgen und die Bedeutung der Selbstlosigkeit oder Sanftmütigkeit richtig einzuschätzen. Im Teekult ist von der Anmut des Geistes im gleichen Sinne die Rede, wie sie PRINZ SHOTOKU empfohlen hat. Es ist so: Anmut des Geistes oder Sanftmütigkeit ist die Grundlage unseres Daseins auf Erden. Wenn der Teekult den Ehrgeiz hat, ein Buddhaland in seiner kleinen Gesellschaft zu schaffen, so muß Sanftmut des Geistes das erste sein. Um diesen Punkt noch deutlicher zu machen, sei der ZenMeister TAKUAN hier angeführt.
Zen-Meister Takuan über den Teekult ‹Der Grundsatz des Cha-no-yu ist der Geist einer harmonischen Vereinigung von Himmel und Erde, er schenkt uns die Mittel, um den allgemeinen Frieden zu schaffen. Gegenwärtig haben manche das Cha-no-yu in eine bloße Gelegenheit verwandelt, mit Freunden zu-
sammenzukommen, über weltliche Angelegenheiten zu reden und schmackhaftes Essen und Trinken zu genießen. Daneben bilden sie sich auf ihre elegant ausgestatteten Teeräume etwas ein, in denen sie, umgeben von seltenen Kunstwerken, den Tee in der formvollendetsten Weise darreichen und derer spotten, die nicht so geschickt wie sie selber sind. Allein das ist weit entfernt vom ursprünglichen Sinn des Cha-no-yu. Lasset uns also einen kleinen Raum in einem Bambusgebüsch oder unter Bäumen erbauen, rings umher aber Bäche und Felsen anlegen, Bäume und Gebüsche pflanzen. Drinnen wollen wir Holzkohle schichten, einen Kessel aufs Feuer setzen, ein paar Blumen anbringen und das notwendige Teegerät ordentlich bereitstellen. Und das alles wollen wir im Einklang mit dem Gedanken tun, daß wir in diesem Raum uns der Bäche und Felsen erfreuen wollen, so wie wir in der Landschaft die Flüsse und Berge genießen und den verschiedenen Stimmungen und Gefühlen uns hingeben, die Schnee und Mondschein, Bäume und Blumen in uns aufwecken, indem sie durch die Verwandlung der Jahreszeiten, des Erscheinens und DahinSchwindens, des Aufblühens und Welkens hindurchgehen. Wenn die Gäste hier mit der gebührenden Ehrfurcht begrüßt sind, so lauschen wir in Ruhe dem Sieden des Wassers im Kessel, das gleich dem Wind klingt, wenn er durch die Kiefernadeln streift, und vergessen alle Qual und Sorgen der Welt. Dann gießen wir einen Schöpflöffel voll Wasser aus dem Kessel und gedenken an die murmelnden Wellen im Bergbach – so wird aller Staub von unserer Seele abgestreift. Hier ist dann wirklich eine Welt der Einsiedler und der Heiligen auf Erden. Der Grundsatz der Schicklichkeit ist die Ehrfurcht, die im praktischen Leben als Harmonie der Beziehungen sich auswirkt. Das
ist der Ausspruch des K’UNG-TZE, wo er die Anwendung der Schicklichkeit erklärt, und ist auch die Geisteshaltung, die man beim Chano-yu pflegen soll. Wenn einer zum Beispiel mit Männern von hohem Rang zusammenkommt, so wird sein Betragen schlicht und natürlich, nicht aber von kriechender Unterwürfigkeit sein. Wenn er mit Leuten zusammensitzt, die gesellschaftlich unter ihm stehen, so wird er ihnen mit großer Hochachtung begegnen und kein Gefühl seiner eigenen Bedeutung aufkommen lassen. Denn es ist im Teeraum ein Etwas gegenwärtig, das ihn ganz durchweht und die harmonische Verbundenheit aller, die ihn betreten, bewirkt. Solange dies Beisammensein dauern mag, so bleibt es immer vom Geist der Ehrfurcht beherrscht. Man darf sagen, der Sinn des Kassyapa, der lächelt, und des Tseng-tze, der nickt, schwebe unsichtbar hier oder in anderen Worten das geheimnisvolle Wesen der Soheit, das über alles Begreifen geht. Darum muß der Grundsatz, der den Teeraum beseelt und formt, von der Anlage des Bauwerks bis zur Wahl der Teegeräte, der Art der Bedienung, dem Kochen der Speisen, der Kleidung, die man trägt, und so weiter, im Vermeiden eines verwickelten Rituals und alles Prunkenden gesucht werden. Die Gerätschaften mögen alt sein, aber sie können so kräftig zum Herzen sprechen, daß es sich frisch und bereit fühlt, dem Wechsel der Jahreszeiten und der Landschaftsbilder, die er hervorbringt, zu antworten. Dann will es sich bei niemandem einschmeicheln, hat kein Begehren, sondern ist frei von Übermut, immer aufmerksam und achtungsvoll gegen die andern. Wer von solcher Gesinnung erfüllt ist, hat die natürliche Anmut des Benehmens und bleibt immer aufrichtig – das heißt Cha-no-yu. Der Weg des Cha-no-yu also besteht darin, daß man den Geist einer selbstverständlichen und harmonischen Vereinigung von Him-
mel und Erde begreift, die alldurchdringende Gegenwart der fünf Elemente am stillen Herdplatz empfindet, an dem die Berge, Flüsse, Felsen und Bäume wie draußen in der Natur verwandelt erscheinen, daß man das erquickende Wasser aus dem Brunnen der Erde schöpft und mit dem eigenen Mund den Duft und Geschmack der Wesen in sich aufnimmt. Wie tief ist die Freude, dies harmonische Einssein von Himmel und Erde zu spüren!›
Die Aufhebung gesellschaftlicher Schranken bei der Teezeremonie Haben wohl der Teekult und Zen dazu beigetragen, daß ein angeborenes Gefühl für die Gleichheit und Würde der Menschen im gesellschaftlichen Leben Japans immer bewahrt geblieben ist? Dem strengen Gefüge einer gesellschaftlichen Hierarchie zum Trotz, das in der Feudalzeit sich durchgebildet hatte, ist der Gedanke der Gleichheit und Brüderlichkeit im Volke lebendig geblieben. Im engen Teeraum von zehn Fuß im Quadrat werden Gäste verschiedenen gesellschaftlichen Ranges ohne jeden Unterschied bewirtet. Wenn sie hier eingetreten sind, haben die Maßstäbe der Welt sich in Wind verflüchtigt: das Knie des gemeinen Mannes berührt das des Adligen, und beide unterhalten sich mit gleicher Hochachtung über Dinge, die beiden am Herzen liegen. Für Zen gelten in der Tat keinerlei irdische Rangunterscheidungen, seine Mönche haben bei allen Klassen der Gesellschaft freien Zugang und sind bei allen zu Hause. Es ist ein tief eingewurzeltes Bedürfnis des Menschen, die Schranken, die von der Gesellschaft künstlich um uns aufgerichtet sind, beiseitezusetzen und bei guter Gelegenheit einen freien, natürlichen Umgang von Herz zu Herzen mit seinem Nebenmenschen zu pflegen, ja sogar mit Tieren, Pflanzen und den sogenannten unbeseelten
Wesen. Darum heißen wir jeden Anlaß zu solcher Selbstbefreiung willkommen. Ohne Zweifel meint TAKUAN dies, wenn er von der harmonischen Vereinigung von Himmel und Erde spricht, bei der alle Engel zum Lobgesang sich vereinen.
Ehrfurcht als Wesenszug des Zen Ehrfurcht ist nach Grund und Wesen ein religiöses Gefühl – das Gefühl für ein Wesen, das höher ist als wir armen sterblichen Menschen. Dieses Gefühl wird später erst auf die gesellschaftlichen Beziehungen übertragen und entartet schließlich zu bloßem Formenwesen. Unter den heutigen demokratischen Verhältnissen, mögen sie auch in manchen Teilen der Welt erst ganz neuerdings sich Geltung verschafft haben, ist einer so gut wie der andere, wenigstens vom Standpunkt der Gesellschaft aus, und niemand hat Anspruch auf ganz besondere Ehrfurcht. Allein wenn man auf den ursprünglichen Sinn dieses Gefühls zurückgeht, so ist es ein Begreifen der eigenen Unwürdigkeit, eine Einsicht in die eigenen Beschränkungen, seien sie leiblicher oder verstandesmäßiger, sittlicher oder geistiger Natur. Diese Einsicht weckt in uns die Sehnsucht, über uns selber hinauszugelangen und selbst mit einem Wesen in Berührung zu kommen, das in jeder denkbaren Hinsicht im Gegensatz zu uns selber steht. Die Sehnsucht lenkt unsere Seele zu einem Gegenstand außerhalb von uns, wenn sie aber zu sich selbst zurückkehrt, so verwandelt sie sich in Selbstverleugnung, Bescheidenheit und Schuldgefühl. Dies alles sind negative Tugenden, positiv gewendet leiten sie uns zur Ehrfurcht und zum Wunsche, anderen nicht wehe zu tun. Unser Wesen ist voller Widersprüche: auf der einen Seite fühlen wir, daß wir so gut wie jeder andere sind, gleichzeitig aber haben
wir ein angeborenes Mißtrauen, daß jeder andere besser sei als wir selber – eine Art Minderwertigkeitskomplex. Im Mahayana-Buddhismus29 gibt es einen Bodhisattva Sadhaparibhuta, ‹der andern nie wehe tut›. Vielleicht, wenn wir ganz aufrichtig gegen uns, das heißt in der innersten Kammer unseres Wesens ganz allein mit uns selber sind, lebt hier ein Gefühl, das uns zur Selbsterniedrigung gegen andere antreibt. Auf jeden Fall liegt ein tief religiöses Verhalten des Herzens in der Ehrfucht. Zen mag alle geheiligten Standbilder im Tempel verbrennen, um in einer kalten Winternacht sich Wärme zu schaffen. Zen mag die ganze Schrift zerreißen, die seine eigene köstliche Botschaft enthält, um sein eigenstes Dasein zu retten als die Wahrheit, die frei von allen äußeren Fallstricken, und mögen sie andern noch so bestechend scheinen, in sich selber besteht. Aber Zen versäumt nie, einen windzerzausten und schmutzbefleckten armseligen Grashalm anzubeten. Es vergißt nie, alle die wilden Blumen des Feldes, so wie sie sind, allen den Buddhas der dreitausend Welten darzubringen. Zen kennt die Ehrfurcht, denn es kennt auch das Wehetun. Was Zen wie jedes andere Tun fordert, ist die Wahrhaftigkeit des Herzens, nicht irgendeine vorgeschriebene Einstellung oder die äußere Form ihrer Gebärde. TOYOTOMI HIDEYOSHI war zu seiner Zeit der große Beschützer des Teekults und ein Bewunderer SEN-NO-RIKYUS (1521 – 1591), der im wesentlichen der Begründer des modernen Teekults gewesen ist. Obgleich er immer nach dem Aufwühlenden, Grandiosen und Pomphaften strebte, scheint er doch am Ende etwas vom Sinn des Teekults begriffen zu haben, so wie ihn RIKYU und seine Nachfolger pflegten, denn eines Tages widmete er RIKYU bei einer seiner Teegesellschaften folgende Verse: 29
Saddharma-pundarika Sutra, englische Übersetzung von KERN, S. 356.
‹Bereite den Tee mit Wasser, geschöpft aus des Herzens Tiefe, Dessen Grund unermeßlich ist, Dann wird es wahres Cha-no-yu heißen.› HIDEYOSHI war in vieler Hinsicht ein rauher und grausamer Despot, aber in seiner Liebe zum Teekult dürfte doch etwas Echtes und Aufrichtiges liegen, nicht nur die Absicht, ihn für seine politischen Zwecke zu nutzen. Seine Verse zeugen vom Geist der Ehrfurcht, wenn er von dem Wasser sprechen kann, das tief aus dem Brunnen des Herzens geschöpft wird. RIKYU lehrt: ‹Die Kunst des Cha-no-yu besteht einfach darin, Wasser zu kochen, Tee zu bereiten und ihn zu schlürfen.› Das ist allerdings einfach genug. Man kann ebensogut sagen: Das Leben des Menschen besteht darin, geboren zu werden, zu essen und zu trinken, zu heiraten und Kinder auf die Welt zu bringen und am Ende ins Unbekannte wieder dahinzugehen. Nichts kann einfacher aussehen als dies Leben zu leben, wenn man es so auffaßt. Aber wie viele von uns sind imstande, diese Art tief wahrhaften oder besser gottberauschten Lebens zu führen, das keine Reue hinterläßt, sondern unbedingt auf Gott allein vertraut? Solange wir leben, denken wir an den Tod, und wenn wir sterben, verlangen wir zu leben. Solange wir eine Sache zu tun haben, beschäftigen so manche andere Dinge, oft völlig fremde und meist ganz belanglose, unser Gehirn, lenken es ab und zerstreuen unsern Willen, der ganz auf die gegenwärtige Aufgabe gesammelt sein sollte. Wenn wir Wasser in die Schale gießen, so fließt nicht Wasser allein in sie, sondern viele Dinge fließen mit hinein, gute und schlechte, Dinge, die uns erröten machen, Dinge, die gar nirgendwo anders hinfließen können als in die Tiefe unseres Unbewußten. Wollte man das Teewasser
untersuchen, so würde es allen Schlamm enthalten, der den Strom unseres Bewußtseins verwirrt und befleckt. Die Kunst ist vollkommen erst, wo sie aufhört, Kunst zu sein, das heißt, wenn sie die Vollkommenheit des Kunstlosen erreicht, wenn die innerste Wahrhaftigkeit unseres Wesens sich ausspricht – und das ist der Sinn der Ehrfurcht im Teekult. Ehrfurcht bedeutet also Wahrhaftigkeit oder Einfalt des Herzens.
Teekult als geistige Übung: Wichtigkeit der Reinheit ‹Reinheit› als unentbehrliches Element im Geist des Teekults kann man als den Beitrag der japanischen Sinnesart ansehen. Reinheit bedeutet Sauberkeit oder auch geordnetes Wesen, wie man es in allem und jedem beobachten kann, das mit dem Kult zusammenhängt. Frisches Wasser fließt in Fülle durch den Roji-Garten, und wo kein laufendes Wasser erreichbar ist, da steht beim Eingang ein steinernes Wasserbecken. Der Teeraum selber ist fleckenlos rein – das braucht man kaum zu erwähnen. Die Reinheit im Teekult kann uns auch an die taoistische Lehre von der Reinheit erinnern. Es liegt hier ein gemeinsamer Zug, denn das Ziel der Bemühung ist in beiden Fällen die Befreiung des Herzens von den Befleckungen der Sinne. Ein Teemeister meint: ‹Der Sinn des Cha-no-yu ist die Reinigung der sechs Sinne von allem Unreinen. Betrachtet man das Kakemono (Hängebild) im Tokonoma (Bildnische) und die Blume in ihrem Gefäß, so wird das Sehen gereinigt. Atmet man den Weihrauchduft ein, so wird der Geruchssinn gereinigt. Lauscht man dem Sieden des Wassers im Eisenkessel und dem Tröpfeln des Wassers aus dem Bambusrohr, so wird das Ohr gereinigt. Schmeckt man den Tee, so wird der Mund gereinigt.
Und berührt man die Teegeräte, so wird der Tastsinn gereinigt. Wenn alle Sinnesorgane auf diese Weise gereinigt sind, so ist das Bewußtsein selber von Befleckung gereinigt. Der Teekult ist vor allem eine geistige Übung, und jede Stunde des Tages geht mein Bestreben dahin, vom Geist des Teekults nicht abzuweichen, denn dieser zielt keineswegs auf bloße Unterhaltung.30› In einem von RIKYUS Gedichten heißt es: ‹Wenn Roji uns einen Durchgang bedeutet, Der über dies Erdenleben hinausführt, Wie kommt’s, daß die Menschen nur danach trachten, Den Staub des Herzens auf ihn zu streuen?› Hier wie in den folgenden Gedichten spricht er von seinem eigenen Seelenzustand, wenn er friedlich aus seinem Teeraum Umschau hält: ‹Im Hof liegen rings noch Die abgefallenen Nadeln Der alten Kiefer. Kein Staub ist aufgewühlt, Und still ist mein Herz.› ‹Der lichte Mond Hoch oben am Himmel Blickt über den Dachrand, Schaut auf ein Herz, Das keine Reue trübt.› 30
Von NAKANO KAZUMA im Hagakure.
In der Tat, nur ein Herz, das rein, heiter und frei von störenden Leidenschaften ist, kann die Einsamkeit des Absoluten genießen. ‹Der schneebedeckte Bergpfad, Der um die Felsen sich windet, Hat sein Ende gefunden. (Hier steht eine Hütte, Ihr Herr ist ganz einsam.) Er hat keine Gäste Und wartet auf keinen.› In einem Buche mit dem Titel Nambo-Roku, einem der allerbedeutendsten, ja heiligen Texte des Teekults, findet man folgende Stelle, die darauf hinweist, daß der höchste Sinn des Kults die Verwirklichung eines Buddhalandes der Reinheit auf Erden ist, sei es auch in noch so bescheidenem Maßstab, und die Vereinigung einer idealen Gemeinschaft in demselben, sei die Versammlung auch noch so vorübergehend und seien es auch nur wenige, die an ihr teilnehmen. ‹Der Geist des Wabi bedeutet, daß ein Buddha-Land der Reinheit gebildet wird, das frei von jeder Befleckung ist. Darum darf in diesem Roji und in dieser strohgedeckten Hütte kein Fleckchen Staub von irgendeiner Art vorhanden sein. Herr und Gäste müssen beide unbedingt aufrichtig gegeneinander sein. Keine weltliche Vorschrift von Rang, Rücksicht und Sitte darf hier gelten. Ein Feuer wird angefacht, Wasser wird gekocht und Tee wird gereicht – das ist alles, was es braucht, sonst hat die Welt hier gar nichts zu suchen. Was wir hier wollen, das ist einfach: dem BUDDHA-Herzen den reinsten Ausdruck geben. Wo man auf Zeremoniell und Brauch und dergleichen Dinge Wert legt, da schleichen sich weltliche Rücksichten mancher
Art ein, und Herr und Gäste sind leicht geneigt, einander gegenseitig zu bemängeln. Deshalb wird es immer schwieriger, Menschen zu finden, die den ganzen Sinn des Teekults begreifen. Wäre CHAOCHOU31 unser Wirt und der erste Zen-Patriarch BODHIDHARMA der Ehrengast, und dürften dann RIKYU und ich selber den Staub im Roji zusammenkehren – wäre das nicht eine wahrhaft glückliche Versammlung?› Man sieht, wie tief durchdrungen vom Zen-Geist dieser Ausspruch eines der Hauptschüler RIKYUS ist.
‹Sabi› und ‹Wabi› als Elemente des Teekults Als viertes Element der Teekults wird Sabi oder Wabi aufgeführt. Der Erklärung dieses Begriffs soll ein besonderes Kapitel gewidmet sein. Denn in Wahrheit ist dies der wesentlichste Faktor, der den Kult bestimmt, ohne ihn kann überhaupt kein Cha-no-yu, sei es wie immer, bestehen, und mit diesem Grundgedanken tritt auch Zen in eine noch tiefere Beziehung zu ihm. Ich habe oben den Ausdruck ‹Stille› für das vierte Element gewählt, das den Geist des Teekults ausmacht, aber dies ist vielleicht nicht das rechte Wort für alles das, was in dem chinesischen Zeichen Chu enthalten ist. Chu heißt im Japanischen Sabi, aber Sabi bedeutet viel mehr als nur Stille. Sein Äquivalent im Sanskrit, Santi, heißt allerdings Stille, Friede, Heiterkeit, und Chu wird im buddhistischen Schriftwesen oft verwendet, um Tod oder Nirwana zu bezeichnen. Allein wo das Wort im Teekult gebraucht wird, deutet es eher in die Richtung von Armut, Einfachwerden, Einsamkeit, und Ein alter chinesischer ‹Nimm eine Schale Tee!›. 31
Zen-Meister,
berühmt
für
seinen
Ausspruch:
Sabi wird hier gleichbedeutend mit Wabi. Um Armut zu schätzen oder alle Schickung einfach hinzunehmen, bedarf es eines stillen Gemüts, aber in Sabi wie in Wabi liegt ein Hinweis auf etwas Objektives. Nur eben stille sein, ist weder Sabi noch Wabi. Es muß immer etwas Gegenständliches vorhanden sein, das eine Stimmung erweckt, die man als Wabi bezeichnet. Und Wabi ist nicht einfach eine seelische Reaktion auf eine bestimmte Form der Umgebung. Es steckt ein ästhetisches Prinzip darin, und wo dieses fehlt, da wird Armut zur Armseligkeit und Einsamkeit zur Verbannung oder zu unmenschlicher Ungeselligkeit. Wabi oder Sabi kann man daher als eine ästhetische Wertschätzung der Armut definieren. Wenn es als künstlerisches Prinzip verwendet wird, bedeutet es die Schaffung oder Nachbildung einer Umgebung mit der Absicht, das Gefühl von Wabi oder Sabi zu erwecken. So wie heute diese Ausdrücke gebraucht werden, kann man sagen, Sabi beziehe sich mehr auf die einzelnen Gegenstände und die Umgebung als Ganzes, Wabi auf den Lebenszustand, der in der Regel mit Armut oder Mangel oder Unzulänglichkeit verbunden ist. SHUKO, ein Schüler IKKYUS und der Teemeister YOSHIMASAS, pflegte seine Jünger mit folgender Geschichte über den Geist des Teekults zu belehren. Ein chinesischer Dichter verfaßte einmal folgende Verse: ‹In den Wäldern drüben tief unter der Last des Schnees Sind letzte Nacht ein paar Pflaumenzweige aufgeblüht.› Als er sie seinem Freunde zeigte, riet ihm dieser, statt ‹ein paar Zweige› ‹ein Zweig› zu schreiben. Der Dichter folgte dem Rat und pries den Freund als seinen ‹Ein-Zeichen-Lehrer›. Ein einsamer Pflaumenzweig voller Blüten inmitten der schneebedeckten Wälder – dar-
in liegt die Idee des Wabi. Bei einer anderen Gelegenheit soll SHUKO diesen Ausspruch getan haben: ‹Es ist schön, wenn man ein edles Roß in einem strohgedeckten Stall entdeckt. Ebenso ist es besonders schön, wenn man ein seltenes Kunstwerk in einem bescheiden eingerichteten Raume findet.› Das erinnert an die Zen-Redeweise: ‹Ein zerlumptes Mönchsgewand mit einem kühl erquickenden Wind füllen.› Äußerlich ist nichts Besonderes zu entdecken, aller Schein spricht gegen den Inhalt, der in jedem Fall unschätzbar ist. Ein Leben in Wabi kann also auf diese Weise definiert werden: unaussprechlich stille Freude, tief unter lauter Armut versteckt. Der Teekult versucht diese Idee künstlerisch auszudrücken. In dem Augenblick allerdings, wo hier auch nur eine Spur von Unwahrhaftigkeit sich einschleicht, ist das Ganze zerstört und verloren. Der unschätzbare Inhalt muß auf die echteste Weise vorhanden sein, er muß da sein, als wäre er gar nicht vorhanden, er muß fast wie zufällig entdeckt werden. Im Anfang darf man gar nicht auf den Gedanken kommen, hier sei etwas Außergewöhnliches, dann spricht ein gewisses Etwas uns an, man tritt näher, man versucht zu prüfen, und siehe da: eine Mine reinen Goldes schimmert aus dem Unerwarteten hervor. Das Gold aber bleibt immer das gleiche, ob es entdeckt wird oder nicht. Es behält seine Wirklichkeit, das heißt seine Wahrhaftigkeit gegen sich selber, jenseits von allem Zufall. Wabi bedeutet Treue gegen sich selbst. Ein Meister lebt still in einer anspruchslosen Hütte, ein Freund tritt unerwartet ein, Tee wird bereitet, ein frischer Blütenzweig aufgesteckt, und der Besucher genießt einen friedlichen Nachmittag, von seinem Gespräch und seiner Bewirtung gleich entzückt. Ist das nicht wahrhafter Teekult?
Nebenbei mag einer die Frage einwerfen: ‹Wie viele von uns sind denn in der heutigen Zeit in einer solchen Lage wie der Teemeister? Ist es nicht unsinnig, jetzt von müßiger Unterhaltung zu reden? Wir müssen zuerst Brot haben und einen kürzeren Arbeitstag.› In Wahrheit aber haben wir sogenannte moderne Menschen zuerst den Sinn für Muße verloren, in unseren bekümmerten und geängsteten Herzen ist kein Raum mehr, das Leben wirklich zu genießen, sondern nur dafür, Aufregungen um der Aufregung willen nachzulaufen, damit die innere Angst und Sorge für kurze Zeit erstickt werde. Die Hauptfrage ist, ob das Leben zum Genuß von Muße und Bildung oder zum Suchen nach Vergnügungen und aufreizenden Erregungen da ist. Ist diese Frage entschieden und ist es dann nötig, so laßt uns ruhig die ganze Mechanik des modernen Lebens verneinen und ein neues beginnen. Ich hoffe, es ist nicht unsere Bestimmung, daß wir uns selber dauernd zu Sklaven unserer materiellen Bedürfnisse und Bequemlichkeit hergeben. Ein anderer Teemeister schreibt: ‹In Amaterasu Omikami32 nimmt der Geist des Wabi seinen Anfang. Als dem großen Herrscher seines Landes stand es ihm frei, die schönsten nur denkbaren Paläste voller Gold, Silber und kostbarer Steine zu errichten, und keiner durfte deshalb ein unrechtes Wort über ihn sagen, und dennoch lebte er in einer schilfgedeckten Hütte und nährte sich von ungesäubertem Reis. Dazu war er in jeder Weise bedürfnislos, bescheiden und ständig bemüht. Er ist wahrlich ein höchst trefflicher Teemeister gewesen, da er ein Leben des Wabi geführt hat …› Es ist bemerkenswert, daß dieser Schriftsteller Amaterasu Omikami als das Vorbild des Teemannes ansieht, der ein Leben des Wabi führte. Dies zeigt aber, In Wahrheit ist Omikami die Sonnengöttin der japanischen Mythologie, der Verfasser scheint sie hier als männliche Gottheit anzusehen. 32
wie der Teekult die ästhetische Wertschätzung ursprünglicher Einfachheit bedeutet. Mit anderen Worten: dieser Kult ist der ästhetische Ausdruck einer Sehnsucht, die wir fast alle in der Tiefe unserer Seele empfinden, der Sehnsucht nach einer Heimkehr zur Natur, soweit unsere Lebensweise sie uns gestattet, ja, nach dem Einssein mit der Natur selber. Aus diesen Darlegungen wird der Begriff Wabi vielleicht deutlicher werden. JOTAN war ein Enkel RIKYUS, und von ihm könnte man sagen, er habe das echte Wabi-Leben begründet. Er erklärt Wabi für das Wesen des Teekults, das dem sittlichen Leben des Buddhisten entspreche: ‹Es wäre in Wahrheit ein großes Mißverständnis, wollte man Wabi nach außen zur Schau stellen, solange das Innere nicht irgendwie mit ihm übereinstimmt. Solche Leute erbauen sich einen Teeraum, der scheinbar allem, was zu Wabi gehört, angemessen ist. Sie geben viel Gold und Silber dafür aus, kaufen seltene Kunstwerke und verkaufen ein Landgut dafür – und das alles nur, um ihren Gästen Eindruck zu machen. Dann meinen sie, hier sei wirklich Wabi lebendig. Weit entfernt! Wabi bedeutet tatsächlichen Mangel, tatsächlich nicht in der Lage sein, sich jeden Wunsch zu erfüllen, tatsächlich ein Leben der Armut und des Verachtetseins. Wenn einer wirklich von seinem Weltleben absteht, weil er sich für unfähig hält, es zum Erfolg zu führen – das ist Wabi. Aber dann brütet er nicht über seine traurige Lage. Dann hat er gelernt, sich selber genug zu sein, auch wenn er nicht genug besitzt. Dann strebt er nach nichts, was nicht leicht erreichbar ist. Dann weiß er gar nichts mehr davon, daß er in beschränkten Verhältnissen lebt. Dächte er aber immer noch an seine Armut, sein Entbehren, sein Unglück, so wäre er kein Wabi-Mensch mehr, sondern einfach ein armer Kerl, dem es schlecht geht. Die wirklich begriffen haben, was Wabi ist,
sind frei von Gier, Heftigkeit, Zorn, Trägheit, Unruhe und Torheit, So entspricht Wabi dem sittlichen Paramita (Vollkommenheit) der Buddhisten …› In Wabi ist das Ästhetische mit dem Sittlichen und Geistigen verschmolzen, und aus diesem Grund erklären die Teemeister ihren Kult für das Leben selbst und nicht bloß für ein Vergnügen, und sei es noch so verfeinert. Auf diese Weise ist Zen direkt mit dem Teekult verknüpft. In der Tat haben die meisten alten Teemeister Zen mit großem Ernst studiert und die Erkenntnis, die sie darin erreicht haben, auf die Teekunst angewendet. Religion kann zuweilen als ein Weg definiert werden, um dem Unsinn des Weltlebens zu entrinnen. Gelehrte mögen dagegen einwenden, wahre Religion wolle nicht dem Leben entfliehen, sondern über das Leben hinausgelangen und das Unbedingte oder Unendliche erfassen. Allein, wenn man es praktisch nimmt, ist sie doch ein Entrinnen, in dem man ein wenig Zeit findet, aufzuatmen und zu sich selber zu kommen. Auch Zen als geistliche Übung hält es nicht anders, aber da es zu tief ins Jenseitige reicht und für gewöhnliche Geister unzugänglich bleibt, so haben die Teemeister, die Zen studierten, den Weg gefunden, ihr Begreifen durch die Form des Teekults in die Praxis umzusetzen. Wahrscheinlich hat zum guten Teil ihr ästhetisches Bestreben sie auf diesen Weg geführt. Wenn man Wabi erklärt, wie es oben geschehen ist, mag der Leser annehmen, Wabi sei mehr oder weniger eine negative Eigenschaft und die Freude daran sei für Leute gemacht, die am Leben gescheitert sind. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig. Aber wer unter uns ist wirklich so gesund, daß er nicht zu gegebener Zeit einmal irgendeine Art von Arznei oder Kräftigungsmittel nötig hätte? Sodann ist es einem jeden von uns bestimmt, daß er dahinscheiden
muß. Man kennt den so häufigen psychologischen Fall des tätigen Geschäftsmannes, der körperlich und geistig in voller Kraft steht, aber plötzlich zusammenbricht, wenn er von seinem Geschäft sich zurückzieht. Wie ist das möglich? Einfach deshalb, weil er nicht gelernt hat, einen Teil seiner Kraft zurückzuhalten, das heißt, solange er mitten in der Arbeit stand, nie mit dem Gedanken an eine andere Lebensweise sich vertraut gemacht hat. In den früheren Zeiten voller Kriege und Unruhen haben die japanischen Kämpfer, wenn sie mit höchster Bereitschaft ihren Kriegsgeschäften oblagen, klar erkannt, daß sie ihren Nerven nicht immer die äußerste Wachsamkeit und Anspannung zumuten konnten und deshalb irgendwo und irgendwann einmal einen Weg des Entrinnens nötig hatten. Ihnen muß der Teekult genau das gegeben haben, was sie brauchten. So zogen sie sich auf eine Weile in den stillsten Winkel ihres Unbewußten zurück, und dessen Sinnbild war der Teeraum, nicht mehr als zehn Fuß im Quadrat groß. Und wenn sie wieder heraustraten, so fühlten sie sich nicht nur an Leib und Seele erfrischt, sondern es waren ihnen höchstwahrscheinlich manche Dinge wieder ins Gedächtnis gerufen worden, die bleibender und wertvoller sind als der bloße Kampf.
Basho und die Haiku-Dichtung Sabi ist in der Landschaftsgärtnerei und in der Teezeremonie ebenso festzustellen wie in der Literatur. Ich möchte mich hier auf die Literatur beschränken, besonders auf jene Form der Literatur, die als Haiku, das Gedicht in siebzehn Silben, bekannt ist. Diese kürzeste denkbare Form dichterischer Äußerung ist eine eigene Schöpfung des japanischen Genius. Sie erfuhr in der Tokugawa-Zeit eine große Entwicklung, insbesondere seit dem Auftreten BASHOS (1643 – 1694).
BASHO ist ein großer wandernder Dichter, ein leidenschaftlicher Naturfreund gewesen – eine Art Minnesänger der schönen Erde. Er verbrachte sein Leben auf Reisen von einem Ende Japans zum andern. Es war ein Glück, daß es damals noch keine Eisenbahnen gab. Die modernen Bequemlichkeiten sind für die Dichtung anscheinend nicht förderlich. Der moderne Geist wissenschaftlicher Analyse läßt kein Geheimnis unentschleiert, Dichtung und Haiku aber gedeihen offenbar nicht, wo es keine Geheimnisse gibt. Der Fehler an der Wissenschaft ist es, daß sie der Ahnung keinen Raum läßt, alles wird bloßgelegt, und was zu sehen ist, wird restlos erklärt. Wo die Wissenschaft regiert, da zieht die Phantasie sich zurück. Wir sind gelehrt worden, nackten Tatsachen ins Auge zu sehen, daher ist unser Herz verknöchert. Wo uns keine Weichheit verbleibt, verschwindet das Dichterische. Wo der Wüstensand sich ausdehnt, gibt es kein Grünen und Wachsen mehr. In den Tagen BASHOS war das Leben noch nicht so nüchtern und bedrückt. Ein Strohhut aus Bambus, ein Rohrstock und eine Baumwolltasche waren dem Dichter genug, um seine Wanderschaft anzutreten, hier und da in einem Dörfchen zu verweilen, das ihm gefiel, und jedes Abenteuer zu genießen – wahrscheinlich zumeist nur die Mühen und Entbehrungen dieser einfachsten Reiseart. Wird das Reisen zu leicht und bequem gemacht, so geht sein geistiger Sinn verloren. Man mag diese Feststellung sentimental schelten, allein ein gewisses Gefühl der Einsamkeit, das auf der Reise entsteht, führt den Menschen zum Nachdenken über den Sinn des Lebens, denn das Leben ist schließlich auch eine Reise von einem Unbekannten zum andern. Ein Zeitraum von sechzig, siebzig oder achtzig Jahren ist uns vergönnt, damit wir den Schleier des Geheimnisses lüften, soweit wir können. Durchjagen wir zu eilig diesen Zeitraum, und sei er noch so kurz,
so bleibt uns das Gefühl der ewigen Einsamkeit verloren. Was für eine unwiderstehliche Wanderlust BASHO beseelte, sieht man aus einer der Vorreden zu seinen Reisetagebüchern: ‹Sonne und Mond33 sind ewige Wanderer, ebenso die Jahreszeiten, die kommen und gehen, jahraus und jahrein. Wer sein Leben auf dem schwimmenden Boot verbringt und wer im Sattel der Pferde alt wird, für solche Leute ist Reisen das tägliche Brot und ist wirklich ihre wahre Heimat. Vor alters gab es viele, die auf der Wanderschaft starben. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, wann es war, aber einst ergriff mich die Sehnsucht nach einem wandernden Dasein, und ich ergab mich dem Los einer einsamen Wolke, die im Winde dahintreibt. Eine Zeitlang verweilte ich am Ufer des Meers, und seit dem letzten Herbst ließ ich für eine Weile in einer gebrechlichen Hütte am Fluß mich nieder. Die alten Spinnweben wurden ausgefegt und die Unterkunft ein bißchen wohnlich gemacht. Doch als das Jahr zu Ende ging, brach meine Wanderlust wieder gewaltsam hervor. Es war mir, als wäre ein übernatürliches Wesen hinter mir her, dessen Versuchung ich nicht widerstehen konnte. So hielt mich der Gedanke besessen, das Grenzland von Shirakawa unter dem dunstigen Himmel des kommenden Frühlings aufzusuchen. Mein Herz hatte keinen Frieden mehr. Schleunigst wurden die Gamaschen geflickt, die Schnüre am Reisehut erneuert, und meine Waden mit Moxa (Punktiermethode) behandelt. Dann überließ ich die Hütte einem Freund und brach auf zur Wanderschaft nach dem Norden. Mein Herz war erfüllt von dem Mondlicht, das mich bald in Matsushima grüßen sollte.› ‹Sonne und Mond› bedeutet hier die Zeit, der ganze Satz will besagen: ‹Die Zeit entflieht und reißt uns mit sich fort.› 33
BASHOS Vorläufer war SAIGYO (1118 – 1190), ein Mann der Kamakura-Zeit. Auch er war ein wandernder Dichter. Nachdem er seine Laufbahn als Krieger am Kaiserhof aufgegeben hatte, war sein Leben ganz dem Reisen und Dichten geweiht. Er war buddhistischer Mönch. Wer einmal Japan besucht hat, der hat sicher irgendwo das Bild eines Mönchs im Wanderkleid gesehen, der zum Fuji emporblickt. Ich weiß nicht mehr, wer es gemalt hat, aber das Bild regt mancherlei Gedanken an, besonders an die geheimnisvolle Einsamkeit des Menschendaseins, doch liegt darin nicht das Gefühl des Verlorenseins oder das drückende des Alleinseins, sondern die Ergriffenheit vom Geheimnis des Absoluten. Das Gedicht SAIGYOS, das hier illustriert wird, lautet: ‹Der windverwehte Rauch des Fuji, Fern schwindet er hin! Wer weiß das Los Meiner Gedanken, die mit ihm schweben?› BASHO war kein buddhistischer Mönch, aber ein Jünger von Zen. Zu Beginn des Herbstes, wenn hier und da ein Regenschauer einsetzt, ist die Natur die Verkörperung der ewigen Einsamkeit. Die Bäume werden kahl, die Berge scheinen dunkler und strenger, die Flüsse durchsichtiger, und am Abend, wenn die Vögel müde vom Tag ihren Weg heimwärts suchen, sinnt der einsame Wanderer über das Los des Menschen. Seine Stimmung ist die der Natur. So singt BASHO:
‹Ein Wanderer – So will ich heißen – Das ist Regen im Herbst.› Wir brauchen nicht alle Asketen zu sein, aber ich möchte glauben, es lebe in jedem von uns eine ewige Sehnsucht nach einer Welt jenseits dieser Relativität der Erfahrung, wo die Seele ihr eigenes Schicksal in der Stille betrachten kann. Als BASHO noch unter seinem Meister BUCCHO Zen studierte, besuchte ihn dieser einmal und fragte: ‹Wie geht es dir so in der letzten Zeit?› BASHO: ‹Nach dem letzten Regen ist das Moos grüner als je.› BUCCHO: ‹Welches Buddhawesen ist älter als das grüne Moos?› BASHO: ‹Ein Frosch springt ins Wasser. Horch, wie das klatscht!› Man sagt, damit habe eine neue Epoche in der Geschichte der Haiku-Dichtung begonnen. Vor BASHO war das Haiku fast nur ein Spiel mit Worten gewesen und hatte die Beziehung auf das Leben verloren. Wie nun BASHO von seinem Meister über die letzte Wahrheit der Dinge befragt wurde, die noch vor dieser Welt der Sonderungen bestand, da sah er einen Frosch in den alten Teich hüpfen, und ein Aufklatschen unterbrach die Stille, die ringsum war. Hier ist die Quelle des Lebens erfaßt, der Künstler sitzt da und achtet auf jede Stimmung seiner Seele, die mit dem fortwährenden Werden der Welt um ihn her sich wandelt, und das Ergebnis sind die vielen Gedichte von siebzehn Silben, die er uns hinterlassen hat. Ein anderes seiner Haiku lautet:
‹Ein entlaubter Zweig, Ein Rabe hockt darauf – Das ist Abend im Herbst.› Einfachheit der Form bedeutet nicht immer Alltäglichkeit des Gehalts. Es liegt ein großes Jenseits in der einsamen Krähe, die auf dem dürren Baumzweig kauert. Alle Dinge sind aus dem unbekannten Abgrund der Geheimnisse hervorgekommen, und durch jedes von ihnen können wir einen Blick in den Abgrund werfen. Man braucht kein ellenlanges Gedicht von vielen hundert Versen zu machen, um dem Gefühl Ausdruck zu geben, das solch ein Blick in den Abgrund aufweckt. Wenn das Gefühl seine höchste Steigerung erlebt, befällt uns Schweigen, denn Worte können es nicht mehr sagen. Auch siebzehn Silben sind vielleicht noch zu viel. Auf jeden Fall streben die japanischen Künstler, die mehr oder weniger vom Zen-Weg berührt sind, ihre Gefühle mit möglichst wenig Worten oder Pinselstrichen auszudrücken. Würden sie zu ausführlich ausgesprochen, so bliebe kein Raum für das Suggestive, und eben dies Suggestive ist das Geheimnis der japanischen Künste. Manche Künstler gehen darin sogar so weit, daß es gleichgültig wird, auf welche Weise ihre Pinselstriche vom Betrachter ausgelegt werden, je eher man sie mißversteht, desto besser. Die Striche oder Flecken mögen irgendeine Naturerscheinung bezeichnen, mögen Vögel oder Berge oder Menschen oder Blumen oder was immer sein, es ist ihnen vollkommen gleichgültig, behaupten sie. Das ist in der Tat ein extremer Standpunkt. Denn wenn ihre Striche, Flecken und Flächen von verschiedenen Augen verschieden aufgefaßt werden, oft ganz anders als der Künstler sie ursprünglich gemeint hat, wozu ist dann so ein Bild überhaupt entworfen worden? Vielleicht würde
der Künstler hier bemerken: ‹Wenn nur der Geist, der ein Werk beseelt, richtig erfaßt und gewürdigt wird.› Jedenfalls ergibt sich daraus, daß die ostasiatischen Künstler der bloßen Form gleichgültig gegenüberstehen. Sie wollten durch ihre Pinselzüge etwas andeuten, was sie innerlich stark bewegt hat. Sie wußten vielleicht selber nicht, wie sie ihrer inneren Bewegung einen artikulierten Ausdruck geben sollten. Sie stoßen nur einen Schrei aus, sie tun nur einen Zug mit dem Pinsel. Das ist vielleicht nicht Kunst, denn wenn sie es tun, liegt keine Kunst darin. Oder wenn Kunst darin liegt, ist es vielleicht eine sehr primitive. Ist das wirklich der Fall? Wir mögen noch so weit fortgeschritten sein in der ‹Zivilisation›, das heißt in der Verkünstelung, so streben wir doch immer nach Kunstlosigkeit, denn diese erscheint uns als Ursprung und Endziel alles künstlerischen Bemühens. Wieviel Kunst ist hinter der scheinbaren Kunstlosigkeit der japanischen Kunst verborgen! Voller Bedeutung und Suggestivkraft und doch vollkommen kunstlos – wo der Geist des Ewig-Einsamen so sich ausspricht, da haben wir das innerste Wesen von Sumi-ye und Haiku. Nach BASHO ist das, was hier als Geist des Ewig-Einsamen bezeichnet wurde, der Geist des Fuga (oder Furyu, wie es manche nennen). Fuga bedeutet im allgemeinen ‹Verfeinerung des Lebens›, freilich nicht im modernen Sinn einer Erhöhung der Lebensbequemlichkeit. Es bedeutet die wunschlose Freude am Leben und der Natur, bedeutet die Sehnsucht nach Sabi oder Wabi, nicht aber das Streben nach materieller Annehmlichkeit oder erregendem Genuß. Ein Leben des Fuga geht von der Gleichsetzung und Einswerdung des eigenen Ich mit dem schöpferischen und künstlerischen Geist des Weltganzen aus. Ein Mensch des Fuga findet daher seine wahren Freunde in Blumen und Vögeln, Felsen und Wassern, Regen und Mond.
BASHO reiht sich selber in der folgenden Stelle aus dem Vorwort eines seiner Tagebücher in die Gruppe solcher Künstler wie SAIGYO, SOGI, SESSHU und RIKYU ein, die alle ‹Furabo› oder Irrsinnige waren, soweit es um ihre Liebe zur Natur sich handelte. BASHOS Vorwort lautet: ‹In diesem Leibe, der aus einhundert Gliedmaßen und neun Öffnungen besteht, lebt ein Etwas, das wir vorläufig einen Furabo34 heißen wollen. Ist damit wohl ein dünnes, zerfetztes Gewand gemeint, das im Winde flattert? Dieser Bursche war lange Zeit ein begeisterter Verfasser von Kyoku (verrückten Sätzen, das heißt Haiku), denn das hielt er für seine Lebensaufgabe. Manchmal aber wird er es satt und möchte gern auch das wegwerfen. Manchmal hat er den Ehrgeiz andere darin zu übertreffen, dann wird er durch weltliche Wünsche entsetzlich abgelenkt und fühlt sich höchst unbehaglich. Wahrhaftig oft möchte er gern einen Rang in der Welt haben, aber es (seine Liebe zum Haiku) hielt ihn wieder zurück, darauf auszugehen. Ein anderes Mal denkt er daran, als Gelehrter sich niederzulassen und die Unwissenden zu unterrichten, aber es (seine Liebe zu Haiku) unterdrückt solche Gedanken wieder. Und am Ende ist er heute noch ein Nichtswisser und Garnichtskönner, außer daß er standhaft den einen Weg verfolgt. Das ist der Weg, den SAIGYO in seinen Waka (Gedicht von 31 Silben), SOGI in seinen Renga (ebenso in einer Folge), SESSHU in seinen Tuschbildern und RIKYU in seinem Teekult gesucht hat. Ein einiger Geist wirkt in allen ihren Werken. Es ist der Geist des Fuga. Wer ihn liebt, nimmt die Natur in sich auf, wird zum Freund der vier Jahreszeiten. Was er auch sieht, wird
Fu = Wind, ra = dünnes Kleid, bo = Mönch. Das Wort als Ganzes bedeutet: ‹ein alter Mönch auf der Wanderschaft, der dahinflattert wie ein dünnes Kleid im Wind›. 34
ihm zur Blüte, was er auch sinnt, erscheint im Lichte des Mondes. Wer nicht im Lichte des Mondes denkt, ist nur ein niederes Tier. Darum sage ich: Sei mehr als ein Wilder, sei mehr als ein niederes Tier, nimm die Natur in dich auf, kehre heim zur Natur!›
6. RIKYU UND ANDERE TEEMEISTER
Rikyu, der Begründer des Teekults Es ist vielleicht angebracht, hier einen ganz kurzen Abriß vom Leben des SEN-NO-RIKYU zu geben. Er ist der Begründer des Teekults, so wie er heute noch in Japan ausgeübt wird, und jeder Teemeister erhält sein Zeugnis, daß er die Bildung und Eignung zu dieser Kunst besitzt, aus den Händen von RIKYUS Nachkommen. Es kann sein, daß der Teekult unserer Tage den Geist, der die früheren Meister erfüllt hat, nicht genau übermittelt und nicht so viel von Zen mehr enthält wie in RIKYUS Zeiten. Aber das ist wohl unvermeidlich. SEN-NO-RIKYU (1518 –1591) wurde als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in Sakai geboren. Sakai in der Provinz Idzumo war damals als Hafen für den Handel mit dem Ausland eine blühende Stadt, und unter seinen vielen Kaufleuten scheint der Teekult bereits gepflegt worden zu sein. Er war eine Art Erholung für sie, und da sie reich waren, besaßen sie vermutlich viele, meist ausländische Geräte zur Teebereitung. Sehr wahrscheinlich geht die ungewöhnliche Vorliebe für seltene Kunstwerke, die man bei den Teemeistern bemerkt, auf die Kaufleute von Sakai zurück, die in dieser Hinsicht mit den ästhetischen Neigungen ASHIKAGA YOSHIMASAS übereinstimmten. Ich will später ein paar Anekdoten aus der Geschichte des Teekults mitteilen, in denen man eine ungemeine oder fast unmäßige Liebe zu den Teegerätschaften ausgesprochen findet, wie sie nicht nur die Teemeister selber, sondern die Lehensherren aller Grade bezeigten. Sie waren bereit, unerhörte Preise für seltene Schalen oder Teedosen zu zahlen, und die Besitzer solcher Gegenstände wurden von großen Herren, Kaufleuten und Gebildeten beneidet.
RIKYU erlernte die Kunst schon in früher Jugend, und im Alter von fünfzehn Jahren genoß er bereits das Ansehen eines der vollendetsten Meister des Kults. KAISER OGIMACHI verlieh ihm einen buddhistischen Ehrennamen, unter dem er seither in der Geschichte bekannt ist, nämlich RIKYU. ODA NOBUNAGA war ein großer Gönner des Teekults und erwies RIKYU seine besondere Gunst. Nach NOBUNAGAS Tode wurde TOYOTOMI HIDEYOSHI auf RIKYU aufmerksam – er war der Nachfolger NOBUNAGAS, und ihm gelang es schließlich, als Staatsmann und Feldherr alle Macht über Japan in seiner Hand zu vereinigen. HIDEYOSHI setzte RIKYU dreitausend Koku Reis dafür aus, daß er als Teemeister in seine Dienste trat. In dieser Eigenschaft begleitete er jenen sogar in seinen verschiedenen Feldzügen gegen seine Widersacher. In jenen unruhigen Zeiten war der Teekult so sehr die Lieblingsunterhaltung der Feudalherren, daß sie ihn selbst mitten in ihren Kriegsgeschäften nicht entbehren mochten. Das ‹Teegespräch› diente oft als Vorwand zu politischen Geschäften, und es ist recht wahrscheinlich, daß die Feldherren, wenn sie sich in ihren Raum von viereinhalb Matten zurückzogen, die folgenschwersten Staatsverhandlungen untereinander pflogen. RIKYU muß als ein stiller und verschwiegener Zeuge an ihnen teilgenommen haben. Er war zu dieser Aufgabe wie geschaffen. RIKYU hat im Daitokuji, einem der ‹Fünf Berge› Kyotos, Zen studiert. Er war sich bewußt, daß der Gedanke des Wabi, dem er im Teekult anhing, aus der Zen-Anschauung herkam, und daß er ohne Zen-Schulung in den Geist seiner Kunst nicht eindringen konnte. Während er im praktischen Leben kein Mensch des Wabi, das heißt ein Bedürftiger, war, sondern Reichtum, politischen Einfluß und eine ungewöhnliche Künstlerschaft besaß, sehnte er sich doch in der Tiefe seines Herzens nach einem wirklichen Wabi-Dasein. Äußere Umstän-
de wollten es anders: seinen Wünschen zum Trotz wurde er mehr und mehr in die Verwicklungen der Welt hineingezogen, und aus unbekannten Gründen fiel er bei seinem despotischen Herrn in Ungnade. HIDEYOSHI befahl ihm, Selbstmord zu begehen. Die scheinbaren Gründe, die für seine Todesstrafe vorgegeben wurden, waren höchst belanglos, und es ist zu vermuten, daß eine viel ernstere, wahrscheinlich politische Angelegenheit dahinter gesteckt hat. RIKYU war damals über siebzig Jahre alt. Als er HIDEYOSHIS Befehl erhielt, zog er sich in sein Gemach zurück, bereitete sich zum letzten Male den Tee, genoß ihn schweigend und schrieb dann auf japanisch und chinesisch seine Abschiedsworte nieder. Die chinesischen Verse lauten in ungefährer Übersetzung: ‹Siebenzig Jahre des Lebens – Ha ha! und was für ein Trubel! Mit meinem geheiligten Schwert Töte ich Buddhas und Patriarchen!› Die japanischen besagen: ‹Ich erhebe das Schwert, Dies Schwert, das mein ist, Das lang mir gehörte – Die Zeit ist gekommen, ist da – Ich zück’ es zum Himmel.› Dies tragische Ende eines glänzenden Lebens, das dem Teekult und der Verherrlichung des Wabi geweiht war, ereignete sich am 28. Tag des 2. Monats im 19. Jahr der Periode Tensho (1591).
Rikyus Charakter Die nachfolgenden Geschichten, die man von RIKYU erzählt, mögen sie nun geschichtlich oder erfunden sein, werfen ein bezeichnendes Licht auf seinen Charakter: Als HIDEYOSHI von der wunderbaren Schönheit der Windenblüten in RIKYUS Garten hörte, ließ er RIKYU seinen Wunsch, sie zu sehen, eröffnen. Wie er dann am nächsten Morgen RIKYUS Garten betrat, da fand er keine Windenblüten, keine Spur von ihnen vor. Er verwunderte sich, sprach aber kein Wort darüber. Als er in den Teeraum kam, siehe, da hing eine einsame blühende Winde. – Eines Tages wollte HIDEYOSHI RIKYU in Verlegenheit bringen, zeigte ihm eine flache goldene Schale mit Wasser und einen blühenden Pflaumenzweig und ersuchte ihn, beides zusammenzustellen. RIKYU besann sich keinen Augenblick, nahm den Zweig in die Hand, streifte die Blüten ab und ließ sie durcheinander ins Wasser fallen. Die Knospen und die geöffneten Blüten gaben, über dem Goldgrund verstreut, ein wundervolles Bild. – Als HIDEYOSHI eines Tages im Frühling bei RIKYU zu Gast war, führte ihn dieser in ein ganz kleines Gemach, nur eindreiviertel Matten groß, das ist weniger als sechs Fuß im Quadrat. Wie er im Begriff war, einzutreten, bemerkte er ein paar Zweige mit nickenden, voll erblühten Kirschblüten, die aus einem Gefäß von der Zimmerdecke herabhingen. Die Blumen füllten sogar die ganze Türöffnung. Das gefiel HIDEYOSHI sehr, da er trotz seiner Liebe zum Teekult im stillen zu ausschweifender Üppigkeit neigte. Er blieb eine Weile vor der Tür stehen und bewunderte die Pracht der Kirschblüten, die wirklich den ganzen Raum ausfüllten. – Als RIKYU noch als Anfänger den Teekult erlernte, erklärte ihm sein Meister, wie man den Roji – den Hof vor dem Teeraum – keh-
ren müsse. Den Roji hatte aber der Meister selber schon rein gekehrt. Als RIKYU ihn betrat, war kein Stäubchen darin zu entdecken, aber er begriff sogleich, was der Meister meinte. Er schüttelte den Baum ein wenig, so daß ein paar Blätter auf den Boden fielen. Das gefiel dem Meister. – RIKYU besaß ein äußerst empfindliches Feingefühl für das Schöne vom Gesichtspunkt des Wabi oder Sabi. Die geringste Kleinigkeit, die dagegen verstieß, entging ihm nicht. Als RIKYU einst zu einem ersten Winter-Teegespräch irgendwo eingeladen war, begleitete ihn sein Schwiegersohn. Wie sie den Hof betraten, bemerkten sie, daß das Tor mit einer altertümlich aussehenden Tür versehen war. Der Schwiegersohn meinte, das habe den richtigen Sabi-Geschmack. RIKYU aber lächelte ein wenig sarkastisch: ‹Das schmeckt durchaus nicht nach Sabi, mein Sohn, es ist im Gegenteil eine sehr kostspielige Arbeit. Schau dir’s nur genau an! Eine Tür wie diese gibt es hier in der Gegend gar nicht. Sie muß aus einem fernen Bergtempel, weit von den menschlichen Wohnungen, stammen. Bedenke, was für eine Menge Arbeit es gebraucht haben muß, sie hierher zu schaffen, und die mußte der Hausherr teuer bezahlen. Hätte er begriffen, was echtes Sabi ist, so hätte er sich in der Nachbarschaft nach einer passenden Tür umgesehen oder sich eine machen lassen und hätte sie mit einem alten passenden Brett aus einem Schuppen zusammengeflickt Dann würde die Türe hier wirklich nach Wabi schmecken. Was wir hier vor uns sehen, ist kein echter Geschmack.› So erhielt der Schwiegersohn eine praktische Belehrung über die Kunst. – RIKYU war zu einem Cha-no-yu bei seinem ältesten Sohn geladen. Als er mit einem Freund im Roji stand, sagte er zu diesem: ‹Unter den Schrittsteinen ist einer ein klein bißchen höher als die andern. Mein Sohn scheint das nicht beachtet zu haben.› Diese Bemerkung
hörte sein Sohn und meinte bei sich selbst: ‹Ich dachte selber vor einiger Zeit daran. Mein Vater bemerkt doch alles im Augenblick!› Während dann die Gäste nach der ersten Schale Tee sich ein wenig ausruhten, schlüpfte RIKYUS Sohn heimlich in den Roji hinaus, grub ein wenig Erde unter dem Stein aus und brachte diesen so in die richtige Höhe. Um die Arbeit unsichtbar zu machen, sprengte er ringsum frisches Wasser. Als RIKYU später auf dem Heimweg über die Schrittsteine ging, entging seinem Auge die fein ausgeführte Veränderung nicht, und er sagte: ‹Sehr gut! DO-AN (das war seines Sohnes Name) muß meinen Tadel gehört haben, aber wie rasch hat er ihn zu Herzen genommen und ihm abgeholfen, noch bevor wir Abschied nahmen!› – Einst wurde RIKYU mit ein paar Freunden zum Tee gebeten. Der Hof stand voll herrlicher Bäume, der Boden war mit dem abgefallenen Laub der Kashi-Bäume bedeckt, und man hatte das Gefühl, als schritte man über einen Gebirgspaß. ‹Wie schön!› sagt RIKYU. Nach kurzem Nachdenken fuhr er jedoch fort: ‹Ich fürchte, der Meister wird den Gang kehren lassen, denn er hat noch keinen Begriff von Sabi.› Und wirklich, als sie nach der ersten Teereichung den Hof wieder betraten, fanden sie die Blätter nur allzu sorgfältig weggekehrt. RIKYU erklärte nun seinen Freunden, wie man bei einer solchen Gelegenheit verfahren müsse. Und später, als er einen seiner Schüler über die Pflege des Roji belehrte, führte er folgende Verse SAIGYOS als treffenden Ausdruck seiner Empfindung an:
‹Die Blätter der Kashibäume, Noch bevor sie die Farbe tauschten, Liegen alle herabgeweht Über dem Pfad zum Bergkloster, Über dem Pfad, einsam und öde.› (Daß Felsen oder Steinblöcke, Moose und Flechten einen Hauptbestandteil der japanischen Gartenkunst bilden, besonders wo sie mit dem Teekult verknüpft ist, scheint sehr beachtenswert. Denn sie erinnern an das Leben des Zen-Priesters in den Bergen und ebenso an den Grundsatz des Sabi, der alles beherrscht, was zum Teekult gehört. Die Verwendung von Steinen, so wie sie aus den Bergen, Tälern, Flußbetten und ähnlichen Umgebungen kommen, trägt sehr dazu bei, dem Roji jene Atmosphäre von Festigkeit, Einsamkeit und altertümlichem Wesen zu geben, die es erfüllen soll. Das Anwachsen von Moosen, deren die Kenner eine Fülle verschiedener Arten unterscheiden, auf den Felsen und dem Boden weckt den Eindruck einer Berggegend, die fern von dem Treiben der Stadt liegt. Diese Eindrücke sind wesentlich für den Teeraum, denn das Hauptziel des Teekults ist es, aller Geschäftigkeit und ihren Spuren zu entfliehen.) – Daß RIKYU der große Sachverständige für Wabi gewesen ist, geht aus folgender Geschichte hervor. Ein Teemann aus Sakai besaß eine Teedose von besonderer Art, die man als Unzan Katatsuki bezeichnet. Da diese Töpferarbeit unter den Teekennern sehr bekannt und geschätzt war, so war der Eigentümer entsprechend stolz auf sie. Eines Tages lud er RIKYU ein und benutzte diese Teedose. Allein RIKYU schien sich nicht viel um sie zu kümmern und verließ das Haus, ohne ein Wort darüber zu bemerken. Der Besitzer war tief betroffen, brach die Dose sogleich in Scherben, indem er sie gegen das Gotoku
(Dreifuß) schlug, und seufzte: ‹Wozu soll ich jetzt noch eine Töpferarbeit aufbewahren, die keinen Beifall bei RIKYU gefunden hat?› Ein Freund des Eigentümers sammelte später die Bruchstücke der Dose und kittete sie sorgfältig zusammen, um ihre ursprüngliche Gestalt wiederherzustellen. Er vollbrachte diese Arbeit mit großem Geschick und dachte, die geflickte Dose sei immer noch ein recht schönes Stück. So kam er auf den Einfall, RIKYU zum Tee einzuladen und die Töpferdose dabei zu verwenden, um zu sehen, was RIKYU darüber sagen würde. Als der Tee bereitet wurde, erkannte RIKYUS scharfes Auge sogleich die altbekannte Dose, die nun zusammengefügt war. Er fragte: ‹Ist das nicht die gleiche Dose, die ich vor kurzem anderswo gesehen habe? So wie sie jetzt repariert ist, ist sie wirklich zu einem WabiStück geworden.› Der Freund war von dieser Bemerkung hoch entzückt und gab die Dose ihrem früheren Eigentümer zurück. Nachdem sie oft ihre Besitzer gewechselt hatte, gelangte das einst zerbrochene und wieder zusammengeflickte Katatsuki in die Hände eines gewissen Feudalherrn. KYOGOKU ANCHI, einer der berühmtesten Teemänner des damaligen Kyoto, schätzte sie ganz besonders hoch. Ein Freund von ihm, der Arzt war, hörte dies, besuchte den Grafen und sprach ihm scheinbar ganz zufällig von KYOGOKU ANCHIS Wunsch, die Dose zu bekommen. Der Graf war belustigt und sagte im Scherz: ‹Wenn er zwei Ladungen Gold dafür zahlt, gebe ich sie wohl her.› Der Arzt nahm dies für Ernst und berichtete ANCHI darüber, der erklärte: ‹Wenn es so ist, so bitte ich dich, dafür zu sorgen, daß ich die Dose für zwei Ladungen Gold bekomme.› Als der Graf erfuhr, ANCHI sei bereit, den Preis zu zahlen, war er wie vom Donner getroffen und meinte: ‹Ich hatte von vornherein
gar nicht die Absicht, sie zu irgendeinem Preis der Welt herzugeben.› Nun war die Angelegenheit vollends verfahren. Der Arzt, der aus freien Stücken den Vermittler spielte, wußte nicht, was tun. Es gab ein langes Hin und Her zwischen ANCHI und dem Grafen. Jeder der beiden Beteiligten nahm es als Ehrensache auf und versteifte sich immer mehr auf seinen Standpunkt. Alle Teemänner nahmen Anteil und erboten ihre Dienste, um die Sache beizulegen, und endlich gelang es mit viel diplomatischen Künsten, eine Vereinbarung zu treffen, wonach der Graf tatsächlich zwei Ladungen Gold erhielt, jedoch nicht als Preis für den umstrittenen Schatz, sondern zur Unterstützung der Armen und Bedürftigen in seiner Grafschaft, und die Kostbarkeit selber als ein freies Geschenk des Grafen an ANCHI fiel. Zwei Ladungen Gold entsprachen nach dem damaligen Geldwert zwölftausend Ryo, das wären nach heutiger Währung mindestens hunderttausend Yen. ANCHI war mit dieser Regelung sehr zufrieden, wenn sie ihn auch einen guten Teil seiner Mittel kostete. Allein er war mit der Dose selber nicht ganz zufrieden und glaubte, sie sollte noch etwas besser zusammengefügt werden. Er bat KOBORI YENSHU, einen andern großen Teemeister und Kenner seiner Tage, darüber um Rat. KOBORI YENSHU aber hatte ein tieferes Verständnis und erklärte: ‹Gerade wegen dieser Unstimmigkeiten hat sie RIKYU so gefallen und ist ein berühmter Gegenstand für die Teemeister geworden. Am besten läßt man sie genau so, wie sie ist.› –
Das Bambusgefäß des Rikyu Im japanischen Hausbau spielt die Wandnische (Tokonoma) aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle. Dieser Rücksprung in der Wand jedes Hauptraumes stammt ursprünglich aus der ZenArchitektur und war für ein heiliges Bild oder Bildwerk bestimmt. Heute kann man jedes Kakemono darin aufhängen, aber die Ausstattung der Nische mit einem Blumengefäß und einem Weihrauchbehälter zeugt noch von ihrer früheren Geschichte. Auf jeden Fall ist das Blumengefäß ein unentbehrliches Stück des Tokonoma, und kein Teeraum wäre vollständig ohne dasselbe. Als TOYOTOMI HIDEYOSHI die Burg Odawara belagerte, die von Hojo befehligt wurde, leistete dieser den grimmigsten Widerstand, und einige Monate vergingen, ohne daß etwas auszurichten war. HIDEYOSHI wünschte Teegespräche als eine Art Erholung für seine Feldherren zu veranstalten, allein es war kein passendes Blumengefäß für den Raum aufzutreiben. Er bat RIKYU, ihm eins zu besorgen. RIKYU kam auf den Gedanken, eines aus Bambus zu schneiden, ein ganz neuer Einfall, denn bis dahin hatte man noch nie ein Blumengefäß dieser Art gekannt und verwendet. Er besuchte die Bambushaine in der Nachbarschaft, um einen geeigneten Stamm zu finden, und als er gefunden war, machte er selber ein Gefäß daraus. Als der Bambus austrocknete, bekam er einen Sprung, und dieser Sprunng wurde zum Kennzeichen des Gefäßes, und seither ist es als Onjoji-Gefäß bekannt. Onjoji ist ein altes Buddha-Kloster am Biwa-See, und seine Tempelglocke ist berühmt für den Sprung, den sie hat. Nach dieser Erinnerung hat RIKYUS Gefäß seinen Namen bekommen. RIKYUS bescheidenes Bambusgefäß wurde von da ab ein geheiligter Schatz unter den Teemännern, nicht nur wegen seines künstlerischen Werts, sondern wegen der historischen Erinnerungen, die
damit verknüpft sind. Als ein gewisser IYEHARA JISEN sein beneideter Eigentümer war, kam einst sein Freund NOMURA SOJI aus Nagoya nach Kyoto, nur um das berühmte Gefäß zu sehen. JISEN schlug ihm das ab und bat ihn, noch ein Jahr zu warten. In dieser Zeit gab er sich viele Mühe, einen neuen Teeraum zu errichten, in dem kein Bambus für irgendeinen Zweck verwendet war. Das Gefäß im Tokonoma sollte der einzige Bambus sein, der zu sehen war. Dann lud er SOJI ein und zeigte ihm seinen Schatz in der richtigen Umgebung. Als SOJIS Bitte das Jahr zuvor nicht erfüllt worden war, hatte ihn das sehr bekümmert, aber wie er nun sah, was seinem Freund damals vorgeschwebt hatte, war er ihm dankbar und wußte seine künstlerisch empfundene Ehrfurcht vor RIKYU und seinem Werk voll zu würdigen. FUYUKI, ein reicher Kaufmann aus Fukagawa, wünschte es für seinen eigenen Teeraum zu erwerben, aber JISEN wollte sich nicht davon trennen. Später, als JISEN in bedrängte Verhältnisse kam, dachte er daran, daß FUYUKI ihm einst fünfhundert Ryo für das Bambusgefäß angeboten hatte, und sandte einen Boten nach Yedo mit der Nachricht, JISEN sei jetzt bereit, es um fünfzig Ryo billiger, das heißt zu vierhundertfünfzig Ryo, zu verkaufen. FUYUKI sandte den Boten ohne Antwort zurück, befahl aber seinem eigenen Beauftragten, dem andern zu folgen und fünfhundert Ryo mit sich zu nehmen statt der vierhundertfünfzig Ryo, die nun verlangt wurden. FUYUKIS Bote brachte dann das Gefäß mit gehöriger Ehrfurcht nach Yedo. Seine Absicht ging dahin, den Wert eines solchen Schatzes nicht herabzumindern, sondern ihm ohne Rücksicht auf einen Geldvorteil die schuldige Ehrfurcht zu beweisen. Noch später gelangte das Gefäß an den GRAFEN FUMAI, einen Feudalherrn der Tokugawa-Zeit, der dem Teekult ergeben war und ein sehr feines Gefühl für Sabi hatte. Als er einmal das Gefäß im
Teeraum anbrachte, um seine Freunde zu bewirten, bemerkte sein Diener, daß Wasser aus dem Sprung tropfte und die Matte am Boden naß machte. Er fragte seinen Herrn, ob er nicht eine Art Tropfenfänger dafür machen lassen wolle. GRAF FUMAI aber erklärte: ‹Das Furyu (oder Sabi) dieses Bambusgefäßes besteht gerade darin, daß es leck ist.› –
Der Maler Kano Tanyu Der Maler KANO TANYU (1602 –1674) ist, denke ich, allen Verehrern der japanischen Kunst wohlbekannt, so mag es nicht unangebracht sein, ihn hier in Verbindung mit dem Teekult anzuführen, an dem er großen Anteil nahm. Er, studierte ihn unter der Anleitung SOTANS, eines Enkels von RIKYU, der ein großer Verkünder des Wabi war, wahrscheinlich noch ausgesprochener als dieser. TANYU war noch jung, als er anfing, SOTAN aufzusuchen, kaum mehr als zwanzig Jahre alt. Als er nun die weißen Schiebewände in SOTANS neu errichtetem Teeraum sah, fühlte er ein unwiderstehliches Verlangen, sie mit eigener Hand zu bemalen. Allein der Teemeister wollte auf seine Bittte nicht eingehen, da er seinen jungen Schüler nicht für erfahren genug zu der Arbeit hielt. TANYU drängte ihn daher an diesem Tage nicht weiter. Einige Zeit danach kam er einmal zufällig in SOTANS neuen Teeraum. Der Meister war abwesend. Die Schiebewände waren noch immer weiß. Der alte Ehrgeiz regte sich wieder, und er dachte, eine solche Gelegenheit werde nicht wiederkehren. Er hatte sich schon zuvor ausgedacht, was für Bilder hier am Platze wären, um sein Können zu beweisen. So nahm er seinen Pinsel hervor und begann sogleich mit der Arbeit. Es sollten ‹die acht Weisen als Trinker› wer-
den. Wie er weitermachte, wuchs seine Begeisterung, und das Bild war nahe daran, fertig zu werden, als er jemanden sich nähern hörte. Er merkte, es war der Meister selber. Er wollte es daher in der größten Eile beenden. Die Schritte kamen immer näher. Nun fehlten nur noch die Hände an einer Gestalt. Er warf sie, so schnell es ging, hin und verließ den Raum in dem Augenblick, als SOTAN eintrat. Dieser war überrascht, ein so gelungenes Werk aus dem Pinsel eines so jungen Künstlers zu erblicken, von dessen Können er bisher nicht besonders viel erwartet hatte. Immerhin fand er, als er die Arbeit näher prüfte, daß die Hände einer Gestalt falsch angebracht, nämlich die Rechte und die Linke verwechselt waren. Er sprach aber nicht viel darüber, und das Bild blieb, wie es ausgeführt war. Später, nachdem TANYU als der größte Maler seiner Zeit und der Liebling des Shogun IYEYASU im ganzen Reich berühmt geworden war, fand sein altes Bild mit den falsch angebrachten Händen unter den Kunstfreunden besondere Beachtung. TANYU besaß eine Katatsuki-Dose, die als Tanemura bekannt und ein Gegenstand größter Bewunderung unter den Teemännern war. Er hätte sie für die Welt nicht hergegeben. Als nun der große Brand des Meireki (1657) TANYUS Haus in Asche legte, befahl er einem seiner Diener, die Dose aus der Zerstörung zu retten. Wie aber mit dem Umsichgreifen des Feuers Gefahr für sein eigenes Leben entstand, warf der Diener den anvertrauten Schatz fort und lief davon, sich selber in Sicherheit zu bringen. Nach dem Brande fand ein Bote aus Kyoto die Teedose zufällig an der Straße liegen. Er las sie auf und verkaufte sie nach der Heimkehr an einen Kunsthändler in Kyoto. Der Bürgermeister MARINO CHIKASHIGE hörte von dem Fund und kaufte sie von dem Händler, da es sich bei sorgsamer Prüfung herausstellte, es sei die ‹Tanemura Katatsuki›. Einige Zeit darauf lud CHI-
TANYU ein und setzte ihm Tee vor. Als er sich harmlos nach der Teedose erkundigte, erzählte ihm TANYU, wie tief ihn der Verlust schmerze, und bat ihn, nur ja nicht weiter von ihr zu reden. CHIKASHIGE befahl seinem Diener, den fraglichen Gegenstand dem Gast zu übergeben, und bemerkte ohne Arg: ‹Hier ist ein TanemuraDoppelstück.› TANYU war über die Maßen erfreut und fand keinen Ausdruck für seine Gefühle. Der Bürgermeister war edelmütig genug, ihm die Dose zum gleichen Preis, den er dem Händler bezahlt hatte, zu überlassen, bat ihn aber, ihm zum Lohn für seinen guten Willen zwölf Ansichten des Fuji zu malen. TANYU war einverstanden. Es war aber keine leichte Arbeit, und der Maler mußte viel Zeit und Geschick auf die Bilder verwenden. Als sie nach langen Mühen vollendet waren, erwiesen sie sich als eines seiner größten Meisterwerke. KASHIGE
II. DER ZEN-BUDDHISMUS UND DIE JAPANISCHE NATURLIEBE
1. KUNST UND KOSMISCHES BEWUSSTSEIN Der Fuji als Gegenstand der Dichtung Die Liebe der Japaner zur Natur geht, so möchte ich zuweilen annehmen, zu einem guten Teil darauf zurück, daß in der Mitte der Hauptinsel von Japan sich der Fuji-Berg erhebt. So oft ich als Reisender auf der Tokaido-Strecke am Fuß des Berges vorüberfahre, habe ich immer den schönsten Blick auf seinen Gipfel, wenn das Wetter nur leidlich ist, und bewundere seine wundervolle Gestalt, denn immer ist er mit fleckenlosem Schnee bedeckt und ‹hebt sich gen Himmel wie ein aufgestellter weißer Fächer› – um die Worte eines Dichters der Tokugawa-Zeit1 zu gebrauchen. Das Gefühl, das er im Betrachter aufweckt, ist, scheint mir, nicht ein rein ästhetisches im Sinne künstlerischer Schönheit. Es liegt etwas geistig Reines und Erhebendes über ihm. Einer der frühen Dichter Japans2 hat den Fuji folgendermaßen besungen3:
ISHIKAWA JOZAN (1583 – 1672). YAMABE-NO-AKAHITO im Mannyoshu. 3 In den vorliegenden Übertragungen japanischer Gedichte ist kein Versuch gemacht, den originalen Rhythmus wiederzugeben. Sie sind zumeist wörtliche Übersetzungen mit möglichst wenig Zusätzen, die nötig sind, um den Sinn für abendländische Leser etwas verständlicher zu machen. Die Versteilung soll mehr oder weniger die japanische andeuten. 1 2
‹Zur Bucht von Tago Komm’ ich, und siehe, Von reinem Weiß umhüllt Steigt der Fuji-Berg empor – Es ist als fiele Schnee auf uns hernieder.› Ein anderer Dichter4 des Mannyoshu, der tiefer als AKAHITO, der Sänger der Nara-Zeit, empfindet, schreibt: ‹Weit über Suruga und Kai Hebt der Fuji sein Haupt hoch empor, Selbst des Himmels Wolken, ehrfürchtig staunend, Wagen es nicht, diese Steile zu überschweben. Selbst die Vögel versuchen umsonst Über die schwindelnde Höhe zu stürmen. Wahrlich, ein Gott wacht über Japan, Über Yamato, dem Land des Aufgangs. Hier ist sein heiliges Kleinod, sein Ruhm: Auf den Gipfel des Fuji in Suruga Schauen wir staunend und werden nicht müde.› Dieses Gedicht auf den Fuji hat etwas Mystisches, wovon wir noch sprechen werden. In seinen Tagen, das heißt im 12. Jahrhundert, muß der Fuji noch ein tätiger Vulkan gewesen sein, der wenigstens dann und wann noch Rauchwolken ausstieß. Solch ein Anblick macht immer nachdenklich. Sieht man eine einsame Wolke über einem hoEin Unbekannter, der auch der Nara-Zeit angehört. Die englische Übertragung ist von ASATARO MIYAMOTO. 4
hen Berggipfel schweben, so erhebt sich der Sinn über die Geschäfte der Welt. Nicht den Dichtern allein machte der Fuji tiefen Eindruck. Sogar ein Krieger hatte dafür ein Gefühl, wenn er so sich ausdrückt: ‹So oft ich den Fuji sehe, Scheint er verändert, Und mir ist, er erscheine mir Immer zum erstenmal.› ‹Wie soll ich den Fuji beschreiben Denen, die nie ihn erblickt? Nie ist er zweimal der gleiche, So find’ ich nicht einen Weg, Seinen Anblick zu schildern.› Der Dichter ist DATE MASAMUNE5 (1565 – 1636), einer der berühmtesten Feldherren aus dem Zeitalter HIDEYOSHIS und IYEYASUS. Er war ein furchtloser Streiter und Sieger in mancher blutigen Schlacht, in der er mit dem Einsatz des eigenen Lebens gekämpft hat. Zuletzt wurde er Lehensherr der Landschaft Sendai im nordöstlichen Teil von Japan. Wer möchte glauben, daß solch ein tätiger Kriegsheld während der furchtbaren Kämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts in seinem Geiste noch Raum gefunden hat, die Natur zu bewundern und Gedichte über sie zu schreiben? Aber dies ist tatsächlich der Fall gewesen, und wir erkennen daraus, wie tief die Liebe zur Natur dem japanischen Herzen eingeboren ist. HIDEYOSHI Er ist in der japanischen Geschichte bekannt als Absender einer Gesandtschaft an den Papst im Jahre 1613. 5
selber, der Sproß einer Bauernfamilie – und zu jener Zeit waren die Bauern tief in Armut, Knechtschaft und Unwissenheit versunken –, hat Gedichte verfaßt und die Künste gefördert. Seine Ära ist als die Momoyama-Periode ein Glanzpunkt der japanischen Kunstgeschichte. Heute ist der Fuji gleichbedeutend mit Japan. Wo immer von Japan gesprochen oder geschrieben wird, ist unvermeidlich auch vom Fuji die Rede. Das ist recht so, denn das Land der Aufgehenden Sonne würde gewiß viel von seiner Schönheit verlieren, wenn der Heilige Berg ihm genommen wäre. Man muß diesen Berg selber sehen, um seinen Eindruck zu erleben. Bilder und Photographien, so künstlerisch sie sein mögen, werden dem wirklichen Anblick niemals gerecht. Wie MASAMUNE singt, er ist nie der gleiche, er wechselt immer seine Gestalt, indem die Luftverhältnisse wechseln und je nachdem er von verschiedenen Seiten und aus verschiedener Entfernung erblickt wird. Denen, die ihn nie gesehen haben, kann selbst HIROSHIGE (1797 – 1858) den wahren künstlerischen Rang seines Bildes nicht anschaulich machen. Ein anderer Dichter singt, freilich von einem anderen Gesichtspunkt aus als MASAMUNE: ‹Im blauen Himmel Oder im wolkenverhängten, Schön wahrlich Und nie verändert – Steht Fujis Gipfel.› In unseren prosaischen Tagen sind die jungen Leute in Japan närrisch darauf versessen, hohe Berggipfel zu erklettern nur um des Kletterns willen, und sie heißen das ‹die Eroberung der Berge›. Was
für eine Entheiligung! Diese Mode ist ohne Zweifel mit mancher andern, nicht immer nachahmenswerten, aus dem Westen eingeführt worden. Der Gedanke der sogenannten ‹Eroberung der Natur› stammt, glaube ich, aus dem Hellenismus, der die Erde zum Knecht des Menschen, das Meer und die Stürme zu seinen Dienern machen wollte. Auch die hebräische Weltanschauung läuft darauf hinaus. Im Osten jedoch hat diese Idee, die Natur dem Befehl und der Dienstbarkeit des Menschen und seiner selbstsüchtigen Bedürfnisse zu unterwerfen, niemals Anklang gefunden. Denn für uns ist die Natur immer freundlich und hilfreich gewesen, sie ist uns kein Feind, den der Mensch unter seine Gewalt bringen müßte. Wir Menschen des Ostens haben die Natur nie als eine uns entgegenstehende Macht empfunden. Im Gegenteil, sie ist uns eine beständige Freundin und Gefährtin geblieben, auf die wir uns unbedingt verlassen können, selbst den häufigen Erdbeben zum Trotz, die unser Land erschüttern. Die Idee der Eroberung ist uns zuwider. Und wenn wir einen hohen Berg ersteigen, warum sollen wir nicht sagen: ‹Wir haben ihn zu unserem Freund gemacht?› Sich nach Gegenständen der Eroberung umzusehen ist nicht die Einstellung des östlichen Menschen zur Natur. Jawohl, auch wir ersteigen den Fuji, aber unsere Absicht ist nicht, ihn zu ‹erobern›, sondern uns mit seiner Schönheit, Größe und Erhabenheit zu erfüllen. Und wir möchten der strahlenden Morgensonne unsere Verehrung darbringen, die hinter den vielfarbigen Wolken emporsteigt in ihrer Pracht. Das bedeutet nicht geradezu Sonnenanbetung, wenn auch darin nichts geistig Entwürdigendes läge. Die Sonne ist die große Wohltäterin alles Lebens auf Erden, und es ist uns menschlichen Wesen nur angemessen, jeder Art Wohltäter, sei er beseelt oder unbeseelt, mit einem tiefen Gefühl des Danks
und der Achtung uns zu nahen. Denn dieses Gefühl ist uns allein geschenkt, die niederen Tiere scheinen es nicht zu kennen. Heute haben wir in Japan auf den meisten Bergen von allgemeinem Interesse eine Art Drahtseileinrichtung zum Aufstieg, und die Gipfel sind leicht zu erreichen. Der materialistische Nützlichkeitsgeist des heutigen Lebens bringt solche Erfindungen hervor, und es gibt vielleicht leicht Entrinnen vor ihnen, ich selber benutze sie auch, wenn ich zum Beispiel auf den Berg Hiei bei Kyoto steige. Nichtsdestoweniger empört sich mein Gefühl. Das Bild der Gleise, die bei Nacht elektrisch beleuchtet sind, spiegelt das moderne Trachten nach schmutzigem Gewinn und leichter Vergnügung. Daß der Berg Hiei, im Nordosten der alten Hauptstadt von Japan, den DENGYO DAISHI (767 – 822) mit seinem Tendai-Kloster und anderen Ordensbauten einst zum Heiligtum geweiht hat, in dieser Weise kommerziell ausgebeutet wird, ist ohne Zweifel ein Kummer für viele meiner frommen Landsleute. In der Ehrfurcht vor der Natur liegt ein echtes religiöses Gefühl, das ich gern selbst in diesen Tagen der Wissenschaft, der Wirtschaft und des Kriegs bewahrt sehen möchte.
Natur als Lebensraum Wollen wir uns überzeugen, wie sehr die Japaner, trotz ihrer heutigen Betonung des Eroberungsgedankens, in die Natur verliebt sind, so sollten wir ihnen zusehen, wenn sie ein Häuschen zum Studium oder besser zu beschaulicher Betrachtung sich irgendwo in den Bergwäldern erbauen. Das ist eigentlich kaum ein Bauwerk, sofern man dabei an westliche Größenmaße denkt, denn es enthält nichts als einen Raum von vierundeinhalb oder sechs Matten (etwa zehn bis fünfzehn Quadratfuß). Es ist mit Stroh gedeckt und steht gewöhn-
lich unter einer mächtigen Kiefer, im Schutz ihrer ausgestreckten Äste. Von weitem gesehen ist diese Hütte nur ein ganz unbedeutendes Fleckchen in der Landschaft, aber sie scheint völlig ihr einverleibt zu sein. Sie hat gar nichts Auffälliges und gehört irgendwie in das allgemeine Bild, das man vor sich hat. Wenn der Hausherr drinnen ist – es gibt da keine raumfüllenden Möbelstücke, nur vielleicht eine Hängevase an einem Wandpfosten –, wenn er in dieser bescheidenen Klause sitzt, so hat er das Gefühl, als ob sie eigentlich von ihrer Umgebung, von all den Naturdingen draußen vor der Hütte gar nicht abgesondert wäre. Unter andern Gewächsen sieht er eine Gruppe Platanenbäume vor einem der seltsam geformten Fenster wachsen. Einige ihrer breiten Blätter sind erst kürzlich vom Sturm zerschlissen worden, so sehen sie aus wie ein altes Mönchsgewand, das in Fetzen hängt. Deshalb erinnern sie so an die ZenGedichte von HAN-SHAN6. Und nicht bloß die Formen der Blätter sind so poetisch, sondern die Art, wie diese und alle die Bäume und Gewächse aus der Erde hervorkommen, gibt dem stillen Betrachter das Gefühl, daß auch er das nämliche Leben wie sie alle lebt. Der Boden in diesem Raum der Beschauung ist nur wenig über die Erde erhöht, nur eben soviel, um die Feuchtigkeit abzuhalten und doch den gemeinsamen Urgrund zu fühlen, aus dem alles Leben hervorsprießt. Eine Hütte, die in dieser Weise errichtet ist, bildet einen unlösbaren Teil der Natur, und der Einzelmensch, der in ihr sitzt, ist ein Naturgegenstand wie andere. Er ist gar nicht unterschieden von den singenden Waldvögeln, den summenden Insekten, den schwanken Blättern und dem murmelnden Quellwasser – selbst vom Fuji-Berg HAN-SHAN, ein mondsüchtiger Zen-Mönch der T’ang-Zeit. Er lebte in Gemeinschaft mit SHI-TE und hinterließ viele Gedichte. 6
nicht, der über dem andern Ufer der Bucht emportaucht. Hier ist eine vollständige Verwobenheit von Natur und Mensch und seinem Werk auf einfach-praktische Weise verwirklicht. Und da ich schon wieder vom Fuji spreche, so kommt mir ein Gedicht von OTA DOKWAN (gestorben 1486), einem Feldherrn des 15. Jahrhunderts, in den Sinn. Als diesen KAISER GOTSUCHI-MIKADO über seinen Wohnsitz befragte, gab ihm der Feldherr folgende Verse zur Antwort: ‹Meine Hütte steht an der Bucht, Die von Kiefern umsäumt ist, Und des Fuji hoher Gipfel Steigt über dem Dachfirst empor.› Der Kaiser, der in Kyoto lebte, hatte den Berg in Wirklichkeit nie gesehen, deshalb spricht der Krieger-Dichter besonders von ihm. Und ist es nicht merkwürdig, wie er seinen Wohnsitz als Hütte (Ihori oder Iho im Japanischen) beschreibt? Er ist ja der Feldherr, der sein Hauptquartier als erster an der Stelle des heutigen Tokyo errichtet hat, lange bevor IYEYASU seine große Burg und Hauptstadt hier begründete, daher muß OTA DOKWANS Residenz schon recht stattlich gewesen sein. Dennoch nennt er sie ein Ihori, worunter wir gewöhnlich ein armseliges, strohgedecktes Landhäuschen als den Sitz eines von der Welt geschiedenen Einsiedlers verstehen. Sein naturliebender Dichtersinn wollte von einer stolzen, nach menschlichen Künsteleien schmeckenden Behausung nichts wissen. Seine ‹Hütte› schmiegt sich ganz selbstverständlich unter eine Reihe von Kiefern, an den wellenbespülten Strand und den schneegekrönten Fuji, von dem er berichtet. In dieser Hinsicht spiegelt DOKWAN getreu den Charakter des Japaners, dessen vorherrschende Eigenart die Liebe zur Natur ist.
Ein in großem Maßstab errichtetes Bauwerk ist ein zu auffälliges Ding, als daß es mit den umgebenden Naturdingen eine rechte Gemeinschaft bilden könnte. Vom praktischen Standpunkt mag es seinen Zweck vorzüglich erfüllen, aber es fehlt ihm das Dichterische. Jeder kunstvolle Aufbau, der sich zu mächtig heraushebt, nimmt ihm viel von seinem künstlerischen Wert. Erst wenn es in Trümmern liegt und seinem ursprünglichen, ausgesprochenen Zweck nicht mehr dient, wird es wieder zu einem Naturgegenstand und als solcher bewundert, auch wenn in dieser Bewunderung manches steckt, was mit der historischen Bedeutung der Ruinen zu tun hat. Ferner hatte wohl KAISER GOTSUCHI-MIKADO von der MusashinoEbene, in der DOKWANS Burg lag, schon gehört. Da Japan ein sehr bergiges Land ist, besitzt es nicht viele Ebenen, die von Musashino, in der jetzt die Landeshauptstadt liegt, ist eine der größten, und der Kaiser, der wahrscheinlich aus dem rings von Bergen umschlossenen Kyoto nie herausgekommen war, mag neugierig gewesen sein, zu hören, wie groß die Ebene von Musashino war. So befragte er DOKWAN, und dieser erwiderte in Versen: ‹Keine Tautropfen sieht man rings um meine Hütte, Obgleich gerade ein Sommerregen niederging Über die Ebene von Musashino – Viel weiter muß sie sein als die Regenwolken.› Das gefiel dem Kaiser gar sehr, so schenkte er dem hochbegabten Krieger-Dichter aus dem rauhen Osten das Gedicht:
‹Ich hielt Musashino nur für eine Steppe, Von nichts überwachsen als wilden Disteln. Wie freudig überrascht es mich, So zarte Worte dort blühend zu finden.› DOKWAN gehört zu den im Volke beliebtesten Helden Japans. Zu seinem Unglück lebte er in jenem Zeitalter, da das Shogunat der Ashikaga seinem Untergang sich näherte und das Land am Abgrund des Chaos stand. Er wurde von einem verräterischen Gegner durch einen Lanzenstich feige ermordet. Sein Abschiedsgedicht lautet: ‹Bis gestern war dieser mein Leib Gleich einem Henamushi-Beutel Ein Behälter irriger Haftungen – Zerriß er nun endlich zum letztenmal?›
Dichtung und kosmisches Bewußtsein Der Dichter und Feldherr OTA DOKWAN hatte das Glück, den Anblick des Berges in seinem Schneegewand gegen die schäumenden Wogen des blauen Meeres zu genießen. Aber die Herzen des Hausherrn und der Hausfrau in der zerfallenen Hütte von Ugetsu wurden zwischen dem Mond und den Tropfen des Herbstregens hin- und hergerissen, sie waren in großer Unruhe und wußten nicht, was sie tun sollten. Allein in dieser Unentschlossenheit, was mit ihrer – diesmal wirklich armseligen – Hütte geschehen solle, tritt uns ebensoviel dichterisches Gefühl und vielleicht mehr noch entgegen als in DOKWANS Fall. Die Liebe des Japaners zur Natur ist hier greifbar aufgezeichnet. Die Geschichte ist kurz die folgende:
Ugetsu, das bedeutet ‹Regen und Mond›, heißt ein No-Drama, das auf ein Ereignis aus SAIGYOS Wanderungen durch Japan zurückgeht. SAIGYO (1118 – 1190), der Priester-Dichter der frühen Kamakura-Zeit, kam eines Abends zu einem einsam stehenden Haus und bat um Unterkunft für die Nacht. Ein altes Ehepaar wohnte darin, und das Haus sah sehr zerfallen aus. Der alte Mann wollte die Bitte des Mönchs nicht erfüllen, weil die Umstände im Hause nicht gut genug für ihn seien, sein Weib aber, die den Wanderer als BUDDHA Priester erkannte, wollte ihm gern ein Nachtlager gewähren. Allein die Tatsache blieb bestehen: die Hütte war nicht im rechten Zustand um einen Gast zu beherbergen. Der Grund war dieser: die alte Frau liebte das Mondlicht so sehr, daß auf ihren Wunsch das zerrissene Dach nicht geflickt worden war. Der alte Mann aber lauschte besonders gern dem Rieseln der Regentropfen auf das Dach, und dieses war nicht zu hören, solange das Dach wie jetzt unausgebessert blieb. Sollte die Hütte ohne Dach bleiben dem Monde zulieb? Oder sollte sie um des Regens willen wieder hergestellt werden? Der Herbst ist schon da. Die schönste Zeit für das Mondlicht kommt heran, und zugleich bringen die herbstlichen Regenschauer soviel Freude, wenn man still in der Hütte sitzt und ihnen lauscht. Solange diese Frage nicht entschieden ist, wäre es höchst ungastlich von Seiten des Hausherrn und der Hausfrau, einen Fremden bei sich zu beherbergen, dachten sie: ‹Unsere arme Hütte, Soll sie gedeckt oder nicht gedeckt werden?›
SAIGYO rief aus: ‹Das ist ein gutes Gedicht, das zur Hälfte fertig ist!› ‹Wenn Ihr Euch auf das Dichten versteht›, meinte das alte Ehepaar, ‹so vollendet die Verse, dann wollen wir Euch Unterkunft geben, so gut es eben geht.› SAIGYO erwiderte auf der Stelle: ‹Soll das Mondlicht hereintropfen? Soll der Regen aufplätschern? Unser Sinn ist gespalten, Und diese arme Hütte, Soll sie gedeckt oder nicht gedeckt werden? 7› Der Priester-Dichter wurde nun hereingebeten. Während die Nacht fortschritt, schien der Mond immer strahlender, erhellte die fernen Felder und Berge und warf sein Licht auch ins Innere der Hütte. Aber horch, es kommt ein Regenschauer! Die Bäume rauschen! Nein, es ist das dürre Laub, das gegen das Haus pocht. Ein Wind hat sich erhoben, aber der Himmel ist klar wie zuvor. Es ist ein Schauer von fallenden Blättern im Mondschein.
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Es gibt von SAIGYO ein anderes Gedicht ähnlichen Inhalts: ‹In die Hütte träufelt der Regen, Und ich bin feucht geworden, (Doch bleibt das Dach ungeflickt) Denn ich denke des Monds, der mich liebend besucht.›
‹Wenn die toten Blätter in Scharen fallen, Und ich still des Nachts in der Hütte sitze, Dann fällt es schwer zu unterscheiden: Schauert der Regen draußen Oder ist’s kein Regen?8› Der Blätterfall im Herbst hat oft das dichterische Empfinden der naturliebenden Japaner angeregt. Die Stimmung weckt ein Gefühl der Einsamkeit, das zu sinnender Beschaulichkeit verlockt. Auch auf SAIGYO machte sie tiefen Eindruck. Wenn er allein in seiner bescheidenen Einsiedelei irgendwo in den Bergen weilte, weckte ihn des Nachts das Geräusch der fallenden Blätter, die wie ein Schauer gegen das Dach und das Amado (Schiebetür) rieselten, und das Gefühl des Alleinseins mit der Seele der Herbstnatur wurde noch stärker. Das Gedicht, in dem er dies ausspricht, ist nicht nur beschreibend, es spiegelt die ganze Stimmung der Jahreszeit: ‹Ist’s ein vorüberrauschender Schauer, Der mich im Bette wachhält? Nein, das fallende Herbstlaub ist’s. Das dem Winde nicht widersteht.› Vom praktischen Standpunkt ist Regen ein unbequemes Ding, aber in der japanischen Literatur wie in der chinesischen Dichtung ist so viel vom Regen die Rede – besonders von dem sachten und gelinden Regen, wie er in Japan fällt –, der uns das innerste Geheimnis des Wirklichen zuraunt. Hören wir SAIGYO noch einmal:
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Von MINAMOTO-NO-YORIZANE, 13. Jahrhundert.
‹Ganz umfangen vom Frühlingsregen, Bin ich allein in der einsamen Hütte Und fremd geworden dem Menschenwesen.› Um die Poesie und Philosophie des Frühlingsregens wahrhaft zu begreifen, muß man in Japan leben und in einem strohgedeckten Häuschen, einen Rasenstreifen vielleicht und einen kleinen Teich vor dem sechs Matten großen Wohnraum. ‹Fremd geworden dem Menschenwesen›, aber tief vertraut mit der Natur war unser Dichter. DOGEN (1200 – 1253) war der Gründer des Soto-Zweiges im japanischen Zen-Buddhismus. Unter seinen Gedichten ist das folgende am berühmtesten geworden; es verdient in diesem Zusammenhang angeführt zu werden: ‹Ach, den Wolken gleich treiben wir durch Geburten und Tode! Den Pfad des Unwissens und den Pfad der Erleuchtung – wir wandeln sie träumend. In meinem Gedächtnis haftet nur eins, auch nach dem Erwachen: Des Regens Rauschen, dem einst des Nachts in der Hütte ich lauschte.› In ‹Waiden› gibt THOREAU eine Andeutung von dem, was man zuweilen als kosmisches Bewußtsein oder kosmisches Gefühl bezeichnet und das ihn erschütterte, als er einmal dem fallenden Regen lauschte: ‹Ich habe mich nie einsam oder im mindesten von dem Gefühl des Alleinseins bedrückt gefühlt, nur einmal, und das war ein paar Wochen, nachdem ich in die Wälder gezogen war, da zweifelte ich, ob die Nähe und Nachbarschaft der Menschen für ein heiteres und gesundes Leben nicht doch unentbehrlich sei. Das Alleinsein wurde mir unbehaglich. Aber zur selben Zeit war ich mir bewußt,
daß meine Stimmung etwas Ungesundes hatte, und ich ahnte schon meine Genesung voraus. Und mitten unter einem sachten Regenfall, während ich noch mit solchen Gedanken mich quälte, empfand ich auf einmal eine so süße und wohltuende Vertraulichkeit in der Natur, im Niederplätschern der Tropfen, in jedem Geräusch und jedem Anblick rings um mein Haus, ein unendliches, unbeschreibliches Befreundetsein nahm auf einmal wie eine Lebensluft mich umfangen, und die eingebildeten Vorteile menschlicher Nachbarschaft wurden mir vollends zu nichts, und seither habe ich nie wieder an sie gedacht. Die kleinste Tannennadel regte sich und schwoll mir liebend entgegen und wurde mein Freund. Ich ward mir so deutlich der Gegenwart eines mir verwandten Wesens bewußt, selbst in einer Umgebung, die wir rauh und düster zu schelten pflegen. Ich wußte nun, daß der nächste Blutsfreund und die menschlichste Gegenwart nicht irgendein Mensch, ein Bauer sein konnte, und ich empfand: keine Stelle auf Erden wird je mir wieder ein Fremdes sein.›
2. STEIGERUNG DES JAPANISCHEN NATURGEFÜHLS DURCH ZEN
Die Naturerfahrung als Hintergrund der japanischen Kultur Die Liebe zur Natur, die das japanische Volk ursprünglich besaß, lag ohne Zweifel in seinem angeborenen ästhetischen Sinn für schöne Dinge. Aber die Bewunderung des Schönen ist im Grunde ein religiöses Gefühl, denn niemand kann echte Schönheit entdecken und genießen, der nicht religiös ist. Und es ist nicht abzuleugnen, daß Zen dem angeborenen Gefühl der Japaner für die Natur einen ungeheuren Ansporn gegeben hat, nicht nur indem es dasselbe bis zum höchsten Grad der Empfindlichkeit schärfte, sondern indem es ihm zugleich einen metaphysischen und religiösen Hintergrund gab. Wenn im Anfang die Japaner schlicht und naiv sich zu dem Schönen hingezogen fühlten, das sie in ihrer Umgebung erblickten, und ferner, wenn sie alle Dinge in der Natur als gleichermaßen mit Lebenskraft beseelt ansahen in der Weise primitiver Menschen, die selbst unfühlende Gegenstände aus ihrem animistischen Gesichtspunkt betrachten, so erhielt die ästhetische und religiöse Empfindsamkeit der Japaner immer weitere Nahrung, je tiefer sie sich in der ZenLehre des Buddhismus bildeten. Und diese Nahrung kam zu ihnen in der Gestalt einer erhabenen sittlichen Schulung und einer höchst vergeistigten Intuition. Das bedeutet: der schneegekrönte Gipfel des Fuji wird jetzt erblickt als aufsteigend vor dem Hintergrund der ‹Leere›; die Kiefern, die den Klosterbezirk umrahmen, sind immer frisch und grün, da sie ‹wurzellos› und ‹schattenlos› sind; die Regentropfen, die auf das Dach meiner armseligen Hütte plätschern, bringen mir den
Widerhall der alten Tage, da SECCHO und KYOSEI, SAIGYO und DOGEN über ihren Schall ihre Gespräche führten. Das Mondlicht, das in den leeren Raum HAN-SHANS und des alten Ehepaars im Haus Ugetsu ‹träufelte›, wird heute abend auch dein Hotel mit all seinen modernen Bequemlichkeiten besuchen. Du sagst vielleicht, das Universum bleibe immer das gleiche, mit oder ohne Zen. Ich aber verkündige feierlich, daß ein neues Universum geschaffen wird in jedem Augenblick, da Zen aus seiner strohgedeckten Einsiedelei von viereinhalb Matten hinausblickt. Das mag allzu mystisch klingen, aber ohne die volle Erkenntnis dieses Sachverhalts wäre nicht eine Seite in der Geschichte der japanische Dichtung, der japanischen Kunst und des japanischen Handwerks geschrieben worden. Nicht nur die Geschichte der Künste, sondern die Geschichte des sittlichen und geistigen Lebens der Japaner würde ihre tiefere Bedeutung verlieren, wenn man sie von der Zen-Weise, das Leben und die Welt zu deuten, abtrennen wollte. Und ohne diese wäre es dem japanischen Volk schwerlich gelungen, dem beispiellosen Ansturm der modernen Wissenschaft, der Maschinen und des kommerziellen Industriewesens zu widerstehen. Im folgenden möchte ich den Zen-Geist erläutern, wie ihn RYOKWAN (1758 – 1831) gelebt hat, ein buddhistischer Mönch, der sein anspruchsloses Dasein im frühen 19. Jahrhundert in der Provinz Echigo verbrachte. Daß er ein Mönch war, kann die Wahrheit meiner Behauptung, Zen sei tief in das Leben des japanischen Volkes eingedrungen, keineswegs, wie man glauben möchte, abschwächen. Denn alle, die mit ihm in Berührung kamen, das heißt die ganze Gemeinschaft, in der er sich bewegte, lobten sein Leben und erblickten etwas von bleibendem Wert darin. Um die Windrichtung zu beurteilen, genügt es, einen einzigen Grashalm anzusehen. Wenn wir
den einen RYOKWAN kennen, so kennen wir hunderttausende RYOKWANS in japanischen Herzen.
Der Mönch Ryokwan als Verkörperung japanischen Zen-Geistes RYOKWAN war ein Zen-Mönch und gehörte der Soto-Schule9 an. Seine Hütte stand im nördlichen Teil unseres Landes und blickte auf das Japanische Meer. Vom gewöhnlichen Standpunkt der Welt aus gesehen, war er ein ‹großer Narr› und ein Mondsüchtiger, es fehlte ihm, was man gesunden Menschenverstand heißt und wovon wir Weltmenschen zuviel besitzen. Aber er war sehr beliebt und geachtet unter seinen Nachbarn, Streitereien und andere lästige Zufälle, die oft unser tägliches Leben verdüstern, waren sogleich beigelegt, wenn er unter ihnen erschien. Er war ein vollendeter Dichter in chinesischer und japanischer Sprache und auch ein großer Künstler der Schrift. Leute aus den Dörfern und aus der Stadt liefen ihm um eine Schriftprobe nach, und es fiel ihm schwer, solche Bitten abzuschlagen, denn sie wandten mancherlei Listen an, um ihre Wünsche erfüllt zu sehen. Ich sagte, er war ein Mondsüchtiger und ‹ein großer Narr› – das ist der Schriftstellername, den er sich selber beilegte. Aber er hatte ein sehr empfindsames Herz für alles Menschliche und Natürliche. In der Tat war er die verkörperte Liebe – eine Offenbarung des Kwannon Bosatsu10. Seine Einsiedelei auf einem Berg fern von dem Dorfe wurde einmal (oder zweimal) von einem Einbrecher heim9
Von DOGEN in der Kamakura-Zeit (1185 – 1392) begründet. Der Bodhisattva Avalokitesvara.
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gesucht. Dieser Mensch muß völlig fremd in der Gegend gewesen sein, sonst hätte er nie daran gedacht, in dieses Mannes Obdach seinen Raub zu suchen. Natürlich fand er nichts, was er hätte davontragen können. Er war sehr enttäuscht. Dies rührte RYOKWANS Herz, und er schenkte ihm die Kleider, die er anhatte. Der Einbrecher schlich eilends davon und ließ das äußere Amado offen, durch das nun der volle Mond sein Licht in RYOKWANS Raum ergoß. Da erwachte der Dichter in ihm: ‹Der Einbrecher schleppt mir den Mond nicht fort: Strahlend scheint er zum Fenster herein! O wie jenseitig klar ist sein Glanz!› Ein anderes Gedicht von ihm lautet: ‹Wo, so frag ich, wird er die Nacht verbringen, Die eiskalte, frostige Nacht, Da es auch noch zu stürmen beginnt – Ein Wandrer, allein in der finsteren Welt?› Auch dieses soll der menschenfreundliche Einsiedler nach einem andern unwillkommenen Besuch eines Fremdlings verfaßt haben. Der Heimgesuchte muß aber auch selber unter der Frostnacht in der einsamen Hütte gelitten haben. Gewiß kam er am nächsten Morgen mit fließender Nase und zitternd vor Kälte zu seinem Elternhaus, um Bettdecken zu erbitten. Auch gegen die Bettler war er gütig. Wenn er von seinem eigenen Bettelgang nach Hause ging, war er imstand, alles, was er bei sich hatte, einem unglücklichen Mitmenschen zu überlassen, den er zu-
fällig antraf. Bei solch einer Gelegenheit muß er diese Verse gemacht haben: ‹Wäre mein schwarz gefärbtes Gewand Weit und breit genug, Möchte’ ich wohl alle Armen der Welt Mit meinen Ärmeln bedecken.› Er kannte fast gar keine Bedürfnisse für sich selber. Als einer der Lehnsherren aus den benachbarten Bezirken einst seine Hütte aufsuchte, um ihn mit sich in seine eigene Stadt zu nehmen und vielleicht einen Tempel für seine Unterkunft und Religionsübung zu erbauen, blieb der Bettler-Dichter eine Weile ganz still. Wie er dann höflich um Antwort gebeten wurde, schrieb er dies: ‹Was mein Herd braucht, Schenkt mir der Wind – Ich sammle die abgefallenen Blätter.11› So beglückt in seiner Armut, war der Zen-Dichter ein großer Lobgänger der Armut. Seine Gedichte, besonders die chinesischen, sind voll solcher Empfindungen. Er scheint ein glühender Bewunderer des HAN-SHAN aus der T’ang-Zeit gewesen zu sein, denn seine Verse erinnern sogleich an die hohe geistige Luft, in der HAN-SHAN sich bewegte. Hier ein Gesang auf die Armut:
Das will sagen, daß alle seine Bedürfnisse von den mütterlichen Händen der Natur befriedigt werden und daß er kein Verlangen hat, seine Freiheit für den Dienst eines Lehnsherrn zu verkaufen. 11
‹In Lumpen, in Lumpen Und wieder in Lumpen – das ist mein Leben: Zum Essen pflücke ich Kräuter vom Wegrand, Zur Hütte wird Stroh und Bambus gesammelt, Im Mondlicht sitz’ ich versunken die ganze Nacht durch, Wenn ich Blumen sehe, vergess’ ich den Heimweg – Dies Torenleben hab’ ich zu meinem gemacht, Seit ich in Buddhas Bruderschaft eintrat.›
Die Lehren Ryokwans Welche Lehren hatte er in BUDDHAS Bruderschaft empfangen? Einige seien hier mitgeteilt: ‹Die Vergangenheit ist schon vorüber, Das Zukünftige ist noch nicht da, In der Gegenwart ist keine Heimat, Alles wandelt sich immer, nirgends ist fester Halt. Namen und Worte sind selbstgeschaffne Verwirrung –Was vergeudest du so dein Leben müßig den Tag lang? Gib deine alt-vermoderten Ansichten auf, Laß deine neumodischen Einbildungen fahren! Ehrlich und ganzen Herzens forsch’ und spiegle dich in dir selber! Forschend und spiegelnd, spiegelnd und forschend, Bis der Augenblick kommt, da kein Forschen ferner mehr möglich, Denn dies ist die Zeit, da du siehst, daß all dein Leben ein Wahn gewesen.›
Man sieht hieraus, wie fleißig RYOKWAN sich dem Studium des Buddhismus ergeben hatte, bevor er dazu kam, sein ‹Torenleben› in den ewigen Strom des Karma münden zu lassen. ‹Woher kommt mein Leben? Wohin wird es enden? In meiner Hütte sitz’ ich allein Und sinne ruhevoll, doch mit Ernst. Mit all meinem Denken weiß ich kein Woher, Noch irgendein Wohin zu ersinnen. So ist auch meine Gegenwart Ewiger Wechsel – alles in Leere! In dieser Leere schwebt das Ich eine Weile Mit seinem Ja und seinem Nein. Ich weiß nicht, wohin mit Ja oder Nein – So treib’ ich im Karma dahin, vollkommen befriedet.› Was ist nun das praktische Ergebnis dieser Philosophie des ‹Garnichts-Wissens› und ‹Das-Karma-seinem-eigenen-Wirken-Überlassens›, wohin es auch führen mag? Kurz, was bedeutet RYOKWANS Leben absoluter Passivität oder Abhängigkeit oder Leere? Seine Binsenhütte war in der Tat höchst anspruchslos, gerade groß genug für ihn selber. Daher ihr Name Gogo, das bedeutet ein halbes Sho (weniger als ein Viertel) Reis – soviel wie ein erwachsener Mensch zum Unterhalt für einen Tag nötig hat.
‹Meine einsame Hütte, Gogo-an genannt, Gleicht an Gestalt einer Hängeglocke. Sie steht von mächtigen Kryptomerien rings umgeben, Ein paar Gedichte schmücken innen die Wand, Zuweilen liegt auf dem Kochtopf dicker Staub, Oft steigt vom Herde kein Rauch empor. Der einsame Wandrer ist ein Mann aus dem Dorf im Osten, Der manchmal an die Tür pocht, wenn der Mond hell strahlt.› ‹Eines Winterabends war ich überwach, Nahm einen Stab und trat aus der Tür. Die Grillen sangen unter den alten Ziegeln, Das tote Laub fiel dicht von den schauernden Bäumen. Ferne hört ich den Strom murmeln und ziehn. Langsam hob sich der Mond über den höchsten Berg: Alles zusammen ergriff mich zu tiefer Beschauung, Nach einer Weile erst fand ich: mein Kleid war durchnäßt und schwer vom Tau.›
Die Liebe Ryokwans zu Pflanze, Tier und Kind Dieser Apostel der Armut und Einsamkeit – oder soll man ihn besser einen großen Naturmystiker heißen? – hatte ein warmes Herz für die Natur und alle Naturwesen, Pflanzen und Tiere. Da er in seinen Gedichten auf einen Bambushain anspielt, der seine Hütte umgab, so müssen viele Bambusschößlinge dort aufgewachsen sein. Er liebte sie sehr, und ich denke nicht bloß als Nahrung, sondern weil sie so gerade aufschössen, so frisch und grün das ganze Jahr hindurch blieben. Ihre Wurzeln haften fest im Boden, aber der Stamm
ist hohl, ein Sinnbild der Leere. RYOKWAN liebte diesen Charakter am Bambus. Einst, so heißt es, begann ein jung aufkeimender Schößling den Boden seiner Kammer zu durchbrechen. RYOKWAN verfolgte sein Wachstum mit liebevollem Anteil. Zuletzt sah er, wie der Bambus zu hoch für den Raum wurde, und wollte deshalb das Dach entfernen. Er nahm eine Kerze, um ein Loch hindurchzubrennen. Hielt er das wohl für den bequemsten Weg, um zum Ziele zu kommen? Vielleicht hegte er gar keine überlegte Absicht, sondern wollte nur der jungen Pflanze Platz schaffen, und da ihm gerade die Kerze zur Hand war, nahm er sie zu Hilfe. Unglücklicherweise fing das Dach in größerem Umfang Feuer, als er erwartet hatte, und das ganze Bauwerk – mit Einschluß des Bambus, nehme ich an – brannte nieder. In der Tat: ein Höhepunkt der Torheit, dies Anbrennen des Dachs um eines Bambusschößlings willen – wenigstens von unserem praktischen Standpunkt aus! Und doch bin ich geneigt, diese Torheit zu verzeihen oder vielmehr zu bewundern. Es liegt etwas so Echtes oder, möchte ich sagen, so Göttliches in seinem Mitgefühl für den Bambussproß. Etwas Derartiges liegt ja in jeder Handlung echter Liebe. Wir Menschen, die wir in praktischen und schmutzigen Rücksichten aller Art befangen sind, haben die Fähigkeit verloren, jedem reinen Impuls eines Freundschaftsgefühls zu folgen. Wie oft unterdrücken wir mit kalter Überlegung einen solchen Impuls! Vielleicht sind unsere Impulse nicht immer so völlig selbstlos, wie es bei unserem mondsüchtigen Dichter der Fall war, und dies mag uns als bewußte Rechtfertigung dienen, sie zu unterdrücken. Dann aber sollte unser Leben erst von allem Unreinen befreit sein, bevor wir gegen RYOKWAN etwas einwenden dürfen. RYOKWANS Liebe zu den Kieferbäumen erhellt auch aus seinen Gedichten. Er scheint kein großer Redner oder Schreiber gewesen zu
sein, aber alles, was sein empfindsames Herz berührte, wurde in seinen Gedichten aufgefangen, die je nach seiner jeweiligen Stimmung in verschiedenen Formen entstanden, bald auf chinesisch, bald im klassischen Japanisch von einunddreißig Silben oder in der kürzeren siebzehnsilbigen Form, bald in der Art des Volkslieds oder im vielsilbigen Stil des Mannyoshu. Er beherrschte alle diese Stilarten vollkommen, hielt sich aber nicht streng an literarische Regeln, sondern wahrte sich oft seine Freiheit auch ihnen gegenüber. Die andere Lieblingskunst, mit der er seinem Innenleben Ausdruck gab, war die Schrift. In unserem Zusammenhang sind seine Schöpfungen als Schriftsteller besser geeignet, die innerlichen Gefühle, die ihn bewegten, uns erfassen zu lassen. So singt er von einem alten Kiefernbaum in Kugami: ‹In Kugami Dem Otono gegenüber Steht eine einsame Kiefer Gewiß seit vielen Geschlechtern. Wie voll göttlicher Würde Ragt sie gen Himmel! Des Morgens Geh ich an ihr vorüber, Des Abends Trete ich unter sie. Stehend schau’ ich empor Und werd es nicht müde: O du einsame Kiefer!›
Es muß wohl etwas tief Bezauberndes an diesem uralten Baume gewesen sein. Jedes alte Baumgewächs weckt ja ein Gefühl des Geheimnisses im Beschauer, das ihm eine ferne Welt zeitloser Ewigkeit nahe bringt. In Iwamuro gab es eine andere Kiefer, die RYOKWANS Mitleid tief ansprach. Es muß ein junger Baum gewesen sein, der keine stattlichen Äste weit aussandte. Es regnete heftig, und RYOKWAN erblickte ihn ganz durchnäßt. ‹In Iwamuro Mitten in den Feldern Steht eine einsame Kiefer. Wie leid’ ich mit der einsamen, Die ganz allein steht, Ganz ertrunken im Regenschauer. Wär sie ein Menschenwesen, Ich gäbe ihr eine Regenhülle, Ich hülfe ihr mit einem Regenhut. Wahrlich, Mitleid verdient die einsame Kiefer.› Japan ist das Land der Kiefern und Kryptomerien. Diese machen den stärksten Eindruck, wenn sie in Gruppen oder langen Reihen beieinander stehen, jene sind am schönsten, wenn sie einzeln sich erheben. Die japanische Kiefernart, die Matsu heißt, breitet ihre Äste unregelmäßig aus, und ihr Stamm ist gewunden. Eine einzelne alte Kiefer, die seit langen Jahren vor unserem Zimmer wächst, ist solch ein tröstlicher Anblick für den Gelehrten oder den Mönch. RYOKWAN empfand natürlich Mitleid mit dem Baum im Felde, den der Regen durchnäßte, aber bei SAIGYO stand der Baum in einer andern Um-
gebung, und der Mann selber war anders in seinem Wesen, jedenfalls damals in einer anderen Stimmung. Daher lautet SAIGYOS Gedicht: ‹Noch lange künftige Zeiten Steh hier, sprossend wie heut, Und gedenk unserer Freundschaftstage Nach meinem Tode noch, o du Kiefer! Denn mein Los ist’s, zu leben Ungekannt, ungeliebt.› ‹Müde, hier immer zu stehen, Wenn ich weiterwandern muß, O Kiefer, wirst du nicht einsam sein?› RYOKWAN, der die Bäume so liebte, war auch ein Freund der Läuse, vielleicht auch der Flöhe, der Stechmücken und so weiter. Er hatte ein zärtliches Mitgefühl mit allen Wesen. Ein merkwürdiger, wenn auch nicht gerade anmutiger Zug, der von ihm berichtet wird, ist seine Fürsorge für die Läuse. Die Geschichte ist für seine Einstellung zu anderen Lebensformen bezeichnend. Man sah ihn oft an einem der ersten warmen Tage im Winter, wie er seinen Läusen zu einem Sonnenbad und zu Bewegung in frischer Luft verhalf. Eine nach der andern holte er sie aus seinen Unterkleidern heraus, setzte sie auf Papierbogen und legte diese in die Sonne. Bevor es am Abend wieder kühler wird, pflückt er sie wieder weg und versetzt sie in seinen Fudokoro (Gewandtasche) zurück mit den Worten:
‹O Läuse, Läuse, Wäret ihr Grillen, Die in den Herbstfeldern singen. Mein Fudokoro wäre wahrlich Für euch die Musashino-Ebene.› Der Gegenstand ist leider nicht eben erbaulich, aber RYOKWANS echte, ganz selbstlose Liebe zu solchen Geschöpfen hat etwas tief Rührendes. Unsere modernen Ideen von Hygiene und Reinlichkeit sind gegen das Beherbergen von Wesen dieser Art, aber ich hörte, es sei noch nicht allzulange her, daß in England Herren und Damen der höchsten Stände nicht frei von Ungeziefer gewesen seien, daß sie zum Teil wegen dessen lästiger Anwesenheit Perücken auf den Köpfen trugen und selbst diese Perücken oft voller Nissen steckten. Ein Gelehrter bemerkt: ‹Noch bis tief im 18. Jahrhundert betrachtete man Läuse als ein unvermeidliches Übel›12. Er bemerkt ferner, GEORGE WASHINGTON habe in seinem 14. Lebensjahr einen Paragraphen über ‹Anstandsregeln› abgeschrieben, der folgende bedeutsamen Vorschriften enthielt: ‹Töte kein Ungeziefer, wie Flöhe, Läuse, Zecken und dergleichen, in Gegenwart anderer Leute; siehst du irgendwelchen Kot oder Speichel am Boden, so deck ihn mit dem Fuß geschickt zu; haftet er an den Kleidern deiner Gefährten, so nimm ihn heimlich weg, und wenn er an deinen eigenen Kleidern klebt, so bedank dich bei dem, der ihn wegtut!› RYOKWAN liebte die Kinder sehr, was man ja bei seinem Charakter, der der eines Kindes war, auch erwarten darf. Er spielte gern mit ihnen, besonders Versteckspiele und Temari (Handball). Eines Abends war an ihm die Reihe, sich zu verstecken, und er verbarg 12
HANS ZINSSER in ‹The Atlantic Monthly›, Januar 1935.
sich sorgfältig in einem Strohschober auf dem Feld. Es wurde dunkler, und die Kinder, die ihn nicht finden konnten, gingen heim. Früh am nächsten Morgen kam ein Bauer aufs Feld und hatte als erste Arbeit den Strohschober fortzuräumen. Als er RYOKWAN darin fand, rief er: ‹O RYOKWAN SAMA, was macht Ihr denn hier?› Der mondsüchtige Dichter antwortete: ‹Pst, sprich nicht so laut, sonst finden mich die Kinder!› Hatte er wirklich die ganze Nacht unterm Stroh auf die Kinder gewartet? War er gar nicht auf den Gedanken gekommen, die Jungen könnten ebenso unzuverlässig und enttäuschend sein wie die Erwachsenen? Aber solche Überlegungen entsprechen unserm menschlichen Denken in dieser Welt des Unwirklichen, sein Gedankengang war vielleicht ein anderer, es war der, daß man das Dach verbrennen müsse, um den Bambusschößling zu behüten. Aus reiner Einfalt verbrachte er die ganze Nacht im freien Feld mit dem einzigen Gedanken, sich vor seinen jungen, arglosen und gelegentlich auch boshaften Freunden zu verstecken. Die Geschichte klingt so übertrieben, daß man ihre Echtheit bezweifeln möchte, aber die Tatsache, daß sie so verbreitet wurde, beweist zur Genüge seine Bereitschaft, jeden Augenblick in dieser Weise zu handeln. Unser heutiges Leben steht unter so vielen und mannigfaltigen Regeln herkömmlicher Sitte. In Wahrheit sind wir Sklaven von Vorstellungen unnd Meinungen, Moden und Überlieferungen, die den psychologischen Hintergrund oder wie man es heute nennt, die Ideologie des modernen Menschen als Glied einer Gemeinschaft bilden. Wir sind nie imstande, so zu handeln, wie WHITMAN uns anrät. Wir leben im Zustand regelrechter Sklaverei, wenn wir es auch nicht bemerken oder vielmehr nicht zugeben wollen. Sehen wir nun, wie RYOKWAN sich ganz dem Hang seines Gefühls überläßt, das, um dem üblichen Sprachgebrauch zu folgen, durch und durch rein ist
von allen egoistischen Flecken, so fühlen wir uns so erquickt, als wären wir in eine andere Welt versetzt. In seiner Liebe zu den Kindern finden wir denselben Zug seelischer Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit, wie ihn sein Gefühl für eine einsame Kiefer oder den aus dem Boden brechenden Bambusschößling enthüllte. Daß er so gern Temari und Otedama mit Kindern spielte, weist ebenfalls auf jenen freien spielenden Geist hin, der uns allen angeboren ist, dem wir aber nicht seinen Lauf lassen, weil wir uns einbilden, ein solches Spielen sei unter der Würde von Erwachsenen. Wenn kleine Mädchen Temari und Otedama spielen, wird das Gewinnen durch Absingen kindlicher Reime abgezählt. Das Aufprallen des Temari, das Drehen der Hände und der rhythmische Zusammenklang der Stimmen – so einfach das ist, so hilft es vielleicht RYOKWANS einfachem und arglosem Gemüt, sich so in der Bewegung Luft zu machen. Aus diesem Grund tanzte er auch gern bei festlichen Gelegenheiten einen ganz schlichten Volkstanz. Einst fand man ihn unter den Bauern, als junge Frau verkleidet, tanzen. Als einer der Tänzer aus der Nähe RYOKWAN erkannte und eine Bemerkung machte, er oder vielmehr sie tanze wirklich gut, tat er, als ob er’s nicht höre, weil die Bemerkung mit Absicht recht laut gemacht wurde. Es heißt, er habe später seinen Freunden mit offensichtlichem Stolz davon erzählt.
Zen und die Rückkehr zur Natur In jedem unter uns lebt eine Sehnsucht nach der Rückkehr zu einer einfacheren Lebensform, die auch eine einfachere Art bedeutet, Gefühle zu äußern und Wissen zu gewinnen. Der sogenannte ‹Weg der Götter› deutet darauf hin. Ich weiß zwar nicht genau, welche Be-
deutung die Verkündiger des Kamigarano-michi dieser Bezeichnung geben möchten, doch scheint es mir ziemlich sicher, daß sie darunter eine Rückkehr, eine Bewahrung oder Erneuerung des Weges verstehen, auf dem die Götter gewandelt und gelebt haben sollen, bevor der Mensch auf die Erde kam. Dies war ein Weg der Freiheit, der Natürlichkeit und des unmittelbaren Lebensgefühls. Warum haben wir ihn verloren? Darin liegt ein großes und grundlegendes religiöses Problem. Seine Lösung gibt den Schlüssel zum Verständnis mancher Seiten des Zen-Buddhismus und auch der japanischen Liebe zur Natur. Wenn wir sagen, wir möchten natürlich sein, so meinen wir vor allem: frei und unmittelbar sein im Ausdruck unserer Gefühle, direkt und ohne Vorbedacht sein in der Reaktion auf unsere Umgebung, nicht die Wirkung unseres Handelns auf andere oder auch auf uns selber vorausberechnen und unser Leben so führen, daß wir keinerlei Gedanken an Gewinn, Wertschätzung, Verdienst oder andere Folgen unseres Tuns hegen. Natürlich sein bedeutet also wieder zum Kinde werden, wenn auch nicht unbedingt in seiner Verstandeseinfalt oder in seiner Gefühlsroheit. In gewissem Sinn ist das Kind ein Bündel egoistischer Triebe, aber in ihrem Ausdruck ist es vollkommen ‹natürlich›, es kennt keine Bedenken und Überlegungen, was ihre praktische und weltliche Wertschätzung oder Minderwertigkeit angeht. In dieser Hinsicht ist das Kind den Engeln, ja, den Göttern gleich. Es kennt keinerlei gesellschaftliche Fiktionen, die das Benehmen der Erwachsenen tadellos, allem Herkommen und allen Vorschriften entsprechend gestalten. Es lebt unter keinem derart künstlichen und von Menschen gemachten Zwang. Das praktische Ergebnis eines solchen Betragens mag für den Geschmack der sogenannten gebildeten, kultivierten und höchst verfeinerten Weltmenschen nicht immer erfreulich sein. Allein es handelt sich hier nicht
um derartige praktische Überlegungen, sondern um die Echtheit der Motive, das Nichtberechnende des Gefühls und die Unmittelbarkeit des Reagierens. Wo keine Verkrümmtheit und keine Verkümmerung des Herzens ist, da sprechen wir von einem natürlichen und kindlichen Gemüt. Darin liegt etwas tief Religiöses, und Engel werden zuweilen als Säuglinge mit Flügeln dargestellt. Darum malen auch die Zen-Künstler mit besonderer Vorliebe HAN-SHAN und SHI-TE oder PUTAI mit seiner Kinderschar. Rückkehr zur Natur bedeutet daher nicht etwa eine Rückkehr zu der natürlichen Lebensweise, die man bei den primitiven Völkern der prähistorischen Welt vorfindet. Sie bedeutet ein Leben der Freiheit und Selbstbefreiung. Das, was unser heutiges Dasein ganz besonders hemmt und verwickelt macht, ist die Vorstellung der Zweckbestimmtheit, die jeden Vorgang des Lebens beherrscht. Diese Vorstellung ist ganz in der Ordnung, soweit sie unsere sittliche, wirtschaftliche, verstandesmäßige und erdgebundene Existenz betrifft, aber dieses unser Dasein umfaßt und bedeutet viel mehr als alle diese Betrachtungsweisen. Denn wir fühlen uns mit ihnen niemals völlig befriedigt und suchen nach etwas, das in Wahrheit viel tiefer gründet als ein bloß sittliches und intellektuelles Dasein. Solange wir auf der Ebene des zweckbestimmten Daseins verharren, sind wir keineswegs frei. Und Unfreiheit ist der Grund aller Sorgen, alles Elends und allen Streits, die auf der Erde umgehen. In solcher Weise frei zu sein von allen bedingenden Regeln oder Vorstellungen, ist das Wesen des religiösen Lebens. Wenn wir in unseren Regungen und Bewegungen welcher Art auch immer noch einer Absicht bewußt sind, haben wir keine Freiheit. Freiheit bedeutet Absichtslosigkeit, was durchaus nicht Zügellosigkeit heißen will. Die Idee einer Absicht liest der menschliche Verstand aus bestimm-
ten Bewegungsabläufen heraus. Sowie die Zweckbestimmtheit in unser Leben eintritt, hören wir auf, religiös zu sein, und werden zu sittlichen Wesen. So ist es auch in der Kunst. Wo in einem sogenannten Kunstwerk eine Absicht zu deutlich sich ausspricht, ist es aus mit der Kunst, und es wird zur Maschine oder zur Reklame. Die Schönheit entflieht, und häßliche Menschenhände werden nur allzu sichtbar. Soheit in der Kunst besteht in ihrer Kunstlosigkeit, das heißt Absichtslosigkeit. Darin nähert sich die Kunst der Religion, und die Natur ist ein vollkommenes Beispiel der Kunst, insofern keinerlei Absicht erkennbar ist, sei es in den Wogen, die seit dem ursprunglosen Anbeginn der Zeiten über den Stillen Ozean rauschen, sei es im Berge Fuji, der mit uraltem, makellos reinem Schnee bedeckt, hoch in den Himmel emporsteigt. In der Blume können wir, als von Nützlichkeitsvorstellungen besessene Wesen, ihre Bestimmung zum Samen ablesen und im Samen die Bewahrung der Lebenskraft für kommende Jahre. Allein vom religiös-ästhetischen Gesichtswinkel gesehen, sind Blumen als Blumen rot oder gelb und Blätter als Blätter grün, und darin hat kein Gedanke an Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit oder Lebensgesetzlichkeit auch nur den geringsten Platz. Wir bewundern eine Maschine, die aufs Sorgfältigste und feinste ausgedacht ist und mit genauester Wirkung arbeitet, aber wir haben kein Gefühl, das uns zu ihr hinzieht. Sie ist ein völlig von uns geschiedener Gegenstand, der bereitsteht, unserm Befehl zu gehorchen. Mehr als das: wir kennen jeden Teil ihres Mechanismus und den Zweck, zu dem er gemacht ist. In dem ganzen Gefüge gibt es nicht das geringste Geheimnis. Es liegt nichts Verborgenes, keine selbsttätige Schöpferkraft in ihr beschlossen. Alles ist vollkommen erklärbar, den Gesetzen unterworfen, die von der Physik, der Dynamik, der Chemie oder wer weiß was für Wissenschaften entdeckt
worden sind. Aber eine Tuscheskizze, die nur aus ein paar Strichen von eines Künstlers Pinsel besteht – und sei sie scheinbar noch so flüchtig hingeworfen – weckt doch ein allertiefstes Gefühl in uns und zwingt den ganzen Menschen in ihren Bann. Ebenso geht, wenn wir die Natur ins Auge fassen, unser ganzes Wesen in sie ein und empfindet jeden ihrer Pulsschläge wie unsern eigenen. Hier von Identifikation, von Gleichsetzung zu reden, ist eine Entweihung, denn dies wäre eine mechanische und logische Vorstellung, die auf jenen Lebensvorgang nicht angewandt werden kann. Hier aber hat Zen sein Reich, und hier liegt der Gesichtswinkel, aus dem Menschen wie RYOKWAN die Welt überblicken.
Das Bild von Buddhas Nirwana – auch ein Ausdruck japanischen Naturgefühls Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich noch über das Bild von BUDDHAS Nirwana ein paar Worte sagen. Es mag scheinen, als ob dieses Thema nicht gerade hierher gehöre. Was hat das NirwanaBild mit der japanischen Liebe zur Natur oder mit dem Zen-Buddhismus zu schaffen? mag man einwenden. Was ich aber in diesem Bilde, so wie es allgemein in Japan dargestellt wird, sehen möchte, hat eine recht bedeutungsvolle Beziehung auf die buddhistische Einstellung zur Natur. Und da das Bild mit den Zen-Klöstern in Japan eng zusammenhängt, da es ferner für den Japaner ganz allgemein einen besonderen Zauber besitzt, so möchte ich hier einen oder zwei Punkte im Hinblick auf die Szene von BUDDHAS Nirwana herausheben. Es ist mir nicht gelungen, die historische Entwicklung der Nirwana-Darstellung, so wie sie uns heute vorliegt, zu ermitteln. Da
die Überlieferung die erste Idee oder besser die erste Urheberschaft des Bildes dem WU TAO-TZE, dem berühmten Maler der T’ang-Zeit, zuschreibt, so ist es wahrscheinlich zuerst in China entstanden. Ich kann freilich im Augenblick nicht beurteilen, wie weit und wie stark es in die Vorstellungswelt des chinesischen Volkes eingegangen ist. Gewiß aber ist es in Japan in das religiöse Bewußtsein des Volkes tief eingedrungen. Dies Bild hat eine innerste Verbindung mit dem buddhistischen Leben, besonders unter den Zen-Anhängern, in Japan gewonnen. Es muß etwas in ihm liegen, das mit großer Kraft zu uns allen spricht. Das eine Hauptelement des Nirwana-Bildes ist natürlich die Mittelfigur des BUDDHA, der umringt von seinen Jüngern friedlich verscheidet. Man vergleiche dies Ende mit der Kreuzigung CHRISTI, dem das Blut aus dem Haupt und aus den Seiten quillt. Er ist aufrecht ans Kreuz gestreckt mit einem Ausdruck von äußerstem Leiden und Qual, während der BUDDHA aussieht, als läge er im Frieden schlummernd auf seinem Lager, ohne irgendein Zeichen der Trauer. Der aufrechte CHRISTUS stellt einen gewaltigen Geist des Kampfes dar, der liegende BUDDHA ist ganz voller Ruhe. Wenn wir ihn anschauen, entschwindet alles, was dem Geist der Befriedung widerstreitet, aus unserem Bewußtsein. Der BUDDHA liegt da, nicht nur mit sich selbst befriedet, sondern mit der ganzen Welt und allen beseelten und unbeseelten Wesen in ihr. Man betrachte die Tiere hier, die Götter hier, die Bäume hier, die über sein Scheiden weinen. Für mein Gefühl ist gerade dieser Zug in dem Bilde von der allerschwersten und tiefsten Bedeutung. Ist er nicht ein schlagender Beweis für die Tatsache, daß der Buddhist nicht im Krieg mit der Natur liegt, sondern daß er und die Natur eins sind, indem sie das Leben des Dharma leben?
Dieser Gedanke und das wahrhafte Gefühl, ein und dasselbe Leben im Dharma zu leben, läßt den Buddhisten sogleich in der umgebenden Natur sich zu Hause fühlen. Wenn er dem Rufen eines Bergvogels lauscht, so erkennt er die Stimme seiner Eltern, wenn er die Lotosblumen im Teiche betrachtet, so entdeckt er in ihnen die unsägliche Glorie und Herrlichkeit des BUDDHA-KSHETRA. Selbst wenn er seinem Feind entgegentritt und im Dienst einer größeren Sache ihm das Leben nimmt, so betet er für ihn, daß sein eigenes Verdienst ihm zur künftigen Erlösung verhelfen möge. Aus diesem Grunde wird der sogenannte Ritus der Seelen Versöhnung für die Windenblüten gefeiert, die ausgejätet werden, um besseren Pflanzen Platz zu machen, oder für die armen Tiere jeder Art, die zu verschiedenen Zwecken um der Menschen willen geschlachtet werden, oder selbst für die abgenutzten Pinsel der Maler, die ihnen auf so mancherlei Weise gedient haben, ihre Meisterwerke in dem oder jenem Stil zu schaffen, Man erkennt hier, wie tief die Liebe zur Natur bei den Japanern durchdrungen ist von religiöser Erkenntnis und Empfindung. Das Nirwana-Bild ist dafür ein erhabenes Beispiel und wirft auf die japanische Psychologie ein helles Licht. Wie mir erzählt wird, ist es dem Genius der Zen-Mönche und -Künstler der Sung-Zeit zu verdanken, daß auch die Buddhas und Bodhisattvas zusammen mit den Tieren und Pflanzen auf dem Bilde dargestellt wurden. Bis dahin waren Buddhas und Bodhisattvas als Wesen gedacht worden, die über menschliche Gefühle erhaben und wahrhaft übernatürliche Wesen seien. Aber als Zen den beherrschenden Einfluß auf das religiöse Bewußtsein der Chinesen und der Japaner gewonnen hatte, da nahm er den Glaubensgestalten jenen erhabenen, teilnahmlosen oder besser unnahbaren Ausdruck, der sie bis dahin gekennzeichnet hatte. Sie stiegen von ihrem transzenden-
talen Sockel herab, um sich unter uns gewöhnliche Wesen zu mengen, ebenso auch unter gewöhnliche Tiere und Gewächse, unter anorganische Felsen und Berge. Wenn sie redeten, so nickten Steine mit ihren Häuptern, und Pflanzen öffneten ihre Ohren. Aus diesem Grund nehmen an BUDDHAS Nirwana alle Gestalten der Wesen einen so innigen Anteil, wie wir es auf dem Bilde beobachten. Das berühmte Nirwana-Bild des Zen-Klosters Tofukuji in Kyoto ist von einem der dortigen Mönche geschaffen worden. Es ist eines der umfangreichsten Hängebilder seiner Art in Japan. Es mißt ungefähr 39 X 26 Fuß, und es wird berichtet, zur Zeit eines BürgerKrieges, der einen großen Teil von Kyoto zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Trümmer legte, hätten die Krieger des Hosokawa-Geschlechts dieses Nirwana-Bild des CHO-DENSU (1352 – 1431), eines der größten japanischen Meister, dazu verwendet, um ihr Lager gegen den Wind zu schirmen. Es gibt auch eine Legende von der Entstehung dieses berühmten Werkes, die für die buddhistische Lebensphilosophie bezeichnend ist. Als CHO-DENSU an dieser großen Aufgabe arbeitete, pflegte ein Kätzlein ihn aufzusuchen und zu seinen Füßen das Fortschreiten des Gemäldes zu beobachten. Der Meister, dem es gerade an mineralischem Ultramarin fehlte, sagte im Scherz zu ihm: ‹Wenn du imstande bist, mir die Farbe, die ich brauche, zu bringen, so male ich dein Bild in das Nirwana.› Die Katze fehlt aus unbekannten Gründen im allgemeinen auf den bis dahin entstandenen Nirwana-Bildern. Daher CHO-DENSUS Bemerkung. Und, wunderbar genug, am folgenden Morgen brachte ihm das Kätzlein den gesuchten Farbstoff und führte ihn überdies an die Stelle, wo er im Überfluß zu finden war. Der Künstler freute sich über die Maßen, und um sein Wort zu halten, malte er das Kätzlein in sein NirwanaBild, das dafür in ganz Japan ein besonderes Ansehen gewann. Ist
das nicht eine seltsame Geschichte? Sie macht die buddhistische Einstellung zur Tierwelt recht deutlich, die zugleich die des ganzen japanischen Volkes ist.
Naturgefühl und Künstler Die ganze japanische Literatur ist voll von Geschichten dieser Art. Aber anstatt noch mehr solcher Geschichten anzuführen, wird es unserem Zwecke dienlicher sein, wenn wir noch einige Züge aus der japanischen Kulturgeschichte mitteilen, in denen ein tiefes Gefühl für Dinge der Natur bei unseren Dichtern und Künstlern zum Ausdruck kommt. Und es ist bezeichnend, daß diese Dinge sich nicht ausschließlich auf Gegenstände beschränken, die man allgemein als schön betrachtet, oder auf solche, die auf eine Ordnung jenseits dieser flüchtigen und immer sich wandelnden Welt hindeuten. Diese Wandelbarkeit selber ist häufig gerade der Gegenstand der Bewunderung. Denn sie bedeutet Bewegung, Fortschritt und ewige Jugend, sie ist mit der Tugend des Nichthaftens verbunden, die kennzeichnend für den Buddhismus und eine Seite des japanischen Wesens ist. Die Winde ist, wie allen bekannt, eine der verbreitetsten blühenden Pflanzen in Japan. Für den Gärtner ist es eine richtige Kunst, diese Pflanze so zu ziehen, daß sie eine bestimmte künstlerische Aufgabe erfüllt, und Wettbewerbsausstellungen werden im Frühsommer überall im Lande veranstaltet. Eine ganze Menge wechselnder Bedingungen muß sehr gründlich berücksichtigt werden, wenn man schöne große Blüten aus den Ranken züchten will. Aber in der Regel blüht die Winde überall in großer Fülle den ganzen Sommer durch, wo nur ein Gartenhag, eine Mauer oder eine Hecke steht. Eine Eigentümlichkeit ist es, daß die Winde jeden Morgen frisch erblüht
und keine Blüten vom gestrigen Tag bewahrt. So prächtig die Blumen am Morgen sind, so welken sie schon vor dem Mittag dahin. Diese flüchtige Pracht hat der japanischen Phantasie reiche Anregung gegeben. Ich weiß nicht, ob diese Neigung zum vorübereilenden Augenblick in der Psychologie des Japaners ihm im Blute liegt oder in gewissem Umfang aus der buddhistischen Weltanschauung stammt. Tatsache ist aber, daß Schönheit etwas Momentanes, immer Fließendes ist: wird sie nicht empfunden und bewundert, solange sie von Leben erfüllt ist, so wird sie zur bloßen Erinnerung und hat ihre Lebendigkeit verloren. Dafür ist die Windenblüte ein Beispiel: ‹Jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, Sind die Blüten jung und frisch, Strahlend im ersten Erwachen zum Leben. Wer will die Ranken kurzlebig schelten? Sie blühen und blühen doch fort und fort.› Schönheit ist immer lebendig, denn sie kennt keine Vergangenheit, keine Zukunft, sondern allein die Gegenwart. Zauderst du, wendest du den Blick, so ist die Schönheit schon dahin. Die Windenblüte muß man in ihrem ersten Erwachen bei Sonnenaufgang bewundern, ebenso auch den Lotos. Auf diese Weise haben die Japaner durch die Zen-Lehre gelernt, die Natur zu lieben und mit dem Leben ständig in Berührung zu bleiben, das alle Dinge, auch die Menschen, durchströmt. Ein anderes Gedicht lautet:
‹Die Kiefer hat ein Leben von tausend Jahren, Die Winde blüht nur einen einzigen Tag – Und doch haben beide ihr Schicksal erfüllt.› Darin liegt kein Fatalismus. Jeder Augenblick pulst voller Leben, sowohl in der Kiefer wie in der Windenblüte. Die Bedeutung dieses Augenblicks ist nicht nach den tausend Jahren der einen oder dem kurzen Tag der andern bemessen, sie liegt im Augenblick selber. Denn dieser ist in beiden das Unbedingte. Schönheit als solche kann also nicht durch den Gedanken an ein unabwendbares Schicksal oder ihre Flüchtigkeit beeinträchtigt werden. Als CHIYO (1702 – 1775), die Haiku-Dichterin aus der Provinz Kaga, am Morgen zum Nachbarhaus eilte, um ihr Wasser zu schöpfen, weil die Winden mit ihren Blüten den eigenen Brunnen überwucherten, da war ihr Herz so voll von der Schönheit der Blumen und von zärtlichem Mitgefühl für das Gewächs, daß sie gar nicht daran dachte, um ihrer praktischen Bedürfnisse willen daran zu rühren. Sie hätte die Ranken ja leicht und bequem von dem Seil oder dem Brunnenstock ablösen können, um den sie vermutlich sich geschlungen hatten. Aber der Gedanke kam ihr gar nicht in den Sinn. Die so schön sich entfaltende Windenblüte hatte etwas Heiliges für sie – wenn es auch nur eine ganz gewöhnliche Sorte war. Die Dichterin erfaßte im Augenblick einen Strahl dieser Heiligkeit, und auch wir vermögen von dieser Eingebung in ihrem Siebzehnsilber etwas zu spüren: ‹Mein Trog ist gefangen Von der Windenblüte, So bitt’ ich um Wasser.›
Was man eine göttliche Eingebung nennen kann, zuckt oft wie ein Blitz in unserem Bewußtsein auf, sobald wir ein Stück Natur erblicken – es braucht nicht einmal schön, sondern kann für den Alltagsgeschmack sogar häßlich sein, und wir sind über unser irdisches Geschäft so hinausgehoben, daß die einfache Äußerung unseres Erlebnisses dem Außenstehenden merkwürdig faktisch und prosaisch erscheinen kann. Nur wenn er sich zu der gleichen Höhe aufschwingt, kann er die volle Bedeutung der Äußerung erfassen und einen Blick in das Geheimnis tun, das in dem Gefühl des Dichters für die Natur verborgen liegt. Der Frosch gilt für gewöhnlich nicht als ein schönes Geschöpf, aber wenn er auf einem Blatt des Lotos oder Basho hockt, das frisch im Morgentau schimmert, dann weckt er des Haiku-Dichters Einbildungskraft. ‹Ein einsamer Frosch, vom Regen durchnäßt, Reitet auf einem Basho-Blatt Und regt sich unruhig.› Hier wird ein stilles Sommerbild gemalt in der Gestalt eines grünrückigen Amphibiums. Manche Leute mögen einen solchen Eindruck als zu unbedeutend für eine dichterische Bemerkung ansehen, allein für den Japaner und besonders für den buddhistischen Japaner gibt es nichts Unbedeutendes. Der Frosch ist genauso wichtig wie der Adler oder der Tiger. Jede seiner Bewegungen ist unmittelbar mit dem Urquell des Lebens verbunden, und in ihr und durch sie kann man die tiefste religiöse Wahrheit lesen. So entstand BASHOS Gedicht auf einen Frosch, der in den alten Teich seines Gartens sprang. Dieser Sprung ist eine ebenso gewichtige Angelegenheit wie Adams Sturz aus dem Paradies, denn auch in ihm liegt eine Wahrheit, die das Ge-
heimnis der Schöpfung enthüllt. ‹Von einem Kätzchen Beschnüffelt, Schleicht die Schnecke gleichgültig weiter.› Auch darin liegt ein Stückchen menschlicher Verspieltheit und süßen Gefühls. Noch ein anderes Haiku, in dem eine gewisse Verspieltheit aufleuchtet und doch zugleich ein tiefer philosophischer Gedanke verhüllt ist: ‹Auf die Tempelglocke Ließ er sich nieder und schläft – O dieser Schmetterling!› Zunächst ist der Gegensatz bedeutsam: der Schmetterling ist nur ein kleines und flüchtiges Geschöpf, sein Leben währt kaum einen Sommer lang, aber solange er lebt, scheint er sein Dasein im höchsten Maß zu genießen, flattert von Blüte zu Blüte und badet sich in der heiteren Sonne; oft findet man ihn friedlich träumend am Rand einer mächtigen Tempelglocke. Der Tempel ist meistens ein stiller Ort, der den Sinn auf das Ewige lenkt, und seine Glocke ist ungeheuer groß im Vergleich mit dem Schmetterling. Sogar in den Farben besteht ein Gegensatz – das zierliche, kleine, weiße Geschöpf, zart und äußerst gebrechlich, das auf die dunkle, schwere, unbewegliche Glocke sich niederläßt. Aber das Haiku ist nicht bloß beschreibend, es birgt einen religiösen Sinn. Des Menschen Leben ist keineswegs mehr wert als das des Schmetterlings, es gewinnt seine Be-
deutung nur, wenn es mit etwas viel Bleibenderem und Allerhaltendem verbunden ist. Das Spielerische aber, das dem Dichter BUSON vorschwebte, liegt in der völligen Ahnungslosigkeit des Schmetterlings, daß plötzlich etwas geschehen könnte, was den tiefsten Grund seines Daseins erschüttert. Die Mittagstunde kommt heran, und der Mönch wird die Glocke schlagen und eine Folge schrecklicher Donnerklänge ihr entlocken. Diese Ungewißheit des Kommenden ist allen Formen des Lebens verhaftet. Der Mensch sucht ihr durch die sogenannte Wissenschaft zu entgehen, aber seine Begierde setzt sich durch, und alle wissenschaftlichen Berechnungen sind auf den Kopf gestellt. Wenn die Natur ihn nicht zerstört, so zerstört der Mensch sich selber. Es steckt eine große Lebensweisheit hinter dem epigrammatischen Ausspruch BUSONS. Anspielungen auf solche Natureindrücke begegnen uns überall in der japanischen Literatur, ganz besonders aber in der HaikuDichtung, die während der Tokugawa-Zeit eine wundervolle Blüte erlebte. Das Haiku befaßt sich mit Vorliebe mit den kleinen Lebewesen wie Fliegen aller Art, Läusen, Flöhen, Käfern, Grillen, mit Vögeln, Fröschen, Katzen, Hunden, Fischen, Schildkröten und so weiter. Es steht auch in engster Beziehung zu Gemüsepflanzen, Gewächsen aller Art, zu Felsen, Bergen und Bächen. Und wir wissen: das Haiku ist für den japanischen Menschen eines der beliebtesten Mittel, seine philosophischen Intuitionen und seine dichterische Naturbewunderung auszudrücken. In dem Gefühl, das in die kleinstmögliche Zahl von Silben gepreßt wird, entdecken wir die Seele Japans in durchsichtiger Klarheit gespiegelt. Es zeigt uns, wie dichterisch oder intuitiv seine Empfänglichkeit gegenüber der Natur und all ihren Gegenständen ist, mögen sie beseelt oder unbeseelt sein.
Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß das Haiku den Geist BASHOS, seines Schöpfers in der neueren Zeit, verkörpert und daß der Geist BASHOS nichts anderes als der Zen-Geist ist, der sich in siebzehn Silben ausspricht.
Teekult und Naturgefühl Wahrscheinlich ist das beste Mittel, um die japanische Liebe zur Natur und ihre Beziehung zum Geist des Zen-Buddhismus deutlich zu machen, eine Betrachtung der verschiedenen Vorstellungen, die im Bau des Teeraums oder Teehauses sich kundgeben, wo der sogenannte Teekult nach einer Reihe festgelegter Regeln vollzogen wird. Diese Regeln sind keineswegs willkürlich aufgestellt worden, sie sind vielmehr im Lauf der Zeit fast unbewußt aus der künstlerisch geschulten Gesinnung der Teemeister herausgewachsen, und in der Formung dieser Gesinnung finden wir den japanischen Instinkt für die Natur sittlich, ästhetisch und geistig durch die Zucht der ZenPhilosophie herangebildet. Wenn wir erst über den Teekult, seine Geschichte, seine Praxis, seine Voraussetzungen, seine geistigen Hintergründe alles wissen und auch mit der sittlichen Atmosphäre, die von ihm ausstrahlt, vertraut sind, so dürfen wir sagen, wir hätten die Geheimnisse der japanischen Seele begriffen. Dieser Gegenstand ist überaus interessant, da er aber eine sehr ausführliche Behandlung beansprucht, so sei er für eine andere Gelegenheit vorbehalten. Ich möchte hier nur einen Teeraum in einem der Nebenklöster des Daitokuji beschreiben, jenes Zen-Tempels, der der Hauptsitz des Teekults ist. Wo eine Flucht unregelmäßig angeordneter Schrittsteine endigt, steht eine ganz unansehnliche strohgedeckte Hütte, nied-
rig und anspruchslos im höchsten Maß. Den Eingang bildet nicht eine Tür, sondern nur eine Art Öffnung; um durch sie hindurchzuschlüpfen, muß der Besucher sich alles Drum und Dran entkleiden, das heißt sein Langschwert und sein Kurzschwert ablegen, die ein Samurai in der Feudalzeit überall bei sich zu tragen pflegte. Das Innere ist ein kleiner, halbdunkler Raum von ungefähr zehn Fuß im Quadrat, die Decke niedrig, von ungleicher Höhe und Konstruktion. Die Tragpfosten sind nicht blank geglättet, sondern meist aus unbearbeitetem Holz. Nach einer kleinen Weile wird der Raum allmählich heller, indem unser Auge sich dieser Umgebung anpaßt. Nun bemerken wir ein altertümliches Kakemono (Hängerolle) in der Nische mit ein paar Schriftzügen oder einer Tuschmalerei (Sumi-ye). Ein Weihrauchgefäß verbreitet einen Duft von Wohlgeruch, der eigentümlich beruhigend auf die Nerven wirkt. Das Blumengefäß in der Nische enthält nicht mehr als einen einzigen Blütenzweig oder Blütenstengel, der in keiner Weise üppig oder auffallend ist; aber wie eine kleine weiße Schwertlilie, die unter einem Felsblock und umgeben von dunklen Kiefern blüht, wird die Schönheit der bescheidenen Blume durch die Umgebung hervorgehoben und zieht die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung von Gästen auf sich. Es sind nur vier oder fünf eigens eingeladen, um eine Schale Tee miteinander zu schlürfen und dabei alle Sorgen der Welt zu vergessen, die sie sonst bedrücken mögen. Jetzt lauschen wir dem Summen des kochenden Wassers im Teekessel, der auf einem dreifüßigen Rahmen über dem Feuer steht. Dieses ist in einer viereckigen Aushöhlung des Bodens angefacht. Das Summen kommt eigentlich nicht vom Kochen des Wassers, sondern von dem schweren Eisenkessel, und die Kenner vergleichen es sehr treffend mit einem leisen Wind, der durch den Kiefernhain geht.
Es trägt viel zu der heiteren Stille des Raumes bei, denn hier hat der Mensch das Gefühl, als säße er allein in einer Berghütte, wo eine weiße Wolke und die Musik der Kiefern seine einzigen trostreichen Gefährten sind. Wenn man in dieser Umgebung mit guten Freunden eine Schale Tee zu sich nimmt und dabei gewöhnlich über die Sumi-ye-Skizze in der Nische oder über Kunstfragen plaudert, die von den Teegeräten in dem Raum angeregt werden, so fühlt sich der Sinn merkwürdig über die Zufälle des Lebens hinausgehoben. Der Krieger ist von seinem täglichen Geschäft des Kämpfens erlöst, der Kaufmann von dem Gedanken an das Geldverdienen, das ihn sonst nicht zur Ruhe kommen läßt. Bedeutet es wenig, wenn man in dieser Welt der Eitelkeit und des Streits einen noch so bescheidenen Winkel findet, in dem der Mensch sich über die Schranken der Relativität erheben und einen Blick auf Ewiges tun darf? Meine Antwort ist in CHAO-CHOUS Einladung seiner Zen-Schüler zu einer Schale Tee enthalten. Man kann der Meinung sein, an dem Schlürfen eines derartigen Getränks könne wahrhaftig nichts liegen, und die Japaner machten wirklich zuviel Gerede über alltägliche Belanglosigkeiten, wo es doch im heutigen Leben so viel ernsthaftere Dinge zu bedenken gebe. Wie immer man zu dieser Frage sich stellen mag, so bin ich gewiß: die Zen-Meister und die Tee-Meister werden ruhig und heiter bei ihrem Zen, ihrem Tee, ihrem Wabi oder Sabi bleiben. Denn sie sind von dem Wert ihres Tuns fest überzeugt. Einst kam ein Mönch zu CHAO-CHOU (9. Jh.), der ihn fragte: ‹Bist du immer hier gewesen?› Und der Mönch antwortete: ‹Nein, Meister.› CHAO-CHOU sprach: ‹Nimm eine Schale Tee!› Als ein anderer Mönch zu ihm kam, stellte er ihm die gleiche Frage, auf die der Mönch antwortete: ‹Ja, Meister, ich bin schon einmal
hier gewesen.› CHAO-CHOU sprach: ‹Nimm eine Tasse Tee!› Später erkundigte sich der Inju (das Oberhaupt der Mönche): ‹Wie kommt es, Meister, daß Ihr die Mönche ganz gleich behandelt, ob sie nun schon lange hier sind oder nicht?› CHAO-CHOU rief: ‹O Inju!› Der Inju erwiderte: ‹Ja, Meister›, und CHAO-CHOU sprach: ‹Nimm eine Schale Tee!› Noch später hörte MU-CHOU, ein anderer Meister, davon reden und befragte einen Mönch, der von CHAO-CHOU kam und ihm Auskunft gab. ‹Was meint wohl CHAO-CHOU?› ‹Gar nichts, es ist nur sein alter Trick!› MU-CHOU sprach: ‹Der arme CHAO-CHOU, er weiß nicht einmal, daß du ihm einen Schöpfeimer voll Mist über den Kopf geschüttet hast.› Mit diesen Worten schlug der Meister den Mönch. Nun wandte sich MU-CHOU an einen der ihm aufwartenden Jünglinge: ‹Was denkst du über CHAO-CHOU?› Der verneigte sich ehrfurchtsvoll vor ihm, und der Meister schlug ihn. Der Mönch, der von CHAO-CHOU kam, suchte später den Jüngling auf und fragte ihn: ‹Was meinte dein Meister, als er dich kürzlich schlug?› Sprach dieser: ‹Wäre er nicht mein Meister, kein anderer dürfte mich so schlagen.› Nach alledem ist das Schlürfen einer Schale Tee keine gleichgültige Angelegenheit, sondern voll ernster Konsequenzen. Der sogenannte Teekult dürfte uns auch etwas sehr Gewichtiges zur Kulturgeschichte des japanischen Volkes zu sagen haben.
3. JAPANISCHE KIRSCHBLÜTEN-DICHTUNG ALS AUSDRUCK JAPANISCHER NATURLIEBE Die folgenden Verse auf die Kirschblüte sind ziemlich willkürlich aus der japanischen Dichtung gepflückt, um zu zeigen, wie leidenschaftlich das Volk Japans den Blumen, ja in Wahrheit allen Naturerscheinungen ergeben ist. Dies Gefühl ist nicht unbedingt mit Zen verbunden, aber, wie ich schon früher bemerkte, Zen hat zu einem guten Teil dazu beigetragen, das ästhetische Feingefühl der japanischen Seele zu vertiefen und es schließlich in einer religiösen Intuition zu verwurzeln, die einem mystischen Begreifen der Natur entspringt. Wie immer bisher sind die Übertragungen ziemlich wortgetreu, mit nur ebenso vielen Erläuterungen, um den Sinn der originalen Worte in ihrem abendländischen Gewand verständlich zu machen. Wie alle Gedichte, gleichgültig in welcher Sprache, können auch die japanischen nicht mit allen Feinheiten der Empfindung und allen literarischen Kunstgriffen in einer fremden Sprache wiedergegeben werden. Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, daß wie in der Sumi-ye-Malerei der japanische Geist auch in der Dichtung es fertiggebracht hat, seine Gefühle mit der kleinstmöglichen Zahl von Worten auszudrücken. Aus dem Waka von einunddreißig Silben ist das Haiku von siebzehn geworden. Manche meinen, der japanische Geist habe noch keine klare Grenze zwischen Philosophie und Leben oder zwischen Vorstellungen und unmittelbarer Erfahrung gezogen. Das bedeutet, er habe den höchsten Grad des verstandesmäßigen Denkens noch nicht erreicht, und aus diesem Grunde gebe er sich mit der kürzesten dichterischen Form der Waka und Haiku zufrieden, in denen keine kunstvolle Gedankenführung noch eine verstandes-
gerechte Entwicklung höchst veredelter Gefühle sich durchführen lasse. Andere stellen fest, der japanische Wortschatz sei arm und beschränkt, daher sei mit einem solchen Ausdrucksmittel keine große Dichtung zu schaffen. Diese kritischen Bemerkungen mögen bis zu einem gewissen Grade richtig sein, aber alle Verallgemeinerungen enthalten nur eine teilweise Wahrheit. Der Sinn der japanischen Dichtung wartet noch in verschiedenen Richtungen auf eine gerechte Untersuchung, nicht zum wenigsten nach den psychologischen, philosophischen und historischen Grundlagen, aus denen sie erblüht ist. Eines aber wenigstens möchte ich zur japanischen Dichtung bemerken: Infolge ihrer Kürze verzichtet sie darauf, von den Gedanken, Erlebnissen und Umgebungen ausführlich zu sprechen, die zur Abfassung eines Gedichts geführt haben oder aus ihm weiter entwickelt werden können. Diese Auslassungen hat der Leser selbst zu ergänzen, er muß daher mit den leiblichen und seelischen Verhältnissen wohl vertraut sein, in denen der Dichter lebt. Das dichterische Genie des letzteren beruht darin, daß er die bedeutsamsten Beziehungspunkte auszuwählen weiß, durch die er den Leser veranlassen kann, alle dichterischen Assoziationen, die in seinen Silben enthalten sind, mit der stärksten Wirkung in sich heraufzubeschwören. Wir müssen uns aber auch daran erinnern, daß das Geheimnis des Haiku nicht unbedingt auf der bloßen Suggestion beruht. Nehmen wir ein paar Beispiele. RYOTA, ein Dichter des 18. Jahrhunderts, macht ein Haiku als Ausdruck seines Gefühls gegenüber dem Mond, der sich infolge der andauernden Frühlingsregen Nacht um Nacht vor ihm verborgen gehalten hat, jetzt aber leise und unverhofft hinter den Kiefernwipfeln erscheint. Das muß eine äußerst frohe Überraschung für ihn gewesen sein. Die Regenzeit ist in Japan sehr
trübe und lästig für Menschen, die das Mondlicht an einem Frühlingsabend lieben, wenn sein sanfter, weicher, alles lösender Schein weit über die neblige, dunsterfüllte Erde fließt. ‹Es ist Juni und Regenzeit. Da, in der Nacht, wie ein heimlicher Lauscher Hinter den Kiefern: der Mond!› Das Haiku ist, so wie es dasteht, ohne Zweifel für die meisten abendländischen Leser unverständlich, während seine chinesische Übersetzung in vier Zeilen von je fünf Charakteren eine genauere Vorstellung vermittelt: ‹Sommer ist’s, und dumpf meine Strohhütte; Jeden Abend schlaf ich im Regengeriesel ein. Da auf einmal hängt oben der volle Mond Und der Kiefern Schatten unten im Garten.13› TENTOKUS menschenliebendes Herz entlockte ihm folgendes Haiku, das heute zum Sprichwort geworden ist: ‹Heut kam der erste Schnee! Auch du eines Menschen Kind, Fäßchenaufklauber!› Das ist allem Anschein nach Unsinn. Für den Japaner aber, der weiß was der erste Schnee im Jahr bedeutet und auch, was ein FäßchenEnglische Übersetzung von BASIL HALL CHAMBERLAIN in seinem Aufsatz: Basho and the Japanese poetical Epigram. 13
aufklauber in der Feudalzeit war, ist dieses Haiku wahrhaft ergreifend. Der erste Schneefall erfolgt gewöhnlich am ersten kalten Wintertag, aber am selben Tag pflegen auch die wohlhabenden Leute auszugehen und mit ihren Freunden ein kleines Sakegelage in einer Vorstadtschenke und ihrem schönen Garten zu veranstalten. Der Dichter war höchstwahrscheinlich auch unterwegs zu solch einer Gesellschaft, da sah er einen armen Jungen die kleinen Sakefäßchen aufsammeln, die man auf die Straße geworfen hatte. Der Junge war sicher nicht warm angezogen, wahrscheinlich in Lumpen – und barfuß. Das erregte des Dichters Mitgefühl. Der Junge ist auch eines Menschen Kind, warum muß er leiden, wenn so manche andere vom selben Alter in müßigem Reichtum schwelgen? Der Gerechtigkeitssinn empört sich. Wäre TENTOKU ein HOOD gewesen, so hätte er gewiß einen ‹Gesang vom Hemd› geschrieben. Das Waka hat einunddreißig Silben und kann daher etwas mehr aussprechen als ein Haiku, aber hier bedarf es oft einer Erläuterung, um die nur angedeuteten Gedanken in den rechten Zusammenhang zu rücken. Wenn das Waka sich nicht zu einer größeren Anzahl von Worten entwickelt hat, liegt es daran, daß der japanische Dichter, sobald er sich ausführlicher ausdrücken wollte, zu dem sogenannten Prosagedicht seine Zuflucht nahm. Wir haben mehrere Formen davon in unserer Literatur. Die nachstehenden Gedichte auf die Kirschblüte sind in vier Gruppen eingeteilt. Die erste (A) befaßt sich vornehmlich mit Wind und Regen, die oft zu früh die Blütenblätter zerstreuen. Es ist ja keine ausdauernde Blüte, sie währt nur eine Woche ungefähr. Früh im April ist sie mit einem Schlag aufgebrochen, dann sehen Berghänge und Flußtäler aus wie ein einziges Blütenmeer. Das fällt um so mehr ins Auge, als um diese Zeit die meisten Bäume noch kahl sind.
Die zweite Gruppe (B) besingt den herrlichen Anblick, wenn die Kirschen in voller Blüte stehen. Es ist ein wahrhaft wunderbares Bild, wenn zum Beispiel der ganze Berg Yoshino von der üppigen, meist rosenfarbenen Blütenpracht bedeckt ist. Ist dann ein warmer, erquickender Sonnenglanz in der dunstigen Luft über sie ausgebreitet, so gerät die ganze Bevölkerung von Tokyo oder Kyoto außer sich vor Freude. Die dritte Gruppe (C) spielt auf den Sinn dieses Blühens an, auf welche Weise immer die Dichter ihn deuten mögen. Die letzte Gruppe (D) drückt ihre Sehnsucht aus, daß die Kirschblüte bald kommen möge. Was die Japaner so viel an sie denken macht, liegt sicher daran, daß sie für das Volk unserer Heimat das Sinnbild des Frühlings ist. Wenn die Kirschen blühen, hat diese Jahreszeit ihren Gipfelpunkt erreicht, die Tage werden länger, und wir sind glücklich, daß der Winter hinter uns liegt.
A Wo bleibt eine Zuflucht vor dem Sturm, der die Blüten entblättert? Kann einer mir’s sagen? In seinem Hause will ich ihn suchen Und meine Klage ihm singen. Mönch SOSEI (10. Jahrhundert) Ich glaubte, dies sei das Tor am Grenzpaß, Wo keinem Wind der Durchlaß gewährt sei. (Anspielung auf den Namen Na-ko-so) Doch ach, der Bergpfad ist überschüttet Mit abgefallenen Kirschblütenblättern! MINAMOTO YOSHIIYE (1051 – 1108)14
YOSHIIYE aus dem Haus der MINAMOTO war ein großer Krieger, besonders als Bogenschütze, und verstand sich auf Furyu. Als er ABE SADATO in der sogenannten Kleiderfeste besiegt hatte, sandte er ihm folgende Spottverse : ‹Ach, deine Kleiderfeste Ist endlich in Lumpen zerfallen.› 14
Um wenigstens als Dichter nicht geschlagen zu werden, antwortete SADATO sogleich: ‹Wie schade darum! Zu lange getragen, Zerschlissen die Fäden.›
Wie schade, ihr Kirschenblüten, daß ihr so schleunig entblättert! Warum folgt ihr des Frühlings Seele nicht, Die so friedvoll, so heiter, so in sich beseligt? FUJIWARA TOSHINARI (1114 – 1204) Laßt uns den Wind nicht ungerecht schelten, Wenn er die Blüten so grausam entblättert – Vielleicht verlangt es sie selber, dahinzuscheiden, bevor ihre Zeit kam. Mönch JIYEN (1155 –1225) Nirgends ist jetzt mehr der Frühling. Ich schelte den Wind und die Welt nicht, Denn im fernsten Winkel von Yoshino Ist keine Kirschblüte mehr zu erblicken. FUJIWARA SADAIYE (1162 –1241)15
Einer der Zusammensteller des Shin Kokinshu. Diese neue Sammlung von Waka-Gedichten enthält die besten Beispiele aus der Zeit des abgedankten Kaisers GOTOBA und wurde 1205 unter persönlicher Aufsicht des Kaisers herausgegeben. 15
B Die Jahre vergingen, alt bin ich geworden – Es ist nicht zu leugnen – Doch wenn ich rings die Kirschblüten sehe, Wie freudig wallt mir die Seele! FUJIWARA YOSHIFUSA (804 – 872) Dort kommt ein Holzsammler Und steigt den gewundenen Bergpfad herab: ‹Sag mir, mein Freund, Sind dort auf dem Gipfel Kirschblüten oder sind’s Wolken?› MINAMOTO YORIMASA (1104 – 1180) Am Berge die Bäume wiesen kürzlich noch keine Spur, Daß sie Kirschblüten trügen, Nun aber stehn sie in voller Pracht, Und der ganze Berg ist ein einziges Leuchten MINAMOTO YORIMASA Meines Herzens Sehnsucht, Jahre um Jahre gehegt, Die Kirschen von Yoshino blühen zu sehen, Heut ist sie endlich erfüllt! TOYOTOMI HIDEYOSHI (1536 16
Über seine Liebe zum Teekult siehe S. 113 pass.
– 1598)16
Wie strahlend, und doch wie friedlich und heiter Des Frühlings Seele ist! Aus seiner Seele, gewiß, Brechen all die Bergkirschenblüten hervor. KAMO NO MABUCHI (1697 –1769) O möchten doch alle, die auf dem Erdball wohnen, Zu unserem Lande kommen, Zum Berge von Yoshino kommen, Die Kirschen in voller Blüte zu sehen! KAMO NO MABUCHI Die langen Frühlingstage wählten sie als die schönsten, Nun feiern die Kirschen selig die Blütenzeit. Wie ich sie anschaue, denk ich der alten Tage der Götter – (der Tage des Friedens). ISHIKAWA YORIHIRA (1191 – 1859) Der Yoshino-Berg liegt hinter Nebeln – Ich weiß nicht, wo er steht. Aber soweit ich nur schauen kann, Ist nichts als ein Meer von blühenden Kirschen. HATTA TOMORI (1799 –1874)
Trüg ich ein altes Schwert und scharlachfarbene Rüstung, So stünd ich, ein besseres Bild, Inmitten der Bergkirschbäume in ihrer Pracht. OCHIAI NAOBUMI (1861 –1903) SAIGYO, von dem schon oft in diesem Werk die Rede war, ist nicht nur für die Geschichte der japanischen Literatur, sondern auch für die des buddhistischen Einflusses auf die japanische Kultur ein unauslöschlicher Name. Er gehört der Zeit vor Zen an, aber sein tiefsinniger Geist, sein Verständnis für die Natur und sein brennendes Verlangen, ganz mit der Natur zu leben und in ihr aufzugehen, bringen ihn in die engste Verbindung mit SESSHU, RIKYU, BASHO und vielen andern. Tatsächlich hat sich BASHO selber in die gleiche Reihe mit SAIGYO gestellt. SAIGYOS Liebe zu den Kirschen ging so weit, daß er sich folgendermaßen aussprach: ‹Mein Gebet ist, ich möchte unter den Kirschblüten sterben Im blühenden Frühlingsmonat, Wenn es Vollmond ist.› In Japan und China wird der Tod des BUDDHA am 15. Tag des 2. Monats (nach dem Mondjahr) begangen. Daher SAIGYOS Wunsch, um diese Zeit, zu der auch die Kirschen blühen, zu sterben. Der zweite Monat entspricht ungefähr der zweiten Hälfte des März und der ersten des April nach unserem Kalender. SAIGYOS Gebet wurde erhört, denn er starb am 16. Tag des 2. Monats im ersten Jahr der Kenkyu-Periode (1190). Seine Anhänglichkeit an die Kirschen ging noch über das Grab hinaus, denn seine Bitte war:
‹Bringet dem Buddha Kirschblüten dar, Wenn Menschen in Zukunft meiner gedenken!› Unter anderen Kirschblütengedichten SAIGYOS finden sich folgende, die zeigen, wie sehr er in sie wie in andere Wesen der Natur verliebt war: ‹Unbekannt und ungeachtet lebe auch ich in der Welt. Warum entschwinden die Kirschblüten denn So ungerührt den Augen der Menge, die sie bewundern?› ‹Das Jahr rückt vor; wie könnten Blumen des Frühlings vergessen? Gewiß, bald brechen sie hervor. So wart’ ich müßig auf sie den ganzen Tag unter Bäumen.› ‹Tief im Herzen verlangt’s mich, zu wissen, Auf welchen Bergesgipfeln Die Kirschen zuerst erblühn: Wie sehnt es mich nach ihrem Anblick!› Gleich den meisten Japanern war er auch ein großer Liebhaber des Monds. Das Mondlicht hat eine besondere Anziehungskraft für die japanische Phantasie, und kein Japaner, der überhaupt ein Waka oder ein Haiku verfassen möchte, kann am Monde vorbeigehen. Das liegt zu einem guten Teil an den Wetter- und Luftverhältnissen des Landes. Der Japaner liebt das Sanfte und Zärtliche, das Halbdunkel, die leisen Andeutungen und alles, was dieser Art ist. Wenn auch ein Erdbeben ihn zuweilen erschüttert, sitzt er doch gern still im Mondlicht und läßt sich von seinen blassen, bläulichen Strah-
len umfangen, die ein Trost für die Seele sind. Er ist im allgemeinen der scharfen Helle, dem Aufreizenden und dem Allzudeutlichen abgeneigt. Das Mondlicht ist gerade leuchtend genug, aber in unserer feuchten Luft erscheinen alle Dinge darin nicht zu sehr ausgesprochen, ein gewisser geheimnisvoller Duft durchdringt alles, und das rührt besonders an das Gemüt des Japaners. Während SAIGYO allein in seiner Bergklause sitzt, vereinigt er sich mit dieser Mondseele, deren er sogar nach dem Tode nicht vergessen kann oder der zuliebe es ihm schwer wird, aus dem Leben zu scheiden, ob er sonst schon an gar nichts Irdischem mehr haftet. Wahrlich, das Land der Reinheit ist ja nichts anderes als die überweltliche Spiegelung einer solchen ästhetisch-geistigen Hingabe. ‹Keine Seele besucht meine Hütte, Nur des Mondes befreundetes Licht, Der über die Wälder hervorspäht.› ‹Eines Tages werde ich, ach, Aus dieser Welt hinscheiden I Doch ewig verlangt mein Herz Nach dem Mond, nach dem Mond!›
C Zum Dorf in den Bergen am Frühlingsabend Komm ich und lausche der Tempelglocke Schau, wie die Kirschen in Blüte stehn Und Blumenblätter leis niederschweben. Mönch NOIN (10. Jahrhundert). Shiga, die alte Hauptstadt, liegt ganz in Trümmern. Nur die Bergkirschen allein Blühen strahlend wie immer. TAIRA NO TADANORI (1143 –1183). Abend brach ein: Unter dem Kirschbaum dort such’ ich mein Bett Und bin die Nacht bei den Blüten zu Gast. TAIRA NO TADANORI. Sie blühen und wehen dahin, Und es bleibt nur Regen und Wind – Die Kirschenblüte ist schon vorüber! Doch ihre Seele ist nie entblättert. DATE CHIHIRO (1803 – 1877).
D ‹Wenn die Kirschen anfangen zu blühen, So melde mir’s gleich!› Der Mann aus den Bergen vergaß es nicht. Ich hör’ ihn kommen. ‹Sattelt mein Roß, geschwind!› MINAMOTO NO YORIMASA. Wenn in Yoshino die Kirschblüte sich naht, Zieht es mein Herz sehnend zum weißen Gewölk, Das die Berghäupter am Frühlingsmorgen umschwebt. SAKAWADA MASATOSHI (1580 –1643).
ANHANG I
Fragen der Religion und Philosophie Um den Weg, auf dem Zen einige wichtige Fragen der Religion und Philosophie behandelt, näher aufzuklären, folgen hier zwei Beispiele mit dem Kommentar eines Zen-Meisters. 1 Unter der T’ang-Dynastie fragte ein Mönch den TAI-SUI: ‹Wenn der Kalpa-Endbrand ausbricht und alle die Welten verzehrt, wird dann wohl das (innerste, geheimnisvolle) Dies auch vernichtet?› TAI-SUI: ‹Ja, es wird vernichtet.› Mönch: ‹Wenn ja, verschwindet es wie alles andere?› TAI-SUI: ‹Ja, es verschwindet wie alles andre.› Dieses Mondo wird von YÜAN-WU (Sung-Zeit) in seinem Pi-yenchi folgendermaßen kommentiert: ‹Der Fa-chen TAI-SUI war ein Schüler des TAI-AN und stammte aus der Stadt Yen-t’ing in T’ung-chuan. Er studierte Zen unter mehr als sechzig Meistern. Während er bei KUEI-SHAN verweilte, versah er den Dienst des Huo-tou (Feuer-Haupt) und hatte die Obhut über das Herdfeuer. Eines Tages fragte ihn KUEI-SHAN: ,Du bist nun schon einige Jahre hier bei mir, doch scheint es, du weißt noch nicht, mir eine Frage zu stellen, noch zu begreifen, wie sie lauten soll.’ SUI erwiderte: ,Was für eine Frage soll ich denn an Euch richten?’ KUEISHAN schlug vor: ,Wenn du es nicht weißt, so frag einfach: Was ist der BUDDHA?’ SUI aber legte schnell seine Hand auf des Meisters Mund und hielt ihn zu. Darauf bemerkte KUEI-SHAN: ,Auf diese
Weise wirst du nicht einmal einen finden, der den Boden für dich fegt.’ Später kehrte TAI-SUI in seine Geburtsstadt heim und errichtete am Fuß des Peng-kou eine kleine Bude, in der er drei Jahre lang den Vorüberwandernden Tee ausschenkte. Darauf berief man ihn, um den TAI-SUI (den Berg als Abt) zu ,öffnen’, wo ein Kloster erbaut wurde. Einer der Mönche fragte ihn einst: ,Wenn der KalpaEndbrand alle die Welten verzehrt, wird Dies auch vernichtet werden oder nicht?’ Diese Frage stammt aus einer buddhistischen Schrift, worin die physische Entwicklung des Weltalls als ein Durchgang durch vier Perioden beschrieben wird: Entstehen, Bestehen, Zerstörung und Verschwinden. Wenn am Ende eines Kalpa der Weltbrand ausbricht, so steigt er auf bis zum dritten Dhyana-Himmel. Jener Mönch verstand aber den letzten Sinn der Schriftworte nicht. Fragen wir: Was ist mit dem Dies dieser Fragestellung in Wirklichkeit gemeint? Manche geben ihm eine verstandesmäßige Auslegung und sagen: Dies ist die ursprüngliche Natur aller Wesen. SUI antwortete: ,Ja, es wird vernichtet.’ Der Mönch fragte weiter: ,Verschwindet es dann wie alles andere?’ SUI sprach: Ja, es verschwindet wie alles andere.’ Das wird von vielen mißverstanden, die unfähig sind, die wahre Bedeutung zu erfassen. Wenn TAI-SUI erklärt, das Dies verschwinde wie alles andere, wohin geht es dann wirklich? Hätte hinwiederum TAI-SUI gesagt: Das Dies verschwindet nicht wie alles andere, was dann? Darum spricht ein alter Meister: Willst du in Wahrheit das Wesen treffen, so versuch keine Frage zu stellen!’ In späterer Zeit gab es einen Mönch, der das Oberhaupt von Hsü-Shan fragte: ,Wenn der Kalpa-Endbrand ausbricht, werden alle Welten vernichtet; wird dann das Dies vernichtet oder nicht?’
Der Meister sprach: ,Nein, es wird nicht vernichtet.’ Wieder fragte der Mönch: ,Warum nicht?’ ,Weil Dies und alle Welten das gleiche sind’, war des Meisters Antwort. In der Tat, ob man sagt Dies wird vernichtet, oder, ob man sagt, Dies wird nicht vernichtet – das Ergebnis ist das gleiche. Jeder Satz ist genug, um den Atem stocken zu machen. Jener erste Mönch konnte TAI-SUI nicht begreifen und war darüber sehr bekümmert. Darum begab er sich zum T’OU-SHAN und hoffte, mit Hilfe des dortigen Meisters die Frage zu lösen. T’OU-SHAN fragte ihn: ,Wo kommst du her?’ Mönch: ,Von TAI-SUI im Lande Shu.’ T’OU-SHAN: ,Was hat TAI-SUI zu sagen?’ Der Mönch berichtete alles, was zu TAI-SUI über das Schicksal des Dies verhandelt worden war. T’OU-SHAN erhob sich von seinem Sitz, verbrannte Weihrauch, verneigte sich ehrfurchtsvoll in der Richtung des Berges und sprach: ,Ein Buddha ist im westlichen Shu erschienen, eile dich und kehre zu TAI-SUI zurück!’ Der Mönch wanderte wieder nach Shu, und als er TAI-SUI erreichte, fand er zu seinem Jammer seinen alten Meister bereits in Nirwana eingegangen.› 2 Ein Mönch stellte PAI-CHANG die Frage: ‹Was ist das wunderbarste Ereignis auf Erden?› PAI-CHANG antwortete: ‹Hier sitze ich ganz für mich selbst.› Der Mönch neigte sich vor dem Meister, und dieser schlug ihn. YÜAN-WUS Kommentar dazu lautet:
‹Wer ein Auge hat, zu unterscheiden, zögert nicht, wenn es not tut, sein Leben zu wagen. Denn solange du dich nicht in des Tigers Höhle wagst, wirst du nie ein Tigerjunges fangen. PAI-CHANG ist ein großer Meister und gleichsam ein geflügelter Tiger. Aber dieser Mönch trotzte der Gefahr und faßte ihn am Bart. Darum seine Frage: ,Was ist das wunderbarste Ereignis auf Erden?’ Er besitzt das Auge der Unterscheidung, daher nimmt sich PAI-CHANG die Mühe, ihm zu antworten: ,Hier sitze ich ganz für mich selbst.’ Das wird man verstehen, wenn man auf die Zeit vor der Frage des Mönchs zurückgehen kann. Der Mönch verneigte sich. Das ist keine gewöhnliche Verneigung, der Mönch kennt PAI-CHANG durch und durch. Aber gute Freunde tun manchmal, als ob sie einander nicht kennten, sie hüten sich, all dem Ausdruck zu geben, was sie in sich tragen. Auf die Verneigung antwortet der Stock. Hieraus sehen wir: wenn der Meister ausatmet, so ist alles mit einem Zug in Ordnung gestellt; wenn er einatmet, so ist alles ausgewischt und keine Spur mehr übrig. Fragen wir: Was meint der Mönch mit seiner Verneigung? Hat sie sich gebührt? Und wenn, was veranlaßt PAI-CHANG, ihn zu schlagen? Hat sich aber die Verneigung nicht gebührt, woran liegt es, daß sie sich nicht gebührt? Wenn wir zu diesem Punkt kommen, finden wir, daß ein geübter Geist dazu gehört, vom höchsten Gipfel aus zwischen Schwarz und Weiß, Rein und Trüb zu unterscheiden. Des Mönchs Verneigung ist gleich, als wollte er den Löwen in seiner Höhle reizen; er weiß seinen Leib herumzuwerfen. Es war ein Glück, daß der alte Meister PAI-CHANG durch das listige Betragen des Mönchs sich nicht täuschen ließ. Er entdeckte sofort, was dem Manne, der sich vor ihm verneigte, durch den Sinn ging und gebrauchte seinen Stock mit der rechten Wirkung. Wäre es ein
Geringerer als PAI-CHANG gewesen, so hätte er bei dem Mönch nichts ausrichten können.› Für alle, die in die Geheimnisse der Zen-Behandlung dieser religiös-philosophischen Probleme nicht eingeweiht sind, bleiben die obigen Mondo und Kommentare vollkommen rätselhaft. Aber eines wenigstens werden sie hier bemerken, nämlich daß Zen dem gewöhnlichen Weg des Räsonierens nicht folgt oder daß Zen einen anderen Standpunkt hat, aus dem es anschaut und urteilt. Wir mögen fragen: ‹Warum ist Zen in seiner Darlegung dieses besonderen Standpunkts nicht ausführlicher und verhüllt ihn vielmehr, wie es uns scheinen muß!› Die Antwort wird lauten: Zen will uns keineswegs mit Absicht sozusagen in die Irre führen, sondern es liegt im Wesen der Sache, daß es gar keinen andern Weg gibt, Zen begreifbar (das heißt erlebbar) zu machen, als eben diesen, den alle aufeinanderfolgenden Meister in China und Japan beschritten haben. Hätten sie wie die Philosophen den logischen oder dialektischen Weg eingeschlagen, so gäbe es kein Zen. In Wahrheit tun sie ihr Bestes, um sich auf die lebenswichtigste und durchdringendste Weise, die sie nur finden können, auszudrücken. Nehmen wir das erste Mondo über das Schicksal des Dies, wenn das ganze Weltall der Vernichtung anheimfällt, so erklärt der eine Meister, das Dies habe das gleiche Los wie alles übrige – das können wir dahin verstehen, daß die vom Leib unterscheidbare Seele mit dem Verschwinden des letzteren selber verschwinde. Aber da ist ein anderer Meister, der dieser Behauptung scheinbar widerspricht, denn er sagt, die Seele folge dem Los des Leibes nicht. Seine zweite Erklärung, wenn er nach dem Warum gefragt wird, lautet: Die Seele ist der Leib, und der Leib ist die Seele, und da sie ein und dasselbe sind, so wird keines von beiden vernichtet. Nun kann
man den Gesichtspunkt dieses Meisters so auffassen: Es ist von Grund auf ein Irrtum, Seele und Leib, Sinn und Welt, Mein und Dein zu unterscheiden, wie es im allgemeinen die meisten Philosophen ebenso wie die Leute auf der Straße tun. Und auf Grund dieses Irrtums von Anbeginn werden wir in eine endlose Folge von logischen Schwierigkeiten verwickelt. Der beste Weg, um zu einem wahrhaften Begreifen der Sache zu kommen, ist ‹gar nicht zu fragen› – und hier ist Zen. Sobald eine Frage aufgeworfen wird, so folgt daraus das Problem: ‹Wird das Dies vernichtet?› oder ‹Wird das Dies nicht vernichtet?› Heißt es, das Dies wird vernichtet, so ist der Frager über das Schicksal seiner kostbaren Seele oder von irgend etwas, das ihm sehr teuer ist, äußerst bekümmert. Heißt es aber wiederum, das Dies werde nicht vernichtet, so ist er ebenso bekümmert über sein Woher und sein zukünftiges Wohin. Das zweite Mondo schneidet all diese logischen Verwicklungen und geistigen Kümmernisse kurzerhand ab, denn PAI-CHANG ist auf die positivste Weise bejahend und schlüssig: ‹Ich sitze hier ganz für mich selber.› Jener Philosoph ist ein schwachmütiger Bursche, der erklärt hat: Cogito ergo sum. Der Zen-Meister hat mit solchen dialektischen Witzeleien nichts zu schaffen, er gibt geradenwegs seinen endgültigen und unwiderruflichen Wahrspruch: ‹Ich sitze hier ganz für mich selber.› Ist das nicht die wunderbarste Tatsache von der Welt? Zen verlangt nur, daß man dieses Wunder ganz fest erfaßt und gar keine weiteren Fragen stellt. Denn in Wahrheit ist hier gar keine Frage möglich. Das ist gewiß nicht die Schlußfolgerung, zu der wir nach mühevollem Erwägen gelangen. PAI-CHANG gibt uns hier die ganze Wahrheit ohne jede Zurückhaltung, wir haben sie in dem gleichen Sinn aus vollem Herzen und ohne Zögern anzunehmen, und Zen ist vollkommen befriedigt.
3 Es gibt ein Mahayana-Sutra, das im Zen-Studium sehr viel benutzt wird, und da es die grundlegenden Erkenntnisse nicht nur von Zen, sondern des gesamten Buddhismus darlegt, so möchte ich es hier in seinen Grundzügen wiedergeben und hoffe, damit den Gegenstand, von dem wir handeln, verständlicher machen und abklären zu können. Für Zen-Jünger sind zwar die sogenannten Mondo, von denen wir schon einzelne angeführt haben, ‹verständlicher› und treffen das Wesentliche schärfer, allein da wir mehr an die Auseinandersetzung mit Worten gewöhnt sind, so wird ein Abriß des Sutra sicher von Nutzen sein. Auch da noch findet man hier keine logische Gedankendarstellung, es mag eher wie eine Folge paradoxer Aussprüche erscheinen. Das Sutra, von dem die Rede ist, heißt Yuima-kyo (im Sanskrit Vimalakirti-Sutra). Es war einer von den drei ersten Mahayana-Texten, die SHOTOKU TAISHI im frühen 7. Jahrhundert studiert und kommentiert hat. Wenn der Buddhismus in Japan feste Wurzeln gefaßt und den Charakter unseres Volks in mehr als einer Hinsicht geformt hat, so war es diesem Prinzen zu verdanken, der von den Buddhisten mit Recht als der Vater des Glaubens in Japan verehrt wird. Er war groß nicht nur als frommer buddhistischer Denker, sondern ebenso als Staatsmann, Erzieher, Bauherr, als Ordner der sozialen Verhältnisse und als künstlerischer Schöpfer auf den verschiedensten Gebieten. Das Horyuji bei Nara ist sein Denkmal, das sein Andenken unsterblich erhält. So ist es vielleicht der beste Weg sich der Zen-Philosophie zu nähern, daß man mit dem Inhalt des Yuima-kyo sich vertraut macht.
Das Yuima-kyo wurde von KUMARAJIVA im Jahre 406 zum erstenmal ins Chinesische übersetzt. Dank seiner tiefen philosophischen und religiösen Erkenntnis und wohl auch seinem dramatischen Aufbau und seinem hohen literarischen Rang hat dieses Sutra einen großen geistigen Einfluß ausgeübt, nicht nur in Japan, sondern auch in China. Die Kenntnis seiner Lehre wird unserem Verständnis für den Buddhismus sehr nützlich sein. Es ist nicht genau ermittelt, wann das Sutra in Indien verfaßt worden ist. Nur so viel läßt sich sagen, daß es vor der Zeit NAGARJUNAS entstanden ist, das heißt um den Beginn der christlichen Zeitrechnung. Die Hauptgestalt des Sutra ist YUIMA, ein wohlhabender Haushalter in Vaisali zur Zeit des BUDDHA. Er war in der Philosophie des Mahayana gründlich bewandert, war ein großer Menschenfreund und ein sittenstrenger Anhänger des Buddhismus. Obschon er in der Welt als Laie lebte, erregte seine fleckenlose Lebensführung allgemeine Bewunderung. Eine Zeitlang schien er kränklich zu sein. Das war eines seiner Hoben, das heißt ‹geschickten Mittel› oder ‹Geheimniswege› (Upayakausalya), durch die er seine Umgebung über die Flüchtigkeit des Menschenlebens belehren wollte. Die ganze Stadt Vaisali, die großen Adelsherren, die Brahmanen, die Beamten und das Volk aller Klassen beeilte sich, ihn aufzusuchen, und erkundigte sich ängstlich nach seinem Ergehen. Als der BUDDHA dies erfuhr, wollte er auch einen seiner Jünger zu YUIMA senden. Allein sie alle lehnten es ab, den Wunsch des BUDDHA zu erfüllen, und entschuldigten sich damit, daß keiner von ihnen der Aufgabe gewachsen sei, sich mit dem großen MahayanaDenker und Heiligen auszusprechen. Sie hatten alle zum mindesten einmal früher eine solche Erfahrung gemacht, ein jeder war schmählich von ihm widerlegt worden, und keinem war es gelungen, sei-
nen Standpunkt gegen seine Gedankengänge zu verteidigen. Es ist vielleicht von Interesse, ein oder zwei Beispiele solcher religiös-philosophischer Gespräche zwischen YUIMA und den Jüngern BUDDHAS anzuführen, denn es zeigt sich hier, welcher Art Überlegungen YUIMA vorbringt, um die Hinayana-Jünger des BUDDHA zu schlagen: Der große KASSYAPA wanderte einst umher, um Almosen unter den Armen zu sammeln. YUIMA begegnete ihm und sprach: ‹Du brauchst nicht mit Absicht den Reichen aus dem Wege zu gehen. Wenn du gehst, um Almosen zu bitten, so muß dein Sinn von jeder Unterscheidung befreit, dein Herz von unparteiischer Liebe erfüllt sein. Almosen zur Nahrung mußt du empfangen, als ob du überhaupt nichts empfingest. Am Gedanken haften, daß man etwas empfange, heißt schon Unterscheidung. Erhebe dich über die Vorstellungen von Ich und Nicht-Ich, von Gut und Böse, von Gewinn und Verlust, so wirst du erst fähig sein, allen Buddhas und Bodhisattvas Opfer darzubringen mit der Schale voll Reis, die du von deinem Spender empfängst. Solange du diesen Zustand der Vergeistigung nicht erreicht hast, bist du nur ein unnützer Verbraucher der Nahrung, die du von den Armen zu sammeln trachtest in der Meinung, du gebest ihnen so eine Gelegenheit, Gutes zu tun.› Als SUBHUTI aufgefordert wurde, YUIMA aufzusuchen, bekannte er folgendes und erklärte sich für unwürdig, zu ihm zu gehen: ‹Als ich einst in das Haus des alten Weisen kam, um mein Almosen zu erbitten, füllte er meine Schale mit Reis und sprach: ,Nur ein solcher ist würdig dieser Speise, der nicht an ihr hängt, denn für ihn sind alle Dinge gleich. Und stünde er mitten in jeder Art von Verhaftungen der Welt, so ist er doch frei von ihnen. Er nimmt alle Daseinsformen an, wie sie sind, und haftet doch nicht an ihnen.
Lausche nicht dem Buddha und sieh ihn nicht an, sondern folge deinen Irrlehrern und gehe, wohin sie gehen. Sind sie zur Hölle verdammt, so geh mit ihnen, und wenn du, so handelnd, kein Zögern und kein Widerstreben kennst, dann darfst du auch diese Speise annehmen. Die Spender erwerben sich kein Verdienst, Mildtätigkeit ist keine Ursache des Segens. Wenn du nicht fähig bist, mit den Dämonen zu wandeln und zu wirken, so hast du kein Recht auf diese Speise.’ Als ich das vernahm, war ich wie vom Donner getroffen und wollte vor ihm davonlaufen ohne meine Schale. Aber er sprach: ,Alle Dinge haben nur ein scheinbares Dasein, sie sind nichts als Namen. Die Weisen allein sind ohne Haftung. Sie gehen über das Erkennen hinaus und wissen, was Wirklichkeit ist. Sie sind wahrhaft befreit und darum ohne Furcht.’ Da es sich so verhält, sehe ich ein, daß ich nicht geeignet bin, hinzugehen und nach seinem Ergehen zu fragen.› Noch ein Beispiel für viele. Als die Reihe an MAITREYA kam, hatte er dies zu berichten: ‹Als ich vor Zeiten im Tushita-Himmel weilte und vor dem Herrn des Himmels und seiner Heerscharen über ein Leben der Nichtwiederkehr sprach, erschien mir YUIMA und redete folgendermaßen zu mir: ,O MAITREYA, wie ich vernehme, hat der Buddha Shakyamuni dir geweissagt, daß du die vollkommene Erleuchtung im Lauf eines einzigen Lebens erlangen wirst. Nun möchte ich gern wissen, was dieses eine einzige Leben in Wahrheit bedeutet. Ist es dein vergangenes, dein zukünftiges oder dein gegenwärtiges Leben? Wenn es ein vergangenes ist, so ist das Vergangene vergangen und ist nicht mehr. Wenn es das zukünftige ist, so ist das Künftige noch nicht da. Wenn es das gegenwärtige ist, so ist das Gegenwärtige ortlos. (Das heißt, die Gegenwart hat keinen festen Punkt in der Zeit. Sagst du, dies ist gegenwärtig, so ist es
schon vorüber.) Da dieses sich so verhält, so fällt das sogenannte gegenwärtige Leben, wie es in diesem Augenblick von einem jeden unter uns gelebt wird, nach der Lehre des BUDDHA nicht unter die Begriffe von Geburt, Alter und Tod. Nach des BUDDHA Wort sind alle Wesen aus Soheit (Tathata) und leben in Soheit; nicht nur die Weisen und Heiligen, sondern ein jeder unter uns – und auch du selber, o MAITREYA. Wenn der BUDDHA dir verheißen hat, daß du die vollkommene Erleuchtung erlangst und in Nirwana eingehst, so müssen alle fühlenden und unfühlenden Wesen ebenfalls der Erleuchtung gewiß sein. Denn solange wir aus Soheit und in Soheit bestehen, ist diese Soheit eine und dieselbe, und wenn einer von uns die Erleuchtung erlangt, so werden auch alle andern ihrer teilhaftig. Und in dieser Erleuchtung gibt es keinerlei Unterscheidung. Wo willst du, o MAITREYA, dein Leben der Nichtwiederkehr lassen, wenn es in Wahrheit weder Erreichen noch Nichterreichen, weder Leib noch Seele gibt?’ O du Erhabener, als YUIMA diese Rede im Tushita-Himmel sprach, da erkannten die zweihundert Herren der Götter auf einmal das Kshanti im ungeborenen Dharma. Darum bin ich nicht geeignet, bei dem alten Denker von Vaisali irgend etwas auszurichten.› In dieser Weise lehnten es die Jünger BUDDHAS in dieser Versammlung einer nach dem anderen ab, seinen Wunsch zu erfüllen, der voll tiefer Bedeutung war. Am Ende aber nahm MANJUSRI den Auftrag an. Begleitet von achttausend Bodhisattvas, fünfhundert Sravakas und Hunderttausenden von Herrschern der Götter zog er in Vaisali ein. YUIMA wußte dies wohl, er entblößte sein Gemach von jeglicher Einrichtung und ließ nur eine Liegestatt darin, auf die er sich selber niederlegte. Auch hatte er keinen von all seinen Dienern um sich, sondern blieb allein in seinem Gemach von zehn
Fuß im Quadrat. Das Gespräch des Bodhisattva mit diesem verschlagenen Weisen und Heiligen, dessen Erkenntnis unter den Jüngern des BUDDHA ohnegleichen war, begann folgendermaßen: YUIMA: ‹O MANJUSRI, du bist wahrhaftig willkommen. Aber dein Kommen ist Nicht-Kommen, und mein Sehen ist Nicht-Sehen.› MANJUSRI: ‹Du hast recht. Ich komme, als käme ich nicht, und scheide, als schiede ich nicht. Denn mein Kommen ist von nirgendwo, und mein Scheiden geht nirgendhin. Wir sagen, wir sähen einander, und doch ist kein Sehen zwischen den beiden. Aber lassen wir dies eine Weile beiseite, denn ich bin im Auftrag des BUDDHA hier, um nach deinem Befinden zu fragen. Geht es dir besser? Wie bist du krank geworden? Und bist du nun geheilt?› YUIMA: ‹Aus der Torheit entsteht das Begehren, und dies ist die Ursache meiner Krankheit. Weil alle fühlenden Wesen leiden, deshalb leide ich, und wenn sie vom Leiden geheilt sind, so werde auch ich geheilt sein. Ein Bodhisattva nimmt ein Leben von Geburt und Tod allen Wesen zuliebe auf sich. Solange es Geburt und Tod gibt, gibt es auch Leiden.› Während das Gespräch zwischen YUIMA und MANJUSRI in dieser Richtung weitergeht, ereignen sich ein oder zwei Zwischenfälle mit Sariputra, einem der verständnisvollsten Hörer (Sravaka) aus der Gefolgschaft des BUDDHA, die hier versammelt sind. SARIPUTRA bemerkt, daß YUIMAS Gemach leer von jeder Einrichtung ist mit Ausnahme der Liegestatt, und verwundert sich, wie der Hausherr für all die Bodhisattvas und Jünger, die mit MANJUSRI gekommen sind, Ruhesitze bereiten will. YUIMA liest SARIPUTRAS Gedanken und fragt, ob SARIPUTRA um des Dharma willen oder um des Ruhesitzes willen gekommen ist. Nachdem er versichert hat, daß
er um des Dharma willen gekommen ist, belehrt ihn YUIMA, wie man das Dharma suchen soll. Das Suchen nach dem Dharma beruht nicht darin, daß man irgend etwas sucht noch an irgend etwas haftet. Denn solange es irgendein Suchen oder Haften gibt, so erwächst daraus jede Art sittlicher und geistiger Hemmung, und man wird unrettbar verwickelt in die Maschen der Widersprüche und des Entweder-Oder. Daher kommt kein Ende des Leidens in diesem Leben. YUIMA wird von MANJUSRI belehrt, wo man die besten Ruhesitze findet, da dieser auf seiner geistigen Pilgerschaft jedes denkbare Buddhaland in allen tausend Welten besucht hat. YUIMA läßt sogleich zweiunddreißigtausend Ruhesitze aus diesem Buddhaland kommen. Jeder von diesen kunstvoll geschmückten Sitzen ist hoch und breit und jedem erhabenen Bodhisattva als Thron angemessen. Das scheinbar so kleine Gemach YUIMAS hat Raum für alle diese Sitze, von denen jeder so hoch ist wie der Berg Sumeru. Alle Besucher werden eingeladen, sich niederzulassen. Die Bodhisattvas nehmen bequem ihre Plätze ein, aber die Sravakas sind nicht imstande, zu den Stühlen emporzusteigen, denn sie sind allesamt zu hoch für sie. Da er gewahr wird, wie klein das Gemach ist, in dem diese ganze Schar eingeladen ist, sich niederzulassen, verwundert sich SARIPUTRA wiederum, wie das geschehen kann, denn ein einzelnes Senfkorn kann unmöglich alle Weltberge in sich aufnehmen, und eine einzelne Pore der Haut (Romakupa) kann unmöglich die vier Weltmeere mit allen Fischen, Schildkröten, Krokodilen und so weiter in sich einziehen. Einen anderen Zwischenfall, der dem SARIPUTRA widerfährt und der für die ganze Gedankenrichtung des Sutra höchst bezeichnend ist, bietet seine Begegnung mit einer Himmelsfürstin. Sie befand
sich unter der Versammlung und lauschte dem großen Zwiegespräch zwischen YUIMA und MANJUSRI. Dann ließ sie einen Regen himmlischer Blüten auf die Hörer sich niedersenken. Die Blüten glitten an den Leibern der Bodhisattvas herab, blieben aber an denen der Sravakas und auch an SARIPUTRAS Leibe haften. Er versuchte sie abzustreifen, aber vergebens. Die Göttin fragte ihn, warum er das tue. Antwortete SARIPUTRA: ‹Das ist nicht in Übereinstimmung mit dem Dharma.› Die Göttin: ‹Sprich nicht also! Diese Blüten sind frei von Unterscheidung. Aber infolge deiner eigenen Unterscheidung haften sie an deinem Ich. Sieh die Bodhisattvas an! Da sie gänzlich frei von diesem Mangel sind, haftet keine Blüte an ihnen. Wenn alle aus der Unterscheidung geborenen Gedanken entfernt sind, können die bösen Geister selber dem Wesen nichts anhaben.› SARIPUTRA: ‹Wie lange bist du schon in diesem Gemach?› Die Göttin: ‹So lange, wie du selber erlöst bist.› Nachdem die Unterhaltung in dieser Art weitergegangen ist, zeigt SARIPUTRA sein Erstaunen über die tiefe Erkenntnis dieser himmlischen Schönheit und fragt sie zuletzt, warum sie sich nicht in eine männliche Gestalt verwandle. Die Göttin erwidert sogleich: ‹Seit zwölf Jahren habe ich nach der Weiblichkeit meines Wesens gesucht, aber ich habe sie nicht gefunden. Warum soll ich mich also verwandeln?› Diese Gespräche sind jedoch nur Seitenwege, und wir müssen zu den Hauptgestalten des Sutra, zu YUIMA und MANJUSRI, zurückkehren. Ihre Unterhaltung dreht sich um die Frage der Nicht-Zweiheit, das heißt Advaita. YUIMA bittet jeden der versammelten großen Bodhisattva, diesen Begriff zu bestimmen. Nachdem ein jeder seine Auffassung ausgesprochen hat, bittet YUIMA MANJUSRI, sich zu äußern.
MANJUSRI spricht: ‹Soviel ich verstehe: wo kein Wort mehr zu sagen, kein Zeichen zu erblicken, keine Wahrnehmung mehr aufzunehmen ist, und wo von irgendeiner Frage gar keine Rede mehr sein kann – da betritt man das Tor von Advaita.› MANJUSRI fragt dann: ‹O YUIMA, und was ist deine Meinung jetzt, da wir alle uns über den Gegenstand ausgesprochen haben?› YUIMA schweigt und spricht kein einziges Wort. Darauf bemerkt MANJUSRI: ‹Wohlgetan, wahrhaft wohlgetan, o YUIMA! Das ist in Wahrheit der Weg, das Tor von Advaita zu durchschreiten, das keine Worte und keine Zeichen erklären können.› In dieser Frage des Advaita gipfelt das Yuima-Sutra, aber es folgt noch eine letzte Episode. Der geschäftige SARIPUTRA denkt daran, daß die Zeit des Mahles herankommt, und verwundert sich, wie YUIMA alle die Bodhisattvas und anderen Wesen in seinem Gemach von zehn Fuß im Quadrat bewirten will. Da er erkennt, was SARIPUTRAS Sinn beschäftigt, verkündet YUIMA, daß allen Versammelten ein übernatürliches Mahl sogleich aufgetragen wird. Er versetzt sich in den Zustand der Beschauung und durchdringt kraft seiner Zaubermacht alle Welten, die so zahlreich sind wie der Sand an den zweiundvierzig Gangesströmen. So gelangt er in ein Buddhaland, das Duftland heißt, und bittet den BUDDHA, der über dasselbe gesetzt ist, ihm von seiner Speise etwas abzugeben. Die Bitte wird gewährt, und YUIMA kehrt mit dem Mahl für die Versammlung zurück, und alle Anwesenden werden satt von der Speise, obgleich es nur ganz wenig ist. Die Mahlzeit besteht freilich nicht in der Einnahme von roher, stofflicher Nahrung. Es ist ein ätherisches Essen, bei dem es genug ist, den köstlichen Duft zu schmecken, um jedes Hungergefühl zu stillen, das in all diesen erhabenen Wesen entstehen mag.
Danach erscheinen sie allesamt, der große Denker und Heilige YUIMA mit ihnen, vor dem BUDDHA, der ihnen nun von dem Lande berichtet, aus dem YUIMA herkommt. Dies Land heißt Abhirati, das Land der vollkommenen Freude, über das der Buddha Akshobya (der Unbewegliche) die Herrschaft hat. Auf des BUDDHA Ersuchen bringt YUIMA durch ein Wunder das ganze Land vor die Augen der Versammelten. Man erblickt es mit dem dort thronenden Buddha Akshobya, mit seinen Bodhisattvas, Sravakas, allen Arten von Göttern und Nagas und anderen geistigen Wesen, mit seinen Gebirgen und Strömen und Meeren, mit Gewächsen und Blumen und mit seinen Bewohnern beiderlei Geschlechts. Eine besondere Eigentümlichkeit dieses Buddhalandes ist es, daß es mit drei Reihen von Treppen versehen ist, die zum Tushita-Himmel empor und auch zu unserer Welt hinabführen. Die Versammlung ist von seinem Anblick entzückt und wünscht, in diesem Land des Akshobya wiedergeboren zu werden. Das Sutra schließt mit dem üblichen Segenswunsch des BUDDHA für das Fortwirken des Dharma auf dieser Erde und dem Gelübde aller in der Versammlung Anwesenden, der Belehrung des BUDDHA zu folgen.
ANHANG II
Das No-Spiel Das Studium des No-Spiels ist in Wahrheit das Studium der japanischen Kultur überhaupt. Es birgt die sittlichen Ideale, die religiösen Glaubensformen und die künstlerischen Bestrebungen des Volkes in sich. Da es in früheren Zeiten vor allem von der SamuraiKlasse gepflegt wurde, ist es mehr oder weniger in eine Atmosphäre feierlicher Strenge gehüllt. Das folgende Stück, das unter den zweihundert beliebtesten ausgewählt ist, hat ein besonderes Interesse für Zen. ‹Yamauba› ist eines von den buddhistischen Stücken, durch und durch gesättigt mit tiefen Gedanken, die vor allem aus Zen geschöpft sind. Wahrscheinlich ist es von einem buddhistischen Priester verfaßt, um die Zen-Lehre zu verbreiten. Es ist vielfach falsch gedeutet worden, und die meisten Liebhaber des No begreifen den wahren Sinn des Stückes nicht. Yamauba, wörtlich ‹die alte Bergfrau›, vertritt das Prinzip der Liebe, die heimlich in jedem von uns lebendig ist. Gewöhnlich sind wir ihrer nicht bewußt und treiben die ganze Zeit Mißbrauch mit ihr. Die meisten unter uns bilden sich ein, Liebe sei etwas, das schön von Erscheinung, jung, zart und bezaubernd sein müsse. Aber das ist sie in Wahrheit nicht, denn sie tut harte Arbeit, ohne daß wir es merken und ohne daß sie darüber murrt. Was wir bemerken, ist das oberflächliche Ergebnis ihrer Arbeit, und wir erklären es für schön – denn naturgemäß sollte das Werk der Liebe schön sein. Aber die Liebe selber, wie ein Bauernweib, das harte Arbeit verrichtet, sieht abgemergelt aus, von den Sorgen um andere ist ihr Gesicht voller Falten, und ihr Haar ist weiß.
Sie hat soviel verwickelte Probleme, die sie lösen soll. Ihr Leben ist eine Folge von Mühsal, die sie freilich gern erträgt. Sie wandert von einem Ende der Welt zum andern und kennt keine Ruhe, keine Rast, keine Erholung. Die Liebe in dieser Gestalt, das heißt vom Gesichtspunkt ihrer unermüdlichen Arbeit, ist recht passend verkörpert in Yamauba, der alten Frau aus den Bergen. Die Sage von Yamauba muß den Japanern seit alten Tagen vertraut gewesen sein. Sie war ursprünglich vielleicht kein häßliches altes Weib. Wenn sie auch meist als gealtert dargestellt wurde, so hatte sie doch ein wohlmeinend-herzliches Wesen und hinterließ Segen auf ihren Spuren, wenn sie in die Dörfer hinunterstieg. Man glaubte, sie wandere umher von Berg zu Berg und schaue nach den Bauern und Bergbewohnern. Der Verfasser des Stücks ‹Yamauba› machte diese Vorstellung zur Hauptgestalt seines Werks und ließ sie als unbekannte und unsichtbare Macht hinter der sichtbaren Natur und Menschheit sich auswirken. Wir reden gern von solch einer Macht in unserer Philosophie, Theologie und Literatur, aber sie bleibt eine Redensart, wir scheuen davor zurück, sie als wirkliche Gegenwart zu erblicken. Wir gleichen dem Maler, der gern Drachen malte, aber in äußerstem Schrecken das Bewußtsein verlor, als der Drache selber vor ihm erschien, damit er das mythische Wesen wahrheitsgetreuer darstellen könne. Wir singen von Yamauba, aber wenn sie in eigener Person vor uns tritt und uns das Innere ihres Daseins enthüllt, so sind wir in Verlegenheit und wissen nicht, was wir anfangen sollen. Sind wir jedoch entschlossen, in die tiefsten Schlupfwinkel unseres Bewußtseins einzudringen, wie Zen es uns anrät, so dürfen wir nicht davor zurückschrecken, die Wirklichkeit mit beiden Händen zu ergreifen.
Mit dieser vorangeschickten Bemerkung wird das Stück Yamauba verständlich werden, dessen Sinn von ausländischen wie von japanischen Schriftstellern gröblich mißdeutet worden ist. Die No-Spiele sind schwer zu übersetzen, vielleicht sind sie überhaupt nicht übersetzbar, und ich habe nicht den Ehrgeiz, das Unmögliche zu versuchen. Im folgenden wird daher nur ein nackter Abriß der Handlung ohne die literarischen Ausschmückungen gegeben, mit denen sie auf das üppigste umkleidet ist: In der Hauptstadt lebte einst eine Tänzerin, bekannt als Hyakuma-Yamauba, weil sie das Lied von Yamauba so wundervoll sang und tanzte, daß ihr die Leute diesen Beinamen gegeben hatten. Eines Tages kam sie auf den Gedanken, den Tempel Zenkoji in der Provinz Shinano aufzusuchen, sie machte sich daher in Begleitung ihrer Dienerin auf die lange und mühselige Reise über die Berge des nördlichen Japan. Das Stück beschreibt diese Wanderschaft in dem üblichen farbenreichen Stil, der die Literatur dieser Zeit kennzeichnet. Zuletzt kamen beide an den Fluß Sakai, der die Grenze von Ecchu und Echigo bildet. Dienerin: ‹Endlich haben wir die Grenze von Ecchu und Echigo erreicht. Laß uns hier ein wenig ausruhen und über die Weiterreise Erkundigungen einziehen.› Tänzerin: ‹Man berichtet viel von dem Reinen Lande im Westen, das jenseits von tausend Millionen von Buddhaländern gelegen ist, aber hier sind wir wenigstens auf dem geraden Wege zum Tempel Amidas, über dem der BUDDHA im letzten Augenblick unseres Erdenlebens erscheinen wird, uns zu begrüßen. Laß uns den Wagen hier lassen und zu Fuß über den Bergpaß von Agero weiterziehen, denn verdienstlicher ist es, zu wandern. Wir sind ja auf dem Weg zu Buße und Einkehr.›
Dienerin: ‹Wie seltsam! Es ist noch nicht Abend, doch bricht schon das Dunkel herein. Was sollen wir tun?› Während sie so in Unruhe waren, erschien vor ihnen ein Weib und sprach: ‹Ihr Wanderer, kehrt bei mir ein! Ihr seid hier auf dem Paß von Agero fern von den Wohnungen der Menschen, und der Abend bricht schnell herein. Verbringt die Nacht in meiner armseligen Hütte mit mir!› Dies Anerbieten nahmen sie mit großer Freude an. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, sprach das fremde Weib eine Bitte aus: sie wünschte, die Sängerin das Lied von Yamauba singen zu hören. Diesen Wunsch hatte sie lange gehegt, und in dieser Absicht hatte sie den Tag seine Schritte zur Nacht beschleunigen machen, damit sie ihre einsame Herberge den Wanderern auftun konnte. Diese standen vor einem Rätsel, denn sie begriffen nicht, wie ihre Wirtin so genau wissen konnte, wer sie waren. Weib: ‹Es hilft euch nichts, daß ihr vor mir verbergen wollt, wer ihr seid. Die mir gegenübersitzt, ist niemand anders als HyakumaYamauba selbst, deren Ruhm eben jetzt die ganze Hauptstadt erfüllt. Ihr Lied handelt von Yamauba, die von Berg zu Bergen wandert. Laßt mich denn der wunderbaren Weise lauschen! Wenn du schon von Yamauba singst, so weißt du vielleicht doch nicht, wer sie in Wahrheit ist. Du meinst vielleicht, sie sei eine Art böser Geist, der in den Bergen haust. Ob sie ein Geist oder ein menschliches Wesen ist, darauf kommt es nicht an. Wenn man unter Yamauba ein altes Weib versteht, das in den Bergen lebt, so ist sie niemand anders als ich selber. Du singst von ihr, und wenn sich wirklich dein Herz zu ihr neigt, warum soll nicht ein Opfer dem BUDDHA gebracht und Gebete für ihre Erleuchtung und Erlösung gesprochen werden? Bring heut dein Lied und deinen Tanz dem
BUDDHA dar, von dem alle Tugend ausgeht! Das ist der Grund, warum ich dich zu sehen wünschte.› Tänzerin: ‹Das ist wirklich ein Wunder! Du bist in Wahrheit Yamauba selbst?› Weib: ‹Die einzige Absicht, daß ich vor euch erscheine, nachdem ich über so viele Berge gewandert, war’s, um mit eigenen Ohren zu hören, warum mein Name gepriesen wird. Sing mir, o meine Freundin und Tänzerin, dein Lied von Yamauba!› Die Tänzerin aus der Hauptstadt erklärte sich nun bereit, ihrer Wirtin gefällig zu sein. Als sie im Begriff war, ihr Singen und Tanzen zu beginnen, verkündete ihr das seltsame Weib, sie wolle sich in ihrer ursprünglichen Gestalt offenbaren und die ganze Nacht zusammen mit ihr singen. Darauf verschwand sie. (Hier möchte ich anmerken, daß wir, besonders wir Philosophen und Verstandesmenschen, gern mit Vorstellungen statt mit Wirklichkeiten spielen. Und wenn die Wirklichkeit vor uns tritt, so sind wir entsetzt oder machen den Versuch, sie unsern vorgefaßten Vorstellungen anzugleichen. Das ist in gewissem Umfang berechtigt, denn wir sind alle unverbesserliche Idealisten, dem Wehgeschrei der Realisten zum Trotz. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es etwas gibt, was unter keiner Kategorie, sei es Idealismus oder Realismus, zu fassen ist, und diesem Etwas müssen wir unmittelbar ins Auge sehen, um zum wahren Urgrund unseres Lebens zu gelangen.)
Zwischenspiel Während die Tänzerin und ihre Dienerin ihre Vorbereitungen zu dem Auftreten trafen, um das ‹die alte Bergfrau› sie so dringlich gebeten hatte, hörten sie diese mit sich selber reden und ihre Wor-
te waren ungefähr diese: ‹Wie tief ist das Tal! Wie bodenlos der Abgrund! Hier sehe ich Menschen, die unter dem bösen Karma der Vergangenheit leiden, dort sehe ich Menschen, die sich ihres guten Karmas der Vergangenheit erfreuen. Gut und Böse sind aber nur Namen, sie kommen aus der nämlichen Quelle. Was ist denn wirklich, das Kummer oder Freude verdient? Fernhin wollen wir blicken in das Reich der jenseitigen Weisheit, und dort erkennen wir die Welt der Sonderungen vor unsern Augen, und nichts ist vor uns verborgen. Die Ströme fließen wie gewundene Schlangen durch die Täler, die Felsen stehen wie Wogen, die sich im Meer erheben. Wer hat die purpurdunklen Bergzüge ausgehauen, die sich drüben erheben? Wer gab den smaragdgrünen Wassern ihre Farbe, die in der Sonne glänzen?› Die uralte Frau taucht nun in ihrer wahren Gestalt aus dem Dikkicht der Wälder vor ihnen auf. Sie erschrecken vor ihr. Ihre Stimme ist der Menschen Stimme, ihr Haar ist silberweiß, ihre Augen leuchten wie ein Paar Sterne, ihr Gesicht ist rötlich wie die Farbe von Dachziegeln. Aber sie beruhigt sie, daß sie keine Angst haben sollen, denn sie enthüllt sich nur, damit sie erkennen sollen, welche Art Arbeit sie im Hintergrund des Daseins verrichtet, das wir nur an der Oberfläche erblicken, und die äußere Wirkung ihrer geistigen Stärke wahrnehmen, die in ihrer Gestalt versinnbildlicht ist. Nun folgt eine Art Vorspiel zu dem Lied von Yamauba, das von Yamauba selber und der Sängerin aus der Hauptstadt gesungen wird. In Wahrheit ist schwer zu unterscheiden, was Yamauba selber über sich und was die Sängerin über sie berichtet. Ihre Stimmen vermischen sich, und der Leitgedanke ist, von der Rolle zu singen, die ‹die alte Bergfrau› im Drama der Welt Tag für Tag vor aller Menschen Augen und dennoch ungesehen spielt.
Das Lied beginnt mit der Anspielung auf das seltene Zusammentreffen zwischen der Tänzerin und der Uralten, zwischen Einbildung und Wirklichkeit, zwischen Spiel und Leben. ‹Die Dichter haben schöne Worte für den Frühlingsabend, wenn die Blumen erblüht sind und der Mond in seiner Fülle steht. Sie sagen, ein Augenblick von ihm sei tausend Goldstücke wert. Die Begegnung von Hyakuma-Yamauba und Yamauba selber ist mehr wert als das. So laßt uns singen von dem nie erlebten Erlebnis! O daß unsere Worte zu sagen vermöchten, was es in Wahrheit bedeutet! Lasset uns singen wie Vögel, die mit den Flügeln schlagen, laßt uns die Pauke schlagen, daß es rauscht wie der Wasserfall, laßt unsere Ärmel flattern wie Blütenblätter oder Schneeflocken im Wind. Jeder Laut, jede Bewegung entspringt aus dem Dharma. Auch Yamaubas Wandern von Bergen zu Bergen, so voller Mühsal und voller Kummer – es wurzelt im Dharma.› Dies führt zur Beschreibung von Yamaubas Wohnstatt, die als Berg im Meere versinnbildlicht ist. Der Berg ist eigentlich nur eine Anhäufung von Staubkörnchen, aber er steigt höher und höher bis zu vielen tausend Fuß empor, und sein Gipfel verliert sich in den Wolken. Das Meer ist nichts als eine Ansammlung von Tautropfen im Moose, aber sie sammeln sich ins Unendliche, und es entsteht die grenzenlose Wasserflut mit ihren anschwellenden Wogen. Wenn sie gegen die Felsen schlagen, erzittern alle Täler und Höhlen von ihrem Donnerklang, und die Ufergrotten erfüllt der Widerhall, bis er im leeren Raum dahinstirbt. ‹Hier ist meine Behausung inmitten der hohen Gipfel und über den tiefen Schluchten, wo ein gewaltiger Wasserfall fern jenseits der Bergeswogen hinabstürzt. Wenn der Mond der Soheit aufsteigt am andern Ende des Horizonts, so fällt sein Bild über die endlos kräu-
selnden Wellen wie schimmerndes Silber. Wenn ein Wind durch die Wälder hinter meiner Behausung streift, ist sein schweres Rauschen stark genug, die Welt aus dem Traum ihrer Trugbilder zu erwecken. Mitten darin, das heitere Mondlicht vor mir, das Rauschen der Bäume in meinem Rücken, weile ich, als säße ich einsam in einem alten Gerichtshof, in dem kein Lärm und Streiten zu hören, kein Schlagen der Verbrecher zu vernehmen ist. Wenn ich allein in den Bergen sitze, die dem Menschentreiben am fernsten sind, so lausche ich oft, wie ein einsamer Vogel oder ein wandernder Holzfäller singt, und nehme die tiefe Stille rings in mich auf. Wenn ich zum höchsten Gipfel des Dharma-Wesens emporschaue, so denke ich unseres endlosen Suchens nach der erhabensten Wahrheit. Wenn ich hinabblicke in die grundlose Tiefe des gähnenden Tals dort unten, so gemahnt es mich an den Abgrund der Unwissenheit, in dem alle Wesen versinken, und ich begreife, wie unerschöpflich meine Aufgabe ist. Ihr mögt mich fragen, woher ich komme, aber in Wahrheit gibt es kein Woher meines Kommens, noch habe ich irgendein Haus oder Heimat. Mit den Wolken schwebe ich von Bergen zu Bergen und drücke meine Fußspur in die Enden der Erde. Nicht gehöre ich zur Welt der Menschen, doch lebe ich unter ihnen in meinen Verwandlungsgestalten. Hier bin ich erschienen nach dem Karma meines Willens in der Form einer Bergfrau. Vom Standpunkt des unbedingten Einsseins gesehen, sind Gut und Böse nur Namen, und Form ist Leere, Leere ist Form. Des BUDDHA geheiligte Lehren sind in die Welt vermischt. Erleuchtung ist unter Leidenschaft und Verlangen zu suchen. Wo der BUDDHA ist, da sind Wesen, und wo Wesen sind, da hat auch Yamauba ihr Dasein. Die frischgrünen Blätter der Weiden und die vielfarbigen Blumen grüßen den Frühling. Das ist der
Weg der Welt und des Dharma. Wenn ich in der Welt und mit der Welt weile, so helfe ich manchmal den Bauern, die in die Bergwälder steigen, Reisig zu sammeln, und schwer beladen im Schatten der Blütenbäume ein wenig der Rast genießen. Im Mondlicht wandre ich mit ihnen, ich teile die Bürde und begleite sie bis in die Dörfer, wo eine friedevolle Nacht nach des Tages Arbeit sie erwartet. Manchmal helfe ich den Weberinnen, ohne daß sie es merken. Wenn sie den Webstuhl ans Fenster rücken und das Schiffchen zu werfen beginnen, hört man draußen die Nachtigall flöten zum Klang der Räder und Tritte: flink geht die Arbeit und ganz von selber voran, als lenkte sie niemand und liehe unsichtbare Hände. Wenn im späten Herbste der Frost die Rinde der Erde versteinert, so denken die Hausfrauen an warme Kleider gegen den schnellen Anbrach des Winters, und aus jedem Haus im Dorf hört man das Klopfen und Stopfen von Tuch oder Seide im Mondlicht. Sie ahnen nicht, daß Yamaubas Hand mit jedem Schlage der ihren sich regt. Kehrst du zurück in die Hauptstadt, so magst du singen vom Anteil, den Yamauba an alledem hat. Freilich, wenn ich das wünsche, so hafte ich damit noch immer an der Welt. Sag also, was du willst, immer bleibt es mein Los, von Berg zu Bergen so fortzuwandern, mag das Werk noch so mühselig sein. Selbst im Schatten eines Baumes beieinanderzusitzen oder Wasser aus dem gleichen Flusse zu schöpfen, dankt jeder nur dem Karma seines vergangenen Daseins – wieviel mehr denn wir beide! Kein Zufall ist’s, daß du Ruhm gewannst durch dein Singen von mir. Alle Töne, selbst alltäglicher und leichtfertiger Weisen Sang, führen am Ende zur Enthüllung der Buddha-Herrlichkeit hin. Leb wohl, o Tänzerin aus der Hauptstadt, es ist Zeit, daß wir scheiden,
leb wohl!› Damit nimmt Yamauba von Hyakuma und ihrer Dienerin Abschied. Bald darauf hören sie aus einiger Entfernung das Berglied Yamaubas, die ihren Augen entschwunden ist, niemand weiß wohin: ‹Lebt wohl, lebet wohl! Ich kehre heim zu meinen Bergen. Von Berg zu Berg will ich schweifen, im Frühling die Bäume sehen in der schweren Last ihrer Blüten, im Herbst im Mondeslicht wandern, wo es am strahlendsten schimmert, im Winter hinschweben im Schneefall, der alle Berge mit Weiß umfängt. Ewige Wiedergeburt ist mein Los, mein liebendes Haften an allem Wesen hat eine Weile Yamaubas Gestalt mich annehmen lassen, und so ward ich zum Gegenstand deiner Kunst.› Siehe, hier weilte sie noch eben zuvor. Jetzt ist sie nicht mehr zu sehen, nirgend mehr. Über die Berge schwebt sie dahin, Durch die Täler noch hallt, schwindend, ihr Lied. Ewig von Bergen zu Bergen, wandernd und wandernd, Ist sie entschwunden ins Land Nirgendwo.
ENZYKLOPÄDISCHES STICHWORT
‹GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DES ZEN›
Das Wort ‹Zen› ist die japanische Wiedergabe des chinesischen Ch’an, der Abkürzung von Ch’an-na, das seinerseits den Laut des Sanskritwortes Dhyâna darstellen soll. Dhyâna bedeutet die buddhistische Meditation, die Beschwichtigung aller Unruhe des Gedankens und ist die Vorstufe der eigentlichen ‹Erleuchtung›. Damit ist der Weg gekennzeichnet, den das Zen von Indien über China nach Japan gegangen ist. Wer über Zen liest, darf sich also nicht wundern, daß die grundlegenden Begriffe in der altindischen Literatursprache des Sanskrit auftauchen und die meisten und wichtigsten Quellen über das Zen chinesisch geschrieben sind. GAUTAMA BUDDHA (ca. 560–480 v. Chr.) hat über die ‹Erleuchtung›, die er unter einem Feigenbaum erfahren hat, nicht viel gesprochen, als mystische Erfahrung entzog sie sich jedem Versuch, sie in Worte zu fassen. Nach seinen Andeutungen geschah ihm dabei wohl die befreiende Einsicht, daß das mit seinen Ängsten und Wünschen in diese Welt verstrickte ‹Ich› nichts als eine Illusion der Sinne ist. GAUTAMAS stark in altindischer Tradition wurzelnde Überzeugung, daß der schmerzvolle Kreislauf des Werdens, Vergehens und Wiedererstehens durch dieses ‹Wissen› von der Nichtverschiedenheit unseres wirklichen Seins von dem absoluten Sein beendet werden kann, bildet daher den Hauptpunkt der buddhistischen Lehre. BUDDHAS Predigten sind während seines Lebens nicht aufgezeichnet, sondern mündlich tradiert und erst nach etwa vier Jahrhunderten von den Anhängern seiner Lehre niedergeschrieben worden.
Unterschiede in Überlieferung und philosophischer Auslegung führten zur Begründung zahlreicher Lehrmeinungen und Schulen, und durch das scholastische Gestrüpp ist das Herzstück von BUDDHAS Lehre, die mystische Erleuchtung, gleichsam verdeckt worden. Nachdem dann der Buddhismus in der Form des weltoffenen ‹Großen Fahrzeugs› (Mahâyâna), bei dem sich der Einzelne – im Unterschied zum ‹Kleinen Fahrzeug› (Hînayâna) – um die Erlösung aller Wesen bemüht, im ersten nachchristlichen Jahrhundert als echte Religion auch nach China gedrungen war, hat im sechsten Jahrhundert die von Legenden umwobene Gestalt des dort missionierenden Inders BODHIDHARMA die erlösende Meditation in den Mittelpunkt seines Wirkens gestellt. Dem praktischen Sinn der Chinesen leuchtete diese Seite des Buddhismus eher ein als der dialektische Streit der gelehrten Schulen. BODHIDHARMAS kraftvolle Persönlichkeit wie auch die Eigenart seiner Lehre offenbaren sich am einprägsamsten in dem – aus einer späteren Zeit stammenden – Bericht seines Zwiegesprächs mit dem frommen KAISER WU des kleinen Staates Liang. Der Kaiser sagte: ‹Man vermag kaum aufzuzeichnen, wieviele Tempel ich bauen, Buddhapredigten ich abschreiben und Mönche ich weihen ließ. Welche Verdienste habe ich mir dadurch erworben?› Der Meister (BODHIDHARMA) erwiderte: ‹Gar keine!› Der Kaiser: ‹Weshalb?› Darauf der Meister: ‹Das sind nur wertlose Verdienstgründe, die noch eng mit der Wiedergeburt verknüpft sind. Sie sind wie Schatten, die der Gestalt folgen, sie besitzen keine eigene Wesenheit›. Der Kaiser: ‹Worin bestehen dann wahre Verdienste?› Der Meister: ‹Es ist das reine Wissen, wunderbar und rund. Sein Wesen ist Leere und Stille. Solcherlei Verdienst läßt sich nicht durch weltliches Tun erlangen›. Darauf fragte der Kaiser von neuem: ‹Welches ist der höchste Sinn der heiligen Wahr-
heit?› Der Meister: ‹Offene Weite – nichts von heilig!› Der Kaiser: ‹Wer ist das, der mir so zu entgegnen wagt?› Der Meister: ‹Ich weiß es nicht!› Dieses Gespräch gibt den Kernpunkt des Zen wieder, das in BODHIDHARMA seinen ersten ‹Patriarchen› sieht. Die letzte Wahrheit liegt jenseits aller Gegensätze, selbst Begriffe wie Heilig und Unheilig, Gut und Böse führen nur vom Wesentlichen ab, das unsagbar bleibt. Und wie sollte BODHIDHARMA angeben können, was er selber sei? Besteht das erleuchtende Wissen doch gerade in der Erkenntnis, daß es ein Ich gar nicht gibt. Die schnelle Verbreitung, die der Buddhismus und vor allem Zen in China gefunden haben, erklärt sich auch dadurch, daß die altchinesische Weisheitslehre des Taoismus den Boden gut vorbereitet hatte. Zen und Taoismus hielten beide nichts von dieser Welt mit ihren Begriffen und Widersprüchen. Bald konnte von den Zen-Meistern das Wort ‹Tao›, der ‹Weg›, der Welturgrund, das verborgene, wahre Sein, das die beiden ‹Schöpfer› des Taoismus LAO-TSE (vermutlich 5. vorchri. Jhr.) in seinem ‹Buch vom Weg und Sinn› (Tao-teking) und CHUANG-TSE (4. vorchr. Jhr.) in seinem ‹Wahren Buch vom südlichen Blütenland› poetisch zu umschreiben suchten, unschwer mit der letzten, unaussprechbaren Wahrheit des Buddhismus, der Buddhaschaft aller Dinge identifiziert werden. Sehr aufschlußreich hierfür ist die berühmte Hymne des ZenMeister SENG TS’AN (gest. 606), ‹Der Stempel des gläubigen Herzens›. Sie beginnt:
Der Höchste Weg ist durchaus nicht schwer, nur abhold jedem langen Wählen. Doch wer nicht liebt und nicht mehr haßt, dem erscheint sie frei in hellem Licht. Nur ein Haar breit von ihr getrennt, ist man ihr wie der Himmel von der Erde so fern. Wer dicht vor Augen sie haben will, lasse von allem Willfahren und Widerstreben. Die letzte Wahrheit ist nicht mitteilbar. Jeder muß sie selbst erfahren. In Zen-Kreisen verweist man bald auf einen frommen Bericht, nach dem BUDDHA eines Tages seinen Jüngern, statt zu predigen, schweigend eine Blume gezeigt habe. Allein MAHÂKÂSHYAPA begriff diese Gebärde spontan, er lächelte BUDDHA still entgegen, worauf BUDDHA ihm die Weitergabe seiner Lehre übertragen haben soll. Da Zen die Autorität der buddhistischen Schriften, alle dogmatische und philosophische Spekulation verneint, sich ‹nicht auf Schriftzeichen begründet›, sondern das Innere des Menschen als die alleinige Quelle der rechten Erkenntnis ansieht, spielt die ‹Übertragung von Geist zu Geist› eine besondere Rolle: die Persönlichkeit des bereits erleuchteten Meisters steht dem suchenden Schüler führend und helfend zur Seite. In welch praktischen Formen dies geschieht, hängt von der Art des Meisters ab. Nicht selten ist es zur rechten Zeit ein überraschendes, kurzes ‹Löwengebrüll› oder ein grober Stockschlag, der die letzte Schale sprengen soll, ähnlich wie ein leichtes Klopfen an ein fast reif gebrütetes Ei das Hühnchen ausschlüpfen läßt. Einer der kraftvollsten Zen-Meister war HUI-NÊNG (638–713), dem es wohl vor allem zu danken ist, wenn Zen nun wundersam
aufblühte und bald alle anderen buddhistischen Schulen überflügelte. HUI-NÊNG war im Kloster des damals führenden Zen-Meisters nur als einfacher Arbeiter zugelassen und offenbar ganz ohne Gelehrsamkeit, aber er begriff das Wesentliche mit so mächtiger Intuition, daß ihn der Abt zur Überraschung aller zu seinem Nachfolger ernannte. Durch die originelle und vitale Frische seiner Predigten trug HUI-NÊNG wesentlich dazu bei, Zen, das bisher mehr von den gebildeten Schichten gepflegt wurde, populär zu machen. Er betonte die ‹Plötzlichkeit› der Erleuchtung, was seiner eigenen Veranlagung und im Grunde auch chinesischer Mentalität besser entsprach. HUI-NÊNG vermied bewußt, von einer ‹ursprünglichen Reinheit› des Menschen zu sprechen, die etwa durch langanhaltende Meditation zurückgewonnen werden könne, gleichwie man einen trüben Spiegel wieder reinzuwischen vermag. Eine solche Vorstellung bewegt, so fürchtete HUI-NÊNG, nur zu leicht zur Annahme eines ja gar nicht vorhandenen Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Langes meditierendes Sitzen führt zudem oft zu Quietismus. Entscheidend war nach HUI-NÊNG vielmehr Prajñā, die ‹Weisheit›, die Kraft, die von der letzten Wirklichkeit gar nicht verschiedene eigene Natur intuitiv zu schauen. Die Meditation, Dhyâna, hat nur die Funktion, den Geist zur Beruhigung zu bringen; sie ist die Vorstufe der höchsten buddhistischen Tugend, Prajñā. Auf HUI-NÊNG, den Schöpfer des chinesischen Zen, folgte in den nächsten Jahrhunderten eine Menge höchst origineller Meister. Alles wird nun mit größter Entschiedenheit auf die Erleuchtung, das Aufleuchten der letzten Erkenntnis abgestellt, die dem angestrengt Ringenden irgendwann aufgeht. Jeder Versuch, diese Erfahrung mit Worten zu beschreiben oder gar zu analysieren, mißlingt mit Notwendigkeit, aber offenbar handelt es sich, wie schon angedeutet, um
die überwältigende, ja geradezu umstürzende reine Erfahrung des Weltzusammenhangs des letzten Seins. Der wachsende Zulauf, den Zen fortan erfuhr, machte es nun in den Klöstern gleichwohl notwendig, die Mönche methodisch anzuleiten, und so entwickelte man das System der Kung-an, Problemstellungen, denen lakonische, zumeist paradoxe Aussprüche berühmter Zen-Meister zugrunde liegen. Diese Kung-an sind in ihrer Mehrzahl so beschaffen, daß sie mit dem Verstand unmöglich eindeutig oder auch nur annähernd beantwortet werden können, ja, sich jedem logischen Begreifen versagen. Sie provozieren aber gerade durch dieses Dilemma eine gewaltige geistige und psychische Spannung, aus der dann zu irgendeinem Zeitpunkt das konkrete Erlebnis der ‹Erleuchtung› befreit, ja, geradezu erlöst. Zur Förderung der Bemühungen um die Kung-an, die also zur Offenbarung des letzten Geheimnisses führen sollen, pflegte man eine besondere Sitztechnik, die auf indische Yogapraktiken zurückgeht. Aber weder diese Sitztechnik noch die Problemstellungen der Kung-an sind der eigentliche Zweck des Zen. Ziel ist nicht die Weltflucht. Im Gegenteil, Zen steht mitten im Leben. Es ergreift alle Arten des praktischen Seins. Der Geist der offenen Weite und Freiheit, der Zen durchpulst, ergriff und faszinierte im China des neunten bis dreizehnten Jahrhunderts vor allem auch die Dichter und Maler, er beschwingte ihre Phantasie und brachte unvergleichlich schöne Werke hervor. Die außerordentliche Wirkung des Zen auf Japan vermag man wohl nur zu begreifen, wenn man bedenkt, daß der Buddhismus – wenn auch zunächst in dem Gewand anderer Schulen – als der Träger der überlegenen Festlandskultur bereits seit Mitte des sechsten Jahrhunderts begonnen hatte, Fuß zu fassen. Mit Hilfe von einge-
wanderten Chinesen und Koreanern, dann aber bald durch einheimische Künstler wurden prachtvolle Tempel erbaut, bei denen man wundervolle Feste feierte und deren Mönche die geistigen Lehrmeister des Volkes wurden. Am Kaiserhofe selbst, dem allesbeherrschenden Zentrum der damaligen Kultur, gedieh seit dem neunten Jahrhundert vor allem eine buddhistische Richtung, welche die zeremonielle Seite der Lehre ausbaute. Der dabei entfaltete dekorative Prunk sprach die starke künstlerische Veranlagung der Japaner mächtig an und bildete sie weiter. Dieser aristokratisch-ritualistische Buddhismus verwandelte sich mit dem Niedergang der höfischen Kultur und dem Aufstieg niederer Volksschichten, zumal des einfachen Ritterstandes, der im dreizehnten Jahrhundert die politische Macht an sich riß, in eine schlichte Frömmigkeit. In dieser Abwendung von allem auf die Sinne wirkenden Glanz sind sich die beiden nun plötzlich aufblühenden buddhistischen Erneuerungsbewegungen, die ‹Schule des Reinen Landes› und die Zen-Schule, gleich. Sie unterscheiden sich nur darin, daß die erstere alles auf die Gnade des übersinnlichen Buddha des Unermeßlichen Lichtes und die durch ihn vermittelte Hinübergeburt ins ‹Paradies des Reinen Landes› setzte, während Zen die Erlösung aus eigener Kraft anstrebte. Die erste Berührung der japanischen Buddhisten mit der chinesischen Zen-Tradition war schon um die Mitte des siebenten Jahrhunderts erfolgt. Im übrigen wurde die Meditation auch bei den anderen buddhistischen Schulen von Anfang an als eine unter anderen religiösen Übungen gepflegt. Im zwölften und vor allem dreizehnten Jahrhundert kam es dann zu einem gewaltigen Einstrom des Zen. Der Mönch EISAI (1141–1215), ein freier und mächtiger Geist, begründete nach zweimaligem Aufenthalt in China die auf den ZenMeister LIN-CHI (jap. Aussprache RINZAI) zurückgehende Rinzai-
Schule, und DOGEN (1200–1253) nach einem fünfjährigen Studium in China die sich auf den Zen-Meister TUNG-SHAN LIANG-CHIEH berufende Sôtô-Schule. EISAI stand noch stark im Bann anderer buddhistischer Schulen und wollte zunächst nichts weiter, als durch die dem Zen eigene strenge Selbstdisziplin die absinkende Mönchszucht stärken. Er war aber überzeugt, daß fünfzig Jahre nach seinem Tode das Zen in Japan machtvoll aufblühen werde. Und so geschah es auch. Der Unterschied zwischen den beiden Schulen Rinzai und Sôtô besteht im wesentlichen darin, daß das Rinzai-Zen die Problemstellungen der Kung-an (jap. Kôan) in den Mittelpunkt stellte, während das Sôtô-Zen das Ziel der Erleuchtung durch stillsitzende, gedankenleere Meditation zu erlangen suchte, wobei das Zazen, die Sitztechnik, nicht nur ein Mittel zur Erleuchtung, sondern bereits die eigentliche Form ist, in der das ‹wahre Selbst› erlebt wird. In den kriegerisch verworrenen Zeitläuften war die Meditationswelt des Zen ein helles Licht, das die Menschen zur Entfaltung ihrer eigenen Kräfte ermutigte. Zen wurde vor allem von den Rittern willkommen geheißen; mit seinem Selbstbewußtsein und der überlegenen Haltung gegenüber Leben und Tod entsprach es dem Bushidô der Ethik des furchtlosen Ritterstandes. Von der Mitte des vierzehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war dann eine Zeit erholsamen Friedens. Nun durchdrang das Zen mit seiner Liebe zum schlicht Natürlichen, seiner Konzentration des Gedankens und Empfindens, seinem heißen Bemühen, in den Erscheinungen dieser immer gleich wesenhaft schönen Welt das geheimnisvoll Ganze zu sehen, das tägliche Leben. Mit seinen schöpferischen Impulsen der Unmittelbarkeit und Intuition befruchtete es die ungewöhnliche ästhetische Sensibilität, die Japan seit jeher gekennzeichnet hat.
Vom Beginn des sechzehnten Jahrhunderts an begann das Zen als religiöse und kulturelle Macht langsam zu ermatten. In der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts trat durch einen chinesischen Zen-Mönch eine weitere Schule neben Rinzai und Sôtô. Im achtzehnten Jahrhundert schuf der geistvolle Rinzai-Meister HAKUIN (1685 bis 1768) durch Erziehung von Mönchen und vor allem von Laien die Grundlage, welche heute die Rinzai-Schule trägt. Der 1945 verstorbene ‹erste originäre und weltliche Philosoph Japans› NISHIDA wurzelt, bei aller Beziehung zur deutschen und französischen Philosophie, tief im Zen. Professor DAISETZ SUZUKI, der große Zen-Meister unserer Tage, ist nicht ohne Grund wohl der wirkungsvollste Pionier japanischer Kultur. O. Benl
ÜBER DEN VERFASSER
SUZUKI, TAISETSU (DAISETSU), 1870 geboren, durch frühen Tod des Vaters zur Aufgabe des Studiums gezwungen, war zunächst Englisch-Lehrer an Volksschulen, besuchte aber dann die Kaiserliche Universität Tôkyô. Ein Besuch im Zen-Tempel Engakuji entschied über sein weiteres Leben: er widmete sich der wissenschaftlichen Erforschung und der Praxis des Zen und entschloß sich, auch außerhalb Japans ostasiatische Weisheit zu vermitteln. Er ging 1897 nach Chicago, half dort bei der Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift, erregte 1900 durch seine Übersetzung und Interpretation des Mahâyâna-śraddhotpâda-śastra (Lehrtext über die Entstehung des Glaubens an das Mahâyâna) die Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Kreise und wandte sich hinfort vor allem dem Studium der alten chinesischen Zen-Meister zu. 1909 reiste er nach Europa und kehrte 1910 nach 14jähriger Abwesenheit nach Japan zurück, wo er zunächst Professor an der Adelsschule, Dozent an der Kaiserlichen Universität in Tôkyô und ab 1921 Professor an der Ôtani-Universität in Kyôto war. Auf zahlreichen Auslandsreisen hielt er Vorträge über Zen. Was Europa heute von Zen weiß, verdankt es vor allem Professor SUZUKIS Interpretation. TAISETSU SUZUKI starb 1966 in Tôkyô. O. Benl
Wichtigste Veröffentlichungen: Studies in the Lankâvatâra Sûtra. London 1930 Essays in Zen Buddhism. 1st Series: London 1927, New York 1949; 2nd Series: Kyôto 1933, London 1950; 3rd Series: Kyôto 1934, London 1953 A Manual of Zen Buddhism. Kyôto 1935, London 1950 Die große Befreiung. Leipzig 1939 The Zen Doctrine of No-mind. London 1949 Leben aus Zen. München-Planegg 1955
LITERATURHINWEISE
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