Gertrud Wolf Zur Konstruktion des Erwachsenen
Gertrud Wolf
Zur Konstruktion des Erwachsenen Grundlagen einer erwachs...
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Gertrud Wolf Zur Konstruktion des Erwachsenen
Gertrud Wolf
Zur Konstruktion des Erwachsenen Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Priska Schorlemmer VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18128-8
„Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, ehe ich es zu schreiben begann, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt.“ Michel Foucault: Der Mensch ist ein Erfahrungstier
Für Wolfgang
Meinen Kindern Nora und Henrik danke ich für ihre Geduld, Wolfgang für seine charmante Ausdauer, Bettina, Maria, Katharina und Kerstin für viele wunderbare Gespräche, Uso für die Einblicke in den Habitus, Petra für das schnelle Lesen und ihre anregenden Kommentare und allen anderen für ihr herzliches Interesse an meiner Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
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Der Erwachsene das unbekannte Wesen ........................................ 9
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Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen ...................................... 15 2.1 Erwachsensein als historische Konstruktion .............................. 17 2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion ................................. 26 2.2.1 Die Kategorie der Reife ....................................................... 26 2.2.2 Die Kategorie der Mündigkeit ............................................. 31 2.2.3 Die Kategorie der Verantwortung ....................................... 37 2.3 Erwachsensein als Alltagskonstrukt ........................................... 42
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Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie auf der Basis der Differenzierung ................................................ 51 3.1 Homo discens – der lernende Mensch ........................................ 51 3.2 Die Theorie der Differenzierung ................................................ 54 3.2.1 Anpassung (Adaption) ......................................................... 56 3.2.2 Differenzierung ................................................................... 59 3.3 Autonomie und Differenzierung des erwachsenen Selbst ........... 63
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Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins .................. 69 4.1 Strukturbildung durch die Gen-Umwelt-Interaktion .................. 70 4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie................... 73 4.3 Das Trauma und seine Folgen ................................................... 82 4.4 Die Fähigkeit zur Mentalisierung .............................................. 88 4.5 Das habitualisierte Individuum .................................................. 93
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Inhaltsverzeichnis
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Vom Kind zum Erwachsenen ........................................................ 97
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Die Sexualität des Erwachsenen .................................................. 109
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Der Erwachsene und sein Körper ............................................... 119
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Vom Sein zum Werden ................................................................. 129 8.1 Der Erwachsene – das differenzierungsfähige Subjekt ............ 129 8.2 Das erwachsene Selbst zwischen Individualität und Verbundenheit .......................................................................... 135
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Erwachsenenbildung im Fokus der Differenzierung ................ 141
Literaturverzeichnis ............................................................................ 147
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Der Erwachsene das unbekannte Wesen Wer bin ich denn, im goldnen September, wenn ich alles von mir streife, was man aus mir gemacht hat? Wer, wenn die Wolken fliegen! Ingeborg Bachmann
Der Erwachsene steht in vielerlei Hinsicht im Fokus pädagogischer und sozialpädagogischer Bemühungen und bildet folgerichtig einen eigenen, wissenschaftlichen Gegenstand in der Teildisziplin Erwachsenenbildung. Obgleich es im Diskurs der Andragogik mittlerweile ein weitverzweigtes Forschungsspektrum gibt, stellt der Erwachsene selbst aber gewissermaßen zugleich auch dessen terra incognita dar. Denn obwohl sämtlichen Ansätzen implizite Theorien über den Erwachsenen zugrunde liegen, so wird auf eine eindeutige und definitorische Bestimmung dabei zumeist verzichtet. Klar scheint nur, wer nicht erwachsen ist: Kinder sind es auf keinen Fall und Jugendliche sind es auch noch nicht und so liegt eine Negativdefinition rasch auf der Hand: Jeder, der nicht mehr Kind oder jugendlich ist, ist erwachsen. Wenn es hingegen um positive Festschreibungen des Erwachsenenstatus geht, macht die Pädagogik gerne Anleihen bei anderen Wissenschaften, vor allem der Medizin und der Rechtswissenschaft, da hier die Grenzen am eindeutigsten definiert sind. Im einen Fall ist es das körperliche Merkmal der Geschlechtsreife, im anderen Fall die Geschäftsfähigund Strafmündigkeit, die als Demarkationslinien für das Erwachsensein benannt werden. Gewiss vollziehen sich auch hier die Reifungsprozesse innerhalb eines Übergangskorridors, aber der ist sehr schmal, klar strukturiert und vor allem: es gibt kein Zurück. Geschlechtsreife und Volljährigkeit sind im Normalfall irreversibel. Hieran orientiert sich auch das
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Erziehungssystem in Form der Schulpflicht, die das Kindsein bürokratisch präzise vom Erwachsensein unterscheidet. Ein weiteres Abgrenzungsmerkmal wird gerne dem philosophischen Diskurs entnommen: An die Kategorie der Verantwortung ist die Erwachsenenbildung schon aufgrund ihrer Verbundenheit mit den Idealen der Aufklärung leicht anschlussfähig gewesen. Kein Wunder, denn das autonome Subjekt stellte für die Erwachsenenbildung doch von jeher eine bequeme Konstruktion dar. Auf diese Zielgruppe hin konnte die Erwachsenenbildung nämlich ein Professionsverständnis hin entwickeln, das seinerseits frei blieb von den Zumutungen der Verantwortungsübernahme. Wer nur noch als Lernhelfer dem selbstbestimmten Subjekt bei seinen Selbstlernprozessen möglichst uncharismatisch ermöglichungsdidaktische Lernangebote macht, ist fein aus dem Schneider: er braucht keine Position zu vertreten, kein empathisches Spannungsgefüge auszuhalten, keine Verantwortung zu übernehmen und seine Verstrickung in das System - v.a. bei Scheiternsprozessen - nicht kritisch zu reflektieren. Eine Zeitlang schien es sogar so, als würde diese Sichtweise noch erkenntnistheoretisch unterfüttert, nämlich durch den radikalen Konstruktivismus und seine Erfindung des autopoietischen Subjekts. Insofern machte es sich die Erwachsenenbildung auch leicht, ihren Hauptgegenstand am liebsten gar nicht zu benennen, sondern möglichst distanziert als Teilnehmer auszuweisen von dem es dann eigentlich nur noch ein kleiner Schritt zum Kunden war. Neben dem grundsätzlichen Unbehagen, das in diesen kurzen polemischen Bemerkungen bereits zum Ausdruck kommt, gibt es aber auch einige erkenntnistheoretische Motive, die über eine eigenständige Definition des Erwachsenen nachdenken lassen: Die Anleihen von Reifeableitungen aus anderen Wissenschaften sind in ihrer Strukturlogik nicht in Gänze überein zubringen mit der erziehungswissenschaftlichen Logik. Aus diesem Grund müssen sie für jeden einzelnen Bezug immer wieder neu legitimiert werden, was langfristig unbefriedigend ist und zwar sowohl für die Theorie als auch für die Praxis. Für die Theorie bedeuten solche Anleihen u.a. dass Möglichkeiten zur eigenständigen Grundlagenforschung verschenkt werden und dass man sich in unnötige Abhängigkeiten von den Diskursen der Bezugswissenschaften begibt. Allgemein-
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pädagogische, sozial- oder berufspädagogische Bildungsangebote, die sich an Erwachsene richten, benötigen aber auch eine eindeutige und explizite Aussage über das Erwachsensein aus pädagogischer Sicht. Dabei müssen folgende Fragen berücksichtigt werden: 1. Gibt es eindeutige Unterschiede zwischen Kindheit und Erwach-
senensein, die eine je andere pädagogische Herangehensweise erfordern? 2. Bedingt die Andersartigkeit des Erwachsenen im Vergleich zu Kindheit und Jugend eigene und spezielle andragogische Analyseinstrumente und Handlungskonzepte? 3. Begründet die Andersartigkeit des Erwachsenen schließlich ein eigenes Professionsverständnis der Erwachsenenbildung? Im Wörterbuch der Erwachsenenbildung – in welchem der Erwachsene ebenfalls nicht explizit definiert wird – moniert Rolf Arnold immerhin, dass der Erwachsenenbildung deutlich ein entwicklungstheoretisches Konzept fehle: „der Entwicklungs- bzw. Individuationsgedanke wird vielmehr überlagert durch ein systemtheoretisches Denken, welches einseitig begriffstheoretisch sowie soziologisch akzentuiert ist. Gearbeitet wird mit Leitdifferenzen (‚Kind’ vs. ‚Erwachsener’), denen allerdings entgeht, dass wir für unser wissenschaftliches Denken neben den Leitdifferenzen auch die Leitintegrationen verstärkt in den Blick nehmen müssen, da die Wirklichkeit sich uns scheinbar nicht allein durch die Unterscheidung des einen vom anderen, sondern auch durch das Fortdauern des einen im anderen konstituiert.“ (Arnold 2010, S. 92)
Die Kritik wäre noch dahingehend zu erweitern, dass es der Erwachsenenbildung bis heute auch nicht gelungen ist, einen eigenen Diskurs ihres Gegenstandes, des Erwachsenen, zu etablieren. Nur so wäre es aber möglich, die Rezeption der Bezugswissenschaften immer auf den eigenen Gegenstand zu beziehen und ihren Bedeutungsgehalt an ihm zu überprüfen, um von diesem ausgehend das Erkenntnispotenzial bezugswissenschaftlicher Beiträge abzuleiten und nicht umgekehrt!
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Die hier vorgelegte Abhandlung will sich deshalb nicht damit begnügen, nur einen Überblick der vielfältigen Definitionsleistungen der Bezugswissenschaften zusammen zu stellen, um daraus die relevanten Aspekte für eine allgemein gültige Definition zu destillieren, sondern auch den Versuch wagen, eine eigene bildungswissenschaftlich kohärente Theorie des Erwachsenseins zu skizzieren. Grundlage hierfür soll das pädagogische Paradigma des Lernens sein, das von einem Menschenbild ausgeht, welches besonders durch die Fähigkeit zum Lernen charakterisiert ist. Für den homo discens gilt: Man wird nicht erwachsen, um dann erwachsen zu sein, denn das Erwachsensein selbst ist ein Zustand des Werdens, also ein Prozess. Auf der Folie der Lernfähigkeit ist das Erwachsensein nicht fixierbar, nicht statisch, sondern ist durch und durch Dynamik, Prozesshaftigkeit, Transformation und damit zugleich optional, zukunftsoffen, Aspiration des Möglichen und dadurch von visionärer Gestaltungskraft. Lebenslanges Lernen ist insofern keine politische Erfindung, sondern anthropologisches Grundmerkmal schlechthin. Das allerdings hat weitreichende Folgen, denn wenn Lernen als menschliche Grundeigenschaft gilt, kann der Lernfähigkeit auch das Potential der Sinnstiftung zugeschrieben werden. Das Verhältnis von Lernfähigkeit und Sinnhaftigkeit ist dann zunächst in der Person als Individuum begründet, die aber stets ein sozialisiertes Individuum ist. Das Spannungsgefüge von Individuum und Gesellschaft ist bereitsallerdings in abstrakter Form – maßgeblich für eine Reihe bildungstheoretischer Ansätze von Humboldt bis Adorno, so dass die Auseinandersetzung damit auch für eine Definition des Erwachsenseins bedeutsam ist. Gleichwohl soll die Lernfähigkeit aber zunächst als besonderes personbezogenes Phänomen erfasst werden, da hierüber auch wichtige Aussagen über die individuelle Genese des Erwachsenen gemacht werden können. Im Gegensatz zu den traditionellen Ansätzen pädagogischanthropolo-gischer Provinienz soll hier nämlich eine Beschreibung des Erwachsenen geleistet werden, die das je Individuelle konstitutiv mit einschließt. Die Kernfrage dieses Buches lautet also: Wer ist der Erwachsene, wie ist er das geworden und was folgt daraus für sein Werden? Aus einem konstruktiven Verständnis heraus ließe sich der Satz natürlich auch
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so formulieren: Wie definieren wir gegenwärtig den Erwachsenen im Gefüge seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seiner Zukunft? Die vorliegende Auseinandersetzung gliedert sich daher in folgende Teile: Zuerst wird in einem historischen Überblick dargelegt, warum der Erwachsenenstatus eine Konstruktion ist und welches historische Bedeutungspotential diesem Konstrukt zukommt. Dabei zeigt sich bereits, dass es falsch ist, den Erwachsenenstatus einfach als gegeben anzunehmen und dass aus einer Untersuchung der Konstruktionsgeschichte auch wichtige Erkenntnisse über die Bewältigungsaufgaben des Erwachsenen abgleitet werden können, die der Erwachsenenbildung ihre Legitimation verschaffen. Im zweiten Teil wird die Pädagogik selber auf ihre Möglichkeiten untersucht, das Konstrukt Erwachsener bildungswissenschaftlich zu definieren. Hierzu wird eine eigene theoretische Position entwickelt und diskutiert: die Theorie der Differenzierung. Dabei wird deutlich werden, welche Rolle die Genese des Erwachsenen für ein professionelles andragogisches Verständnis ihres Hauptgegenstandes spielt und welches Potenzial sich aus einer andragogischen Definition des Erwachsenenstatus ergibt. Ausgehend von der Genese des Erwachsenen werden im dritten Teil schließlich Faktoren abgeleitet, die auch tiefere analytische Aussagen über die Möglichkeiten und Bedingungen des Erwachsenenlernens zulassen. Zunächst werden deshalb die Entwicklungsschritte des Erwachsenen dargestellt, die ein Verständnis über die Kausalitäten von sozialen Erfahrungen und personaler Strukturbildung ermöglichen. In diesem Zusammenhang werden z.B. Befunde der Genetik bezüglich der Bedeutung von Umwelteinflüssen für die Genexpression erläutert. Des Weiteren werden für das Verständnis der Tragweite von sozialen Erfahrungen in der frühen und späten Kindheit auf den Erwachsenenstatus auch Beiträge aus der Hirnforschung, der Bindungstheorie und der Traumaforschung herangezogen und schließlich Verbindungslinien zum Habituskonzept von Bourdieu aufgezeigt. Dabei wird vor allem deutlich werden, dass der Erwachsene sowohl ein Werdender wie auch ein Gewordener ist, dass der Erwachsene näm-
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lich nur verstehbar ist im Horizont seines Gewordenseins aus früher Kindheit, Schul- und Jugendzeit. Ein mittlerweile fast abgenutzter Begriff der Pädagogik, nämlich die Ganzheitlichkeit, wird hier evident: So sehr eine Spezifizierung im Blick auf die Lebensalter als wichtig für zielgruppenorientiertes professionelles Handeln erachtet wird, so sehr geht doch bei der sequentiellen Analyse ein wichtiges Potential verloren, nämlich der grundlegend sinnstiftende Moment von Entwicklung. Im Modus der Sinnstiftung wird die Entwicklungsfähigkeit des Menschen über die Lebensspanne von pragmatischer und fremdbestimmter Zielorientierung befreit und gewinnt für das einzelne Individuum an unmittelbar Bedeutung und motivationaler Potenz. Entwicklung ist dann nämlich nicht fokussiert auf ein im Hinblick auf seine letztbegründete Sinnhaftigkeit stets vakantes Ziel, sondern ist von Beginn an mit Sinn erfüllt, der prinzipiell im Sein des Individuums begründet ist und keiner Legitimierung mehr von außen bedarf. Der Sinn wäre demnach an das Lebendigsein selbst gebunden, also leibgebunden, individuell und zeitlich. Bildung wäre dann der Versuch, diesen Sinn gesellschaftlich kommunizierbar zu machen im Bewusstsein, dass er damit jedoch nicht gesellschaftlich bestimmbar wird. Die abschließende Zusammenfassung plädiert auf dieser Folie auch für eine stärkere intradisziplinäre Auseinandersetzung von der Pädagogik der frühen Kindheit über die Schulpädagogik, die außerschulische und Erwachsenenbildung bis hin zur Geragogik und natürlich der Sozialpädagogik. Führte die Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den Lebensaltern zu einer Intensivierung des Austauschs innerhalb des pädagogischen Diskurses so wären davon sicherlich sehr interessante Befunde zu erwarten. Zumindest nämlich der, dass sich diese Zusammenhänge eben nicht auf die Übergangsproblematik reduzieren lassen, wie dies derzeit bildungspolitischer Mainstream ist, sondern ein komplexes Ganzes darstellen, das auch in bildungspolitischer Hinsicht mehr Komplexität erfordert. Insoweit versteht sich dieses Buch auch als Aufforderung, den Begriff des Lebenslangen Lernens radikal zu denken und von politischem Kalkül zu befreien, dann erst wird er für das Individuum interessant, pädagogisch anspruchsvoll und politisch brisant.
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Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. Max Frisch
Den Erwachsenen scheint es schon immer zu geben, denn seit Adam und Eva stellt er offenbar den Normalfall dar. Zwar spricht Jesus im christlichen Mythos davon, dass man die Kinder zu ihm kommen lasse, aber geschaffen hat Gott den Menschen im Erwachsenenstatus - nach seinem Ebenbild. Der Erwachsene hatte damit schon als fertiges Wesen die Welt betreten, ehe das Kind überhaupt dazu kam. Mit anderen Worten: Der Mensch war zuerst ein Erwachsener und wurde dann zum Kind. Auch Gottvater war zuerst da und ist nicht etwa aus Gottsohn herangewachsen. Die biologische Erfahrung, dass der Erwachsene aus dem Kind erwächst, wird hier mythologisch umgekehrt und so das Kind als Nachkomme definiert. Schon mit dieser Denkweise wird ein Machtverhältnis installiert, denn weil der Mensch zuerst als Erwachsener ist, besitzt er auch die Definitionsmacht darüber, wer Mensch ist. Sind Kinder schon Menschen? - Selbst in modernen Denkweisen sind sie ja noch nicht vollwertig, sie sind noch nicht reif, verantwortungsfähig, stimmberechtigt. Auch Rousseau formuliert in diesem Sinne sein Weltbild in dem er Menschheit und Kindheit unterscheidet: „Die Menschheit hat ihren Platz in der Ordnung der Dinge, die Kindheit ihren Platz in der Ordnung des menschlichen Lebens. Man muss den Mann als Mann und das Kind als Kind betrachten.“ (Rousseau 1962, S. 69) G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
In der Denktradition, dass nur erläuterungsbedürftig sei, was hinzukommt, ist der Erwachsene lange Zeit von Definitionsversuchen verschont geblieben. Aber je stärker die Kindheit zum Gegenstand der Diskussion wurde, desto mehr war von den Abgrenzungsbemühungen auch der Erwachsene betroffen. So wie das Kind einst das Nicht-Erwachsene verkörperte, so wurde der Erwachsenenstatus zunehmend damit beschrieben, dass er alles Nicht-Kindliche zum Ausdruck bringe. In dem der Erwachsene nun nicht mehr gleichzeitig Kind war, wurde ein Mangel definiert. Je mehr es sich ausdifferenzierte, desto mehr stellte damit das neu Hinzugekommene das scheinbar immer schon da Gewesene in Frage. Gegenüber einer zunehmenden Zahl von Beschreibungen darüber, was Kindheit und Jugend alles ist, muss sich auch das Erwachsensein legitimieren. Kindheit und Erwachsensein – davon wird hier ausgegangen – sind Konstrukte. Das Konstrukt ist mehr als nur ein komplexer, wissenschaftlicher Ausdruck, der mit Hilfe von verschiedenen Indikatoren den Gegenstand beschreibt und dabei auch das berücksichtigt, was sich der unmittelbaren Beobachtung entzieht aber theoriegeleitet noch erklärbar ist. Das Konstrukt zeichnet sich hingegen gerade dadurch aus, dass es selbst theoriefähig ist und das bedeutet, dass von ihm eine definitorische Wirkung ausgeht: Es erscheint im Diskurs nicht als Stellvertreter einer Deutung sondern als mit Macht ausgestatteter Inhalt. Hierüber ist er in der Lage auf praktischer Handlungsebene eine folgenreiche Funktion zu entfalten. Die Auseinandersetzung mit der Art und Weise wie der Erwachsene als Konstrukt erscheint, eröffnet Analysemöglichkeiten, Deutungshorizonte aber auch Gestaltungsspielräume. Die unterschiedlichen Sinnzuschreibungen des Erwachsenen sollen deshalb hier nicht einfach zusammengefasst werden zu einer neuen, geschmeidigeren Definition des Erwachsenen, sondern zunächst auch in ihren vielfältigen Funktionswirkungen und -zuschreibungen aufgezeigt werden. Zugleich belegen sie damit auch die Wandelbarkeit der Konstruktion und seine sozialhistorische Bedingtheit. Da das Konstrukt hernach kein Naturprodukt ist, kann es sich dem bewussten Zugriff also nicht entziehen. Die Erkenntnis der Konstruierbarkeit von etwas verleiht deshalb immer auch einen in die Zukunft gerichteten Begriff von seinen Konstruktionsmöglichkeiten.
2.1 Erwachsensein als historische Konstruktion
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Deshalb gilt es, die Konstruktionen des Erwachsenen zu entdecken und bewusst zu machen, nur so kann der pädagogische Umgang mit Erwachsenen sich auf eine reflexive Theoretisierung seines Gegenstandes beziehen, ohne die ein emanzipatorischer Anspruch der professionellen Praxis nicht zu verwirklichen ist. Denn ein reflexives Wissenschaftsverständnis ist im Sinne Bourdieus dadurch gekennzeichnet, dass die Wissenschaft quasi auf sich selbst angewendet wird und die eigenen Verstrickungen, die sich in der Wissenschaftslogik verstecken, bewusst gemacht werden. Der reflexive Umgang richtet ganz gezielt „die eigenen wissenschaftlichen Waffen gegen sich selbst“ um über den Prozess der Bewusstmachung ein höheres Wissenschaftsniveau zu erreichen. (vgl. Bourdieu 1997, Friebertshäuser et.al 2006)
2.1
Erwachsensein als historische Konstruktion Die Kunst ist einem Kinde, die Wissenschaft einem Manne zu vergleichen. Caspar David Friedrich
Obgleich es etwas unbefriedigend anmutet, den Erwachsenen vor allem in Abgrenzung von Kindheit und Jugend zu beschreiben, so wird man in einem ersten Näherungsversuch um diese Arbeit nicht herum kommen. Wollte man nämlich den Erwachsenen etwa im Spiegel von Kunst und Literatur gleich inhaltlich rekonstruieren, so wäre die Gefahr groß, am Ende bloß eine Sozialgeschichte der Kunst vorlegen zu können, in welcher der Erwachsene je nach Zeitströmung zum Beispiel einmal als romantisch und irrational; ein andermal als herrschsüchtig und tyrannisch; und wieder ein andermal als weltoffen, reiselustig und entdeckungsfreundlich beschrieben würde. Insofern erscheint es durchaus sinnvoll entgegen dem Wunsch, den Erwachsenen aus sich heraus zu beschreiben und zu verstehen, zunächst solche Belege zu suchen, die den Erwachsenen abzugrenzen helfen. Auf der Suche nach den ersten Hinweisen einer Abgrenzung des Erwachsenen von etwas anderem ist festzustellen, dass das Kind sprachgeschichtlich
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eine recht späte Erfindung ist. Denn das griechische Wort für Kind, pai ist gleichbedeutend mit Sklave, was jedoch nicht als Indiz für eine Diskriminierung zu sehen ist. Vielmehr lässt sich daraus ableiten, dass die Antike keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen machte. Im griechischen System zwischen Abhängigen und Versorgern hatte das Kind einfach seinen Platz bei den Abhängigen. Da das Verhältnis Herr und Sklave im antiken Griechenland der Selbsterhaltung beider diente, also der gegenseitigen Erhaltung von Herrschendem und Beherrschtem anders als in der modernen Sklaverei, die nur zum Erhalt des Herrschenden dient - hatte es offenbar eine ,vollwertige‘ Stellung unter den anderen Abhängigen. Der Säugling wurde zwar durch Windeln und teilweise durch die Verwendung von begradigenden Hölzern „geformt“, sobald ein Kind jedoch auf den eigenen Füßen stehen konnte, war es ein Mensch in vollem Sinne und sortierte sich dann entsprechend in den Hausstand ein zwischen Frauen und Sklaven, wo es dem Hausherrn unterstand, aber auch von diesem versorgt wurde. Auch das Kind des europäischen Mittelalters durfte sich, sobald es sich selbstständig auf seinen Beinen fortbewegen konnte, unter die Erwachsenen mischen und es existierten keine Schranken oder Tabus zwischen Erwachsenen und Kindern: „Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, d.h. auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit und ihre Spiele.“ (Ariès 1996, S. 46)
Man unterschied im Mittelalter also nicht zwischen einer Welt der Erwachsenen und einer Welt der Kinder, sämtliche Angehörige aller Altersstufen teilten eine Welt oder mit anderen Worten: Kind und Erwachsener waren noch nicht als eigene Konstrukte geschaffen. Ariès sieht den Wendepunkt in der Errichtung des allgemeinen Schulsystems ab dem 15. Jhd., das nun immer mehr die Form einer staatlichen Institution annimmt und im 19. Jahrhundert seine heutige Gestalt quasi vollendet. Kind und Erwachsener sind demnach historische Erfindungen, die bestimmte Funktionen zur Herausbildung von jeweils zeitgemäßen Ge-
2.1 Erwachsensein als historische Konstruktion
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sellschaftsformen erfüllten. Die Konstruktion einer Trennung in Kindheit und Erwachsenenstatus ist nicht unabhängig von einer sich allmählich ausdiffernzierenden Gesellschafts- und Machtstruktur zu begreifen. Deren Zeitpunkt kann etwa ins frühe Mittelalter datiert werden als sich der Ritterstand zu etablieren begann. Da er dem ebenfalls aufstrebenden Bauernstand wirtschaftlich unterlegen war, musste er sich in anderer Hinsicht überlegen zeigen (vgl. Elschenbroich 1977). Mit Bourdieu würde man heute sagen, er musste dem wirtschaftlichen Kapital der Bauern ein eigenes Kapital entgegenstellen. Dies konnte nichts anderes sein, als die Übernahme höfischer Verhaltensweisen und zwar vor allem dort, wo sie wegen der gemeinsam geteilten Praxis eine Unterscheidung offensichtlich machte, nämlich beim Essen, in den Tischmanieren. Dies war also, wie man mit Bourdieu formulieren könnte, die Geburtsstunde des sozialen Kapitals. Mit dem Prozess der Zivilisierung hat sich vorrangig der Soziologe Norbert Elias (1997) tiefgründig beschäftigt. Um die Tragweite dieser „Zivilisierung“ nachzuvollziehen muss man sich die üblichen mittelalterlichen Verhaltensweisen vergegenwärtigen. Essen und Trinken stehen im Mittelalter stark im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, es gibt allerdings noch kein Besteck, man greift mit den Händen in die gemeinsame Schüssel, auch wenn man sich zuvor in die Hand geschneuzt hat, mit leiblichen Geräuschen jedweder Art ist man nicht zurückhaltend, es gibt quasi keine Peinlichkeitsbarrieren. Im Mittelalter erscheinen deshalb seit dem 12./13. Jahrhundert eine Fülle sogenannter Manierschriften, nach denen es z.B. untersagt ist in oder über die Tafel zu spucken oder sich bei Tisch mit den Händen unter das Gewand zu fassen. So verfassen zuerst gelehrte Kleriker lateinische Vorschriften über das richtige Benehmen, mit dem sie sich auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen trachten. Ab dem 13. Jahrhundert sind auch nicht lateinische Zeugnisse von Verhaltensvorschriften aus dem Umkreis der ritterlichhöfischen Gesellschaft nachgewiesen. Im 15. Jahrhundert treten des Weiteren Tischzuchten hinzu, die sich vor allem an das Bürgertum wenden. Es handelt sich dabei häufig um kürzere oder längere Memoriergedichte, da das Auswendiglernen ein wichtiges Konditionierungsinstrument darstellte. Der Standard in diesen Benimmregeln ist noch sehr ele-
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
mentar, elementarer wahrscheinlich noch, als das was heute in ländlichbäuerlichen Kreisen als Sitte und Brauch gilt. Elias verweist darauf, dass sich diese Manierschriften zunächst an Erwachsene und nicht explizit an Kinder richten. Eine Wende markiert demgegenüber die von von Erasmus von Rotterdam verfasste „De civilitate morum puerilium“, die im Jahre 1530 erschien und nun eine neue Zielgruppe fokussiert: Seine Schrift ist einem adeligen Knaben gewidmet und zur Belehrung von Knaben geschrieben und versteht sich schon in der Einleitung als Kunst, junge Menschen zu formen. Elias führt den Erfolg des Büchleins, das Auflage um Auflage erlebte und schließlich sogar als Schulbuch eingeführt wurde, vor allem darauf zurück, dass der Begriff der Zivilisation damit eine neue Zuspitzung und seine Verfestigung im Bewusstsein der Menschen erfuhr und darauf, dass hierin das Bedürfnis und die Notwendigkeit der sich zivilisierenden Gesellschaft symptomatisch zum Ausdruck gebracht wurde. Meiner Meinung nach liegt sein Erfolg aber auch darin begründet, dass es zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem sich die Trennung zwischen Kind und Erwachsenem bereits abzeichnet. Wie sehr es diese mit begünstigt, vorbereitet oder konsolidiert kann hier nicht angemessen untersucht werden, auffallend ist aber doch, wie sehr Erasmus die Benimmregeln nun auf den gesamten Körper bezieht. Die Haltung des Körpers, die Gebärden, die Kleidung, der Gesichtsausdruck bis hin zum Blick werden als äußeres Verhalten interpretiert, in welchem das Innere des ganzen Menschen zum Ausdruck kommt. Elias übersetzt: „Weit aufgerissene Augen sind ein Zeichen von Stupidität, zu starren ein Zeichen von Trägheit, allzu scharf blicken zum Zorn Geneigte, allzu lebhaft und beredt ist der Blick von Schamlosen; zeigt er einen ruhigen Geist und respektvolle Freundlichkeit, das ist das Beste.“ (Erasmus von Rotterdam 1530 zit. n. Elias 1997, S. 160f.)
Damit bereitet Erasmus eine gesellschaftliche Bemächtigung des individuellen Körpers vor, über den sich die Sozialisierung des Erwachsenen aus dem Kind heraus zukünftig speisen wird. Das Aufkommen dieser Benimmregeln zwingt den Erwachsenen also nicht nur dazu, sich sozialisieren, sondern er konstituiert sich geradezu dadurch, in dem er sich nun vom Kind abgrenzt, vom kindlichen Verhal-
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ten nämlich, dass fortan als peinlich degradiert wird. Dies kommt auch in der zunehmenden Reglementierung der persönlichen Reinlichkeit zum Ausdruck: „Gerade am Beispiel der Sauberkeitserziehung lässt sich die historisch entstandene Kluft zwischen erwachsenen Standards der Zurückhaltung von Triebäußerungen und dem kindlichen Spontanverhalten gut erkennen. In dem Maße, wie die Peinlichkeitsschwelle vorrückt, die Angst, durch ihre Übertretung als nicht gesellschaftlich zu gelten, tritt auch in das Verhältnis der Erwachsenen zu Kindern soziale Angst. Der mühsam modellierte gesellschaftliche Verhaltensstandard wird durch das unwillkürliche triebhafte Verhalten des Kindes potentiell immer wieder bedroht.“ (Elschenbroich 1977, S. 116)
Die Erziehung des Kindes dient also der Erzeugung des Erwachsenen und seiner Konstitution, so dass die Ausdifferenzierung der Erziehungspraxis eine immer größere Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen bedingt. Ein Beispiel: Das Taschentuch ist ein Zivilisationsinstrument, das eigens für das Schneuzen erfunden wurde. Der korrekte Gebrauch dieses Luxusgegenstandes gilt als Distinktionsmittel zwischen Erwachsenen und Kindern, aber auch als soziale Waffe gegenüber sozial Niedrigstehenden. Elschenbroch zitiert aus einer anonymen Benimmschrift, die den Gebrauch dieses Abgrenzungsmediums genau so beschreibt, dass man sich nämlich nicht wie die Kinder mit den Fingern oder dem Ärmel, sondern ins Taschentuch schneuzen solle. Auch das Rülpsen gehört in diesen Zusammenhang, der kindlichen Triebregulierung: „Die soziale Diskriminierung bei gleichzeitiger Konzession an die ,Infantilität‘ kommt noch heute im Begriff ,Bäuerchen‘ zum Ausdruck“ (Elschenbroich 1977, S. 116). Die zunächst bemühten Begründungen für die Einhaltung der Benimmregeln verschärfen die Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen zunehmend. Das kindliche Verhalten gilt nun mehr und mehr als peinlich und in den Manierschriften wird der neue Verhaltenskodex mit Rücksicht darauf, ,was die anderen denken könnten‘ motiviert. Damit gelingt es bestimmte Verhaltensweisen mit Scham zu besetzen und so ein subtiles wie effektives Mittel zur Selbstkontrolle zu etablieren, welches vom äußeren Zwang befreit scheint.
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Der Prozess der Zivilisierung fällt schließlich zusammen mit der Entdeckung des Verstandes, folglich werden auch die Manieren rationalisiert: Aus hygienischen Gründen wird dem Kind nun nahe gelegt, dass es nicht in der Nase bohren soll und der Umgang mit dem eigenen Sekret wird zunehmend mit Ekel in Verbindung gebracht. Damit verändert sich das Verhältnis der Körper: Nacktheit wird als beschämend empfunden, das Berühren von fremden Körpern wird mit Unbehagen belegt, selbst körperliche Berührungen zwischen Kindern und Erwachsenen werden hinfort problematisiert. Man teilt keine Betten mehr mit Fremden und bald auch nicht mehr mit den eigenen Kindern: „Im Zuge der Herausbildung des Typus ‚Erwachsener‘ wird die Unbefangenheit zunehmend blockiert, mit der körperliche Bedürfnisse vor den Augen anderer artikuliert werden. Dadurch entsteht für die Kinder ein Sonderstatus, ein Zwischenfeld, dessen Bestimmung für die Erwachsenen prekär bleibt: ist das Kind Beobachter, dem gegenüber dieselben Rücksichten genommen werden müssen, wie gegenüber Erwachsenen?“ (Elschenbroich 1977, S. 119)
Die Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen wird sich im historischen Verlauf noch einmal entscheidend vergrößern durch den Einfluss des Onanieverbots und der Antimasturbationspädagogik. Das Kind wird nun sogar als Spion empfunden, seine Neugier mit Angst und Feindseligkeit abgewehrt. Die Spaltung des Menschen in Kindheit und Erwachsenenstatus erscheint aus dieser Perspektive jedenfalls nicht unproblematisch, sondern erweist sich im Sinne Foucaults vor allem als Mittel zur Gestaltung und Etablierung eines sehr wirksamen Machtdiskurses. Dem stehen eine Reihe von pädagogischen und entwicklungspsychologischen Äußerungen gegenüber, die die Unterscheidung von Erwachsensein und Kindsein relativ unkritisch als fortschrittliche, humane Entdeckung der Kindheit bewerten, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen endlich legitimieren half. So werden z.B. von Fend die Kinderdarstellungen des 18. Jahrhunderts in denen bürgerliche oder adelige Kinder als kleine Er-
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wachsene abgebildet sind1, als Beleg einer seinerzeit nur defizitären Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebensalter und ihrer je spezifischen Bedürfnisse verwendet: „Erst die Entdeckung einer qualitativ unterschiedlichen Körpergestalt und - noch wichtiger - einer qualitativ unterschiedlichen ,Seelengestalt‘ konnte den Weg bereiten, Besonderheiten eines Lebensalters systematisch zu erforschen und die Pädagogik auf diese eigenständige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen abzustimmen.“ (Fend 2003, S. 39)
Das Unterscheiden von juvenilen und adulten Lebensphasen hat es aber auch ermöglicht, die Gesellschaft nach Alterszugehörigkeit einzuteilen und dann in den jeweiligen Altersgruppen in unterschiedlicher Weise Bedürfnisse, Rechte und Pflichten zu verteilen, ihnen ökonomische und soziale Teilhabe unterschiedlich zuzugestehen und somit eine generationale Ordnung herzustellen. Mit dieser Ordnung ist die Kategorisierung der Gesellschaftsmitglieder nach Alter keineswegs nur ein unverdächtiges Abbild natürlicher Unterschiede, sondern ist auch als gesellschaftliche Konstruktion einer „natürlichen“ Wahrheit zu sehen. Denn die quasinatürlich begründete Ungleichheit, die mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit fundamental verknüpft ist, trägt in erheblichem Maß dazu bei, dass die sozialen Ungleichheiten über ihren Naturverweis eine sehr machtvolle Legitimation erfahren (vgl. Bühler-Niederberger 2005). Auffallend ist in jedem Fall, dass die Entdeckung der Kindheit als eigener, besonderer Lebensphase ja gerade nicht zu einer humanen Schutzhandlung geführt hat, sondern dass vielmehr unter dem Deckmantel derselben zunächst ein ausgesprochen rigides Erziehungssystem installiert wurde. Dabei wurde die Zurichtung des Zöglings durch pädagogische Maßnahmen stets so dargestellt, als es gelte es bloß mit Hilfe von 1
Ritzmann (2008, S. 39) weißt zwar darauf hin, dass es neben den bürgerlichen Darstellungen von Kindern als kleinen Erwachsenen auch „richtig“ proportionierte Kinderdarstellungen z.B. in familiären oder dörflichen Darstellungen v.a. der niederländischen Maler gegeben habe. Dies ist aber kein Widerspruch sondern belegt eigentlich eher die These Elschenbroichs (1977), dass das Infantile nun zunehmend mit dem sozial Schwachen gleichgesetzt wird. Folgerichtig, wird das sozial höher gestellte Kind als Erwachsener abgebildet und das sozial niedrigere Kind als Infant.
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
wohlfeilen Erziehungsmethoden dem unfertigen Kind zu seiner Vollendung im Erwachsenenstatus zu helfen. Womit jedoch verschleiert wurde, dass das eigentliche Ziel der Zurichtungshandlung vor allem der zugerichtete Erwachsene war, dem mit der Zurichtung zugleich auch noch die Kritikfähigkeit an der selben abhanden kommen sollte, so dass ihm das eigene Sein als normal und nicht mehr als zugerichtet erschien. Eine Rekonstruktionsmöglichkeit kann deshalb nur darin gesehen werden, die Deutung des Erwachsenen auch aus diesem Erziehungsprozess heraus zu destillieren. Also aus der Frage: Welches Bild des Erwachsenen bedurfte überhaupt eines solchen Erziehungsverfahrens? Dabei zeigt es sich, dass die Geschichte der Schule eben nicht einfach als Ablauffolge einer Fortschrittsdynamik zu lesen ist, die sich von der schwarzen allmählich auf der Basis eines Erkenntniszuwachses zu der gegenwärtig proklamierten professionellen Pädagogik entwickelte, sondern dass sie immer schon eine gesellschaftskonforme Abrichtungsinstitution war, die mit den jeweiligen Pädagogiken ihre gesellschaftliche Funktion angemessen erfüllte. Dementsprechend erfährt die Schule gerade dann ihren entscheidenden Verbreitungsschub, als es gilt, massenhaft industriefähige Menschen gemäß den Bedürfnissen der entstehenden Industriegesellschaft zu formen. Die Schulgründungen des Priesters und Pädagogen Jean Baptiste de La Salle in Frankreich z.B. erscheinen aus dieser Sicht keinesfalls nur als humane Geste. Er selbst bezeugt dies mit den Worten: „Es ist eine Praxis, die nur zu verbreitet ist, dass die Handwerker und armen Leute ihre Kinder in Freiheit aufwachsen lassen, sie streunen überall umher, solange die Eltern sie zu keinem Beruf brauchen können, da die Eltern auch keine Sorge tragen, sie zur Schule zu schicken (...) Die Folgen sind äußerst ärgerlich; denn diese armen Kinder, die während Jahre daran gewöhnt waren, ein Leben des Müßiggangs zu führen, haben viel Mühe, sich an die Arbeit zu gewöhnen.“ (de la Salle 1730, zit. n. Bühler-Niederberger 2005)
Zwar mussten auch Bauern und Handwerker der vorindustriellen Zeit bereit zur Unterwerfung sein und akzeptieren, dass sie einen Teil ihrer Arbeitsleistung zum Dienst und zur Bereicherung eines anderen zu leisten
2.1 Erwachsensein als historische Konstruktion
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hatten, der Erwachsene des Industriezeitalters zeichnet sich darüber hinaus aber doch durch ein Höchstmaß an Ausbeutungsfähigkeit aus. Dementsprechend war er bereit, nicht nur viele Stunden am Tag unter mehr als misslichen Bedingungen eine körperlich schwere und überdies völlig entfremdete Arbeit zu verrichten, er tat dies auch quasi freiwillig und mit einer außerordentlichen Selbstdisziplin. Denn während der Handwerker und der Bauer z.B. in ihrem Umgang mit Zeit noch relativ frei waren, musste der Arbeiter an starre Zeitvorgaben erst gewöhnt werden, da die Arbeit in den Fabriken ein gleichzeitiges und pünktliches Arbeiten erforderte. Genau solche Formen der Disziplin konnten offenbar nicht mehr in der bisherigen Sozialisation einer im Hinblick auf ihre Zeitgestaltung freien Kindheit erworben werden, sie bedurften nun der Disziplinierung durch die Schule. Der Blick auf das Kind, dass sich vom Erwachsenen unterscheidet, weil es noch kein angemessenes Zeitempfinden habe, weil es seine Körperfunktionen noch nicht unter voller Kontrolle habe und weil es noch nicht leistungsfähig sei, macht aus den Zurichtungsleistungen der Institutionen des Erziehungssystems Attributionen des Erwachsenen, die dann als normal gesetzt werden und sich damit der Kritikfähigkeit entziehen. Insbesondere die Leistungsfähigkeit des Erwachsenen und sein Leistungsstreben aber werden intensiv durch die moderne Schule in den Schüler implantiert. Erst die Schulen der Reformation erfanden die subtile Disziplinierung vermittels von Leistungsvergleichen. Den Vergleich nach Klassen und Fähigkeiten kannten die mittelalterlichen Schulen nämlich noch nicht (vgl. Bühler-Niederberger 2005). Die Trennung von Kindheit und Schule auf der einen sowie Erwachsensein und Arbeitsleben auf der anderen Seite erscheint zwar einem humanen Anspruch zu folgen, kann aber bei genauerem Hinsehen genau so gut als massentaugliches Instrumentarium von Zurichtung und Ausbeutung entlarvt werden. Ariès kritisiert dementsprechend an der Schulentwicklung: „Damit beginnt ein langer Prozess der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stillstand kommen sollte und den man als Verschulung (scolarisation) bezeichnen könnte.“ (Ariès 1996, S. 48)
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
Zusammenfassend erscheint es nun so, dass es historisch betrachtet offenbar immer Kinder gegeben hat, aber dass sie einfach als kleine Menschen wahrgenommen wurden und keine unterschiedlichen Formen eines adulten versus eines infantilen Habitus existierten. Infolge sozialer Differenzierungen konstituiert sich im frühen Mittelalter zunächst der Erwachsene, der sich im weiteren mit Hilfe von Abgrenzungsansprüchen gegen das Kindliche konsolidiert. Um es in Foucaultscher Denkweise auszudrücken wird damit ein Machdiskurs in Gang gesetzt, der ausgesprochen erfolgreich ist und eine Eigendynamik entfaltet, in dessen Verlauf Erwachsenenstatus und Kindheit immer weiter ausdifferenziert und damit die Machtposition des Erwachsenen zuungunsten der von Kindern und Jugendlichen konsolidiert und weiter ausgebaut wird.
2.2
2.2.1
Erwachsensein als moderne Konstruktion
Die Kategorie der Reife Da er nun erwachsen war, nahm er ein Weib Tobias 1,9
Ein Attribut, das bei der Konstruktion des Erwachsenen besonders herausragt und auch besonders dazu geeignet ist, um sie als natürlich erscheinen zu lassen, ist die Reife. Die von der Fortpflanzungsfähigkeit abgeleitete Geschlechtsreife kann sogar als ältestes Unterscheidungsmerkmal zwischen dem juvenilen und dem adulten Lebensabschnitt gelten. In der Regel wird von Geschlechtsreife dann gesprochen werden, wenn bei Mädchen die Menstruation einsetzt und bei Jungen der erste Erguss mit zeugungsfähigen Samen erfolgt. Sowie es aber auch anfängliche Ejakulationen ohne reife Spermatozoen gibt, so ist auch die Menarche – die erste Menstruation – noch kein sicheres Anzeichen der Empfängnisfähigkeit, weil die ersten Monatsblutungen noch häufig ohne Ovulation vonstatten gehen. Während die Menarche bereits sehr früh als si-
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
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cheres Kennzeichen der geschlechtlichen Reife verwendet wurde, wurde bei Jungen vielfach der erste sprießende Bartwuchs als entscheidendes Merkmal der Reife interpretiert. Dementsprechend wurden in Sparta die intimen Kontakte der Männer zu den spartanischen Knaben unmittelbar abgebrochen, sobald das erste Barthaar sichtbar wurde. Wilcke (1985) zeigt auf, dass auch in altbabylonischen Schriften ein Zusammenhang zwischen den Begriffen des „Großwerdens“ oder „zum Manne werdens“ mit dem Beginn des Bartwuchses, der Geschlechtsreife und dann auch mit dem Heiraten besteht. Auf das Merkmal des Bartwuchses mag man wohl zurückgegriffen haben, weil es auch öffentlich sichtbar war, im Gegensatz zur Schambehaarung. In der europäischen Medizin des 18. Jhds. etwa galt das sprießende Schamhaar als sicheres Erkennungsmerkmal der beginnenden Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit: „Da eine Beurteilung des Schamhaars jedoch eine Besichtigung der ,geheimen Theile‘ verlangt, ,würde man die Erbarkeit sehr beleidigen, wann man solche zulassen wolte‘. Die Anständigkeit erfordere es daher, dass man auf andere Kriterien achte und die einheitliche Regelung beibehalte“ nach der die Geschlechtsreife gemäß den medizinische Angaben mehrheitlich auf das 14. Lebensjahr datiert wurde (Ritzmann 2008, S. 43f.). Dabei gilt die Geschlechtsreife zugleich als Demarkationslinie der mentalen Reife, die z.B. in der Mündigkeit, der Heiratsfähigkeit sowie der Teilhabefähigkeit an gesellschaftlichen und religiösen Praxen zum Ausdruck kommt. In fast allen Kulturen lässt sich ein derartiger Zusammenhang zwischen dem Eintritt der Geschlechtsreife und einem sozialen Statuswechsel nachweisen, so beschreibt Telemachos diesen Übergang in Homers Odysee mit folgenden Worten: „Doch da ich jetzt groß bin und die Rede der anderen verstehe, wenn ich sie höre, und schon im Inneren mir der Mut wächst“ und zeigt damit auf, wie sehr bereits bei den Griechen körperliche und geistige Reife als koinzident angesehen wurden (vgl. Zoepffel 1985). Mit der Geschlechtsreife gehört man nach Telemachos Worten zu den Erwachsenen, weil man sie nun versteht, mitreden und mithandeln kann. Fraglos stellt die Geschlechtsreife neben Geburt und Tod das einschneidendste Entwicklungsereignis im individuellen Lebenslauf dar und zwar sowohl in biologischer wie auch in sozialer Hinsicht. Dabei lässt die kulturelle Regelung eines durch biotische Tatsachen initi-
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
ierten Entwicklungsbereichs leicht den Eindruck entstehen, dass das Biotische hier auch das Entscheidende sei. Müller vertritt demgegenüber jedoch einen kulturanthropologischen Ansatz, bei dem er die Grundthese vertritt, „dass der Mensch alle natürlich gegebenen Daten durch kulturspezifische Interpretation neu gestaltet und nicht in einer natürlichen, sondern einer kulturell bestimmten Umwelt lebt, so dass ihm eigentlich nichts materialiter direkt gegeben ist, was nicht durch Definition und Normierung kulturell erlebt wird.“. (Müller 1995, S. 14)
Müller verdeutlicht dies daran, wie sich Zeugungsfähigkeit und die Legitimation der Zeugung zueinander verhalten. Der Zeitpunkt der Legitimation differiert schon allein vom Alter her in den unterschiedlichen Kulturen, ist mit jeweils ganz verschiedenen Ritualen verbunden und hängt eng mit der sozialen Stellung zusammen, die jungen Menschen zugestanden wird. Mit Hilfe der Legitimation kann der Erwachsenenstatus nämlich ganz ins Belieben der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse gestellt werden. Ein Blick in die Historie zeigt, dass die Erlaubnis zur Zeugung bei den Männern mit einer Vielzahl von anderen Rechtszuweisungen und mit der allgemeinen wirtschaftlichen und machtmäßigen Struktur der Gesellschaft sehr wirkungsvoll verbunden ist. Im alten Australien gründete die Gesellschaft auf einer Subsistenzbasis ohne Akkumulation von materiellem Besitz. Demzufolge war es den Männern nur möglich, ihre Herrschaftsansprüche über den Besitz von Frauen auszuüben. Da sich die numerische Relation von Frauen zu Männern aber nicht biotisch verändern lässt, wurden die jüngeren Männer einfach von der Legitimation und damit von dem Besitzanspruch an Frauen ausgeschlossen. Erst zwanzig bis dreißig Jahre nach der Geschlechtsreife erhielten sie schließlich den Status der Zeugungslegitimation und damit das Recht ihre Herrschaftsansprüche über den Besitz mehrerer Frauen auszuagieren. Das heißt auch, dass man ihnen erst nach dieser Zeit den Status des Erwachsenen vollständig zubilligte. Diese Verzögerung bedeutete nämlich nicht nur eine Behinderung des freien Zugangs zu Sexualpartnern, sondern stellte gleichzeitig eine erhebliche ökonomische und allgemein rechtliche Schlechterstellung dar (vgl. Müller 1995, S. 13).
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
29
Die Aufnahme in die Erwachsenenwelt war sehr häufig mit bestimmten rituellen Handlungen oder Initiationsriten verbunden. So verknüpfte man im Alten Rom den Pubertätsritus mit einem Namenwechsel und mit einem Haaropfer sowie mit dem Anlegen der Männertoga. Zumindest das Haaropfer lässt sich auch bei den Griechen zurückverfolgen. Auch hier übrigens wird nicht selten ein Bezug zu den Barthaaren hergestellt, so wurden bei der desposito barbae die ersten Barthaare einem Gott geweiht. Im konfuzianischen China gab es für die heranwachsenden jungen Männer Bekappungszeremonien, später sogenannte Großjährigkeitsfeiern. Vor allem im Judentum ist die Beschneidungsfeier, die Bar Mizwah, auch heute noch das zentrale Transformationsritual vom Kind zum Erwachsenen. Mit der Beschneidung, die religionsrechtlich für das 13. Jahr vorgeschrieben wird, tritt der Knabe in die Rechte und Pflichten des Erwachsenen ein und gilt ab dann als Erwachsener. Erstmals darf er nun in der Gemeindeöffentlichkeit aus dem Buch der Propheten vorlesen (vgl. Wulf et al. 2004). Jugendweihe, Firmung oder Konfirmation sind heute noch übliche Reste dieser Initiationsriten. Dass ein Großteil der Pubertätsriten im wesentlichen solche sind, die sich auf die Jungen beziehen, liegt auf der Hand. Zwar wurden auch Frauen mit der Geschlechtsreife „erwachsen“, aber das bedeutete in den allermeisten Fällen, nur dass sie verheiratungsfähig wurden, nicht aber, dass sie auch in rechtlicher Sicht einem Erwachsenen gleichgestellt wurden. Insofern stellte die Geschlechtsreife für sie sogar eine sehr folgenreiche soziale Zäsur dar, die rasch in Heirat und Mutterschaft mündete. Das Hochzeitsritual gilt deshalb in vielen Kulturen als das zentrale weibliche Pubertätsritual, was auch heute noch in der besonderen Ausstattung der Braut in Form des Hochzeitskleides und einer besonders festlichen Frisur zum Ausdruck kommt. Sofern den Frauen damit prinzipiell ein ähnlicher Mündigkeitsstatus zugesprochen wurde, war dieser eher theoretischer Natur, denn faktisch unterlagen sie der Vormundschaft ihrer Männer und falls diese starben ihrer Brüder. Insgesamt wird das Attribut des Erwachsenseins den Frauen nicht wirklich vollständig zugesprochen. Dementsprechend werden sie auch im Gegensatz zu den Männern durchaus häufig schon vor dem Eintritt der Geschlechtsreife verheiratet, während die Heirat eines Knaben aufgrund der engen Verbindung von Geschlechtsrei-
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
fe und machtbesetzter Mündigkeit quasi obsolet war. Obgleich also auch für die Mädchen in der Antike das 14. Jahr als biologisches Transformationsdatum gilt, bestimmte die gesetzliche Regelung ihre Heiratsfähigkeit schon auf das vollendete 12. Lebensjahr, wobei sogar frühere Hochzeiten zu verzeichnen sind: Octavia, die Gattin des Nero, war bei ihrer Heirat 11 und Agrippina, seine Mutter, bei ihrer Heirat 12 Jahre alt (vgl. Eyben 1995). Auffallend ist, dass das Hochzeitsalter und die damit zusammenhängenden erwachsenen Attribuierungen immer auch davon abhängig ist, wie sehr der männliche Herrschaftsanspruch ausgeprägt ist und wie stark er sich (evtl. mangels anderer Möglichkeiten) auf die Frauen bezieht. Dies deutet auf ein weiteres Merkmal des Erwachsenen hin, er ist zumindest in historischer Hinsicht: geschlechtsreif und damit mündig, geschäftsfähig, herrschaftsfähig und – männlich! Es sei nicht nur der Vollständigkeit daran erinnert, dass, wenn man Erwachsensein als eine Konnotation von Mündigkeit begreift, Frauen auch heute noch auf eine recht kurze Zeit des Erwachsenseins zurückblicken und ihr Recht am Erwachsenenstatus erst im vergangenen Jahrhundert eine entscheidende Entwicklung genommen hat. 1919 galten Frauen zwar in wahlrechtlicher Hinsicht als erwachsen aber noch lange nicht in privatwirtschaftlicher: Noch 1958 hieß es in § 1356 des Gleichberechtigungsgesetz des BGB: „Sie [die Frau] ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Selbstverständlich wurde auch nach einer Heirat das gesamte Vermögen der Frau „der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen“. Und noch Ende der 60er Jahre durften Frauen ohne Zustimmung des Ehemanns kein eigenes Konto eröffnen.
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
2.2.2
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Die Kategorie der Mündigkeit Die Erkenntnis tat weh, und er durchlebte eine jener Erfahrungen, die so typisch für die frühe Erwachsenzeit sind. Er musste feststellen, dass neue Maßstäbe galten und er es vorzog, nach ihnen beurteilt zu werden. Seitdem hatte Edward um jede Schlägerei einen Bogen gemacht. Ian McEwan
Die Geschlechtsreife ist also nicht losgelöst von der Legitimation zur Zeugung zu betrachten, in ihrer Koppelung erscheinen sie in den unterschiedlichsten Kulturen als das zentrale Mündigkeitsdatum. So beispielsweise in den Rechtswerken des Islam, die vom 9. Jahrhundert an in systematischer Form vorliegen, nach welchen der Heranwachsende zu diesem Zeitpunkt nicht nur ehefähig, sondern auch schuld- und straffähig, religionsmündig und in unterschiedlichen Varianten geschäftsfähig wird (vgl. Motzki 1995). Auch im griechisch-römischen Altertum und im frühen Christentum erreicht der Knabe mit der Geschlechtsfähigkeit die Volljährigkeit, d.h. er wird voll handlungsfähig im Sinne von geschäftsund deliktfähig. Die bestehende Vormundschaft ist beendet und er kann eine legale Ehe schließen und wenn er nicht vom Vater abhängig ist, erlangt er die vollständige Herrschaft über sein Vermögen. Ebenso kann er Schulden aufnehmen, selbständig Eigentum erwerben, eine Erbschaft machen oder ein Testament erstellen. Schon sehr früh, spätestens seit dem 2. Jahrhundert, gilt zumindest bei der Testamentserrichtung das reine Altersprinzip, was wahrscheinlich auf die Schwierigkeiten der inspectio corporis beim Verstorbenen zurückzuführen ist (vgl. Eyben 1995). Für die Unterscheidung zwischen Kindheit und Erwachsensein ist der strafrechtliche Umgang sehr bedeutsam, weil in diesem Zusammenhang die Frage nach der Strafmündigkeit entfaltet wird. Ursprünglich führte erst die Geschlechtsreife auch in strafrechtlicher Hinsicht zu völliger Deliktfähigkeit. Im Gegensatz zum Erwachsenen (pubes) wurde der impubes im römischen Recht milder bestraft, auch konnte er nicht zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Die mangelnde Altersreife wurde im frühen klassischen Recht bei der Strafbestimmung in Rechnung
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
gesetzt, insofern waren die infantes völlig deliktunfähig während die impuberes infantia maiores schon für weit mehr Delikte hafteten, jedoch nicht für den Betrug, weil man sie hierfür noch nicht für fähig hielt (vgl. Eyben 1995). Inwieweit es sich in der strafrechtlichen Gesetzgebung tatsächlich um eine humane Schutzfunktion handelte oder um die Notwendigkeit einer kohärent-logischen Konstruktion der juristischen Person sei dahingestellt. Vor zu schnellen Unterstellungen einer Schutzfunktion sei aber gewarnt, da die frühen juristischen Regelwerke insgesamt als wenig human erscheinen. So genossen die Kinder im Alten China zwar das Privileg, dass jeder Richter zu ihrer Verurteilung drei Zeugen bedurfte und auch für die 10 schimpflichen Delikte gab es für Kinder bis 15 Jahren Sonderregelungen, allerdings wurde ein Vater, der ein solches Delikt begangen hatte zusammen mit seinen erwachsenen Söhnen hingerichtet und die Mutter mit den minderjährigen Kindern als Sklaven verkauft. (vgl. Linck-Kestin 1995). Auffallend ist jedenfalls, dass man auch im Strafrecht von reifeabhängigen Mündigkeitsdaten ausgeht und dass hierbei recht früh auf eine Festlegung von einheitlichen Altersgrenzen gedrängt wird. Ebenso ist es bemerkenswert, dass sich diese Daten ebenfalls weitgehend auf das 13. bis 15. Lebensjahr beziehen, dass es hierbei zunehmend zu Differenzierungen kommt und dass auch heute noch das 14. Jahr die entscheidende Schwelle für das Erwachsenwerden darstellt. So wird auch nach dem deutschen Gesetz die Strafmündigkeit für das vollendete 14. Lebensjahr angenommen, in § 19 des Strafgesetzbuches (StGB) heißt es dazu: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist“. Strafmündigkeit beschreibt nach heutiger Auffassung das Erreichen eines Alters sowie eines Reifezustandes, ab dem einem Menschen vom Gesetzgeber her zugetraut werden kann, die Folgen seiner Handlungen im Hinblick auf ihr Schadenspotenzial für einen anderen so zu überblicken, dass ihm eine Bewusstheit bei seinen Handlungen unterstellt und ihm die volle Verantwortung zur Last gelegt werden kann. Infolge eines sehr komplexen Normenkatalogs geht dieses Einsichtsvermögen über ein schlicht kausales Schuldverständnis aber weit hinaus. Vielmehr wird ein Bewusstsein für Recht und Unrecht, proklamiert, dass die Ausbildung eines ethischen Wertesystems voraus setzt, welches es dem Jugendlichen
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ermöglicht, zugleich die den Rechtsgeboten zugrundeliegenden sittlichen Postulate mitzuvollziehen. Nach der heutigen Gesetzesauffassung kommt es dabei auf die Einsicht in das materielle Unrecht der Tat an. Aus dem Jugendgesetzbuch können deshalb wichtige Hinweise darauf abgeleitet werden, welches Erwachsenenkonstrukt dem heutigen Rechtssystem zugrundeliegt. In § 3 des JGG kommt es bei der Schuldfähigkeit darauf an, ob jemand in der Lage ist das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. (vgl. Schaffstein&Beulke 1991): „Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.“ (§ 3 JGG)
Interessant ist nun im Hinblick auf die Konstruktion des Erwachsenen, dass im juristischen Diskurs die Einsichtsfähigkeit von der Handlungsfähigkeit unterschieden wird. Auch wenn ein Jugendlicher imstande ist, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, kann es sein, dass der Stand seiner charakterlichen Reife es noch nicht zu lässt, dass sich diese Erkenntnis im Kampf der Motive auch als das sein Verhalten bestimmende Gegenmotiv durchsetzt. Juristen gehen davon aus, dass gerade die Handlungen Jugendlicher oftmals auf einer emotionalen Spontaneität beruhen, die diese noch nicht voll unter Kontrolle haben und mithin der Tatendrang gegenüber der verstandesmäßigen Erkenntnis übermächtig werden kann. Insofern ist ein Jugendlicher auch dann nicht schuldfähig, wenn er zwar die Einsicht in das Unrecht der Tat hatte, aber, aus näher auszuführenden Gründen, (noch) nicht in der Lage war dementsprechend zu handeln. Ein Grundschulkind wird zwar aufgrund des allgemein verbreiteten Normenkodex schon die Einsicht haben, dass es verboten ist Gummibärchen zu stehlen, es wird aber vielleicht von seinem Begehren darauf so stark beeinflusst sein, dass es diese Einsicht eben nicht zur Grundlage seines Handelns macht, sondern dem Begehren nachgibt und zum Dieb wird. Insofern ist der Erwachsene offenbar dadurch gekennzeichnet, dass er genau dies kann: die Einsicht in das Unrecht einer Tat erkennen, was die
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
Erkennbarkeit der Folgen auch auf einer abstrakten Ebene voraussetzt und die Willensbildungsfähigkeit seine Handlungen auf dieser Basis und gegebenenfalls entgegen anderer Motive im Sinne des Strafgesetzbuches zu steuern. (vgl. Schepker&Toker 2007) Die juristisch definierte Mündigkeit des Erwachsenen setzt sich demnach aus diesen zwei Reifegraden zusammen: Einsichtsreife und Steuerungsreife. Für die weitere Beschreibung des Erwachsenen ist aber auch der Hinweis bedeutsam, wie diese Reifegrade denn erworben werden. Das Reifekriterium wird in diesem Zusammenhang überwiegend im Sinne einer “sozialen Reife” interpretiert, womit gemeint ist, dass der Jugendliche das Unrecht vor allem aus der Sozialbindung begreifen und um dieser Sozialbindung willen sein Handeln rechtmäßig gestalten soll. Er soll sich als Mitglied der Gemeinschaft verstehen, das mit seinen Bedürfnissen denen anderer Individuen gegenübersteht, und den Geboten und Verboten aus einer zumindest ansatzweise beginnenden Überzeugung von deren Ernst und Notwendigkeit zur Ermöglichung des mitmenschlichen Zusammenlebens innerlich zustimmen. (vgl. Peters 1967) Die Voraussetzungen der modernen Strafmündigkeit sind also nicht nur intellektueller sondern auch sozialiter Natur, so dass sich insgesamt die Sichtweise ergibt, dass der strafrechtsmündige Erwachsene sowohl in geistiger wie auch in sittlicher Hinsicht einen Reifegrad besitzt, der ihn auch gegen anders motivierte Widerstände handlungsfähig macht2. Die gegenwärtigen juristischen Regelwerke knüpfen demnach zwar noch an die biologistisch begründete Reifedefinition von 14 Jahren an, verorten sie aber in einem weitgehend kulturalistischen Verständnis als sozialisationsbedingt. Insofern unterliegt die Strafmündigkeit stärker kulturellen Unterschieden, als dies weitläufig angenommen wird, denn in ihr kommt auch das über Sozialisationsprozesse erworbene kulturabhängige Wertebewußtsein zum Ausdruck. Nur auf dieser Folie kann die verletzte Norm für jemanden überhaupt Realitätswert erhalten. Summa sumarum ist die 2
Im Normalfall gilt der Erwachsene deshalb als prinzipiell voll schuldfähig, es sei denn ihm kann aufgrund des § 20 StGB (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) abgeholfen werden: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
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Vorstellung des in juristischem Sinne Erwachsenen dementsprechend so zu erweitern, dass es sich beim Erwachsenen um eine sozialisierte Person handelt, die durch diese Sozialisation die nötigen Grade der Einsichtsund Handlungsreife gewonnen hat, die ihr ein Zusammenleben ermöglichen. Womit zugleich vorausgesetzt wird, dass der Mensch so weit sozialisationsfähig und sozialisationsbedürftig ist, dass daraus auch die Grundlagen einer sozialorientierten Strafrechtsgebung abgeleitet werden können. Aus diesem Sozialisierungsparadigma folgt notwendigerweise die Annahme einer stufenweisen Entwicklung der Strafmündigkeit, die der allmählichen Einsozialisierung Rechnung trägt und gerade nicht das zeitlich scheinbar sehr rasche Umschlagen in die Geschlechtsreife zum Maßstab der Reife macht. Den wohl aufgrund ihrer Medienwirksamkeit häufig verlautbarten Forderungen nach einer Abschaffung des §3 JGG und einer Verschärfung des Strafrechts durch eine Ausweitung des Anwendungsbereiches auf Jugendliche steht deshalb doch eine sehr differenzierte juristische Diskussion gegenüber, die mit guten Gründen sogar eher in die andere Richtung tendiert. Demnach scheint eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes auch insoweit nicht vertretbar, als nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass neben den Fällen des § 20 StGB nicht auch noch besondere Reifeverzögerungen oder typische Situationen vorkommen, denen Jugendliche normalerweise nicht gewachsen sind. Zwar mag es bei der Einfachheit der meisten von Jugendlichen typischerweise verletzten strafrechtlichen Normen eher die Ausnahme denn die Regel sein, dass ein Vierzehnjähriger das Unrecht seiner Tat nicht einzusehen vermag. Unter dem Gesichtspunkt, dass namentlich die Pubertätsphase ,Sonderbedingungen des Handelns‘ schafft, denen auch im Rahmen des Strafrechts angemessen zu begegnen ist, bleibt dann aber immer noch der Einwand, dass im konkreten Fall das Steuerungsvermögen gerade bedingt durch jugendspezifische Umstände fehlen kann. Mehr noch: Das Jugendstrafrecht als Sonderstrafrecht für junge Beschuldigte findet seinen Grund in den Besonderheiten der jugendlichen Sozialisationsprozesse. Einige Juristen gehen sogar davon aus, dass Straftaten bis zu einem gewissen Grad sogar Ausdruck der (im Prinzip not-
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wendigen) Abgrenzung und Selbstfindung von Jugendliche seien (vgl. www.jugendstrafrecht.de). Insgesamt kann deshalb der Forderung nach einer Aufhebung des § 3 JGG nicht zugestimmt werden. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die heutige Altersgrenze der Strafmündigkeit willkürlich auf 14 Jahre festgelegt ist und weder biologisch, entwicklungspsychologisch noch in sozialer Hinsicht den Eintritt in eine neue Lebensphase darstellt, erscheint es im Interesse einer Minimierung der Problematik des §3 JGG de lege ferenda vorzugswürdig, den Anwendungsbereichs des § 3 JGG auf den Bereich der Jugendstrafe zu beschränken, die untere Strafmündigkeitsgrenze auf 16 Jahre heraufzusetzen und zum Ausgleich die Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel des JGG schuldindifferent auszugestalten (vgl. Bollmeyer 1995). Bemerkenswert ist, dass die juristische Diskussion gerade mit der Trennung von Entscheidungs- und Handlungsreife ein Mündigkeitskonstrukt geschaffen hat, das deutlich differenzierter ist als die klassischen Entwicklungstheorien, die normalerweise für die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Moralität und Rechtsbewusstsein herangezogen werden. Tatsächlich wird in der juristischen Literatur, die vor allem Piaget und Kohlberg für ihre Argumentation bemühen, sogar ein Manko der entsprechenden Bezugswissenschaften beklagt (vgl. Bollmeyer 1995).
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
2.2.3
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Die Kategorie der Verantwortung „Wer Sittlichkeit zum alleinigen Zweck des Menschen macht, kommt mir vor wie einer, der die Bestimmung einer Uhr darin fände, dass sie nicht falsch gehe. Das erste bei der Uhr aber ist, dass sie gehe; das Nichtfalschgehen kommt dann erst als regulative Bestimmung hinzu.“ Franz Grillparzer
Wohl kaum einem anderen Terminus wird in Zusammenhang mit dem Erwachsensein soviel Bedeutung zugemessen, wie dem der Verantwortung. Er ist über die Aufklärung eng an den Mündigkeitsbegriff gekoppelt, weißt aber doch deutlich über diesen hinaus. Es scheint sinnvoll die Kategorie der Verantwortung gerade nicht zusammen mit dem Begriff einer rechtsbezogenen Mündigkeit zu diskutieren, um sie damit v.a. von Ansprüchen eines Schuldverständnisses zu befreien. So scheint auch der Kantsche Mündigkeitsbegriff eher auf Verantwortung im philosophischen denn auf Mündigkeit im juristischen Sinne abzuzielen. Kant kritisiert, dass Menschen im Zustand der Unmündigkeit verharren, so dass andere sich ihnen leicht zum Vormund erklären könnten und definiert diese selbstverschuldete Unmündigkeit als „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Es erscheint als zu kurz gegriffen, aus der Umkehrung der Kantischen Unmündigkeitskritik auf eine Idealisierung der Mündigkeit zu schließen. Der aufgeklärte Mensch, ist der, der sich nicht nur aus der Unmündigkeit befreit hat, sondern der, der sie zur Freiheit hin überwunden hat, zu einer Freiheit nämlich, die bedeutet „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“. Während Mündigkeit prinzipiell - nur - normorientiert ist, ist Aufklärung - auch schon - am freien Gebrauch des Verstandes ausgerichtet: „(...) der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d.i. als gut, erkennt.“ (Kant 1977, S. 41)
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Bei Kant erfolgt die Legitimation einer Handlung zwar durch reine Befolgung der Normen aber doch noch vor allem durch die Orientierung am geltenden Normen- und Wertekodex im Rahmen einer selbstbestimmten und insofern freien Verantwortlichkeit. Zugespitzt heißt dies, dass der aufgeklärte Mensch durchaus auch entgegen der Norm handeln, sofern er diese Normverletzung begründen kann. Verantwortung beinhaltet demnach vor allem die Aufforderung, für die Folgen der Handlungen Rechenschaft ablegen zu können und insofern deren Antizipation zur Grundlage der Willensbildung zu machen. Die Rechenschaftslegung kann, muss aber nicht auf der Folie von implizit oder explizit vorhandenen Normen und Werten geleistet werden. Wichtig ist jedoch, dass sie anspruchsvoll genug ist, um möglichen Gegenreden standzuhalten. Sie muss sich schließlich im Rahmen der Gesellschaft ausreichend bewahrheiten können. Kann sie dies nicht, heißt Verantwortung zu übernehmen, die Folgen der Handlung zu tragen. Damit erhält der Erwachsene im Rahmen einer normenbasierten Gesellschaftsordnung einen gewissen Handlungsspielraum, der ihm die Freiheit gibt, Normen auch zu übertreten, wenn ihm dies richtig erscheint. Ein Erwachsener kann demnach durchaus eine rote Ampel überfahren und doch im Sinne des kategorischen Imperativs handeln, solange dabei niemand zu Schaden kommt. Oder er kann bewusst falsch parken und dabei auch die Folge einen Bußgeldbescheid zu riskieren in Kauf nehmen - also die Verantwortung für sein Handeln und die sich daraus ergebenden Folgen übernehmen. In keinem Fall ist der Kantische Aufklärungsanspruch aber so zu deuten, dass Mündigkeit sich nur im Befolgen gesetzter Regeln und Normen zeigt. Damit gehört beides Verantwortungsübernahme und die Legitimation zur Normübertretung zum aufgeklärten Bild des Erwachsenen, welches deutlich unterschieden ist vom unmündigen und damit unaufgeklärten Kind. Der Verantwortungsbegriff wird für eine Definition des Erwachsenseins aber erst dann richtig interessant, wenn man ihn aus dem Normenund Wertekodex der Gesellschaft löst und ihn radikal an das Individuum koppelt. Zygmunt Bauman liefert dem Individuum einen guten Grund für die Verantwortlichkeit dem Anderen gegenüber: die Verantwortung für den anderen hebt dabei das Ich als einziges erwähltes heraus.In dem der
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Mensch Verantwortung für den Mitmenschen übernimmt, ist er nicht mehr irgendein Einzelner der Gattung Mensch, sondern überhaupt erst ein Individuum, das nicht auf der Basis eines Regelsystems handelt sondern aus einem moralischen Impuls heraus. Dieser moralische Impuls ist als ein Akt der Selbstkonstitution zu denken. „Es ist diese Verantwortlichkeit – höchste, vollständig nicht heteronome Verantwortlichkeit, radikal unterschieden von der Verantwortung auf Geheiß oder von Verpflichtungen aus einem Vertrag –, die mich zum Ich macht. Diese Verantwortung stammt von nichts anderem ab. Ich bin verantwortlich nicht wegen meines Wissens um den Anderen, wegen seiner Tugenden oder wegen der Dinge, die er getan hat und die er mir oder für mich tun könnte. Es obliegt nicht dem Anderen, mir zu beweisen, dass ich ihm meine Verantwortung schulde. Nur in dieser kräftigen und stolzen Zurückweisung des Grund-, des Begründung-Habens macht mich Verantwortung frei.“ (Bauman 1995, S. 120 f.)
Für Bauman zeichnet sich Verantwortung also gerade dadurch aus, dass sie Menschen zu Individuen macht. Damit ist die Herausbildung von Verantwortungsfähigkeit zugleich ein Motor der Individuation, die ohne Verantwortung nicht voranschreiten kann. Da die Verantwortlichkeiten von der Gesellschaft aber restriktiv erteilt werden, unterliegt auch der gesamte Prozess der Individuation und damit des Erwachsenwerdens einer gesellschaftlichen Restriktion. Die Gesellschaft entwickelt ihre Ordnungsstrukturen nicht einfach entlang der vermeintlich biologisch initiierten Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, sondern sie bestimmt die Zeitpunkte der sozialen Reifeentwicklung in einem nicht unerheblichen Maße. Wenn z.B. das Wahlalter willkürlich auf 18 Jahre gesetzt ist, und die Entwicklung zum Erwachsenen über die Individuation von der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme abhängt, dann wird die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen hier hinsichtlich der soziopolitischen Reifefähigkeit sehr folgenreich eingeschränkt. Vor dem Hintergrund, dass die Strafmündigkeit bereits mit 14 Jahren datiert ist, das zentrale Bürgerrecht der Demokratie abgebildet im Wahlrecht aber erst mit 18 erteilt wird, erscheint diese Entwicklungsbarriere aus pädagogischer Sicht als suspekt. Im Gegenteil müssten sogar, um ab einem gewissen Zeitpunkt die individuelle Entwicklung in Richtung der Mündigkeit
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
voranzutreiben, gerade solche Verantwortlichkeiten zugesprochen werden, die die Erfahrung, Teil einer Gesellschaft zu sein, um derentwillen man sich an ihrem Normenkodex orientiert, authentisch werden lassen. Denn um den für die Strafmündigkeit notwendigen Realitätswert einer verletzten Norm überhaupt entwickeln zu können, bedarf es der Partizipationserfahrung, da nur auf dieser das Motiv der moralischen Verantwortung gründen kann. Den Erwachsenenstatus auf politischer Ebene erst zuzusprechen, wenn eine irgendwie geartete Entwicklung aus dem Kind ein freies Vernunftwesen gemacht haben, erscheint auch aus dem Kantischen Verständnis her als fragwürdig: „Indem Kant Autonomie als Fähigkeit zur vernünftigen - d.h. auch sittlich vernünftigen - Selbstbestimmung konzipiert, werden Freiheit und (prospektive) moralische Verantwortlichkeit zu gleichursprünglichen Konzepten: Dadurch, dass ich mich selbst als autonomes Vernunftwesen bestimme, schreibe ich mir zugleich moralische Verantwortung zu, nämlich die Verpflichtung, mein Handeln an allgemein akzeptablen ‚Gesetzen’ zu orientieren. Im Rahmen der Kantischen Ethik ist daher nicht nur Freiheit Voraussetzung der Verantwortlichkeit, sondern Verantwortlichkeit auch Grund der Freiheit. Dementsprechend geschieht die Zuschreibung moralischer Verantwortung nicht nur gleichsam ‚von außen’, sie hat ihren Grund nicht - oder jedenfalls nicht allein - in einer sozialen Konstruktion, sondern gründet letztlich in der notwendigen Selbstzuschreibung freier, aber endlicher Vernunftwesen, insofern sie sich als Vernunftwesen bestimmen.“ (Micha 2002, S. 522)
Aus dem Kantischen Verständnis des autonomen Vernunftwesens leitet sich für das demokratische Politikverständnis der Erwachsene als mündiger Bürger ab, der zur Übernahme von Verantwortung fähig und berechtigt ist: „Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“ (Adorno 1971, S. 107)
2.2 Erwachsensein als moderne Konstruktion
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Ohne diese Aussagen politisch zu disqualifizieren, verdeutlichen sie aber zugleich das immanente Menschenbild der angesprochenen politischen Verfassung, nach dem nur der Erwachsene zur Teilhabe an der Demokratie berechtigt ist, da nur ihm Mündigkeit zugesprochen wird. Wenn es im Grundgesetz heißt, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht, so rekrutiert sich dieses Volk demnach einzig und allein aus Erwachsenen. Der politische Erwachsenenstatus verkörpert also zugleich ein davon abgeleitetes Herrschaftsverhältnis. Bedenklich ist dabei, dass damit auch der Begriff der Verantwortung innerhalb dieser Praxis als Herrschaftsinstrument interpretierbar wird, da er zur logischen Legitimation von Machtverhältnissen dient. Es wäre nun aber verkürzt, wollte man den Erwachsenen auf dieser Folie einfach als jenen interpretieren, der sich im Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen geschickt der Herrschaftsposition bemächtigt hat. Die Frage ist nämlich, ob er nicht einfach im Kleid des Unterdrückers nur selbst zum Unterdrückten geworden ist, ohne davon tatkräftige Notiz genommen zu haben. Denn sowohl der von Kant im modernen Verständnis abgeleitete Verantwortungsbegriff wie auch seine postmoderne Radikalisierung durch Zygmunt Bauman beziehen sich auf das als Individuum gedachte freie und autonome Subjekt, welches nur existieren kann unter anderen freien und autonomen Subjekten3. Die Kategorie der Verantwortung verdeutlich damit zweierlei: zum einen die Verknüpfung des Erwachsenenstatus mit dem Individuum und die damit zusammenhängende Arbeit der Individuation und der Individuierung, die von Person und Gesellschaft zu leisten sind, und zum anderen das Problem eines mit der
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Das freie Dasein des Menschen ist bei Kant die eigentliche Bestimmung des Menschen an sich: „Diese gleichsam angeborene Freiheit jedes Menschen bedeutet bei ihm zugleich die Gleichheit bezüglich der Freiheit. Der Staat muss also nun nach Kant diese Freiheit und Gleichheit aller Menschen schützen und garantieren, das Handeln der Einzelnen gewissermaßen begrenzen, soweit es nicht neben der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, darf jedoch das Handeln für jeden Einzelnen nicht konkret bestimmen. Selbständigkeit, selbstverantwortliches Handeln ist dem Einzelnen anheim gestellt. Seine Subjektivität hat jeder selbst zu verwirklichen. Diese Selbständigkeit, dieses selbständige, selbstverantwortliche Leben jedes einzelnen Individuums ist zugleich bei Kant die inhaltliche Bestimmtheit des Menschenrechts, die der Staat zu schützen und zu garantieren hat“ (Saykham 2001, S. 91).
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
Konstitution des Erwachsenen zugleich begründeten Herrschaftsverhältnisses welches sich der Individuation einschränkend entgegenstellt.
2.3
Erwachsensein als Alltagskonstrukt „Aber im Endeffekt darf jeder für sich entscheiden, wie er ,erwachsen‘ sein möchte.“ aus dem Internet
Im alltagssprachlichen Gebrauch wird vor allem das Adjektiv „erwachsen“ in unterschiedlichen Metaphern verwendet: „Wann werde ich endlich erwachsen?“ „Wie werde ich erwachsen?“ „Wann ist man erwachsen?“ „Werd doch endlich erwachsen!“ Von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erfährt der Erwachsenenstatus jeweils sehr unterschiedliche Zuschreibungen. Die Trennung zwischen Kindheit und Erwachsenenalter scheint in den verschiedenen Beschreibungen einmal als sehr ausgeprägt, ein andermal wieder im Verschwinden begriffen, mal wird den Erwachsenen unterstellt sie seien zu kindlich und mal wird das Verschwinden der Kindheit beklagt (Postman 1987). Die Übergangsphase der Jugend wird ebenfalls sehr unterschiedlich beziffert, mal endet sie mit der Volljährigkeit, mal geht sie über in das Stadium der jungen Erwachsenen und zieht sich dann teilweise bis in das fünfundzwanzigste oder gar dreissigste Jahr. Es gibt kaum Forschung, die sich explizit der Frage widmet, wie der Erwachsene als Erwachsener im Alltag konstruiert wird. Er wird immer schon als Inhaber von bestimmten Rollen oder Beziehungsmustern, als Aufgaben- oder Funktionsträger gedacht und auf dieser Grundlage wissenschaftlich rekonstruiert. Ein Blick in die Kinderliteratur zeigt aber z.B., wie sich der Erwachsene schon in das Kind hinein konstruiert: In Kindermärchen tritt der Erwachsene vor allem in zwei Rollen auf, als guter Erwachsener, wie z.B. Frau Holle oder der Jäger im Rotkäppchen oder als böser Erwachsener v.a. in Hexen- und Stiefelterngestalten. Im literarischen Typus gelingt es, den Erwachsenen von einer individuel-
2.3 Erwachsensein als Alltagskonstrukt
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len Zuschreibung zu lösen und ihn vollständig zu idealisieren oder zu diabolisieren. Auffallend dabei ist, dass der gute Erwachsene durchaus strenge Züge aufweist, die aber in seiner Gerechtigkeit aufgehen, mit seiner Milde harmonieren und durch seine Fürsorge legitimiert sind, demgegenüber der Böse immer der ganz Böse ist, der der am Schluss deshalb auch zerstört werden darf, so wie die Hexe bei Hänsel und Gretel. Die Dichotomie von gut und böse findet sich übrigens genauso in modernen Kindererzählungen, wenngleich hier die Erwachsenen ihre dominante Rolle zugunsten der Kinder zunehmend aufgegeben haben (vgl. Klute 2011). Auch Harry Potter liefert ein Beispiel für solch ein dichotomes Verhältnis, denn neben den unterschiedlich guten Personen um Harry herum sind die bösen Figuren ein ganz eindeutiges Klischee des Schlechtsein: Dem alten Voldemort haftet auch nicht ein Gran Gutes an und damit ist der Hass und Vernichtungswille, der ihm von Seiten der Guten entgegenschlägt, vollständig legitimiert. Meiner Meinung nach liegt die Funktion für die Herausbildung des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses weit mehr in dieser Dichotomie als in der filigranen prosaischen Ausgestaltung der Erwachsenentypen an sich. Denn sie bereitet geradezu schicksalhaft das Eltern-Kind-Verhältnis vor, dessen typisches Merkmal auch darin besteht, dass dem Kind in der Regel zunächst keine differenzierte Wertung seiner elterlichen Gegenüber möglich ist. In einer Welt, in der es nur gute oder nur schlechte Menschen gibt, kann jemand nämlich nicht zugleich gut und schlecht sein. Insofern werden schlechte Verhaltensformen der per se guten Eltern vom Kind in der Regel verleumdet oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, abgespalten und auf etwas oder jemanden anders projiziert. Da das Kind selbst allerdings noch nicht dieser dichotomen Sichtweise unterliegt, schließlich muss es sich ja erst zu einem guten oder einem schlechten Erwachsenen entwickeln, ist es naturgegeben noch beides und kann deshalb die schlechten Verhaltensformen der Eltern einfach sich selbst zurechnen. Auf diese Weise gelingt es ihm, das gute Elternbild gegen die zumindest partiell schlechte Realität zu verteidigen und seinen Vertrauensvorschuss, den es um des Überlebenswillen in die Eltern setzt, zu wahren. In Einzelfällen mag es enttäuschendes Elternverhalten damit kompensieren können, häufen sich derartige Enttäuschungen gar oder gilt es überdies, dezi-
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
diert aggressive Verhaltensweisen umzudeuten, besteht langfristig die Gefahr der Neurotisierung wenn nicht gar der Pathologisierung (vgl. Kap. 4.2). Die Verhaltensweise zunächst ein dichotomes Weltbild aufzubauen, in dem die Eltern positiv besetzt sind, mag zunächst sogar im Dienst der Vertrauensbildung stehen und im Sinne eines gesunden Starts in das Leben sehr funktional sein. Der Säugling oder das kleine Kind wären sicherlich damit überfordert, ihr Urvertrauen im Rahmen einer differenzierenden Betrachtung der primären Beziehung aufzubauen. Das Problem scheint mir eher darin zu liegen, dass sich die Kindheit in der Moderne über einen sehr, sehr langen Zeitraum erstreckt, der noch durch die weitgehend der Kindheit zugerechnete Jugendphase verlängert wird. (Denn mit der Unterteilung von Jugend und jungen Erwachsenen verlagert sich der Übergang wohl nicht nur semantisch nach hinten.) Da im Prozess der Zivilisation noch keine Eltern-Kind-Kultur herausgebildet wurde, die dem größeren Kind ermöglicht, ein differenziertes Verhältnis zu seinen Eltern aufzubauen, gerät ihm dieses an sich vielleicht zunächst sogar sinnvolle Verhalten mehr und mehr zum Nachteil. Die Kultur des Mittelalters, nach welcher das Kind viel frühzeitiger Teil der Erwachsenenwelt wurde, ermöglichte ihm zumindest auch viel früher ein in psychologischer Hinsicht distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern einzunehmen. Die moderne Kinderliteratur setzt sich ebenfalls mit dieser Problematik auseinander. Ronja Räubertochter liefert etwa ein Beispiel dafür, wie es einem Kind gelingt, seine Eltern differenziert zu sehen und an dieser Erkenntnis zu reifen. Sie hat aber ebenfalls noch keine Vision dafür entwickelt, wie ein solches Verhältnis kulturell strukturiert sein könnte. Immerhin verläuft die Entwicklung für die Kinder nicht unproblematisch, sie ist durchaus bisweilen prekär und geht schließlich nur aufgrund der literarischen Gestaltung positiv aus. Was im modernen Märchen gerade noch gut ausgeht, kann aber im realen Leben immer noch brutal scheitern. Der Erwachsenenstatus wird im Alltag auch dadurch abgesichert, dass Kinder von bestimmten Themen ausgeschlossen werden, was gerade im Hinblick auf mediatisierte Inhalte sogar eine breite Befürwortung findet:
2.3 Erwachsensein als Alltagskonstrukt
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„Kinder sind eine Gruppe von Menschen, die von bestimmten Dingen, über die die Erwachsenen Bescheid wissen, keine Ahnung haben.“ (Postman 1997, S. 101)
Postman kritisiert, dass u.a. die Zugänglichkeit dieses ErwachsenenWissens durch die Medien zu einem Verschwinden der Kindheit geführt habe. Nebenbei wäre aber zu klären, ob sich nicht längst die Themenbesetzung geändert hat. So waren es historisch betrachtet früher ganz bestimmte Rituale, Orte oder Topoi mit deren Hilfe eine Abgrenzung stattfand, deren Begehrlichkeiten für die Jugendlichen jedoch nicht in dem Sinne gefährlich waren. Im Hinblick auf z.B. die Teilnahme an Jagdveranstaltungen oder religiösen Ritualen, waren Übertretungen infolge des engeren sozialen Gefüges kaum möglich. Demgegenüber scheinen die einzigen Orte des Erwachsenseins, in denen es die Moderne geschafft hat, für Jugendliche interessant zu sein, die der Kriminalität, des Drogenkonsums und der Sexualität. In der Übergangsphase werden diese Themen rasch zu realen Gefahren, da es auch keine fürsorglichen Einsozialisierungsrituale gibt. Die Jugendlichen vollziehen ihre Initiation quasi auf eigene Verantwortung. Aber auch wer diese Hürden gemeistert hat, fühlt sich oft noch nicht wirklich erwachsen. Eine recht große Anzahl von Ratgeberliteratur deutet darauf hin, dass der Erwachsenenstatus als Endziel der Normalentwicklung und Erwachsen sein als ein statischer Zustand angesehen wird, in dem sich alle Dynamik von Kindheit und Jugend endlich aufhebt. Erst der erwachsene Mensch gilt als der fertige Mensch und wenn von Menschwerdung die Rede ist, so ist damit immer ein Erwachsener intendiert. Auf dieses Fertigsein sind auch weite Teile der Pädagogik durchaus noch abonniert, nach Schwarte etwa sollen „junge Menschen signalisiert bekommen, dass sie noch nicht fertig sind, sondern noch einen weiten Entwicklungsweg vor sich haben, und dass sie sich um ihr Reiferwerden (im Sinne eines Zugewinns an Lebenserfahrung und Urteilsfähigkeit) bemühen müssen.“ (Schwarte 2002, S. 81)
Aber auch im Alltagsdenken ist man beim Thema Erwachsenwerden auf dieses Fertigsein ausgerichtet. Als Erwachsene gelten Menschen, „die
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
ihren Platz bereits gefunden haben. Die Unumstößlichkeit ausstrahlen, Überzeugung und Standfestigkeit. Die ganz fest im Leben stehen, die genau wissen, was sie wollen und was nicht, und die ihre Position dabei ganz genau kennen“ (Senft 2009, S. 16). Flankiert wird diese Alltagsvorstellung noch von entwicklungspsychologischen Aussagen, wie: „Kindheit und Jugend sind vorüber, jetzt beginnt, wie man so sagt das Leben, womit im Allgemeinen die Arbeit oder das Studium für einen bestimmten Beruf, das Zusammentreffen mit einem anderen Geschlecht und im Laufe der Zeit Heirat und die Gründung der eigenen Familie gemeint sind.“ (Erikson 1973, S. 114)
Ein regelmäßiges Einkommen und die Gründung einer eigenen Familie gelten weithin immer noch als Insignien der Erwachsenenwelt, außerdem ist der Erwachsene auch dadurch gekennzeichnet, dass er mit gewissen Rechten ausgestattet ist, die dem Heranwachsenden als begehrlich erscheinen. Allen voran das Recht der Selbstbestimmung im Hinblick auf Fragen des Freizeitverhaltens, des Konsums und des Zeitmanagements sowie das Recht über Kinder und Jugendliche zu bestimmen. Daneben sind es v.a. solche Attribute wie Alkohol und Sexualität, die den Erwachsenen zu verkörpern scheinen und das Erwachsenwerden attraktiv machen. In seinen 111 guten Gründen erwachsen zu werden belegen bei Weyershausen die folgenden 3 Gründe die ersten Plätze: Führerschein, Sexualität und endlich nicht mehr in die Schule gehen (vgl. Weyershausen 2009). Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass der Erwachsenenstatus vor allem in den Alltagsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen stärker durch den Aspekt der Selbständigkeit gekennzeichnet ist als den der Verantwortung. Auffallend ist, dass der Selbständigkeitsaspekt positiv und der Verantwortungsaspekt eher negativ konnotiert ist. Die gegenwärtigen Diskussionen zur Bestimmung des Erwachsenen sind überdies dadurch gekennzeichnet, dass der Erwachsenenstatus an Eindeutigkeit verliert und durch immer mehr unpräzise Details bestimmt wird. So verweist Nuber (2001) auf eine umfangreiche Liste von Hudson (1999), nach welcher eine Person dann erwachsen sei, wenn sie z.B.:
2.3 Erwachsensein als Alltagskonstrukt
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über ein hohes Maß an Selbstvertrauen verfügt anderen interessiert und objektiv zuhöre kann ihren Gefühlen angemessen Ausdruck verleiht fähig ist, Dankbarkeit und Anerkennung auszudrücken zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden kann Kritik ertragen und Kritik üben kann immer wieder über den Sinn ihres Lebens nachdenkt ...
Diese Liste kann quasi beliebig verlängert, und immer filigraner aufgesplittert werden. Dadurch wird der Zeitpunkt des Erwachsenseins allerdings immer unbestimmbarer und verschiebt sich immer weiter nach hinten. Die Übergangsphase wird dadurch ebenfalls deutlich verlängert und verliert an Konturschärfe. Das Deutsche Jugendinstitut sieht vor allem strukturelle Veränderungen für die Vergrößerung der Übergangsphase verantwortlich: „Denn der auf Grund ökonomischer und sozialer Strukturveränderungen in den Industriegesellschaften ist der Übergangsprozess in das Erwachsenenalter heute länger, differenzierter und komplizierter geworden. Der Wandel der Arbeitswelt hin zu einer auf Informations- und Kommunikationstechnologien gestützten Dienstleistungsgesellschaft hat nicht nur zu erweiterten Ausbildungszeiten und somit zu verlängerten Wegen in das Erwachsenenalter geführt, sondern auch zu einer Auflösung normativer Übergangsabläufe. Es wird angenommen, dass Übergänge heutzutage individualisierter geworden sind und dass Jugendliche den Status des Erwachsenseins sozial aushandeln müssen, statt vorab bestimmten Wegen ins Erwachsenenalter zu folgen.“ (Bendit & Hein 2003)
Zumindest im Alltagsverständnis gibt es auch Menschen, die vom Alter her als Erwachsene zu gelten haben, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht erwachsen sind. Sie gelten als Nutznießer der Selbständigkeit des Erwachsenen ohne in ausreichendem Maße auch die Verantwortlichkeiten und Pflichten zu übernehmen. Berufsjugendliche, Dauerstudenten, Hotel-Mama-Bewohner ... so lauten die Bezeichnungen, die sich in der
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2 Die Konstruierbarkeit des Erwachsenen
grauen Literatur dazu finden. Eine ganze Reihe von Ratgeberbüchern setzt sich mit diesem Erwachsenentypus auseinander. In der Regel stammen die Beiträge von Autorinnen und Autoren um die 30, die offenbar auf amüsante Art Abschied von einem unbeschwerten Jugend- bzw. Studentenleben nehmen wollen (z.B. Senft 2009) oder sich auf die Midlife Krise vorbereiten (z.B. Weyershausen 2009). Einen ernsthafteren Anspruch verfolgen kulturkritische Beiträge, die den ewig Jugendlichen als Hauptakteur der Spaßgesellschaft problematisieren und dementsprechend die Infantilisierung der Gesellschaft beklagen (vgl. Nuber 2001). Das Erwachsenensein wird aber keinesfalls nur von Jugendlichen kritisch beäugt, gerade auch dem Erwachsenen selbst erscheint der eigene Status nicht immer als attraktiv. Denn der Erwachsene gilt auch als der Desillusionierte, dem die Frische, die Neugier und die Authentizität des Kindes fehlt. Der Erwachsene blickt, zumindest auf die eigene Kindheit, nicht selten wie auf ein verlorenes kostbares Gut zurück. Sie erscheint ihm zunehmend als bedeutende aber verloren gegangene Facette seiner Persönlichkeit, als ein Stück Lebendigkeit, die der zweckrationalen Vernunft geopfert wurde: „Nur selten bleibt ihre Seele länger jung als ihr Körper. Sie hat ihre Frische verloren; denn sie hat zu viele Bilder in sich aufgenommen, und nun ist die Platte verbraucht. Jedesmal, wenn die Einbildungskraft ihren Aufschwung nehmen wollte, ist sie grausam verletzt worden; und nun wagt sie es nicht mehr. Ihre Vernunft ist stärker geworden. Oder hat sie sich nur verhärtet? Die Erwachsenen sind nicht frei; sie sind die Gefangenen ihrer selbst. Selbst wenn sie spielen, verbinden sie noch einen Zweck damit: sie spielen, um sich zu entspannen, um zu vergessen, um nicht mehr daran zu denken, wie wenig Zeit ihnen noch bleibt.“ (Hazard 1970, S. 21f.)
Die Vorstellung einer stufenförmigen Abfolge der Lebensalter, bei dem die Entwicklungsfähigkeit nur bis zum reifen Erwachsenen fortschreitet und alsdann die Abbauprozesse einsetzen, macht den Erwachsenenstatus nicht nur zum Wendepunkt zwischen Aufbau und Abbau, sondern auch zwischen Leben und Tod. Erwachsen werden angesichts seines impliziten memento mori heißt dann auch, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden. Nicht erwachsen werden wollen ist deshalb auch eine Möglich-
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keit diesem Realitätsaspekt zu entkommen. Nach Nuber (2001) ist der Erwachsenenstatus längst in eine postmoderne Krise geraten. Frühere Generationen folgten dem linearen Dreischritt Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter quasi entwicklungsautomatisch und hatten dabei die Gewissheit richtig zu leben. Diese Gewissheit war jedoch an andere Gewissheiten gekoppelt, nämlich den einmal gewählten Beruf lebenslang auszuüben und mit dem einmal gefundenen Partner bis zum Tod zusammenzubleiben. Mit der Vakanz dieser Sicherheiten ist auch der Erwachsenenstatus prekär geworden. Zusätzlich gibt es weniger erwachsene Vorbilder, an denen man sich orientieren könnte, denn was für die Großelterngeneration noch erwachsen war, hat seine Gültigkeit inzwischen eingebüßt. Insofern weiß der Zeitgeist eigentlich nicht mehr so recht, was das ist, ein Erwachsener.
3
Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie auf der Basis der Differenzierung Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Wolf Biermann
3.1
Homo discens – der lernende Mensch
In gewissem Gegensatz zu der Kantischen Frage „Was ist der Mensch“ und den daraus resultierenden normativen Begründungsversuchen des menschlichen Wesens, wird hier ein explizit konstruktivistischer Ansatz gewählt. Das Menschenbild hängt dabei vom jeweils eingenommenen Standpunkt der Beobachtung und der zugrundegelegten Intention ab. Es wird also nicht der Anspruch verfolgt, eine vermeintliche Wahrheit über das Wesen des Menschen offen zu legen und zu verteidigen, wohl aber ein zeit- und bedingungsabhängiges Konstrukt zu entwerfen und zu legitimieren. Hier lautet die Grundfrage: „Was soll der Mensch sein?“ Der Vorteil davon ist, dass das Konstrukt bewusst freigehalten wird vom Zweifel, der dem Wahrheitsanspruch stets beigeordnet ist und stattdessen Raum für kritische Reflexion entsteht, die dann jederzeit als prinzipiell produktiv im Gegensatz zu bedrohlich erscheint. Im Menschenbild, welches der Pädagogik eignet, ist der Mensch durch seine Lernfähigkeit grundlegend charakterisiert. Lernen beschreibt das Vermögen im Wechselspiel mit innerer und äußerer Welt Erfahrungen zu machen, die das Verhalten bzw. entsprechende Dispositionen sowie Denkprozesse (die auch als Verhalten definiert werden) langfristig ändern. Dabei unterscheidet sich die menschliche Lernfähigkeit von der anderer Lebewesen, die ebenfalls lernen können, durch die sog. WeltofG. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
fenheit des Gehirns. Dies lässt sich an einem einfachen Gedankenexperiment verdeutlichen: Würden zwei Geschwisterkatzen direkt nach der Geburt getrennt, und würde dann die eine in China aufwachsen und die andere Berlin-Neukölln, so wären nach einem Jahr die Entwicklungsunterschiede, bei ähnlicher Pflege, sehr gering. Die chinesische Katze miaute wahrscheinlich genauso wie die Hauptstadtkatze. Würde man dies mit zwei menschlichen Wesen nachvollziehen, dann würde man nach einer vergleichbaren Zeit von sechs Jahren im einen Fall einen chinesischen Erstklässler und im anderen Fall einen kleinen Berliner Gören erhalten. Denn das menschliche Gehirn ist bei seiner Geburt noch so formbar, oder plastisch, dass es je nach den Erfahrungen, die es macht, Chinesisch zu seiner Muttersprache machen kann oder Deutsch. Darüber hinaus ist es in der Lage, eine jeweils komplett andere kulturelle Ausprägung anzunehmen, die sich auf mentaler wie auch auf körperlicher Ebene präsentiert: Ein Säugling, der in China aufwächst und den dortigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist, der denkt später chinesisch, der fühlt chinesisch und bewegt sich chinesisch, selbst wenn seine genetischen Herkunftseltern Deutsche waren. Der entscheidende Unterschied zum Katzengehirn, der das konstruktive Potential ausmacht, ist die sogenannte Weltoffenheit oder Plastizität des menschlichen Gehirns. Plastizität bedeutet, dass das Gehirn relativ unstrukturiert ist im Moment der Geburt. Seine wichtigste Fähigkeit ist es, sich aufgrund der gemachten Erfahrungen selber zu strukturieren. Es fängt damit sogar schon im Mutterleib an. Mit dem ersten Atemzug und der Fülle an Reizen, die auf das kleine Gehirn einströmt, explodiert diese Fähigkeit quasi. Piaget spricht daher vom funktionellen Apriori und dem strukturellen Aposteriori. Lernen ist also nichts anderes als eine Strukturbildung des Gehirns, die im Verhalten emergiert. Von besonderem Interesse sind zunächst die Reize, die das menschliche Gehirn zu einer derartigen Strukturierung anregen. Prinzipiell sind alle Umweltreize geeignet, um strukturelle Veränderungen zu triggern. Sie müssen allerdings wahrgenommen werden und das werden sie nur, wenn sie den inneren Gleichgewichtszustand so stören, dass das Individuum hierauf mit einer Aktion reagieren muss, um den Gleichgewichtszustand wieder herzustellen. Die Reaktion ermöglicht ggfs. auch neue
3.1 Homo discens – der lernende Mensch
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Erfahrungen, so dass sich in der Interaktion auch neue Handlungsschemata ausbilden können. Die wichtigsten Erfahrungen allerdings, die einen heranwachsenden Menschen prägen und die in Form komplexer, neuronaler Verknüpfungen und synaptischer Verschaltungen in seinem Gehirn verankert werden, sind Erfahrungen, die in lebendigen Beziehungen mit anderen Menschen gemacht werden: „In all jenen Bereichen, wo es sich von tierischen Gehirnen unterscheidet, wird das menschliche Gehirn durch Beziehungen und Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert. Es ist ein Sozialorgan.“ (Hüther 2003, S. 94)
Auf funktioneller Ebene scheinen die Prozesse der Strukturbildung mithin sehr ähnlich zu sein. Überschreitet ein Reiz die Wahrnehmungsgrenze so kann er sich strukturell auswirken, indem er die Strukturen verstärkt oder verändert. Demnach würde sich kindliches und erwachsenes Lernen physiologisch gesehen nicht unterscheiden. Was sich unterscheiden könnte wäre jedoch die Reizansprache, also die Wahrnehmung und Bewertung von Reizen, was individuell auf die Strukturvorgabe zurückgeführt werden kann. Was sich aus einem kulturalistischen Verständnis allerdings sehr wohl unterscheidet ist die Bedeutung der jeweiligen Struktur. Soll für eine pädagogische Definition des Erwachsenen auf die Lernfähigkeit abgehoben werden, so darf die Pädagogik also nicht einfach einem naturwissenschaftlichem Paradigma aufsitzen, weil es den Horizont möglicher Bedeutungszuschreibungen unnötig einschränken würde. Denn in einem naturwissenschaftlichen – reduktionistischen – Verständnis kann eine Struktur nur mit ihrer materiellen aber nicht mit ihrer ideellen Bedeutung erfasst werden und erhält auch nur darüber ihren Bedeutungsgehalt.
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3.2
3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
Die Theorie der Differenzierung
Um den Erwachsenen aus pädagogischer Sicht im Fokus der Lernfähigkeit zu definieren ist es daher sinnvoll, zunächst nach den Anschlussmöglichkeiten an das vorherrschende Lernverständnis zu suchen, und zu überprüfen, inwiefern dieses durch eine kulturalistische Perspektive erweitert werden kann. Weiter oben wurde beschrieben was Lernen ist und durch welchen Reiz es hauptsächlich ausgelöst wird. Demnach beschreibt es langfristige Verhaltensänderungen, die v.a. durch Erfahrungen in sozialen Beziehungen getriggert werden. Zwei weitere Aspekte sind für eine pädagogische Präzisierung des Erwachsenenstatus relevant: 1.
2.
Wenn Lernen eine Folge der Interaktion des Individuums mit seiner Innen- und Außenwelt ist, stellt sich die Frage danach, welche Funktionen den Lernvorgängen dabei jeweils zugeschrieben werden können und ob sich daraus elementare Grundfunktionen ableiten lassen, die unterscheidbare Deutungen im Hinblick auf die Lebensalter zulassen. Da Lernen eine strukturelle Veränderung bedeutet ist außerdem zu diskutieren, welche Rolle vorhandene Strukturen für neue Strukturierungsvorgänge spielen, in welcher Beziehung alte und neue Strukturen miteinander stehen, ob alte Strukturen aufgelöst oder überlagert werden, ob sie nebeneinander existieren und wie sie sich ggfs. gegenseitig beeinflussen.
In einem ersten Schritt lassen sich menschliche Lernvorgänge unterschiedlichen funktionalen Logiken zuordnen, wie z.B. Spracherwerb, analytisches Denken, Sozialkompetenz, Sozialisation, Partizipationsfähigkeit, emotionale Steuerung, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstorganisation, Lebenserhalt etc. Versucht man diese zu clustern, so ergeben sich auf der Inhaltsebene zwei Kategorien, und zwar Sozialisation und Individuation. Für das hier aufgeworfene Problem sind diese beiden aber schon zu stark inhaltlich fokussiert, nämlich im einen Fall auf die Gesellschaft hin und im anderen auf die Person hin. Auf der Suche nach einer weiteren
3.2 Die Theorie der Differenzierung
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Abstraktionsebene, in der sich die Funktionen menschlichen Lernens aufspalten lassen und die noch nicht auf ein inhaltliches Ziel festgelegt sind, stößt man auf zwei Funktionen, die sich deutlich voneinander unterscheiden und die sich sinnvoll nicht weiter aufspalten lassen und die deshalb als Grundfunktionen jedweden menschlichen Lernens überhaupt angenommen werden können: Anpassung und Differenzierung. Von Beginn an sind Lebewesen Spannungsmomenten unterworfen, die sich aus dem Gefälle unterschiedlicher innerer und/oder äußerer Seinszustände ergeben. Die Primärfunktion von Lernen besteht nun darin, diese Spannungsmomente zu regulieren. Die einfachste Möglichkeit besteht in der Anpassung. Dabei wird die durch das Gefälle bereitgestellte psychische Energie so eingesetzt, dass der Lernprozess der Anpassung an die als spannend erlebte Diskrepanz dient und zwar so lange, bis die Spannung abgebaut ist und keine Energie mehr zur Verfügung steht. Die Funktion der Anpassung führt also dazu, dass das Individuum sein Verhalten so strukturiert, dass die Diskrepanzen zwischen den Seinszuständen möglichst gering gehalten werden. Auch für die Differenzierung sind die Spannungen unterschiedlicher Seinszustände initial. Hier wir die Energie jedoch darauf verwendet, dass der Lernprozess das Verhalten in einer Weise strukturiert, die es dem Individuum ermöglicht, das Spannungsgefälle auszuhalten. Während im ersten Fall, die Unterschiede möglichst aufgelöst werden sollen, werden sie im zweiten Fall zum Prinzip erhoben, weshalb wir diese Funktionsweise als Differenzierung bezeichnen. Es sei darauf hingewiesen, dass die beiden Funktionen nicht identisch sind mit Sozialisation und Individuation, sondern beiden gleichzeitig zugeordnet werden können. Die Anpassung scheint nur auf den ersten Blick deutlichere Züge der Sozialisation aufzuweisen, bei genauerer Betrachtung steht sie aber mindestens genauso stark im Dienst der Individuation und auch die Differenzierungsfunktion geht nicht in der Individuation auf zumal menschliche Sozialformen geradezu auf differenzierte und differenzierende Individuen angewiesen sind. Wobei sogar folgende Regel diskutiert werden könnte: je höher entwickelt die Sozialform ist, desto weiter müssen die sie bildenden Individuen in ihrer Differenzierungsfähigkeit voran geschritten sein. Betrachten wir beide Prozesse erst einmal getrennt voneinander.
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3.2.1
3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
Anpassung (Adaption)
Unter Adaption versteht man die Anpassung von etwas an die gegebenen Umstände von etwas anderem. Anpassung ist ein Begriff, der in der Pädagogik bereits Verwendung findet und zwar v.a. in der Entwicklungstheorie Jean Piagets (1975). Piaget beschreibt den Prozess der Anpassung im Hinblick auf die Entwicklung und Anwendung von Handlungsschemata. Dabei erscheint die Anpassung als ein Wechselspiel zweier Mechanismen, und zwar einerseits der Anwendung vorhandener Schemata durch Assimilation und andererseits der Veränderung der Schemata durch Akkommodation. Der hier verwendete Anpassungsbegriff unterscheidet sich allerdings grundlegend von dem Piagets, der ihn aus einer evolutionstheoretischen Position hergeleitet hat. Piaget gründete sein Anpassungsverständnis auf jenes der Evolutionstheorie, weshalb sein Ansatz auch als genetische Epistemologie bezeichnet wird. In der Verhaltensgenetik stellt jedes Verhalten eine Anpassung an die Umwelt dar, die dazu dient, das Überleben zu sichern und die sich in der Evolution bewährt hat. Für Piaget ist die Anpassungsfähigkeit Ausdruck der Intelligenz, die darauf abzielt im Prozess zwischen Individuum und Umwelt ein Gleichgewicht herzustellen. Seinem biologischen Ansatz entspricht eine reduktionistische Sichtweise, auch wenn Piaget dabei von einer Zirkularität des Erkennens ausgeht: „Die psychologischen Erklärungen beziehen sich früher oder später auf diejenigen der Biologie, diese beruhen ihrerseits auf denjenigen der Physik und der Chemie, die physikalischen Erklärungen stützen sich auf die Mathematik, und die Mathematik und die Logik können sich nur auf die Gesetze des Geistes berufen, die das Untersuchungsobjekt der Psychologie bilden.“ (Piaget 1991, S. 47)
Aus einem pädagogischen Anspruch heraus ist eine reduktionistische Argumentation schon prinzipiell deshalb problematisch, weil hier „naturwissenschaftliche Lehrmeinungen aus Physik, Chemie und Biologie investiert werden, die sich einer kulturalistischen Kritik ihrer Geltungsansprüche entziehen“ (Hartmann/Janich 1996, S. 32). Fraglich ist, ob sich geisteswissenschaftliche Probleme überhaupt auf naturwissenschaftli-
3.2 Die Theorie der Differenzierung
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chem Weg lösen lassen. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass der Einfluss evolutionsbiologischer Gedanken auf die Erkenntnistheorie weit über Piaget hinausreicht, Piaget ist allerdings für die Pädagogik sehr bedeutsam geworden. Den evolutionsbiologischen Ansätzen kann heute eine kulturalistische Position entgegen gehalten werden, die alle Naturphänomene als erlittene, erkannte oder beschriebene auf handelnde und erkennende menschliche Subjekte bezogen sieht und damit auch (erkannte) Natur als kulturabhängigen Gegenstand begreift (vgl. Hartmann & Janich 1996). Während die Bezugnahme auf Naturwissenschaft keine ergebnisoffene Diskussion gestattet, weil diese bereits durch vermeintliche Naturgesetze determiniert ist, kennt eine Diskussion aus kulturalistischer Perspektive praktisch keine universalistischen Determinanten. Sie fühlt sich allerdings sehr wohl dem alten sokratischplatonischen Programm verpflichtet, Wissen von bloßem Meinen und von Irrtum zu unterscheiden. Diese Unterscheidung soll durch Begründungen geleistet werden, die ihrerseits nicht wieder ad infinitum durch Theorien der Begründung begründet werden können, sondern für sich selbst stehen müssen: „Wo der Naturalist und (in den meisten Spielarten) der Realist bei Nachfrage nach der Begründung seiner Erkenntnisphilosophie nur mit den Achseln zucken kann, kann der Kulturalist auf die auch vom Naturalisten geteilte Praxis verweisen.“ (Hartmann & Janich 1996, S. 33)
Als ‚objektiv‘ (im Sinne von intersubjektiv und interkulturell) gilt demnach jene Wirklichkeit, die durch das Gelingen gemeinsamer Praxis konstituiert wird. (vgl. Hartmann/Janich 1998) Ohne die Mechanismen, mit deren Hilfe nach Piaget die Anpassung geleistet wird, grundsätzlich in Frage zu stellen, erscheint das biologische Paradigma jedenfalls zu einengend und verkürzend für die angemessene Bearbeitung eines so zentralen pädagogischen Problems. Analogien aus anderen Wissenschaften können zwar durchaus hilfreich sein, um z.B. in Form einer Metapher einen Sachverhalt zu veranschaulichen, sie werden aber stets problematisch, wenn man zugleich mit dem verwendeten Bild auch das dahinter liegende paradigmatische Wissenschaftsverständnis übernimmt. Dieses lässt sich nämlich nicht beliebig ein und ausschalten. Wenn also Intelli-
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
genz allein auf Anpassung im biologistischen Sinne zurückgeführt wird, bildet das in naturwissenschaftlichem Sinn Vorhandene die Demarkationslinie des geisteswissenschaftlich Möglichen. Reich kritisiert folgerichtig, dass die biologische Ausrichtung von Piaget zwar den Einschluss von Höherentwicklungen und Veränderungen (z.B. bezogen auf Zeit und Raum) postuliert, dabei aber die Möglichkeiten der Erfahrung auf ein biologisch-evolutionäres Menschenbild einengt, so dass sie nicht auf ein transzendentales oder symbolisch-interagierendes Subjekt beziehbar sind (Reich 1998, S. 446). Gemäß einem evolutionsgenetischen Verständnis ist Intelligenz damit bloß auf die Anpassungsleistung beschränkt und jenseits der Anpassung ist kein Verhalten denkbar, dass die vorhandenen Umstände anders als adaptierend bewältigen könnte. Insofern verwundert es nicht, dass eine Funktion wie etwa die der Differenzierung des Individuums, die mehr als eine Anpassung ist, bei Piaget gar nicht vorkommt. Der hier begründete Theorieentwurf nimmt also bewusst eine kulturalistischen Perspektive ein, um die Möglichkeiten einer Erweiterung des Adaptionsbegriffs zu überprüfen. Anpassung in kulturalistischer Lesart fragt eben auch nach den kulturellen Bedingungen der Anpassung, seien diese nun z.B. psychosozialer, gesellschaftlicher oder politischer Art. Das sich anpassende Wesen adaptiert sich unter den Bedingungen seiner äußeren Umwelt an diese Umwelt, die ihm, in welchen Erscheinungsformen auch immer, deshalb in der Machtposition gegenübertritt. Denn die Adaption, ganz gleich ob als Assimilation oder Akkommodation, ist eine Anpassung an etwas, das diese Anpassungsleistung abverlangt und selbst gleichzeitig nicht erbringen muss. Die Anpassung stellt für das Individuum also stets eine Zumutung dar, in der es nicht frei agieren kann. Insofern lässt sich die Anpassung nicht angemessen würdigen, ohne zugleich nach den Machtstrukturen zu fragen, denen sie unterliegt oder in Foucaultscher Lesart: die sie hervorbringt. Somit wäre die Anpassung wahrscheinlich sogar als ein Dispositiv der Macht zu entlarven und dementsprechend zu untersuchen. Hier soll es fürs erste reichen, die Konnotationen zwischen Macht und Anpassung hypothetisch anzureissen, es stellt sich aber damit zugleich die Frage, ob es eine Alternative zur Anpassung gibt und ggfs. von welchen Bedingungen nun diese abhängen würde.
3.2 Die Theorie der Differenzierung
3.2.2
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Differenzierung
Piaget hat in seiner Arbeit noch ein weiteres wesentliches Defizit hinterlassen: Seine Theorie des Erkennens, die eine Gleichsetzung von Erkenntnis und biologischer Aktion unterstellt, setzt nämlich voraus, dass der Organismus gewissermaßen mit einem Grundtrieb zur Anwendung oder Veränderung seiner Schemata ausgestattet ist. Piaget hat diesen Grundtrieb, der das Handeln des Menschen motiviert, vernachlässigt und bloß biologisch unterstellt, so dass ihm dabei wahrscheinlich eine wesentliche, rekonstruierbare Qualität entgangen ist: „Da er in seiner Theorie dem Ursprung der Motivation nicht nachgeht, kann er auch in der weiteren Konstruktion seines Modells nicht mehr die Orte einer möglichen Verknüpfung dieser Motivation mit den Assimilationen und Akkommodationen sehen, die er empirisch aufzudecken versucht“ (Reich 1998, S. 445f.).
Die Frage der psychischen Energie ist wissenschaftlich, zumal empirisch schwer fassbar, und dennoch aus pädagogischer Sicht ein wichtiges Konstrukt. Zwar wird die psychische Antriebskraft mehr im metaphorischen Sinne als Energie bezeichnet, gleichzeitig ist aber davon auszugehen, dass psychische Vorgänge in irgendeiner Weise energetischen Prozessen unterliegen. Der Begriff psychische Energie taucht z.B. bei dem Psychoanlaytiker C.G. Jung auf, und zwar als eine inhaltlich unbestimmte Energie, die nicht messbar, aber subjektiv erfahrbar ist und ihren Ausdruck z.B. in aktuellen (Wünschen, Wollen, Fühlen, Streben, Aufmerksamkeit) oder in potentiellen Kräften (Dispositionen, Motivationen, Neigungen, Tendenzen, Einstellungen) der Person findet (vgl. Jung 1991). Weiter oben wurde bereits dargelegt, dass das Anpassungsverhalten einem Spannungsverhältnis entspringt. Dabei führen unterschiedliche Zustände der inneren und äußeren Welt zu einem Erleben von Divergenz. Dies kann z.B. die Abweichung eines inneren Wunsches von den äußeren Möglichkeiten sein oder die Kluft zwischen äußerer Anforderung und innerem Widerstand. Genauso aber können auch unterschiedliche innere Seinszustände zu Spannungen führen, die beispielsweise durch Schmerzen, widerstreitende Gedanken oder Gefühle ausgelöst werden. Die Theo-
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
rie der Differenzierung geht nun davon aus, dass in der Spannung psychische Energie aufgebaut und akkumuliert wird und dann z.B. der Anpassungsleistung in Form von Akkumultion oder Assimilation zur Verfügung steht. Es wird also eine Art psychischer Gradientkraft aufgebaut, die dann in psychische Energie umgesetzt werden kann. Die erste strukturbildende Funktion, die sich dieser Energie bedient ist die Anpassung. Es ist aber in dieser Sichtweise auch denkbar, dass das Individuum die Spannung nicht gleich in Anpassungsverhalten umsetzt, sondern aushält und sie anwachsen lässt bis es in eine energetische Krise gerät. Auf dem Höhepunkt dieser energetischen Krise ist das Individuum zur Transzendenz fähig, es kann über sich hinauswachsen und sich dem Anpassungsdruck entgegenstellend etwas eigenes entwickeln, und sich damit als Individuum ausdifferenzieren. Das Individuum ist also von Beginn an zur Anpassung fähig, weil diese ihm nicht abverlangt, mit dem Vorhandenen in einen Konflikt zu gehen, denn die Spannungsmomente werden beständig durch Akkumulation und Akkommodation bewältigt. Auf diese Weise muss es die Divergenz zwischen inneren und äußeren Seinszuständen nicht lange aushalten, sondern kann sie beständig durch Anpassungsverhalten neutralisieren. Diese Fähigkeit hilft dem Neugeborenen (bzw. schon dem Ungeborenen) mit den Anforderungen und Begrenzungen seiner Umwelt umzugehen und stellt als Grundvoraussetzung das funktionelle Apriori dar auf dessen Basis die ersten Strukturbildungen möglich sind. Auch das Erlebnis des Selbst als letztendlich von Anderen geschiedenes und damit einsames Ich bleibt ihm damit zunächst erspart. Denn Differenzierung ist nur möglich, wenn das Individuum einen Zustand erreicht hat, in dem es sich selbst als von anderen unterschiedenes, einzelnes Selbst wahrnehmen kann. Zugleich wird es durch die Differenzierung immer stärker zu einem individuellen Subjekt und ist zunehmend stärker in der Lage diese Zumutung hinzunehmen und produktiv zu verarbeiten. Im Modus der Differenzierung muss das Individuum, das Spannungsverhältnis also nicht mehr harmonisieren, sondern kann die Spannung aushalten und eine eigene Wahl darüber treffen, wie es die quasi als Gradientkraft erzeugte Energie in einem Lernprozess umsetzt. Während das Individuum in der Anpassung in seiner Gebundenheit an
3.2 Die Theorie der Differenzierung
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das Vorhandene verbleibt, befreit es sich davon in der Differenzierung und ist dadurch zu eigenständiger Entwicklung fähig. Es differenziert sich mithin von den vorhandenen Verhältnissen und von den Anderen und schafft etwas Eigenes, etwas Neues. Die Differenzierung gelingt deshalb nie in einer Atmosphäre des Zwangs oder der Abhängigkeit. Im Rahmen einer weitgehend normalen Entwicklung sind Kinder auch deshalb noch nicht zur Differenzierung fähig, weil sie noch abhängig sind und sich noch nicht als prinzipiell einsames Individuum konzipiert haben. Der Ablösungsprozess von den Eltern, der mit der Adoleszenz einsetzt, ermöglich erstmals auf Spannungszustände mit Differenzierung anstatt mit Anpassung zu reagieren, was für beide Seiten eine neue und meistens nicht ganz einfache Erfahrung darstellt. Die Differenzierung verlangt dem Individuum also ab, im Spannungszustand das Bewusstsein auszuhalten, ein von den anderen getrenntes, eigenständiges Individuum zu sein. Diese Erfahrung benötigt und stärkt zugleich sein Selbstvertrauen, welches sich auf diese Weise dann immer weiter entwickeln und ausdifferenzieren kann. Die Tatsache der nicht vollends überwindbaren Einsamkeit stellt einen grundsätzlichen Konflikt für das Selbstkonzept des modernen Menschen dar, der seine Individualisierung nur um den Preis dieser Einsamkeit entwickeln kann. Er ist dabei allerdings stets auf die Sozialität mit Anderen angewiesen, mit denen er zum einen die Einsamkeit transzendieren und zum Anderen sein Selbstkonzept von dem der Anderen abgrenzen kann. Das Ich braucht ein Anderes, um überhaupt ein Ich zu sein, der Andere wird hernach als konstituierend für das eigene Sein erfahren: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber, 1986, S. 33). Die Differenzierung ist derjenige Vorgang, bei dem das Ich sich immer stärker vom Anderen abgrenzt, ohne dabei jedoch die Sozialität aufzugeben. Dafür muss es den Grundkonflikt der Einsamkeit erleiden, da nur dieser das Spannungsverhältnis derart zuspitzt, dass es ein Niveau erreicht, von dem dann die Kraft für die Entwicklung von etwas Neuem resultieren kann. Diese Fähigkeit steht dem Kind noch nicht zur Verfügung, sie entwickelt sich v.a. im Verlauf des Jugendalters mit dem Beginn der Adoleszenz. Aus pädagogischer Sicht lässt sich dies mit der Notwendigkeit begründen, das Kind mit Hilfe der Anpassung zunächst optimal überlebensfähig zu machen, und ihm
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
eine solide Basis zu schaffen, auf der es die Differenzierungsleistung erbringen kann. Insofern kann die Jugendzeit als ein Stadium des Übergangs gelten vom Kindsein zum Erwachsensein, sie trägt von beidem Züge und eine angemessene Behandlung des Jugendlichen in seinen schon erwachsenen Anteilen ist unabdingbar. Inwieweit dies in der gegenwärtigen Schulpädagogik hinreichend reflektiert wird, ist nicht Thema dieses Buches. Auf der Basis dieser theoretischen Position lässt sich aber doch eine wichtige Grundfrage der Pädagogik sehr schlüssig klären, nämlich die Frage nach dem Unterschied von Bildung und Erziehung. Lernvorgänge im Modus der Anpassung können jetzt als Erziehung und Lernvorgänge im Modus der Differenzierung als Bildung bezeichnet werden. Schulisches Lernen ist von daher zuvörderst ein Erziehungsvorgang, weil es im Rahmen der Schulpflicht stattfindet. Unter den Bedingungen von Pflicht und Zwang können weitgehend nur Anpassungsleistungen erbracht werden. Die Differenzierung bedarf hingegen immer eines ausreichenden Raumes an Freiheit und Wahlvermögen. Insofern ist die Schulpädagogik mit zunehmendem Alter der Schülerinnen und Schüler einem strukturlogischem Dilemma ausgesetzt, weil sie die erwachsenen Anteile der Jugendlichen nicht adäquat ansprechen und für Bildungsaktivitäten fruchtbar machen kann. Der Akt des Erwachsenwerdens kann dann von den Jugendlichen nur in der konfrontativen Auseinandersetzung mit Schule stattfinden, solange sie jedenfalls durch die Schulpflicht einer unmündigen Zwangssituation ausgesetzt sind (vgl. siehe zum Thema Schulpflicht Oevermann 1996).
3.3 Autonomie und Differenzierung des erwachsenen Selbst
3.3
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Autonomie und Differenzierung des erwachsenen Selbst Siddartha schlug die Augen auf und sah um sich, ein Lächeln erfüllte sein Gesicht, und ein tiefes Gefühl von Erwachen aus langen Träumen durchströmte ihn bis in die Zehen. Und alsbald lief er wieder, lief rasch, wie ein Mann, welcher weiß, was er zu tun hat. Hermann Hesse
Im Gegensatz zum Kind und zum Jugendlichen ist also der Erwachsene prinzipiell frei im Modus der Differenzierung zu agieren. Dieser prinzipiellen Freiheit stehen aber individuelle Einschränkungen gegenüber, die sie herabsetzen. Wenn die Differenzierung ihre Energie nämlich daraus bezieht, dass Spannungszustände ausgehalten werden, muss das Individuum auch in der Lage dazu sein. Es muss dafür die Erfahrung gemacht haben, dass es das kann, dass es im Spannungszustand die Kontrolle noch behält, und dass er sich angemessen auflösen wird. Die Erfahrungen mit unaufgelösten Spannungszuständen dürfen nicht überfordernd gewesen sein und auf keinen Fall traumatisierend (vgl. Kap. 4.2). Der Mensch muss also zunächst lernen, dass er durch sein Anpassungsverhalten seine Spannungszustände selbst regulieren kann. Eine psychologische Modellvorstellung, die auf einer anpassungsorientierten Spannungsregulation beruht ist die der optimalen Frustration. Dabei geht es um eine erträgliche Konfrontation mit Spannungszuständen, die aus der Differenz von kindlichen Wünschen, Phantasien und Begehrlichkeiten zur erlebten Realität entstehen. Eine wichtige Grundlage hierfür ist das Urvertrauen, welches im Lernprozess mit der Bindungsperson erworben wird. Im weitgehend normalen Entwicklungsverlauf beginnt bereits der Säugling mit diesem Lernprozess. Denn schon in der Mutter-Kind-Dyade4 lernt er, seine Spannungszustände durch assimilierendes und akkommodierendes Anpassungsverhal4
Bei dem Begriff der Mutter-Kind-Beziehung oder Mutter-Kind-Dyade handelt es sich um eine Abstraktion, wobei „Mutter“ gleichzusetzen ist mit dem Begriff des „primären Beziehungsobjektes“ und Mutter-Kind-Dyade stellvertretend den Satz substituiert: „Beziehung des Kindes zu einem primären Beziehungsobjekt“ (vgl. Lorenzer 1981, S. 24f.).
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
ten zu regulieren. Der neugeborene Organismus, der saugen lernt, der lernt, sein Organsystem in der Weise zu regulieren, in der die mütterliche Umgebung ihre Methoden der Säuglingspflege organisiert, und zugleich lernt den in der Dyade repräsentierten „freundlichen Anderen“ dazu zu bewegen, seine Bedürfnisse z.B. nach Nahrung, im wahrsten Sinne des Wortes zu stillen, lernt Spannungen in einer zumeist wohlwollenden Atmosphäre als nicht bedrohlich auszuhalten und lernt damit zugleich die Kompetenz der Spannungsregulierung (vgl. Lorenzer 1981, Wolf 2009). Das adaptive Lernsystem umfasst, gemäß der Bindungstheorie, sowohl die Funktion Fürsorge und Nähe der Bezugsperson sicherzustellen als auch die Fähigkeit eine personale Beziehung zu einem anderen aufzubauen: „Damit werden nicht nur die elementaren Bedürfnisse des Kindes erfüllt, es gewinnt auch das Grundvertrauen und die sichere Basis, von der aus es die Welt aktiv erforschen kann.“ (Fuchs 2009, S. 192)
In der Beziehung zur Bindungsperson entwickelt sich das Selbst zunächst aus einem vom Anderen abhängigen, einem gespiegelten Selbstbild. Das Kind verinnerlicht die Bilder, die ihm von anderen über sich gespiegelt werden. Das kindliche Selbst gründet auf der Bestätigung durch andere und es braucht deshalb diese Bestätigung, um sein Selbstkonzept überhaupt aufrecht zu erhalten. Insofern ist es einerseits noch schwierig hier von einem Selbstkonzept zu sprechen, andererseits entwickelt sich hier die Grundlage, auf dem dann das Selbst des Erwachsenen aufbaut.
Das primäre Beziehungsobjekt wird demnach keineswegs ausschließlich durch die (leibliche) Mutter repräsentiert, allerdings sind die Einsichten zur Mutter-Kind-Dyade zunächst aus Beobachtungen von Kindern zu ihren leiblichen Müttern entstanden, so dass die Theoriebildung ursprünglich entlang diesen Modells stattfand; Lorenzer verweist auch darauf, dass die Schlüsse aus diesen Untersuchungen deshalb gewisse Modifikationen erfahren müssen, wenn man von der Objektbeziehung Kind-leibliche Mutter übergeht zu anderen Verhältnissen (vgl. Lorenzer 1981, S. 26). Der Begriff erscheint nach wie vor sehr zielführend als Modell für das Verständnis der Säuglingsentwicklung, es soll damit keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass auch andere Personen, v.a. Väter eine intensive Beziehung zu ihren Kindern haben können. Nach wie vor gilt eine gelungene Stillbeziehung sicherlich als tragfähigstes Modell einer positiven Entwicklung.
3.3 Autonomie und Differenzierung des erwachsenen Selbst
65
Abbildung 1: Das Urvertrauen stellt eine solide Basis dar, auf die erwachsenes Differenzierungslernen aufbauen kann. Durch die Differenzierung wird gleichzeitig Selbstvertrauen entwickelt, so entsteht eine positive Rückkoppelung zwischen Selbstvertrauen und Differenzierung. Auf diese Weise kann nicht nur die Differenzierung des Erwachsenen voranschreiten, es können durchaus Defizite des Urvertrauens in gewissem Maße geheilt werden.
Ein stabiles erwachsenes Selbst entsteht hingegen gerade durch die Abwesenheit dieser Bestätigung bzw. durch die Auseinandersetzung mit der Ablehnung von Anderen, die es zur Differenzierung zwingt. In der Differenzierung arbeitet sich also das Individuum als eigenständiges Subjekt heraus, es erlangt damit zugleich eine immer größere Autonomie zu den Anderen, so dass es gleichzeitig immer beziehungsfähiger wird. Denn die Beziehungsfähigkeit unter Erwachsenen kann schließlich auf nichts anderem gründen als auf prinzipiell nicht-abhängigen-Verhältnissen. In dem also zugleich seine Autonomie, wie auch seine Beziehungsfähigkeit wächst, entwickelt es sein Selbstvertrauen und seine Differenzierungsfähigkeit weiter. Autonomie, Beziehungsfähigkeit und Selbstvertrauen gelten damit als Maßstab für den individuellen Differenzierungsgrad. Schon in der kindlichen Entwicklung werden zwar erste Autono-
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
mieerfahrungen gemacht, sie müssen sich allerdings noch nicht im Festhalten an einem stabilen Selbst bewähren. Das gespiegelte Selbst ist quasi ein Schutzraum, in dem nicht belastbare Autonomieerfahrungen gemacht werden können, insofern stellt die kindliche Exploration etwa solche Autonomie- und Selbstwirksamkeitserfahrungen bereit, die noch nicht auf das autonome Selbst abzielen, sondern über die Spiegelung abgefangen werden. Die ersten Autonomieerfahrungen des kindlichen Selbst sind geeignet, das Urvertrauen zu vertiefen, denn sie vermitteln positive Erfahrungen mit der Autonomie zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind noch nicht die Grunderfahrung der Einsamkeit gemacht hat, weil es sein Selbst nämlich noch aus der Bestätigung durch Andere konstituiert und nicht aus der Erfahrung der Autonomie. Wo diese Spiegelung ausbleibt und Kinder behandelt werden, als hätten sie bereits ein autonomes Selbst, entstehen Überforderungserfahrungen, die sich dann wiederum negativ auf die Entwicklung des autonomen Selbst niederschlagen können. Die gelungene Einübung und Praxis des adaptiven Lernens ist also im Format des Urvertrauens auch die Basis für die Differenzierung. Während das Urvertrauen jedoch ein fremdmotiviertes Vertrauen ist, wächst in der Differenzierung ein anderes Vertrauen, eines, dass auf den Anderen nicht innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses angewiesen ist. Die Differenzierung markiert also jenen Lernprozess, bei dem sich Selbstvertrauen entwickelt. Bestenfalls entwickelt sich Selbstvertrauen hernach aus dem Urvertrauen heraus. Was ist aber, wenn die Entwicklung des Urvertrauens defizitär verlaufen ist? Da der Differenzierungsprozess auf die Entstehung von etwas Neuem abzielt durch die Transzendierung des Alten, ist er prinzipiell in der Lage, Defizite des Urvertrauens zu kompensieren und an ihre Stelle Selbstvertrauen zu setzen. Die Differenzierung bietet damit eine Möglichkeit zur pädagogischen und therapeutischen Intervention, um vorangegangene Beschädigungen desjenigen Urvertrauens, das bei gelungener Sozialisation zu erwarten gewesen wäre, nachträglich zu heilen oder zumindest abzumildern. Hierin liegt das große Potential von sozialpädagogischen und erwachsenenpädagogischen Angeboten. Zugleich ist damit aber auch eine wesentliche Herausforderung beschrieben, denn die pädagogische bzw. sozialpädagogische Leistung besteht dann darin, Möglichkeiten zu schaf-
3.3 Autonomie und Differenzierung des erwachsenen Selbst
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fen, die das Individuum bei der Regulierung seines Spannungsverhältnisses so unterstützen, dass die notwendige Spannung sich nicht auflöst sondern ausgehalten und psychische Energie in psychische Kraft umgesetzt werden kann.
Abbildung 2: Autonomie, Beziehungsfähigkeit und Selbstvertrauen geben die Größen zur Bestimmung des Differenzierungsgrades eines Erwachsenen ab. Das Urvertrauen stellt in diesem Modell zwar eine wichtige Quelle für die Erzeugung des Differenzierungsfähigkeit dar, aber bedingt sie nicht automatisch, sie gilt daher auch nicht als Maßstab für den Grad der Differenzierung. Dieser bestimmt sich allein aus dem, was das differenzierungsfähige Subjekt zu leisten vermag.
Die Theorie der Differenzierung gründet darauf, dass das stabile, autonome Selbst weiterhin angewiesen ist auf Sozialität. Das Angewiesensein auf den Anderen endet nicht etwa an der Schwelle des kindlichen Selbstkonzeptes, im Gegenteil: Das stabile Selbst entwickelt sich in der Abwesenheit der Bestätigung durch den Anderen, nicht in der Abwesenheit des Anderen. Das kindliche Selbst ist auch keinesfalls verloren, sondern es
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3 Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie
erweitert sich durch das autonome Selbst. Es entwickelt sich im Erwachsenenstatus aber nur weiter, wenn es auf Ablehnungsverhalten nun mit Differenzierung reagieren kann: so entwickelt sich quasi aus dem kindlichen Selbst immer mehr das autonome Selbst heraus. Erwachsene, die ihr Selbstkonzept allerdings zu stark aus der Bestätigung speisen, fallen immer wieder auf ihr kindliches Selbst zurück und verhindern die Entwicklung des autonomen, erwachsenen Selbst durch Differenzierung. Bestätigung kann überdies nur gewährt werden in asymmetrischen Beziehungen und immer nur vom autonomen gegenüber dem kindlichen Selbst. Der Wegfall von festen Rollen- und Normenzuschreibungen, die für das nicht-autonome Selbst wie ein Korsett gewirkt haben, wirkt deshalb in zweifacher Hinsicht verunsichernd. Erstens werden Liebesbeziehungen dann problematisch, wenn die Beziehungspersonen darin Bestätigung suchen, da Liebesbeziehungen funktionslogisch als symmetrische Beziehungen angelegt sind und zweitens werden auch Eltern-KindBeziehungen problematisch, wenn Eltern das Bestätigungsverhältnis umzukehren versuchen, in dem sie Bestätigung durch ihre Kinder erwarten anstatt diese zu geben. Es ist demnach leicht zu verstehen, dass unter den postmodernen Veränderungen von Rollen und Normen diese beiden Beziehungskonstellationen derart krisenanfällig geworden sind. Im Übrigen gilt diese Problematik auch für die pädagogische Beziehung, die ebenfalls mit dem Problem konfrontiert ist, dass Lehrer grundsätzlich keine Bestätigung von ihren Schülern erwarten können und wo sie sie erwarten, damit konfrontiert sind, dass sich entgegen der Erwartung keine echte Bestätigung einstellen kann. In asymmetrischen Beziehungen wird das kindliche Selbst durch das autonome Selbst bestätigt, während das autonome Selbst durch das Kind-Selbst bestenfalls Ablehnung erfahren kann, die es zur Differenzierung drängt. Lässt sich das erwachsene Selbst auf diese Herausforderung ein, kann auch die asymmetrische Beziehung für beide Seiten eine Weiterentwicklung ihrer Selbstkonzepte bedeuten.
4
Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins Pour les Latins, les enfants n’ont jamais été que de futurs hommes; les Nordiques ont mieux compris cette verité plus vraie, que les hommes ne sont que d’anciens enfants. Paul Hazard
Für die Differenzierung verbleiben normative Zuschreibungen des Erwachsenen, wie sie in den Kategorien der Reife und der Vernunft zum Ausdruck kommen, zu sehr auf der Ebene der Anpassung, so dass sie für eine Bestimmung des Erwachsenenstatus nicht hinreichen. Ansätze, die die Genese des Erwachsenen beschreiben, scheinen demgegenüber eher geeignet, um die Möglichkeiten und Grenzen seiner Entwicklung zu erfassen und vor dem Hintergrund gegenwärtiger Entwicklungsverläufe auch eine Analyse von seinen Differenzierungsbedingungen zulassen. Auf der Basis von deskriptiven (vs. normativen) Theorieleistungen lässt sich der Erwachsenen im Horizont seines Gewordenseins aus den sozialisierenden und individuierenden Bedingungen von Kindheit und Jugend verstehen. Es verwundert im Licht der Differenzierungstheorie nicht, dass damit vor allem zunächst Anpassungsleistungen beschrieben werden, wenn auch mit fortgeschrittener Jugend immer mehr Differenzierungsakte hinzukommen. Sie beschreiben den Erwachsenen aber nicht als einfaches Produkt seiner Verhältnisse (zu denen auch die Erbanlagen zählen) sondern skizzieren menschliche Entwicklung als sehr komplexes, vielschichtiges und bei gewisser Regelhaftigkeit doch immer sehr individuelles Geschehen. Im Folgenden werden einige Ansätze aus Psychologie und Soziologie dargestellt, die zunehmend Bedeutung für pädagogische
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
Fragestellungen gewinnen und sich auch im Rahmen der hier vorgestellten Theorie als besonders anschlussfähig erweisen.
4.1
Strukturbildung durch die Gen-Umwelt-Interaktion Alles, was wir lernen, erfahren und erleben vollzieht sich im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Joachim Bauer
Die Frage genetischer Determiniertheit hat in der Vergangenheit einen bedeutenden Impuls durch neurobiologische Forschungen erhalten. Unter den Stichworten Genregulation und Genexpression diskutieren Naturwissenschaftler unterschiedlicher Couleur vermehrt das Phänomen der GenUmwelt-Interaktion. Dabei geht es nicht mehr darum die Frage, wovon menschliche Entwicklung mehr abhängt, von seiner genetischen Ausstattung oder den Umweltbedingungen, endgültig für das eine oder andere Lager zu entscheiden, sondern um das Verständnis von vielschichtigen überdeterminierten Wechselbeziehungen, deren Komplexität sich einfachen mehr ideologischen Zuschreibungen völlig entzieht. Eine Wendung der Sichtweise besteht vor allem darin, dass Gene nun nicht mehr als Determinanten denn vielmehr als Potentialisten angesehen werden. Ein oft zitiertes Beispiel ist das Krankheitsbild der Schizophrenie, deren genetische Übertragung als gesichert gilt. Vererbt wird jedoch nur das Risiko, krank zu werden, nicht die Krankheit selbst. Ob sich das genetische Risiko realisiert, hängt ganz entscheidend von den jeweiligen Umweltbedingungen ab. So ergaben finnische Schizophreniestudien mit Adoptionsfamilien, dass Kinder mit einem schizophrenen leiblichen Elternteil nur dann eigene psychiatrische Probleme entwickelten, wenn sie von dysfunktionalen Familien adoptiert wurden (vgl. Tienari et al. 1994). Die gleiche Logik lässt sich auch für den Alkoholismus beschreiben. Hier läßt sich der Beleg sogar auf experimentelle Untersuchungen grün-
4. 1 Strukturbildung durch die Gen-Umwelt-Interaktion
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den. Fonagy et al (2004) zitieren eine Studie, nach welcher Rhesusaffen mit einem „kurzen“ Allell des 5-HTT-Gens stärker durch die Trennung von der Mutter beeinträchtigt wurden, als Individuen mit „langem“ Allell. Sie wiesen im weiteren Verlauf der Studie nicht nur ein suboptimales Sozialverhalten auf, sondern konsumierten auch größere Mengen Alkohol und entwickelten rascher eine Alkoholtoleranz. Tiere mit „kurzem“ Allell, die von ihrer Mutter großgezogen wurden, entwickelten demgegenüber keine Auffälligkeiten (vgl. Suomi 2000). Gene sind also keine Autisten, wie der Freiburger Mediziner Joachim Bauer treffend resümiert, sondern stehen mit der Umwelt in Kontakt und werden durch diese entsprechend getriggert. Ein besonderer Stellenwert für die Regulation der Gene kommt dabei der sozialen Umwelt zu, wie die o.g. Beispiele zeigen. Sämtlichen Konstruktionen zur Genexpression liegt die Annahme einer Gen-Umwelt-Interaktion zugrunde, mithin einer sehr frühzeitigen sozialen Interaktionsfähigkeit. Eine wichtige Rolle kann dabei wahrscheinlich den sog. Spiegelzellen des Gehirns, den mirror neurons, zugeschrieben werden. Die Entdeckung der Spiegelneurone verdanken wir einem kleinen Zufall aus dem Jahr 1996: Die beiden Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti und Vittorio Galese führten am humanphysiologischen Institut der Universität Parma einige Versuche mit Schweinsaffen durch, um die biochemische Entladung bestimmter Nervenzellen der Großhirnrinde zu untersuchen. Im Fokus der Forscher standen also solche Zellen, die bei der Planung und Durchführung eigener zielgerichteter Handlungen maßgeblich beteiligt sind. Hierfür wurden Elektroden verwendet, die die chemischen Entladungen in den Affenhirnen registrierten und aufzeichneten, während die Affen bestimmte Handlungen ausführten. In einer Versuchspause, die Forscher hatten vergessen, das Aufzeichnungsgerät auszuschalten, griff ein Wissenschaftler unter den Augen eines Affen zu einem Gegenstand, worauf das Oszilloskop eine starke Entladung aufzeichnete, obwohl der Affe gar nicht in die Handlung involviert war. Die beteiligten motorischen Neuronen feuerten also wider Erwarten nicht bloß bei eigenen Handlungsprozessen, sondern sogar auch dann, wenn die Handlungen anderer beobachtet wurden. Dies war die Geburtsstunde der Spiegelzellen, die sich im weiteren Verlauf dann auch beim Menschen nachweisen ließen (vgl. Zaboura 2009).
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
Spiegelzellen sprechen nur dann an, wenn eine beobachtbare, zielgerichtete Handlung von einem lebenden Artgenossen durchgeführt wird. Sie ermöglichen also die Bewegungen und Handlungen des Gegenübers über den eigenen Körper empathisch nachzuvollziehen, ohne Zwischenschaltung des Bewusstseins. So sind wir in der Lage, den Anderen quasi auf körperlicher Ebene zu verstehen und eine Brücke zu schlagen vom Sehen zum Begreifen: „Wenn Sie beobachten, was ein anderer tut, unterstellen Sie ja automatisch einen bestimmten Zweck und begreifen blitzschnell die Absicht dahinter. Und diesen Schluss - das ist das Aufregende an den Spiegelneuronen - vollziehen wir offenbar nicht durch abstraktes Nachdenken, sondern indem wir die beobachtete Aktion zunächst innerlich nachvollziehen. Das Fremde wird quasi automatisch in eigenes Handeln übersetzt.“ (Keysers 2006) Spiegelneurone bewirken also einen, auch emotionalen, allerdings unbewussten, Nachvollzug von beobachteten Aktionen und ermöglichen so einen somatischen Perspektivwechsel zwischen mir und meinem Gegenüber ohne Umweg durch den Verstand. Da die Spiegelneurone demnach eine wichtige Funktion für die Herausbildung von Sozialität haben, kommt ihnen auch im Rahmen der GenUmwelt-Interaktion eine große Bedeutung zu. Die Komplexität der Gen-Umwelt-Interaktion wird noch gesteigert dadurch, dass die Umwelt, die die Expression eines Gens auslöst, nicht objektiv ist. Ob spezifische Umweltfaktoren den Ausdruck eines Gens aktivieren oder nicht, hängt demnach nicht nur von der „objektiven“ Art dieser Faktoren ab, sondern auch davon, wie sie erlebt werden – von einer intrapsychischen Funktion also, nämlich der bewussten oder unbewussten Zuschreibung von Bedeutungen an dieses Erleben. Dies wiederum hängt unmittelbar von den primär und sekundär erlebten Beziehungsqualitäten ab. Unsere Persönlichkeit, unser emotionales Verhaltensspektrum, unsere kognitiven Fähigkeiten sind Ergebnis der Genregulation, die den Gegensatz von genetischer oder umweltbedingter Determination aufhebt: „Durch die Umwandlung sozialer Beziehungen in biologische Signale übt das Gehirn nicht nur Einfluss auf zahlreiche Körperfunktionen aus, vielmehr verändert es unter dem Einfluss der von ihm selbst erzeugten biologischen Signale seine eigene Mikrostruktur“ (Bauer 2007, S. 10)
4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie
73
Damit haben frühkindliche Erfahrungen offensichtlich einen sehr bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen, aber sie müssen ihn doch nicht in Gänze determinieren. So wenig, wie Gene konstante Eigenschaften codieren, so wenig ist der Reifezustand des gesunden Menschen als Abschluss seiner Entwicklungsfähigkeiten zu betrachten. Denn zum einen unterliegen die Gene eines Menschen einer fortwährenden Regulation ihrer Aktivität und zum anderen können, zumindest in einem gewissen Maß, sogar genetische Vorbelastungen trotz einer sozialen Triggerung überwunden werden. Dies veranschaulichen Alkoholiker, denen es gelungen ist, entgegen ihrer Erblast und deren faktischer Triggerung trocken zu werden und zu bleiben. Es wird hier behauptet, dass dies ein Ergebnis ihrer Differenzierungsfähigkeit ist, die ihnen ein derart resilientes Verhalten ermöglicht. Zugegebenermaßen ist damit noch nichts über die Bedingungen dieser Resilienz ausgesagt.
4.2
Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie Ich war ein ängstliches Kind, trotzdem war ich gewiss auch störrisch, wie Kinder sind, gewiss verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht glauben, dass ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, dass ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-Hand-nehmen, ein guter Blick mir nicht alles hätten abfordern können, was man wollte. Franz Kafka
Die Bedeutung, die den zwischenmenschlichen Beziehungen für die Strukturierung des Gehirns zugesprochen wird, verlangt nach der genaueren Betrachtung der Qualitäten, die diese Beziehungen aufweisen können und die ihre komplexe und auch subtile Wirkungsweise erklären. Die bereits schon erwähnte Primärbeziehung ist es, in welcher der Säugling und das Kleinkind erstmals ein menschliches Gegenüber erfahren. Insofern hier die ersten Strukturen ausgebildet werden, auf denen fortan die
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
weitere Strukturbildung aufsitzt kann dieser Begegnung eine schicksalhafte Bedeutung beigemessen werden. Überdies ist der kleine Mensch diesem ersten Gegenüber bedingungslos ausgeliefert, von ihm hängt ja sein Überleben schon in biologischem Sinne quasi vollständig ab. Es ist Martin Dornes zu verdanken, dass er den Begriff des kompetenten Säuglings in den deutschsprachigen Wissenschaftsraum eingeführt hat. Mit seinem Ansatz erweitert er die bis dahin noch weit verbreitete Sicht auf den Säugling als eines passiven, undifferenzierten und seinen Trieben ausgelieferten Wesens, von dem auch eine quasi naturbedingtautomatische Entwicklungsfolge abgeleitet wurde. Kompetent ist der Säugling nicht im Hinblick auf eine irgendwie geartete intentionale Steuerungsfähigkeit seiner Entwicklung, die unter der Hand wieder das Bild einer typischen Entwicklungsfolge hypostasieren würde, sondern er ist vielmehr kompetent in Bezug auf seine Entwicklungsfähigkeit. Dornes widerspricht in diesem Zusammenhang einer ebenso verbreiteten Meinung, dass der Säugling die Welt zuerst als chaotisch wahrnehmen würde und seine Kompetenz darin bestünde allmählich Ordnung in sein Erleben zu bringen. Im Gegenteil er betont, dass der Säugling „die Welt und sich selbst von Anfang an eher als geordnet, denn als chaotisch empfindet“ (Dornes 1993, S. 21f.). Das bedeutet, dass der Säugling jede neue Information sofort in Beziehung zu den vorhandenen setzt, denn nur von diesen kann er schließlich Ordnungsstrukturen ableiten. Demnach haben die vorhandenen Informationen stets eine Ordnungsfunktion und damit eine wichtige Bedeutung dafür, wie neue Informationen bewertet und in das Ordnungsschema einbezogen werden. Schon aus diesem strukturlogischen Grund ist frühkindliches Erleben als so folgenreich für die gesamte Entwicklung eines Menschen anzusehen. Zusätzlich wird auf dieser noch eher informationstechnischen Folie schon deutlich, warum die Fähigkeit Beziehungen herzustellen so grundlegend für das Verständnis des Menschen ist: Damit aus Daten nämlich Informationen werden können, müssen sie miteinander in Beziehung gesetzt werden: “Eine Information ist nur dann konstituiert, wenn ein beobachtendes System über Relevanzkriterien verfügt und einem Datum eine spezifische Relevanz zuschreibt.“ (Willke 1998,
4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie
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S. 8) Das Ordnungsgefüge erst verleiht hernach den hinzukommenden neuen Erfahrungswerten ihren Sinn. Es verwundert nun nicht, dass sich diese Funktionslogik auch im sozialen Erleben niederschlägt und mehr noch, dass beide gar nicht voneinander zu trennen sind. Auch in der Säuglingsforschung geht man längst davon aus, dass primäre Beziehungen verinnerlicht werden und nicht isolierte Selbst- oder Objektbilder. Was internalisiert wird sind also wechselseitige soziale Aktivitäten, Handlungen des Selbst, die sich auf Handlungen der Objekte beziehen und umgekehrt. Alles ist von Beginn an in Beziehung zu etwas anderem gesetzt, darauf baut das gesamte intelligente Wesen des Menschen auf, insofern spricht Fuchs (2009) deshalb zurecht vom Gehirn als einem Beziehungsorgan und die Kompetenz des Säuglings ist demnach zuvörderst eine Beziehungskompetenz. Eine Beziehung ist immer wechselseitig und immer dynamisch, d.h. der Säugling erlebt sich sofort als aktiver Part der primären Dyade. Und da neue Informationen sofort an vorhandene gekoppelt werden, ist auch schon der Säugling fähig, eine tiefe Bindung zu seinem Gegenüber herzustellen. Fonagy betont deshalb den Unterschied zwischen Bindungstheorie und Objektbeziehungstheorie: „Das Ziel des Kindes ist nicht das Objekt, also zum Beispiel die Mutter. Das Ziel, von dem das System gesteuert wird, ist anfangs ein psychischer Zustand, nämlich die Aufrechterhaltung der angestrebten Nähe zur Mutter. Dieses physische Ziel wird später durch das eher psychologische Ziel eines Nähegefühls zur Fürsorgeperson ersetzt. Weil das Ziel kein Objekt, sondern ein Seins- oder Gefühlszustand ist, wird das Bindungssystem stark von dem Kontext beeinflusst, in dem das Kind lebt, das heißt, von der Reaktion der Bezugsperson, denn wenn das Kind sein Bindungsziel für erreicht hält, wird sich diese Wahrnehmung auf sein Verhaltenssystem auswirken.“ (Fonagy 2003, S. 15)
Diese Beziehung, die der Säugling zu seinem ersten Gegenüber entwickelt, ist nicht nur für das biologische Überleben wichtig, auch für das soziale. Auf der Basis einer sicheren Bindung kann er nämlich seine Umgebung erkunden, während seine Beziehungsfähigkeit dabei gleichzeitig verhindert, dass er seine Bezugsperson aus den Augen verliert. Immer, wenn er sich „zu weit“ entfernt, wird sein Bindungssystem aktiviert und
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er fängt an, Beziehungsarbeit zu leisten. Ist das Bindungsbedürfnis gestillt, fühlt er sich sicher und kann auf dieser Basis optimal die Welt erkunden. Explorationsvermögen und Bindungsverhalten bilden also ein System, dass wie eine Wippe funktioniert, bei der beide Funktionsweisen voneinander abhängen, sich gegenseitig antreiben und regulieren. Dabei bildet die Bindungsperson die unabdingbar sichere Basis, von der aus das Kind, die Welt erkundet. Dementsprechend zeigt sich in der Beoabachtung, dass das Explorationsverhalten abrupt abbricht, wenn das Kind plötzlich bemerkt, dass die Bezugsperson abwesend ist. „Die Abwesenheit der Bindungsfigur verhindert die Exploration. deshalb kann man davon ausgehen, dass sich eine sichere Bindung vorteilhaft auf eine Reihe kognitiver und sozialer Fähigkeiten auswirkt.“ (Fonagy 2003, S. 15)
Bei einer optimalen Entwicklung trägt die „Beziehungsarbeit“ in der primären Dyade dazu bei, dass der Mensch Selbstvertrauen und Selbstgefühl entwickelt, ein sicheres Gefühl für seine Identität bekommt, Sozialbeziehungen glücklich gestalten kann, Krisen bewältigt und seinem Leben durch seine Handlungen Sinn verleiht. Das in der Mutter-Kind-Dyade entwickelte Gefühl einer sicheren Bindung ist die wesentliche Voraussetzung für das Gefühl des Urvertrauens: „Mit einem inneren Gefühl von Bindungssicherheit kann man schließlich um die ganze Welt fahren und das Leben in seinen verschiedensten Varianten in der Außenwelt erkunden so wie sich auch auf die emotionalen Prozesse in seiner Innenwelt einlassen und sich bedrohlichere Gefühle, wie Wut, Hass, Aggression, Ekel etc. alleine oder mit Hilfe der Bezugsperson anschauen und diese in die Beziehung einbringen“ (Brisch 2009, S. 140). Für den Aufbau eines sicheren Bindungsgefühls ist eine funktionierende Beziehung in der Mutter-Kind-Dyade besonders wichtig, denn Defizite in der Primärbeziehung können zu unsicheren Bindungsgefühlen und schließlich zu einem defizitären Aufbau von Urvertrauen führen mit unterschiedlich starken Auswirkungen auf den Lebensentwurf eines Menschen. Es ist zum einen die adäquate Fürsorge der Bezugsperson, die einen Beitrag zur Bindungssicherheit leistet. Darüber hinaus bestimmt jedoch die innerhalb der Beziehungsinteraktion entstandene Erwartungshaltung hinsichtlich der Verfüg-
4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie
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barkeit der Bindungsperson ganz entscheidend darüber, ob sich das Kind in der Beziehung sicher fühlt oder nicht. Bindungstypen im Kindesalter
Beschreibung
Bindungstyp des Erwachsenenalters
Sichere Bindung
Kinder können Nähe und Autonome Distanz der Bezugsperson Bindungseinstellung angemessen regulieren.
Unsichervermeidende Bindung
Kinder zeigen eine Pseudoun- Distanziertabhängigkeit von der Bezugs- abweisende person. Auffälliges Kontakt- Bindungseinstellung Vermeidungsverhalten, primäre Beschäftigung mit Spielzeug im Sinne einer StressKompensationsstrategie. Präokkupierte, Widersprüchlichanhängliches Verhalten an die verstrickte Bezugsperson. Bindungseinstellung
Unsicherambivalente Bindung
Desorganisierte Bindung
Tabelle 1:
Beschreibung Empathische Persönlichkeiten, sind sich der negativen wie positiven Affekte gegenüber ihren Bindungspersonen bewusst, reflektieren in angemessener Weise und Distanz, kaum unbewusste Identifikationen mit eigenen Eltern, eigene ElternKind-Beziehung wird realistisch betrachtet und nicht idealisiert. Verdrängung der Erfahrungen mit den eigenen Eltern, sehr großes Unabhängigkeitsbestreben, verlassen sich lieber auf die eigene Stärke. Häufig Abwertung von Bindungspersonen und Bindung im Allgemeinen. Kinder werden oft unter Leistungsdruck gesetzt Negatives Selbstbild und mangelndes Vertrauen in die Verlässlichkeit wichtiger Bezugspersonen, Schwierigkeiten bei der Regulation von Emotionen, geringe Stressresistenz und allgemein hohe Anfälligkeit für psychische Störungen. Partnerschaften sind sehr gewünscht aber belastet durch mangelnde Autonomie und großen Zweifeln an der Verlässlichkeit des Partners.
Die Kinder zeigen deutlich Nicht desorientiertes, nicht auf eine klassifizierbarer Bezugsperson bezogenes Bindungstyp Verhalten.
Die Bindungstypen im Kindesalter ergeben sich aus der eperimentellen Situation in der Fremde-Situation nach Ainsworth (1991). Die Bindungstypen des Erwachsenen können sehr gut mit Hilfe des Adult-AttachementInterviews von Mary Maine ermittelt werden (vgl. Gloger-Tippelt 2001). Die Aussagekraft der Bindungstypen für das Beziehungsverhalten darf zwar nicht überbewertet werden, aber sie leisten doch keinen geringen Beitrag zum allgemeinen Verständnis von erwachsenen Störungsbildern. Meiner Meinung nach repräsentieren die Unsicheren Bindungstypen des Erwachsenen weitgehend die Schwierigkeiten, die v.a. in der angloamerikanischen Literatur unter co- und counterabhängigen Beziehungsformen diskutiert wird.
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
Die Folgen einer unsicheren Bindung hat John Bowlby erstmals in den 1930er Jahren in einer retrospektiven Untersuchung über die Entwicklungsgeschichte von 44 jugendlichen Dieben diskutiert. Seiner Ansicht nach war ein Bruch der frühen Mutter-Kind-Beziehung als Hauptursache für spätere psychische Störungen auszumachen, wobei sich ein besonders deutlicher Zusammenhang mit einer längeren Trennung von den Eltern bei jenen Jugendlichen abbildete, die von Bowlby als „gefühllos“ bezeichnet wurden. In den Folgejahrzehnten wurde die von Bowlby damit begründete Bindungstheorie sowohl theoretisch als auch empirisch weiterentwickelt. Besonders interessant sind die in Experimenten herausgearbeiteten Bindungstypen. Demnach werden im Kindesalter vier Bindungstypen unterschieden: die sichere Bindung, die unsicher vermeidende sowie die unsicher ambivalente Bindung und schließlich die desorganisierte Bindung. Nach Bowlby entwickelt das Kind auf der Basis seiner Beziehungserfahrung ein inneres Arbeitsmodell, dessen zentrales Merkmal die Verfügbarkeit der Bindungsfigur ist. Die primäre Beziehung wäre aber unterschätzt, würde man ihr nur einen Modellcharakter für nachfolgende Beziehungen unterstellen. Bowlby hält deshalb auch ein komplementäres Arbeitsmodell für das Selbst für möglich, dessen entscheidendes Merkmal es ist, inwieweit sich das Kind von der Bindungsperson akzeptiert fühlt oder nicht: „Ein Kind, dessen inneres Arbeitsmodell von der Bindungsfigur auf Ablehnung ausgerichtet ist, wird nach dieser Theorie auch ein entsprechendes Arbeitsmodell eines nicht liebenswerten, unwerten und fehlerhaften Selbst entwickeln“ (Fonagy 2003, S. 19)
Die Selbstwerdung darf aber nicht missverstanden werden als ein Akt, bei dem es bloß um die Aneignung einer eigenen bildhaften Vorstellung geht, ähnlich einer Objektinternalisierung. Zwar besitzt man eine gewisse objekthafte Vorstellung seiner Identität aber darüberhinaus ist das Selbst weniger ein Zustand, mehr ein Prozess, ein Mechanismus höherer Ordnung, der die Beziehungen des Ich zu sich selbst, zu anderen und zu der Welt im Ganzen reguliert. In diesem Kontext wird Bindung als eine Prozesseinheit konzeptualisiert, die durch ein vielfältiges und adaptives Ver-
4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie
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haltenssystem zur Entstehung eines komplexen, mentalen Lebens beiträgt. Was also beim Verlust des primären Beziehungsgegenübers verlorengeht, ist nicht einfach bloß das Band zu einem Objekt, sondern die Gelegenheit diesen Regulierungsmechanismus zu erzeugen: „Obwohl Bowlby es nicht ausdrücklich postuliert, handelt es sich bei diesen Modellen der Bindungsfigur und des Selbst um transaktionale, interaktive Modelle, die Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen repräsentieren.“ (Fonagy 2003, S. 19)
Das Problem eines Arbeitsmodells, das ein nicht liebenswertes, unwertes und fehlerhaftes Selbst repräsentiert, besteht also nicht einfach in der Fixierung dieses Selbstbildes sondern weit mehr darin, dass dadurch auf subtile Art die Beziehungsdynamiken des Individuums geprägt werden, bei Intimbeziehungen wahrscheinlich größer als bei Rollenbeziehungen. Die Folgen sind u.a. für Kinder von Alkoholikern sehr gut belegt. Janet Woititz beschreibt aus ihrer Beratungspraxis Erfahrungen mit erwachsenen Alkoholikerkindern, die in einer Atmosphäre aufgewachsen sind, bei denen letztendlich beide Elternteile unberrechenbare Verhaltensweisen zeigten: „Manchmal war der alkoholabhängige Elternteil in Ihrer Familie warmherzig und liebevoll, manchmal abweisend und feindselig. Obwohl der nicht trinkende Elternteil Ihnen sagte, Sie würden geliebt, war er oder sie doch oft so gereizt und von Sorgen in Anspruch genommen, dass Sie sich selten geliebt gefühlt haben. Es gab keine Beständigkeit. (...) Haben Sie sich jemals gefragt, warum Sie sich zu dem Menschen hingezogen fühlen, der sich an einem Tag warmherzig und liebevoll und am nächsten Tag abweisend verhält? Haben Sie sich jemals gefragt, warum der Mensch der sagt, er ruft an und es dann nicht tut, Ihnen begehrenswerter vorkommt als der, der zuverlässig ist?“ (Woititz 2010, S. 12)
Auch Hazan und Shaver (1987) gehen davon aus, dass sich kindliche Bindungserfahrungen im adulten Beziehungsverhalten niederschlagen. In Anlehnung an die klassischen Bindungstypen unterscheiden sie ebenfalls drei Bindungsstile (oder besser Beziehungsstile), die sie mit folgenden Items charakterisieren:
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Sicherer Beziehungsstil: „Ich finde es relativ leicht, anderen nahe zu kommen, und fühle mich wohl, wenn ich von ihnen abhängig bin oder sie von mir abhängig sind. Ich mache mir selten Sorgen darüber, dass ich verlassen werden könnte oder dass mir jemand zu nahe kommt.“ Ängstlich ambilvalenter Beziehungsstil: „Ich finde, dass andere nicht so viel Nähe wollen wie ich. Ich mache mir oft Sorgen, dass mein Partner mich nicht wirklich liebt oder nicht mit mir zusammen bleiben will. Ich möchte mit einem anderen vollkommen verschmelzen, und dieser Wunsch schreckt andere manchmal ab.“ Vermeidender Beziehungsstil: „Ich fühle mich irgendwie unwohl, wenn ich anderen nahe bin; ich finde es schwer, ihnen völlig zu vertrauen und zuzulassen, von ihnen abhängig zu sein. Ich werde nervös, wenn mir jemand zu nahe kommt, und häufig wollen meine Liebespartner mehr Intimität als ich.“
Die Auswirkungen von Kindheitserfahrungen auf den Erwachsenen sind so komplex, wie die Kindheiten selbst, insofern lassen sich also keine schlichten Kausalverläufe abbilden. Unterschiedliche, den kindlichen ähnliche Bindungstypen lassen sich allerdings auch im Erwachsenenalter belegen. Mit Hilfe eines halb standardisierten Leitfadens gelingt es im Adult-Attachement-Interview die jeweilige Bindungsausprägung eines Erwachsenen zu beschreiben. Interessant ist bei diesem Verfahren die außergewöhnlich hohe Vorhersagekraft für die Weitergabe des Bindungsverhaltens an die eigenen Kinder: Anhand des Interviews lässt sich sogar schon vor der Geburt des Kindes prognostizieren, in welche Kategorie die kindliche Bindung fallen wird (vgl. Fonagy 2003). Die früheren Beziehungen fungieren zwar nicht einfach als Schablone für spätere Verbindungen, so dass sich eine schlichte Übertragung von Strukturen der primären Bindungsbeziehung auf sekundäre Beziehungen verbietet, aber sie werden auch nicht einfach von nachfolgenden Erfahrungen ausgelöscht. Vielmehr emergieren sie in der Beziehungsdynamik und entwickeln dort eigene Ausprägungsformen. Je nach Problematik können sie dann aber auch bewusst gemacht und in einem gewissen Maß bearbeitet werden: „Von daher beeinflusst oder lenkt die Vergangenheit zwar die Erwartungen, legt sie aber nicht unwiderruflich fest. Sowohl ältere Kinder als
4.2 Beziehungsfähigkeit aus Sicht der Bindungstheorie
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auch Erwachsene überwachen weiterhin die Verfügbarkeit und Reaktionsbereitschaft der Bindungsfigur.“ (Fonagy 2003, S. 21)
Insofern bleibt das Bindungssystem offen für neue Erfahrungen. Inwieweit eine unsichere Startphase durch neue Interaktionserfahrungen kompensiert werden kann hängt zum einen vom Destruktionsgrad der bisherigen Erfahrungen ab und davon, inwieweit es gelingt, mit anderen Interaktionspartnern die Defizite der Bindungsperson auszugleichen. Nicht jede Verletzung wirkt sich also gleich schwer aus, da auch die jeweiligen sozialen Kontexte und die Kontinuität der Destruktion eine Rolle spielen. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass eine sichere Bindung im Kindesalter als Schutzfaktor gegen psychische Erkrankungen wirken kann und dass sie mit einer breiten Palette von gesünderen Persönlichkeitsvariablen wie zum Beispiel geringerer Angst, weniger Feindseligkeit und größerer Widerständigkeit des Ich verknüpft ist. Allerdings wäre es völlig verkürzt davon auszugehen, dass eine unsichere Verbindung unbedingt auch pathologisches Verhalten induziert. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass verstrickte Individuen mehr psychischen Stress erleben, während beziehungsabweisende Personen eher zu somatischen Symptomen und Krankheiten neigen, aber derartige Verhaltensweisen können nicht gleich als pathologisch eingestuft werden. Zwar sind die Korrelationen von erwachsenen Bindungstypen im Hinblick auf die Weitergabe an die eigenen Kinder recht gut belegt, aber für alle weiteren Verhaltensaspekte ergeben sich nur bei den Hochrisikogruppen eindeutige Zusammenhänge und dann auch zumeist bezogen auf desorganisierte Bindungstypen. Unsichere Bindungstypen sind als nicht per se krankhaft sondern verweisen auch darauf, dass suboptimale Kindheitserfahrungen in einem weitgehend als normal zu bezeichnendem Erwachsenenleben durchaus bewältigt werden können. Viel interessanter als der Aspekt ausgemachter Pathologie sind deshalb die Bewältigungsstrategien, mit denen Erwachsene nicht förderliche Erfahrungen verarbeiten. In diesem Zusammenhang ist die Studie von Wensauer (2002) recht aufschlussreich, die zum Beispiel auf die Auswirkungen von sicheren Bindungserfahrungen auf die Lebenszufriedenheit im Alter hinweist.
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4.3
4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
Das Trauma und seine Folgen Wunden gibt es, die wie die Lepra an der Seele nagen, langsam in der Einsamkeit. Es sind dies Leiden, die man keinem erzählen kann. ... Denn der Mensch hat noch kein Heilmittel wider diese Geißel gefunden. Die einzig wirksame Medizin ist das Vergessen, welches der Wein gewährt, ist der süße Schlaf, welchen die Droge spendet, oder ein Rauschgift. Doch ihre Wirkungen sind leider nur ephemer: weit davon entfernt sich für immer zu stillen, zögert das Leid nicht und erneuert sich heftig. Sadek Hedajat
Zu den schwerwiegendsten und folgenreichsten Verletzungen, die die Psyche innerhalb von menschlichen Beziehungen erleben kann, gehören seelische Traumata. Zu einer Traumatisierung kann es bei Erwachsenen durch schwere Unfälle, Naturkatastrophen, Gewalteinwirkungen und vor allem kriegerische Auseinandersetzungen kommen. Die ersten Auseinandersetzungen mit traumatischen Störungsbildern bei Erwachsenen gehen auf Untersuchungen von traumatisierten Soldaten, insbesondere VietnamVeteranen zurück. Es ist davon auszugehen, dass dieses Thema auch in Deutschland mehr und mehr an Gewicht gewinnen wird. Nach Bundeswehrangaben wurden in den vergangenen 10 Jahren bereits 2200 Soldaten offiziell wegen einer Traumatisierung behandlungspflichtig, wobei die Dunkelziffer als mindestens doppelt so hoch veranschlagt wird (vgl. Seeliger 2011). In der Kindheit entstehen Traumatisierungen vor allem durch Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch. Die traumatischen Kindheitserlebnisse sind mit den bisherigen Bindungsklassifikationen wahrscheinlich nicht ausreichend fassbar, weil es sich hier nicht nur um eine Störung in der Bindungsbeziehung handelt, sondern um eine Destruktion des Selbst. Aus diesem Grund charakterisieren kindliche und
4.3 Das Trauma und seine Folgen
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erwachsene Traumata ein ähnliches Störungsbild und lassen sich gut im Vergleich miteinander begreifen: „Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystem und Sinn gibt.“ (Herman 2006, S. 54)
Traumatische Erlebnisse gehen immer mit Gefühlen intensiver Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und drohender Vernichtung einher und bewirken von daher tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und Gedächtnis. Um das Trauma zu verstehen, muss man zunächst begreifen, wie der Mensch normalerweise auf eine Gefahr reagiert, er ist nämlich von Natur aus mit einem sehr gut funktionierenden Apparat zur Bewältigung von Gefahrensituationen ausgestattet: Eine Bedrohung erregt zunächst das vegetative Nervensystem und setzt einen Adrenalinschub frei, so dass der Bedrohte in einen Alarmzustand gerät und auf die Situation seine volle Aufmerksamkeit richtet. Um dazu fähig zu sein, muss er alle anderen Empfindungen, wie Hunger oder Müdigkeit nach Möglichkeit ignorieren können. Der Körper gerät in einen besonderen Erregungszustand, der in der Regel von Angst- und Wutgefühlen flankiert wird. Durch die Veränderungen im Grad von Erregung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Empfindungen mobilisiert der Bedrohte alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte, um die außergewöhnliche Situation durch Kampf oder Flucht aufzulösen. Haben diese Handlungen jedoch keinen Sinn, ist die Situation quasi ausweglos und weder Widerstand noch Flucht möglich, bricht das Selbstverteidigungssystem schlagartig zusammen und es kommt zu einem Verhalten der Erstarrung. Diesen Moment beschreibt Levine analog einer Antilopenherde, die es schafft blitzartig die Flucht vor einem Geparden anzutreten und eine Geschwindigkeit von rund 100 Stundenkilometern aufzunehmen. Dabei strauchelt eine junge Antilope, fängt sich und rennt zunächst weiter: „Als der Gepard die junge Antilope erreicht, fällt diese in Erwartung ihres nahen Todes zu Boden. Vielleicht ist sie nicht einmal verletzt. Das völlig erstarrte Tier täuscht nicht vor, dass es tot ist, sondern ist instinktiv in einen veränderten Bewusstseinszustand eingetreten, so
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
wie es alle Säugetiere tun, wenn sie ihren unmittelbaren Tod erwarten“ (Levine 1997, S. 24). Diese „Erstarrungs-“ oder „Immobilitätsreaktion“ gehört neben Flucht oder Kampf zu den drei primären Reaktionsarten mit denen Tiere, aber offenbar auch Menschen, auf Gefahr reagieren. Das Problem bei der Erstarrung ist, dass der besondere Erregungszustand darin aufrechterhalten wird, dass jedes Element des komplexen Reaktionsgefüges fortbesteht, auch wenn die Bedrohung bereits vorüber ist. Offenbar reguliert sich beim Tier der Energiestau nach dem Erstarrungszustand leichter als beim Menschen: „Die verbliebene Energie entlädt sich nicht einfach von selbst, sondern verbleibt im Körper und es entwickeln sich Symptome wie Angst, Depression, psychosomatische Störungen und Verhaltenssymptome. Der Organismus schafft diese Symptome, um die verbliebene Energie in feste Bahnen zu lenken und einzugrenzen.“ (Levine 1997, S. 30)
Es gibt mittlerweile sehr ausgeklügelte Erklärungsmodelle über die neurophysiologischen Aktivitäten beim Trauma, die den Rahmen hier sprengen würden. Ein Aspekt ist aber zum Verständnis der traumatischen Folgen sehr bedeutsam. Sehr vereinfacht geht es dabei v.a. um zwei Gehirnbereiche, die Amygdala und den Hypocampus: Während die Amygdala Aussenreize emotional belegt, ist es die Aufgabe des Hypocampus diese zu benennen, bewerten und zu ordnen, damit sie reaktiv bearbeitet und im Gedächtnis archiviert werden können. Beim Trauma kommt es jedoch zu einer völligen Überflutung mit heftigen Emotionen: Chaos, Angst, Panik, Wut, Schrecken usw., die den Hypocampus nun quasi überrennen, so dass sie nicht mehr benannt und damit geordnet verarbeitet werden können. Sie sind zwar da, stehen aber dem Bewusstsein nicht zur Verfügung und die regulierende Reaktion bleibt aus. Ab diesem Moment führen die traumatisierten Erinnerungen quasi eine Art Eigenleben, sie kommen in unerwarteten Situationen zum Vorschein, wenn sie durch einen kleinen Auslöser plötzlich gertiggert werden: „Durch Triggersituationen werden die mit dem Trauma verbundenen Emotionen und Körpergefühle erneut ausgelöst. Da die meisten Betrof-
4.3 Das Trauma und seine Folgen
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fenen nicht wissen, dass sie es mit einem Trigger zu tun haben, der sie an ein verdrängtes Trauma erinnert, können sie die Gefühle nicht zuordnen - nicht benennen - und daher nicht verarbeiten.“ (Sautter & Sautter 2008, S. 43)
Die meisten Menschen kennen solche Triggersituationen, ohne dass ihnen die tiefere Bedeutung bewusst ist. Es sind z.B. solche Momente der im wahrsten Sinne ohnmächtigen Wut, weil der Partner nicht wie versprochen anruft oder das Kind die zweite 5 in Latein mit nach Hause bringt, wenn die Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht und Wut so groß werden, dass rationales Bewertungs- und Handlungsvermögen zumindest kurzfristig ausser Kraft gesetzt sind. Wahrscheinlich sind viele Kommunikationsstörungen gerade in Partnerschaften auch darauf zurückzuführen, dass die Personen getriggert werden und dann auf den Trigger reagieren anstatt auf das tatsächliche Geschehen. So reagiert der als Kind vernachlässigte Mann vielleicht mit überschäumender Eifersucht, weil seine Frau mit dem Nachbarn ein freundliches Wort wechselt. Sich seines Triggers nicht bewusst hält er das eigene Erleben aufgrund seiner emotionalen Stärke für realitätsangemessen und kann nicht nachvollziehen, warum es von außen betrachtet übertrieben wirkt. Ohne die Triggerhistorie zu kennen wird nun die Frau ihrerseits auf die übertriebene Gefühlsäußerung des Mannes reagieren und ein heftiger, zermürbender Streit über eine Lappalie entflammen. Nicht hinter jedem Trigger verbirgt sich allerdings ein schwerwiegendes Trauma, auch kleinere Verletzungen, Leistungsdruck, Hänseleien, Unfälle usw. können emotional so fixiert werden, dass sie später als Trigger fungieren. Prüfungsängste können z.B. durch zu starken Leistungsdruck von Eltern und Pädagogen entstehen, noch Jahre später werden die alten Versagensängste in aktuellen Situationen derart getriggert, dass sich der Erwachsene wieder so klein und hilflos fühlt, wie seinerzeit als Kind. Auch irrationle Ängste, wie Flugangst oder eine Insektenphobie können als Trigger auf frühere Erfahrungen hinweisen. Gleichzeitig bleibt die Entstehungsgeschichte dieser Gefühle den Personen völlig verborgen, weil sie jedoch als unangemessen, besonders als unerwachsen interpretiert werden, erhöht sich das ohnehin subtil vorhandene Schamgefühl und verstärkt die unangenehmen Gefühle.
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Ein Trauma geht aber über diese Altlasten der Kindheit weit hinaus. Wer ein Trauma erlebt hat, hat Todesangst gespürt und grenzenloses allein sein, ausgeliefert sein und sich selbst nicht helfen können - „namenlose Not“ um einen Terminus der Dichterin Ingeborg Bachmann zu gebrauchen. Der Kern jeder Traumatisierung besteht in extremer Einsamkeit, im äußersten Verlassensein und vollkommenem Kontrollverlust. Damit geht häufig, bei Gewalttrauma immer, auch eine Traumatsierung der Beziehungen und der Beziehungsfähigkeit einher (vgl. Huber 2007). Dies stimmt sowohl für kindliche als auch für erwachsene Traumatisierungen. Ein sehr populäres Beispiel ist der amerikanische Sanitätsgefreite Joe Dwyer, der im Irak-Feldzug 2003 einen verletzten kleinen Jungen rettete. Das Foto von Dwyer und dem kleinen Jungen ging seinerzeit um die Welt und machte ihn quasi zum Nationalhelden. Nach seiner Heimkehr leidet Dryer jedoch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und beginnt Treibgase zu schnüffeln, obgleich er vor seinem Kriegseinsatz als sozial sehr kompetenter Mensch gilt, zerbricht schließlich seine Ehe und er isoliert sich zunehmend. Im Jahr 2008 stirbt Joe Dwyer an den Folgen einer Überdosis von Treibgas und Tabletten. „Im Jahr 2009 starben mehr US-Soldaten durch Suizid (334) als auf dem Schlachtfeld im Irak (149). Schon 2008 stellten Militärärzte fest, dass jeden Monat 1000 Veteranen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Weit über 100 Ex-Kämpfer aus dem Irak und aus Afghanistan sind durchgedreht und haben Menschen getötet; ein Drittel der Opfer waren Freundinnen, Ehefrauen oder andere Familienmitglieder.“ (Meyer 2010, S. 129)
Das Bild des Erwachsenen, der stets selbstbestimmt und verantwortungsvoll handelt, auch schwierige Situationen überblicken und meistern kann und der vor allem eines weitgehend nicht ist, nämlich irrational, wird angesichts traumatischer Erschütterungen brüchig5. Das Tragische an der 5
Streng genommen gilt dieses Erwachsenenbild aber vor allem für männliche Erwachsene. Dabei werden schon in der Sozialisation die Aspekte von Rationalität vs. Emotionalität, Macht vs. Kooperation und Unverletzbarkeit vs. Verletzbarkeit männlichen und weiblichen Rollenbildern unterstellt, die dementsprechend als unvereinbar gelten: „Während Mädchen in der Einheit von Fühlen und Lernen aufwachsen, entwickeln Knaben eine positionale Identifizierung mit Aspekten der männlichen Rolle. Bei ihnen
4.3 Das Trauma und seine Folgen
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Traumatisierung ist, dass sie aufgrund der Einsamkeitserfahrung auch dem für die Gestaltung von Beziehungen notwendigen Vertrauensverhältnis den Boden entzieht, so dass selbst nahe Beziehungen nicht automatisch heilsam wirken. Das gilt für Kriegs- und Katastrophentraumata ebenso wie für Kindheitsraumata, die von Sautter & Sautter übrigens auch als Beziehungstraumata bezeichnet werden. Bei den Beziehungstraumata infolge von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexueller Gewalt kommt erschwerend hinzu, dass zwischen Tätern und Opfern häufig eine innige Beziehung besteht. Das traumatische Erlebnis steht von Beginn an unter einer Schweigeverpflichtung, häufig spielen die Täter geradezu mit der Realitätswahrnehmung ihrer Opfer, in dem sie ihre eigenen Handlungen bagatellisieren oder die Verantwortung dafür dem Opfer überstülpen. Häufig führt dies dazu, dass das Opfer seine traumatischen Erlebnisse scheinbar vergisst und später ein gesellschaftlich weitgehend unauffälliges Leben führt. Die traumatischen Situationen sind aber nicht wirklich vergessen, besonders die Fähigkeiten der Kommunikation sind durch die Erlebnisse in der Regel belastet und generieren nicht selten wieder belastende Problemlagen. Traumatische Erlebnisse in der Kindheit brechen nicht selten als mehr oder weniger schwere pathologische Erscheinungen im Erwachsenenalter durch. Viele Depressionen haben mit Gewissheit ihre Entstehung einer kindlichen Traumatisierung zu verdanken. Häufig ist den Opfern die Entstehung der belastenden Gefühle, wie Ohnmacht, Angst, Wut und tiefer Selbsthass nicht präsent. Wie auch immer sich die traumatisierenden Erlebnisse der Kindheit im Erwachsenen symptomatisch nieder schlagen, so ist das Erwachsenenalter doch zugleich auch die Zeit, in der die Traumata endlich verarbeitet werden können. Oft dauert es aber viele Jahre bis Jahrzehnte, ehe es den Betroffenen gelingt, ihre mehr oder weniger starken Symptome dem ist die Verbindung zwischen affektiven Prozessen und dem Rollenlernen zerissen“ (Chodorow 1985, S. 227). Die gesellschaftliche Entwicklung verlangt vom Jungen, dass er sich auf Leistung und Erfolg fixiert und sich voll auf äußere Ziele konzentrieren kann. Mehr noch: Er muss sogar so sozialisiert werden, dass er jederzeit als Soldat rekrutierbar ist. Das bedeutet vor allem, alles störende, insbesondere das Gefühlsleben, abzuspalten. Männer müssen unverletzbar sein, jederzeit kontrollieren und dominieren und gleichzeitig hierarchiefähig sein.
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Trauma zuordnen zu können. Es verwundert von daher nicht, dass Missbrauchsopfer häufig erst nach vielen Jahren und erst dann wenn die Tat verjährt ist, sie zur Anklage bringen. Zunächst haben sie vielleicht lange Zeit unter Symptomen gelitten, von denen sie nicht einmal ahnten, dass es solche sind, dann haben sie irgendwann ihr Trauma entdeckt, dann mussten sie es bearbeiten und schließlich sprach- und handlungsfähig werden. So geht womöglich viel Zeit ins Land, ehe Männer und Frauen es schaffen, ihre ehemaligen Peiniger anzuzeigen.
4.4
Die Fähigkeit zur Mentalisierung Dich denken sehen und denken dass ich Dich sehe Und sehen dass ich dich denken kann und Dich spüren auch wenn ich Dich noch lange nicht sehen kann. Erich Fried
Eine wichtige Fähigkeit, die im Kind vorbereitet wird und seine sozialen Möglichkeiten als Erwachsener prägt ist die Mentalisierung. Dabei handelt es sich um das Vermögen, den mentalen Zustand einer Person, der in ihren Gedanken, Gefühlen, Überzeugungen und Wünschen zum Ausdruck kommt zu erfassen und quasi intuitiv interpretieren zu können. Das Verhalten anderer Menschen zu verstehen, nachvollziehen und in gewissem Maß voraussehen zu können, ist die Grundlage einer sicheren Verankerung in der Lebenswelt. Mentalisierung wird deshalb etwas vereinfacht gern als als Fähigkeit zum Gedankenlesen bezeichnet. Hierfür entwickeln Menschen eine „Theory of mind“ ihres Gegenübers, eine Theorie des Geistes oder des Mentalen, die aus zusammenhängenden Überzeugungen und Wünschen – inneren Zuständen – besteht, die man einer Person zuschreibt, um sich ihr Verhalten zu erklären (vgl. Fonagy et al 2004), aus der Kohärenz des erlebten und vorhergesagten Verhaltens erscheinen die Handlungen als sinnvoll:
4.4 Die Fähigkeit zur Mentalisierung
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„In der täglichen Lebenspraxis hat jeder das subjektiv sichere Gefühl, die Beweggründe, Wünsche und Ziele anderer Menschen nachvollziehen zu können und in verschiedenen Weisen darauf reagieren zu können. Die (als bewusst erlebte) Zuschreibung dieser sowohl mir als auch dem anderen inhärenten mentalen und intentionalen (...) Zustände ist jene Theory of mind, auch mentalistische Alltagstheorie genannnt (...). Jeder Mensch besitzt die Kompetenz, von sich aus auf das Vorhandensein und die Funktionsweise des Geistes anderer zu schließen (...), so dass ein kohärentes Weltbild und eine sinnvoll zusammenhängende soziale Umwelt gesichert werden können.“ (Zaboura 2009, S. 98f.)
Bei der Mentalisierung geht es um das vitale menschliche Bedürfnis nach Schlüssigkeit in der Erfahrung des handelnden Selbst in der Beziehung zwischen innerer und äußerer Realität. Dazu braucht es die Zuordnung mentaler Zustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Begierden, Glaubenssätze....) zum Selbst und dem Anderen: „Mentalisieren heißt, in sich selbst und in anderen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und zu erkennen, dass diese mit der äußeren Realität in Verbindung stehen.“ (Fonagy/Target 2001, S.963)
Menschen sind offenbar universell in der Lage, ihren Mitmenschen mentale Zustände zuzuschreiben, so dass deren Verhalten für sie Bedeutung gewinnt und antizipierbar wird; dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Viabilität des Sozialverhaltens. Nach Fonagy et. al (2004) sind an der Mentalisierung selbstreflexive und interpersonale Komponenten beteiligt, die gemeinsam die Fähigkeit vermitteln, zwischen innerer und äußerer Realität, intrapersonalen mentalen und emotionalen Prozessen und interpersonaler Kommunikation zu unterscheiden. Bringt man kommunikationswissenschaftliche Ansätze in Zusammenhang mit der Theorie der Mentalisierung wird auch die Bedeutung der analogen Kommunikation evident, wahrscheinlich kann die Mentalisierung auch als eine wichtige Funktion zur Kommunikation des Beziehungsaspektes angesehen werden. Am Pathologischen wird deutlich, wie wichtig es ist, dass die Repräsentation intentionaler Zustände angemessen verläuft. Wenn die Repräsentation des Anderen oder des Selbst gestört ist, misslingt nämlich die
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kohärente Integration seiner mutmaßlichen Intentionen und damit das mentalistische Verstehen des Gegenübers. Fonagy et al. beschreiben in diesem Zusammenhang zum Beispiel Borderline-Patienten, deren Krankheitsbild dadurch gekennzeichnet ist, dass ihnen ein realistisches Bewusstsein für die psychische Realität des Anderen fehlt. Es gilt also nicht nur den Anderen im Selbst zu repräsentieren, sondern ihn auch als Repräsentanz des Anderen und nicht des Selbst zu erkennen. Eine ausgeprägte Mentalisierungsfähigkeit ist aber keinesfalls ein Garant für psychosoziale Gesundheit. Bei Menschen mit ausgeprägten Defiziten ihrer Empathie begünstigt eine hohe Mentalisierungskompetenz ausbeuterisches und manipulierendes Verhalten in ihren Sozialbeziehungen. Heiratsschwindler und Trickbetrüger etwa nutzen ihre Fähigkeit des „Gedankenlesens“ um ihre Opfer zu erkennen und gezielt zu manipulieren. Man kann sich die Genese dieser Fähigkeit zum Beispiel so vorstellen: Für einen Mann, der in seiner Kindheit einem stark gewalttätigen Vater ausgesetzt war, ist der Ausbau seiner Mentalisierungsfähigkeiten vielleicht überlebensnotwendig gewesen, um mögliche Reaktionsweisen des Vaters angemessen vohersagen und damit vielleicht gewalttätige Übergriffe vermeiden zu können. Dass bei einer solchen Konstellation auch das Empathievermögen reduziert werden kann – vor allem wenn keine dritte empathische Person, wie etwa die Mutter, die Situation entschärft – ist nicht unwahrscheinlich. Da während der Genese aber auch jene Fähigkeiten ausgebaut werden, die versuchen die Situationen umzuwandeln und zu kontrollieren, wird häufig auch eine manipulative Begabung erworben, die auf der Fähigkeit gründet Emotionen, wie Liebe, Aufrichtigkeit und Bedauern vorzutäuschen. Folglich zeichnen sich Psychopathen dadurch aus, dass sie trotz ihres Mangels an Mitgefühl und ihren ausgeprägten manipulativen Verhaltensweisen meistens noch sehr charismatisch wirken und dementsprechend erfolgreich sind. Die Fähigkeit zur Mentalisierung ist als Potenzial in jedem Menschen angelegt, ihre Ausdifferenzierung ist eine Entwicklungsfolge, die Einflüssen der sozialen Umwelt unterliegt. Normalerweise wird die Mentalisierungskompetenz schon im Säugling angelegt, dadurch, dass die Betreuungsperson das Kind als intentionales Wesen wahrnimmt und angemessen darauf reagiert. Insofern entwickeln sich bei optimalem Ent-
4.4 Die Fähigkeit zur Mentalisierung
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wicklungsverlauf die Fähigkeiten zu Mentalisierung und Empathie gleichzeitig und wahrscheinlich auch synergetisch. Der Hinweis darauf, dass die Mentalisierungsfähigkeit im Kontext einer Bindungsbeziehung durch das intentionale Verstehen der Bindungsperson entsteht, legt die Vermutung nahe, dass mit der Verstehenskompetenz für den Anderen gleichzeitig auch eine für das Ego erworben wird. Die intentional mentalisierende Fürsorge der Bindungsperson ermöglicht es dem Kind den anderen und sich selbst im anderen als denkendes und fühlendes Wesen wahrzunehmen. Nur wenn das Verhältnis zwischen eigenem und fremden Verstehen ausgeglichen ist, wird das Selbst nicht vom Anderen überwältigt, sondern kann sich sich und den anderen als prinzipiell getrennt wahrnehmen, aber diese Trennung zugleich mit der Mentalisierung auch überwinden. Genau hier liegt die soziokulturelle Möglichkeit begründet ein modernes Individuum hervorzubringen, dass sich zugleich als Getrenntes und Verbundenes begreift und zwischen Autonomie und Beziehungsfähigkeit ein sinnhaftes Gleichgewicht herzustellen vermag, welches nicht bloß das Überleben des Einzelnen und der Gattung sichert sondern dabei auch zum produktiven Glücksempfinden beiträgt. Die Fähigkeit zur Mentalisierung entwickelt sich nach Fonagy et al. (2002) in einem ersten Schritt durch die Affektspiegelung zwischen der Bindungsperson und dem Kind. Affektspiegelung bedeutet nicht, dass das Kind in einer Art Introspektion die Gefühle der Mutter einfach nachvollzieht, sondern dass die Mutter in der Lage ist, dem Kind überhaupt erst ein kohärentes Bild seiner Gefühle zu vermitteln („Wir haben aber einen ganz großen Hunger“ – „Oh, das tut aber bestimmt sehr, sehr weh ....!“). Es internalisiert also den mit seinem inneren Zustand übereinstimmenden emotionalen Ausdruck der Mutter, der daraufhin zur Repräsentation seines eigenen Zustande wird. Durch die Verknüpfung der Repräsentation des Selbsterlebens mit der Repräsentation der mütterlichen Reaktion darauf entwickelt sich eine auf Kohärenz aufbauende Fähigkeit zur Mentalisierung, die es ermöglicht affektive Ausdrücke anderer Menschen zu interpretieren und eigene Emotionen zu regulieren. Gleichzeitig wird die für die Mentalisierung ebenfalls wichtige Fähigkeit erworben, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden, um auf dieser Unterscheidung eben auch die Grenzen der Mentalisierung wahrzunehmen und
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zu erkennen, dass intentionales Verstehen eben doch etwas anderes ist als Gedanken zu lesen und in den anderen hineinzuschauen. Die Mentalisierung ist ein wichtiger Vorgang für die Entwicklung des Selbst, aber auch wenn sie in der Kindheit vorbereitet wird, so muss sie dort nicht abschließend fixiert werden. Zwar wird mentale Kohärenz immer dann empfunden, wenn die Intentionen, Überzeugungen, Wünsche und Handlungen rationaler Menschen nicht widersprüchlich oder ambivalent erscheinen, so dass suboptimales Verhalten der Bindungsperson zu eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeiten führt, aber diese bleiben letztendlich über die ganze Lebensspanne entwicklungsfähig. Gewiss können ausgeprochen destruktive Kindheitserfahrungen quasi zu psychischen Totalschäden führen, aber die Grenze zur Pathologie ist nicht zu früh zu ziehen. Der optimale Entwicklungsverlauf bleibt ein Erklärungsmodell, das nicht bloß zum Beschreiben eindeutiger Pathologien taugt, sondern vor allem zum Verstehen und Entdecken der weiteren Entwicklungsmöglichkeiten einer breit anzulegenden Normalbiographie. Erst wenn die Normalbiographie als prinzipiell nicht normal im Sinne einer engen Modellorientierung gedacht wird, kann ein Gefühl für die grundsätzliche Entwicklungsoffenheit des Erwachsenen entstehen, weil sie dann endlich vom Verdacht der bloßen Defizitbewältigung befreit ist.
4.5 Das habitualisierte Individuum
4.5
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Das habitualisierte Individuum Am andern Tag kam ich wieder und bestellte Wasser. ,Wasser gibt‘s nur zum Kaffee‘, war die Antwort. Über und über rot, bestellte ich Kaffee und ging so bald ich ausgetrunken hatte, weg. Ich habe aus diesem Grund lange kein Kaffeehaus mehr besucht, und erst viel später lernte ich, wie man das alles macht. Oskar Maria Graf
Das Habituskonzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu erweitert die bis hierhin im weitesten Sinne v.a. als familiär bedingte Prägung betrachtete Genese des Erwachsenen um eine soziologische Perspektive. Auch der Habitus ist nicht als angeborene sondern als erfahrungsabhängige Konstruktion entworfen, in der sich die Vergangenheit des Individuums, das Gesamt seiner Geschichte repräsentiert. Der Habitus zeigt sich nach Bourdieu in der Gesamtheit aller Lebensäußerungen in Alltag, Beruf, Kleidung, Verhalten, Geschmack, Werturteilen und so weiter, in die der Mensch einsozialisiert und die ihm zur zweiten Natur geworden sind. Im Habitus schlägt sich die Gesellschaft im Individuum auf der Leibebene nieder, er ist das Leib gewordene Soziale. Bourdieu verwendet hierfür den Begriff der Inkorporierung: Der Habitus ist durch primäre Sozialisation in der Familie und sekundärere gesellschaftliche Sozialisation z.B. in Bildungsinstitutionen inkorporierte Gesellschaft. „Was der Leib gelernt hat“, schreibt Bourdieu, „das besitzt man nicht wie ein wieder betrachtbares Wissen, sondern das ist man.“ – und weiter: „Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körper gemachten Werte...“ (Bourdieu 1976, 200). Über den Habitus wirkt die zur Natur gewordene und so vergessene Vergangenheit wie eine Grammatik in die Gegenwart hinein, eine Grammatik, deren Regeln gekonnt, aber nicht gewusst werden. Dabei
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
stehen nicht die einzelnen Eigenschaften eines Menschen oder ihre Addition im Vordergrund, sondern ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, die den Habitus repräsentieren: „Im Unterschied zur Sozialpsychologie, die den Menschen untersucht, als bestünde er aus einer Summe von Fähigkeiten – Wahrnehmung, Gedächtnis, ästhetische Einstellungen usw. -, habe ich nachzuweisen versucht, dass der Habitus ein generatives, einheitsstiftendes Prinzip bildet, das bewirkt, dass der charakteristische Stil einer Person eine Totalität mit je eigener Physiognomie darstellt.“ (Bourdieu 1985, S. 386)
Mit dem Habitus-Konzept wird demnach zugleich die Einheit der Person, die Kohärenz ihres Handelns, schließlich ihre Identität als sozialer Akteur thematisiert. Der Habitus ist also vor allem ein soziologisches Konstrukt, das danach fragt, wie sich die Gesellschaft im Individuum niederschlägt und sich dabei zugleich reproduziert. Um die Brisanz des Habituskonzeptes zu begreifen, eignet sich besonders ein Blick auf die Geschlechterfrage: Wie viel von dem, was uns als Männer oder Frauen kennzeichnet, ist angeboren, wie viel ist erworben und ist uns doch so zur Natur geworden, dass wir nicht einfach aus unserer männlichen oder weiblichen Haut fahren können? Hier zeigt sich nicht bloß die Tragweite inkorporierter gesellschaftlicher Erfahrung sondern auch deren Subtilität, die sich einfachen Veränderungen, seien sie auch noch so rational begründet, weitgehend entzieht. (vgl. Krais & Gebauer 2001) Bourdieu selbst geht zwar nicht auf die psychologischen Entstehungsbedingungen des Habitus ein, aber es ist davon auszugehen, dass der jeweilige Habitus keinesfalls nur oberflächliche Verhaltensformen repräsentiert sondern mit tiefenpsychologisch zu beschreibenden Persönlichkeitsaspekten in Verbindung steht, und dass auch diese über den Habitus wirken, bzw. von ihm beeinflusst werden. Für unsere Fragestellung ist der Habitus auch deshalb so interessant, weil er die psychosoziale Genese des Erwachsenen so beschreibt, dass daraus zugleich ihre radikal determinierende Wirkung auf seine gesellschaftlichen Teilhabeoptionen deutlich werden. Seine Sozialisationsbedingungen sind für das Individuum in gewisser Weise dramatisch, denn sie bestimmen seine gesellschaftlichen Handlungsspielräume auf subtil soziale Weise und zwar in weit
4.5 Das habitualisierte Individuum
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größerem Maße als seine materiellen Bedingungen. Denn während die materiellen Bedingungen prinzipiell wandlungsfähig sind, sind es die habituellen Bedingungen prinzipiell gerade nicht, bzw. nur sehr eingeschränkt: „Wer ohne Gewöhnung in einen Salon kommt, benimmt sich ungeschickt und wehe, wenn auch noch fühlbar wird, dass er begierig ist, dabei zu sein. Die Freiheit, Selbstverständlichkeit, ,Natürlichkeit‘, die einen Menschen in gehobenem Kreis sympathisch machen, sind eine Wirkung des Selbstbewusstseins; gewöhnlich hat sie nur der, welcher immer schon dabei war und gewiss sein kann, dabei zu bleiben. Die Grossbourgeoisie erkennt die Menschen, mit denen sie gern umgeht, die ,netten‘ Menschen an jedem Wort.“ (Horkheimer 1987, S. 321)
Demnach sind die Aufstiegschancen von Arbeiter- oder Mittelschichtkindern weit geringer als dies bildungspolitische Äußerungen suggerieren mögen. Eine sehr instruktive Untersuchung hierzu stammt von Hartmann (2001), der die Positionierung von Topmanagern aufgrund ihrer habituellen Voraussetzungen belegt hat. Insbesondere für Deutschland zeigte sich demnach, dass die Auswahl von Personalberatern v.a. habitusabhängig verläuft, während in England und Frankreich eher der Bezug auf bestimmte Eliteschulen ausschlaggebend war, was aber im Endeffekt auf das gleiche herauskommt. Interessant sind diesbezüglich auch die von Hartmann zitierten Äußerungen einiger Manager und Personalberater: „Ein im sog. Sinne ,gutes Elternhaus‘ ist nach wie vor ein Vorteil, weil man dort eben eine grundsätzliche Prägung im Hinblick auf Allgemeinbildung und Auftreten bekommt, die einen das ganze Leben hindurch begleitet. Analysefähigkeiten kann man sicherlich auch entwickeln, wenn man aus einem Arbeiterelternhaus kommt. Dagegen das, was man mit Selbstsicherheit, Souveränität meint, das ist etwas, was man schon in die Wiege gelegt bekommt. Das kann man schlecht lernen, wie auch alles, was ein bisschen mit Stil und Auftreten zu tun hat.“ (Hartmann 2001, S. 186)
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4 Der Erwachsene im Horizont seines Gewordenseins
Der Habitus des Erwachsenen legt ihn mithin sehr subtil auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht fest und stellt die Freiheit des Erwachsenen damit erheblich in Frage. Denn es bleibt, „trotz aller Arbeit an sich selbst, der Habitus des Journalisten, der einmal aufstrebende Sohn eines Bäckers war, ebenso wie der Habitus der Lehrerin, die aus einer Polizistenfamilie stammt, von den Bedingungen seiner Entstehung geprägt: von der Anstrengung des Aufstiegs, von den Entsagungen auf dem Weg nach oben, von der Sorge um den Eindruck, den er und sie auf die anderen machen, und vor allem von dem Bestreben, ihre Herkunft, ihre Geschichte und ihre Nähe zu den unteren Klassen zu vergessen und unsichtbar zu machen.“ (Krais & Gebauer 2001, S. 47)
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Vom Kind zum Erwachsenen Erst eine Kindheit, grenzenlos und ohne Verzicht und Ziel. O unbewußte Lust. Auf einmal Schrecken, Schranke, Schule, Frohne und Absturz in Versuchung und Verlust. Trotz. Der Gebogene wird selber Bieger und rächt an anderen, dass er erlag. Geliebt, gefürchtet, Retter, Ringer, Sieger und Überwinder, Schlag auf Schlag. Rainer Maria Rilke
Der Erwachsene ist ein Gewordener und deshalb nur im Horizont dieses Gewordenseins verstehbar. Stimmt dann auch die Behauptung, dass Erwachsene großgewordene Kinder sind? - Was aber macht dann dieses Großgewordensein aus, lässt es sich qualitativ erfassen oder ist es nur eine quantitative Bestimmung des Alters und des Größenwachstums. In welchem Wechselverhältnis stehen Natur- und Kulturprozess, körperliche und geistig-soziale Reife? Die Frage ist auch, ob es einen bestimmten Wendepunkt gibt zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, ob sich die Genese schleichend und diffus vollzieht oder ob es Eindeutigkeiten gibt, an denen sich der Wechsel vom Kind zum Erwachsenen festmachen lässt. Ist die lange Phase von der Pubertät bis zur endgültigen gesellschaftlichen Akzeptanz des selbstverantwortlichen Erwachsenen auch pädagogisch zu rechtfertigen oder müsste man gerade aus pädagogischer Sicht nicht sogar für eine frühere Anerkennung der Autonomie des erwachsenen Selbst plädieren?6 6
Die Beantwortung dieser Fragen würde der pädagogischen Expertise im gesellschaftspolitischen Diskurs vielleicht auch zu einer angemessen Würdigung verhelfen. Auffallend ist etwa die Tatsache, dass sich Pädagogen nur selten zu den juristischen Debatten um die Altersbegrenzungen bei der Anwendung von bestimmten Rechten äußern, obgleich
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Vom Kind zum Erwachsenen
Auf der Suche nach einer Demarkationslinie zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein erscheint es als sinnvoll, noch einmal die familialen sozialisatotrischen Interaktionsprozesse in den Blick zu nehmen, da diese für die Genese bereits als sehr wichtig identifiziert wurden und zu überprüfen, wie sie sich im Verlauf der Entwicklung verändern. Die ersten familialen Interaktionen verlaufen in der ödipalen Phase zwar innerhalb der Familie, aber auch dort schon in einer ganz bestimmten Konstellation, nämlich in der Strukturgesetzlichkeit der ödipalen Triade. Diese ödipale Triade besteht aus 3 verschiedenen Dyaden: der Gattenbeziehung, der Mutter-Kind-Beziehung und der Vater-Kind-Beziehung. Sie gelten als Prototyp der diffusen Sozialbeziehung im Gegensatz zur spezifischen Rollenbeziehung (vgl. Oevermann 1996). Nach Oevermann ist die diffuse Sozialbeziehung eine nichtrollenförmige Sozialbeziehung zwischen ganzen Personen, während Rollenbeziehungen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie normativ idealisiert und durch aufeinander bezogene Rollendefinitionen abgegrenzt sind. Die spezifischen Rollenbeziehungen behalten ihre strukturelle Identität auch dann, wenn das Personal wechselt, sie beziehen sich also nicht auf die ganzen Personen, sondern nur auf ihren rollenspezifischen Teilaspekt. Dass die diffusen Sozialbeziehungen sich auf ganze Personen beziehen, lässt sich schon daran erkennen, dass die Personen selbst Teil der Strukturlogik sind und ihre je individuierte, personalisierte Praxis beendet ist, wenn eine der beteiligten Personen abhanden kommt. „Konstitutiv für diese ist, dass sie sich wesentlich auf die Leiblichkeit der Beteiligten gründen; dass sie nicht befristet und nicht wirklich kündbar sind; dass sie das zu ihrer Praxis nötige Vertrauen dadurch erzeugen, dass es bedingungslos und nicht nach der Erfüllung formalisierbarer Kriterien gewährt wird und dass sie operieren im Modus generalisierter, unverwüstlicher Affektbindungen.“ (Oevermann 2010, S. 574)
hier ja die pädagogische Expertise gefragt sein müsste. So wäre es je nach pädagogischer Auslegung der Altersübergänge ja z.B. kritikwürdig, warum das Strafrecht bereits bei 14-Jährigen greift, das Wahlrecht hingegen erst bei 18-Jährigen zur Anwendung kommt.
5 Vom Kind zum Erwachsenen
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Da in der Rollenbeziehung, die möglichen Themen durch das jeweilige Rollenverständnis festgelegt sind, trägt derjenige die Beweislast, der ein Thema in die Beziehung einbringen möchte. Er muss sein Thema durch den Bezug auf das Rollenthema legitimieren. Auch inhaltlich lassen sich die beiden Beziehungstypen strikt voneinander trennen: Da die Sozialbeziehung auf den ganzen Menschen abonniert ist, so ist sie prinzipiell für alle Themen offen, die diesen ganzen Menschen betreffen und es trägt deshalb derjenige die Beweislast, der ein Thema ausschließen möchte. Demnach sind die Beziehungen der ödipalen Triade grundlegend nicht rollenförmig sondern diffus. Oevermann pointiert dies treffend mit dem Satz: „Rollenbeziehungen sind familiale Dyaden genau erst dann, wenn sie gescheitert sind“ (Oevermann 1996, S. 111). Zur Verdeutlichung mag auch noch der Hinweis dienen, dass schon Geschwisterbeziehungen die Kriterien der diffusen Sozialbeziehungen nicht mehr ideal erfüllen. Dyaden zwischen ganzen Personen sind demnach durch mehrere Aspekte gekennzeichnet: 1. 2. 3. 4. 5.
werden sie wesentlich auch durch die Beteiligung der Körper bestimmt, werden sie als unkündbare Beziehungen gestiftet, kommt in ihnen ein bedingungsloses Vertrauen zur Geltung, dass durch bedingungslosen Vollzug hergestellt wird, sind sie geprägt durch eine bedingungslose, affektive Bindung und sind sie durch einen Ausschließlichkeitsanspruch charakterisiert, wie er beispielsweise in der Treueverpflichtung der Paarbeziehung deutlich zum Ausdruck kommt.
Dieser Ausschließlichkeitsanspruch ist es, der der ödipalen Triade zu einem Widerspruch verhilft, weil jede der Beteiligten Personen seinen Ausschließlichkeitsanspruch mit einem Dritten teilen und sich selbst ebenfalls zwischen zwei Personen teilen muss. Neben all diesen Gemeinsamkeiten, durch welche sich die Sozialbeziehungen in der ödipalen Triade von rollenförmigen Beziehungen unterscheiden, sind sie zugleich durch einen scharfen Kontrast unterschieden: Während die Mutter-Kind-
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und die Vater-Kind-Beziehung durch ein sexuelles Tabu belegt sind, ist die wechselseitige Sexualität für die Gattenbeziehung hingegen gerade konstitutiv7. Nach Oevermann entfacht gerade diese mehrfach widersprüchliche Einheit allmählich eine Dynamik der Transformation, die die soziale Ontogenese nicht nur ermöglicht sondern auch erzwingt. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass zwei der drei in die Triade involvierten Personen, Zugang zu beiden Dyadetypen haben, dem offiziell sexualisierten und dem tabuisierten, während ein Teilnehmer vom Zugang zum sexualisierten Typ prinzipiell ausgeschlossen ist: das Kind. Das Kind muss es also zunächst aushalten lernen, die Ausschließlichkeitsansprüche der Eltern aufeinander als Gatten zu respektieren und den Status des davon Ausgeschlossenen zu ertragen. Gleichzeitig wird ihm gerade jene Sphäre der Gattenbeziehung zwischen seinen Eltern, die ihm gänzlich verstellt ist und die ihm in dem Maße, in dem sie durch ihr lebendiges Funktionieren unerreichbar wird, als besonders verlockend erscheinen. So dass es angetrieben wird, diesen Status so schnell wie möglich auch selber zu erreichen. Dies jedoch ist nur möglich um den Preis der Ablösung aus der Herkunftsfamilie, was wiederum wirksam nur dann gelingen kann, wenn man diese Bindung, nach der man strebt, dann in einer eigenen Paar- und später Gattenbeziehung findet (vgl. Oevermann 2010). Das Kind welches nun immer stärker aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter heraustritt, gelangt immer mehr in eine Krise: „In der Bewältigung dieser Krise wird es also zur Autonomie gezwungen analog zum Mythos der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.“ (Oevermann 1996, S. 114) 7
Das Kind ist aber nicht prinzipiell asexuell, es unterliegt ,nur‘ einem sexuellen Tabu. Diese sexuelle Tabuisierung hat aber durchaus ihre Berechtigung, da sich kindliche und erwachsene Sexualität voneinander unterscheiden, wie weiter unten noch ausgeführt wird. In der Phase der kindlichen Sexualität ist die Bindung an die Bindung noch sehr stark, in der sog. Latenzzeit löst sie sich allmählich. Als Latenzperiode wird die Zeit etwa zwischen dem 6. und dem 10. bis 12. Lebensjahr bezeichnet, die dadurch gekennzeichnet ist, dass keine bestimmte Körperregion mit Triebenergie besetzt ist und die Energie dadurch für andere Entwicklungsprozesse genutzt werden kann, vor allem der Entwicklung des Über-Ichs, in dem die Anforderungen der Umwelt verinnerlicht werden.
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Um jedoch autonomiefähig zu werden, muss das Selbst sich als solches konstituieren, wobei die Vorgänge der Selbstentwicklung und der Autonomieentwicklung kaum zeitlich zu entkoppeln und als ein erst-und-dann zu denken sind, sondern einen Prozess abbilden, der nur analytisch in die Teile Selbst und Autonomie zerfällt. In jedem Fall bedarf es hierfür der Fähigkeit zur Differenzierung, mit deren Hilfe sich das Selbst in der Abgrenzung von anderen als ein eigenständiges, handlungsfähiges sowie bewussten und selbstregulierbaren sozialen Abhängigkeiten ausgesetztes und insofern autonomes Subjekt ist. Dann stimmt der Bezug auf den paradiesischen Mythos gleich in mehrfacher Weise. Denn das Paradies kann als derjenige Ort angesehen werden, an dem Lernen auf den Modus der Anpassung beschränkt sein konnte, während mit der Vertreibung aus dem Paradies der Mensch notwendigerweise in den Modus der Differenzierung eintreten muss. In dem Moment da Adam und Eva einander als nackt erkennen, erkennen sie den Anderen auch als Anderen, als vom eigenen Ich Getrennten. Die damit mögliche Individualisierung hat ihre Preis in der nun faktisch erfahrenen grundsätzlichen Einsamkeit bei der Ich und Andere ihre jeweilige Einzigartigkeit durch ihr Anderssein konstituieren. Mit anderen Worten: Die Andersartigkeit bildet die Grundlage der Individualität, bürdet dem Individuum jedoch zugleich zwei Lasten auf: nämlich erstens, dass der Andere auch als der Fremde empfunden wird und zweitens die schmerzhafte Erkenntnis der Trennung vom Anderen und dem Erleben von Einsamkeit. Diese Einsamkeit ist nicht mehr aufhebbar ohne den Verlust des Individuums, sie kann jedoch transzendiert werden in sozialen Erfahrungen zwischen den Individuen. Sie gründen allerdings darauf, dass der Andere auch als Individuum begriffen und damit als konstituierend für das eigene Sein erfahren und geschätzt wird (vgl. Kap. 3.2). Das bedeutet Überwindung der Trennung nicht als den Andern auslöschende Verschmelzung, sondern als Aushalten und Erleben eines Spannungsverhältnisses, dass zugleich die Energie für den Differenzierungsakt bereit stellt. Die Vertreibung aus dem Paradies ist aber, und das ist die zweite wichtige Ergänzung zu der mythologischen Analogie, zugleich die Geburtsstunde der adulten Sexualität. Denn erst in diesem Moment bekommt auch das Geschlecht seine Relevanz. Die Sexualität des Erwach-
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5 Vom Kind zum Erwachsenen
senen steht nämlich ganz im Dienst der Transzendenz der Einsamkeit, der Differenzierung des Selbst und der Wahrnehmung und Akzeptanz des Anderen mit Hilfe sexueller Kommunikation. Nicht so beim Kind. Denn seine Sexualität ist noch rein Ausdruck eines Körperbedürfnisses, so wie Essen, Trinken, Schlafen, Körpernähe suchen etc.; für das Kind existiert dieser Andere zunächst nämlich noch gar nicht. Folgen wir nämlich der psychoanalytischen Sicht – die auch der Piagetschen Auffassung entspricht -, dass das Kind sich und die Mutter zunächst nicht als zwei voneinander abgegrenzte Lebewesen erlebt, sondern dass es in den Anfängen seiner Entwicklung ein „undifferenziertes, unbegrenztes Wesen im Kontinuum mit seiner biologischen Umgebung“ ist (Lorenzer, 1972 S. 40), dann bedarf das Kind noch nicht seiner Sexualität als Möglichkeit das Getrenntsein vom Anderen zu überwinden. Die infantile Sexualität unterscheidet sich prinzipiell von der adulten insofern, dass die eine als Naturform begriffen wird und die andere demgegenüber als Kulturform erscheint8. Die Tabuisierung der Sexualität des Kindes ist deshalb auch nur vordergründig eine Sache der Moral, ihren tieferen Sinn erfährt sie dadurch, dass sie quasi das Nadelöhr der Subjektbildung darstellt, die erst der Erwachsene im Ausagieren seines Erwachsenseins ,vollenden‘ kann9. Im historischen Prozess der Individualisierung musste genau diese Trennung von Natur und Kultur auf der Ebene der Sexualität erfolgen und die infantile Sexualität unter Tabu gestellt werden, damit der für die Individuierung notwendige Schritt zur Differenzierung möglich wurde.
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Auch wenn dies hier nicht Gegenstand der Auseinandersetzung ist, so sei aber nicht nur aus Gründen der Aktualität angemerkt, dass ein Missbrauchsaspekt bei der sexualisierten Gewalt an Kindern gerade darin besteht, dass der Erwachsene die infantile Sexualität ausnutzt, um seine Kulturbedürfnisse am Naturbedürfnis des Kindes auszuagieren. Da die Tabuisierung im Dienst der Subjektbildung steht, wird genau dieser Prozess an seiner vulnerabelsten Stelle ge- und häufig auch zerstört. Insofern ist der Begriff des Seelenmordes gerade im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Missbrauchsfolgen leider sehr treffend. 9 Vollenden steht hier deshalb in Anführungszeichen, weil es keine Vollendung und kein fertiges Subjekt gibt, es gibt immer nur eine Arbeit am Subjekt und es gibt sicherlich Menschen, die in ihrer Subjektwerdung sehr weit fortgeschritten sind. Man kann sich aber niemals zurücklehnen und sagen: Jetzt bin ich ein Subjekt, jetzt bin ich fertig.
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Säugling / Kind
Jugendlicher
Erwachsener
Illusion der Verschmelzung
Bewusstwerdung des Getrenntseins
Gewissheit des Getrenntseins
Rolleninkompetenz
Rollenambivalenz
Rollenkompetenz
Sexualität als Körperbedürfnis Symbiotische Identität
Sexualität als transzendierende Näheerfahrung Abgrenzung und Identitätsfin- Individuelle, personale Identidung tät Latenzkrise
Anpassung
Auflehnung
Differenzierung
Sexualität als Naturform
Sexualität als Neugierde
Sexualität als Kulturform
Entwicklung von Urvertrauen
Zwischen Unsicherheit und Größenwahn
Entwicklung von Selbstvertrauen
Spiegelung
Identiätskrise
Differenzierung
Kulturentwicklung durch Disziplinierung
Kulturentwicklung durch Phantasie und Gruppenverhalten
Kulturentwicklung durch Sublimierung
Bindungsverhalten
Abgrenzung und Symbiose
Beziehungsverhalten
Tabelle 2:
Unterschiede von Kindern und Erwachsenen. Die Jugendphase ist keinesfalls nur eine Übergangsphase sondern durch Krisenhaftigkeit und Ambivalenz der eigentliche Transmissionsriemen der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen.
Denn erstens ist die Erfahrung und das Aushalten können der grundsätzlichen Einsamkeit eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und zweitens ist sie die Hauptenergiequelle für die Differenzierung. Weder hat das Kind noch benötigt es diese Art der Identität, da es noch nicht vollends aus dem symbiotischen Zusammenhang gefallen ist und sich noch nicht als grundsätzlich vom Anderen Getrenntes erlebt. Ihm stünden auch noch keine Möglichkeiten der Bewältigung dieser Erfahrung zur Verfügung, so dass es notwendigerweise daran zugrunde gehen würde. Dass Erfahrungen des Getrenntseins sogar tödlich sein können, hat bereits Rene Spitz in seinen Waisenhausstudien aus den 50er Jahren auf anschauliche Weise belegt. Die Herausbildung von Identität kann gar nicht so früh einsetzen, da sie kein Natur- sondern durch und durch Kulturprozess ist, und weil sie
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5 Vom Kind zum Erwachsenen
auf sprachliche Interaktion angewiesen ist, indem sie aus dieser hervorgeht: „Die Identität, die ein Individuum aufrecht zu erhalten versucht, ist in besonderer Weise auf sprachliche Darstellung angewiesen, denn vor allem im Medium verbaler Kommunikation ... findet die Diskussion der Situationsinterpretationen und die Auseinandersetzung über gegenseitige Erwartungen zwischen Interaktionspartnern statt, in der diese Identität sich zu behaupten sucht. Der Wahrung (und auch der Herstellung! Anmerkung GW) von Identität kann jedoch nur eine Sprache dienen, die die prekäre Balance der Identität zwischen divergierenden Erwartungen in sich aufzunehmen vermag; eine Sprache also, die die jeweiligen Erwartungen der Interaktionspartner anzeigen kann, ohne einen Spielraum für Diskussion zu leugnen, die Widersprüche zu bezeichnen und aufzuklären erlaubt, aber nicht lösbare Diskrepanzen auch stehen lassen kann, und die fähig ist, über die im Augenblick erfragte Information hinaus weitere, für Interaktion und Identität bedeutsame Mitteilungen in die Kommunikation einzuführen.“ (Krappmann 1969, S. 12)
Eine solche Sprache musste zunächst historisch entwickelt und muss für jede Person wieder neu und individuell erworben werden. Nur das zur Ich-Identität fähige Individuum ist allerdings auch in der Lage spezifische Rollenbeziehungen einzugehen; der Leibeigene war Leibeigener stets als ganzer Person, ebenso der Bauer, die Magd, der Lehnsherr, die Königin usw.10 Die moderne Gesellschaft hingegen bedarf solcher Akteure, die sich als Individuum entwerfen und zur Rollenkompetenz fähig sind. Als Beispiel einer in der modernen Bürokratie funktionierenden Rollendistanz kann Krappmanns Steuerinspektor gelten, dessen 10
Vermutlich ist genau dies das Problem der noch vorhandenen Königshäuser, sie wurden lange Zeit von Menschen erhalten, die diesen historischen und individuellen Schritt der Individualentwicklung nicht wirklich vollzogen hatten, was dann teilweise tragisch zum persönlichen, wie öffentlichen Scheitern geführt hat und eine gewisse Lächerlichkeit derjenigen bedingt, die an dieser anachronistischen Seinsform noch festhalten. Während sich z.B. Regierungsrepräsentanten moderner Demokratien dadurch auszeichnen, dass man ihnen durchaus ein Privatleben zugesteht, in welchem sie nicht mehr die Rolle der Bundeskanzlerin oder des Verteidigungsministers innehaben, sondern einfach Frau X und Herr Y sind, so erscheint die Vorstellung, dass die Queen irgendwann Feierabend hat und dann ihre königliche Rolle abstreift und einfach Frau Sowieso ist, völlig obsolet.
5 Vom Kind zum Erwachsenen
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Mitteilung: „Ich verstehe Sie ja, aber ...“ den über seinen Steuerbescheid Zornigen, dazu veranlasst den misslichen Bescheid zu akzeptieren (vgl. Krappmann 1969, S. 55). Hieran zeigt sich auch, dass zur Rollenkompetenz unmittelbar die Distanzform dazugehört, die sie vor der Pathologisierung schützt, in dem sie sie integrierbar macht in ein kohärentes Selbstkonzept.11 Erst nach der „Vertreibung aus dem Paradies“ also erst nach der Pubertät, nach dem Abschluss der Latenzkrise sind Individuen aber wirklich in der Lage, diese Ich-Identität zu entwickeln und wie ein Erwachsener widersprüchliche Rollenzumutungen und –verpflichtungen der Gesellschaft auf der Basis eines gefestigten Entwurfs von Einzigartigkeit und personaler Identität so zu übernehmen, dass sie daran nicht krank werden (vgl. Oevermann 1996, S.146). Denn die Ich-Identität als anthropogene Kulturleistung braucht das Konstrukt des Anderen, an dem sie sich entwickeln kann und braucht zugleich die Möglichkeit durch Sexualität das unerträgliche Getrenntsein vom Anderen zu transzendieren. Genau dies bedarf der Pubertät als krisenhafter endgültiger und nicht mehr umkehrbarer Loslösung aus der ödipalen Triade. Es ist nun in der Lage sowohl diffusen Sozialbeziehungen als auch Rollenbeziehungen gerecht zu werden und zwischen beiden angemessen zu unterscheiden. Denn die Sexualität kann als kultureller Akt nur in der Sozialbeziehung ihre Erfüllung finden, während sie in der Rollenbeziehung nur im Triebstadium ausagiert werden kann, wie z.B. auf der Ebene ihres Warencharakters im Sex. Die erotische Liebesfähigkeit, auf die hier angespielt, wird, ist damit doch mehr als das, was Luhmann12 ihr zu11
Übrigens wird von einigen AutorInnen bezüglich dieses rollenintegrierenden kohärenten Selbst auf das Habituskonzept verwiesen. Demnach gilt der Habitus als das vereinigende Prinzip, das den den verschiedenen Handlungen des Individuums ihre Systematik und ihren Zusammenhang gibt (vgl. Krais&Gebauer 2002, S. 70ff). Die von Krappmann (1969) diskutierte Frage, wie es dem Individuum gelingt, von den unterschiedlichen Rollenerwartungen nicht zerrissen zu werden, hat also mit dem Habitus eine sehr schlüssige Antwort erhalten. 12 Luhmanns Verdienst ist es, das Thema Liebe erstmals soziologisch interpretiert zu haben. Was scheinbar soziologisch kühl anmutet, ist aber in Wirklichkeit noch sehr stark einer romantischen Denktradition verhaftet, bei der Liebe ihre Funktion der gelungenen Spiegelung verdankt: „"Liebe vermittelt eine doppelte Sinnbestätigung: In ihr findet man, wie oft bemerkt, eine unbedingte Bestätigung des eigenen Selbst, der per-
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schreibt, mehr als nur ein einheitsstiftendes Moment, in dem das Individuum seine Identität wahrt, sie ist die conditio humana des modernen Menschen, die ihn zur Differenzierung, zur Entwicklung der individuellen Ich-Identität, befähigt, ohne dass er dabei an der daraus resultierenden Einsamkeitszumutung zerbrechen müsste. Denn nur die Sexualität, die nicht auf das (kindliche) Triebstadium zurückfällt, also die reife Sexualität, jene, die in der Begegnung mit dem Anderen die Individuation ermöglicht, ist zur kulturbildenden Leistung durch Sublimation fähig. Demnach ist nur dasjenige Naturwesen zur Zivilisierung seiner Gattung bereit, dass in der Lage ist, ein sozialisationsfähiges Modell für eine in diesem Sinne reife Sexualität zu entwickeln. Die Fähigkeit eine reife Sexualität zu leben, ist kulturtechnisch die wichtigste Aufgabe, die dem Erwachsenen zukommt und somit sein erstes Bestimmungsmerkmal. Eine gelungene Sozialisation, im Sinne unseres gegenwärtigen Kulturverständnisses, zeigt sich deshalb wesentlich auch daran, dass die sozialisierte Person zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und der Gattenbeziehung sowohl kognitiv als auch affektuell klar unterscheiden kann. Dabei zeigt sich die Eltern-Kind-Liebe als bedingungslose Fürsorge, die ihren Ausgang von der Symbiose nimmt und die Gatten-Liebe als bedingungsloses Begehren, dass von der sexuellen Anziehung gestiftet ist (vgl. Oevermann 2010). 13 sonalen Identität. Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist - ohne Vorbehalte und ohne Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne Rücksicht auf Leistungen. Man findet sich in der Weltsicht des anderen erwartet als derjenige, der zu sein man sich bemüht. Die Fremderwartungen des anderen konvergieren mit den Fremderwartungen des Ich, mit der Selbstprojektion" (Luhmann 2008, S. 21). Diese Deutung greift meiner Meinung nach zu kurz und ist eher als Krisenherd der Liebe tauglich, die nämlich dann problematisch werden muss, wenn die Selbstprojektion nicht in befriedigendem Maße gelingt. Hier bleibt Luhmann die Antwort schuldig, von welchen eigenen Interpretationsleistungen diese Selbstprojektion abhängt, auf die der andere nur bedingt Einfluss nehmen kann. Als normative Idee für die moderne Liebe ist gerade die Begründung mit Hilfe eines fremdbestätigenden Selbstbildes zum Scheitern verurteilt. Luhmann fällt damit auch hinter Fromms Liebeskonzept zurück, bei dem nicht umsonst die Transzendenz und die Fähigkeit zur Eigenliebe eine bedeutende Rolle spielen. 13 Ist eine Gesellschaft, die auf diesen Mechanismen der Kulturentwicklung gründet, in einem größeren Ausmaß in sexuellen Missbrauch direkt oder indirekt verstrickt, so dass man nicht mehr von Einzelfällen sprechen kann, nehmen ihre Mitglieder in individuel-
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Abbildung 3: Identität und Intimität sind über die Differenzierung positiv rückgekoppelt. Und zwar nur über die Differenzierung, die damit auch zum Unterscheidungsmerkmal zwischen echter Intimität und konsumfähigem Sex wird.
Der entscheidende Punkt, an dem sich Sexualität und Liebe kreuzen, der die Differenzierung – und insofern die Herausbildung der Identität ermöglicht und sich durch Differenzierung weiterentwickelt, ist die Fähigkeit zur erotischen Intimität, die damit zum grundlegenden Merkmal des Erwachsenseins wird. Auch in Eriksons Vorstellung des Lebenszyklus spielt die Intimität eine Rolle: ler Hinsicht großen Schaden, aber auch die Gesellschaft selbst, da sie ihrer eigenen Kulturbildung allmählich das Wasser abgräbt. Damit steht die Frage im Raum, welchen Kräften innerhalb der Gesellschaft der sexuelle Missbrauch dient. Erst wenn diese Frage öffentlich ausgesprochen und bearbeitet wird, kann von einer Enttabuisierung des sexuellen Missbrauchs die Rede sein. Solange aber verweisen mediale Veröffentlichungen und politische Verlautbarungen gerade nur „auf Tabuisierungen von zugrundeliegenden Dauerproblemen, die erst in scheinbar außeralltäglichen, skandalisierbaren Ereignissen sich der Aufmerksamkeit aufdrängen.“ (Oevermann 2010, S. 571)
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5 Vom Kind zum Erwachsenen „Aber erst nachdem ein einigermaßen sicheres Gefühl der Identität erreicht ist, ist eine wirkliche Intimität mit dem anderen Geschlecht (wie übrigens auch mit jedem anderen Menschen und sogar mit sich selber) möglich. Der geschlechtliche Verkehr ist nur ein Teil dessen, was ich meine, denn natürlich wartet die geschlechtliche Intimität nicht immer auf die Fähigkeit, eine wechselseitige psychologische Intimität mit einem anderen Menschen zu entwickeln. Der Jugendliche, der sich seiner Identität noch nicht sicher ist, scheut vor der Intimität mit anderen Menschen zurück; aber je sicherer er sich seiner selbst wird, um so mehr sucht er sie in Form von Freundschaft, Wettstreit, Gefolgschaft, Liebe und Inspiration.“ (Erikson 1973, S. 114f)
Eriksons Auffassung eines Nacheinanders der Entwicklung von Identität und Intimität wird hier jedoch vehement widersprochen. Viel zielführender erscheint es Intimität und Identität innerhalb eines dynamischen Systems zu verorten, dessen Motor die Differenzierung ist, die aber, einer systemischen (hier im Gegensatz zur technischen ) Denkweise folgend, sich selbst dabei weiterentwickelt. Das Erwachsensein beginnt also in jenem Moment, wo dieses System zum Laufen gekommen ist.
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Die Sexualität des Erwachsenen Man spürt die Kühnheit der Liebe, die ein Versprechen über das hinaus abgibt, was sie wissen kann, die vorgibt ewig zu sein, wo doch vielleicht eine Krankheit, ein Unfall sie vernichten kann ... Aber dennoch ist es im Augenblick des Versprechens wahr, dass die Liebe über die jeweilige Eigenschaften, über den Körper, über den Augenblick hinausgeht, auch wenn man nicht ohne Eigenschaften, ohne Körper, ohne den Augenblick lieben kann. Maurice Merleau-Ponty
Intimität, Identität und Differenzierung sind hernach miteinander verwoben, wie ein borromäischer Knoten. Aus diesem Grund ist ein Blick auf die Sexualität des Erwachsenen auch unabdingbar für sein Verständnis. Einige bisher bereits eher implizit getätigte Positionen dazu sollen hier nun zusammengeführt und explizit gemacht sowie um einige sexualtheoretische Positionen erweitert werden. Zunächst ist davon auszugehen, dass es grundsätzlich zwei Formen der Sexualität gibt: 1.
Sexualität als Naturform: Die triebgesteuerte Sexualität, die als bloßes Körperbedürfnis erfahren und ausagiert wird. Sie bedarf keiner Ich-Identität, bedient sich des Anderen nur als Objekt, allerdings ohne ihn, mangels eigener Identität, damit zu degradieren und entzieht sich insofern jeglichen moralischen Anspruchs. Es ist dies noch die animalische Urform der Sexualität, die sich auch beim Tier findet, in die Kultur noch keinen Eingang gefunden hat, die aber in ihrer Urform auch dem Menschen durchaus noch zur Verfügung steht. Kindliche Sexualität ist dieser und nur dieser Form der Sexualität zuzuordnen.
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Die Sexualität des Erwachsenen 2.
Sexualität als Kulturform: Die transzendentale Sexualität, die, in der Überwindung der eigenen Körperlichkeit eine Näheerfahrung mit dem Anderen, in seiner, der eigenen fremden Körperlichkeit, zulässt. Sie stellt Intimität mit dem Anderen her und geht aus dieser hervor. Sie benötigt und forciert damit die Identität des Ich. Aus diesem Grund basiert sie auf der Grundakzeptanz des Anderen als einem anderen und des Ich als einem Selbst. Mehr noch, sie ist sich des produktiven Angewiesenseins auf den Anderen voll bewusst, woraus sich ihre prinzipielle und nicht hintergehbare Moralität speist.
Die Sexualität des Kindes findet prinzipiell auf der Triebseite statt, die des Erwachsenen ist auf Transzendenz ausgerichtet 14. Je weiter der Erwachsene in der Lage ist, seine Sexualität als Kulturform zu entwickeln, desto höher ist auch sein Differenzierungsgrad und desto weiter ist er in der Herausbildung seiner Ich-Identität vorangeschritten. Da die Sexualität des Erwachsenen im Dienst der Differenzierung steht, birgt sie prinzipiell ein großes Spektrum an Erlebens- und Entwicklungsmöglichkeiten, sofern jedenfalls die beteiligten Personen dafür offen sind. Natürlich kann auch der Versuch gewagt werden, die erwachsene Sexualität weiterhin im Modus der Triebbefriedigung zu agieren, die allgemeine Erfahrung zeigt aber, dass gerade dies wohl auf Dauer eher unbefriedigend und letztendlich zum Scheitern verurteilt ist. Wie auch immer, bleiben solche Akte auf jeden Fall weit hinter dem zurück, was menschliche Entwicklung zu leisten vermag, wenn sie das Potential sozialer Beziehungserfahrung nutzt. Nach Hüther, der bereits weiter oben zitiert wurde, wird das menschliche Gehirn in all jenen Bereichen, wo es sich von tierischen 14
Eine Abgrenzung zwischen tierischem Trieb und menschlicher Sexualität gelingt Lacan übrigens auch mit der Kategorie des Begehrens, demnach unterscheidet sich die menschliche Sexualität von der animalischen insofern, dass die Objekte nicht Bedürfnissen entsprechen, sondern solche des Begehrens sind (vgl. Widmer 1997, S. 89). In unserem Zusammenhang erscheint es aber sinnvoller vom Körperbedürfnis zu sprechen, der die kindliche Sexualität besser gegen die erwachsene Sexualität abhebt. Es wird grundsätzlich angezweifelt, dass kindlicher Sexualität eine dem erwachsenen Begehren ähnliche Motivation zugrunde liegt. Hier sollte die Psychoanalyse eine deutliche terminologische Unterscheidung finden, da die namentliche Ähnlichkeit von zwei unterschiedlichen Vorgängen stets auch erkenntnislogische Schwierigkeiten generiert.
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Gehirnen unterscheidet, durch Beziehungen und Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert (vgl. Hüther 2003). Die sexuelle Begegnung kann als eine der tiefsten sozialen Begegnungen angesehen werden, zu der Menschen fähig sind. Sexualität ist die dünnste Stelle zwischen zwei Menschen, sie ist die Näheerfahrung schlechthin und von daher in ihrer kognitiven Bedeutung nicht zu unterschätzen. Die Sexualität des Erwachsenen erschöpft sich also nicht im Trieb, nicht im Ausagieren des Körperbedürfnis, sie ist auf Selbstwahrnehmung und Transzendenz ausgerichtete Interaktion auf der Ebene des Geschlechts. Im Moment der Sexualität ist der Akt intimster, zwischenmenschlicher Nähe gegeben. Erfahrung des Anderen, eben nicht als bloßes Sexualobjekt, sondern als einzigartiges leiblich-sinnlich berührbares Gegenüber, dessen Grenzen erkundet, wahrgenommen, respektiert und geschützt werden. Der Nacktheit und Verletzbarkeit des Anderen wird die eigene unmittelbar und bedingungslos dargeboten. Die erotische Berührung ist also keinesfalls auf eine Technikfrage zu reduzieren, sondern auf den Anspruch den Anderen und dabei sich selbst als einzigartige menschliche Ganzheiten zu erfühlen und die Spannung zwischen der Gewissheit des Getrenntseins und dem Wunsch nach Verschmelzung in ein höheres Gefühl des momentanen Erlebens zu transzendieren. Als einer der interessantesten Ansätze im Bereich der Sexualforschung kann die Theorie des amerikanischen Sexualtherapeuten David Schnarch gelten. Auch für Schnarch ist die Intimität eine ,Ich-DuErfahrung‘, die das Bewusstsein einschließt, dass die beteiligten Partner getrennte Wesen sind, auch für ihn steht die Intimität deshalb im Dienst der Identitätsentwicklung. Dabei räumt er jedoch mit der allgemeinen Vorstellung auf, dass Ego in der Intimität von Alter, dem es sich nackt und verletzlich zeigt, das Gefühl gespiegelt bekommen müsse, liebenswert und wertvoll zu sein, um daraus einen Gewinn für sein Selbstkonzept zu ziehen. Die Sichtweise Lacans, dass das Begehren ein Begehren des Begehrens des Anderen sei, erfährt hier eine neue Konnotation, denn Schnarch unterscheidet für seine Theorie die selbst-bestätigte-Intimität von der fremd-bestätigten-Intimität. Während Lacan, dem Anderen in seiner Spiegelungsfähigkeit eine Funktion für die Bestätigung beimisst, stellt er für Schnarch eine dem selbst fremde Identität dar, an dem sich
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die eigene ausgestalten kann, nicht über Spiegelung sondern über Differenzierung. Denn für Lacan ist der Andere insofern ein konstitutives Element der erotischen Liebe, als die Bestätigung nur von jemandem kommen kann, der nicht gleich ist: „Wenn für eine begrenzte Zeit das Gefühl der Einheit mit dem anderen Befriedigung verschafft, so verschwindet zugleich das Gefühl der Andersheit beim andern. Auf die Frage des Einen kann es keine Antwort mehr des andern geben, da dieser als Verdoppelung wahrgenommen wird. Die Liebenden erfahren, dass die Andersheit des andern, die zuvor die fehlende Harmonie verursachte, doch notwendig ist.“ (Widmer 1997, S. 33)
Beiden Ansätzen gemein ist die Sichtweise, dass die Spannung zwischen dem Begehren nach Einssein und dem nach Differenz leicht zu einem Teufelskreis führt, „zu einer endlosen Bewegung des VerschmelzenWollens und des Wegstoßens des anderen“ (Widmer 1997, S. 33). Die Folgerungen für die Praxis in Beratung und Therapie sind aber völlig verschiedene. Bei einer Bezugnahme auf das Lacansche Konstrukt neigen Paartherapeuten wahrscheinlich eher dazu die Spiegelungsfunktionen zu stärken, während angesichts der Konstruktion von Schnarch die Differenzierungsfunktion der Partner und hierüber ihre Identität zu stärken wären, was langfristig die größere Viabilität versprechen müsste. Denn die Ich-schwache Person kann ihre Identität nicht aus sich selbst heraus herstellen und bedarf hierfür der Bestätigung von anderen, die ihr eine Identität spiegeln, die sie sich dann zueigen macht. In einer Paarbeziehung führt dieses Verhalten langsam zu sexuellen Frustrationen und Störungen, weil die beteiligten Personen dadurch immer mehr an Identität verlieren und dadurch das grundsätzliche Getrenntsein als immer bedrohlicher empfinden. Gleichzeitig wächst ihr Wunsch nach Verschmelzung, in der Illusion, damit das Getrenntsein aufzuheben. Dadurch wird jedoch allmählich ein Kreislauf in Gang gesetzt, bei dem die Identität immer brüchiger wird, der Wunsch nach Verschmelzung immer stärker und die Lösung des Dilemmas gleichzeitig in immer weitere Entfernung rückt, weil damit der Intimität, da sie ja der Ich-Identität bedarf, allmählich die Grundlagen entzogen werden. Identität zeichnet sich aber
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gerade dadurch aus, dass ihr Träger sie gegen die Zumutungen der Anderen verteidigt und sich selbst treu bleibt. Dieses Modell gilt natürlich auch und gerade für die Intimität: „Wir gehen von der Vorstellung aus, Intimität hänge von Anerkennung und Bestätigung durch den anderen ab, und sprechen von ,gelingender Kommunikation‘, wenn wir uns rundum verstanden fühlen und die gewünschten Reaktionen erhalten. Uns kommt gar nicht in den Sinn, dass Intimität auch bedeuten könnte, uns dem Partner zu öffnen und dabei nicht durch ihn, sondern nur in uns selbst Bestätigung zu finden.“ (Schnarch 2010, S. 46)
Weiter oben wurde bereits auf das Problem hingewiesen, dass sich das Selbstkonzept nicht unter den Bedingungen der Abhängigkeit entwickeln kann. Diese Bedingung ist durchaus auch auf die Paarbeziehung übertragbar. Denn das von der Spiegelung abhängige Individuum kann selbst bei positiver Spiegelung keine echte Identität entwickeln, da es dann gezwungen ist je nach den Spiegelungsinformationen seine Identität anzupassen. Infolgedessen ist es außerstande in unbeständigen oder ungewissen Situationen ein klares Empfinden dafür zu bewahren, wer es ist. Es entwickelt eine von den jeweiligen Umständen abhängige Identität, die sich aus einem „Selbst in Beziehung“ ableitet. Für dieses Selbst gilt, dass es Stärke aus Bewunderung zu bekommen erheischt und sich damit von der Bewunderung abhängig macht. Das Selbst, welches seine Stärke auf die Bewunderungsleistung eines anderen gründet, lebt in der beständigen Angst, Schwäche zu zeigen, schon Gefühle der Schwäche nur zu empfinden. Da Liebe jedoch nur auf dem Empfinden eigener, authentischer, auch schwacher und hilfloser Gefühle gründen kann, spaltet das fremdbetätigte Ich diese Gefühle allmählich ab und tauscht Liebe durch Macht. Der Besitzanspruch wird so zur einzig geltenden Realität der zwischenmenschlichen Beziehung. Die von der Fremdbestätigung abhängige Liebe verkehrt sich allmählich in ihr Gegenteil, da sie das Selbst nicht wirklich stärkt, wird es immer schwächer: „So verlangen wir nach weiterem Bewundertwerden, denn nur so müssen wir auf unsere eigenen Zweifel nicht aufmerksam werden und fühlen uns geliebt. Aber die wahre Liebe, die wir alle wünschen, entrinnt
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6 Die Sexualität des Erwachsenen uns. Und desgleichen auch Intimität, jene Nähe, die wir nötig haben, vor der wir uns aber fürchten, da sie Offenheit und Echtheit verlangt.“ (Gruen 2010, S. 98)
Das auf Fremdbestätigung begründete Selbst-Verständnis des Individuums wirkt in mehreren Hinsichten als Teufelskreis: zum einen schwächt es, wie Gruen sehr eindrücklich beschreibt, das Selbst, es untergräbt also eine wirkliche Entwicklung des Selbst, woraus eine immer stärkere Abhängigkeit entsteht. Das Individuum kann so nicht bekommen, was es zu seiner Konstitution unbedingt braucht: Autonomie - Gruen spricht deshalb vom „reduzierten Selbst“. Zum anderen verlangt die Stabilisierung der Identität, ein Gleichbleiben der Partner, weil die Identitäten von der Beziehung abhängen und Veränderungen Verunsicherungen bedeuten. Die daraus resultierende Entwicklungshemmung wird zwar als Beziehungsdefizit empfunden, aber, solange dieser Prozess unerkannt und unbearbeitet bleibt, kontraproduktiv reguliert. Eine Identität kann es immer nur unter anderen Identitäten geben, insofern ist die Differenzierungsfähigkeit konstitutiv für die Subjektwerdung, aber auch für die Kommunikation zwischen den Subjekten: „Als gesichert können wir aber betrachten, dass Intimität in unserer Fähigkeit gründet, zwischen uns selbst und anderen Menschen Unterscheidungen zu treffen, und dass wir uns ihnen nur öffnen und mitteilen können, weil wir über ein Bewusstsein unserer eigenen Person, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und ein komplexes Sprachvermögen verfügen. Diese Fähigkeiten sind alle im Neokortex verankert. Erst durch die Weiterbildung des Neokortex wurden Menschen zur Intimität fähig.“ (Schnarch 2010, S. 122)
Im Gegensatz also zu Lacan, für den der Andere seine Relevanz gerade wegen seiner Spiegelungsfunktion bekommt, die eben nur vom Anderen und nicht vom Gleichen erteilt werden kann, ist für Schnarch aber der Andere, der, in dessen Gegenwart, die Identität sich in ihrer Eigenständigkeit behaupten muss: „Intimität stellt unser Identitätsempfinden auf den Prüfstand“ (Schnarch 2010, S. 143). Gerade das Ausbleiben der Bestätigung durch den Partner zwingt zur Weiterentwicklung der Identität.
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Schnarch bezeichnet die Ehe deshalb auch als: „people growing machine“: „In der Paarbeziehung wird jeder für den anderen zur Reibungsfläche, an der er sich abschleifen kann, um die eigene Gestalt herauszuarbeiten.“ (Schnarch 2010, 244)
Zur Intimität gehört daher nicht bloß die Beziehung zum Partner sondern auch die zu sich selbst. Und genau diese ist durch Differenzierung zu entwickeln. Ein wichtiger Aspekt der Differenzierungsfähigkeit ist das Vermögen, die eigenen Ängste zu regulieren, Ängste vor Zurückweisung, vor Verlust, vor Einsamkeit, vor Versagen und auch vor dem Tod. Dies ist insofern interessant, als es nicht darum geht, die Ängste loszuwerden oder zu negieren. Ängste werden als etwas angesehen, das untrennbar zum Menschsein dazu gehört, so dass es also darauf an kommt, entsprechende Regulationsfähigkeiten zu entwickeln. Eine Sichtweise, die der Schauspieler Nicholas Cage in dem sympathischen Satz auf den Punkt gebracht hat: „We all struggle with fear, it is how we overcome it, that is interesting“. Menschen mit einem hohen Differenzierungsgrad, können ihre Ängste gut regulieren und weisen ein stabiles Selbstkonzept auf, sie sind aufgrund ihrer Identität in hohem Maße fähig, differente Verhaltensweisen auszuhalten und können es sich deshalb auch leisten sehr emphatisch zu sein. Sie sind gerade deshalb beziehungsfähig, weil sie die Beziehung nicht brauchen, das daraus verringerte Abhängigkeitsverhältnis optimiert die Möglichkeiten der Differenzierung und der Intimität zwischen den Partnern. Denn nach Schnarch lässt sich Intimität um so schlechter aushalten, je geringer der Differenzierungsgrad ist. Bei einem geringen Differenzierungsgrad streben die Partner nach fremd-bestätigter-Intimität, so dass der sexuelle Akt mehr und mehr darin besteht, Pflichten zu erfüllen, einem Anderen gegenüber, für den man jedoch nur im Rahmen des eigenen Spiegelungswunsches, also kein echtes, Interesse bereithält. Dies führt in der sexuellen Situation zu einem nicht authentischem Verhalten und langfristig zu sexuellen Störungen:
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6 Die Sexualität des Erwachsenen „Paare mit geringem Differenzierungsgrad nutzen das Vorspiel typischerweise dafür, ihrem gespiegelten Selbstgefühl Auftrieb zu geben. Das setzt den Partner unter Druck, heftiger zu keuchen und zu stöhnen und unbedingt erregt zu sein - so dass sich paradoxerweise weniger echte Erregung einstellt. Der entstehende Teufelskreis führt dazu, dass das Begehren der Partner abnimmt“ (Schnarch 2010, 237).
Im Ergebnis, so Schnarch, würden sich die Partner gegenseitig und auch sich selbst bei der Sexualität ausblenden, in der Hoffnung, dass es dann „beim Sex klappt“, das Gegenteil wäre aber der Fall. In seinem sexualtheoretischen Ansatz entwickelt Schnarch also ein gegen den Strich gebürstetes Problemverständnis, demnach sich sexuelle Funktionsstörungen, wie frühzeitige Ejakulation, Impotenz, Libidomangel oder Frigidität vor allem daraus entwickeln, dass aufgrund mangelhafter Differenzierung, das Selbstkonzept nur auf eine instabile Identität zugreifen kann, die zu einer echten intimen Begegnung nicht befähigt. Mit anderen Worten: Sexuelle Störungen sind ein Anzeichen mangelnder Intimität. Dementsprechend beruht sein Therapiekonzept nicht darauf, die Partner aufzufordern, sich gegenseitig mehr zu unterstützen, positiver zu spiegeln, stärker zu bestätigen, mehr zuzuhören sondern in ihrer Differenzierungsfähigkeit voranzuschreiten. Interessant ist dabei besonders, dass der sexuelle Akt selbst die Lernsituation abgibt, in der sich die Identität weiter ausdifferenzieren und dadurch immer stabiler werden soll. Das gelingt jedoch nur, wenn sich in der sexuellen Handlung tatsächlich die jeweiligen Personen als ganze Menschen begegnen und sie nicht nur in bestimmten Rollen zusammenkommen, mit denen die Träger vielleicht vorgeben besonders sexy, liebenswert, fürsorglich, stürmisch oder devot zu sein. Im sexuellen Miteinander gilt es daher auch nicht vordergründig, technische Fragen zu klären und zu lösen, sondern vor allem emotionale Verbundenheit zu erfahren. In dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Anderen muss fremdbestätigte-Intimität zwangsläufig zu einer Verflachung der Kommunikation führen, da sich die Personen nicht mehr zeigen können, wie sie sind, sondern nur noch so, wie sie glauben, dass ihnen dafür Bestätigung zukommt. Mit dem Konzept der selbst-bestätigten-Intimität gelingt es Schnarch tatsächlich, den sexuellen Akt als einen Ort unmittelbarer Be-
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gegnung zu konstruieren, an dem das eigene Selbst sich am anderen Selbst erfährt und dabei Selbstbestätigung erfährt. Nirgendwo sonst ist diese Begegnung so evident wie in der Sexualiät, wenn sie denn Intimität zu lässt. Schnarch selbst legt Wert darauf, zu betonen, dass Fremdbestätigung nicht per se wertlos sei, da sie im Kindesalter die Bedingung für das Entstehen eines Selbstgefühls darstellt. Eine Sichtweise, die an die oben beschriebene Anpassungsfunktion durchaus anschlussfähig ist. Auch im Erwachsenenstatus ist Fremdbestätigung nicht grundsätzlich negativ konnotiert, nur die Abhängigkeit davon ist der Differenzierung abträglich, insbesondere, wenn sie die Intimität dominiert.
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Der Erwachsene und sein Körper Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Jean Amery
Die materiale Basis des Individuums ist der Körper; aber der lebendige Körper, also der Leib, ist darüber hinaus auch die Erscheinungs- und Erlebensform, in welcher das Ich zum Ausdruck kommt und mit der Welt interagiert. Sie gibt ihm die äußere Form, in der sein Inneres ein Selbiges bleiben kann, trotz aller Wandlungsprozesse von Innen und Außen: „Der Leib ist mein Körper als mein Innen und mein Außen zugleich, als diejenige Verfassung und derjenige Gegenstand, durch die und an dem einzig ich mich selbst erfahren kann als Subjekt von Leiden und von Glück, als das Subjekt, das einzig in der Bewältigung von Krisen sich als solches erfährt und konstituiert.“ (Oevermann 2010, S. 580)
Die psycho-physische Einheit menschlichen Lebens, wie sie dem Menschen allgegenwärtig ist, zeigt sich auch daran, dass die Person mit ihrem Körper unlösbar verbunden ist. Unter normalen Bedingungen empfindet man sich in dem Maße als lebendig, real oder substantiell, in dem man den Körper als lebendig, real oder substantiell empfindet (vgl. Paulus 1986). Der Körper ist also auch mehr als nur eine belebte Hülle, in ihm erfährt sich das Selbst, denn hier erlebt es seine Emotionen als körperliches Empfinden; in diesem emotionalem Erleben, sind die durch die Sinneskanäle eingehenden Informationen als Empfindungen der Welt spürG. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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bar. Über den Körper ist der Mensch ein unmittelbar in der Gegenwart Seiendes; die Gegenwart vermittelt sich dem Selbst über sein körperlichleibliches Sein, d.h., dass der Mensch über den Körper Teil der Gegenwart ist, die sich selbst wiederum für ihn erst durch seine Teilnahme konstituiert. „Er ist es, der in einem individualisierten Leben für einen letzten Rest von Kontinuität und Verlässlichkeit sorgt. Dies macht ihn zu einer der wenigen Konstanten im Leben des individualisierten Einzelnen, dem von allen verlassen (Frauen, Kinder, Freunde, Kollegen) - immerhin der eigene Körper bleibt.“ (Schroer 2005, S. 32)
Schon in der alltäglichen Erfahrung des Individuums stehen sich Körper und Ich nicht gegenüber, sondern bilden eine unzertrennbare Einheit, in welcher das Ich ein durch und durch verkörpertes Ich ist: „Um sich in der Welt zu Hause zu fühlen, muss der Mensch sie nicht nur mit dem Verstand, sondern mit allen Sinnen erfassen, mit seinen Augen, seinen Ohren, seinem ganzen Körper. Er muss mit seinem Körper das, was er in seinem Gehirn denkt, ausagieren. Körper und Geist können in dieser Hinsicht sowenig wie in irgendeiner anderen Hinsicht voneinander getrennt werden.“ (Fromm 1989, 242f.)
Insofern ist die gesamte Biographie eines Menschen und sein seelisches Geschehen, das stets auch mit seiner personalen und sozialen Identität verknüpft ist, im und über den Körper präsent. In der Alltagssprache kommt dieses Wissen um die enge Verschränkung von sozialem Handeln, Emotionalität und Körper auch heute noch zum Ausdruck: „... egal, ob ich verschnupft bin, alles in mich hineinfresse, mir etwas schwer im Magen liegt, mir etwas an die Nieren oder unter die Haut geht, ich weiche Knie bekomme, es mir das Herz zerreißt, den Atem verschlägt oder wenn der Mensch generell lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen“ (vgl. Klein 1992, 201). Für eine nähere Bestimmung des Erwachsenen ist der Körper deshalb wichtig, weil die Herausbildung des Individuums, als vergesellschaftetes Selbst wesentlich über den Körper hergestellt wird. Denn in der Leiblichkeit erfahren wir uns zunächst als ein Naturwesen, von dem wir
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uns durch Sublimierung zum Kulturwesen hin sozialisieren. Die Zivilisierung, und damit die Konstruktion des Erwachsenen, beginnt mit der Disziplinierung des Körpers. Elias hat den Zivilisationsprozess der abendländischen Kultur als ein kontinuierliches Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen, Dämpfung der Triebstruktur und Zunahme der Körperkontrolle beschrieben, bei dem sich allmählich ein „höheres“, psychisches Selbst herausbildet, das beständig ein „niederes“, körperliches Selbst überprüft und überwacht.“ (vgl. Elias 1997). Scham ist das typische Merkmal des Erwachsenen. Sie entspringt der Leiblichkeit, mit der wir der Natur zugehören und emergiert in dem Moment, in welchem unser Naturleib inmitten der Kulturgesellschaft sichtbar wird: „Schämen muss ich mich nur, wenn ich meinen Leib im Angesicht anderer, die mich als Kulturwesen anerkennen sollten, nicht unter die sublimierende Kontrolle der Kultur gebracht habe, wo ich dazu verpflichtet gewesen wäre. Sobald ich alleine bin, brauche ich mich nicht mehr zu schämen.“ (Oevermann 2010, S. 580)
Die Descartsche Trennung von Geist und Körper ist keineswegs ein Irrtum gewesen, sondern spiegelt bloß das Denkschema wieder, mit dessen Hilfe sich der abendländische Zivilisationsprozess zu legitimieren trachtete: „Als wichtigstes Ergebnis der Distanzierung des Körpers, so wie sie die abendländische Geschichte prägt, erscheint die Fähigkeit, den Körper vom Ich zu trennen, die analytische Fähigkeit der Differenzierung von Körper und Selbst (...) Was außen mittels Messer und Gabel und Maschinen geschieht, passiert im Innern mit der Psyche. In Gang gesetzt wird die Modellierung der Identität, die folgenschwere Entstehung europäischer und westlicher Identität aus Graden der Körperbeherrschung.“ (Rittner 1986, 138)
Die dualistische Denkweise Descartes bereitete damit außerdem den Boden, um im Dienst der Etablierung eines Machtverhältnisses das Schamgefühl im Schuldgefühl zu pervertieren. Die Differenz von Scham und Schuld besteht darin, dass Schuld unabhängig von der Gegenwart anderer
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7 Der Erwachsene und sein Körper
empfunden wird, nämlich auch dann, wenn man allein ist. Die Antionaniepädagogik machte sich genau diesen Mechanismus zunutze, denn Schuldgefühle wirken über das Schuldbewusstsein viel tiefer in die Person hinein als Schamgefühle. Während das Individuum zur Scham ein differenziertes Verhältnis entwickeln kann und seine Selbstbestimmung deshalb auch angesichts von Schamgefühlen behält, greift die Schuld das Selbst in seinen Grundfesten an, zermürbt das Selbstwertgefühl und untergräbt die Selbstbestimmung des Individuums. Schuld eignet sich daher zur Kontrolle, wie kaum ein anderes nicht direkt physisch angewandtes Machtmittel15. Im abendländischen Denken ist der Körper allmählich zum Feind stilisiert worden, der mit Waschungen, Züchtigungen und allen möglichen Erziehungsmaßnahmen diszipliniert, ja bekämpft werden musste. Zunehmend galt es nicht nur die nach außen sichtbaren körperlichen Regungen zu unterdrücken, sondern auch das gesamte Spektrum an Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Alice Miller berichtet von Friedrich Schiller, dass sein Vater den Kindern vorgeschrieben habe, sofort mit Essen aufzuhören und den Tisch zu verlassen, sobald sie Lust am Essen verspürten und er selbst tat es auch so (vgl. Miller 2005). Die Trennung von Körper und Geist hat immer mehr zu einer Abwertung des Körperlichen geführt, die auch in der Gegenwart noch fortdauert. Selbst der moderne Körperkult trägt noch abwertende Züge, in dem er unter dem Vorwand der Körperbezogenheit, denselben in ein Dilemma verwickelt, aus dem er nur mit Schaden entkommt. Denn seine Bezogenheit ist auf ein Ideal hingerichtet, an welchem der individuelle Körper selbst dann scheitern muss, wenn er ihm körperlich nahe kommt. Denn zum einen gründet die Idealisierung des Körpers auf der Bestätigung des Ideals von außen und zum anderen sind die Inszenierungen des Ideals immer außeralltäglich und nicht au15
Es wäre aber falsch die Auswirkungen von Scham- und Schuldgefühlen, bloß auf die Bereiche des unmittelbar Körperlichen zu beziehen, auch wenn sie hier und vor allem am Sexuellen so leicht nachzuvollziehen sind. Zunehmend und v.a. mit Hilfe der Religion ist es gelungen das Schamgefühl auch auf den Gedankenakt auszudehnen. Zur Mentalisierungsfähigkeit gehört eigentlich die Erkenntnis, dass der bloße Gedanke an sich eben keine Wirkung in der Welt hat. Sowenig wie man Scham empfinden muss, wenn man alleine ist, muss man auch Scham oder gar Schuld für etwas empfinden, das man nur in seinem Kopf vollzieht.
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thentisch, wohingegen der Mensch in der Lebenswelt situiert ist, so dass selbst der quasi ideale Körper schon an der falschen Situierung scheitert. Am Ideal wird der Körper zur Kapitalform einer Kultur der Sichtbarkeit, in welcher er jedoch nicht als das erscheinen kann, was er ist: Natur. Der Körperkult ist also in Wirklichkeit ein Kulturkörperkult, der nur zu einer weiteren Entkörperlichung der Gesellschaft beiträgt. In Wirklichkeit vollzieht sich diese Körperdistanzierung aber mehr und mehr als Marginalisierung der Person. Was mit dem Körper verloren geht, ist eben nicht bloß die Hülle des Individuums, sondern sein genuiner Konstitutionsort; das Individuum wird sich selbst entfremdet, es verliert an Autonomie im Sinne einer Fähigkeit, sich selbst ungehindert wahrzunehmen sowie seinen Interaktionsmöglichkeiten mit dem Anderen, an dem es zum Individuum wird: „Entkörperlichung in modernen Gesellschaften ist verbunden mit einem Rückgang der Funktion der Körpersprache. Die Bedeutung verbaler Kommunikation wächst, weil Körpersprache oft mehrdeutig ist, Abstraktionen nicht zulässt und damit den Kommunikationsanforderungen in formalisierten und komplizierten sozialen Systemen, in denen Gefühle als Steuerungsmöglichkeiten nicht mehr zugelassen sind und individualisierte Wahrnehmungsprozesse kaum noch eine Bedeutung besitzen, nicht mehr gerecht wird.“ (Heinemann 1990, 79)
Da sich der Erwachsene im körperlich manifesten Spannungsverhältnis von Kultur und Natur konstituiert, ist der Angriff auf den Körper, zugleich ein Angriff auf den Erwachsenen. Dem nämlich mit dem Körper zunehmend das Medium abhanden kommt, mit dessen Hilfe es sein Selbst entwickelt. Sämtliche Emanzipationsbestrebungen, mit denen das Individuum repressive Zumutungen beantwortet, gründen darin, dass es mit seinem Heraufkommen zugleich auch zu seiner Verwirklichung drängt, für den es den Naturkörper in zweifacher Hinsicht braucht: 1.
benötigt das erwachsene Individuum den Körper um das Spannungsverhältnis von Kultur und Natur aufzubauen, in welchem es sich nämlich konstituiert, sich verwirklicht und weiter entwickelt.
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7 Der Erwachsene und sein Körper 2.
ist der Leib auch die Quelle des Glücks, in welchem die sinnlichen Eindrücke als emotional wirksame Empfindungen wahr genommen und genossen werden können: in der Bewegung und des körperlichen Selbsterlebens, im Näheerleben mit Anderen, in der Sexualität, in der Nahrungsaufnahme, im Naturerleben wie im Genuss von Kunst und Kultur.
Der Erwachsene ist in historischer Betrachtung ein Ergebnis der Disziplinierung des Körpers im Dienst der Kulturentwicklung und in ontogenetischer Sicht Ausdruck seiner individuellen Körpergeschichte, in die sein persönliches Schicksal Eingang gefunden hat. Der moderne Körper wird aber in der Kindheit nicht bloß zugerichtet, er wird verdrängt, da auch die Gefühle die zur Ausbildung eines autonomen Selbst notwendig sind unter Kontrolle gebracht werden müssen. Kontrolle von Gefühlen gibt es aber nur um den Preis ihres Verlustes. Das Individuum erleidet den Angriff auf den Körper an seiner ganzen Person und bildet verschiedene Symptome aus. Alice Miller führt z.B. die körperlichen Leiden Dostojewskis, Schillers, Nietzsches, Tschechows und Kafkas sehr anschaulich auf ihre lieblosen bis brutalen Kindheiten zurück, die von seelischen Grausamkeiten, körperlichen Züchtigungen und massiven Ängsten geprägt waren. In gleichem Maße schlagen sich die Vernachlässigungen der modernen Gesellschaft offenbar in den Zivilisationskrankheiten nieder, wobei es zu Vermischungen und entsprechenden Verstärkungen kommen dürfte, etwa bei den diversen Erscheinungsformen von Essstörungen oder der Zunahme depressiver Erkrankungen. Der Körper ist aber nicht bloß ein Erleidender, er ist gerade als Erfahrungsinstanz auch Akteur. Überdies holt der Körper über die Sinneserfahrungen den Erwachsenen in die Gegenwart, denn Sinneswahrnehmungen können nur in der Gegenwart entstehen, so dass durch die Konzentration auf diese die Gegenwart im Vergleich mit Vergangenheit und Zukunft an Bedeutsamkeit gewinnt. In diesem Gegenwartsmoment prallen in jeder neuen Situation die kultur- und die naturwesenhaften Züge des erwachsenen Selbst aufeinander und müssen beständig neu das Individuum konstituieren. Als Akteur ist der Körper auch in der Welt. Denn über den Leib bildet sich gewissermaßen, die Welt, die uns zueigen ist, an ihm
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vollzieht sich die Trennung von Innen und Außen. die Grundlagen der Welterfahrung wie des Ich-Bewußtseins konstituiert. Merleau-Ponty sieht den Leib deshalb als konstitutiv für die Art des ,Zur-Welt-Seins‘ an: Der Leib sei der Durchgangsort des Bezuges zur Welt und meiner Bewegung auf die Welt als Art, der Welt zu begegnen und mich der mir verfügbaren Welt zu vergewissern. In der Leiblichkeit ist damit immer zugleich zum einen die Kultur und die implizite Ordnung der jeweiligen Welt und zum anderen meine Stellung in und zu dieser Welt gegenwärtig. (vgl. Merleau-Ponty 1965, Merleau-Ponty 2004 sowie Klein 1992) „Wenngleich unser Leib uns nicht, wie dies beim Tier geschieht, von unserer Geburt an festgelegte Instinkte auferlegt, so ist es doch jedenfalls er, der unserem Leben die Form der Allgemeinheit gibt und unsere personalen Akte zu festen Dispositionen verlängert. ... Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.“ (Merleau-Ponty, 1965, S. 176)
Unter Bezug auf Plessner führt Klein aus, dass „der Mensch zum einen in und durch seinen Leib lebt – sein Leib ist, zum anderen seinen Körper hat, über den er verfügt, ihn gestaltet und kontrolliert. Somit ist stets von einer engen und unauflöslichen Verflechtung von sozialer Umwelt, Organismus, Identität, Körperbild und Körpergebrauch auszugehen (...).“ (Klein 1992, 200f.) Das Individuum erlebt sich daher nicht nur als Wesen, das mit seinem Körper eine Einheit bildet, sondern über diesen auch erst ein gesellschaftliches Wesen ist. So wie die Gesellschaft im Rahmen von sozialen und kulturellen Normen und Werten über seinen Körper verfügt, so wirkt das Individuum über seinen Körper auch in die Gesellschaft hinein. Die soziale Dimension der Körperlichkeit verweist auf das Potential Körpererfahrungen sozial bedeutsam werden zu lassen. Um seine volle Wirksamkeit als sozialer Akteur entfalten zu können, muss sich der Erwachsene seines Körpers also erst wieder bemächtigen. Jenes Körpers, der ihm zum Zwecke der Disziplinierung während seiner Kindheit entfremdet wurde. Dieses Bemächtigen kann jedoch nicht einen bloßen Rückfall in das kindliche (also schamlose) Ausagieren von Körperbedürfnissen markieren, da sich mit diesem das erwachsene Individuum quasi wieder verflüchtigen würde. Sondern es muss ein bewusstes,
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nachträgliches, Sich-Wieder-Bemächtigen sein, dass nur im Modus der Reflexion stattfinden kann, nicht im Modus des Verdrängens, denn das einmal Geschehene kann nicht wirklich, sondern nur um den Preis der Pathologie wieder rückgängig gemacht werden. Arno Gruen beschreibt, dass der Sozialisationsprozess in dem er auf Anpassung basiert auch zu einer Abspaltung von unseren Körperempfindungen führt. Diese Abspaltung der Gefühle verhindert es, ein autonomes Selbst, ein Selbst, das auf eigenen Erfahrungen gründet, aufzubauen. Der Weg zum Sich Wiederbemächtigen des Körpers kann nur darüber führen, allmählich eine Fähigkeit der Selbstempfindung zu entwickeln. „Für mich besteht der einzig sinnvolle Weg, die instrumentelle und funktionale Ausrichtung des ‚social body’ zu überwinden und damit die (...) Versöhnung von Leibsubjekt und gesellschaftlichem Körper anzugehen, zur Zeit in integrativer Körper- und Bewegungserziehung und rekonstruktiver Arbeit am Körper, um eine Wiederbelebung der kulturell und gesellschaftlich verschütteten Potentiale des Körpers zu initiieren und die fatalen Konsequenzen der Verdrängung des Emotionalen und Irrationalen unter der Maßgabe der ganz engen und engstirnigen funktionalen Rationalität des Beherrschens und Bewirkens am eigenen Körper aufzuarbeiten (...)“ (Klein 1991, 182). Erwachsene Körpererfahrungen sind schon deshalb wichtig, weil die ersten sozialen Erfahrungen Körpererfahrungen sind. Sie sind also vorsprachlicher Natur und insofern nicht über das Reden sondern vor allem über das körperliche Tun zu erreichen. Diese rekonstruktive Körperarbeit, wird allerdings immer ein mehr oder weniger schmerzhafter Prozess sein, nicht nur weil es gilt, schmerzhafte Kindheitserfahrungen aufzuarbeiten, sondern weil das erwachsene Selbst, Stärke im Angesicht seines Schwachseins erwerben muss: „Man muss es wagen, das eigene Selbst zum Erleben zu bringen, um zu erfahren, dass die Angstgespenster, die im Wege stehen, eigentlich machtlos sind“ (Gruen 2010, S. 161). Über dieses eigene, erwachsene und deshalb bewusste, Erleben führt der Weg einer Art Heilung des reduzierten Selbst. „Darüber hinaus können wir in dem Maße, in dem wir uns über diese Zusammenhänge im klaren sind, dem Druck ständig an unsere eigenen Gefühlen zu zweifeln und unserer Menschlichkeit zu schämen, entschlossen entgegentreten. Das ist der eigentliche Sinn des Bewusstwer-
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dens. Es geht darum, den Kampf um unsere eigene Realität angesichts des allgemeinen Drucks, uns einer verzerrten und reduzierten ,Wirklichkeit‘ zu fügen, durchzustehen.“ (Gruen 2010, S. 46).
Der Erwachsene ist ein Gewordener, aber er muss nicht in diesem Gewordensein verharren, sondern kann sich auf dieser Basis individuell und selbstbestimmt weiterentwickeln. Nur die in dieser Form selbstbewusste Person, kann verantwortlich dem Anderen gegenüber handeln, weil diese Verantwortung der Unabhängigkeit, der Autonomie des Subjekts, bedarf. Da der Erwachsene in seiner Leiblichkeit Naturwesen und Kulturwesen verkörpert, kann seine Reife deshalb auch entlang der Fähigkeit beschrieben werden, zwischen diesen beiden Facetten seiner Leiblichkeit zu unterscheiden und das aus diesem Dualismus resultierende Spannungsverhältnis im Sinne seiner Differenzierung zu regulieren. Regulation bedeutet nicht, das Spannungsverhältnis aufzulösen, sondern produktiv und selbstbestimmt zu nutzen, denn es liefert zugleich die Energie, die das erwachsene Individuum benötigt, um sich weiter auszudifferenzieren. Die Fähigkeit zu lebendigen Körpererfahrungen ist eine Grundvoraussetzung dafür.
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8.1
Vom Sein zum Werden
Der Erwachsene – das differenzierungsfähige Subjekt Zweifellos ist es bequemer, in blinder Unterwerfung zu leben, als an seiner Befreiung zu arbeiten: auch die Toten sind der Erde besser angepasst als die Lebenden. Simone de Beauvoir
Nach der Theorie der Differenzierung ist der Erwachsene dadurch gekennzeichnet, dass er im Gegensatz zum Kind in der Lage ist, im Modus der Differenzierung zu lernen. Grundlage hierfür ist die in der Individuation stattgefundene Konzeption des individuellen Selbst, welches am Anderen zum Individuum wird und die Zumutung der Einsamkeit durch die Fähigkeit zur erotischen Liebe bewältigt. Die Differenzierung gestattet dem Individuum sein in Abhängigkeitsverhältnissen geprägtes Selbstkonzept zu erweitern und ermöglicht damit das Überschreiten der in Kindheit und Jugend gesetzten Identitätsgrenzen. Die Differenzierungsfähigkeit bildet von daher den Grundstein für den Freiheitsbegriff des erwachsenen Subjekts. Das Kind ist zwar während seiner Sozialisation den vielfältigen Verhaltensformen einer Kultur der subtilen Herrschaft ausgesetzt, aber es kann sich im Status des Erwachsenen bis zu einem gewissen Grad davon befreien und zunehmend an Autonomie gewinnen. Der Akt der Befreiung ist allerdings mit einem hohen Energieaufwand verbunden und dadurch mit der Bedingung verknüpft, psychische Spannungszustände zu ertragen, aus denen die Energie im Sinne einer Gradientkraft resultiert. Sie führt dafür auf der Seinsebene auch zu einer tieferen Erlebensfähigkeit und vergrößert außerdem den Spielraum an Erlebensmöglichkeiten. Diesbezüglich gelten für die Differenzierung programmatisch die oben zitierten Worte Simone de Beauvoirs. Die Differenzierung funktioniert wie jeder Bewusstwer-
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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densprozess im Sinne einer positiven Rückkopplung. Je weiter der Differenzierungsprozess eines Menschen voranschreitet, desto mehr entwickelt sich sein autonomes Selbst und desto mehr Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich für das Individuum. Es ist davon auszugehen, dass, wie Arno Gruen beschreibt, alle Menschen in den Vorgängen ihrer kindlichen Unterwerfung unter erwachsene Restriktionen irgendwie gefangen sind, dass alle Menschen in ihrem Leben Hilflosigkeit erfahren haben und dass das Angewiesen-Sein auf den Anderen immer ein Stück weit mit Zumutungen einherging, die die Entwicklung des Selbst einschränken und seine Autonomie reduzierten. Es ist jedoch gar nicht notwendig im Rahmen der Differenzierung auf grob defizitäre, restriktive oder gar traumatische Erlebnisse der Kindheit zu verweisen, die zu ihrer späteren Heilung eine solche Entwicklungsfähigkeit benötigen. Selbstredend findet die primäre Sozialisation immer unter den Bedingungen einer äußeren Determination statt. D.h. jede Form der kindlichen Entwicklung unterliegt den Einflussgrößen der daran direkt beteiligten Erwachsenen Personen, in dem Sinne, dass sie diesem sich erst entwickelnden Selbst, die eigenen Identitätskonzepte zum Maßstab setzen. So lange es in einem Abhängigkeitsverhältnis von diesen Erwachsenen steht, wird es sich, innerhalb von verschiedenen Identifikationsprozessen, relativ unkritisch entlang dieser ‚fremden‘ Subjektkonzepte entwickeln. Das Kind kann sich nicht wirklich autonom davon entwickeln und einen eigenen Identitätsentwurf dagegen setzen. Selbst bei optimalen Verhältnissen, bei einer glücklich verlaufenden Mutter-Kind-Dyade, einer an Verletzungen armen und Förderungen reichen Kindheit, in quasi gesunden, liebevollen Familienverhältnissen etc. muss irgendwann ein Ablösungsprozess stattfinden, auf dem sich das KindSelbst differenzieren kann um ein vollständiges, autonomes Selbst zu werden. Die Differenzierung ist quasi die Entwicklung des Erwachsenen nach der sozialen Geburt des Individuums. Es ist für die Autonomie des Subjekts nichts gewonnen, wenn es den guten Eltern einfach verhaftet bleibt, sich nicht differenziert und keinen eigenen, individuellen Lebensweg beschreitet, sondern nur den vorgegeben Spuren folgt. Wenn Erziehung dann als fehlgeschlagen gilt, wenn das kritische Subjekt verloren gegangen ist, so gilt dies natürlich auch für solche Verhältnisse, in denen
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zwar auf den ersten Blick, alles geordnet und glücklich erscheint, die Basis dieses Glücks aber die unbedingte Konfliktvermeidung ist. Hinter der Fassade kann nicht von Autonomie anerkennenden Subjekten ausgegangen werden, wenn das unhintergehbar konfliktbehaftete Verhältnis zwischen Selbst und Anderen nicht anerkannt und angemessen ausagiert sondern verleugnet wird und die Fassade zugleich eine Schweigemauer im Dienst der Harmonisierung präsentiert. Differenzierungsfähigkeit schließt die Fähigkeit ein, das Anderssein des Anderen wahrzunehmen und zu akzeptieren. Diese Akzeptanz ist aber grundsätzlich konfliktbehaftet, so dass es darauf ankommt die Konflikte auszuhalten und produktiv auszuagieren. Das Kind ist in den Erwachsenen eingegangen und sein Erwachsensein zeigt sich daran, nicht das Kind an sich, aber diejenigen Anteile zu überwinden, die ihn in der Differenzierung einschränken. Dies sind vor allem jene Anteile, die ihn von seinem ursprünglichen Kind trennen. Das innere Kind ist eine modellhafte Betrachtungsweise für alle frühkindliche und kindlichen Erfahrungen, die im Gehirn nicht einfach nur gespeichert sind, sondern auch Teil seiner Struktur sind und hierüber in das Erwachsenenleben hineinwirken. In der Betrachtung von Gruens Konzept des ‚Fremden in uns‘ wird deutlich, wie subtil die kindliche Anpassung im Erwachsenen fort wirkt und der Differenzierung entgegensteht. Nach Gruen werden diejenigen Verhaltensweisen des Kindes, die es in Konflikt mit seinen Eltern gebracht hat, vom Kind abgespalten, als fremd empfunden und fürderhin bekämpft. Ein solches Selbst ist nicht wirklich fähig zur Autonomie, es ist ein ‚reduziertes Selbst‘. Die Eltern sind aber nur ein Teil eines Systems, das sich auch in den Restriktionen und Leistungsanforderungen der Schule mit eben solcher Subtilität fortsetzt. Zurückweisungen, ablehnendes Verhalten, Züchtigungen, Liebesentziehung, Verunsicherungen, Beschimpfungen - alle diese für sich allein stehend vielleicht als trivial erscheinenden Disziplinierungsmaßnahmen werfen das kindliche Selbst immer wieder auf sich zurück. Sie wirken zutiefst verunsichernd, weil das Kind noch keine Möglichkeit hat, seine grundsätzliche Einsamkeit anzunehmen und zu transzendieren. Diese Fähigkeit besitzt nur das erwachsene Individuum, nur es kann die Span-
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nung der Einsamkeit produktiv wenden. Beim Kind hingegen wirkt das Einsamkeitsgefühl unmittelbar deprimierend, d.h. es spaltet mit dem Gefühl der Trauer auch zugleich alle anderen Gefühle ab. Denn die einzige Möglichkeit, mit der Kinder auf das durch die Zumutung der Einsamkeit ausgelöste Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit reagieren können, besteht im Reduzieren ihrer Gefühlswahrnehmung. Die Art und Weise der längst nicht mehr nur auf die westliche Welt beschränkten modernen Zivilisierung führt so zu einer entfremdeten, reduzierten Selbstentwicklung mit unterentwickelter Emotionalität und eingeschränkter Autonomie. Auf dieser Basis können Menschen nicht nur nicht in angemessener Weise Glück und Zufriedenheit erfahren, sie sind auch nicht in der Lage, die anstehenden Herausforderungen in der globalen Welt, die z.B. Fähigkeiten der Integration und des Fremdverstehens erfordern, zu bewältigen. Sie scheitern oftmals am Leben selber. Nicht umsonst gilt die Depression, der Verlust der affektiven Resonanz, der Unfähigkeit Freude oder Trauer, also sich selbst, zu empfinden als Zivilisationskrankheit Nr. 1 mit der höchsten Suizidrate. Von den rund 10.000 Menschen, die sich allein in Deutschland jedes Jahr das Leben nehmen, gehen mindestens 7000 auf das Konto der Depression, Weltweit begehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund eine Million Menschen pro Jahr Suizid, alle 40 Sekunden beendet ein Mensch freiwillig sein Leben. Erwachsene sind gewissermaßen großgewordene Kinder, denn ihr Ausgangspunkt ist das, was sie durch Anpassung erworben haben. So wie die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes Ausdruck der Anpassung ist, so kann die Persönlichkeitsentwicklung des Erwachsenen Ausdruck der Differenzierung sein. Dies geht offenbar nicht, ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die nie gänzlich schmerzfrei sein wird, denn erstens ist menschliche Kommunikation per se mit „Übertragungsfehlern“ behaftet, deren Toleranz das Kind erst erlernen muss und zweitens, wird auch eine glückliche Kindheit spätestens dann schmerzhaft, wenn man aus dem Paradies vertrieben wird und drittens gehört nach Oevermann das Konflikthafte in der ödipalen Triade ja gerade funktionslogisch zur Individuation dazu, so dass eine schmerzloser Blick in
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die Vergangenheit allenfalls von einem hohen Verdrängungsgrad bestimmt wird. Das soziale Miteinander hat eine wichtige Rolle für die Differenzierung des Erwachsenen. Denn jede Begegnung mit einem Anderen ist eine Konfrontation mit einer anderen Identität, in der sich die eigene immer wieder aufs Neue ihres Entwurfs vergewissern muss. Insofern gibt es kein Ende der Identitätsentwicklung unter den Bedingungen des sozialen Miteinanders. Schon jede alltägliche Begegnung selbst mit altbekannten Personen kann in diesem Sinne zur Herausforderung und zu einem spannenden Erlebnis der eigenen Entwicklungsfähigkeit werden. Dafür muss das Individuum in der Lage sein, den Anderen sowie sich selbst im Gegenwartsmoment wahr zu nehmen, sich miteinander in Beziehung zu setzen und aus dem bewussten Erleben der Diskrepanz von Individualität und Sozialität jene Spannungsenergie zu generieren, die es für die weitere Differenzierung benötigt. Insoweit die Wahrnehmung eine Fähigkeit des körperlich-geistigen Leibes ist, kann die Entwicklung der Differenzierung nicht bloß als geistiger Akt zu verstehen sein, sondern auch als ein körperlicher. Die erste Differenzierungsaufgabe für den Erwachsenen besteht deshalb darin, sich seines Körpers wieder zu bemächtigen. Der Körper ist nicht bloß diejenige Instanz, die am einfachsten und unmittelbarsten zu erfahren ist, und von daher quasi einen niederschwelligen Zugang der Differenzierung bietet, sondern er ist die Instanz, mit der wir in der Gegenwart sind und dort unsere unmittelbare Lebendigkeit erfahren. „Indem Menschen bewusst auf ihre Körper einwirken, binden sie sich in eine permanent mitlaufende Erlebnisgegenwart ein, selbst, wenn sie eine zukünftige Körpergegenwart im Sinn haben. Körpertraining ist insofer funktional äquivalent zum Schmerzmechanismus. E hilft, die Indifferenzschwelle des Bewusstseins gegenüber der eigenen Körperumwelt zu überspringen und eine Vergleichzeitigung von Bewußstsein und Körper in der Jetzt-Zeit gezielt herzustellen.“ (Bette 2005, S. 37)
Körperarbeit im Sinne der Differenzierung ist aber nie bloß ein nostalgisches Zurück. So sehr die Pervertierungen der den Körper zurichtenden Sozialisation zu kritisieren sind, so unleugbar ist es doch, dass das Indivi-
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duum immer aus einem schmerzhaften Prozess hervorgeht, bei dem Natur in Kultur transformiert wird. Kultur geht niemals natürlich aus Natur hervor, sondern ist immer eine Zumutung derselben. Die Wiedergewinnung des Körpers nach der sozialen Geburt ist ein lustvoller Akt, gerade weil sie dieser Paradoxie ausgesetzt ist, dass der Naturmensch nur als Kulturmensch überlebensfähig ist. Differenzierung ist also keine Flucht in die Körperarbeit sondern setzt sich ganz bewusst dem Spannungsprozess des in-der-Welt-Seins aus. Der Körper wird als Ausgangspunkt für Differenzierungsprozesse aus mindestens zwei Gründen interessant: Erstens, weil er unausweichlich ein Erleben der Gegenwart erfordert und zweitens, wegen der geringen Abstraktionsleistung, die die Körperarbeit dem Individuum abverlangt. Denn mit dem Körper kommt eine Instanz verstärkt in den Blick, die nicht erst symbolisch als Einheit hergestellt und stabilisiert werden muss, wie die Identität, sondern als eine kompakte, in sich abgeschlossene biologische Einheit schon vorhanden ist (vgl. Bette 2005). Ohnehin kann Arbeit am Selbst, nie rein auf der geistigen Ebene stattfinden. Nur wenn der Körper, in die Arbeit am Selbst involviert ist, wird die Einheit von Leib und Seele wirklich erfahrbar für das Individuum, so dass es sich immer weniger als ein gespaltenes oder reduziertes Selbst erlebt, sondern immer mehr als ein erwachsenes Selbst, das sich seiner Lebendigkeit im Prozess der beständigen Differenzierung gewahr wird. All dies ist jedoch nicht als ein Abarbeiten von Differenzierungsaufgaben zu denken, die in einem Nacheinander von Entwicklungsschritten zu einem Ziel hinführen. Vielmehr ist die Differenzierung in Form einer Übungspraxis zu denken, einer ständigen Arbeit am Selbst. Das Ziel ist nicht das Fertigwerden mit etwas, das Abschließen und Zueinem-Ende-bringen, sondern das beständige Leben von etwas, im Sinne einer Haltung. Damit entzieht sich die Differenzierung den gängigen Zuschreibungen der Leistungsgesellschaft und widersetzt sich den darauf hin abonnierten Bildungs- und Erziehungsbemühungen. Im Gegensatz zu den traditionellen lernzielorientierten Bildungsmaßnahmen wird im Fokus der Differenzierung eine Praxis entworfen, die im gelebten Sein ein beständiges Werden ermöglicht: „Man wird nicht zum Meister, sondern ist es - lebt es als Einstellung. Heute tragen wir die Vorstellung in uns, ein Beruf „werden“ zu können,
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etwa indem wir viele Jahre in einer Black Box verbringen und dann „geworden“ hinauskommen. Aber noch niemand ist im Medizinstudium Arzt „geworden“. Wer angestrengt auf das Werden wartet, wird es nie sein. Tatsächlich gibt es nur einen Weg, etwas oder jemand zu sein, das oder der man noch nicht ist: es zu sein. Wer nicht sein kann, kann nie werden“ (Taghizadegan 2008, S. 11).
Das Bild des in sich ruhenden Menschen repräsentiert also keinesfalls einen ans Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten gekommen Erwachsenen, sondern einen dem die Leib-Seele-Einheit als Basiserfahrung gegeben ist, in welcher Lebendigsein einen beständigen Prozess der Interaktion, der Weiterentwicklung und der Differenzierung beschreibt. Dem Haben steht damit viel weniger das Sein gegenüber als vielmehr das Werden im Sein.
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Das erwachsene Selbst zwischen Individualität und Verbundenheit
Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne; sie scheiden sich scharf, die Welt und Das Ich, das Licht und das Feuer und werden doch niemals einander für immer fremd. Georg Lukács
Als Selbst bezeichnen wir das Individuum, wenn wir bereits seine je individuellen Aspekte mit berücksichtigen wollen. In das individuelle Individuum geht seine Biographie ein, sein Beziehungsgefüge, sein gegenwärtiger Kontext sowie seine Zukunftsentwürfe, seine ganze einmalige Einzigartigkeit. Das erwachsene Selbst unterliegt dabei in der Tat einer „eigentümlichen Spannung zwischen der Selbigkeit seiner Person und dem Wandel ihrer näheren Bestimmung.“ (Guardini 1953, S. 9)
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Die Konstruktion des Erwachsenen, auf die sich viele Alltagstheorien und viele der gegenwärtigen Entwürfe zur Erwachsenenbildung implizit beziehen, fokussiert eine Sichtweise, die davon ausgeht, dass man das Ende der Adoleszenz, den beginn des Erwachsensein, gerade daran erkennt, dass man nun weiß, wer man ist und wer man sein will. Die weiteren Entwicklungsaufgaben, wie der beruflichen Etablierung oder der Gründung einer Familie stellen dementsprechend allenfalls leichte und vorwiegend nur oberflächliche Modifikationen dieses stabilen, erwachsenen Selbst dar, keinesfalls jedoch tiefere, grundlegende Veränderungen, die ja auch sofort im Verdacht einer pathologischen Entwicklung stünden. Das Selbst, so die Normalauffassung, dient als Fundament für Entwicklungen und Entscheidungen, sollte aber seinerseits keine Turbulenzen mehr verursachen (vgl. Greve 2000). Entsprechend dieser Auffassung des Selbst, erscheint der Erwachsene dem Dilemma ausgesetzt, sein Selbst gegen Angriffe von außen verteidigen zu müssen und sich allenfalls pragmatisch anzupassen. Typisch für diese Auffassung ist es, dass Menschen sich selbst mit Merkmalen beschreiben die quasi unwandelbar und unabhängig von sozialen Kontexten angelegt sind: „Ich bin großzügig, ich bin vielseitig, ich bin ängstlich .... etc.“. Auch in alltagspsychologischen Äußerungen scheint es mithin so, dass Erwachsene ihr Selbst als beständiges, konsistentes und integriertes Ganzes erleben. Bettina Hannover (2002) führt allerdings aus, wie die Art der Selbstkonzeption auch vom jeweiligen Kulturkreis abhängt, dem eine Person angehört. Während nämlich in individualistischen Kulturen, wie der unseren, Personen ihr Selbst so definieren, dass es ein einzigartiges, von anderen unterschiedenes Individuum repräsentiert, ist bei kollektivistischen Kulturtypen, wie der japanischen, die Selbskonzeption an die eigene Verbundenheit mit anderen geknüpft. Während sich Personen des individualistischen Typs demgemäß mit internalen Attributen beschreiben, wie Personeigenschaften, Fähigkeiten und Einstellungen, die sie von anderen möglichst deutlich abgrenzen und die Unterschiedlichkeit betonen wie: „Ich bin unabhängig“, beschreiben sich kollektivistisch geprägte Personen, indem sie die Ähnlichkeiten betonen und ihr Selbst in einem sozialen Gefüge verorten, z.B.: „Ich bin jemand, der abends gern in den Sportclub geht“. In der Beschreibung des Selbst drückt sich also vor al-
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lem die in der Kultur vorherrschende Normvorstellung aus und weniger eine angemessene Abbildung der Realität. Demnach ist die Konstruktion des Selbst vor allem kontextabhängig. Das Selbst repräsentiert gerade keine statische Größe, sondern ist dynamisch und wird durch den sozialen Kontext bewegt. Hannover folgert daraus, dass sich das Selbst um so stärker verändert je vielfältiger und abwechslungsreicher die Kontexte sind, denen es ausgesetzt ist. Für den Erwachsenen bedeutet dies, dass er wahrscheinlich viel weniger sein Selbst gegen Veränderungen verteidigt, als bisher angenommen, sondern viel mehr die Veränderungen in sein Selbstkonzept so integriert, dass er auch unter den Wandlungen, die er vollzieht noch ein Selbiger bleiben kann. Damit rückt für ihn die Kohärenz als Leitgefühl in den Vordergrund was die Vermutung nahe legt, dass für ihn Selbst-Veränderungen vor allem dann möglich werden, wenn sie ihm dieses Kohärenzgefühl nicht versagen. Angesichts der weiter oben ausgeführten Darstellung über die historische - und ergo sozial-gesellschaftliche - Bedingtheit der individualistischen Konzeption eines isolierten und einzelnen Individuums verwundert die Bedeutung des Sozialen für die Herausbildung des Selbst ebenso wenig wie ihre alltagspsychologische Leugnung, die in der Annahme zum Ausdruck kommt, dass die Entwicklung mit Abschluss der Adoleszenz quasi vollständig zum Ende komme. Zwar hat sich in den vergangen Jahrzehnten schon deutlich eine Wissenschaftsauffassung etabliert, die den sozialen Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Familie für die Ausprägung des Selbst eine hohe Bedeutung beimisst, in aller Regel gilt die Ontogenese im wesentlichen jedoch immer noch mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter als abgeschlossen. Grundlegende Veränderungen erscheinen dann nur noch bei legitimationsbedürftigem Anlass und unter hohem therapeutischem Aufwand möglich. An dieser Sicht hat auch das Konzept des lebenslangen Lernens bisher kaum etwas verändert. Im Gegenteil ist die Leitidee des lifelong learning womöglich geradezu in dem Dilemma gefangen, die Lernfähigkeit des Erwachsenen nur soweit zu charakterisieren, wie sie dem technischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Ansprüchen genügt, ansonsten aber doch in den traditionellen Schranken zu belassen. Dementsprechend
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schwerfällig geraten die Begründungsversuche, die oftmals eine merkwürdige Verschränkung von Biologismus und gesellschaftspolitischem Erfordernis darstellen: „Die Selbstverständlichkeit Lebenslangen Lernens lässt sich zum einen aus der Tatsache erklären, dass Lernen eine biologisch und evolutionär bedingte Notwendigkeit darstellt. ... Evolutionstheoretisch betrachtet erfordert ein Überleben die Anpassung des Menschen an die Umwelt. ... Nun wird die Frage in den Mittelpunkt gerückt, welche Bedeutung dem Lebenslangen Lernen für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme zukommt.“ (Hof 2009, S. 16)
Was dem normativen Konzept des Lebenslangen Lernens nämlich fehlt, ist eine fundamentale Lerntheorie des Erwachsenen, die wahrscheinlich aber das normative Verständnis infolge der Autonomie des Erwachsenen zugleich unterwandern würde. Insofern formuliert. Nuissl (2004) zurecht, dass die Konzepte zum Lebenslangen Lernen vor allem Anforderungen formulieren, die sich nicht aus den Subjekten ergeben, sondern vor allem aus gesellschaftlichen Interessen, Wettbewerbsbedarfen und politischem Kalkül. Nuissls Forderung, dass der Gedanke zum lebenslangen Lernen vom Subjekt auszugehen hat, von seiner Biographie, seinen Interessen, „seinen biographischen Wegen und Wirren“ (Nuissl 2004), steht das politische Diktum gegenüber, Bildung als Antwort auf den beschleunigten Wandel der Lebensverhältnisse und als Instrument zur wirtschaftlichen Positionierung Europas zu verstehen (vgl. Hof 2009). Wie nun aber ist denn unter dem modernen Subjektverständnis die Brücke zu schlagen zwischen Individuum und Gesellschaft? Sehr vielversprechend erscheint mir diesbezüglich der dialektische Ansatz von Sidney J. Blatt (vgl. Blatt & Blass, 1996, Guisinger & Blatt 1994). Demnach wird die Entwicklung des Selbst durch das dialektische Verhältnis von Individualität und Verbundenheit motiviert (Individuality and Relatedeness) wobei die dialektische Verschränkung eine positive Wechselwirkung bedingt: Rather, individuality (or sense of self) and the sense of relatedness to others develop in a transactional, interrelated, and dialectical manner, with higher levels of self-development making possible higher levels of
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interpersonal relatedness and vice versa.“ (Guisinger & Blatt 1994, S. 105)
Neu an diesem Ansatz ist nun die Sichtweise, dass erst das in der späten Adoleszenz konstituierte Individuum auch befähigt ist zu tiefgründigen Erfahrungen der Verbundenheit, Nähe und Intimität. Damit steht diese Position im Gegensatz zu üblichen Beschreibungen der Selbstentwicklung, bei denen die vorrangige Betonung der Individualität und des Getrenntseins deren dialektisches Gegenstück die Bindung weitgehend vernachlässigt. Getrenntheit im eigentlichen Sinn impliziert jedoch auch die Fähigkeit, Unterschied und Ähnlichkeit anzuerkennen. Fonagy et al. betonen sogar, dass paradoxerweise das Kennzeichen von Autonomie eher die Ähnlichkeit als die Unterschiedlichkeit sei: „Die Herausforderung an die Identität in der Adoleszenz besteht in der Akzeptanz der Ähnlichkeit, nicht in der Anerkennung der Unterschiede. Der Jugendliche, der sich seines Gefühls für Verbundenheit und Ähnlichkeit mit der Betreuungsperson sicher ist, kann die psychische Getrenntheit tolerieren; der Adoleszente hingegen, der Teile seines Selbst projieziert hat und die Bezugsperson als ,ganz und gar anders‘ wahrnehmen muss, hat das Gefühl seine Identität zu verlieren, sobald er von ihr getrennt ist.“ (Fonagy et al. 2002, S. 324)
Die Pubertät ist demnach nicht nur jener krisenhafte Moment, in dem das Individuum sich konstituiert, sondern derjenige in welchem es sich als ein Getrenntes und zugleich als ein Beziehungsfähiges erlebt. Diese Form der Reife wird nun aber nicht als Endpunkt der Selbstentwicklung gesehen sondern als ihr Anfangspunkt. Mit der Pubertät endet nicht die Kindheit, sondern beginnt das Erwachsensein als ein neuer herausfordernder Entwicklungsabschnitt: „ ... the result is a dialectical system in which achievements in one sphere make possible further developments in the other. It is apparent, for example, that an increasingly differentiated, integrated, and mature sense of self is contingent on establishing satisfying interpersonal relationships; conversely, the development of mature relationships is contingent on the development of mature self-identity. These two develop-
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8 Vom Sein zum Werden mental processes evolve in an interactive, reciprocally balanced, mutually facilitating fashion from birth through senescence.“ (Guisinger & Blatt 1994, S. 108)
Das erwachsene Selbst ist also in hohem Maße entwicklungsfähig und mehr noch, der Erwachsenenstatus, der weitgehend als statisch und nur noch mühselig motivierbar erscheint, kennzeichnet gerade jenen Lebensabschnitt, in welchem bedeutende Prozesse in der Persönlichkeitsentwicklung überhaupt erst möglich sind. Die Folgen eines solchen Verständnisses vom Erwachsenenstatus könnten für die Erwachsenenbildung ganz erheblich sein, rücken sie doch alles Bedauern über problematisches Weiterbildungsverhalten in ein neues Licht. Vielleicht sind Maßnahmen eben nur deshalb demotivierend, weil sie bloß auf Anpassungsverhalten abzielen und mangels der Ansprache einer echten Selbstentwicklung wenig Anreiz dazu bieten, die Mühen des Lernens in Kauf zu nehmen. Überdies bedürften sämtliche Ansätze, die auf einem weitgehend stufenförmigen Entwicklungsschema beruhen, wie z.B. die Moralentwicklung von Kohlberg (1997), oder die psychosoziale Entwicklung nach Erikson (1973) zumindest einer Reformulierung.
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Erwachsenenbildung im Fokus der Differenzierung Nicht fertig werden Die Herzschläge nicht zählen Delphine tanzen lassen Länder aufstöbern Aus Worten Welten rufen horchen was Bach zu sagen hat Tolstoi bewundern sich freuen trauernd höher leben tiefer leben noch und noch nicht fertig werden Rose Ausländer
Mit der Trennung von juvenilem und adultem Lebensabschnitt, wird der Erwachsene (wie auch das Kind) zwar konstituiert, aber sie erfahren auch eine folgenreiche Trennung voneinander, bis hin zu einer psychischen Abspaltung, mit der Konsequenz, dass dem Erwachsenen sein KindErleben immer fremder wird. Da auch die Konstitutionsgeschichte dem pädagogischen Gedächtnis offenbar nicht mehr präsent ist, wirkt die Pädagogik an der weiteren Verselbständigung dieser Entwicklungsgeschichte mit. Eine auf reflexivem Verständnis gründende Pädagogik muss die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes deshalb zurück holen in die Theoretisierung desselben. Reflexivität bedeutet nicht, das Rad der Geschichte zurück zu drehen, aber aus dem Bewusstsein der Historizität, die eigenen Funktionsweisen und das eigene Verstricktsein in Machtsysteme und Herrschaftspraxen kritisch zu reflektieren. Erst mit der Bewusstmachung jener Mechanismen, die zur Entstehung von Kindheit und Erwachsenenstatus beigetragen haben, kann eine nicht naive Annahme der histo-
G. Wolf, Zur Konstruktion des Erwachsenen, DOI 10.1007/978-3-531-92903-3 _9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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risch bedingten Konstruktionen stattfinden auf deren Folie dann ein wissenschaftlicher Gestaltungsentwurf dieser nun vorfindbaren Realitäten in emanzipatorischer Absicht zu leisten ist. Dies verlangt der Erziehungswissenschaft einen reflexiven im Gegensatz zum nur reflektierten Impetus ab. Arno Gruen kritisiert an den Sozialwissenschaften, dass sie trotz scheinbarer Sorge um das Erleben, den Prozess der Abstraktion als Mittel der Entfremdung immer mehr institutionalisieren. Das Primat der Methodologie habe dazu geführt, die Methode mit der Wissenschaft selber zu verwechseln: „Diese Begrenzung durch eine so verstandene Methodologie übernimmt unkritisch die Parameter der Definition, die stipuliert, was als wissenschaftlich zu gelten hat.“ (Gruen 2010, S. 53)
Dadurch wird schon dasjenige menschliche Erleben, welches sich nicht in eine gewisse Methodologie einordnen lässt verneint und als nicht vorhanden gesetzt. Hinzu kommt, dass ein Wissenschaftsverständnis, welches nicht in reflexiver Manier, sich des eigenen Verstricktseins gewahr wird, immer in der Gefahr steht, diejenigen Probleme mit zu generieren, die es zu lösen trachtet. So ist die Hinwendung zu den Themen Körper und Emotionalität, wie sie in der letzten Zeit in der Erwachsenenpädagogik stattgefunden hat, zwar prinzipiell zu begrüßen, wird aber langfristig nur dann einen wirklichen Erkenntnisgewinn zeigen, wenn damit nicht vorderhand nur eine weitere Abstraktion einhergeht. Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört das reflexive Verhältnis zu sich selbst und den gesellschaftlichen Bedingungen sowie das Vermögen, die gewonnenen Erkenntnisse zum Gegenstand der Selbsterfahrung zu machen. Die Abstraktion schafft nämlich das Paradox, dass die abstrakten Begriffe, diejenigen spontanen Lebensäußerungen reduzieren, die sie zu beschreiben versuchen und damit, wenn auch vielleicht unfreiwillig, an der Reduzierung des Selbst beteiligt sind. „Der Sinn des Lebens, wie er von den Sozialwissenschaften impliziert wird, steht nicht nur in Gefahr, mit menschlichem Erleben und Erfahrung in keiner Übereinstimmung zu sein, sondern er erschwert es, uns selber zu erkennen, weil in den Sozialwissenschaften das gesellschaft-
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lich annehmbare Bewusstsein dominiert. Die Diskrepanz zwischen dem, was offiziell als Erleben annehmbar ist und dem, was wirklich erfahren wird, blockiert den Zugang zu unseren Gefühlen.“ (Gruen 2010, S. 55)
Es ist eine nicht gering zu achtende Herausforderung für Sozial- und Geisteswissenschaftler, dass sie sich diesem Spagat zwischen Erkenntnis und Anwendung der Erkenntnis auf sich selbst immer ausgesetzt sind und immer in Gefahr stehen, die Balance mal zur Seite der Abstraktion und Mal zur Seite der Subjektivität zu verlieren. Aber ohne ein Einlassen auf diese Gefahr sind wirklich neue Erkenntnisse zukünftig wohl kaum zu erwarten. Zwar kann ein Mediziner weiter rauchen, obwohl er von dessen Schädlichkeit überzeugt ist, so wie auch ein Ingenieur darauf verzichten kann, das Auto zu fahren, welches er selbst entworfen hat, diese Freiheiten hat der Sozial- und Geisteswissenschaftler eben nicht. Ohne Verlust, nicht nur der Glaubwürdigkeit, sondern der weiteren Erkenntnisfähigkeit, kann er nicht darauf verzichten, die gewonnenen Erkenntnisse an seinem eigenen Sein und Handeln wirksam werden zu lassen. Für den Erwachsenenbildner gilt es also, den wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang zurück zu holen in das Spannungsfeld eigenen Erlebens, ohne dabei betulich zu werden. Eine reflexive Sichtweise, die in der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichtlichkeit auch die eigenen Verstrickungen erkennt, würde es der Erwachsenenbildung auch ermöglichen, sich von der Schulbildung zu distanzieren und eigene Bildungswege zu begründen. Erwachsenenbildung wäre dann endlich nicht mehr bloß „die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase“ wie dies 1970 vom Deutschen Bildungsrat definiert wurde, sondern ein qualitativ unterschiedener Gegenentwurf zur schulischen Erziehung, der seine eigenen Geltungsansprüche formuliert. Erwachsenenpädagogik entfaltet ihre Wirksamkeit gerade dort, wo sie Menschen bei ihrer Differenzierungsarbeit unterstützt. Nur hier wird sie ihrem Anspruch eine emanzipatorische Leistung zu erbringen, wirklich gerecht. Zwar ist der Erwachsene grundsätzlich auch zu Anpassungsleistungen fähig und diese müssen im Alltag oft genug notwendigerweise vollzogen werden, Bildungshandeln ist aber im Hinblick auf Erwachsene
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nicht auf Anpassung sondern zunächst auf Weiterentwicklung und demnach auf Differenzierung ausgerichtet. Bei aller Sympathie für teilnehmerorientierte Ansätze wie z.B. die Befreiungspädagogik Paolo Freires, scheint mir eine Verkürzung darin zu liegen, sämtliche Bildungsmaßnahmen des Erwachsenen an dem Wunsch auszurichten, sie als emanzipatorischen Akt zu entwerfen. Gewiss ist es richtig, Menschen in Bildungssituationen immer als Subjekte des Erkenntnisprozesses zu denken, dabei unterscheidet sich aber das Anpassungslernen prinzipiell von der Differenzierung. Sämtlichen Lernvorgängen eine emanzipatorische Horizonterweiterung zu unterstellen, ist nicht nur ein Zeichen von wissenschaftlicher Naivität sondern verhindert geradezu die Weiterentwicklung der Pädagogik in einem reflexiv-kritischen Diskurs. Ich plädiere deshalb, v.a. auf der Theorieebene, für eine strikte Unterscheidung zwischen Erziehung, Bildung und Training. In meinem Verständnis ist Bildung gerade mehr als „Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zuneigung“ wie Adorno formuliert hat, denn in dem sie auf Differenzierungsleistungen abzielt ist sie ein subjektives Abonnement auf die Zukunft, aus der Kultur entspringt - nicht umgekehrt. Dem bürgerlichen Denken verhaftet ist die Vorstellung, dass sich der Gebildete Kultur an eignet, in emanzipatorischer Absicht entwerfen die Subjekte qua Differenzierung die Möglichkeiten des Kulturellen. Sinnvollerweise ist dieses Verhältnis aber als ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu denken, in dem sich auch widerspiegelt, dass der Leib zugleich „als individuelles und kollektives Gedächtnis“ (Meyer-Drawe 2004) fungiert. Der Blick auf die Leiblichkeit des Pädagogischen wäre geeignet, um die Geschichte der Erwachsenenbildung nicht nur als Institutionsgeschichte zu begreifen sondern als wirksamer Teil der Anthropogenese. Eine derart reflexive Bearbeitung fehlt derzeit in der Andragogik, die einem ähnlich reduktionistischen Paradigma untersteht, wie es auch in Weiten Teilen der Kindheits-, Jugend- und Schulpädagogik zu finden ist. Gerade in der Reformpädagogik besteht weitgehend ein Konsens in der reduktionistischen Ableitung pädagogischer Interventionen aus vermeintlichen Naturprozessen. Demnach verhilft die ,gute‘ Pädagogik nur dem quasi natürlichem Kulturtrieb des Menschen zu seiner Verwirklichung.
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Selbst bei Dewey findet sich eine solche Sichtweise, ohne dass ihre reduktionistische Herkunft reflektiert würde: „Wenn wir uns in die wirklichen Triebe und Bedürfnisse der Kindheit hineinversetzen ... und nichts weiter als ihre volle Bejahung und ihr Wachstum fordern ..., dann werden sich die Disziplin und die Kultur des Erwachsenenlebens alle zur rechten Zeit einstellen.“ (Dewey, zit. n. Gimpel 1980, S. 76)
Pädagogik wird offenbar so verstanden, als verhelfe sie der Natur nur zu ihrem Recht, so als sei Kultur ein Naturprodukt. Dabei wird ausgeblendet, dass Pädagogik vielmehr ein Instrument ist innerhalb einer Kultur, die sich v.a. als Ausdruck von Machtverhältnissen gestaltet. Diese Sichtweise zeigt sich auch in weiten Teilen der lebenslaufbezogenen Bildung, die darauf gründet in vermeintlich fortschrittlicher Manier, immer mehr Segmente im Lebenslauf zu erschließen, die einer speziellen pädagogischen Handlung bedürfen. Gewiss findet das Bildungshandeln bei einem Kindergartenkind gegenüber einer Seniorin unter jeweils anderen Bedingungen statt. Aber professionelle Handeln, dass sich aus der Reflexion speist, kann nur dann beansprucht werden, wenn die Theorieleistungen ebenso reflexiv gewonnen werden. Die Segmentierung des Lebenslaufs ist nur zu begreifen, wenn sie nicht als naturgegeben und nun entdeckt erscheint, sondern wenn ihre kulturelle Entstehungsgeschichte in die theoretische Bearbeitung Eingang finden. Der Lebenszyklus ist dann viel weniger eine quasi naturgegebene Abfolge von Entwicklungsschritten im Lebensverlauf als vielmehr eine kulturelle Konstruktion, die u.a. durch rechtliche Normen verwirklicht wird. Ruppert (2010) spricht sogar von der Neuschöpfung ganzer Lebensphasen im Recht. Wie schon in Kap. 2.2.2 aufgezeigt wurde ist das Rechtswesen eine derjenigen Institutionen, die ganz entscheidend an dem dreiteiligen Lebenslaufmodell (Jugend, Erwerbsphase und Rente) beteiligt war und auch an der weiteren Segmentierung wesentlich beteiligt ist. „Auch die einzelnen Lebensphasen, wie die Jugend und das eigentliche Alter, sind keine anthropologischen Konstanten. Sie können ... je nach Sichtweise ,erfunden‘, ,entdeckt‘ oder rechtlich definiert werden.“ (Ruppert 2010, S. XIV)
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Zur Reflexivität wird Pädagogik aber nur dann wirklich fähig sein, wenn sie sich ihrer normativen Bedingtheit stärker und konsequenter als bisher bewusst wird. Bisher dient die reduktionistische Segmentierung der Lebensalter ja auch der Unterteilung der Disziplin in verschiedene Sparten von der frühkindlichen Pädagogik, der Schul- und Erwachsenenbildung, bis hin zur Andragogik, d.h. die Segmentierung zeigt hier ihre Macht strukturierende Funktion. Von einem intradisziplinären Diskurs der unterschiedlichen Teilgebiete würde zwar zunächst eine Verunsicherung ausgehen, langfristig aber ein Erstarken der Disziplin zu erwarten sein, das sie braucht, um den immer größer werdenden bildungspolitischen Zumutungen und Vereinnahmungen wissenschaftlich begegnen zu können. Das Fatale ist, dass sich Pädagogik um so mehr als Herrschaftsinstrument eignet, desto weniger sie sich ihrer reduktionistischen Schwächen bewusst ist. In dem sie als ,entdeckt‘ annimmt, was normativ definiert wurde, verspielt sie ihre Möglichkeiten, sich am eigenen Paradoxon, zugleich Herrschafts- und Befreiungsinstrument zu sein, zu entwickeln. Alle Bildungsprozesse mit Erwachsenen stehen insbesondere unter dem Eindruck dieses Paradoxon. Der moderne Mensch muss, um den Anforderungen der modernen Gesellschaft zu genügen, ein Individuum zu sein, eine Person die auch in unterschiedlichen Kontexten, mit unterschiedlichen, teilweise sogar sich widersprechenden Handlungsentwürfen reagieren kann und doch zugleich mit sich selbst identisch bleibt. Aus diesem Grund muss das erwachsene Individuum beides können: Im Modus der Anpassung lernen und im Modus der Differenzierung. Erwachsenenbildung definiert sich vor dem sich daraus ergebenden Anforderungskatalog. So liefert Andragogik im Trainingsbereich eine Anpassungsleistung, die sich nur methodisch von den Lernprozessen des Kindes unterscheidet, ist jedoch in ihrer Bildungsabsicht auf Differenzierung ausgerichtet. Hier aber, als Bildung, unterscheidet sie sich strukturlogisch vom juvenilen Lernen. Im Modus der Differenzierung ist sie Erwachsenenbildung par excellence.
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