Jorge Galindo Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz
Forschung Gesellschaft
Jorge Galindo
Zwischen Notwend igkeit u...
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Jorge Galindo Zwischen Notwendigkeit und Kontingenz
Forschung Gesellschaft
Jorge Galindo
Zwischen Notwend igkeit und Kontingenz Theoretische Selbstbeobachtung der Soziologie
VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet (Jber abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universit~t MQnchen, 2005. Gedruckt mit freundlicher UnterstQtzung des DAAD.
1. Auflage Juni 2006 Alle Rechte vorbehalten 9 VS Verlag fer Sozialwissenschaften I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika M01hausen / Tanja KShler Der VS Verlag f(3r Sozialwissenschaften ist ein Unternehmenvon Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlie61ich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschetzt. Jede Verwertung au6erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzul~ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fLir Vervielf~ltigungen, 0bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w~ren und daher von jedermann benutzt werden d(~rften. Umschlaggestaltung: K0nkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Sche61itz Gedruckt auf s~urefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14917-2 ISBN-13 978-3-531-14917-2
Danksagung Mein Aufenthalt in Mianchen w~e ohne die Untersttitzung eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nicht m6glich gewesen, deshalb m6chte ich mich beim DAAD fiir diese Chance bedanken. Von Anfang an hat Armin Nassehi an mein Projekt geglaubt und meine Arbeit durch Kommentare und Kritik untersttitzt. Dafiir und auch ffir die Gelegenheit, an seinem Lehrstuhl arbeiten zu k6nnen, m6chte ich mich bei ihm ganz herzlich bedanken. Irmhild Saake hat immer Interesse an meiner Forschung gezeigt und mir geholfen, endlich zu kapieren, dass ich zur Mannschaft geh6re. Ganz herzlich will ich mich auch bei Susanne BriJggen, Hubertus Niedermeier, Eveline Reisenauer und Andreas Wenninger bedanken. Ohne eure Freundschaft, Kommentare und Korrekturen w~ire alles viel schwieriger gewesen. Es lebe die soziologische Leidenschaft! Bei Elke Wagner bedanke ich mich fiar ihre Hilfe und Anregungen. Bei Cristina Arag6n will ich mich vielmals fur ihre Freundschaft und Hilfe bedanken (was h~itte ich ohne dich in Europa getan!). Auf der anderen Seite des Atlantiks gibt es auch Leute, bei denen ich mich ganz kurz bedanken m6chte. Stundenlange Gespr~iche mit Kollegen und Freunden haben mir geholfen, viele der Ideen dieser Untersuchungen zu entwickeln. Ganz besonders danke ich Adriana Garcfa, Olga Sabido und H6ctor Vera. In Deutschland ist es vielleicht altmodisch, aber in Mexiko gliicklicherweise immer noch ganz normal, sich bei der Familie zu bedanken, deshalb danke ich meinen Eltern Jorge Galindo und Rosa Monteagudo und meinen drei Schwestern Scarlet, Geraldine und Michelle f'tir ihre Unterstiitzung. Worte reichen nicht aus, um zu sagen, wie viel diese Arbeit Karen Manning schuldet. Auch dafiJr bedanke ich mich bei ihr yon ganzem Herzen.
Inhalt
E i n l e i t u n g ......................................................................................................... 11 A
Die Soziologie der Soziologie ................................................................
17
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Wissenssoziologische Grundlagen .......................................................... Die Klassiker ........................................................................................... Institutionalisierung der Wissenssoziologie ........................................... Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ............................. Kommunikative Wende der Wissenssoziologie ......................................
17 17 20 22 24
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ....................................... Strukturelle Bedingungen der Wissenschaft ........................................... Programmierung der Wissenschaft .......................................................... Die Operativit~it der Soziologie ............................................................... Kampf um Positionierung: Aufl6sung und Rekombination ....................
30 30 34 38 39
B
Gesellschaftliche S t r u k t u r i e r u n g ......................................................... 43
3. 3.1
Klassische Perspektiven zum Problem der Struktur ................................. 43 Das Proletariat als Subjekt der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels ........................................................................................ 43 Zwischen Form und Inhalt: Die Soziologie von Georg Simmel ............... 44 Emile Durkheim und die Soziologisierung von Immanuel Kant .............. 45 Das Handlungssystem von Talcott Parsons .............................................. 50 Der Strukturalismus von Claude L6vi-Strauss .......................................... 60
3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Die Revolten gegen die Struktur ............................................................... Kontext der Revolten ................................................................................. Die Darstellung des Selbst: Erving Goffman ............................................ Die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel ......................................... Und noch einmal: Goffman ...................................................................... Systemtheoretische Kritik des Strukturfunktionalismus: Niklas Luhmann ........................................................................................ Strategien statt Regeln" Die Strukturalismuskritik von Pierre Bourdieu .........................................................................................
67 67 70 73 78 80 83
5. 5.1 5.2 5.3 5.4
Kontingenz, Rekursivit~it, Strukturierung ................................................. 88 Edgar Morin und die Prinzipien des komplexeren Denkens ..................... 88 Die Struktur autopoietischer Systeme: Niklas Luhmann .......................... 91 Von der Struktur zur Strukturierung: Anthony Giddens .......................... 91 Kontingenz als Fundament des Sozialen: Systemtheorie und Strukturierungstheorie im Vergleich ........................ 107
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
Kontingenzeinschr~inkung I: Der praktische Sinn .................................. Der Begriff der Kontingenzeinschr~inkung ............................................. Kommunikation oder Handlung ............................................................. Die praktischen Grundlagen der Kommunikation .................................. K/Srperlichkeit und indirekte Kommunikation ........................................ Notwendigkeit in der Kontingenz: Der Habitusbegriff ........................... Die Hysterese des Habitus ...................................................................... Drei Theorien und die Bedeutung des Raumes .......................................
C
Sachliche und soziale Differenzierung ................................................ 141
7. Das Problem der Differenzierung ........................................................... 7.1 Soziale Differenzierung ........................................................................... 7.1.1 Die Vorl~iufer: Jean-Jacques Rousseau und Claude Henri Saint-Simon .............................................................. 7.1.2 Klassenkampf als Motor der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels .............................................................................. 7.1.3 Eine multidimensionale Stratifizierungstheorie: Max Weber ...................................................................................... 7.2 Sachliche Differenzierung ....................................................................... 7.2.1 Die Vorlaufer: Adam Smith und Herbert Spencer .......................... 7.2.2 Arbeitsteilung als Differenzierung des Konfliktes: Emile Durkheim .............................................................................. 7.2.3 Das AGIL-Schema von Talcott Parsons ......................................... 8. Kontingenzeinschr~inkung II: Systeme, Felder, Programmierung .......... 8.1 Differenzierung nach Funktionen ........................................................... 8.1.1 Die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann ............................... 8.1.2 Die Funktionssysteme ..................................................................... 8.2 Differenzierung nach Positionen im sozialen Raum ............................... 8.2.1 Inklusion / Exklusion: Die systemtheoretischen Analysen ............. 8.2.2 Die Starrheit der sozialen Klassen: Die Klassentheorie von Pierre Bourdieu ........................................................................
112 112 114 120 126 129 135 136
141 142 142 145 147 150 150 152 156 162 162 162 167 175 175 179
8.2.3 Verteilungskonflikte tiberall" Die Feldtheorie ................................ 184 8.3 Zu einer Theorie der Programmierung .................................................... 191 8.3.1 Immer noch Dichotomien ............................................................... 191 8.3.2 Felder als Programmierungsr~iume ................................................. 193 8.3.3 Die N~ihe und die Ferne: Die Schwerkraft der Felder ..................... 196 8.3.4 Durchsetzungsmechanismen" Kommunikationsmedien und Kapitalformen ................................................................................. 198
D
Schlussbetrachtungen: Die kritische Leistung der Soziologie ......... 201
Literaturverzeichnis ........................................................................................ 203
Einleitung Die Illusion der Einheitlichkeit Nachdem man jahrelange Arbeit einer Forschung gewidmet hat, muss man am Ende zum Anfang zurtickkommen, um eine Einleitung zu schreiben. Gerade ftir diese Forschung finde ich jedoch eine solche Aufgabe unheimlich schwer. Wie kann ich eine Arbeit, die eigentlich sehr unterschiedliche Ziele verfolgt, deren Ergebnisse auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu finden sind, und die unterschiedliche intellektuelle Orte und Ausbildungsphasen verbindet, als eine koh~irente Angelegenheit pr~isentieren? Eine Arbeit, die nur wegen einer Verwaltungsfrist zu einem Ende kommen muss, obwohl sie tats~ichlich noch durch ihre Unvollst~indigkeit charakterisiert ist. Eine Arbeit also, die, wie Norbert Elias sagen wiirde, kein Zustand, sondem eher ein Prozess ist. Aus all diesen Grtinden w~ire es mir teilweise lieber gewesen, keine Einleitung schreiben zu miissen. Diese Einleitung wird allerdings vom wissenschaftlichen Protokoll gefordert. Aul3erdem w~ire es sehr unh6flich gegeniiber meinen Leserinnen und Lesern gewesen, wenn ich keine Einleitung geschrieben h~itte. Deshalb werde ich mich bemiihen, diese Arbeit zu pr~isentieren, als ob sie von Anfang an eine einheitliche und koh/irente Angelegenheit gewesen w~e. An den Anfang einer solchen Presentation m6chte ich die Entstehungsgeschichte dieses Projektes stellen. Geschichte und Aussichten einer soziologischen Intuition Wie alle Forschungen ist diese das Ergebnis sozusagen vieler ,,wissenschaftlicher Unf'~ille". Vor vielen Jahren wurde sie in Mexiko als eine Intuition geboren. Nachdem ich mein Studium in Soziologie beendet habe und mit meiner Magisterarbeit angefangen habe, wurde mir klar, dass viele der gegenw~.rtigen soziologischen Theorien, die mir als absolut gegens/itzliche und unvertr~igliche Perspektiven unterrichtet worden waren, in der Tat nicht so inkommensurabel sind. Seitdem habe ich mich fiir die Integration diverser theoretischer Ans~itze interessiert. Aus diesem Interesse sind zwei Ziele entstanden. Erstens wollte ich die ,,grundlegenden Strukturen" des gegenw~irtigen soziologischen Wissens erforschen, und zweitens wollte ich eine neue Theorie (damals habe ich noch von einer ,,vereinheitlichten Theorie der Soziologie" gesprochen) entwickeln. Eine Theorie, die in der Lage ware, die eigentliche Komplexit~it der sozialen Welt ,,besser" zu erforschen. Es ist klar, dass beide Ziele fiir einen gerade diplomierten Soziologen sehr anspruchsvoll sind. Aber wenn man jung ist, sieht alles immer einfacher aus. Deshalb habe ich meine Magisterarbeit diesen Zielen ge11
widmet. I Aus diesem ersten Versuch habe ich vor allem gelernt, wie schwer es eigentlich ist, eine Theorie zu entwickeln. Mit dieser aus der Erfahrung gewonnenen Bescheidenheit bin ich nach meiner Magisterarbeit nach Deutschland gekommen, um meine Dissertation zu schreiben. Inzwischen haben sich die Ziele gewissermal3en transformiert. Auf die Idee einer ,,vereinheitlichten Theorie der Soziologie" habe ich aus mehreren Griinden verzichtet. Es interessierte mich nicht mehr, viele Theorien zu vergleichen, um die ,,grundlegenden Strukturen" des gegenw~irtigen soziologischen Wissens zu erforschen, sondern Theorien in Bezug auf zwei klassische soziologische Bezugsprobleme, n~imlich das Problem der Struktur und das Problem der Differenzierung zu vergleichen, um die Plausibilitat und Erg~inzbarkeit der LEsungen, die drei der wichtigsten gegenw~irtigen Theorien auf diese Probleme gegeben haben, zu zeigen. Die drei Theorien, die dieser Untersuchungen sowohl als Gegenstand als auch als Werkzeuge gelten, sind der genetische Strukturalismus von Pierre Bourdieu, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und die systemtheoretisch basierte Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Ergebnis dieser Analyse und Erg~inzung ist der Entwurf einer relativ neuen Theorie, deren Weiterentwicklung mich nach meiner Riickkehr nach Mexiko besch~iftigen soll. Schwerpunkt dieser zuktinftigen Entwicklung soil die Oberpriifung und Pr~isierung der in diesem Entwurf gewonnenen Begrifflichkeit anhand der empirischen Forschung sein.
Der rote Faden: Die Verhfiltnisse zwischen Notwendigkeit und Kontingenz Wenn man an so einem vielschichtigen Projekt arbeitet, ist es sehr schwer, einen konzeptuellen roten Faden zu bewahren. Die Beobachtung der dynamischen Verh~iltnisse, die es in der sozialen Welt zwischen Notwendigkeit und Kontingenz gibt, hat mir allerdings ermEglicht, die oben erw~ihnten Bezugsprobleme miteinander zu verbinden. In der Analyse der Theorien wird gezeigt, wie es der Soziologie nach einer Zeit des Vorrangs starrer strukturalistischer Theorien gelungen ist, die Kontingenz als Fundament des Sozialen zu identifizieren. Die soziale Welt ist aber dadurch charakterisiert, dass sie diese grundlegende Kontingenz niemals (oder fast niemals) als Kontingenz erscheinen l~isst. Aus der Kontingenz macht sie Notwendigkeit. Es gibt soziologische Theorien, wie die Strukturierungstheorie von Giddens oder die Gesellschaftstheorie von Luhmann, die besonders geeignet sind, diese grundlegende Kontingenz zu beobachten. Meiner Meinung nach ist es aber problematisch, mit Hilfe dieser Theorien die andere Seite, n~imlich die der NotwenJorge Galindo, Investigaciones sociol6gicas. Hacia una teorfa unificada de la sociedad, Universidad Iberoamericana,MExico,2000. 12
digkeit des Sozialen wieder zu rekonstruieren. FUr die Analyse dieser auf der Kontingenz basierten Notwendigkeit ist der genetische Strukturalismus von Bourdieu viel besser geeignet. Obwohl die drei Theorien vom kontingenten Charakter des Sozialen ausgehen, kann man deutliche Unterschiede in der Betonung des M6glichen bzw. Unm6glichen in der sozialen Welt konstatieren. W~ihrend Giddens und Luhmann sich mehr fur die M6glichkeiten (Agency und doppelte Kontingenz) interessieren, besch~iftigt sich Bourdieu fast immer mit den Grenzen des M6glichen (Korrespondenz zwischen Habitus und Feld). Dies heiBt selbstverst~indlich nicht, dass weder Giddens noch Luhmann tiber keine Begriffe ftir die Erkl~il'ung der Kontingenzeinschr~inkung verftigen wtirden (Struktur, System, usw.). Beide haben sich sicher mit solchen Problemen auseinandergesetzt. Meiner Meinung nach lassen sich jedoch diese Mechanismen der Kontingenzeinschr~inkung besser mit Hilfe der Theorie von Bourdieu erkl~en. Da aber Bourdieu dazu neigt, deterministische Thesen zu formulieren, also Thesen, in denen es fast unm6glich ist, die Kontingenz des Sozialen wieder zu entdecken, denke ich, dass es wichtig ist, die Beitr~ige von Giddens und Luhmann beizubehalten. Deshalb spreche ich von einer dialogischen Integration im Sinne von Edgar Morin. In Bezug auf die Strukturproblematik integriere ich diese Theorien, indem ich den praktischen Sinn als ein Medium struktureller Kopplung zwischen der Kommunikation und ihrer menschlichen Umwelt begreife. Diese Entscheidung erm6glicht die Berticksichtigung in einer systemtheoretisch gepragten Kommunikationsanalyse von Begriffe (wie den des praktischen Bewusstseins) und Forschungsbereiche (wie die indirekte und k6rperliche Kommunikation), mit denen sich diese Art Analyse bis heute kaum auseinandergesetzt hat. In Bezug auf die Differenzierungsproblematik versuche ich zwei wichtige Ebenen der Differenzierungsanalyse zu integrieren, n~imlich die der sozialen Differenzierung als Bereich der sozialen Ungleichheit, und die der sachlichen Differenzierung als Bereich der gesellschaftlichen Funktionen. Es wird vorgeschlagen, den habitusbezogen Feldbegriff neben den Begriffen von Funktionssystem, Organisation und Interaktion als kommunikativen Zusammenhang zu konzipieren, um die gesellschaftliche Programmierung als Ergebnis einer Dynamik der Asymmetrisierung analysieren zu k6nnen. In beiden F~illen wird gezeigt, wie die Gesellschaft (immer verstanden als Horizont aller m6glichen Kommunikationen) aus einer im Prinzip kontingenten Ordnung eine Ordnung voller Tragheiten macht.
13
Rechtfertigung der Theorieauswahl Nach dem Fall des ,,orthodoxen Konsenses" und der daraus abgeleiteten ,,Paradigmenkrise" hat die Soziologie eine theoretische Renaissance erfahren. Zu dieser theoretischen Renaissance gehtiren zweifellos der genetische Strukturalismus von Pierre Bourdieu, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und die systemtheoretisch gepr~igte Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Obwohl es selbstverst~indlich andere wichtige Theoretiker gegeben hat, wie etwa Jiirgen Habermas und Ulrich Beck in Deutschland, Michel Foucault, Alain Touraine, Raymond Boudon in Frankreich oder James Coleman in den USA, kann man behaupten, dass keine anderen Autoren die theoretische Debatte der Weltsoziologie 2 in den letzten 25 Jahren so stark wie Bourdieu, Giddens und Luhmann beeinflusst haben. Selbstverst~indlich ist Habermas ein ,,lebendiger Klassiker". Allerdings finden seit langem seine Reflexionen mehr Resonanz auBerha!b der Soziologie als in der Soziologie selbst. Trotz seiner Bedeutung ist Foucault immer eine periphere Figur in der Soziologie geblieben. Als Vertreter des methodologischen Individualismus haben zweifellos Boudon und Coleman zur Soziologie viel beigetragen. Es ist ihnen aber nicht gelungen, eine herrschende Position weltweit zu erlangen. Im Gegensatz zu ihnen haben wir im Fall von Beck und Touraine mit Autoren zu tun, die fast iiberall bekannt sind. Mit seiner Theorie retiexiver Modernisierung hat Beck zweifellos wichtige Beitr~ige zur Gesellschaftstheorie geleistet. Durch seine Handlungsanalyse ist es Touraine wiederum gelungen, sich als einer der wichtigsten Soziologen in den Bereichen der Arbeitssoziologie und der Soziologie sozialer Bewegungen zu etablieren. Es ist aber nur den Theorien von Bourdieu, Giddens und Luhmann gelungen, sich als eigentliche Beitr~ige zur allgemeinen weltsoziologischen Theorie zu etablieren.
Zu einer kosmopolitischen Soziologie Gerade diese weltsoziologische Relevanz dieser Theorien ist fiir diese Untersuchungen von groBer Bedeutung, weil sie sich als eine kosmopolitische Angelegenheit verstehen. Hier werden Theorien aus unterschiedlichen Landern und wissenschaftlichen Traditionen von einem mexikanischen Soziologen analysiert, um einige ihrer ,,blinden Flecke" iiberwinden zu ktinnen. Dieser mexikanische Soziologe pr~isentiert allerdings seine Ergebnisse nicht im eigenen Land oder Kontinent, sondern zun~ichst in Deutschland.
2 Mit Weltsoziologiemeine ich nicht eine Soziologieder Globalisierung, sondern eine globalisierte Soziologie. 14
Eine nicht geschriebene Regel der Soziologie besagt, dass sich die Autoren aus der ,,soziologischen Peripherie" entweder mit Problemen dieser ,,Peripherie" oder mit der Interpretation und Verbreitung der ,,zentralen" Autoren besch~iftigen sollen. Diese habitusm~iBige Vorstellung kann ich anhand des folgenden Beispiels beweisen. W~ihrend es in Mexiko schwer war, Leute zu Uberzeugen, dass das Ziel meiner Reise nicht der eventuelle Import ,,frischer" europ~iischer Ideen war, sondern die Entwicklung einer eigenen Beobachtungsposition und die Etablierung eines wissenschaftlichen Dialogs, habe ich hier in Deutschland genauso viel Probleme gehabt, um meine Kollegen und Kolleginnen zu iJberzeugen, dass diese Theorie keine Theorie der ,,mexikanischen Gesellschaft" oder der ,,Peripherie der Moderne" ist, sondern ein Beitrag zur allgemeinen internationalen soziologischen Theorie. Der Aufbau der Arbeit
Diese Forschung besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird anhand der Wissenssoziologie eine Perspektive fiir die Beobachtung soziologischer Theorien als ,,Akteure im Feld der Soziologie" entwickelt. Nach einer kurzen Pr~isentation klassischer wissenssoziologischer Theorien schlage ich im ersten Kapitel anhand der Systemtheorie von Luhmann vor, die Kommunikation als angemessenen Forschungsgegenstand der Wissenssoziologie zu begreifen. Im zweiten Kapitel analysiere ich die Wissenschaft und die Soziologie als kommunikative Zusammenh~inge, die sich durch eine Dynamik der Aufltisung und Rekombination von Elementen charakterisieren lassen. Die Wissenschaft und die Soziologie werden sowohl als Subsysteme (im ersten Fall der Gesellschaft und im zweiten Fall der Wissenschaft) als auch als aus Theorien und Methoden bestehende Positionierungsfelder begriffen. Anhand der im ersten Teil gewonnenen Begrifflichkeit werde ich mich im zweiten und dritten Teil mit verschiedenen Theorien in Bezug auf zwei grundlegende Problematiken der soziologischen Theorie, n~imlich der Strukturproblematik und der Differenzierungsproblematik auseinandersetzen. Im dritten Kapitel pr~isentiere ich die klassischen ,,strukturalistischen" Ans~itze (Durkheim, Parsons, L6vi-Strauss). Das vierte Kapitel besch~iftigt sich mit den sogenannten ,,Revolten gegen die Struktur". Sowohl die Interaktionsanalyse von Goffman, die Ethnomethodologie von Garfinkel als auch frtihe Texte von Bourdieu und Luhmann werden in diesem Kapitel in Anspruch genommen, um die Kritik der strukturalistischen Ans~itze und die Riickkehr der Kontingenz zu exemplifizieren. Im f'tinften Kapitel pr~isentiere ich die Strukturbegriffe der Systemtheorie von Luhmann und der Strukturierungstheorie von Giddens als paradigmatische Beispiele von auf der Kontingenz und der Rekursivit~it basier15
ten Strukturbegriffen. Im sechsten Kapitel schlage ich vor, den Kommunikationsbegriff von Luhmann mit dem Praxisbegriff zu erg~inzen. In dieser Erg~inzung spielt der Habitusbegriff yon Bourdieu eine entscheidende Rolle. Im dritten Teil setze ich mich mit der Problematik der Differenzierung auseinander. Im siebten Kapitel werden noch einmal verschiedene Theorien als ,,Akteure im Feld der Soziologie" begriffen, um die Kluft, die zwischen der Beobachtung der sozialen und der sachlichen Differenzierung entstanden ist, beobachten zu k6nnen. Nach der Pr~isentation der Gesellschaftstheorie von Luhmann als paradigmatischem Beispiel der Analyse sachlicher Differenzierung und der Klassen- und Feldtheorien von Bourdieu als paradigmatischem Beispiel der Analyse sozialer Differenzierung f'tihre ich im achten Kapitel einen Integrationsversuch anhand des Programmierungsbegriffs beider Theorien dutch.
16
A
Die Soziologie der Soziologie WissenssoziologischeGrundlagen
1.1
Die Klassiker
So alt wie die Soziologie selbst ist die Behauptung, dass das Wissen ein soziales Ph~inomen ist. Sowohl im Werk von Comte als auch in dem von Marx ktJnnen bereits entscheidende Beitr~.ge zur Wissenssoziologie gefunden werden. In seiner Reflexion tiber die Gesellschaftsevolution (bekannt als die ,,DreiStadien-Gesetz") entwickelt Comte eine wissenssoziologische Perspektive, die auf die klassischen philosophisch-psychologischen Orientierungen verzichtete. 3 Das Drei-Stadien-Gesetz zeigt das Verh~iltnis, das zwischen Gesellschaftsstruktur und Wissenserwerb existiert. Ftir Comte war es also deutlich, dass es eine Wechselwirkung zwischen diesen zwei Faktoren gab, deren Ergebnis die soziale Evolution ist. Die drei Stadien beziehen sich auf drei evolution~e Momente des kognitiven Zugangs zur Welt, die nicht vom Individuum her verstanden werden ktJnnen. In diesem Sinne kann der evolution~e Fortschritt nur auf der Gesellschaftsebene vorkommen. In Bezug auf Pascal dachte Comte, dass die Generationskette, die im Laufe der Jahrhunderte existiert hat, als ein einziger Mensch, der tiberlebt und lernt, beobachtet werden sollte. Obwohl diese Generationsidee selbstverst~.ndlich die Menschen als Mtiglichkeitsbedingung der Evolution einschliel3t, verwechselte Comte nicht das konkrete Individuum mit der Gesellschaft: ,,Car il serait impossible de traiter l'6tude collective de l'esp~ce comme une pure d6duction de l'6tude de l'individu, puisque les conditions sociales, qui modifient l'action des lois physiologiques, sont pr6cis6ment alors la consid6ration la plus essentielle. Ainsi, la physique sociale doit ~tre fond6e sur un corps d'observations directes qui lui soit propre, tout en ayant 6gard, comme il convient, h son intime relation n6cessaire avec la physiologie proprement dite". 4 In ihrer Geschlossenheit muss die Soziologie, als einst~ndige Wissenschaft und nicht als Anhang der Biologie oder der Psychologie, das Wissen nur als soziales Ph~inomen beobachten. Bereits 1847 hatten Marx und Engels darauf hingewiesen, dass ,,nicht das Bewusstsein bestimmt (...) das Leben (bestimmt), sondern das Leben (...) das 3 Wie Norbert Elias behauptet: ,,Der 0bergang von einer philosophischen zu einer soziologischen Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, den Comte vollzog, zeigt sich also zun~ichsteinmal darin, dass er als ,Subjekt' der Erkenntnis nicht einen einzelnen Menschen, sondern die menschliche Gesellschaft ansetzte". Siehe: Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weihheim/Mtinchen,2000, S. 37. 4 Auguste Comte, Cours de philosophiepositive. Band 1 (6 B~inde, 1830-1842),Paris, 1877, S. 74. 17
Bewusstsein", 5 und dass das menschliche Leben nur in Form von gesellschaftlichen Produktionsverh~iltnisse begriffen werden ktinnte. Die Grundideen dieser Urwissenssoziologie lassen sich folgendermaBen erkl~en. Um tiberhaupt Geschichte machen zu ktinnen, mtissen die Menschen leben. Ihr Leben h~ingt von der Befriedigung bestimmter Grundbedtirfnisse ab (Essen, Trinken, Wohnung, Kleidung, usw.). Die erfolgreiche Befriedigung dieser Grundbedtirfnisse ftihrt zur Entstehung neuer Bedtirfnisse, die wiederum befriedigt werden mtissen. Nur wenn die Menschen diese Bedtirfnisse befriedigt haben, ktinnen sie anfangen, andere Menschen zu produzieren. Am Anfang kennen die Menschen nur Familienverh~iltnisse, aber dieser Zustand wird sich im Laufe der Zeit ~indem. Die sozialen Verhaltnisse vermehren sich und mit ihnen werden neue Bediirfnisse geschaffen. Die Produktion des Lebens bezieht sich also auf soziale Verh~iltnisse.
Das Bewusstsein, das sich am Anfang nur auf die unmittelbare Welt beziehen konnte, wurde zum Bewusstsein der Existenz dieser sozialen Verh~iltnisse. Dieses Bewusstsein der Gesellschaft ermtiglicht die Entstehung sozialer Arbeitsteilung als Produktivit~itsprinzip. Diese Arbeitsteilung stellt das eigentliche Problem der Wissenslehre von Marx dar. Da diese Arbeitsteilung jeden Unterschied zwischen materiellen und geistigen Arbeit schafft, taucht hier ein neues Ph~inomen auf: ,,Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen- von diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich vonder Welt zu emanzipieren und zur Bildung einer ,reinen' Theorie, Theologie, Philosophie, Moral, etc. tiberzugehen". 6 Hier befindet sich die eigentliche wissenssoziologische Leistung von Marx. Obwohl die Ideen sich den Menschen als transzendente Ph~inomene darstellen, beziehen sie sich immer auf die immanente Logik des Sozialen. Dies war die Geburtstunde der soziologischen Ideologiekritik. Die ganze Revolutionslehre entsteht von diesem Prinzip aus. Ftir Marx war es also klar, dass die menschlichen Ideen nur durch die Ver~inderung der gesellschaftlichen Umst~inde ge~indert werden k/Snnten. Genau wie Comte gentigte Marx den einzelnen Menschen als Zuschreibungseinheit des Wissens nicht. Beide Autoren haben also diese neue Zuschreibungseinheit auf dem gesellschaftlichen Niveau (als Generationsketten oder Produktionsverh~iltnisse) gefunden. 5 Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repr'~entanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845-1846), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin, 1990, S. 27. 6 A.a.O., S. 31.
18
Mit dem Werk von Emile Durkheim ging die Wissenssoziologie einen Schritt weiter. Als Realit~it sui generis schaffte die Gesellschaft ihre eigene Wissensart. Diese gesellschaftsspezifische Wissensart bezeichnete Durkheim mit dem Begtiff von ,,reprdsentation collectives".7 Die Inhalte solcher kollektiven Vorstellungen unterscheiden sich von den individuellen Vorstellungen, in dem sie das Ergebnis einer Kooperation, die tiber Zeit und Raum hinaus ausdehnt. In diesem Sinne sind diese Vorstellungen reicher und komplexer als diejenigen der Individuen. Die kollektiven Vorstellungen gelten also als M/Sglichkeitsbedingung for die Entstehung logischer Kategorien. In dem zusammen mit Marcel Mauss geschriebenen Text tiber die primitiven Klassifikationsformen 8 zeigt Durkheim, dass es in den ,,primitiven ''9 Gesellschaften einen Zusammenhang zwischen der konzeptuellen Klassifikation der Dinge und der sozialen Klassifikation der Menschen gibt. In der Analyse vieler totemistischer Gesellschaften konnten Durkheim und Mauss feststellen, dass sich die Menschen das ganze Universum als einen grol3en Stamm vorstellen. In diesen Gesellschaften geh6ren sowohl Menschen und Tiere als auch Dinge und Orte zum totemistischen Klassifikationssystem. In diesem System nehmen die logischen Verh~iltnisse die Form von Verwandtschaftsverh~iltnissen an. In seinem letzten Grol3werk Les formes dldmentaires de la vie religieuse 1~ behauptete Durkheim, dass all die Verstandskategorien religi6sen Ursprungs sind, und da die Religion ein sozialer Tatbestand ist, sind sie alle soziale Ph~inomene. Im Prinzip akzeptierte Durkheim die auf Kant bezogene Begrifflichkeit des a priori, aber dachte, dass dieses a priori nicht transzendentalen, sondern sozialen Ursprungs sei. Die Zeitkategorie beispielsweise ist dem Menschen nicht angeboren. Selbstverst~indlich kann ein Mensch zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden, aber was er als Vergangenheit bzw. Gegenwart bezeichnen kann, h~.ngt von einer sozial geteilten Zeitvorstellung, die wie all die anderen sozialen Tatbest~inde sich fiir ihre )i,ul3erlichkeit in Bezug auf den Einzelnen charakterisiert. Aus diesem Grund unterscheidet Durkheim zwischen dem individuellen Wissen, das biologisch begrenzt ist, und dem sozialen Wissen, das aus Sprache, Verstandskategorien und einer Wissenserbmasse besteht.
7 Emile Durkheim, "Repr6sentations individuelles et repr6sentations collectives" in ders.: Sociologie et philosophie, Paris (1898) 1996, S. 1-48. s Emile Durkheim / Marcel Mauss, ,,De quelques formes primitives de classification. Contribution l'6tude des repr6sentations collectives" (1903), in: Emile Durkheim, Journal sociologique, Paris, 1969, 395-461. 9 Ftir Durkheim bezieht sich dieser Begriff immer auf das Prinzip der Einfachheit. Io Emile Durkheim, Les formes 616mentaires de la vie religieuse (1912), Paris, 1998.
19
1.2
Institutionalisierung der Wissenssoziologie
Ftir viele Fachleute gilt Max Scheler als eigentlicher Griinder der Wissenssoziologie. ~t 1924 sprach er zum ersten Mal von einer Wissens-soziologie in seinem Aufsatz ,,Probleme einer Soziologie des Wissens". Zwei Jahre sp~iter vertiffentlichte er das Buch Die Wissensformen und die Gesellschaft. 12 In diesem Buch wird die Soziologie in zwei Bereiche aufgeteilt. Laut Scheler gibt es eine Kultursoziologie, welche die Religion, die Kunst, das Recht und das Wissen erforscht, und eine Realsoziologie, die Ph~.nomene wie die Politik, die Wirtschaft und die soziale Institutionen analysiert. Nur diese Trennung zwischen sozialem Bau und Uberbau ktinnte die Entstehung einer Wissenssoziologie als Folge haben. Es muss aber gesagt werden, dass sich diese Trennung nicht auf Marx bezieht, sondern auf Schelers eigene philosophische Perspektive (n~imlich die Ph~inomenologie von Husserl). In diesem Sinne war die Wissenssoziologie f'tir Scheler nur ein Teil eines umfassenden philosophischen Programms. Das Ziel, das Scheler mit seiner Wissenssoziologie erreichen wollte, mag widersprtichlich klingen. Eigentlich wollte er einen wesensorientierten Platonismus mit dem Relativismus verstihnen. Scheler dachte, dass die Ideen unver~derlich seien, und dass nur der menschliche Zugang zu diesen Ideen v o n d e r Geschichte abh~ingig sei, so etwa ktinnten Scheler zufolge, bestimmte Figurationen der Realfaktoren (Politik, Wirtschaft, usw.) ideale Faktoren hervorbringen bzw. deren Hervorbringung verhindem. Die Aufgabe der Wissenssoziologie bezieht sich auf die Erforschung der historischen Wissensselektion, um den Relativismus zu tiberwinden. Ftir Scheler war es klar, dass das Wissen sozial ist. Es gilt ihm als eine Art a priori f'tir jede individuelle Erfahrung. In diesem Sinne h~ingt die sinnhafte Einordnung menschlicher Erfahrung von dieser gesellschaftlichen Struktur ab. Da das Individuum vom historischen Relativismus kein Bewusstsein hat, sprach Scheler von einer ,,relativnatiirlichen Weltanschauung". Die Beitr~ige von Scheler haben das Werk der Leitfigur in der Geschichte der Wissenssoziologie, n~imlich Karl Mannheim gepr~igt. Schon ein Jahr nach der Vertiffentlichung des Aufsatzes tiber die ,,Probleme einer Wissenssoziologie" reagierte Mannheim mit einem Werk, das fast denselben Namen als Schelers Werke hat, n~imlich: ,,Das Problem einer Soziologie des Wissens". 13Dieser Aufo.
!~ Siehe Peter Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt, 2000, S. 3 ft. ~2Max Scheler, Die Wissensformenund die Gesellschaft (1926), in: ders., Gesammelte Werke Bd. 8, Bern / Mtinchen, 1960. 13Karl Mannheim, "Das Problem einer Soziologie des Wissens", in: Archiv f'tir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik53, 1925, S. 577-652. 20
satz war die Basis fiir die Entstehung des klassischen Buches Ideologie und Utopie, das 1929 in seiner ersten Fassung ver6ffentlicht wurde. ~4 Inspiriert von der Forschung im Bereich der Kunstgeschichte versuchte Mannheim schon in seiner Habilitationsschrift ~5 das Wissen als soziologischen Gegenstand zu begreifen. Da die soziologische Behandlung des Wissens nicht als eine Erz~ihlung von an Individuen gebundene Ideen dargestellt werden konnte, suchte Mannheim im Denkstilbegriff nach einer Antwort. So wie es kiinstlerische Stile gibt, die uns die Subsumtion eines bestimmten Werkes erlauben, ohne Informationen fiber den (individuellen) Sch6pfer des Werkes zu haben, dachte Mannheim, dass die Denkstile behilflich sein k6nnten, um die Entstehung, Aufrechterhaltung und das Verschwinden von Gedanken zu verstehen. Da die Ideenver~inderungen auf Anderungen in den Gruppenstrukturen beruht, sollte diese Analyse von einer soziologischen Perspektive geleitet werden. Mannheim entwickelte diese Ideen in Ideologie und Utopie weiter. Mit Hilfe der allgemeinen Fassung des totalen Ideologiebegriffes erreichte Mannheim die Trennung zwischen Ideologieanalyse und Wissenssoziologie. Im Gegensatz zum partikularen Ideologiebegriff, der sich nur auf bestimmte (falsche) Ideen und Vorstellungen des ideologischen Gegners bezieht, schliel3t die allgemeine Fassung des totalen Ideologiebegriffes nicht nur die gegnerische, sondern auch die eigene Position ein. Die Wissenssoziologie versteht also, dass nicht nur die (sozialen) Gegenst~.nde, die sie erforscht, sondern auch sie selbst ideologisch gepr~igt ist. Aus diesem Grund muss man akzeptieren, dasses keine privilegierte Beobachtungsposition gibt. All die Ideologien sind immer unvollkommen, partiell und perspektivistisch. Durch diesen entscheidenden Schritt ist es Mannheim gelungen tiber die Analyse von Marx hinaus zu gehen. In ihren entsprechenden Gesellschaften finden also die Individuen immer Denk- und Verhaltensmuster vor, die ihnen helfen, bestimmte Probleme zu 16sen. Es gibt aber auch einen st~indigen Trieb, neue Antworten zu suchen. Fiir Mannheim war es also klar, dass es immer gegens~itzliche Gruppen gibt, die versuchen, die Grundvorstellungen einer Gesellschaft zu ~indern. In der modernen Gesellschaft findet dieser Interpretationskampf im Bereich der Intellektuellen statt. Die Vielf'~iltigkeit von intellektuellen Gruppierungen fungiert als Beweis der modemen Entmonopolisierung der Weltinterpretation.
14Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, 1965. Das heutige Buch besteht aus fiinf Aufs~itze (Kapitel), die in sehr unterschiedlichen Zeitpunkte und Orte geschrieben wurden. Die zweite und vierte Kapitel erschienen 1929 als Mannheim immer noch in Deutschland war. Der Rest des Buches wurde im Exil geschrieben. ~5 Karl Mannheim, Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt, (1925) 1984. 21
1.3
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
1966 erschien The Social Construction of Reality von Peter Berger und Thomas Luckmann. ~6 Dieses Buch hat den Bereich der Wissenssoziologie neu definiert, indem es die Aufmerksamkeit der Disziplin auf das Alltagsleben gelenkt hat. Im Gegensatz zur herktimmlichen Wissenssoziologie haben Berger und Luckmann sich nicht mit der Politik besch~iftigt, sondern mit dem allt~iglichen Wissen. Was die Wirklichkeit des Alltags ist, war eine der wichtigsten Fragen, die sie sich gestellt haben. Um diese Wirklichkeitsanalyse durchftihren zu k6nnen, haben sie sowohl das Werk von Durkheim als auch dasjenige von Weber in Anspruch genommen. Eine gute soziologische Analyse der Mechanismen, welche die Konstruktion der Realit~it erm/Sglichen, brauchte sowohl die Idee, dass die Gesellschaft gegentiber den Menschen ein ~iul3erliches und zwingendes Ph~omen ist (Durkheim) als auch die Idee, dass diese Gesellschaft aus den sinnhaften Handlungen der Individuen besteht (Weber). In diesem Sinne ist die Gesellschaft nicht nur ein menschliches Produkt, sondern auch eine objektive Wirklichkeit, die wiederum die Menschen produziert. Dieser logische Zusammenhang l~isst sich gut verstehen, wenn wir die Gesellschaft als ein dialektisches Phiinomen begreifen. ~7 Die Mechanismen, die diese dialektische Wirklichkeit erkl~en, beziehen sich auf drei konstitutive Merkmale: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Um diese konstitutiven Merkmale zu erkl~en, schlieBen Berger und Luckmann an die philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen an. Diese philosophische Anthropologie versteht den Menschen als ein Tier besonderer Art, das weder eine spezifische Umwelt, noch einen festen Instinktapparat hat. Im Gegensatz zu anderen Tieren, die in der geschlossenen Welt ihrer Instinkte leben, charakterisiert sich der Mensch durch seine Weltoffenheit. Dies geschieht, weil die ontogenetische Entwicklung des Menschen sich erst nach der Geburt vollzieht. Der Mensch wird also zum Menschen durch Umweltkontakte. Diese Umwelt ist jedoch keineswegs nur nattirlicher Art. Diese Umwelt besteht tiberwiegend aus menschlichen Konstruktionen. ,,Das heiBt, der sich entwickelnde Mensch steht in Verbindung nicht nur mit einer besonderen nattirlichen Umwelt, sondern auch mit einer kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung, welche ihm durch ,signifikante Andere' vermittelt wird, die f'tir ihn verantwortlich sind". ~8Die Vermittlung solcher kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung setzt immer die schon erw~ihnte Externalisierung 16 Peter Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (New York 1966), Frankfurt,2000. 17A.a.O., S. 65. 18Berger/ Luckmanna.a.O., S. 51.
22
voraus. All die menschlichen Sch6pfungen sind ein Produkt solcher anthropologischen Notwendigkeit. Diese Sch6pfungen sind aber nicht chaotisch. Durch Habitualisierungsprozesse gewinnt diese menschlich konstruierte Welt allm~ihlich an Stabilit~it und diese stabile Redundanz f'tihrt zur Institutionalisierung. Wenn die kulturellen und gesellschaftlichen Sch6pfungen institutionalisiert worden sind, k6nnen sie sich den Willen ihrer Sch6pfer wiedersetzen. Es ist also f'tir die Menschen nicht mehr m6glich, diese von ihnen geschaffene Welt freiwillig zu ~indem. Hier befinden wir uns vor dem zweiten konstitutiven Merkmal der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, n~imlich die Objektivation. Um diese gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu vollenden, muss die exteme und objektive Welt in die Menschen zurtickkehren. Dies bringt uns zum Internalisierungsprozess. Nur durch diesen Prozess kann der Mensch sich mit seinen Produkten wieder identifizieren. Durch diese Internalisierung wird der Mensch selbst zum gesellschaftlichen Produkt. Das Wissen spielt eine entscheidende Rolle in der Entstehung und Reproduktion dieser drei Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion und dieses Wissen h~ilt eine enge Beziehung zur Sprache. Externalisierung, Objektivation und Internalisierung werden also durch Wissen und Sprache ermtiglicht. In diesem Sinne besch~iftigt sich die Wissenssoziologie mit den dialektischen Verh~iltnisse zwischen Wissen und Gesellschaft. Die eigentliche Leistung von Berger und Luckmann liegt darin, dass sie im Gegensatz zu Mannheim die Wissenssoziologie mit einer umfassenden soziologischen Theorie verbunden haben. In diesem Sinne beschaftigen sie sich nicht nur mit der kognitiven Konstruktion dieser sozialen Wirklichkeit, sondern auch mit der Konstruktion der Gesellschaft (als Realit~it sui generis) iiberhaupt. Indem die Gesellschaft durch die Sprache eine Wirklichkeit konstruiert, konstruiert (und reproduziert) sie sich selbst. Diese ist eine entscheidende Dimension. Die kognitiven Mechanismen treffen sich also mit den alltaglichen konstitutiven Mechanismen zusammen. Die Entdeckung dieser Dimension mag nicht neu sein. Die Deutlichkeit der Formulierung muss jedoch anerkennt werden. Obwohl Berger und Luckmann ihrer eigenen Anktindigung zufolge grunds~itzlich nur zum Bereich der Wissenssoziologie einen Beitrag leisten wollten, haben sie mit ihrer wissenssoziologischen Analyse auch eine konstitutive Theorie des Sozialen entwickelt, indem sie gezeigt haben, dass die Produktion und Reproduktion von sprachlich vermitteltem Wissen zur Konstruktion der Gesellschaft beitr~igt. Die Grenzen zwischen Wissenssoziologie und Soziologie sind undeutlicher geworden, weil eine soziologische Analyse (der Realit~it) eines sozialen Ph~inomens immer die Analyse seiner Realitatsvorstellungen voraussetzt. Hier befin23
den wir uns vor einer Realit~itsverdoppelung, ~9 die durch die konventionellen Mittel der Wissenssoziologie nicht erkl~irt werden kann. Diese konventionelle Wissenssoziologie arbeitet immer noch mit theoretischen Figuren, die in den letzten Jahren sehr problematisch geworden sind. Die ErklErung der Realit~itsverdoppelung in eine operative Realit~tskonstruktion und eine wissenssoziologische Realit~tskonstruktion fordert die Wiederspezifizierung des wissenssoziologischen Forschungs-gegenstandes anhand neuer theoretische Werkzeuge, die tiber traditionelle Begriffe wie Mensch, Subjekt und Handeln hinausgehen. Meiner Meinung nach bietet die soziologische Variante der Systemtheorie die einzige plausible Gegenstandsspezifizierung an. Diese Spezifizierung konzentriert sich auf die Analyse der Kommunikation als eigentlicher Forschungsgegenstand der Soziologie. Diese Art Soziologie l~isst uns die Kluft zwischen operativer Realit~it und wissenssoziologische Realit~it tiberwinden.
1.4
Kommunikative Wende der Wissenssoziologie
Es muss also schon klar sein, dass ftir die Soziologie das Wissen nicht einfach dem Menschen zugeschrieben werden kann, wie dies vielleicht aus Laienperspektive plausibel erscheint, sondern der Gesellschaft zugeschrieben werden muss. Was die Gesellschaft ist, ist jedoch noch nicht so klar. Ftir die Klassiker ist die Gesellschaft sowohl ein soziales Milieu als auch das Ergebnis von Interaktionen. Sie bezieht sich sowohl auf objektive Verh~iltnisse als auch auf die Sprache. Wenn die Soziologie die klassischen auf das (empirische oder transzendentale) Subjekt bezogenen Begriffe verl~isst, bietet sie noch keine eindeutige Zuschreibungseinheit. Um diese eindeutige Zuschreibungseinheit tiberhaupt finden zu k6nnen, muss die Soziologie ihren Bereich momentan verlassen und die Ergebnisse anderer Wissenschaften, besonders diejenige der Biologie und der Neurophysiologie, in Anspruch nehmen. Diese Exploration anderer wissenschaftlicher Gebiete ist ein klares Beispiel von Offenheit durch Geschlossenheit. Es ist also nicht so, dass die Soziologie andere Disziplinen braucht, um ihre eigenen Grundlagen zu begrtinden, sondern, dass gerade, weil sie viel Binnenkomplexit~it aufgebaut hat, sich jetzt trauen kann, augerhalb ihrer Grenzen Information zu suchen. Diese Information ist jedoch durch ihre im Laufe der Zeit entwickelten Strukturen identifiziert und entkodifiziert. Ftir bestimmte Theorien der oben erw~nten Wissenschaften ist klar geworden, dass viele biologische Ph~inomene wie das Leben und die Kognition auf der ,,operativen SchlieBung" beruhen. Diesem Begriff nach ist die Identit~it be~9Siehe NiklasLuhmann,Die Realit~itder Massenmedien,Opladen, 1996,S. 15. 24
stimmter (for den Fall der Biologie) lebendigen Systeme durch ein Netzwerk dynamischer Prozesse, deren Auswirkungen dieses Netzwerk niemals verlassen, spezifiziert. Um dieses Ph~inomen richtig zu verstehen, muss zun~ichst die Art und Weise, in der diese Geschlossenheit sich produziert und reproduziert, analysiert werden. Der Begriff der autopoietischen Reproduktion muss also gekl/irt werden. Autopoietische Systeme sind Systeme, welche die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. 2~ In diesem Sinne kann die operative SchlieBung eines Systems nur durch die Fortsetzung seiner Autopoiesis gew~ihrleistet werden. Geschlossenheit heiBt also, dass es Entit~iten bzw. Systeme gibt, die durch ihre Emergenz das Kontinuum der Welt unterbrechen und ihre eigene Gesetzlichkeit aufbauen. Operative SchlieBung bedeutet aber nicht thermodynamische Trennung von der Umwelt. Autopoietische Systeme sind immer fiihig, strukturelle Kopplungen mit ihrer Umwelt zu entwickeln. Sie k6nnen also die Irritationen der Umwelt durch ihre eigenen Strukturen prozessieren und in diesem Sinne k6nnen sie ein relativ stabiles Verh/iltnis zur Umwelt entwickeln. Diese Dynamik der Geschlossenheit kann auf unterschiedlichen Ebenen von Emergenz beobachtet werden. Auf der biologischen Grundebene kann man sie in den Zellen finden. Allerdings ist sie auch auf der neurophysiologischen, auf der psychologischen Ebene und sogar auf der gesellschaftlichen Ebene zu finden. Durch die Analyse der biologischen und neurophysiologischen Grundlagen der Realit~itskonstruktion k6nnen die hier skizzierten Beobachtungen mit der Problematik der Wissenssoziologie angekntipft werden. Da die autopoietischen Systeme operativ geschlossene Systeme sind, k6nnen sie die Realit~it ,,wie sie ist" nicht wahmehmen. Die Realit/it, die diese Systeme wahmehmen, ist die Realit~it die sie durch ihre strukturbedingten Operationen konstruieren k6nnen. Beispielsweise kann eine Zelle durch ihren Austausch mit der Umwelt eine Realit~it wahmehmen, die auf keinen Fall mit der Gesamtheit der Realit~it zutrifft. In diesem Sinne konstruiert sie durch ihre Operationen den f'tir sie relevanten Realit~itsbereich. Nur durch diese struktur- und operationsbedingte Realit~itskonstmktion k6nnen die autopoietischen Systeme jene Komplexit~itsreduktion durchf'tihren, die wiederum als M6glichkeitsbedingung fiir die Fortsetzung ihrer Autopoiesis gilt. Im Bereich der Neurophysiologie wird dieses Konstruktionsverm6gen sogar deutlicher. Nehmen wir beispielsweise das sogenannte ,,Prinzip der undifferenzierten Kodierung" zur Illustration in Anspruch. Diesem Prinzip nach kodieren die Erregungszust~inde einer Nervenzelle nur die Intensit~it, aber nicht die Natur 2o Humerto Maturana / Francisco Varela, E1 ~irbol del conocimiento. Las bases biol6gicas del conocimiento humano, Madrid, 1999.
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der Erregungsursache. 2~ Fiir diese Nervenzelle gibt es ,,da drauBen" also nur
quantitative Information, die sie errechnen ktinnen und nicht Gegenst~nde, Farben, Kl~inge, usw., die sie qualitativ wahmehmen k6nnten. Da dieses Errechnungsverm/Sgen strukturell bedingt ist, kann man wohl sagen, dass die Realit~it durch die Operationen des eigenen Systems konstruiert wird. Durch diese Ans~itze wird das alte Problem der Korrespondenz zwischen Realit~it und Wissen tiberholt. Die neue Problematik bezieht sich sowohl auf die Konstruktion der Realit~it als auch auf die Realit~it dieser Konstruktion. Das heiBt, dass, obwohl der Zugang zur Realit~t immer operativ vermittelt ist, nicht vergessen werden sollte, dass diese Operationen immer in der Realit~it vorkommen. Die Zahl der Realit~iten h~ingt also von der Zahl der Beobachter (also der Systeme), die sie konstruieren, ab. In diesem Sinne sehen die Reali~'ten der Zelle und des Gehirns ganz unterschiedlich aus. Genau wie die Emergenz eines neurophysiologischen Systems die Entstehung einer Realit~it ermtiglicht, l~isst die Emergenz des Bewusstseins eine neue Art von Realit~it entstehen. In diesem Sinne mtissen das neurophysiologische System und das psychische System als operativ differenzierte Systeme beobachtet werden. Welche operativen Charakteristiken unterscheiden also diese zwei Systeme? Wahrend das neurophysiologische System sich mit der internen Prozessierung externer Stimuli besch~iftigt, kiimmert sich das psychische System um die Aufmerksamkeitskontrolle. Wie schon die ph~inomenologischen Untersuchungen von Husserl gezeigt haben, ist das (operierende) Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas. Im Laufe der Evolution ist die Operation des psychischen Systems so komplex geworden, dass wir sie heutzutage mit dem anspruchsvollen Begriff des Gedankens bezeichnen. Durch diese gedankenbezogene Prozessierung der Aufmerksamkeit baut das psychische System seine operative Einheit auf. Da das einzige Produkt des psychischen Systems Gedanken sind, kann behauptet werden, dass das psychische System ein autopoietisches System ist. Durch die Fortsetzung der Autopoiesis wird sowohl die operative SchlieBung als auch die kognitive Offenheit des psychischen Systems gew~ihrleistet. Was wir heutzutage als Bewusstsein bezeichnen, bezieht sich auf die F~igkeit psychischer Systeme, Gedanken mit Hilfe von Gedanken zu beobachten. Die Entstehung eines Bewusstseins ermtiglicht die Entwicklung grtiBerer symbolischer Spielr~iume, weil das psychische System sich relativ von der Beobachtung der Umweltereignisse befreien kann. In diesem Sinne wird die Dynamik der Geschlossenheit durch diese Steigerung der Selbstreferenz verstarkt.
21Siehe Heinzvon Foerster,Wissenund Gewissen.Versucheiner Briicke,Frankfurt, 1993,S. 30 ff. 26
Durch eine reflexive Anwendung der Selbstreferenz wird die Entstehung psychischer Adressaten erm/Sglicht. Das deutlichste Beispiel finden wir in der Figur des ,,Ichs" als Vorstellung der Identit~it des Bewusstseins innerhalb des Bewusstseins. Die Griinde warum Begriffe wie Mensch oder Subjekt an wissenschaftlicher Bedeutung verloren haben, kann man mit Hilfe dieser Uberlegungen relativ einfach sehen. Wenn eine Systemreferenz benutzt wird, kann der Mensch nicht mehr als eine Einheit begriffen werden. Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir vom Menschen sprechen? Etwa von seinem Bewusstsein oder von seinem Nervensystem? Da die psychischen Systeme operativ geschlossene Systeme sind, k/Snnen sie nicht von au6en bestimmt werden. Die Bestimmung dieser Systeme geschieht immer durch ihre eigenen Strukturen und ist in diesem Sinne eine Selbstbestimmung. In diesem Sinne sind sie sowohl fiir andere psychische Systeme als auch f'tir andere Art von Systemen unzug~inglich. In ihrer Umwelt identifizieren sie Ereignisse, die als Irritationsquelle fungieren ktinnen. Diese Irritationen miissen aber von den Strukturen jedes psychischen Systems verarbeitet werden. Genau in dieser gegenseitigen Unzug~inglichkeit liegt ihre Individualit~it. Jedes Bewusstsein schafft also seine eigenen Relevanzbereiche und damit seine eigene Realitat. Wenn dies der Fall ist, wie l~isst sich aber der ,,Realit~itskonsens", in dem wir leben, erkl~iren? Diesen Konsens, der, wie wir sehen werden, eigentlich keiner ist, l~isst sich nur durch die Emergenz eines anderen Systems erkl~en, also durch ein autopoietisches System, das die gegenseitige Unzug~inglichkeit psychischer Systeme als eigenes Bezugsproblem in Anspruch nehmen kann, um seine Operativit~it zu begriinden. Diese Art von ,,Vermittlungssystem" wird im Rahmen dieser Untersuchungen als soziales System begriffen. Die iibliche Antwort, welche die Soziologie zum Problem der ,,Vermittlung" zwischen psychischen Systemen gegeben hat, bezieht sich auf die durch den Sozialisationsprozess begriindete Verinnerlichung von Werte. Wie wir im zweiten Teil dieser Untersuchungen sehen werden, hat Parsons eine sehr anspruchsvoile Version dieser iiblichen Antwort in seiner Handlungssystemtheorie entworfen. Die Verinnerlichungsidee setzt jedoch voraus, dass tatstichlich eine Bestimmung der psychischen Systeme durch die Gesellschaft und die Kultur stattfindet. Beispielsweise erkl~irt Parsons diese Bestimmung mit Hilfe der Begrifflichkeit der kybernetischen Hierarchie. In diesem Sinne steuern die Kultur und das soziale System die Perstinlichkeitssysteme und den Ktirper. In den letzten Jahren haben viele soziologische Theorien dieses Erkl~ungsmuster in Frage gestellt, weil es empirisch sehr schwer geworden ist, zu beobachten, dass die Werte und die Normen die Pers/Snlichkeitssysteme bestimmen. Wenn man von Bestimmung spricht, nimmt man eine Semantik der Kausalit~it in Anspruch, die o,
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mit den oben erw~ihnten Entwicklungen nicht kompatibel ist. Der Dynamik der Geschlossenheit nach muss es klar sein, dass auch die Kausalit~itsschemata strukturbedingte Konstruktionen eines Systems sind. In diesem Sinne kann man nicht mehr vom Sozialisationsprozess als Fremdbestimmung eines Bewussteins sprechen, sondern immer von ,,Selbstsozialisation" des psychischen Systems. Wenn das Problem der Vermittlung sich nicht dutch Wertverinnerlichung ltisen Risst, was far eine Antwort kann man noch finden. Vielleicht sollten wit die Antwort, die Autoren wie Erving Goffman und besonders Niklas Luhmann entwickelt haben, in Anspruch nehmen und nicht mehr von einem ,,starken Konsens", sondern yon einem ,,schwachen Konsens" sprechen. In seiner Beobachtung der Interaktion hat Goffman gezeigt, dass es nicht ntitig ist, dass die Akteure an die Rolle, die sie spielen, glauben. 22 Fiir die Fortsetzung der Interaktion reicht es, wenn sie diese Rollen nach den sozial akzeptabeln Kriterien durchf'tihren. Im Prinzip setzt solche Durchfiihrung keine entsprechenden Bewusstseinszust~inde im Sinne einer Ubereinstimmung vor. Beispielsweise kann sich eine Person verhalten, als ob sie sich in jemanden verliebt h~itte, ohne das entsprechende Gefiihl tats~ichlich zu empfinden. Es kann jemand Interesse an einem Thema zeigen, von dem er eigentlich keine Ahnung hat. Selbstverst~ndlich heiBt dies abet nicht, dass die Aufrichtigkeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen w~e. Es ist schon klar, dass es immer mtiglich ist, eine Rolle zu spielen, an die man glaubt. Wichtig far unser Argument ist nut zu zeigen, dass dieser Ubereinstimmungszustand nur eine M6glichkeit unter anderen ist. Unabh~ingig von den entsprechenden psychischen Zust~nden kann die Kommunikation eine Situation schaffen, in der die soziale Koordination m6glich ist. Diese Art yon Koordination fordert keine psychologische Aufrichtigkeit, sondern nut kommunikative Anschlussfiihigkeit. Die Fortsetzung der Kommunikation h~ingt nicht von einer erfolgreichen Wertverinnerlichung, sondern von einer erfolgreichen Selbstplausibilisierung der Kommunikation dutch dieselbe Kommunikation ab. In diesem Sinne kann man wohl behaupten, dass als autopoietische Systeme die sozialen Systeme ausschlieBlich aus Kommunikation bestehen. 23 Als Grundelement sozialer Systeme besteht die Kommunikation laut Niklas Luhmann aus der Synthese drei Selektionen: Mitteilung, Information und Verstehen. In diesem Sinne reproduziert sich ein soziales System, wenn die Kom..
22 Um nur ein Paar Beispiele zu erw~ihnen: Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life (Edinburgh 1956), New York, 1959; ders., Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior, New York, 1967. 23 Siehe hierzu ausftihrlich: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M, 1984, S. 191 ft.
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munikation f'~ihig ist, die Differenz zwischen Mitteilung und Information zu verstehen. 24 Nur wenn sie diese Differenz beobachtet, kann sie (auf sich selbst) reagieren und das System fortsetzen. Um sich selbst zu reproduzieren, muss die Kommunikation nicht nur immer feststellen, dass es die Intention zu kommunizieren gibt, sondern auch dass es etwas, wortiber sie kommuniziert, gibt. Wie es klar zu sehen ist, entspricht diese Definition der schon erw~ihnten Dynamik der Geschlossenheit. Dass die Kommunikation sich selbst produziert, bedeutet aber selbstverst~indlich nicht, dass sie ohne Beteiligung psychischer Systeme zustande kommen k/Snnte. Die Aufmerksamkeitsleistung psychischer Systeme ist fiir die Fortsetzung der Kommunikation unverzichtbar. In diesem Sinne impliziert die Kommunikation immer die aktive Beteiligung von mindestens zwei psychischen Systemen. Die grol3e Bedeutung, welche die psychischen Systeme ftir die Fortsetzung der Kommunikation spielen, kann besser verstanden werden, wenn wir feststellen, dass, obwohl beide Arten von Systemen (psychische und soziale) im Medium Sinn vorkommen, die Kommunikation den Sinn nicht erfahren, sondern nur (kommunikativ) prozessieren kann. Im Gegensatz kann die Erfahrung des Sinns als spezifische Leistung des psychischen Systems beobachtet werden. Durch die Beschreibung der Gesellschaft als ein kommunikatives Ph~inomen ist es der Soziologie gelungen, einen operativen gemeinsamen Nenner for die kognitive Konstruktion der Realit~it und f'tir die empirische Realit~it der Konstruktion zu finden. In diesem Sinne muss nicht mehr zwischen Wissen und Handeln unterscheidet werden, weil im Laufe ihrer empirischen Reproduktion die Kommunikation immer Wissen liefert. Das (soziale) Wissen ist nicht etwas, dass im Kopf der Menschen ist und dass sie entweder zum Handeln treibt oder durch das Handeln bestimmt worden ist. Da das Wissen als soziales Ph~inomen nicht im Kopf der Menschen zu suchen ist, kann man es nur im Laufe der Kommunikation beobachten. Da die Kommunikation eine Art Operation ist, die keine zeitliche Dauer hat, weil sie gleichzeitig geschieht und verschwindet, muss das Wissen auch als ein Ereignis verstanden werden.
24Siehe Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., siehe auch: ,,Was ist Kommunikation?",in: ders., Soziologische Aufkl~irungBd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen, 1995, S. 113-124. 29
Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin
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2.1
Strukturelle Bedingungen der Wissenschafi
In der Gesellschaft kann es nur eine Art kognitiver Operation geben, niimlich die Kommunikation. Die Gesellschaft weiB immer, was sie weiB und dieses Wissen reicht normalerweise for die L6sung praktischer Probleme. Genau wie in den Uberlegungen von Alfred Schtitz tiber die natiirliche Einstellung kann man wohl behaupten, dass in der alltiiglichen Kommunikation eine besondere Art von Epochd vorausgesetzt wird, in der es kein Priidikat ,,wirklich" und keine Gattung ,,Wirklichkeit" gibt. 25 Diese vorreflexive Kommunikation trifft immer mit der Wirklichkeit zusammen. In diesem Zustand kann man nach der Wahrheit des Wissens nicht fragen, weil das Wissen immer ,,wahr" ist. Allerdings hat sich im Laufe der gesellschaftlichen Evolution eine Unterscheidung entwickeln, die angewendet werden kann, um das Wissen zu beobachten, 26 niimlich die Unterscheidung wahr / unwahr. Mit Hilfe dieser Unterscheidung ist es m6glich, das Wissen vom Kontinuum der Realitiit sozusagen zu entkoppeln. Da es im Alltagsleben unm6glich w~e, stiindig nach der Wahrheit der Beobachtungen zu fragen, hat sich eine spezifische reproduktive Nische fiir die Prozessierung dieser Unterscheidung ausdifferenziert, niimlich die Wissenschaft. In diesem Sinne gilt die Unterscheidung wahr / unwahr als Code des Wissenschaftssystems. 27 Genau wie das Medium Sinn durch die Grundunterscheidung aktuell / potentiell und die Sprache durch die Grundunterscheidung ja / nein codiert sind, fungiert ftir die Wissenschaft die oben erwiihnte Unterscheidung als Informationsfilter. Um tiberhaupt etwas beobachten zu k6nnen, muss die Wissenschaft entscheiden, ob die Behauptung wahr oder unwahr ist. Wenn die Kommunikation in interaktiven Rahmen stattfindet, kann sie sowohl die sprachlichen als auch die k6rperlichen Mitteilungen in Anspruch nehmen, um das kommunikative Verst~ndnis durchzufiihren. Bestimmte Gesten k6nnen dazu beitragen, ein Ego fiber die Aufrichtigkeit der Information, die von einem Alter mitgeteilt wird, zu iiberzeugen. Unter interaktiven Umstiinden ist es auch m6glich, an die Umweltwahrnehmung zu appellieren, um die Wahrhaftigkeit der Kommunikation zu bestiitigen. In der Alltagswelt k6nnen wir problem.,
25 Siehe Alfred Schiitz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt Bd. 1, Frankfurt/M., 1984, S.48 ff. 26 Wenn ich hier von "Beobachtung" spreche, beziehe ich mich selbstverstiindlich nicht auf ein sinnliches Phiinomen, sondem auf die systemische F~ihigkeit des Unterscheidungstreffens. In diesem Sinne treffen soziale Systeme Unterscheidungen durch Kommunikation. Die Kommunikation ist also eine beobachtende Operation. 27 Siehe dazu Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M., 1992, S. 167 ft.
30
los die Existenz einfacher kausaler Verh~iltnisse immer und iiberall best~itigen. Wenn ein solches Verh~iltnis nicht best~itigt werden kann, k6nnen wir immer an die Aufrichtigkeit des Botschafters glauben. Wie zuverRissig eine Quelle ist, h~ingt von unterschiedlichen Faktoren ab (ob wir diese Person kennen oder nicht, usw.) Mit der Entwicklung von Verbreitungsmedien der Kommunikation wird diese (pers6nliche) Bekanntschaft der Quellen immer geringer und damit wird die Akzeptanz der Kommunikation immer unwahrscheinlicher. Unter den Verbreitungsmedien befinden sich evolution~e Errungenschaften wie die Schrift. All die sp~iter erfundenen Technologien der Kommunikationsverbreitung von der Buchdruckerei bis zum Intemet geh6ren auch zu dieser Begrifflichkeit. Durch diese Verbreitungsmedien ist der Kommunikation sowohl eine r~iumliche als auch eine zeitliche Trennung zwischen Mitteilung und Verstehen gelungen. Jemand kann etwas behaupten und eine andere Person kann diese Kommunikation 500 Jahre sp~.ter oder 10.000 Kilometer entfernt fiir wahr halten. Der Appell an die Wahmehmung von Gestik oder Umwelt wird unm6glich, da die Anwesenheit der Interaktion iJberholt worden ist. Warum muss ich an jemanden glauben, den ich iiberhaupt nicht kenne? Mit dieser r~iumlichen und zeitlichen Trennung wird die Akzeptanz der Kommunikation unwahrscheinlicher. Um die Fortsetzung ihrer Autopoiesis zu f6rdem, entwickelt die Kommunikation Mechanismen der Selbstplausibilisierung. Niklas Luhmann nennt diese Mechanismen: symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. 28 In Fall der Wissenschaft fungiert die Wahrheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Das heiBt, dass die Wahrheit die Akzeptanz einer kommunikativen Behauptung, also die Wahrscheinlichkeit der Selektion dieser Behauptung durch den positiven Wert des Codes erh6ht. Unabh~ingig von psychischen Zust~inden und Meinungen mUssen die Wissenschaftler der Wahrheit, die von anderen Kollegen ,,entdeckt" worden ist, mit gewissem Respekt und Beachtung begegnen, und sie miassen bereit sein, sich um die Entdeckung neuer Wahrheiten zu bemiahen. Wie Randall Collins gezeigt hat, erf'tillt die Wahrheit in der intellektuellen Welt die Funktion eines sakralen Gegenstandes, der die intellektuellen Riten (Vorlesungen, Seminare, Kolloquien, Tagungen, usw.) erm6glicht. Fiir Collins fungieren diese Riten als Quelle jedes intellektuellen Engagements. 29
28 0ber die Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien siehe: Niklas Luhmann, ,,Genaralized Media and the Problem of Contingency", in: Jan J. Loubser, Rainer C. Baum, Andrew Effrat und Victor M. Lidz (Hg.), Explorations in General Theory in Social Science: Essays in Honor of Talcott Parsons, Bd. II, New York, 1976, S. 507-532; ders. Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M., 1997, Kapitel 2. 29 Siehe Randall Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge / London, 1998, S. 19 ff.
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Die Formen des Mediums Wahrheit h~ingen vonder gesellschaftlichen Evolution ab. Um akzeptiert zu werden, nimmt die Kommunikation bestimmte Semantiken in Anspruch, welche den Ablehnungshorizont begrenzen ktinnen. Beispielsweise fungiert die Semantik der Kausalit~it als eine der erfolgsreichsten Formen des Mediums tiberhaupt. Es gibt aber andere Formen, in denen die wissenschaftliche Kommunikation sich selbst wahrscheinlicher macht. Als strukturelle Bedingungen for die Entstehung des Wissenschaftssystems sind sowohl der Code wahr / unwahr als auch das Kommunikationsmedium Wahrheit unverzichtbar. Allerdings reichen sie ftir die Erkl~irung der Systemdynamik nicht aus. Weder auf der Ebene des Codes noch auf der Ebene des Kommunikationsmediums kann ein System entscheiden, welche Operationen zu ihm gehtiren. Als Ultrastruktur steht der Code nur zur Verf'tigung, um die Welt wissenschaftlich beobachten zu ktinnen. Ftir den Code ist nur wichtig, dass etwas als wahr bzw. als unwahr bezeichnet wird. Gegentiber den Kriterien, welche diese Bezeichnung fundamentieren, bleibt der Code indifferent. Da der Code nur aus zwei Werten besteht und keine andere semantische Referenz hat, kann er die Selektivit~.t des Systems nicht steuern. Das Kommunikationsmedium Wahrheit kann nur die Akzeptanz der Kommunikation wahrscheinlicher machen. Als Medium bleibt es jedoch zu abstrakt und unspezifisch. Sowohl im Alltagsleben als auch im Bereich der Wissenschaft kiSnnen wir ,,Wahrheiten" behaupten. Im Bereich der Massenmedien ist es doch klar, dass die Wahrheit in Anspruch genommen wird, um die Akzeptanz einer Nachricht zu plausibilisieren. Allerdings werden diese ,,Wahrheiten" nicht als wissenschaftliche Wahrheiten akzeptiert. Die Wissenschaftler lesen eine Zeitung nicht, um etwas iiber die Entwicklung ihrer F~icher zu erfahren. Dazu gibt es Fachzeitschriften, die eine ganz andere Art und Weise haben, die Wahrheit darzustellen. Letztendlich kann die Wahrheit nicht das Anschlusskriterium der Massenmedien sein, weil diese daf'tir nicht genug Zeit haben. Die Wahrheit, welche die Massenmedien produzieren, hat als Wahrheit sozusagen geringen Wert, weil die Kommunikation, die dort stattfindet, nicht geprtift werden kann. Eine Zeitung kann nicht warten, bis eine Nachricht als wahr best~itigt wurde, um sie zu veriSffentlichen. In diesem Sinne liegt die Funktion der Massenmedien nicht in der Produktion von wissenschaftlicher Wahrheit, sondern in der Produktion von Information. Sie codieren sich also nach der Unterscheidung Information / Nichtinformation. 3~ Was w~e also der Unterschied zwischen der ,,Wahrheit" der Massenmedien und der Wahrheit der Wissenschaft? Um etwas als wahr zu behaupten, hat das Wissenschaftssystem bestimmte Bedingungen spezifiziert, die erf'tillt werden mtissen. Die Systemtheorie bezeichnet diese Bedingungen mit dem Programm30Siehe dazu: NiklasLuhmann,Die Realit~itder Massenmedien,a.a.O., besondersdas Kapitel3. 32
begriff. Die Wissenschafl wird durch Theorien und Methoden programmiert. Nur mit Hilfe von Theorien und Methoden ist es also m6glich, Kriterien i0r die Zuschreibung der Codewerte zu entwickeln. W~ihrend die Theorien diese Funktion in Bezug auf die externen Referenzen (,,die Realit~it") durchftihren, beziehen sich die Methoden auf den systemischen Code. Da es in diesen Untersuchungen um die Entwicklung einer Theorie geht, m6chte ich mich der Erkl~J.rung einiger ihrer Grundmerkmale zuwenden. Ohne Theorien w~e es beispielsweise unm6glich, etwas als wissenschaftlichen Gegenstand zu begreifen. In den Theorien wird spezifiziert, ob es in der Forschung um reine Mathematik, Kybernetik, Genetik oder soziale Systeme geht. Ohne Theorien w~e die Durchftihrung von Limitationalit~it absolut unm6glich. Durch diese Limitationalit~it wird die unbestimmbare Komplexit~it in bestimmbare Komplexit~it kommunikativ prozessiert. In diesem Sinne fungiert diese Limitationalit~it als spezifische Kontingenzformel der Wissenschaft. Allerdings operiert sie nicht nur in Bezug auf sachliche Unterschiede (F~icher, Gegenst~inde, usw.), sondern auch in Bezug auf zeitliche Referenzen. Aus diesem Grund mtissen die Theorien nicht immer auf den Anfang einer Problematik zurtickkommen. In der Wissenschaft wird immer vorausgesetzt, dass es einen Horizont beobachtbarer M6glichkeiten gibt, der nicht aktualisiert werden kann. Noch eine wichtige Leistung dieser Limitationalit~it liegt darin, dass durch sie die Existenz konkurrierender Programme wissenschaftlich gerechtfertigt werden kann. Da es keinen Beobachter, der alles beobachten kann, gibt, akzeptiert die Wissenschaft, dass es mehrere Beobachter gibt, die aus unterschiedlichen Perspektiven beobachten. Als durch Limitationalit~it bedingte Kommunikation produzieren auch die Theorien einen Oberschuss an Vergleichsm6glichkeiten. Selbstverst~indlich w~ire es unm6glich alles mit allem zu vergleichen. Mit Hilfe der Limitationalit~it der Theorien ist es aber m6glich, etwas mit etwas zu vergleichen. Beispielsweise erm6glicht die biologische Evolutionstheorie, unterschiedliche Gattungen zu vergleichen. Gattungen, die in der theorielosen Wahrnehmung, nichts miteinander zu tun haben.
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2.2
Programmierung der Wissenschaft
Im Gegensatz zum Code, der indifferent gegeni)ber der Zeit bleibt, schlieBen die Programme die Geschichte ein. In diesem Sinne kommt die Evolution des Systems im Bereich der Programme vor. FUr die Systemtheorie l~isst sich die Evolution mit Hilfe von drei Mechanismen erkl~en, n~imlich der Variation, der Selektion und der Stabilisierung. Die Theorie geht davon aus, dass in einem komplexeren System Mutationen m~glich sind, die danach von den Systemstrukturen entweder ausgew~ihlt oder abgelehnt werden. Falls eine Mutation ausgew~ihlt worden ist, wird sie zum stabilen Element des Systems, mindestens bis eine andere Mutation vorkommt und ausgew~ihlt wird. Da die Selektion der Mutation durch die Strukturen des Systems durchgefiihrt wird, iehnt diese neue Fassung der Systemtheorie die Idee ab, dass es die Umwelt ist, die solche Entscheidungen trifft. Im Fall der Wissenschaft kommen diese Mutationen als kommunikative Ereignisse vor. Wegen ihrer dutch den Sinn bedingten sprachlichen Komplexit~t kann die Wissenschaft viele Mutationen ertragen. Eigentlich muss gesagt werden, dass diese F~ihigkeit keine Grenze kennt. In der Sprache kann alles im Prinzip immer wieder rekombiniert werden und alles immer wieder abgelehnt wetden. Um erfolgreich zu sein, muss abet eine bestimmte Rekombination yon den Systemstrukturen ausgew~ihlt werden. Diese Auswahl geschieht mit Hilfe des oben erw~ihnten Kommunikationsmediums Wahrheit. In diesem Sinne wird die Variation, die den Erwartungen des Systems besser entspricht, als ,,wahre" Variation bezeichnet und aus diesem Grund hat sie gr/56ere Chancen ausgew~ihlt zu werden. Die Rekursivit~it dieses Mechanismus ist deutlich. Die durch Selektion stabilisierte Variationen fungieren als Mtiglichkeitsbedingung ftir weitere Variationen. Es ist aber genau im Bereich der Programmierung, wo ich einen der grtiBeren M~ingel der soziologischen Erkl~ungskraft der Systemtheorie sehe. Da ich diese Problematik im dritten Teil dieser Untersuchungen ausf'tihrlich diskutiert werde, skizziere ich hier nur einige ihrer wichtigen Elemente. Da die Theorie von Luhmann eine Theorie ist, die sich auf die sogenannte ,,moderne" Gesellschaft konzentriert und da sie als spezifisches Charakteristikum von Modernit~t das Primat funktionaler Differenzierung ansieht, hat sie wichtige soziale Ph~inomene wie die soziale Differenzierung vernachl~issigt. Der Systemtheorie nach reichen Begriffe wie Code, Erwartungen und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium aus, um die Dynamik der Programmierung zu erkl~en. Im Gegensatz zu Luhmann bin ich aber der Meinung,
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dass die soziale Differenzierung in der Form der Ungleichheit eine sehr wichtige Rolle in der Programmierung spielt. Es ist durchaus klar, dass es in der wissenschaftlichen Kommunikation eine Hierarchie gibt und dass diese Hierarchie eine entscheidende Bedeutung for die Programmierung der Wissenschaft hat. Was wissenschaftlich als wahr und was als falsch bezeichnet wird, wird in der Konkurrenz zwischen Gruppen und Individuen und nicht (oder besser gesagt: nicht nur) in der Anpassung von ,,Wahrheiten" an gesamtgesellschaftliche Erwartungen bestimmt. Sicher spielen die gesellschaftlichen Erwartungen eine wichtige Rolle, aber da diese sehr allgemeinen Erwartungen von unterschiedlichen Gruppen geteilt werden, muss es noch einen zus~itzlichen Mechanismus geben, der die Durchsetzung eines Programms ermtJglicht. Um die Bedeutung der sozialen Differenzierung besser beobachten zu k6nnen, f'tihre ich hier den Feldbegriff von Pierre Bourdieu ein. Ein Feld kann als ein Netz oder eine Figuration objektiver Verh~iltnisse zwischen Positionen verstanden werden. Die Positionierung verschiedener Akteure innerhalb eines Feldes bestimmt die Feldstruktur und der Abstand zwischen Positionen h~ingt von der Verteilung des spezifischen Kapitals dieses Feldes ab. 3~ Die Dynamik eines Feldes entsteht aus dem Konflikt zwischen Akteuren, um eine bessere Position innerhalb des Feldes zu erreichen. Diejenigen, die mehr Kapital besitzen, versuchen entweder das Kapitalmonopol zu erreichen oder die strukturellen Anderungen zu vermeiden, w~ihrend diejenigen, die wegen ihres Mangels an Kapital eine schlechtere Position haben, versuchen die Verteilungsstruktur zu ~indern. Je mehr Kapital ein Agent (Individuum, Gruppe, Organisation) hat, desto grtil3er sind seine Chancen, das Feld zu bestimmen. Es gibt viele Mtiglichkeiten, ein Feld zu bestimmen. Besonders wichtig ftir uns sind diejenigen, die sich auf die doxa eines Feldes beziehen. Der Zusammenhang von Glauben, Wissen und nicht geschriebenen Regeln, welche die Mitglieder eines Feldes teilen, macht diese doxa aus. Wenn man die Mach hat, diese doxa zu ~indern, kann man die impliziten Regeln eines Feldes in die Richtung seiner Interessen neu definieren. Eine Nebenwirkung dieser ungleichen Machtverteilung ist die Entstehung von Herrschaft. Da diese Herrschaft mehr auf Legitimation als auf physischer Gewalt beruht, fiihrt Bourdieu den Begriff der ,,symbolischen Gewalt" ein, um die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten zu erkl~en. Es ist aber wichtig zu sagen, dass diese Herrschaft niemals absolut ist, weil sogar die Herrschenden vonder Struktur des Feldes beherrscht werden. Da alle Felder ihre spezifische Kapitalsform und Reproduktionskriterien haben, sagt Bourdieu, dass sie ,,relativ autonome" Felder sind. Wie autonom ein 3~ Siehe Pierre Bourdieu mit Loic J.D. Wacquant, R6ponses. Pour une anthropologie r6flexive, Paris, 1992,S. 71ft. 35
Feld ist, h~ingt von der Kraft seiner Position innerhalb des umfassenden Machtfeldes ab. Beispielsweise kann das wissenschaftliche Feld in zwei Nationalstaaten unterschiedliche Positionen haben. In einer Gesellschaft kann die Wissenschaft mehr Autonomie genieBen, weil sie f'~iger ist, die externen Anreize nach seiner eigenen Logik zu vermitteln. Weder die Moral noch die Politik oder die Wirtschaft k6nnen unmittelbar die FunktionaliRit des Feldes bestimmen. Bourdieu spricht hier vonder Refraktionsf'~ihigkeit eines Feldes. Aber in einer anderen Gesellschaft k6nnen die externen Felder mehr Druck auf die Wissenschaft austiben. In diesem Fall w~e es nicht so wichtig das spezifische Kapital des Feldes zu haben, weil ein anderes Kapital (politische Macht, Geld, usw.) die Struktur des Feldes bestimmen k6nnte. Je heteronomer ein Feld ist, desto unvollkommener ist die Konkurrenz zwischen den Akteuren. In diesem Sinne kann der Grad an Autonomie bzw. Heteronomie eines bestimmten Feldes nur durch empirische Forschung ,,gemessen" werden. Es gibt also zwei Ebenen, die beachtet werden mtissen, um eine Feldanalyse durchzuftihren. Erstens erforscht man die Position eines Feldes in Bezug auf das umfassende Machfeld, und zweitens definiert man die objektive von den Agenten eingenommene Positionsstruktur. Im Fall der Wissenschaft k6nnen wir die Bedeutung der Ungleichheit in der Tatsache sehen, dass je besser positioniert ein Wissenschaftler im Feld eines bestimmten Faches ist, desto gr6Ber sind seine Chancen dieses Feld zu bestimmen. Diese Bestimmung geht Uber die theoretischen Programme hinaus. Ein gut positionierter Wissenschaftler kann nicht nur tiber die Wahrheit einer Theorie entscheiden, sondem auch tiber die Charakteristiken, die eine wissenschaftliche Disziplin ausmachen. In der Soziologie ist es sehr deutlich, dass Konflikte zwischen Theorien sich nicht nur auf ein paar Unterschiede innerhalb eines gemeinsamen Rahmens beziehen, sondem auf die Definition der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin tiberhaupt (,,was X macht, ist tiberhaupt keine Soziologie !"). Wenn man besser positioniert ist, hat man bessere Chancen, durch seine Diskreditierung einer Theorie Einfluss auf die Kollegen auszutiben. Obwohl eine gute Positionierung sehr stark von der Leistung eines Wissenschaftlers abh~ingt, kann man auch beobachten, dass die Zugeh6rigkeit zu einem erfolgreichen Netzwerk das Kapital eines Wissenschaftlers steigem kann. Wenn man beispielsweise Schtiler eines renommierten Wissenschaftlers ist, hat man eine bessere Ausgangsposition als andere Kollegen. Dies geschieht nicht nur, weil man als Schtiler eines bertihmten Wissenschaftlers eine bessere Ausbildung bekommt oder auch nicht nur, weil andere Wissenschaftler diese Hierarchie problemlos respektieren. Es hat auch damit zu tun, dass dieser Schtiler durch den Kontakt mit der Arbeit eines gut positionierten Wissenschaftlers einen ge36
wissen Habitus entwickeln wird, der ihm helfen wird, sowohl die Grenzen als auch die M6glichkeiten eines in diesem Fach herrschenden theoretischen Rahmens anzuerkennen, namlich einen Rahmen, der wegen seiner Position anschlussfdhiger als andere ist. Diese Feldhierarchie muss aber nicht mit der formellen Hierarchie einer Organisation verwechselt werden, weil es passieren kann, dass es einen Forscher gibt, der eine sehr gute Position im Feld seines Faches genieBt, die aber keine gute Position innerhalb der formellen Organisation hat. Da diese zwei unterschiedlichen Arten von Kapital sind, garantiert das wissenschaftliche Kapital allein die institutionelle Positionierung nicht. Selbstverst~ndlich macht die Steigerung des wissenschaftlichen Kapitals die positive Positionierung innerhalb einer Organisation wahrscheinlicher. Dies geschieht, weil die Organisationen (Forschungsinstitute, usw.) auch im Feld konkurrieren und aus diesem Grund ist es immer gut fiir sie, ihre renommierten Wissenschaftler als Kapitalmerkmale zu benutzen. Man darf aber nicht vergessen, dass diese ,,Riickkopplung" keine notwendige Folge ist. Eines der zentralen Ziele meiner Untersuchungen bezieht sich auf die Entwicklung eines theoretischen Rahmens, der die gegenseitige Erg~inzung der System- und Feldbegriffe anhand der Programmierungsproblematik erm6glicht. Es geht also nicht um eine einfache Oberschneidung von Begriffen, vielmehr geht es hier um die koh~irente Konstruktion eines soziologischen Beobachters. In diesem Sinne wird der Feldbegriff als eine Struktur verstanden, die aus kommunikativen Positionen (also aus unterschiedlichen Theorien und Methoden, die gegeneinander konkurrieren, um eine besondere Disziplin zu bestimmen) besteht. Da die Positionierung innerhalb des Feldes nichts mit dem Willen eines Agenten (Akteur, Organisation, usw.) zu tun hat, sondern mit der Dynamik des Feldes, kann man behaupten, dass die Positionen eine ,,objektive Struktur" wiederspiegeln. Diese Felddynamik wird besonders durch die Akkumulation von Kapital bestimmt. Um diesen Akkumulationsprozess zu erklaren, ist es n6tig, den Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien als Mechanismen der Akzeptanzsteigerung mit dem Kapitalbegriff zu erg~inzen. Im Falle der Wissenschaft ist es deutlich, dass die Wahrheit sich gewissermal3en akkumulieren l~isst, und dass es durch diese Akkumulation bestimmten Wissenschaftlern gelingt, ein soziologisches Feld tempor~ir zu bestimmen. Wie schon erw~ihnt, bezieht sich diese Bestimmung nicht (oder nicht nur) auf die Wahrhaftigkeit spezifischer Behauptungen, sondern auf die Regeln des Feldes im Sinne der doxa. Durch dieses akkumulierte Kapital k6nnen also Individuen oder Gruppen sehr stark beeinflussen (und in extremen F~ille sogar bestimmen), was als legitime Forschungsfrage oder Forschungsgegenstand gilt. Falls es diesen Individuen oder Gruppen auch gelungen ist, institutionelles Kapital zu akkumu37
lieren, ktJnnen sie durch ihre Kriterien auch bestimmen, welche Forschung finanzielle Untersttitzung bekommt und welche nicht, usw. Wie schon gesagt, werde ich zu diesen Themen in sp~iteren Kapiteln zurtickkehren, um eine ausftihrliche Darstellung durchzuftihren. Jetzt ist es aber an der Zeit den Kreis zu schlieBen und die Soziologie auf sich selbst anzuwenden.
2.3
Die Operativittit der Soziologie
Eine soziologische Beobachtung der Soziologie kann durchgeftihrt werden, weil sie auch zu ihrem eigenen Forschungsgegenstand gehtirt, n~imlich der Gesellschaft. Wie die tibrige Gesellschaft besteht die Soziologie ausschlieBlich aus Kommunikation. Wegen dieser Selbstimplikation kann die Soziologie nicht mehr als eine Disziplin, welche die Gesellschaft von auBen beobachtet, begriffen werden. Die Soziologie findet immer in der Gesellschaft statt. Obwohl in soziologischen Biichem und Vorlesungen manchmal auch andere Kommunikationsarten, wie etwa die Moral, vorkommen, geh/Srt die Soziologie zum System der Wissenschaft. Die soziologische Kommunikation Risst sich denn durch wissenschaftliche Kriterien strukturieren. Dies heiBt, dass sie die Kommunikation mit Hilfe des Codes wahr / unwahr filtriert. Um die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation zu beschr~inken, nimmt sie das wissenschaftliche Kommunikationsmedium Wahrheit in Anspruch. Um ihre Programmierung effektiv durchf'tihren zu ktinnen, folgt die soziologische Kommunikation der oben erw~ihnten Feldlogik. Durch diese Feldlogik werden hierarchische Positionen innerhalb der Soziologie konstruiert. Diese Hierarchisierung l~isst sich durch die Akkumulation von unterschiedlichen Formen von Kapital bestimmen. Da der Feldbegriff sehr flexibel ist und sich auf sehr unterschiedliche Ebene anwenden l~isst, mtichte ich jetzt ein Paar Spezifikationen durchftihren. Zun~ichst mtichte ich sagen, dass ich nicht davon ausgehe, dass die gesamte Soziologie ein Feld ist. Die Disziplin ist zu komplex geworden, um zu denken, dass es tiberhaupt mtiglich w~e, sie empirisch als Ganzheit zu erfassen. Es ist eine andere Sache von der Soziologie als ein Teilsystem eines Teilsystems zu sprechen. Als Teilsystem begreife ich die Soziologie nicht als eine empirisch erfassbare Ganzheit, sondern als einen Horizont. Und zwar als der Horizont aller mtJglichen soziologischen Kommunikationen. Eine der Leistungen des Feldbegriffes liegt wiederum darin, dass man mit seiner Hilfe spezifische kommunikative R~iume begrenzen kann, um sie zu erforschen. Der Feldbegriff tRigt also dazu bei, die Verhaltnisse zwischen den verschiedenen Soziologien, die es innerhalb der Soziologie gibt, empirisch erfassbar zu machen.
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Da die Soziologie innerhalb der Gesellschaft vorkommt, fungiert sie als eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft (sie beschreibt also die Dynamik der Kommunikation durch die Kommunikation). Wenn sie andere Systeme wie etwa die Politik, die Wirtschaft oder das Recht beobachtet, f'tihrt sie eine Fremdbeschreibung dieser Systeme durch. Da sich diese anderen Systeme auch autopoietisch reproduzieren, haben die soziologischen Beschreibungen keine direkte Wirkung auf sie. Wenn die Soziologie die Wissenschaft beschreibt, f'tihrt sie eine Selbstbeschreibung der Wissenschaft durch, die keinen Universalismus beanspruchen kann, weil die Soziologie nur sozusagen ein Teilsystem dieses Teilsystems ist. Da es andere wissenschaftliche Beschreibungen der Wissenschaft gibt, muss diejenige der Soziologie gegen andere konkurrieren, um sich positionieren zu ktinnen. Wenn dies passiert, strukturiert sich die epistemologische Diskussion innerhalb des Wissenschaftssystems durch die Feldlogik.
2.4
Kampf um Positionierung: AuflOsung und Rekombination
Wenn die Soziologie nur aus Kommunikation besteht, versteht es sich von selbst, dass auch ihre Theorien und Methoden Kommunikation sind. Genau diese kommunikative Existenz der Soziologie ist die M6glichkeitsbedingung jeder Aufl/Ssung und Rekombination ihrer Elemente. Dies ist ein entscheidender Punkt for diese Untersuchung, weil die Elemente, die in diesen Reflexionen aufgel/Sst und rekombiniert werden sollen, auch als Kommunikation verstanden werden sollen. In diesem Sinne bleiben die Fragen nach der ,,ontologischen" Voraussetzung dieser Rekombination ausgeschlossen. Dies heiBt aber nicht, dass ich auf die logische Koh~enz in der Konstruktion von Argumenten verzichte. Es bedeutet nur, dass ich in den folgenden Untersuchungen nicht beanspruche, unterschiedliche Ebenen irgendeiner Realitiit zu vers6hnen, sondern nur unterschiedliche Elemente der Soziologie zu integrieren. Ich beanspruche also nur eine soziologische Koh~irenz. Alles, was hier analysiert wird, wird als Kommunikation verstanden. Diese soziologische Koh~irenz wird behilflich sein, um eine (relativ) neue Beobachtungsposition innerhalb der Soziologie zu schaffen. Ich gehe davon aus, dass es immer in der Soziologie, trotz ihrer theoretischen Vielf'~iltigkeit, einen gewissen Anspruch auf Einheit gibt. Ich denke selbstverst~indlich nicht, dass die hier entwickelte Theorie diese Einheit erreichen kann, bin aber der Meinung, dass sie diese Einheit beanspruchen kann. In diesem Sinne arbeite ich unter Zuhilfenahme einer als ob Priimisse, nach der es m6glich w~.re, eine einheitliche Theorie des Faches zu verfassen. In der Rekombination von friiher ungekoppelten Elementen versuche ich ein htiheres Beobachtungsverm6gen zu erreichen. 39
Die Soziologie kennt schon viele Beispiele solcher Synthesen. Ich m/Schte mich kurz auf zwei klassische Versuche beziehen: die verstehende Soziologie von Max Weber und die Handlungssystemtheorie von Talcott Parsons. Im Falle yon Max Weber ist wohl bekannt, dass er mit seiner verstehenden Soziologie zwei damals fiir unkommensurabel gehaltene methodologische Traditionen verband. In diesem Sinne gilt Webers Definition der Soziologie als eine der grtiBten intellektuellen Errungenschaften der Disziplin: ,,Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soil heiBen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen urs~ichlich e r k l ~ e n will". 32 Heutzutage metken wit kaum, dass die Begriffe ,,Verstehen" und ,,Erkl~en" aus sehr unterschiedlichen Traditionen stammen, n~imlich dem idiographischen Historismus und dem nomotetischen Positivismus und dass es eine intellektuelle Verwegenheit war, beide Begriffe innerhalb desselben Satzes zu erw~ihnen. Laut Weber sollte die Soziologie tiber das Verstehen der im Handeln von Akteuren sich wiederspiegelnden kulturellen Besonderheiten hinaus gehen, um auch die Entwicklung kausaler Erkl~irungslinien zu beobachten. Verstehen und E r k l ~ e n sind also die Voraussetzung einer wissenschaftlichen Soziologie. Die Theorie yon Talcott Parsons bietet ein anderes Beispiel solcher Synthesebemtihungen an. In seinem Werk The Structure o f Social Action 33 entwickelte Parsons seine bertihmte Konvergenzthese. Nach dieser These gehtiren die (damals auch als unkommensurabel betrachteten) Theorien von Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und Max Weber zu einem einzigen theoretischen Rahmen (reference frame), n~imlich die voluntaristische Theorie des Handelns. 34 Von diesem Referenzrahmen her entwickelte Parsons seine eigene Theode, die sich in der Formel ,,action is system" zusammenfassen l~isst. Das heiBt, dass das Handeln nur als System zustande kommen kann. In beiden F~illen ktinnen wir die Oberwindung einer Struktur ,,entweder ... oder" dutch eine mit der Form ,,sowohl ... als auch" beobachten. In beiden F~illen ist also die Dialogik impliziert. Der franz/Ssische Philosoph und Soziologe
32 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Ttibingen, 1976, S. 1. 33Talcott Parsons, The Structure of Social Action (1937), 2 Bde., New York, 1968. 34"In my own case this conviction was firmly established as a result of the work done in connection with The Structure of Social Action, ( .... ) That study dealt primarily with four major figures in the theory of social systems of the generation from approximately 1890-1915: Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkhiem and Max Weber. Judging by the secondary literature available at the time, they should be considered as diverse in points of view as any four thinkers one could have picked. It was possible, however, to demonstrate that their major conceptual schemes converged in terms of a common frame of reference and, at certain levels, a common substantive theoretical system." Siehe Talcott Parsons, Edward Shills (Hg.), Theories of Society, New York, 1965, S. 3 l, FN 2. 40
Edgar Morin bezeichnet diese Dialogik als ein fundamentales Prinzip des komplexeren Denkens, das die Dualit~it in einer Einheit bewahren l/isst, weil es zwei sowohl antagonistische als auch erg~inzende Begriffe vereinigt. 35 FiJr die folgenden Untersuchungen ist dieses Prinzip von grol]er Bedeutung, da sie sich um die Entwicklung einer neuen Synthese bemiihen. Wie ihre alten Vorbilder versucht sie auch Voreingenommenheiten zu tiberwinden. Genau wie damals existieren auch heute Theorien, die fur unkommensurabel gehalten werden. Viele Soziologen und Soziologinnen denken, dass es tatsiichlich deutliche und untiberwindliche Grenzen gibt, die eine Theorie von einer anderen trennen. In vielen F~illen beziehen sich jedoch diese Grenzen nicht auf wissenschaftliche Kriterien. In solchen Trennungen geht es mehr um Religion im Sinne Durkheims als um Wissenschaft. Die Theorien werden als sakralisierte Figuren betrachtet, die von ,,fremden" Gedanken nicht beriihrt werden mtissen. Man f'tihlt sich fast beleidigt, wenn jemand Begriffe aus zwei theoretischen Welten mischt. Erst in der Plausibilit~it solcher Erg~inzungen bemerkt man jedoch, dass die Theorien nicht von ,,Natur" aus getrennt sind. Um ihre Reinheit zu bewahren, mUssen sie von den anderen Theorien aktiv getrennt werden. Die Priester, die diese Man6ver durchsetzen, versuchen mit der Verteidigung der Theorie normalerweise auch ihre Position innerhalb des soziologischen Feldes zu bewahren. Wenn man Elemente aus unterschiedlichen Theorien rekombiniert, schafft man also nicht nur eine relativ neue Theorie, die nach den Kriterien der Wissenschaft bewertet werden kann, sondem auch einen neuen Beobachter, der am Kampf fur Positionierung innerhalb eines Feldes teilnehmen wird. Dieser Positionierungskampf impliziert immer Bemtihungen um das Monopol der Fachdefinition innerhalb eines spezifischen Kontextes. Es wird nicht behauptet, dass die Einrichtung eines solchen Monopols von den Individuen beabsichtigt wird, sondem nur, dass die Dynamik des Feldes die kommunikativen Positionen in Konkurrenz zueinander setzt. Ein Individuum kann die Leistung unterschiedlicher Theorien anerkennen oder nicht ganz sicher von seinen eigenen Antworten sein. Allerdings w~ire es unm6glich, diese Anerkennung und diese Unsicherheit in der Kommunikation st~indig reflexiv einzubeziehen. Da jede Behauptung letztendlich eine Beobachtung erster Ordnung ist, braucht man immer Zeit, um ein solches re-entry durchf'tihren zu k6nnen. Die Mechanismen und Ergebnisse der Feldlogik befinden sich also jenseits des Willens der Forscher. Psychologisch muss er nicht die Dynamik eines Feldes als Kampf erfahren, weil die Dynamik um Positionierung ein soziales Ph/inomen ist. Selbstverst/indlich kann es auch Forscher geben, die ganz bewusst strategisch handeln, um mehr Kapital bzw. eine bessere Position zu erlangen. 35Siehe Edgar Morin, Introductionh la pensde complexe, 1990,S. 98 ft. 41
Allerdings w~e es ein Fehler, diese F~ille von bewusster ,,Rationalit~it" zu verallgemeinern, wie die Theorie der rational choice es tut. Wie wir sp~iter sehen werden, mtissen die Strategien nicht (oder nicht immer) im Bereich des diskursiven Bewusstseins gesucht werden, sondern in der strukturellen Kopplung des praktischen Bewusstseins mit der Kommunikation. Nach dieser wissenssoziologischen Beobachtung der Soziologie bin ich endlich in der Lage, mit den theoretischen Analysen anzufangen. In diesen Analysen werde ich mich mit zwei Bezugsproblemen, n~imlich dem Problem der Struktur und dem Problem der Differenzierung besch~iftigen. Die im Laufe dieser wissenssoziologischen Reflexionen entwickelte Begrifflichkeit wird bei diesen Analysen behilflich sein, weil die Theorien, die ich f'tir diese Analysen in Anspruch nehme, als ,,Akteure" im Feld der soziologischen Theorie begriffen werden sollen.
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BO
Q
Gesellschaftliche Strukturierung Klassische Perspektiven zum Problem der Struktur
Die soziologische Theorie hat sich mit keinem anderen Problem so sehr besch~iftigt wie mit dem Problem der Struktur. FiJr eine gesellschaftliche Figuration, die das Erbe der Aufkl~irung so hoch sch~itzt, gilt der Strukturbegriff als intellektuelle Herausforderung. Auf der einen Seite ist die Idee einer strukturlosen Welt unvorstellbar. Aber auf der anderen Seite finden wires sehr unangenehm, dass es etwas Externes gibt, das unseren Willen und unsere Freiheit begrenzt. Zweifellos hat der menschliche Narzissmus in den letzten zwei Jahrhunderten viel ertragen miJssen. Zun~ichst im Bereich der Philosophie und danach im Bereich der Sozialwissenschaften haben die Forscher sich darum bemtiht, die sozialen Grenzen des menschlichen Willens aufzuzeigen. Am Anfang war ihnen nicht klar, dass diese Grenzen gesellschaftsimmanent sind und deshalb haben sie diese Strukturen au6erhalb der Gesellschaft gesucht. Diese transzendenten Strukturen sollten sich in der Geschichte als eine ontologische Notwendigkeit verwirklichen. Solch eine teleologische Idee der Geschichte finden wir beispielsweise sowohl bei Kant als auch bei Hegel.
3.1
Das Proletariat als Subjekt der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels
Erst mit den Theorien des 19. Jahrhunderts hat diese Reflexion sich allm~ihlich soziologisiert. Die pr~ignanteste Formulierung dieses Problems befindet sich zweifellos im Werk von Karl Marx Der 18te Brumaire des Louis Napoleon: ,,Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stiicken, nicht unter selbstgew~hlten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und iJberlieferten Umst~inden". 36 Ftir Marx war es also nicht nur klar, dass die Menschen die Agenten ihrer Geschichte sind, sondern auch, dass das menschliche Handeln von sozialgeschichtlichen Strukturen begrenzt ist. Eine angemessene Anwendung dieser Formulierung k6nnen wir jedoch im theoretischen Programm von Marx nicht finden, da er immer noch sehr stark von einer teleologischen Geschichtsidee gepr~igt war. Es ist bekannt, dass Marx Notwendigkeit in der Geschichte sah und aus diesem Grund war das
36 Karl Marx, Der 18te Brumaire des Louis Napoleon (1852), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 8, Berlin, 1982. 43
menschliche Handeln nur die Durchfiahrung eines schon geschriebenen Drehbuchs. Im Werk von Marx (besonders vom sogenannten sp~.teren Marx) k6nnen wir auch andere Beispiele dieser Uberlegenheit der Struktur gegentiber dem menschlichen Handeln beobachten. Das bekannteste Beispiel bezieht sich auf die t~berragende Rolle der Produktionsverh~iltnisse (in Bezug auf das evolution~ir erreichte Niveau der Produktionsmittel) als Ausltiser der geschichtlichen Entwicklung. Trotz der dialektischen Komplexit~t seiner Analyse konnte Marx diesem wirtschaftsbezogenen Determinismus nicht entgehen. oo
3.2
Zwischen Form und Inhalt: Die Soziologie von Georg Simmel
In der ersten Generation der Klassiker der Soziologie finden wir neue Versuche dieses Problem zu ltisen. Georg Simmel versuchte dieses Problem mit Hilfe des Wechselwirkungsbegriffes zu erkl~en. Simmel lehnte die Tradition ab, die fest an die (ontologische) Realit~it von Erscheinungen wie den Staat, die Nation oder die Produktionsgesetze glaubte. Ihm war klar, dass die sozialen Ph~inomene keine substantiellen EntitY.ten sind. Aus diesem Grund verstand Simmel den Gesellschaftsbegriff als einen gemeinsamen Nenner, der das Ph~inomen der Wechselwirkung in der Interaktion zwischen Individuen bezeichnete. In seinem bertihmten Werk ,,Soziologie" definierte Simmel den Gesellschaftsbegriff folgendermal3en: ,,Ich gehe dabei von der weitesten, den Streit um Definitionen mSglichst vermeidenden Vorstellung der Gesellschaft aus" dass sie da existiert, wo mehreren Individuen in Wechselwirkung treten". 37 In diesem Sinne machen die Individuen die Gesellschaft nicht aus, sondern ihre wechselseitigen Beziehungen, ihre Interaktionen. Um diesen prozessualen Charakter des Sozialen zu betonen, sprach Simmel nicht von Gesellschaft, sondern von Vergesellschaftung. Explizit benutzte Simmel den Strukturbegriff kaum. Das heiBt aber nicht, dass er, was ich als das Problem der Struktur bezeichnet habe, nicht in Anspruch genommen hat. Die klassische Idee, dass das Ganze mehr als die blol3e Summe seiner Teile ist, war Simmel nicht fremd. In diesem Sinne lehnte er nicht nur den Gesellschaftsbegriff als Ausgangspunkt des soziologischen Denkens, sondern auch das Individuum als analytische Einheit der Disziplin ab. Die eigentliche Arbeit der Soziologie fiJr Simmel bestand darin, die Formen, die wiihrend der wechselseitigen Interaktion unter Individuen entstehen, zu erforschen. Genau diese Vergesellschaftungsformen ktinnen wir als )~quivalent des Begriffes sozialer Struktur benutzen. 37Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen tiber die Formen der Vergesellschaftung (1908), in" ders., GesamtausgabeBand 11, Frankfurt/M., 1992, S. 17. 44
Die Methodologie von Simmel beruht auf einer Grundunterscheidung zwischen Form und Inhalt. W~ihrend der Inhaltsbegriff sich auf k6rperliche und psychologische Zust~.nde und Triebe, also auf das noch nicht Soziale, bezieht, bezeichnet der Formbegriff das Ergebnis von Vergesellschaftungsprozessen. Beispielsweise kann der Hunger nicht als soziales Ph~.nomen bezeichnet werden, weil er sich auf eine im Prinzip individuelle physiologische Notwendigkeit bezieht. In diesem Sinne ist der Hunger blo6er Inhalt. Aber wenn die Menschen (aus unterschiedlichen Grtinden) eine gewisse Mahlzeit instituieren, um das Problem des Hungers zu 16sen, befinden wir uns vor einem Ph~nomen sozialen Ursprungs. Es ist wohl bekannt, dass f'tir Simmel das Geld eines der ftir die Moderne bedeutendsten Beispiele dieser Formen war. 38 In der Wiederholung gewinnen diese Vergesellschaftungsformen an Konsistenz, so dass es for die Menschen fast unm6glich ist, sie absichtlich zu ~indern. Aus der Perspektive einer Lebensphilosophie interpretierte Simmel diese Entstehung von Formen (als ,,Beh~.lter" des Lebens) als tragisches Schicksal der Menschheit. Da die Menschen nur in Gesellschaft (also nur in wechselseitigen Interaktionen) leben ktinnen, k6nnen sie der Schaffung von Formen nicht entkommen. Im Laufe der Zeit trennen sich diese Formen jedoch von ihren Sch6pfern und setzen sich ihnen als leblose Beh~ilter entgegen, die ihre Kreativit~it begrenzen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Menschen nicht nur die Gesellschaft machen, sondern auch sie erleiden miissen. Die Tragtidie der Kultur nach Simmel bezeichnet diesen ewigen Kampf zwischen Leben (Inhalt) und Form. Also, die Dialektik zwischen formgewordener und formloser Kreativit~it. 39
3.3
Emile Durkheim und die Soziologisierung von Immanuel Kant
Die Anwendung der Unterscheidung Form / Inhalt als Basis der soziologischen Forschung wurde von Emile Durkheim sehr stark kritisiert. Im Gegensatz zu Simmel behauptet Durkheim, dass es soziologisch ein Fehler ist, Inhalte von Formen zu trennen. Was Simmel als zwei Realit~itstypen pr~.sentiert, sind laut Durkheim Tatbest~inde derselben Natur, die nur aus zwei unterschiedlichen Verallgemeinerungsebenen beobachtet werden. 4~
38 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), in ders., Gesamtausgabe Band 6, Frankfurt am Main, 1989. 39 Georg Simmel, ,,Der Begriff und die Trag6die der Kultur" (1911) in ders. Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur. Gesamtausgabe Band 14, Frankfurt am Main, 1996, S. 385-416. 40 Emile Durkheim, ,,La sociologie et son domaine scientifique" (1900) in: ders: Textes 1. El6ments d'une th6orie sociale, Paris, 1975, S. 13 ff.
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Die Schw~iche der Methodologie von Simmel kann man sehr deutlich in seiner Analyse der Liebe sehen. Im Gegensatz zum physiologischen Ph~nomen des Hungers ist die Idee der Liebe schon als Inhalt (also als ,,individueller" Trieb) sozial mitbestimmt. Jede Kultur entwickelt ihre eigene Vorstellung der Liebe und es ist gerade diese soziale Vorstellung, die es den Individuen ermtiglicht, Liebe zu empfinden (und nach der Liebe zu suchen). In diesem Sinne sind auch Motive und Absichten Ph~inomene sozialen Ursprungs. 4~ In der Soziologie von Durkheim verschwindet das Individuum und taucht die Gesellschaft auf, nicht nur als Ergebnis der Interaktion (Vergesellschaftung), sondern als ein moralisches Milieu, das unsere ganze Existenz bestimmt. Obwohl die Gesellschaft aus Individuen besteht, kann man sie soziologisch nur in ihrer Emergenz beobachten, also als eine Realit~it sui generis. In Bezug auf das Problem der Struktur miissen wir die Soziologie von Durkheim auf zwei Ebenen analysieren. Diese zwei Ebenen beziehen sich in gewisser Hinsicht auf das Werk von Immanuel Kant und sind von groBer Bedeutung f'tir die Geschichte der Sozialwissenschaften, weil sich zwei der wichtigsten Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, n~imlich der Strukturfunktionalismus (Talcott Parsons) und der Strukturalismus (Claude L6vi-Strauss) von diesen Ideen ableiten lassen. Es ist wohl bekannt, dass das Hauptziel des ,,kritischen Idealismus" von Kant die Oberwindung des Gegensatzes zwischen Rationalismus und Empirismus war. Fiir ihn sollten die wissenschaftlichen Aussagen sowohl allgemeingiJltig und notwendig als auch Ergebnis der Erfahrung sein. Um die wissenschaftliche Wahrheit vonder blol3en Wahrscheinlichkeit und dem Skeptizismus zu retten, schlug Kant den Begriff der synthetischen Urteile a priori vor. Es sind diese apriorischen Formen, die unsere (empirische) Erfahrung ordnen. Unter den wichtigsten apriorischen Formen befinden sich die sogenannten Anschauungsformen von Raum und Zeit. Aber der Apriorismus von Kant geht tiber die Kritik der reinen Vernunft hinaus. Auch im Bereich der praktischen Vernunft (Ethik, Rechts-, Staats-, und Religionsphilosophie) kann man solchen apriorischen Formalismus finden. Unabh~ingig von den empirischen Bedingungen des Handelns gilt der kategorische Imperativ. Da diese reinen Formen sich aus den subjektiven Gesetzm~il3igkeiten des Geistes ableiten lassen (und nicht aus der ontischen Struktur der Gegenst~inde), nennte Kant seine Philosophie eine Transzendentalphilosophie. In diesem Sinne bezieht sich der kritische Idealismus auf ein transzendentales Subjekt. 41 Man muss aber auch sagen, dass Simmel seine eigene methodologische ,,Leitunterscheidung" nicht so ernst genommen hat. Mit ihr hat er viet gespielt und in diesem Sinne hat er ihre Grenze anerkennt. 46
In seinen Analysen nimmt Durkheim diese zwei Ebenen, n~imlich die Kognition und das Handeln in Anspruch, um die Oberlegenheit der Ergebnisse der soziologischen Forschung zu beweisen. Um diese Aufgabe durchf'tihren zu k6nnen, war es jedoch notwendig, den Begriff des transzendentalen Subjektes durch den der Gesellschaft zu ersetzen. In diesem Sinne hat Durkheim den Apriorismus soziologisiert. Wie schon im ersten Kapitel erw/ihnt, hat Durkheim viel zur Entstehung der Wissenssoziologie geleistet. Fiir Durkheim k6nnen weder die Klassifizierungsformen noch die Verstandskategorien wie Raum oder Zeit als Produkt der T~itigkeit eines Individuums oder eines transzendentalen Subjekts begriffen werden, weil sie als reprdsentation collectives sozialen Ursprungs sind. Was diese wissenssoziologischen Behauptungen mit dem Problem der Struktur zu tun haben, bezieht sich auf die Tatsache, dass Menschen nicht auBerhalb der Gesellschaft denken k6nnen. In diesem Sinne ist nicht nur ihre Logik, sondern auch ihre Einbildungskraft von der gesellschaftlichen Umgebung bestimmt. Selbstverst~indlich haben die Individuen die physiologische Kapazit/it, Gedanken herzustellen. Allerdings w/ire es fur sie ohne die Gesellschaft unm6glich gewesen, jede Art von Komplexit~it zu erreichen. In diesem Sinne versteht Durkheim den Menschen als ein gedoppeltes Wesen" ,,un &re individuel qui a sa base dans l'organisme et dont le cercle d'action se trouve, par cela m~me, 6troitement limit6, et un ~tre social qui repr6sente en nous la plus haute r6alit6, dans l'ordre intellectuel et moral, que nous puissions conna~tre par l'observation, j'entends la soci6t6. Cette dualit6 de notre nature a pour cons6quence, dans l'ordre pratique, l'irr6ductibilit6 de l'id6al moral au mobile utilitaire, et, dans l'ordre de la pens6e, l'irr6ductibilit6 de la raison ~ l'exp6rience individuelle". 42 In diesem Zitat k6nnen wir sehr deutlich die zwei erw/ihnten Bereiche beobachten, n~imlich den Bereich des Denkens und den des Handelns. Zweifellos haben die Ideen von Durkheim iiber den Bereich des Denkens den Strukturalismus von Claude L6vi-Strauss stark beeinflusst. Sp/iter werde ich zu diesem Einfluss kommen. Jetzt ist es aber Zeit, vom zweiten Bereich, n/imlich vom Bereich des Handelns zu sprechen. 1887 schrieb Durkheim einen langen Aufsatz iiber die positivistische Wissenschaft der Moral in Deutschland. In diesem Aufsatz stellte Durkheim fest, dass in Frankreich nur zwei Typen von Moral bekannt waren: ,,celle des spiritualistes et kantiens d'une part, et celle des utilitaires de l'autre". 43 Zu dieser Zeit war Durkheim sehr begeistert von den sozialwissenschaftlichen Entwicklungen,
42Emile Durkheim, Les formes 616mentairesde la vie religieuse, a.a.O., S. 23. 43 Emile Durkheim, ,,La science positive de la morale en Allemagne" (1887), in: ders. Textes I. El6ments d'une theorie sociale, a.a.O., S. 267. 47
die sich in Deutschland vollzogen, 44 besonders weil diese Entwicklungen der Richtung der Ideen von Comte entsprachen. Die Wissenschaft der Moral sollte also nicht mehr mit der Analyse abstrakter Prinzipien anfangen, sondern mit der empirischen Beobachtung konkreter moralischer Gesetze. Mit Hilfe dieser positivistischen Methodologie versuchte Durkheim sowohl den kritischen Idealismus von Kant als auch den Utilitarismus 45 zu tiberwinden. Das eigentliche Ziel solcher Uberwindung war die Entwicklung einer soziologischen Erkl~irung der MiSglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung. Sein erster Uberwindungsversuch findet sich in der Forschung tiber die gesellschaftliche Funktion sozialer Arbeitsteilung. 46 Die Leitfrage dieser Forschung bezieht sich auf das Problem der Struktur als Problem der Grenzen" wie ist es in der Moderne tiberhaupt m/Sglich, die Entwicklung der individuellen Autonomie mit der Abh~ingigkeit von der Gesellschaft zu vers/Shnen? Wie k6nnen wir sowohl autonom als auch solidarisch sein? Um diese Frage zu beantworten, ftihrte Durkheim die bertihmte Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarit~it ein. Der Begriff von mechanischer Solidarit~it wird von Durkheim benutzt, um die segmenfftren Gesellschaften zu beschreiben. Ein starkes Kollektivbewusstsein (conscience collective) ist ganz charakteristisch ftir diese gesellschaftlichen Ordnungen. Diese Gesellschaften haben keinen Raum ftir das Individuum, da es eine absolute Deckung des individuellen Bewusstseins mit der sozialen Ordnung gibt. In dieser Art von Gesellschaft nimmt das auf Normen basierende Recht die Form des Strafrechtes ein. Dieser Art von Recht nach sollen die Verbrecher durch repressive Mal3nahmen wie Folter, Freiheitsstrafen oder Ehreverlust gestraft werden. Im Strafrecht ktJnnen wir den gesellschaftlichen ,,~iul3eren Zwang", von dem Durkheim in seiner bertihmten Definition sozialer Tatbest~ind e 47 spricht, sehr deutlich sehen. In den modernen Gesellschaften ktinnen wir im Gegensatz dazu eine zunehmende Differenzierung beobachten. In diesem Sinne hat der Prozess der sozialen Arbeitsteilung zur Individualisierung und zum Schw~ichen der bindenden Kr~ifte des Kollektivbewusstseins beigetragen. Trotz dieses Schw~ichens des Kollektivbewusstseins verschwindet die Gesellschaft nicht. Ein ,~quivalent oo
44 Der Text von Durkheim bezieht sich besonders auf Autoren wie Wilhelm Wundt, Albert Sch~iffle, Adolf Wagner und Gustav Schmoller. 45 Eine kurze Erkl~irung der Hauptthesen des Utilitarismus werde ich im Abschnitt tiber Talcott Parsons durchf'tihren. 46 Emile Durkheim, De la division du travail social (1893), Paris, 1998. 47 ,,Est fait social toute mani~re de faire, fixEe ou non, susceptible d'exercer sur l'individu une contrainte ext6rieure 9 ou bien encore, qui est g6n&ale dans l'entendue d'une soci6t6 donnEe tout en ayant une existence propre, ind6pendant de ses manifestations individuelles", Emile Durkheim, Les r~gles de la mEthode sociologique (1894), Pads, 1988, S. 107.
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muss es in der Moderne geben, das die Funktion des starken Kollektivbewusstseins erfiillt. Es ist genau die Arbeitsteilung selbst, diejenige, welche die Existenz der modernen Gesellschaft gewahrleistet. Sie ist nicht das Ergebnis des klugen Subjekts des Utilitarismus, der durch die Befriedigung menschlicher Bediirfnisse mittels der Produktionszunahme das menschliche Gliick vermehren will. Die Arbeitsteilung ist Ergebnis gesellschaftlicher Evolution und in diesem Sinne bezieht sie sich auf positivistische Ph~inomene wie das Bev61kerungswachstum und die entsprechende Zunahme stabiler menschlicher Verh~ltnisse. Wegen dieser Arbeitsteilung sind wir voneinander abh~.ngiger als je zuvor. Allerdings hat diese Abh~ingigkeit eine ganz neue normative Ordnung als Folge. In diesem Sinne folgt der Funktionsdifferenzierung eine Moraldifferenzierung. Da die Gesellschaft ein moralisches Milieu ist, kann sie ohne Normen nicht existieren. Aus diesem Grund entwickeln sich in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen funktionsspezifische Normen. Die Rechtsform, die charakteristisch f'tir solche Gesellschaften ist, bezieht sich auf den Begriff der Restitution. In diesen rechtlichen Verfahren beansprucht der KRiger nur die Riickerstattung. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Recht die Zeit ,,umkehrbar" macht, weil nach dem Verfahren alles zum ,,urspriinglichen" Zustand, also zu jedem Zustand, den es vor der Klage gab, zuriickkehren muss. Wenn man einen solchen Prozess verliert, bedeutet das nicht, dass man auch seine Ehre verloren hat. Zum Restitutionsrecht geh6ren sowohl das Zivilrecht und das Verfassungsrecht als auch das Handelsrecht. In diesem Sinne ist Durkheim also nicht der Meinung, dass die Individuen in den modernen Gesellschaften nur ihren eigenen Interessen folgen. Tats~ichlich gibt es in der Moderne mehr Vertr~ige (typische Form des Restitutionsrechts) als je zuvor, aber die Geltung eines Vertrages setzt immer andere gesellschaftliche Normen voraus. In diesem Sinne muss es immer nicht-vertragliche Elemente, welche die Geltung eines Vertrages gew~ihrleisten, geben. Allerdings lassen sich diese nicht-vertraglichen Elemente nicht aus der Angst vor dem oben erw~ihnten ,,~iuBeren Zwang" ableiten. In diesem Sinne sehen wir im Gesetz nicht (oder nicht nur) einen ,,~iuBeren Zwang", sondern eine moralische Autorit~it, mit der wir uns mittels der Sozialisation identifizieren ktinnen. Hier kann man schon den Keim jener ,,Kulturwende" des Werkes von Durkheim sehen. 48 Diese Wen48 Die ,,Kulturwende" von Durkheim ist sehr umstritten. FiJr Autoren wie Talcott Parsons oder Jeffrey Alexander ist sie ganz deutlich. Diesen Autoren nach war der sp~itere Durkheim weniger positivistisch und materialistisch und mehr voluntaristisch und idealistisch als der friihere. Andere Autoren wie etwa Anthony Giddens sind der Meinung, dass es zwischen den frtiheren Werken und den sp~iteren Werken keine Umorientierung, sondern eine Kontinuit~t gibt. Zur ersten Meinung siehe: Talcott Parsons, The Structure of Social Action (1937), a.a.O, und Jeffrey Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Bd. 2: The Antinomies of Classical Thought: Marx, and Durkheim, London, 1982. Zur Gegenmeinung sieht: Anthony Giddens, Durkheim, Hassocks, 1978. Im Rahmen
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de wird besonders deutlich im Buch" Les formes dl~mentaires de la vie religieuse.
Mit der Analyse der ,,primitivsten" Art von Religion zeigt Durkheim, dass das rituelle Handeln nicht nur eine negative Seite hat (zum Beispiel als Ritualisierung der Strafe), sondern auch eine positive Kraft besitzt, die zur gesellschaftlichen Integration entscheidend beitr~igt. Diese Riten beziehen sich auf kollektive Vorstellungen religitiser Art, welche die Welt in zwei Kategorien trennen, n~imlich sakral und profan. Da diese Trennung sich nur gesellschaftsimmanent erkl~en l~isst, stellt Durkheim fest, dass durch ihre Riten die Menschen die Gesellschaft (als kollektive Vorstellungen mit normativen Kr~iften) preisen. Obwohl die moderne Gesellschaft sich strukturell vonder primitiven Gesellschaft unterscheidet, kann man die Fortsetzung dieser normativen Integrationsdynamik immer noch beobachten. Als andere Art von Vorstellungen k/Snnen wir ,~quivalente f'tir das primitive Totem finden. Ein klares Beispiel: der Individuumskult, wie er charakteristisch fiir moderne Gesellschaften ist. Wie schon erw~ihnt tibte das Werk von Durkheim einen grol3en Einfluss auf die Entwicklung von zwei Denkrichtungen aus, die das 20. Jahrhundert gepr~igt haben, n~imlich den Strukturfunktionalismus und den Strukturalismus. In den folgenden Abschnitten werde ich diese Denkrichtungen anhand zwei ihrer prominentesten Vertreter, n~imlich Talcott Parsons und Claude LAvi-Strauss darstellen. Man kann problemlos behaupten, dass keine anderen Theoretiker eine wichtigere Rolle ftir das Problem der Struktur gespielt haben. Diese Bedeutung kann in der Distanzierung gegenw~irtiger Strukturkonzepte gegeniiber solchen Theoden best~itigt werden. Wenn wir die eigentlichen Leistungen gegenw~.rtiger Theorien (an)erkennen wollen, ktinnen wir auf die Analyse dieser wichtigen Referenzen nicht verzichten. 3.4
Das Handlungssystem von Talcott Parsons
Bevor er sein soziologisches Projekt 1937 mit der Vertiffentlichung des Werkes The Structure of Social Action anfing, besuchte Talcott Parsons Veranstaltungen in unterschiedlichen F~ichem, darunter Biologie, Philosophie (Schwerpunkt: Kant) und Okonomie. In diesem letzten Fach setzte er sich mit der damals herrschenden Erkl~ungsperspektive des menschlichen Handelns, n~imlich dem (tikonomisch gepr~igten) Utilitarismus auseinander. Der Utilitarismus besagt, dass das menschliche Handeln durch die Suche nach dem griSI3tmtiglichen Nutdieses Kapitels werde ich die Idee der ,,Kulturwende" behalten, da sie der Interpretation von einem Autor, der eine entscheidende Bedeutung f'tir die Problematik der Struktur hat, n~imlich Talcott Parsons entspricht.
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zen motiviert ist. Dieser Nutzen wird als jener Gleichgewichtspunkt zwischen maximaler Befriedigung und minimaler Bemtihung verstanden. Aus diesem Grund muss das utilitaristische Individuum rationale Orientierungsrahmen fur sein Handeln entwickeln. Das hei6t, dasses die bestm6glichen Medien for das Erreichen eines individuell bestimmten Zweckes ausw~ihlt. Die auf dem Utilitarismus basierte Ethik besagt allerdings, dass der MaBstab moralischen Handelns nicht nur der individuelle Nutzen, sondern auch der soziale Nutzen (als M6glichkeitsbedingung des individuellen Nutzens) sein m u s s . 49 Wie Durkheim dachte Parsons, dass die Prinzipien des Utilitarismus unangemessen for die Erkl~ung einer normativen Ordnung wie die Gesellschaft sind, da eine solche ,,utilitaristische Ordnung" nur durch die Ausiibung ~iul3eren Zwangs gew~ihrleistet werden k6nnte. Das klarste Beispiel der empirischen Folgen solcher utilitaristischen Ordnung befinden sich laut Parsons im Leviathan von Thomas Hobbes. 5~ In diesem Sinne war die Soziologie fiJr Parsons die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem ,,Hobbeschen Problem sozialer Ordnung" besch~iftigen mi~sste. Fi~r Hobbes sind die Menschen im Prinzip gleich sowohl in ihren geistlichen als auch in ihren kOrperlichen F~ihigkeiten (selbstverst~indlich gibt es einige Unterschiede, die jedoch keine grol3e Rolle spielen). Hobbes begreift den Menschen nicht nur als ein vernUnftiges Wesen, sonder vor allem als ein leidenschaftliches Wesen. Bei Hobbes ist die Vernunft (als F~ihigkeit zum Kalkulieren) sozusagen im Dienst der Leidenschaften. Diese leidenschaftlichen Triebe beziehen sich auf gewtinschte Gegenst~inde. Um diese Wtinsche zu erfiillen, mtissen die Menschen rational denken. Da der menschliche Geschmack so unterschiedlich ist und da es in diesem ,,Naturzustand" genug Ressourcen fiir die Befriedigung aller Wiinsche gibt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich zwei Menschen denselben Gegenstand wiinschen k6nnen. Aber genau wie die friedliche Ordnung der Insel ,,Utopia" (Tomas Morus 1516) hing dieses Wunschgleichgewicht von demographischen Variabeln ab. 5~ Wenn das Bev61kerungswachstum zur Ressourcenknappheit
Selbstverst~indlich ist diese Interpretation der Hauptthesen des Utilitarismus sehr umstritten. Allerdings reicht sie far die Zwecke unserer Forschung, weil sie wie die ,,Kulturwende" bei Durkheim der Interpretation von Talcott Parsons entspricht. Mehr Information tiber den Utilitarismus befindet sich in: John Stuart Mill / Jeremy Bentham, Utilitarianism and other Essays, London, 1987. Siehe auch Charles Camic, ,,The Utilitarians Revisited", in: American Journal of Sociology 85 (3), 1979, 516-550. 50 Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill (1651 ), Oxford, 1998. 51 Selbstverst~indlich hat Hobbes selbst das Verh~iltnis zwischen Bev61kerung und Ressourcen nicht so deutlich dargestellt. Hier geht es um eine Interpretation, die uns hilft, das Bild des ,,b6sen hobbeschen Menschen" zu vermeiden. Wie bekannt fanden diese demographischen Reflexionen ihre 49
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f'tihrt, besteht die MSglichkeit des Kampfes um den gewtinschten Gegenstand. 52 Dieser Kampf beruht auf der Vernunft der Individuen, welche die bestmtiglichen Strategien entwickeln, um ihre Wtinsche zu befriedigen. Eine solche Dynamik f'tihrt unvermeidlich zu einem Krieg aller gegen alle. Die groBe Paradoxie ist, dass die F~ihigkeiten der Vernunft zu einem absolut unverntinftigen Zustand f'tihren wtirden. In diesem Zustand ware es unmtiglich, Wtinsche iiberhaupt zu befriedigen. Die einzige Sorge ware das bloBe Uberleben. Da die Menschen diesen grol3en Widerspruch verstehen, instituieren sie mit Hilfe ihrer Vernunft den Staat (also die wirkliche Gesellschaft im Gegensatz zur blol3en ,,Volksmenge"). Durch diesen artificial man ktinnen die Menschen, die in einem bestimmten Territorium leben, die Bedingungen ihrer eigenen Existenz paktieren. Die Entstehung des Staates impliziert, dass jedes Individuum, das den Pakt abgeschlossen hat, dem Souver~in die Entscheidungskapazit~it und die Mittel zur Durchsetzung solcher Entscheidungen gibt. Der Souver~.n bietet dem Volk wiederum Sicherheit und Schutz an. Wer das Gesetz nicht respektiert, wird bestraft. Da es Angst vor der Strafe gibt, lernen sich die Menschen zu disziplinieren. Unter diesen gesetzlichen Bedingungen ktinnen die Untergebenen ihren Wiinschen folgen. In diesem Sinne wird die soziale Ordnung durch diese exogene Kontrolle gew~ihrleistet. Diese Argumentation lehnte Parsons ab, weil sie auf der menschlichen Angst beruhte. Ftir Parsons war es empirisch klar, dass die soziale Ordnung nicht auf der permanenten Bedrohung basiert, sondern auf einem geteilten Normenhorizont. Eine auf Werte basierte Moral war also die Bedingung der MtJglichkeit sozialer Ordnung. Allerdings war diese Moral keine aul3ere Struktur, die sich gegen die Individuen durchsetzt, sondern eine Struktur, welche die Individuen im Prozess der Sozialisation verinnerlichen. Genau hier liegt der Voluntarismus der Theorie von Parsons. Ein Handeln kann sich selbst nicht verwirklichen, weil es immer vom Willen eines Akteurs abh~ingig ist. Ohne Energie also ohne menschliche Anstrengung (effort) kann ein Handeln nicht zustande kommen. Aus diesem Grund lehnte Parsons den historischen Materialismus von Karl Marx ab. Fiir Parsons gibt es in dieser Theorie keinen Raum fiir den Willen des Akteurs, weil sie sich auf einer ontologisch-geschichtlichen Notwendigkeit basiert. Da die Geschichte schon ein Ziel hat, k/Snnen die Menschen sich nur an dieses Drehbuch anpassen. In diesem Sinne versuchte Parsons mit seiner volundefinitive wissenschafiliche Formulierung 1798 im klassischen An Esssay on the Principle of Pupulation von Thomas Malthus. 52 ,,From this equality of ability, ariseth equality of hope in attaining of our ends. And therefore if any two men desire the same thing, which nevertheless they cannot both enjoy, they become enemies; and in their way to their end, (which is principally their own conservation, and sometimes their delectation only,) endeavour to destroy, or subdue one another", Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., S. 83. 52
taristischen Handlungstheorie nicht nur das Hobbessche Problem sozialer Ordnung zu 10sen, sondern gewissermal3en auch die Dichotomie zwischen Materialismus und Idealismus. U m das Handeln analysieren zu k6nnen, fiihrt Parsons eine analytische Auf16sung seiner Elemente durch. Die daraus entstehende Einheit nennt er den act unit. Die Komponenten des Handelns laut Parsons sind: 1) Ein Akteur. 2) Ein Ziel (zuktinftiger Zustand). 3) Eine Situation, die in Umst~inde und Mitteln geteilt wird (der Akteur kontrolliert die Mittel, aber nicht die Umst~inde). 4) Die Definition dieser Elemente wird durch geteilte normative Kriterien durchgefiihrt. In diesem Sinne ist das Handeln immer ein System. Das heiBt, dass das Handeln nur als Ergebnis der Kombinierung dieser Elemente zustande k o m m e n kann. Diese analytischen Elemente sind also die M6glichkeitsbedingungen der Emergenz von Handlung. 53 Diese nicht-utilitaristische Erkl~irung sozialer Ordnung beruht auch auf der sogenannten ,,Konvergenzthese". Dieser These nach konvergieren in einem einheitlichen theoretischen Rahmen (n~imlich: der voluntaristischen Handlungstheorie) die Untersuchungen von vier bedeutenden europ~iischen Wissenschaftlern, die im Prinzip nichts gemeinsam hatten. Die Autoren, mit denen sich Parsons auseinandergesetzt hat, waren: Emile Durkheim, Alfred Marshall, Vilfredo Pareto und Max Weber. Im Laufe der Entwicklung der Theorie von Parsons verschwanden Marshall und Pareto allm~ihlich und gewann das Werk von Sigm u n d Freud an Bedeutung. 54
53 Um diese Aufl6sung richtig verstehen zu k6nnen, muss man sich auf die epistemologische Perspektive von Parsons beziehen, n/imlich auf den analytischen Realismus. Da die Wirklichkeit so komplex ist, kann ein Beobachter sic in ihrer Ganzheit nicht erfassen. Aus diesem Grund muss er Selektionskriterien etablieren. Die Rigorosit/it solcher Selektion kann durch die systemische Wiederkombinierung dieser Elemente bewiesen werden. Wenn wir durch diese Wiederkombinierung einen ,,Teil" dieser Wirklichkeit rekonstruieren k6nnen, bedeutet das, dass unsere Selektion richtig war. 54 Eine iibliche Kritik an der Theorie von Parsons bezieht sich auf die angebliche Sp~iteinbeziehung des Werkes von Freud. Man sagt, dass Parsons die Reflexionen yon Freud zu einem schon fertigen theoretischen Rahmen hinzufiigt hat. In seiner intellektuellen Biographie erz~ihlt Parsons, dass es m6glich gewesen w~ire, die Ideen von Freud schon in The Structure of Social Action zu inkorporieren. Die fortgeschrittene Lage der Verfassung des Buches hat jedoch diese Inkorporation verhindert. Siehe Talcott Parsons, ,,On Building a Social System Theory: A Personal History" in ders.: Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York, 1977. In vielen Aufs/itzen zeigt Parsons Entwtirfe der Inkorporation von Freud zur Konvergenzthese. Siehe Talcott Parsons, ,,The Superego and the Theory of Social Systems" (1952) und ,,Social Structure and the Development of Personal53
Die zweite Etappe der Entwicklung der Theorie von Parsons l~isst sich unter den Begriffen Strukturfunktionalismus und Systemtheorie charakterisieren. Zu dieser Phase geh6ren Werke wie The Social System und Toward a General Theory of Action. Das Problem sozialer Ordnung wird aus der Perspektive gegenseitiger Verh~iltnisse zwischen den drei Subsystemen des menschlichen Handelns gelfst. Dieses Differenzierungsschema identifiziert diese Teilsysteme als M6glichkeitsbedingungen des Handelns, n~imlich das Pers6nlichkeitssystem, das soziale System und das kulturelle System. Im Rahmen dieses Abschnittes werde ich mich auf die Analyse des sozialen Systems konzentrieren. Mit Hilfe des Begriffes der ,,doppelten Kontingenz" l~isst sich die Funktion des sozialen Systems besser erkl~en. Die doppelte Kontingenz bezieht sich auf die Unberechenbarkeit menschlichen Handelns. Theorietechnisch bezeichnet der Begriff der doppelten Kontingenz, dass Interaktionen immer Situationen voraussetzen, in denen es nicht nur eine (physikalische) Umwelt gibt, sondem auch Akteure, deren Motivation die maximale Gratifikation ist. Die Verh~iltnisse zwischen diesen gratifikationssuchenden Akteuren werden dutch ein System kulturstrukturierter gemeinsamer Symbole nicht nut vermittelt, sondem auch definiert. Das Problem der doppelten Kontingenz l~isst sich also dutch die Entstehung eines normativen Konsenses, der nur im Bereich eines bestimmten kulturellen Rahmens zustande kommen kann. In der Interaktion erm6glicht das soziale System die Vermittlung zwischen Pers6nlichkeit und Kultur. Nur diese Vermittlung kann die Existenz der Gesellschaft gew~ihrleisten. In diesem Sinne kann man sagen, dass das soziale System die Dimensionen des Handelns integriert. Tats~ichlich gibt es keinen grogen Unterschied zwischen dieser Antwort und der Antwort, die in The Structure of Social Action zu finden ist. Allerdings kann die neue Antwort die psychologische Motivation und die kulturelle Legitimierung besser erkl~en. Die normative Verinnerlichung, die schon von Durkheim skizziert worden war, wird jetzt mit dem Internalisierungsbegdff yon Freud erg~inzt.55 Zu dieser zweiten Phase geh6ren auch die sogenannten Pattern Variables, mit denen Parsons versuchte, Grundcharakteristiken der modemen Gesellschaften zu analysieren. Im Rahmen des Strukturfunktionalismus bedeutet Evolution die Steigerung der Anpassungsf'~ihigkeit eines Systems. In der Rationalit~itssteigerung (b. la Weber) und der Entwicklung integrativer Kapazit~iten (~ la Durkheim) haben die modemen Gesellschaften die Mechanismen ihrer Anpassungs-
ity: Freud's Contribution to the Integration of Psychology and Sociology" (1958) beide in: Talcott Parsons, Social Structure and Personality,New York, 1964. ~5Allerdings hat Parsons in einer sehr besonderen Art und Weise das Werk von Freud interpretiert. Ftir Parsons stellt das Ich keine psychische Instanz, in der die kriegerischeSpannung zwischen ,,Es" und ,,Ober-lch" stattfindet, dar. Der Begriff des Ich von Parsons pr~isentiertvielmehreine regulative Instanz, die eine produktive Vermittlungzwischen den anderen Dimensionenerm6glicht. 54
f'~ihigkeit gefunden. Parsons stellt diese zwei modemen Mechanismen den Werten traditioneller Gesellschaften in den dichotomen Alternativen der Pattern Variables gegentiber. Deshalb k6nnen wir sagen, dass die Pattern Variables die Version von Parsons der klassischen soziologischen Unterscheidung Gemeinschaft und Gesellschaft (T6nnies) 56 ist. In diesem Sinne fungieren diese dichotomen Altemativen als abstrakte ,,Idealtypen", die keine realexistierende Gesellschaft beschreiben. Im Gegensatz zu Weber hat Parsons jedoch diese Begriffe mit Hilfe der historischen Forschung nicht entworfen. Ftir Parsons waren die Alternativen sozusagen jenseits Zeit und Raum. Diese Zustandsreduktion wurde von Norbert Elias in seinen Untersuchungen tiber den Prozess der Zivilisation sehr stark kritisiert. 57 Die Entwicklung der Pattern Variables bezieht sich auf folgende Problematik. Da weder die Umst~inde selbst noch seine Gegenst~inde den Situationssinn bestimmen k6nnen, mtissen die Akteure immer selbst entscheiden, um eine Situation tiberhaupt sinnhaft zug~inglich zu machen. Hier sehen wir mit Deutlichkeit, dass sich Parsons darum bemtiht hat, den Determinismus zu vermeiden. In seiner Theorie wollte er den Akteuren die Gelegenheit geben, sich selbst zu entscheiden. Das Problem mit dieser L6sung war, dass die Strukturen immer von Anfang an schon bestimmt waren. In diesem Sinne befindet sich der Akteur immer in einer Situation, die durch die Theorie (und nicht durch die Situation selbst) bestimmt worden ist. In der Theorie hat der Wissenschaftler schon all die Entscheidungen getroffen und l~isst sich vonder Realit~it nicht tiberraschen. In spateren Kapiteln werde ich diese Problematik ausftihrlich diskutieren. Das Pattern Variables Schema l~.sst sich folgendermaBen erkl/~'en. Die ersten drei Alternativen beziehen sich auf die Orientierung des Akteurs und die letzten zwei auf die ftir diesen Akteur sinnhaften Gegenst~inde. Die erste Alternative ist: Affektivit~it / Neutralit~it. Hier ist das Problem der Temporalisierung der Belohnung zu sehen. W~ihrend in den traditionellen Gesellschaften diese Belohnung sich immer auf die Gegenwart bezieht, charakterisieren sich die modemen Gesellschaften ftir die Temporalisierung dieser Gratifikation. Der Rationalit~it nach ist klar, dass man durch diese Temporalisierung die Gratifikation erh6hen kann. Das Problem der Selbst- bzw. Kollektivorientierung ist die zweite Alternative. Im Gegensatz zu den traditionellen Gesellschaften, in denen der Akteur sein
56 Ferdinand T6nnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, (Leipzig 1887). Seit der 2. Auflage (1912) mit ge/indertem Untertitel: Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt, 1991. 57 Siehe Norbert Elias, Uber den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, (Basel 1939), Frankfurt/M., 1997, S. 16-73.
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Handeln in Bezug auf die Kollektivitat orientiert, charakterisieren sich moderne Gesellschaften durch Akteure, deren Entscheidungen auf individuellen Kriterien basieren. Das Problem der Individualisierung kann in dieser Alternative deutlich beobachtet werden. Allerdings ~hrt diese individualistische Orientierung nicht zur Anomie, weil es einen Gleichgewichtmechanismus zwischen den Pattern Variables gibt. Die Alternative zwischen Partikularismus und Universalismus bezieht sich auf den alten Konflikt zwischen Moralit~it (Kant) und Sittlichkeit (Hegel). Die gegenw/irtigen Spannungen zwischen modernem Rechtsformalismus und ,,traditioneller" Sittlichkeit k/)nnen mit Hilfe diese Alternative analysiert werden. Wie schon gesagt bezieht sich die nachste Alternative nicht mehr auf die Orientierung des Akteurs, sondern auf die sinnhaflen Sozialgegenst/inde. Die sozialen Gegenst~inde (in diesem Fall: die anderen Akteure) kSnnen entweder mittels ihrer Eigenschaften (Sex, Alter, ,,Rasse", SchOnheit, usw.) oder mittels ihrer Leistungen (Lebenslauf, usw.) bewertet werden. Selbstverst/tndlich bevorzugt die moderne Geseilschaft die Leistungsorientierung. Die Alternative Diffusit~it/Spezifit~t bezieht sich auf das Problem der Rollenrelevanz. Die Hauptfrage lautet: welche Roilen, die von Ego gespielt werden, sind f'tir Alter relevant? Wenn es der Fall ist, dass nur eine spezifische Rolle (in Bezug auf eine spezifische Funktion) relevant ist, befinden wir uns im Bereich der modemen Gesellschaften. Bezugsproblem
l.- Dilemma zwischen Belohnung und Disziplin 2.- Individuelles lnteresse und kollektives Interesse 3.- Auswahl zwischen Kriterien der Wertorientierung 4.- Auswahl zwischen ,,Modalit~iten" des sozialen Gegenstandes 5.- Definition des Interesses am Gegenstand
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Traditionelle Gesellschaft (Gemeinschafl) Affektivit~it
Moderne Gesellschaft Neutralitat
Koilektivorientierung
Selbstorientierung
Partikularismus
Universalismus
Zuschreibung
Leistungsorientierung
Diffusitat
Spezifit~t
Die dritte Phase der theoretischen Entwicklung von Parsons findet ihre bekannteste Leistung im AGIL-Schema. In diesem Schema erreichen die Ideen von Parsons eine htihere Formalit~it. Das AGIL-Schema besteht aus vier funktionalen Erfordernissen, welche die vier Handlungssubsysteme wiederspiegeln. Diese vier Erfordernisse beziehen sich auf einander durch die Kreuzung zweier Achsen, n~imlich der Achse internal / external (intern / extern) mit der Achse instrumental / consummatory (instrumentell / konsumatorische). Wie es deutlich zu sehen ist, repr~isentiert die erste Achse die Unterscheidung System / Umwelt. Wiederum bezieht die zweite Achse sich auf die Handlungskomponente. Von der Kombinierung beider Achsen ergibt sich die Formulierung" Action is system. Diesem Schema nach kann das Handeln nur als ein System verstanden werden. Mit dieser Formulierung versuchte Parsons die klassische Kluft zwischen Handlungstheorien und Systemtheorien zu tiberwinden. Die funktionalen Erfordernisse des Handlungssystems sind: A: Adaptation (Anpassung). G: Goal Attainment (Zielverwirklichung). I: Integration. L: Latent Pattern Maintenance (Bewahrung latenter Strukturen) Die Kreuzung der Funktionen und ihr entsprechendes Handlungssubsystem sehen wir in folgender Tabelle:
External
Internal
Instrumental
Consummatory
A Adaptation (Anpassung)
G Goal Attainment (Zielverwirklichung)
Behavioral System (Verhaltenssystem)
Personality System (Pers~inlichkeit) I
L Latent Pattern Mainte- Integration nance (Bewahrung latenter Strukturen)
Cultural System (Kultur)
Social System (Soziales System)
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Die Emergenz des Handelns h~ingt also vonder (tats~ichlichen) Erftillung dieser (analytisch gewonnenen) funktionalen Erfordemisse. In dieser Kombinierung von tats~.chlichen Ereignissen und analytischen Kategorien sehen wir am deutlichsten den analytischen Realismus von Parsons. Die Einordnung dieser vier Funktionen entspricht dem Prinzip der kybernetischen Hierarchie. Diesem Prinzip nach gibt es Subsysteme, die energiereich sind und Subsysteme, die informationsreich sind. Im Fall des Handlungssystems ist es klar, dass w~.hrend die physisch-organisch-psychologischen Grundlagen die n/Stige Energie f'tir das Funktionieren des Systems in der Form vom Leben und psychischer Motivation gew~ihrleisten, besorgen die Kultur durch ihre Werte und die Gesellschaft durch ihre Normen die n0tige Information f'tir die Steuerung des Systems. In diesem Sinne hat Parsons das Paradigma psychischer Verinnerlichung systemtheoretisch formalisiert. Ein Akteur kann nur handlungsf'~ihig sein, wenn er im Sozialisationsprozess institutionalisierte Werte und Normen internalisiert hat. + Information
["Last Reality ,,5~ IKultu~ ~3esellschaf~ ~ersOnlichkei ~ [Verhaltenssyste~ ~)rganisches Syster~ ~hysiko-chemisches Systen~ + Energie Diese Hierarchie mag sehr idealistisch klingen, aber da Parsons auch die Dichotomie Idealismus / Materialismus iiberwinden wollte, hat er das AGIL-Schema 58Mit dem Begriff,,last reality" wollte Parsons die Ideen bezeichnen,die als Repr~isentationeiner transzendentalenOrdnung(etwa:Gott, das B/Sse,usw.)fungieren. 58
in einer Art und Weise entworfen, dass es miSglich ist, es aus der Perspektive der Steuerung oder aus der Perspektive der Energie zu lesen. Der Anstrengungsbegriff (effort) wurde durch dieses theoretische ManiSver formalisiert. In diesem Sinne kann AGIL auch als LIGA gelesen werden.
A
Trotz dieser Verstihnungsbemtihungen ist es Parsons nicht gelungen, einem gewissen Kulturdeterminismus zu entkommen. Die Kritik dieses Determinismus liSste eine ,,Revolte gegen den Strukturfunktionalismus" aus. Mit den Auswirkungen dieser Revolte werde ich mich sp~iter besch~iftigen. Wenn man einen spezifischen Bereich des Handlungssystems analysieren will, muss man nur nach den funktionalen ,~quivalenten der oben erw~ihnten Erfordernisse im spezifischen Bereich suchen. Um das Handeln analysieren zu k/Snnen, setzt also das AGIL-Schema eine ewige Wiederholung von diesen vier Funktionen voraus. Die Prinzipien der Evolution entsprechen den Funktionen des AGILSchemas folgendermal3en: A: Steigerung der Anpassungsf'~ihigkeit G: Funktionale Differenzierung I: Inklusion sozialer Gruppen L: Wertgeneralisierung Es kann uns also nicht iiberraschen, dass die Theorie von Parsons als ,,konservativ" bezeichnet worden ist. Die Frage ist nur, ob dieses Adjektiv tiberhaupt ftir die Bewertung soziologischer Theorien geeignet ist. Mit dem AGIL-Schema ist es Parsons gelungen einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der abstrakt genug ist, um alle mtiglichen Handlungsph~inomene zu analysieren. Allerdings war der Preis dieser Errungenschaft sehr hoch, was die Pr~.zision der Analyse betrifft. In diesem Sinne liegen die Vor- und Nachteile des Schemas in seinen unm~il3igen Ansprtichen. Wie wir in folgenden Kapiteln sehen werden, versuchten die Kritiker von Parsons diese Pr~izision for die Disziplin wieder zu gewinnen. Um ein solches Ziel zu erreichen, war es ntitig andere theoretische Wege zu explorieren. Nach wie vor ist Parsons allerdings ein fundamentaler Referenzpunkt f'tir die Konstruktion soziologischer Theorien. Sowohl als Alliierter als auch als Gegner ist Parsons ein Autor auf den die Soziologie nicht so einfach verzichten kann. 59
3.5
Der Strukturalismus von Claude IMvi-Strauss
W~ihrend der Funktionsstrukturalismus die sozialwissenschaftliche Szene in den USA beherrschte, ist in Frankreich eine intellektuelle Bewegung entstanden, die das Denken des 20. Jahrhunderts auch sehr stark gepr~igt hat, n~imlich der Strukturalismus. Aber der Strukturalismus hatte viele Gesichter und viele Gestalten und aus diesem Grund ist es notwendig, unsere Analyse zu begrenzen. Wie wir sehen werden, sind f'tir die Soziologie keine strukturellen Analysen wichtiger als diejenigen von Claude L6vi-Strauss, der als eigentlicher Vater des Strukturalismus gilt. Wie wir schon gesehen haben, wollte Parsons die soziologische Erklarung des menschlichen Handelns vom tikonomisch gepr~igten Utilitarismus endgiiltig trennen. Im Falle von L6vi-Strauss ist es m/Sglich parallele Lebenslaufziige zu finden. Dieser ehemalige Philosoph wollte die franztisische Anthropologie von den Naturwissenschaften endgtiltig trennen. In diesem Sinne wollte er den Bereich der physischen Anthropologie und seinen biologischen Determinismus verlassen, um eine kulturelle Anthropologie durchzufiihren. Nachdem es ihm 1949 mit der Vertiffentlichung seines Werkes tiber Les structures ~ldmentaires de la parentd gelungen ist, die Anthropologie als Sozialwissenschaft zu etablieren, setzte sich der Strukturalismus mit der erfolgreichen Philosophie der Nachkriegzeit in Frankreich auseinander, namlich dem Existenzialismus von Jean-Paul Sartre. Nach diesen erfolgreichen Auseinadersetzungen erfreute sich der Strukturalismus einer Popularit~it, die so groB war, dass sogar der Trainer der franztisischen Nationalmannschaft versprach, eine ,,strukturalistische" Organisation der Mannschaft durchzufiihren, um die Leistung zu verbessern. Der Zenit dieser Popularit~it lag im Jahr 1966. Wie wir im n~ichsten Kapitel sehen werden, setzte danach mit der Studentenbewegung 1968 das Ende dieser Popularit~it ein. Aber wir mi~ssen zwei Jahrzehnte zurtickgehen, nicht nur um die Faszination, die diese Weltanschauung provoziert hat, sondern auch um die Beitr~ige, die dieser Autor zu unserem Problem, n~imlich dem Strukturproblem gemacht hat, zu verstehen. Aus diesem Grund muss das oben erw~ihnte Werk tiber Les structures dldmentaires de la parent~, das als Geburtsort des ,,modernen" Strukturalismus gilt, 59 analysiert werden. In diesem Buch interessiert sich L6vi-Strauss f'tir das Ph~inomen des Inzestsverbots, weil er der Meinung war, dass dies das einzige menschliche Ph~nomen ist, das tiber die Vielfiiltigkeit der Kulturen hinausgeht. Trotz dieses Universa59 lch spreche von einem ,,modernen" Strukturalismus, weil es frtihere Werke gibt, die von vielen Interpreten als ,,strukturalistisch" betrachtet werden. Einige dieser Vorl~iuferdes Strukturalismus (Mauss, Saussure) werden wir in diesem Abschnittkurz analysieren. 60
lismus kann man jedoch das Inzestverbot dem Instinkt nicht zuschreiben, weil es, im Gegensatz zu instinktiven Instruktionen, die ausnahmslos operieren, ab und zu nicht respektiert werden kann. Wir haben es hier also mit einer Regel zu tun, einer Regel, die gleichzeitig sozial und vorsozial ist. Sie ist sozial, weil sie eine Regel ist und sie ist vorsozial, weil sie eine universelle GiJltigkeit hat. Im diesem Sinne ist das Inzestverbot: ,,au seuil de la culture, dans la culture et, en un sens.., la culture elle-m~me". 6~ L6vi-Strauss denkt, dass die herk6mmlichen Analysen dieses Ph~inomens einen Fehler begangen haben, wenn sie versuchen, das Inzestverbot als normatives Verbot, also als ein negatives Ph~inomen zu verstehen. Ftir L6vi-Strauss ist es notwendig, das Ph~inomen in seiner sozialen Positivit~it zu betrachten. Im Gegensatz zu Durkheim denkt er jedoch, dass es auch falsch ist, das Inzestverbot mit Hilfe einer historischen Sequenz zu erkl~en. In seinem 1898 ver6ffentlichten Aufsatz iiber das Inzestverbot versucht Durkheim dieses Ph~inomen durch die Analyse der ,,primitiven" Gesellschaften in Australien zu erkl~en. 6~ Da die soziale Organisation dieser Gesellschaften auf der Identit~it zwischen Clan und Totem beruht und da das Blut als ,,sakraler" Gegensand eine wichtige Rolle for diese Identit~itsidee spielt, dachte Durkheim, dass die Mitglieder eines bestimmten Clans Angst vor dem Clansblut und besonders vor dem menstruellen B lut haben. Wir mtissen uns daran erinnern, dass fiir die Mitglieder eines Clans absolut verboten ist, das eigene totemistische Tier als herk6mmliches Essen, also ohne Riten, zu essen. In demselben Sinne k6nnen diese Mitglieder das (menstruelle) Clansblut nicht beriihren. Fiir Durkheim Risst sich die Exogamie in dieser Art und Weise erkl~en. Das moderne Inzestverbot w~ire in diesem Sinne nicht mehr als der iJberlebende Beweis dieses Glaubens. Ein halbes Jahrhundert nach der Ver6ffentlichung dieses Textes schien die Argumentation von Durkheim nicht mehr plausibel, weil es schwer zu beweisen ist, dass all die Gesellschaften aus einer totemistischen Organiation stammen. Wenn dies der Fall ist, hilft uns diese Argumentation nicht, den Universalismus des Inzestverbots zu erkl~en. Aus diesem Grund suchte L6vi-Strauss nach anderen Erkl~irungswegen. Obwohl seine Erkl~irung nicht direkt aus den Thesen von Durkheim stammt, heiBt das nicht, dass diese Erklarung Durkheim nicht viel schuldet. L6vi-Strauss wurde vom Werk eines Schtilers von Durkheim stark gepr~igt, n~.mlich Marcel Mauss. Ein anderer Einfluss, der L6vi-Strauss erm6glichte, das Inzestverbot zu erkRiren und eine neue Methode fiJr die Sozialwissenschaften zu entwickeln, war das Werk von Ferdinand de Saussure.
60 Claude L6vi-Strauss, Les structures 616mentaires de la parent6, Paris, 1949, S. 13. 61 Emile Durkheim, ,,La prohibition de l'inceste et ses origines" (1898) in ders.: Journal sociologique, Paris, ! 969, S. 37-101.
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Ftir L6vi-Strauss ist Marcel Mauss der eigentliche Vater des Strukturalismus. In seinem 1950 ver6ffentlichten Text ,,Introduction h l'oeuvre de Marcel Mauss ''62 erkennt IAvi-Strauss die Beitr/ige an, die Mauss zur Anthropologie gemacht hat, indem er das Soziale als eine Welt symbolischer Verh/iltnisse begriffen hat. Ftir L6vi-Strauss erm6glicht diese Konzeptualisierung des Sozialen die Etablierung interdisziplin/irer Forschungsm6glichkeiten, wie zum Beispiel diejenige zwischen Ethnologie und Linguistik (de Saussure) und Ethnologie und Psychoanalyse (Freud). Besonders wichtig for die Untersuchungen tiber das Inzestverbot von IAviStrauss ist der von Marcel Mauss zwischen 1923 und 1924 ver6ffentlichte Text ,,Essai sur le don. Forme et raison de l'~change dans les soci6t6s archa'iques". 63 In diesem Essay begriff Mauss den Gabentausch primitiver Gesellschaften als ein totales Sozialph/inomen. Das heiBt, als ein Ph~inomen, dass sowohl 6konomische und politische als auch juristische und religi6se Elemente einschlieBt. Im Fall des Gabentausches operiert dieses Totalph/inomen als ein System totaler Leistungen (und Gegenleistungen). In den von Mauss erforschten Gesellschaften (Polynesien, Samoa, Maori, usw.) gilt die Reziprozit~it des Gabentausches als eigentlicher Mechanismus ftir die Aufrechterhaltung sozialer Verh/iltnisse. Diese Reziprozit/itslogik, die selbstverst/indlich weit tiber die reine wirtschaftliche Rationalit~it des Profits hinausgeht, besteht aus drei Verpflichtungen: Geben, Annehmen und Erwidem. In diesem Sinne muss eine Gruppe nicht nur bereit sein, ein Geschenk von einer anderen Gruppe anzunehmen, sondem auch bereit sein, sich ftir ein solches Geschenk zu revanchieren. Da der Gabentausch nicht nur Gtiter, sondem auch Riten, Dienste, Frauen, usw. einschlieBt, erftillen die Gabe und die Gegengabe eine fundamentale Funktion far die Sozialordnung. Ftir die Untersuchungen von L6vi-Strauss war diese Idee einer auf dem Austausch basierten Sozialordnung von entscheidender Bedeutung. Den Einfluss von Ferdinand de Saussure k6nnen wir in drei Themen unterteilen: 1) die Abwesenheit des Subjekts, 2) die Willktirlichkeit des Zeichens und 3) der Vorrang der synchronischen Analyse. In seinem Leben ver6ffentlichte de Saussure die Ergebnisse seiner Forschungen nicht. Nach seinem Tod 1915 haben seine Schtiler Charles Bally und Albert S6chehaye sowohl Schriften von de Saussure als auch Schtilernotizen~esammelt, um das Buch Cours de linguistique g~n~rale zu ver6ffentlichen.--In diesem Werk werden die drei oben erw/ihnten Themen behandelt. 62 Claude IAvi-Strauss, ,,Introduction ~ l'oeuvre de Marcel Mauss", in: Marcel Mauss, Sociologie et anthropologie (1950), 2003, Paris, S. IX-LII. 63 Marcel Mauss, ,,Essai sur le don. Forme et raison de l'&:hange dans les soci6t6s archaiques" in: ders., a.a.O., S. 145-279. 64 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique g6n6rale (1916), Paris, 1995.
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Um die Linguistik als Wissenschaft begrtinden zu ktinnen, war es niStig ihren Realit~itsbereich zu bestimmen. Diese Bestimmung f'tihrte de Saussure durch die Unterscheidung langue / parole durch. W~ihrend die Rede individuell und kontingent ist, charakterisiert sich das soziale Ph~inomen der Sprache durch seine Notwendigkeit. Es ist genau dieses soziale Ph~inomen, mit dem sich die Linguistik besch~iftigen soil. 65 Als sozialer Tatbestand operiert die Sprache als ein geschlossenes Klassifikationssystem. In diesem Sinne verbindet das linguistische Zeichen nicht einen Namen mit einer bestimmten Sache, sondern einen Begriff (signifi~) mit einem akustischen Bild (signifiant), die ein immer willktirliches Verh~iltnis zur Realit~it (r~f~rent) haben. Dieses Zeichen ist also willkiirlich, weil es keine n/Stige Verbindung zwischen Begriff und Ton gibt. In einem bestimmten Wort ktJnnen wir iiberhaupt keine substantielle Verbindung zwischen den Buchstaben, aus denen es besteht, und der objektiven Referenz, auf die sie sich beziehen, finden. Da die Linguistik sich nur mit dem Zeichen (signifi~ + signifiant) besch~iftigt, schliel3t de Saussure die Erforschung jeder Art ontologischer Korrespondenz aus der Disziplin aus. In seinen Untersuchungen wird L6vi-Strauss diese Idee in die Willkiirlichkeit des Verwandtschaftssystems iJbertragen. Das dritte Thema bezieht sich auf den Vorrang der synchronen Analysen tiber die diachronen Analysen. Das heist, der Vorrang der statischen Linguistik iiber die evolutionistische Linguistik. Diese Entscheidung hatte eine groge Auswirkung auf den Strukturalismus und sein Verh~iltnis zur Geschichtswissenschaft. FUr de Saussure war klar, dass es in der Linguistik zwei analytische Mt~glichkeiten gibt. Entweder kann man ein System in seiner gegenw~irtigen Form analysieren oder man kann die )knderungen, die dieses System im Laufe der Geschichte sozusagen erlebt hat, rekonstruieren. Nur mit Hilfe der ersten MiSglichkeit kann man die Verh~iltnisse zwischen Elementen innerhalb des Systems beobachten. Fiir Saussure ist es nicht so wichtig, zu rekonstruieren, wie bestimmte Wt~rter oder F~ille ihren gegenw~rtigen Zustand erreicht haben, weil diese ,~nderungen im Bereich der Rede, das heiBt: der Individuen, geschehen sind. Beispielsweise interessiert er sich f'tir die geschichtlichen Unf'~ille nicht, die dazu beigetragen haben, dass heute auf Deutsch das Verb ,,Sein" in der Vergangenheitsform nicht mehr ,,ich was", sondern ,,ich war" konjugiert wird. Solche Ereignisse haben fiir die synchrone Analyse nur eine Bedeutung, wenn sie durch Verallgemeinerung einen Platz im System eingenommen haben.
65 An diesem Punkt wird die )~hnlichkeit zwischen de Saussure und Durkheim am deutlichsten. In seiner Charakterisierung der Sprache sagt de Saussure: ,,Elle (die Sprache) est la partie sociale de langage, ext6rieure~ l'individu, qui h lui seul ne peut ni la cr6er ni la modifier. " Ferdinandde Saussure, a.a.O., S. 31. DiesesZitat ktinnteauch problemlosaus einem Buch von Durkheimstammen. 63
Da es der Methode von Saussure zufolge nicht mehr n/Stig war, um ein System zu analysieren, seine Geschichte zu kennen, konnte L6vi-Strauss in seinen Untersuchungen auf die Geschichte verzichten. Oder besser gesagt: in seinen Untersuchungen iiber primitive Gesellschaften auf den tiblichen Geschichtsbegrift verzichten, um ein anderes Verstandnis der Geschichtlichkeit zu entwickeln, n~imlich: die ,,mechanische" Zeit der Ethnologie. Eine Zeit, die im Gegensatz zur Zeit der Geschichte, reversibel ist und keine bestimmte Orientierung hat. Eine Zeit also, die keine Akkumulation von Ereignissen kennt und die das gesellschaftliche Gleichgewicht durch die Ablehnung von Neuigkeiten bew~ihrt. 66 Mit Hilfe dieser zwei Perspektiven ist es L6vi-Strauss gelungen, das Inzestverbot in seiner positiven sozialen Form, n~imlich die Exogamie als ein kommunikatives Ph~inomen zu beobachten, auf dem die Gesellschaftsreproduktion beruht. Genau wie im Fall der wirtschaftlichen Kommunikation von Diensten und Waren und der symbolischen Kommunikation von W/Srtern, benutzen soziale Gruppen Frauen, die als Giiter gelten, im Austausch als ,,Botschaften", um Allianzen abzuschlieBen. Die elementaren Verwandtschaftsstrukturen bezeichnen die Heiratsm/Sglichkeiten, die es in einer bestimmten Gesellschaft gibt. Diesen Strukturen nach teilen sich die Mitglieder einer Gruppe in Verwandte und Alliierte. Es gibt also Leute in der Gruppe, mit denen man sich verheiraten kann (potentielle Alliierte) und Leute mit denen man sich auf keinen Fall verheiraten soil (Verwandte). Erst durch die Etablierung dieser Unterscheidung, also durch diese Intervention kann die Kultur in Form eines Allianzsystems zustande kommen. In einer Gruppe ist ein Mann bereit, seine Tochter bzw. Schwester einem anderen Mann zu geben, weil er die Gewissheit hat, dass er eine Frau v o n d e r Gruppe dieses anderen Mannes bekommen wird. Es geht hier also um Reziprozit~t. Allerdings geschieht diese ReziproziRit als gesellschaftliches Ereignis und nicht als Austausch zwischen Individuen. Dies erkl~irt nicht nur die Ungleichzeitigkeit des Austausches (unmittelbar nach der Gabe muss man nicht auch eine Frau bekommen), sondern auch die Tatsache, dass es nicht n/Stig ist, dass der Mann, dem wir eine Frau gegeben haben, uns auch eine Frau gibt. Sicher ist nur, dass irgendjemand (als Vertreter der Gruppe) uns eine Frau geben wird. In dieser Reziprozit~itsidee k/Snnen wir deutlich den Einfluss von Mauss sehen. In diesem Sinne l~isst sich der Frauenaustausch unter der Kategorie der totalen Sozialtatbest~nde einordnen. Im Prinzip scheint es, als ob dieser Austausch nur mit der Sexualit~t zu tun h~itte. Allerdings ist f'tir L6vi-Strauss klar, dass nur die Entstehung der Allianz die Entwicklung anderer Austauchformen erm/Sglicht. Eigentlich geht es hier um die 66 0ber den Creschichtsbegriff bei L6vi-Strauss siehe: Claude L6vi-Strauss, ,,Introduction: Histoire et ethnologie" (1949) und ,,La notion de structure en ethnologie" (1953) beide in: ders., Anthropologie structurale, Paris, 1958, S. 9-39 und 329-378.
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schon von Durkheim skizzierten ,,nicht-vertraglichen Bedingungen des Vertrags", weil eine Gruppe nur mit ihren Alliierten wirtschaftliche Verh~iltnisse haben kann. Wie schon erw~ihnt, kann man wiederum den Einfluss von Saussure in der Willkiirlichkeit des Verwandtschaftssystems sehen. Das System ist willkiirlich, weil die Bestimmung von Elementen (Verwandte und nicht Verwandte) kein Verh~iltnis mit irgendeiner biologischen ,,Realit~it" hat. Um Allianzen abschlie6en zu kOnnen, kann die Gruppe sogar ,,artifizielle Verwandtschaftsbeziehungen" schaffen. Genau wie im Fall der Sprache, in der die Elemente (W6rter) nichts mit den Gegenst~inden, die sie bezeichnen, zu tun haben, haben die Elemente eines Verwandtschaftssystems kein Verh~iltnis mit irgendeiner ,,Natur". In diesem Sinne hat das Zeichen nicht nur eine methodologische Priorit~it vor der Botschaft, sondern man kann schon behaupten, dass es diese Botschaft bestimmt. Da die Individuen sich nur innerhalb der Strukturgrenzen ausdrucken k6nnen, miissen sie sich diesem Zeichengesetz unterwerfen. Diese Ausdrucksm6glichkeiten erkRiren die Vielf'~iltigkeit der Verwandtschaftssysteme, die als Wiederspiegelung der Struktur universell sind, aber in ihren kulturellen Formen immer spezifisch bleiben. Nur durch die synchrone Analyse dieser Vielf'~iltigkeit Risst sich die Unver~inderlichkeit der Struktur beobachten. Wichtig ist anzumerken, dass fiir L6vi-Strauss sowohl das Reziprozit~itsbediirfnis als auch der Vorrang des Zeichens unbewusste Ph~inomene sind. Die Menschen wissen also nicht, dass es solche strukturellen Forderungen gibt. Selbstverst~indlich wissen sie auch nicht, dass durch ihr Handeln diese Strukturen reproduziert werden. Genau wie im Fall des Strukturfunktionalismus, konzipiert der Strukturalismus das menschliche Handeln als ein Ph~inomen, das von den Strukturen total bestimmt ist. Wir diirfen aber nicht vergessen, dass L6vi-Strauss immer Abstand zum Funktionalismus halten wollte. Fiir ihn war der Funktionalismus eine Vereinfachung des Strukturalismus. In vielen Aufs~itzen hat er die Werke von Bronislaw Malinowski und A. R. Radcliffe-Brown stark kritisiert, nicht nur weil sie ihm zu empirisch und deskriptiv erschienen, sondern auch, weil sie weder die Geschichte noch die Geographie fiir ihre Analysen in Anspruch genommen haben. 67 Nachdem L6vi-Strauss die elementaren Verwandtschaftsstrukturen analysierte, widmete er sich in seiner Reihe Mythologiques 6s der Analyse der Mythen. Diesmal versuchte er die heimlichen Strukturen des menschlichen Denkens zu finden.
67Beispielsweise im Aufsatz ,,La notion de structure en ethnologie", a.a.O., in dem er schreibt: ,,Un fonctionnaliste peut &re tout le contraire d'un structuraliste, l'exemple de Malinowski est 1~ pour nous en convaincre", S. 345. 6s Claude L~vi-Strauss, Mythologiques I, Le cru et le cuit, Paris, 1964; Mythologiques II, Du miel aux cendres, Paris, 1966 ; Mythologiques Ilk L'origine de las mani~:resde table, Paris, 1968 ; Mythologiques IV, L'hommenu, Paris, 1971. 65
Nachdem wir einige der Einfltisse und Leistungen der Arbeit von L~vi-Strauss gesehen haben, ist es legitim Fragen fiber den Strukturbegriff zu stellen. Die erste Frage bezieht sich sowohl auf die Methodologie ais auch auf die Epistemologie, und iautet: wound wie kann man diese Strukturen beobachten? Die zweite Frage bezieht sich auf die Ontologie, und lautet: woher kommen diese Strukturen? Zur ersten Frage muss man sagen, dass die Strukturanalyse als Methodologie sich nicht auf die empirische Realit/tt bezieht, sondern auf Modelle, die uns erlauben diese Realit/R zu begreifen. Durch die empirische Beobachtung von sozialen Verh/iltnissen versucht der Wissenschaftler Modelle zu konstruieren, welche die versteckte Struktur beobachten lassen. Diese Modelle mfissen vier epistemologische Bedingungen erfUllen: 1) Eine Struktur verh/tlt sich wie ein System, in dem Sinn, dass sie aus Elementen besteht. Wenn eines dieser Elemente sich ver/indert, wird die Ver/tnderung anderer Elemente verursacht. 2) Die Modelle gehSren zu einer Transformationsgruppe. 3) Die schon skizzierten Eigenschaften ermOglichen uns, die Reaktionen des Modells auf eventuelle Anderungen vorauszusagen. 4) Das Modell muss konstruiert werden, so dass, sich durch sein Funktionieren all die beobachtbaren Ph~omene erklaren lassen. Die Frage, die jetzt bleibt, ist: woher kommen diese Strukturen? In der Antwort auf diese Frage werden wir nicht nur den Einfluss von Durkheim, sondem auch denjenigen von Kant deutlich feststellen. Genau wie Durkheim in seiner Forschung tiber die elementaren Formen des religi6sen Lebens versucht L6vi-Strauss zu zeigen, dass es universelle a prioris gibt. In diesem Sinne versucht er nicht nur etwas tiber die unterschiedlichen Kulturen zu sagen, sondern etwas fiber den Menschen zu sagen. Man kann also behaupten, dass L6vi-Strauss in den Menschen den Menschen sucht. In dieser Hinsicht erscheinen die Strukturen nicht mehr als methodologische bzw. epistemologische Prinzipien, sondern als noumenische Kategorien. Das menschliche Denken wird von a priori Kategorien gesteuert. 69 Diese Kategorien werden von L6vi-Strauss dem ,,menschlichen Geist", der als gemeinsamer Nenner aller menschlichen Ph/tnomene gilt, zugeschrieben. In diesem Sinne wird die Methode zu einer Ontologie. 7~
El. Franq,ois Dosse,Histoiredu structuralismeI. Le champ du signe 1945-1966,Paris, 1992,S. 48 ft. 70Da es in den Sozialwissenschatteneine Klutt zwischen konzeptuellen MOglichkeitenund semantischen Formen gibt, ist es nicht so schwer, solche Transformationen zu beobachten. Ein klares Beispiel befindet sich in der Gesellschattstheorievon Luhmann, in der die im Prinzip methodologischen funktionalen Aussagenmanchmalauch als theoretische Behauptungen erscheinen.
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4.
Die Revolten gegen die Struktur
4.1
Kontext der Revolten
Mit dem Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons und dem Strukturalismus von Claude L6vi-Strauss erreichten die Untersuchungen der Sozialwissenschaften eine, nie wieder erfahrene, theoretische Einheit. Zwar tibte der Strukturfunktionalismus einen viel gr6Beren Einfluss auf die Soziologie aus als der Strukturalismus. Im Laufe der Zeit haben jedoch die strukturalistischen Untersuchungen in Bereichen wie der Anthropologie und der Linguistik auch an soziologischer Bedeutung gewonnen. Obwohl es wichtige Unterschiede zwischen Strukturfunktionalismus und Strukturalismus gibt, kann man allerdings nicht leugnen, dass beide Perspektiven einen theoretischen Geist teilen. Wie wir schon gesehen haben, lassen sich beide Theorien aus der Matrix Kant-Durkheim herleiten. Die Unterschiede zwischen Strukturfunktionalismus und Strukturalismus beziehen sich allerdings auf ihre divergente Betonung der Werke von Kant. W~ihrend der Strukturfunktionalismus sich auf die Reflexionen tiber die praktische Vernunft bezieht, arbeitet der Strukturalismus in die Richtung der Verstandeskategorien der reinen Vernunft. Aus diesem Grund interessiert sich der Strukturfunktionalismus far die Aufrechterhaltung der normativen Ordnung und der Strukturalismus ftir die konstitutiven Regeln des menschlichen Denkens. Eine direkte Auseinandersetzung zwischen Parsons und L6vi-Strauss hat es nicht gegeben. Die im Kapitel 2 skizzierten Kritiken von L6vi-Strauss gegen den Funktionalismus beziehen sich ausschlieBlich auf die anthropologischen Untersuchungen von Malinowski und Radcliffe-Brown. Parsons widmete ein paar S~itze dem Werk von L6vi-Strauss im Aufsatz: ,,Action, Symbols, and Cybernetic Control". 7~ Der Unterschied, den Parsons zwischen seiner Arbeit und der von L6vi-Strauss fand, zielt auf dessen Betonung der sogenannten ,,primitiven Gesellschaften" durch L6vi-Strauss ab. Da es in diesen Gesellschaften keine strukturelle Differenzierung gibt, besch~iftige sich L6vi-Strauss ausschlieBlich mit Strukturen einfacher Art. Im Gegensatz zum Strukturalismus hat sich die Handlungstheorie im permanenten Kontakt mit Reflexionen tiber strukturelle Differenzierung entwickelt und aus diesem Grund war sie geeigneter ftir die Analyse komplexe differenzierte Gesellschaften. Die groBe Emphase, L6vi-Strauss' hinsichtlich der Bedeutung von kognitiven Aspekten teilte Parsons nicht. Fiir Parsons war diese cartesianische Perspektive ungeeignet ftir die Untersuchung modemer Gesellschaften, da es in diesen n6tig 7J Talcott Parsons, ,,Action, Symbols, and Cybernetic Control", in: Ino Rossi (Hg.), Structural Sociology, New York, 1982,S. 49-65. 67
ist, sowohl zwischen kognitiven und nicht-kognitiven als auch zwischen rationalen und nicht-rationalen Handelnskomponente zu unterscheiden. In dieser Hinsicht hat Parsons die Ideen von Weber in Anspruch genommen. Der Strukturalismus von L6vi-Strauss: ,,could be interpreted as a less differentiated version of the same fundamental conceptual scheme which has been presented in a more highly differentiated and elaborated form in the theory of action", 72 formulierte Parsons. Es ist also deutlich, dass Parsons die Leistungen des Strukturalismus nur als eine Art ,,mangelhafter" Handlungstheorie anerkannte. Ob diese ,,Probleme" tiberhaupt eine Rolle ftir den Strukturalismus h~itten spielen kSnnen, bleibt sehr umstritten. Trotz dieser Unterschiede kann man nicht leugnen, dass es immer noch viele ,~hnlichkeiten zwischen beiden Theorien gibt. Der Meinung von Anthony Giddens nach kann man diese ,~hnlichkeiten besonders deutlich beobachten, wenn man den Strukturfunktionalismus und den Strukturalismus mit Perspektiven wie der Hermeneutik oder der interpretative sociology vergleicht. Giddens fasst diese ,~,hnlichkeiten in den n~ichsten drei Punkten zusammen: a) naturalistische Perspektive, b) Neigung zum Objektivismus und c) Betonung des Vorrangs des Ganzen tiber seine Teile (das heiBt: der Struktur tiber die Akteure). 73 Selbstverst~indlich sind diese Vergleichspunkte nicht ,,neutral", in dem sie versuchen, nicht nur die ,~thnlichkeiten zu finden, sondern diese ,~danlichkeiten als Probleme darzustellen. Obwohl es viele andere Standpunkte gab, aus denen man die .~,hnlichkeiten, Unterschiede und Probleme beider Theorien beobachten konnte (beispielsweise aus der Systemtheorie oder dem Marxismus), gelten die von Giddens zusammengefasste Punkte als eine Art Standartkritik dieser Theorien. Sie spiegeln den ,,Geist" jeder Zeit, in der die Sozialwissenschaftler weltweit den engen Raum der Struktur verlassen wollten, um die eigentlichen Leistungen des Handelns besser zu beobachten. Es war das Ende eines stillschweigenden Konsenses, der den Sozialwissenschaften eine (fiktive) Einheit verliehen hatte. Die Sicherheit war vorbei und die Soziologie musste wieder Platz far die Ungewissheit und die Kontingenz machen. Sowohl endogene als auch exogene Faktoren haben dazu beigetragen, diese ,~nderung im Bereich der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen zu verursachen. Zunachst bezieht sich diese Revolte gegen die Struktur auf wichtige morphologische ,~mderungen innerhalb der Sozialwissenschaften. Gerade nach dem zweiten Weltkrieg galten die von Parsons und seiner Theorie beherrschten Institute (etwa in Harvard, Columbia und sogar in Chicago) als Zentren der soziolo72 Talcott Parsons, a.a.O., S. 62. 73 Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge, 1984, S. 1.
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gischen Reflexion. Mit dem Wiederaufbau Europas konnte die Soziologie wieder in ihre Heimat zuriickkehren und sich mit anderen Traditionen und Themen auseinandersetzen. Aber auch in den USA wurde die Soziologie gr6Ber. Neue Institute wurden in den USA gegriindet, etwa in Berkeley, UCLA und Stanford. Die Arbeit an diesen neuen Instituten bedeutete die Gelegenheit, jenseits des Einflusses des Strukturfunktionalismus denken zu ktinnen. Die exogenen Faktoren beziehen sich auf die in den ,,westlichen L~indern" generalisierte Erwartungsentt~iuschung w~ihrend des kalten Krieges. Nach Jahren voller Stabilit~it und Optimismus schienen in den 50er Jahren wieder Klassenkonflikte aufzubrechen. Die Versprechungen des Wohlfahrtstaats haben angefangen, sich auszusch6pfen und weder der Kapitalismus noch der sowjetische Sozialismus konnten den ,,Gegenwartsoptimismus" wieder aufbauen. Die Emergenz und entsprechende Sichtbarkeit der sogenannten ,,dritten Welt" hat auch dazu beigetragen, diese Entt~iuschung zu versch~irfen. In den 60er Jahren fanden all diese Faktoren in Streiks und Protestbewegungen ihren Ausdruck. Fiir eine Theorie, die wie diejenige von Parsons auf normativem Konsens und systemischem Gleichgewicht (im Sinne von Stabilit~it) basiert, war all diese Unruhe sehr schwer zu erkl~en. In diesem Sinne wurde der Strukturfunktionalismus wegen seiner eigenen Unflexibilit~it von der Realit~it tiberholt. Aus diesem Grund war es fiir die neuen Wissenschaftler notwendig geworden andere theoretische Angebote zu suchen; Angebote, welche die Kontingenz der sozialen Welt besser als der Strukturfunktionalismus erkl~en konnten. Die Soziologie suchte also nach neuen Helden und diese Suche ftihrte sie zu alten (vergessenen) Traditionen und Autoren, die seitdem zum Kanon der Disziplin einbezogen worden sind. Von diesem Moment an geh6ren Autoren wie Alfred Schlitz, George Herbert Mead und Norbert Elias zu den Klassikern der Soziologie. Allerdings haben sich die ,~nderungen nicht nur auf neue Autoren konzentriert, sondern auch auf alte Bekannte. Da die Theorie von Parsons sich als eine Weiterentwicklung der Reflexionen von Durkheim, Weber, usw., dargestellt hat, war es ntitig, neue Wege zu entwickeln, diese Klassiker zu interpretieren. Im Schlachtfeld der Sozialwissenschaften hat dieser Kampf um das Erbe der Klassiker noch nicht aufgehi3rt. Die Geschichte mit dem Strukturalismus ist sehr ~ihnlich gelaufen. FOr eine Theorie, die sich st~indig bemiiht hat, die Akteure unsichtbar zu machen und die Geschichte auszurotten, galten die Protestbewegungen als unerklarbare Ph~inomene. Die Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich repr~isentiert den Anfang des Endes der strukturalistischen Herrschaft. Eine der wichtigsten Fronten der Revolten gegen den Strukturalismus befand sich am Department fiir Soziologie in Nanterre, wo Alain Touraine mit seinen Reflexionen iiber die Potenzialit~iten des Handelns eine Fiihrungsrolle in der Bewegung erreicht hatte. In einer ande69
ren Front bemtihte sich Pierre Bourdieu tiber den Strukturalismus hinaus zu gehen und ring schon an, seine Reflexionen tiber die Praxis zu skizzieren. Seine Ideen tiber die ,,konservativen" Funktionen des Erziehungssystems wurden zum sofortigen Argument der Studentenbewegung. Die Werke strukturalistischer Helden wie L6vi-Strauss, Louis Althusser und Jacques Lacan wurden w~rend dieser Zeit stark kritisiert und in diesem Kontext konnte sich sogar der Existenzialismus von Sartre wieder behaupten. Obwohl nur zwei Jahre frtiher Michel Foucault zur strukturalistischen Mode mit seinem Werk Les mots et les choses beigetragen hat, wurde er vonder allgemeinen Diskreditierung des Strukturalismus nicht betroffen. W ~ r e n d der wichtigsten Ereignisse von Mai 1968 befand sich Foucault nicht in Frankreich, sondern in Tunesien, wo er sich ftir die Befreiung von Studenten der Universit~it von Tunesien eingesetzt hat. Wegen seines politischen Engagements wurde Foucault auch zum Held der Studentenbewegung in Frankreich erklart. Wie Franqois Dosse behauptet, ist nach 1968 auch ein neuer Foucault geboren. TM Obwohl nach den Revolten die Strukturalisten ihre institutionelle Pr~isenz wieder verst~irken konnten, war es sicher, dass der Strukturalismus nicht mehr die endgiiltige L6sung theoretischer Probleme im Bereich der Sozialwissenschaften war, sondern nur eine L6sung unter anderen m6glichen. Nach dieser kurzen Skizze des Kontextes der Revolten gegen die Struktur ist es Zeit, einige der Beitr~ige dieser Revolten genauer zu analysieren. Diese Analyse ist ftir den Aufbau der hier zu entwickelnden Theorie von groBer Bedeutung, weil sie es uns erm6glicht, den Keim der gegenw~irtigen Theorien zu rekonstruieren.
4.2
Die Darstellung des Selbst: Erving Goffman
Im Gegensatz zu Parsons besch~iftigte sich Erving Goffman nur mit einem spezifischen Bereich der soziologischen Forschung: der Interaktion. Aus diesem Grund ist Goffman der Theoretiker der gegenseitigen Anwesenheit und nicht, wie manche denken, der Theoretiker der kleinen Gruppen. Obwohl Goffman keine systematische Theorie im S inne von Parsons entwickelte, ziihlen seine Werke zu den wichtigsten Forschungen der Soziologie. Ftir Randall Collins war er sogar ,,der gr6Bte Soziologe der zweiten H~ilfte des 20. Jahrhunderts". 75 Im Prinzip ist es immer schwer, diese Theorie darzustellen, da sie aus allen Definitionen entkommt. Normalerweise denkt man, dass diese Theorie zur PerFranqois Dosse, Histoire du Structuralisme II. Le chant du cygne, 1967 h nos jours, Paris, 1992, S. 146. 75 Siehe Collins, R., ,,Theoretical Continuities in Goffman's Work", in: Drew, P. and Wooton, A. Hrsg., Erving Goffman: Exploring the Interaction Order, Cambridge, 1988, S. 41 -63.
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spektive des symbolischen Interaktionismus geh6rt, weil Goffman die Universi~. of Chicago (Geburtsort des symbolischen Interaktionismus) besuchte. W~ihrend seines wissenschaftlichen Lebens kritisierte Goffman jedoch die Ergebnisse der symbolisch-interaktionistischen Forschungen. Aus diesem Grund kann man von einem gewissen Einfluss, aber nicht von Zugeh6rigkeit sprechen. Aber Goffman war auch kritisch in Bezug auf die Theorien von Talcott Parsons, Alfred SchiJtz und Harold Garfinkel. 76 Um Goffman besser darstellen zu k6nnen, ist es notwendig, seine theoretischen Wurzeln in dem Werk von Emile Durkheim zu suchen, weil bei Goffman wie bei Durkheim die gesellschaftliche Wirklichkeit eine moralische Wirklichkeit ist. Der Kern der Gesellschaft ist von moralischen Gefiihlen, welche die Leute zu bestimmten Handlungen zwingen, zusammengehalten. Fiir Goffman ist das Alltagsleben ein Ritual, dessen heiliger Gegenstand in der Modeme das Individuum ist. Genauso wie bei Parsons kann man beobachten, dass der Schatten Durkheims anwesend ist, aber das bedeutet nicht, dass beide Theorien dieselben Ziele suchen bzw. erreichen. 77 Der Grundunterschied zwischen Goffman und Parsons liegt daran, dass Goffman einen Internalisierungsbegriff im Sinne von Parsons ablehnte. Das heiBt, dass bei Goffman das psychische System und die gesellschaftlichen Normen (also: die Moral) nicht notwendigerweise zusammentreffen. Diese theoretische Auffassung setzt einen besonderen Selbstbegriff voraus, da Goffman nicht dachte, dass das menschliche Selbst eine feste ontologische Wesenheit ist. Das Selbst existiert an sich nicht, sondem immer nur als das Ergebnis verschiedener sozialer Beziehungen. Die Gesellschaft fordert von den Individuen die Darstellung des Selbst; aber das geschieht nicht, weil diese Individuen ein wahres Selbst tats~ichlich haben, sondem, weil sie ein Selbst schaffen mi~ssen, um an der Gesellschaft teilnehmen zu k6nnen. Man kann hier ein zirkulares Kausalverh~iltnis ablesen: das Selbst ist eine gesellschaftliche Konstruktion, die gleichzeitig eine Bedingung der M6glichkeit der Gesellschaftsproduktion ist. Das Produkt produziert sich aus sich selbst heraus. Aus diesem Grund kann man behaupten, dass das Selbst ein gesellschaftliches Symbol ist. Diese notwendige gesellschaftliche Selbstdarstellung kondensiert sich historisch in der Form des Wortes ,,Person". Da in der Gesellschaft Handlungen und Kommunikationen nur den Personen zugeschrieben werden k6nnen, zeigt schon die Wichtigkeit des Begriffes. Aber das Wort ,,Person" zeigt noch mehr. Da es urspriinglich eine Maske bezeichnet, kann man in diesem Wort die Anerkennung der Tatsachen finden, dass die Menschen iiberall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielen miissen. Im Kern des Wortes gibt es also schon eine Proto76 Mit den Kritiken an Schtitz und Garfinkel werde ich mich sp~iterbesch~iftigen. 77 Eine zus~itzliche )~hnlichkeit zwischen Parsons und Goffman ist, dass beide gegen eine bloBe utilitaristische ErkRirungder sozialen Handlungwaren.
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Rollentheorie. Die wichtigste soziologische Wirkung dieser Oberlegungen ist, dass es zeigt, dass es einen gewissen Abstand zwischen psychischem System und Person gibt. Empirisch kann man diese Reflexionen best~tigen, wenn man beobachtet, dass die Individuen sich auf ihre Rollen in verschiedene Art und Weise beziehen. Das paradigmatische Beispiel von Goffman ist der Fall des Zynikers, der an seine Rolle nicht glaubt. Dennoch kann er diese Rolle spielen. In der Theorie von Goffman ist es nicht notwendig, dass alle Menschen einer bestimmten Gesellschaft die gleichen Werte teilen. Es ist auf jeden Fall wichtiger, dass sie die gtiltigen Spielregeln dieser Gesellschaft kennen. Bei Goffman sind die Normen keine Regeln, die man im Kopf hat, sondern die verschiedenen Weisen der Entwicklung gesellschaftlicher Situationen. Beispielsweise impliziert ein VerstoB gegen die Normen fast immer die entsprechende moralische Wiedergutmachung. Im Gegensatz zu dem h~iufigen Bild seiner Theorie ist die Gesellschaft nach Goffman nicht amoralisch und es gibt auch keinen machiavellischen ,,Goffmenschen". In dieser Theorie gibt es aul3erdem keine ,,kybernetische Hierarchie", weil sich der K/Srper immer gegen die psychischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontrollen widersetzen kann. Der Ktirper ~iul3ert sich durch das (unabsichtliche) Lachen, das Weinen, die Angst, usw. Deshalb ist die physikalische Welt sehr wichtig, denn sie ist der erste Rahmen der Handlung. Aus diesem Grund kann der handelnde Mensch nicht vermeiden, st~indig Information wegzugeben. Im Bereich der Interaktion wird diese Information sich auf Eigenschaften beziehen, die dem Akteur zugeschrieben werden ktinnen. Solche Eigenschaften bestimmen, in welche sozialen Kategorien dieser Akteur eingeordnet werden kann. Aus diesem Grund kann man behaupten, dass die Situation der Interaktion ein ideales projektives Feld ist. Obwohl diese Informationsherstellung und dieser Informationsaustausch im Bereich der Interaktion geschehen, bedeutet dies selbstverst~ndlich nicht, dass all die Information einer bestimmten Situation unbedingt mit der lokalen Szene zusammenh~ingt. Es gibt zwei typische Reaktionen des Individuums auf diese zugeschriebenen Merkmale: Annehmung oder ablehnen. Wenn man ein bestimmtes zugeschriebenes Merkmal annimmt, nimmt man auch eine entsprechende bzw. konsistente Auffassung seiner Person an. Normalerweise bedeutet es, dass man sich mit dem, was man gerade tut, identifiziert. Das heil3t, dass es eine Uberschneidung zwischen dem Selbstbild und der spielenden Rolle gibt. In Bezug auf solche F~ille hat Goffman geschrieben: ,,Three matters seem to be involved: an admitted or expressed attachment to the role; a demonstration of qualifications and capacities for performing it; an active engagement or spontaneous involvement in the role activity at hand, that is, a visible investment of attention and muscular effort. Where these three features are present, I will use the term embrace.o
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ment. To embrace a role is to disappear completely into the virtual self available in the situation, to be fully seen in terms of the image, and to confirm expressively one's acceptance of it. To embrace a role is to be embraced by it". TM Falls eine momentane Diskrepanz zwischen Selbst und Rolle entsteht, bleibt das Individuum nicht passiv. Vielmehr versucht es aktiv anhand der sogenannten ,,Kontrolle der Implikationen" eine Definition der Situation, die stabil und mit dem entsprechenden Selbstbild konsistent ist, aufrechtzuerhalten. Typische Beispiele fur eine solche ,,Kontrolle der Implikation" sind Erkl~irungen, das Bitten um Verzeihung und Witze. Es gibt aber auch F~ille, in denen das Tun und das Sein aktiv getrennt werden k6nnen. Diese Handlungsmtiglichkeit ist von Goffman ,,Rollendistanz" genannt worden. Der Begriff ,,Rollendistanz" bezieht sich n~imlich auf die geschaffene Distanz zwischen Selbst und Rolle. In solchen F~lle lehnt der Akteur nicht seine Rolle ab, sondern das damit implizierte Selbst. Es ist allerdings zu beachten, dass die ,,Rollendistanz" nicht mit dem Begriff ,,abweichendes Verhalten" zusammentrifft. Die Rollendistanz meint sowohl Spielraum als auch eine gewisse Souver~nit~it (Kompetenz) 79 des Akteurs gegeniiber seiner Rolle. Aus diesem Grund kann man behaupten, dass es mit der Kreativit~it zu tun hat, da es immer mehr als nur einen Weg gibt, etwas zu machen. Obwohl die Universit~itsvorlesungen im Prinzip ernste Angelegenheiten sind, kann beispielsweise ein Professor w~ihrend der Sitzung einen Witz erz~ihlen, um die Atmosph~e zu entspannen und das Lernen zu f6rdern. In diesem Sinne kann die Rollendistanz zur Funktionalit~it der Handlungssysteme beitragen. 4.3
Die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel
Wegen seiner (wie schon gesagt immer umstrittenen) Filiation zum symbolischen Interaktionismus wurde das Werk von Goffman als eine Alternative zu Parsons bezeichnet. Wenn man aber den Einfluss, den das Werk von Durkheim auf Goffman tibte, ernst nimmt, muss man diese Trennung ein bisschen entsch~.rfen. Letztendlich beruht fiir Goffman die soziale Ordnung auch auf verbindlichen gesellschaftlich konstituierten Normen. Wie schon gesagt, liegt jedoch der Unterschied darin, dass Goffman eine vollkommene Internalisierung gesellschaftlicher Normen ablehnte. Ftir Goffman war es also klar, dass die Individuen (und ihre K/Srper) nicht als hyperkonditionierte passive Entitaten begriffen werden sollen. Es verh~ilt sich vielmehr genau umgekehrt: gerade weil 78 Erving Goffman, ,,Role Distance" in: ders., Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction, London, (1961 ) 1972, S. 94. 79 Anthony Giddens ist der Meinung, dass man hier sogar ,,Agency" beobachten kann.
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die Individuen weder die normative noch die ktirperliche Selbstkontrolle erreichen ktJnnen, mtissen sie (reflexiv) Strategien entwickeln, um innerhalb interaktiver Situationen ein sozial akzeptables Selbst aufrechterhalten zu kSnnen. Allerdings genossen die Reflexionen von Goffman keinen guten Ruf innerhalb der anti-strukturfunktionalistischen Bewegung der 60er Jahre, weil seine Texte als Anleitungen f'tir T~iuschung und Unehrlichkeit galten. Ganz anders ging man mit den Analysen von Harold Garfinkel urn, dessen Werk eine groBe Popularit~it unter den Soziologiestudenten in den USA genossen hat. Zwischen 1946 und 1952 studierte Garfinkel Soziologie mit Parsons. Als ehemaliger Schtiler kennte er sich gut mit den Leistungen und Grenzen des Strukturfunktionalismus aus. Seine Ethnomethodologie bezieht sich jedoch auf eine ganz andere Denkrichtung, n~imlich die philosophische Ph~inomenologie von Edmund Husserl und die soziale Ph~inomenologie von Alfred Schtitz. Mit der Ph~inomenologie versuchte Husserl eine Methode zu entwickeln, die iiber den Psychologismus und den Empirismus hinausgehen ktinnte, um das Wesen der Sachen als eine objektive Sinneinheit logisch-idealer Art zu erreichen. Die Ph~inomenologie versuchte also, eine fundamentale Ontologie durch die Rtickkehr zu den Sachen selbst zu begrtinden. Wie kann man aber solche Wesenheiten anschauen? Die Antwort von Husserl lautet: durch eine besondere Art von epochg, in der wir den empirischen bzw. psychologischen Gehalt der Sachen ausklammern, um uns mit dem Wesen dieser Sachen zu besch~ftigen. Durch dieses Ausschalten der Erfahrungen der Lebenswelt und der natiirlichen Einstellung kann auch das Wesen des Bewusstseins (im Sinne eines transzendentalen Bewusstseins) beobachtet werden. Anhand dieser ph~inomenologischen Methode ktJnnte man nicht nur eine fundamentale Ontologie, sondern auch regionale Ontologien begrtinden und die Aporien des Relativismus und des Nominalismus vermeiden. Alfred Schiitz hat die Ph~inomenologie nicht benutzt, um Fragen der Ontologie zu beantworten, sondern um die Reflexionen von Max Weber zu erganzen. Um diese soziologische Ph~inomenologie durchzuftihren, kehrte Schtitz den Begriff der epochg um. Ftir Schtitz war es also nicht ntitig, die Welt auszuklammern, um das Wesen der Sachen zu erreichen, sondern die (praktische) Ausklammerung zu analysieren, welche die sozialen Akteure in ihrem Alltagsleben durchftihren und mit deren Hilfe sie die Fragen tiber die Kontingenz der (sozialen) Welt ausschalten. Diese Ausklammerung des Zweifels nannte Schiitz die epochdder nattirlichen Einstellung. Es sind genau die von den sozialen Akteuren angewandten Methoden, um diese besondere Art von epochd aufrechtzuerhalten, diejenige, die Garfinkel erforschte. Die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens geht ftir Garfinkel weit tiber die Verinnerlichung von Werten und Normen hinaus und be74
zieht sich haupts~ichlich auf die permanenten BemiJhungen der Akteure, um die (ontologische) Koh~irenz der Gesellschaft zu bewahren. Die Ethnomethodologie interessiert sich also nicht fiir die Handlungsmotivation, sondern fiir ihren praktischen Sinn. Wie schon im dritten Kapitel gezeigt, fungiert fiir Parsons der normative Konsens als M6glichkeitsbedingung des Handelns. Da der Strukturfunktionalismus gem mit der Unterscheidung manifest / latent gearbeitet hat, konnte er diesen normativen Konsens als eine Art latente Struktur beobachten. In dieser Perspektive ist das (substantialisierte) System immer kliiger als seine Akteure, weil es immer weiB, was es braucht und wie es diese Bedtirfnisse erf'tillen kann. Die Akteure wissen nicht, dass sie durch das Verfolgen ihrer jeweiligen, individuellen Ziele zur Aufrechterhaltung dieses Systems beitragen. Wenn Parsons das Wissen der gesellschaftlichen Akteure beobachtete, beobachtete er es mit Hilfe der Unterscheidung rational / irrational. Unter dem Einfluss der Reflexionen von Weber und Pareto konzipierte Parsons das rationale Wissen als eine Art Wissen, in dem es eine Korrespondenz zwischen Zweck und Mittel gibt. Wenn jemand beispielsweise ein neues Auto kaufen will, muss er Geld sparen. Umgekehrt charakterisiert sich das irrationale Wissen wegen der Inkongruenz zwischen Zweck und Mittel. Wenn diese Person, die ein Auto kaufen will, kein Geld spart, aber anf'~ingt, die Kirche zu besuchen, weil sie glaubt, dass Gott ihm helfen kann, befinden wir uns vor einem klassischen Beispiel der sogenannten Irrationalit~it. Die Frage ist nun: wer entscheidet, was rational, und was irrational ist? Laut Parsons konnte diese Entscheidung nur die Wissenschaft treffen. Die Akteure k6nnen glauben, was immer sie wollen. Nur der Wissenschaftler weiB, ob es tats~ichlich eine logische und ontologische Korrespondenz zwischen Mittel und Zweck gibt. Eigentlich k6nnen die Akteure ihre eigene Rationalit~it bzw. Irrationalit~it nicht bewerten, da sie weder die Zwecke noch die Mittel des Handelns ausw~ihlen. Ganz unbewusst k6nnen sie sich nur darum bemiihen (im Sinne von effort), die gesellschaftlichen Erwartungen zu befriedigen. Da diese Erwartungen nicht auf einem koh~enten Zweck-Mittel-Schema basieren, handeln die Akteure fast immer in einer ,,irrationalen" Weise. Diese ,,Ignoranz" fungiert als eine Art Garantie ftir die gesellschaftliche Ordnung. Garfinkel fand dieses Akteursbild sehr unbefriedigend. Ftir ihn war es klar, dass der Akteur kein ,,cultural dope" ist, 8~ dessen Wissen keine Rolle f'tir das Handeln spielt. Mit seiner Ethnomethodologie wollte Garfinkel eine eigentliche
s0 ,,By 'cultural dope' I refer to the man-in-the-sociologist's-societywho produces the stable features of society by acting in compliance with preestablished and legitimate and legitimate alternatives of action that the common culture provides" in: Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology (1967), Cambridge, 2002, S. 68. 75
Handlungstheorie entwickeln, die das Problem gesellschaftlicher Ordnung nicht als normatives, sondern als kognitives Problem 16sen sollte. Die Aufgabe der Ethnomethodologie l~isst sich im folgenden (mittlerweile klassisch gewordenen) Zitat zusammenfassen: ,,The activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members' procedures for making those settings account-table", s~ Da diese praktischen Verfahren nur innerhalb spezifischer Kontexte beobachtet werden k6nnen, pl~idierte Garfinkel f'tir eine (unheimlich akribische) empirische Soziologie. Um diese Art Forschung durchfiihren zu k6nnen, nahm Garfinkel nicht nur die iiblichen Forschungstechniken in Anspruch, sondern auch die neu zur Verf'tigung stehenden technischen Mittel. Die Innovationen von Garfinkel beziehen sich aber nicht nur auf die Anwendung neuer technischen Mittel, sondern auch auf die von ihm entwickelnden ,,Experimenten" (die sogenannten breaching experiments), mit denen Hilfe sich den praktischen Gedankengang der Akteure beobachten l~isst. Ziel dieser Experimente war die ,,Ausklammerung" der epochd der natiirlichen Einstellung. Mit Hilfe seiner Studenten versuchte Garfinkel die Normalit~it des Alltagslebens in Frage zu stellen, um zu beobachten, wie die Akteure sich (kognitiv) darum bemtihen, diese Normalit~it wieder herzustellen. Diese Bemiihungen k6nnen in zwei Kategorien eingeordnet werden. Auf der einen Seite gab es Leute, die versucht haben, die Situation durch eine Muster~inderung zu normalisieren. Diese Leute haben das Experiment f'tir einen Witz gehalten. Auf der anderen Seite gab es Leute, die sich sehr darum bemtiht haben, das ursprtingliche Deutungsmuster zu halten. Wenn diese Leute bemerkt haben, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Situation zu normalisieren, haben sie darauf mit .~a'ger reagiert. Normalerweise haben die Individuen mehr Toleranz gegentiber den Experimenten gezeigt, wenn das Verhalten der Studenten methodisch zu einem verst~indlichen Muster angepasst werden konnte. Nur wenn der Kontext intelligibel geblieben ist, konnten die Individuen ihr Vertrauen aufrechterhalten und sich noch mehr darum bemiihen, die Verst~indlichkeit der Situation zu bewahren. Es ist schon deutlich, dass die kognitive Konstruktion der Welt ein rekursiver Prozess ist. Diese kognitive L6sung des Ordnungsproblems hat auch grol3e Auswirkungen im Bereich der Normativit~it. Die Akteure k6nnen sich darum bemtihen, die Situation kognitiv mitzugestalten, weil sie ein gewisses Verst~indnis der Muster haben. Durch dieses Verst~indnis k6nnen sie erkennen, wann ein bestimmtes Muster ,,funktioniert" und wann nicht. Diese Funktionalit~it bezieht sich aber nicht auf die Aufrechterhaltung einer schon bestimmten Struktur, sondern auf s~HaroldGarfinkel,a.a.O., S. 1. 76
die Situation selbst. Im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus, nach dem es ein festes Verh~iltnis zwischen Situation, Norm und Handlung gibt, konzipiert die Ethnomethodologie dieses Verh~iltnis mit Hilfe des Zeitbegriffes. FUr sie geht es also nicht um eine (immer schon gegebene) Situation, die das Handeln bestimmt, sondern um die praktische Produktion yon Sinn im Laufe der Zeit. In der Situation gibt es also keine feste Sinnreferenz. Es gibt eine allm~ihliche Sinnschaffung, die nur durch die Handlung stattfinden kann. Aus diesem Grund sind die kognitiv-praktischen Leistungen der Akteure fiir die Konstitution (das heiBt: fi~r die Produktion und Reproduktion) einer Situation unverzichtbar. Wenn es keine vorgegebene Situation geben kann, gibt es auch keine vorgegebene normative Instruktion, die einer bestimmten Situation entspricht. Da die Anzahl der m6glichen Situationen im Prinzip unendlich ist, w~ire es n6tig immer neue Normen zu entwickeln. In der Wirklichkeit geschieht dies aber nicht. Normalerweise bewahren sich die normativen Erwartungen gegen jede Entt~iuschung. Die Frage ist nun: warum? Fiir Garfinkel ist es klar, dass die normativen Erwartungen nicht nur als eine Art Kontrollinstanz gesehen werden sollen, sondern als ein Interpretationsmuster. Ohne normative Erwartungen w~e es unmtiglich, einen bestimmten Handlungszusammenhang Uberhaupt zu verstehen. Es sind genau diese normativen Erwartungen die Instanzen, welche die Intersubjektivitat erm6glichen, da all die Akteure Zugang zu diesen sozialen Konventionen haben. Vor der Abweichung miissen die Akteure reflexiv reagieren und aktiv versuchen, die Situation wieder versRindlich zu machen. Die Akteure suchen also nach Griinden, die ihnen erkl~en k6nnten, warum jemand sich der Norm entsprechend nicht verhalten hat. Diese Griinde k6nnen sich sowohl auf Motive als auch auf den Kontext beziehen. Diese Zuschreibung fungiert als eine praktische Strategie, die uns erm6glicht, die Koh~enz der Welt zu bewahren. In diesem Sinne spielen fiir die ethnomethodologische Forschung die vom UberIch verursachten Schuldgef'tihle keine wesentliche Rolle. Da die Akteure wissen, dass es auch andere Akteure gibt, die das Handeln interpretieren, haben sie immer gute Griinde, den Normen zu folgen. Im Gegensatz zu Parsons denkt Garfinkel nicht, dass dieses Wissen zum Zynismus fiihrt. Genau weil ein Akteur die von anderen Gesellschaftsmitgliedern durchgef'tihrte Interpretation seines Handelns reflexiv antizipieren kann, versucht er durch seine Handlung die Verst~indlichkeit der Welt zu bewahren. Der Ethnomethodologie nach besteht also eine tiefe Interdependenz zwischen Fakten und Normen. ~
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4.4
Und noch einmal: Goffman
Die Weiterentwicklung des Werkes von Erving Goffman kann mit Hilfe der Feldlogik interpretiert werden. Mit seinem Friihwerk hat Goffman den Interaktionsbereich als legitimen Forschungsbereich der Soziologie etabliert. Je mehr abet die Soziologie von Parsons und seine Strukturen Abstand nehmen wollte, desto mehr besch~iftigte sie sich mit diesem sogenannten ,,Mikrobereich". Sowohl der vom Pragmatismus gepr~igte symbolische Interaktionismus als auch die ph~inomenologische Soziologie (Schtitz, Berger, Luckmann) und die Ethnomethodologie (Garfinkel) versuchten die Mechanismen der Interaktion zu erkl~iren und die Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu beantworten. Goffman stimmte allerdings diesen Erkl~Lrungsversuchen nicht zu. In seinem sp~iteren Werk versuchte Goffman auf diese Herausforderungen zu reagieren. Im Frame Analysis 82 setzte sich Goffman sowohl mit Schlitz als auch mit Garfinkel auseinander, um die Frage nach der Realit~it vonder epistemologischen Wende zu retten, indem er sie wieder soziologisieren wollte. Es sind genau die Rahmen als gesellschaftliche Sinnanweisungen (und nicht als Leistung des individuellen Bewusstseins), das von Goffman ausgew~ihlte Werkzeug f'tir solche Soziologisierung der Frage nach der Wirklichkeit. Die mit Hilfe dieser Rahmen entstandene Definition einer Situation ermtiglicht das Handeln. In diesem Sinne bezieht sich die Analyse dieser Rahmen auf die sozial bedingte Organisation menschlicher Erfahrungen. Grundannahme fiir diese Rahmenanalyse ist die oben erw~ihnte Kluft zwischen gesellschaftlichen Rollen und Pers6nlichkeit. Im Gegensatz zu Schtitz wollte Goffman zeigen, dass das Alltagsleben wegen seiner Vielschichtigkeit viel komplizierter ist, als die ph~inomeno-logischen Forschungen gezeigt haben. Fiir Goffman sollte diese Welt des Alltags nicht als eine Einheit beobachtet werden, sondern als ein fragmentarischer Bereich, der nut mit Hilfe von Rahmen analysiert werden ktinnte. Im Gegensatz zu Garfinkel interessierte sich Goffman nicht ftir die von den Akteuren angewendeten Methoden, sondem f'tir die in der Interaktion angewendeten Mechanismen der Realit~itsdeutung. Goffman wollte also nicht (oder besser gesagt: nicht nur) zeigen, wie das Individuum vor der Erwartungsentt~iuschung reflexiv eine Muster~inderung (im Sinne yon Rahmen~inderung) durchfiihrt, sondem wie die Gesellschaft sehr unterschiedliche Rahmen bereitstellt, die den Individuen helfen, eine bestimmte Situation zu definieren. In diesem Sinne bezieht sich diese Analyse prim~ir auf eine Art Klassifizierung yon Rahmen. Fiir Soziologen, die sich mehr
82ErvingGoffman,FrameAnalysis.An Essayon the Organizationof Experience, New York, 1974. 78
fiir die Interpretation der Erfahrung der Akteure (Sozialdimension) interessieren, pr~isentiert diese Klassifizierung (Sachdimension) viele Probleme. Ein gutes Beispiel solcher Art von Klassifizierung befindet sich in der Definition der sogenannten ,,prim~iren Rahmen". 83 Da die Welt und ihre Ereignisse in sich selbst keine Sinnanweisung besitzen, miissen die Akteure immer sozial bedingte Rahmen in Anspruch nehmen, um diese Sinnlosigkeit zu tiberwinden. Ftir Goffman gibt es zwei Grundrahmen, die den Akteuren helfen die Welt verst~indlich zu machen, n~imlich die nattirlichen und die sozialen Rahmen. Wenn etwas in der Welt geschieht, das die Aufmerksamkeit der Akteure fordert, mtissen die Akteure zun~ichst ,,Entscheiden" (selbstverst~indlich geht es hier nicht um rationale bzw. irrationale Entscheidungen, sondern um Entscheidungen, die sich auf die Praxis beziehen), ob dieses Ph~inomen natiirlicher oder sozialer Art ist. W~ihrend soziale Ereignisse sich immer in Bezug auf menschliche Intervention (und gerade deshalb auf menschliche Intentionalit~it) erkl~iren lassen, bezieht sich die Interpretation natiirlicher Ereignisse auf unperstinliche und absichtlose Ursachen. Da die Anwendung dieser Rahmen nichts mit der tats~ichlichen Welt zu tun hat, ist die Analyse dieser Anwendung problematischer als sie zun~ichst erscheinen mag. Dieselbe Tatsache kann von zwei unterschiedlichen Personen ganz anders interpretiert werden. Ein zuf'~illiges Treffen in einem Caf6 kann von einer Person auch als das Ergebnis einer bewussten Planung interpretiert werden, besonders wenn diese Person weil3, dass die andere Person romantisches Interesse an ihr gezeigt hat. Was im Prinzip Ergebnis des Zufalls ist (und deshalb sich mit Hilfe der natiirlichen Rahmen interpretieren l~isst), kann auch als Resultat menschlicher Intervention gesehen werden. Hier geht es also immer um Zuschreibung durch Rahmen. Diese Kontingenz in der Anwendung von Rahmen kann man auch in der Tatsache beobachten, dass solche Unterscheidung (natiirlich / sozial) nicht gtiltig fiir alle Gesellschaften ist. Es gibt Gesellschaften, in denen Ph~inomene, die wir als ,,moderne" westliche Menschen als nattirliche Ereignisse charakterisieren, als Produkt iibermenschlicher Kr~ifte und Absichten interpretiert werden. 84 Aus diesem Grund bezieht Goffman seine Forschung ausschliel31ich auf die westliche Welt. Da Goffman sich aber fiir die ,,Makrostruktur" des gesellschaftlichen Lebens nicht interessierte, konnte er weder die Entstehungsgeschichte (Zeitdimension) noch die schichtungsabh~ingige Anwendung solcher Rahmen (Sozialdimension) 83A.a.O., S. 21 ft. 84In den funktionaldifferenzierten Gesellschaften bezieht sich die Anwendung solcher transzendenten Rahmen auf den Bereich der Religion und in diesem Sinne ist ihr Giiltigkeitsbereich sehr beschr~inkt. Deshalb fordert Goffman ftir eine erfolgreiche Verst~indigungder Rahmenanwendungdie Verst~indigung der ,,Weltanschauung"einer Gesellschaft. 79
beobachten. Obwohl er die Bedeutung der Forschung dieser ,,Makrostruktur" anerkannte, versuchte er keine Erg/inzung zwischen dem Interaktionsbereich und der umfassenden gesellschaftlichen Struktur durchzuftihren. Eigentlich stellte Goffman seine Arbeit als eine soziologische ,,Nebensache" dar: ,,I person-ally hold society to be first in every way and any individual's current involvements to be second; this report deals only with matters that are second". 85 Die Rahmenanalyse von Goffman tr/igt also zur L6sung des Problems der Struktur bei, indem sie die Struktur (in diesem Falle die unterschiedlichen Rahmen) dynamisiert. Die Situationen k6nnen nur mit Hilfe von Rahmen definiert werden. Da es aber nicht nur eine uniiberwindbare Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft gibt, sondern auch eine Kluft zwischen den unterschiedlichen Individuen, ist es unm6glich, dass all die Akteure denselben Rahmen benutzen, um eine bestimmte Situation zu interpretieren. Diese Rahmenvielf'filtigkeit fordert eine st/indige, reflexive Rahmeneinstellung, die einen praktischen Sinn in Anspruch nimmt. In diesem Sinne operieren die Akteure nicht wie triviale Maschinen (input = Situation / output = Handeln). Diese Rahmen sind aber kein Produkt individueller Bewusstseinsysteme, sondern eine gesellschaftliche Leistung. Die Dynamik der Rahmungen setzt also ein neues Verh/iltnis zwischen Struktur und Handlung voraus. Da die Akteure die Situation immer wieder (praktisch) beobachten miissen, k6nnen weder die Situationen noch ihre entsprechenden Rahmen das Ergebnis einer Interaktion von Anfang an bestimmen. Jetzt mtissen wir die Revolte gegen die Struktur, die in den USA stattgefunden hat, verlassen, um die entsprechende Reaktion auf der anderen Seite des Atlantiks zu beobachten.
4.5
Systemtheoretische Kritik des Strukturfunktionalismus: Niklas Luhmann
Die Kritik an der Handlungstheorie von Talcott Parsons fand nicht nur augerhalb der Systemtheorie statt. Schon w/ihrend der sechziger Jahre entwarf Niklas Luhmann eine systemtheoretische Kritik des Funktionalismus in Aufs/itze wie ,,Funktion und Kausalit/it" (1962), ,,Funktionale Methode und Systemtheorie" (1964) oder ,,Soziologie als Theorie sozialer Systeme" (1967). Erst am Anfang der siebziger Jahre wurden diese Aufs/itze im ersten Band der Reihe ,,soziologischen Aufkl/irung" eingeschlossen. 86
s5 A.a.O., S. 13. s6 Niklas Luhmann, Soziologische Aufkl~irung 1. Aufs~itze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen, 1970.
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In dieser kritischen Auseinandersetzung mit Parsons wollte Luhmann den Funktionalismus als wissenschafiliche Methode von den strukturfunktionalistischen Pr~imissen retten. Um solches Ziel zu erreichen, war es n6tig, deutlicher zwischen Theorie und Methode zu unterscheiden. Im Gegensatz zu den Theorien, die st~indig durch neue Daten falsifiziert werden k6nnen, charakterisieren sich die wissenschafilichen Methoden far eine gewisse Stabilit/it. Das hei6t also: wenn eine Theorie wiedergelegt wird, bedeutet dies nicht, dass auch die Methode, mit deren Hilfe die Theorie entwickelt worden war, diskreditiert werden muss. Man kann also die Handlungstheorie von Parsons in Frage stellen, ohne auf den Funktionalismus als Analyseinstrument verzichten zu mtissen. Luhmann wollte auf diese Methode nicht verzichten, weil er fest tiberzeugt war, dass die Soziologie nur durch die richtige Anwendung des Funktionalismus die Aporien der kausalwissenschaitlichen Methode tiberwinden k6nnte. Diese Aporien beziehen sich auf die Problematik der Konstruktion kausaler Zusammenh~inge (im Sinne von Kausalgesetzen) in den sozialwissenschafilichen Erkl~irungen. Wenn man die soziale Welt als Kette von (festen) Ursachen und Wirkungen interpretiert, kann man ihre auf Kontingenz basierte Komplexit~it nicht beobachten. Der Unterschied zwischen beiden Methoden liegt also daran, dass der Funktionalismus diese Kontingenz in Anspruch nehmen kann. Im Gegensatz zur kausalwissenschaftlichen Methode besch~iftigt sich der Funktionalismus nicht mit der Suche nach kausalen Ketten, sondem mit der Suche nach Vergleichensm6glichkeiten. In diesem Sinne verlieren Begriffe wie Ursache und Wirkung far den Funktionalismus an Bedeutung, w~ihrend Begriffe wie Problem und L6sung wiederum an Bedeutung gewinnen. Der Funktionalismus begreifi die Ph~inomene als Probleme (oder besser gesagt als Problemzusammenh~inge), die Anschlussm6glichkeiten fiir unterschiedlithe (kontingente) L6sungen er6ffnen. FUr Luhmann liegt die eigentliche Leistung einer solchen Methode ,,in der Fixierung eines abstrakten Bezugsgesichtspunktes, n/imlich des ,Problems', von dem aus verschiedene M6glichkeiten des Handelns, /iu6erlich ganz unterschiedlich anmutende soziale Tatbest~inde als funktional ~iquivalent behandelt werden k6nnen". 87 Es geht also nicht mehr um feste kausale Ketten, sondern um vom Beobachter abh~ingige Vergleichspunkte. Nur wenn man die eigentlichen Eigenschaften der funktionalistischen Methode anerkennt, kann man sie mit einer theoretischen Perspektive erg~inzen, um den Relativismus, der die Suche nach Problemen voraussetzt, zu vermeiden. FOr Luhmann war es klar, dass die funktionalistische Methode und die Systemtheorie sich gegenseitig erg~inzen lassen. Dass der Forscher sich nicht mehr mit kausalen Zusammenh~ingen besch~iftigt, bedeutet nicht, dass er ganz willktirlich
87 A.a.O., S. 35.
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nach Problemzusammenh/ingen und L6sungsm6glichkeiten suchen kann. Wegen der systemtheoretischen Erg/inzung des Funktionalismus wird es erforderlich sein, ausschliel]lich nach Leistungen, die zur Erhaltung sozialer Systeme beitragen, zu suchen. Es geht also nicht nut um Probleme, sondem um Probleme fiir ein System. Im Fall der sozialen Systeme beziehen sich diese Probleme auf die (dynamische) StabiliRit der Verh~iltnisse zwischen dem System und seiner Umwelt. Um seine IdentiRit zu bewahren, muss ein System sowohl seine Strukturen als auch seine Grenzen gegentiber einer komplexeren Umwelt relativ invariant halten. Soziale Systeme entwickeln unterschiedliche L6sungen, um dieses Problem zu bew~iltigen. Die Unterschiede zwischen Luhmann und Parsons liegen nun auf der Hand. Parsons erg~inzte seinen Funktionalismus mit einer Theorie der Systembedtirfnisse. Aus diesem musste er immer den ,,Bestand" sozialer Systeme als Bezugspunkt voraussetzen. Wie ich schon gezeigt habe, dachte Parsons, dass die Existenz sozialer Systeme (im Sinne der Aufrechterhaltung einer normativen Struktur) yon der Erf'tillung spezifischer Leistungen angewiesen ist. Beispielsweise sind im AGIL-Schema vier spezifische (und immer wiederholende) Funktionen zu finden, welche den Systembestand gew~ihrleisten. Im Gegensatz zu Parsons dachte Luhmann aber, dass die sozialen Systeme nicht unbedingt auf solche spezifische Leistungen angewiesen sind. Aus diesem Grund h6ren sie nicht auf, zu existieren, wenn diese Leistungen nicht mehr erftillt werden. Aul3erdem lassen sich Leistungen dutch funktional ~iquivalente Leistungen ersetzen. Dies bedeutet, dass die sozialen Systeme f'~ihig sind, dutch Struktur- und Bedtirfnis~inderungen auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren. Luhmann ftihrte also eine begriffliche Umstellung groBer Bedeutung durch. W~rend fur Parsons der Strukturbegriff sozusagen wichtiger als der Funktionsbegriff war, spielt dieser Funktionsbegriff eine wichtigere Rolle in der neuen Fassung der Systemtheorie. In diesem Sinne lassen sich Systeme durch Funktionen und nicht dutch Strukturen identifizieren. Es gibt also keine festen Struktuten mehr, die immer aufrechterhaltet werden miissen, um die Existenz des Systems zu gew~rleisten. Ganz umgekehrt sind diese Strukturen die dynamischen Elemente des Systems. Also, diejenigen Momente, die sich st~indig ~indem, um die Fortsetzung der Differenz zwischen dem System und seiner Umwelt zu erm6glichen. Dies bedeutet abet nicht, dass Luhmann die Bedeutung der normativen Erwartungen abgelehnt h~itte. Im Gegensatz zu Parsons dachte er abet, dass Werte und Normen zu der System ! Umweltdifferenzierung beitragen (innerhalb der Systeme gibt es immer normative Erwartungen, welche die Systemgrenzen deutlich machen) und nicht, dass die Systemelemente sich st~indig bemiihen, um eine gewisse Struktur zu bewahren. 82
Wegen dieser begrifflichen Umstellung wird die Theorie sozialer Systeme von Luhmann nicht mehr als eine strukturfunktionalistische Theorie, sondern als eine funktionalstrukturelle Theorie bezeichnet.
4.6
Strategien statt Regeln: Die Strukturalismuskritik von Pierre Bourdieu
W~ihrend seines Studiums an der Sorbonne und der Ecole Normale Sup~rieure besch~iftigte sich Pierre Bourdieu mit der Philosophie. Schon die Tatsache, dass es diesem aus der Provinz stammenden Sohn eines kleinen Beamten gelungen ist, diese zentralen Institutionen zu besuchen, zeigt uns viel tiber den ungew6hnlichen wissenschaftlichen Trajekt von Bourdieu. Trotz dieses unwahrscheinlichen Erfolges konnte Bourdieu sich mit den idealen Vorstellungen der intellektuellen Elite Frankreichs, dessen Vorbild Jean-Paul Sartre war, nicht identifizieren. Wegen dieser Unzufriedenheit ring Bourdieu an, periphere Autoren wie Martial Gu6roult, Jules Vuillemin und Georges Canguilhem zu lesen. In diesem Sinne war es von Anfang an klar, dass Bourdieu nicht zu jener Gruppe von Philosophen, welche die philosophische doxa bestimmten, geh6rte, sondern zu den ,,H~iretikern". W~ihrend dieser Zeit versuchte Bourdieu die philosophische doxa mit den Waffen der Philosophie zu bek~impfen. Schnell hat aber Bourdieu bemerkt, dass man einen solchen Kampf nur mit Hilfe der Wissenschaft gewinnen kann. Also ring Bourdieu an, wissenschaftliche L6sungen for philosophische Probleme zu suchen. Zun~ichst wollte er sich mit der Biologie besch~iftigen. Schnell hat er aber bemerkt, dass seine Arbeit der Anthropologie sehr ~ihnlich war. Das Prestige, das diese Disziplin wegen der Forschungen von Claude L6viStrauss gewonnen hatte, trug dazu bei, dass Bourdieu sich durch und durch mit der ethnologischen Forschung besch~iftigte. Am Anfang dachte er, dass dieser Fachwechsel nur voriibergehend war. Nach seinem Aufenthalt in Algerien, wo er sowohl soziologische als auch ethnologische Forschungen durchftihrte, war ihm klar, dass eine Riickkehr in die (reine) Philosophie unm6glich war. Genau wahrend dieser Zeit in Algerien ring Bourdieu an, einige Probleme des Strukturalismus zu identifizieren. Den Keim seiner Theorie der Praktiken kann man schon in den Werken, die w~ihrend dieser Zeit entstanden sind, sehen. Wie schon oben gesagt, bezogen sich diese Werke sowohl auf die Soziologie als auch auf die Ethnologie. 88
ss Diese ,,doppelte" Erfahrung hat das Werk von Bourdieu stark gepr~igt,da es fiir ihn klar geworden ist, dass die Grenzen zwischen Soziologie und Anthropologie absolut willktirlich sind. In der Zeit von Durkheim gab es so eine deutliche Trennung zwischen beiden Disziplinen iiberhaupt nicht. Die Soziologie von Durkheim war gleichzeitig Anthropologie und Geschichte. Nur so l~isst sich den grol3en Einfluss von Durkheimjenseits der Soziologie erkl~iren. Viel mehr als nur ein Klassiker der Soziologie gilt Durkheim auch als Klassiker der Anthropologie. Im Bereich der Geschichte kann 83
Unter den soziologischen Forschungen finden wir das erste Buch von Bourdieu, n~imlich die Sociologie de l'Alg~rie. 89 Bourdieu besch~iftigte sich auch mit der Situation der Arbeiter in Algerien (Travail et travaiUeurs in Alg~rie). 9~ Wichtiger f'tir unsere Diskussion sind allerdings die drei ethnologischen Aufs~itze iiber die kabylische Gesellschaft, n~imlich ,,Le sentiment de l'honneur", ,,La maison kabyle et le monde renvers6" und vor allem ,,La parent6 comme repr6sentation et comme volont6". 91 Bourdieu selbst hat den Essay iiber das kabylische Haus als seine letzte ,,gltickliche" strukturalistische Arbeit bezeichnet. In diesem Essay analysiert Bourdieu die symbolische Konstitution des Raumes innerhalb des kabylischen Hauses. Diese symbolische Konstitution strukturiert sich durch ein System von Dichotomien (links und rechts, Wasser und Feuer, Tag und Nacht), das den Hausraum nach den Kriterien innen und aul3en aufteilt. Es gibt aber eine Art Metadichotomie, die all die r~iumlichen Unterscheidungen bestimmt, n~imlich die Opposition zwischen M~innlichkeit und Weiblichkeit. Diese Metadichotomie teilt den Weltraum in den weiblichen Raum (innerhalb des Hauses) und den m~innlichen Raum (auSerhalb des Hauses). W~ihrend die Frauen innerhalb des Hauses ,,versteckt" bleiben miissen, bewegen sich die M~inner in der ,,tiffentlichen" Welt, wo sie ihre M~innlichkeit in der Konfrontation st~ndig best~itigen miissen. Da die M~inner aber auch Zeit im Haus verbringen miissen, muss es auch innerhalb des Hauses einen m~innlichen Raum geben (sonst wtirden die M~inner ihre M~innlichkeit innerhalb des Hauses verlieren). In diesem Sinne ktinnen wir auch innerhalb des Hauses einen m~innlichen Raum finden. Dieser Raum entspricht all den m~innlichen Kategorien der Welt (beleuchtet, hoch, trocken, Ost, Kultur, usw.). Um diese Korrespondenz zu schaffen, muss aber ein kleines symbolisches Wunder geschehen, n~imlich die Koordinaten der Welt miissen sich innerhalb des Hauses umdrehen. Was auBerhalb des Hauses West ist muss innerhalb des Hauses Ost werden, was aul3erhalb des Hauses Siiden ist, wird innerhalb des Hauses zum Norden. Diese Umdrehung wird gemacht, so dass das aus dem Osten kommende Licht innerhalb des Hauses m~innlich bleibt, weil es (logischerweise) innerhalb des Hauses nicht die tistliche Wand, sondern die westliche Wand beleuchtet.
man seine Einwirkung auch nicht leugnen, wenn man die Werke der Gruppe der Annales (Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel) beobachtet. 89 Pierre Bourdieu, Sociologie de 1'Alg6rie, Paris, 1958. 90 Pierre Bourdieu (mit Alain Darbel, Jean-Paul Rivet und Claude Seibel), Travail et travailleurs in Alg6rie, Paris / den Haag, 1963. 91 Heutzutage befinden sich diese drei Essays in: Pierre Bourdieu, Esquisse d'une th6orie de la pratique. Pr6ced6 de trois 6tudes d'ethnologie kabyle (1972), Paris, 2000.
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Obwohl es klar ist, dass diese Uberlegungen dem Strukturalismus viel schulden, ist es auch klar, dass Bourdieu die Operativit~it der Unterscheidungen nicht mehr nur als konzeptuelle Kategorien begreift. Durch die Analyse der unterschiedlichen Bedeutung von Bewegungen (ein- und austreten) versucht Bourdieu zu zeigen, dass es hier nicht nur um gedachte Kategorien, sondern um praktische Handlungen geht. Ftir die Menschen gewinnen diese Kategorien an Sinn nur in der Handlung. Hier geht es also nicht um eine rein logische Logik von Unterscheidungen, sondern um eine praktische Logik. Mit dieser Beobachtung ring Bourdieu an, den Intellektualismus des Strukturalismus zu kritisieren. Diese Kritik wurde deutlicher im Aufsatz tiber die Verwandtschaft. Wie ich schon im letzten Kapitel gezeigt habe, basierten die Reflexionen von Claude L6vi-Strauss tiber die Verwandtschaftssysteme auf dem Austauschsprinzip. Die unterschiedlichen Gruppen tauschen Frauen aus, um Allianzen zu schlieBen. Aus diesem Grund gait die sogenannte arabische Ehe fiir den Strukturalismus als absurd oder sogar als skandal6s. In dieser patrilinealische Gesellschaft wird die Bindung mit der parallelen Kusine seitens des Vaters bevorzugt, was bedeutet, dass der Inzest quasi legitim ist. Obwohl die formalen Regeln dieser Art Ehe bevorzugen, bedeutet dies aber nicht, dass die Menschen in ihren Praktiken diese Regeln tats~ichlich befolgen. Nur ein geringer Teil der Bevi31kerung halt sich an diese Regeln. Wie ktinnte der Strukturalismus, der die Analyse von Regeln bevorzugt, diese praktische ,,Abweichung" erkl~iren? Trotz vieler Versuche war dies ein Problem, das der Strukturalismus nicht tiberw~iltigen konnte. Nach der Analyse solcher Probleme war Bourdieu iiberzeugt, dass es n/Stig war, zentrale Pr~imissen des Strukturalismus in Frage zu stellen, um tiberhaupt die tats~ichlichen Praktiken der Agenten zu verstehen. Zun~ichst kritisiert Bourdieu die naive strukturalistische Anwendung des Regelbegriffs. Als theoretisches Werkzeug hat dieser Regelbegriff nur ftir den Wissenschaftler Bedeutung. Als Modell kann er uns helfen, die offizielle Vorstellungen einer Gesellschaft zu beobachten. Er muss aber mit einem Begriff des praktischen Handelns erg~inzt werden, um tiberhaupt die tats~ichlichen sozialen Ph~inomene verstehen zu ktinnen. Wenn der Forscher diesen Schritt nicht macht, kann er nur das opus operatum, aber nicht den modus operandi beobachten. Es ist also n6tig, die Distanz zwischen Wissenschaftler und Agent zu ,,messen", weil, wenn ein Akteur eine Regel ~iul3ert (in diesem Fall die Regel der Bevorzugung einer besonderen Art von Ehe), bedeutet dies nicht, dass diese ,~ul3erung ftir ihn und ftir den Ethnologen dieselbe Bedeutung hat. Da der Agent sich immer innerhalb einer praktischen Welt (eine Welt mit praktischen Bedtirfnissen) befindet, hat die Regel for ihn immer eine ganz andere Bedeutung als fur den Wissenschaftler, dessen Verh~iltnisse zu dieser praktischen Welt gleich null ist. Aus diesem Grund muss der Forscher anerkennen, dass diese Regeln fiJr die 85
Gesellschaft immer sowohl praktische als auch politische Funktionen erfiillen. ,,Le sch6ma g6n6alogique des relations de parent6 que construit l'ethnologue ne fait que reproduire la repr6sentation officielle des structures sociales, repr6sentation produite par l'application du principe de structuration dominant, sous un certain rapport, c'est-~-dire dans certaines situations et en vue de certaines fonctions, et publiquement proclam6, par opposition aux repr6sentations pdv6es, propres h des fractions particuli~res". 92 Es ist also klar, dass die Analyse der arabischen Ehe nicht in einem Universum von Verwandtschaftsstrukturen durchgefUhrt werden kann. Um die arabische Ehe zu verstehen, ist es also n/Stig, die praktischen Kontexte zu rekonstruieren, in denen sie tats~ichlich vorkommt. Diese Kontexte lassen sich wiederum rekonstruieren, wenn wir bestimmte symbolische Werte identifizieren ktinnen, die als Situationsziele, an denen sich die Praktik orientiert, fungieren. Im Fall der arabischen Ehe pr~isentiert sich die Ehre als ein solcher Wert, da es ftir die jeweiligen Gruppen peinlich ist, wenn es ihnen nicht gelungen ist, alle T6chter zu verheiraten. Nur dann wird das Recht des parallelen Vetters zu einer Pflicht, um die Ehre seiner Gruppe zu retten. Die Regel wird also zu einer ganz praktischen Strategie, um den Wert eines symbolischen Kapitals (der Ehre) aufrechtzuerhalten oder zu steigern. Diese Umsetzung der Regeln in Strategien l~isst sich besser verstehen, wenn wir die Logik der Erbteilung beobachten. In diesen Gesellschaften wird die ungeteilte Ubertragung des Patrimoniums bevorzugt. In diesem Sinne geht es also nicht nur um die Akkumulation des symbolischen Kapitals (Ehre), sondern auch um die Akkumulation des 6konomischen Kapitals. Die Tatsache, dass in diesen Gesellschaften die Einheit der Gruppe bevorzugt wird, bedeutet aber nicht, dass es keine Allianzen gibt, sondern nur, dass diese nur vorkommen k6nnen, wenn es der Gruppe gelungen ist, ihre Koh~enz und ihr Kapital zu bewahren (bzw. zu inkrementieren). In diesem Sinne ktinnen die Familien ihre Mitglieder als Werte benutzen, mit denen sie versuchen, nicht nur m~ichtiger zu werden, sondern auch die Macht eines schon sehr m~.chtigen (f'tir sich sogar bedrohenden) Gruppenmitglieds zu begrenzen. Anders als L6vi-Strauss denkt Bourdieu also nicht, dass es universelle, unbewusste Strukturen des menschlichen Geistes gibt, die das Handeln bestimmen. FUr Bourdieu handelt sich immer um den Zusammenhang von durch Kapital strukturierten Positionen und ihren entsprechenden mentalen und k/Srperlichen Dispositionen. Um diese Dispositionen zu bezeichnen, benutzt Bourdieu den Habitusbegriff. Fiir Bourdieu teilt sich die sozialwissenschaftliche Forschung in zwei unterschiedliche Momente auf. Zun~ichst muss man die ,,objektiven" Strukturen einer
92 A.a.O., S. 95-96.
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Gesellschaft identifizieren und danach ist es n6tig, die Bedeutung, die diese Strukturen fiir die in der Praktik beteiligten Akteure haben, zu erforschen. Obwohl Bourdieu den Strukturalismus kritisierte, erkannte er auch seine Leistungen an, indem er die Welt der objektiven Strukturen immer als eine symbolische Welt der Differenzen begriff. Die Bemtihungen, um diese symbolische Welt der Differenzen zu rekonstruieren, ktinnen wir eigentlich nicht nur in seinen frtiheren Werken wie im Aufsatz tiber das kabylische Haus deutlich beobachten, sondern in seinem ganzen Werk und ganz besonders in der Forschung iJber la distinction. Trotz dieser Anerkennung zeigte sich L6vi-Strauss von den theoretischen Bemtihungen von Bourdieu nicht besonders begeistert, da er in der Theorie der Strategien eine Rtickkehr in die Subjektsphilosophie sah. Bourdieu wollte allerdings diese Rtickkehr mit Hilfe des Habitusbegriffs vermeiden. Sp~iter werde ich mich ausfiihrlich mit diesem Begriff auseinandersetzen.
87
5.
Kontingenz,Rekursivitfit, Strukturierung
Nach der in den letzten zwei Kapiteln durchgef'tihrten Skizzierung der Strukturproblematik in der Geschichte der Soziologie dtirfte es klar sein, dass die wissenschaftlichen Leistungen der Disziplin in vielen Hinsichten von der Entwicklung des Strukturbegriffes abh~ingen. Nach der ,,Rebellionsphase" hat sich in der Soziologie ein auf der komplexeren Figur der Rekursivit~it basierender Strukturbegriff allm~ihlich durchgesetzt. Dieser relativ neue Strukturbegriff l~isst sich in zwei der wichtigsten gegenw~irtigen soziologischen Theorien finden, n~imlich in der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann und in der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens. Im Laufe dieses Kapitels werde ich zeigen, dass sich beide Theorien durch ihre Inanspruchnahme von Kontingenz charakterisieren. 5.1
Edgar Morin und die Prinzipien des komplexeren Denkens
Im ersten Kapitel habe ich schon etwas tiber Edgar Morin und die Prinzipien des komplexeren Denkens gesagt. Da diese Untersuchungen auf diesen Prinzipien beruhen, ist es jetzt n6tig, sie ausfiihrlicher zu analysieren. In seinem vielb~.ndigen Werk La mgthode hat Edgar Morin versucht, die fundamentalen Merkmale der gegenw~irtigen Wissenschaft zusammen-zufassen. 93 Nach der Untersuchung diverser wissenschaftlicher Bereiche zeigt Morin, dass es eine gewisse Konvergenz zwischen Disziplinen gibt. Physik, Chemie und Biologie teilen kognitive Prinzipien, die ihnen helfen, sich mit der Komplexit~it ihrer entsprechenden ForschungsgegensRinde auseinander zusetzen. Unter Komplexit~it versteht Morin eine Paradoxie, und zwar die Paradoxie des unitas multiplex. Etwas ist komplex, wenn es sowohl eine Einheit als auch eine Vielheit ist. Moderne Disziplinen wie die Kybernetik und die Systemtheorie haben zum Verst~indnis des wissenschaftlichen Ranges dieser Paradoxie beigetragen. Dieses Verst~indnis erm6glicht wiederum einen neuen kognitiven Umgang mit Begriffen wie Kausalitat und Widerspruch. W~ihrend diese Prinzipien ein wesentliches Merkmal der naturwissenschaftlichen Reflexionen sind, haben sie im Bereich der Sozialwissenschaften noch keine groBe Verbreitung gefunden. Aus diesem Grund hat sich Morin auch darum bemiiht, diese Prinzipien im Bereich der Soziologie anzuwenden. Die Ergebnisse seiner soziologischen Bemtihungen befinden sich in
93 Edgar Morin, La m6thode I. La nature de la nature, Paris, 1977, ders., La m6thode 11. La vie de la vie, Paris, 1980, ders., La m6thode III, La connaissance de la connaissance, Paris, 1986, ders., La m6thode IV. Les id6es. Leur habitat, leur vie, leurs moeurs, leur organisation, Paris, 1991.
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seinem Werk Sociologie. 94 In diesem Buch hat Morin sehr interessante Ideen (besonders in Bezug auf die Problematik der Soziologie der Soziologie) entwickelt. Da aber Morin nur die Nutzbarkeit der Anwendung der Prinzipien des komplexeren Denkens in die Soziologie zeigen wollte, hat er fast nur fragmentarische Reflexionen tiber unterschiedliche gesellschaftliche Ph~inomene (zum Beispiel fiber das Auto oder die Werbung) entworfen. Er hat also keine systematische soziologische Theorie geschrieben. Aus diesem Grund werde ich mich in den folgenden fJberlegungen nicht so sehr auf seine Soziologie beziehen, sondern auf seine allgemeinen methodologischen Ans~itze. Da die Weltkomplexit~it sich nur mit Hilfe der Komplexit~it denken l~isst, ist es sehr schwer, die Merkmale eines solchen komplexeren Denkens zu identifizieren. Um den Umgang mit dem komplexeren Denken ein bisschen zu erleichtern, hat Morin sich bemiiht, die methodologischen Prinzipien der gegenw~irtigen Wissenschaft in drei Prinzipien zu pr~isentieren. Diese drei Prinzipien lassen sich mit den folgenden Begriffen zusammenfassen: Dialogik, organisatorische Rekursivit~it, und das sogenannte Hologrammprinzip. Wie schon im ersten Kapitel angedeutet, bezieht sich die Dialogik auf die Problematik der Unterscheidung erg~inzend / widerspri~chlich. In diesem Sinne l~isst sich die Dialogik als eine Art komplexerer Verbindung definieren, das heil3t, als die Verbindung von sich gleichzeitig erg~inzenden / konkurrierenden / widerspriichlichen Elementen, die n6tig fiir den Bestand, die Weiterentwicklung und das Funktionieren eines organisierten Ph~inomens sind. Oben habe ich schon die von Parsons durchgefiihrte Uberwindung der Dichotomie Handeln / System als Beispiel gegeben. Das zweite Prinzip, n~imlich das Prinzip der organisatorischen Rekursivit~it hat f'tir die Problematik der Struktur eine entscheidende Bedeutung. Laut Morin charakterisiert sich ein rekursiver Prozess wegen seiner zirkul~iren Kausalit~it. Morin beschreibt diese boucle rdcursive als eine Art Prozess, in dem ,,les effets ou produits sont en m~me temps causateurs et producteurs dans le processus lui m~,me, et off les 6tats finaux sont n6cessaires ~ la g6n6ration des 6tats initiaux". 95 In diesen Prozessen verschwinden Dichotomien wie Ursache / Wirkung, Produkt / Hersteller oder Basis / Oberbau. Mit Hilfe dieses Prinzips l~isst sich die sozialwissenschaftliche Problematik der Struktur besser erkl~iren, weil die Struktur nicht mehr nur als jede Instanz, die Operationen (seien sie Handlungen oder Kommunikationen) bestimmt, verstanden wird, sondern auch als Ergebnis dieser yon ihr strukturierten Operationen. Das dritte Prinzip nennt Morin das Hologrammprinzip, weil es sich auf eine Art komplexerer Organisation bezieht, die durch ein besonderes Verh~iltnis 94 Edgar Morin, Sociologie, Paris, 1994. 95 Edgar Morin, La m6thode III. La connaissance de la connaissance, a.a.O., S. 101.
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zwischen Teilen und Ganzem charakterisiert ist. Dieser Komplexit~itsorganisation nach befindet sich nicht nur das Teil im Ganzen, sondern auch das Ganze in jedem Teil. Aus diesem Grund ist ein Teil immer mehr oder weniger f'~ihig, das Ganze zu regenerieren. Obwohl Luhmann die Unterscheidung Ganzes / Teil ablehnt ktinnen wir die Anwendung des Hologrammprinzips in seiner Systemtheorie vermuten, wenn er iiber die operative Einheit der Kommunikation spricht. Unabh~ingig vom sachlichen Reproduktionsbereich setzt sich die Kommunikation als eine dreiteilige Operation (Miteilung / Information / Verstehen) immer mit dem Problem der doppelten Kontingenz auseinander. In diesem Sinne spiegelt sich die operative Einheit der Gesellschaft (als kommunikativer Horizont) in jeder Kommunikation wider. Fiir diese Einheit ist im Prinzip vtillig irrelevant, ob das kommunikative Ereignis im Bereich des Rechtes, der Religion oder der Erziehung stattgefunden hat. Obwohl es der Soziologie noch nicht gelungen ist, den ganzen Reichtum des komplexeren Denkens in ihre Theorien und Methoden einzubeziehen, kann man auch nicht leugnen, dass ein Fortschritt stattgefunden hat. Beispielsweise versucht die Soziologie seit langem viele ihrer harten Dichotomien zu iiberwinden, weil sie als informationsschaffende Unterscheidungen nicht mehr so produktiv sind. Eigentlich fungieren viele dieser Unterscheidungen als epistemologische Hindernisse im Sinne von Gaston Bachelard. Da es auch nicht mtiglich ist, ohne Unterscheidungen Wissen zu produzieren, wird heutzutage versucht, diese angeblich uniaberbriickbaren Kategorien zu verbinden. Das Beispiel anhand der Strukturproblematik gilt in vielen Hinsichten als paradigmatisch. Nach der Zeit der ,,Rebellion gegen die Struktur" war die Soziologie (wenn nicht in der empirischen Welt der Forschung, mindestens in vielen ihrer Lehrbuchselbstbeschreibungen) in zwei Felder getrennt. Auf der einen Seite gab es eine Struktursoziologie, die sich weder f'tir die Akteure noch fur ihre Handlungen interessierte. Auf der anderen Seite gab es eine Handlungssoziologie, deren Ziel die Rettung der Akteure und ihrer Handlungsf'~ihigkeiten als tats~ichlich wirkende historische Kr~ifte war. Diese Dichotomie gewann allm~ihlich an Bedeutung und Kraft, weil sie sich an den moralischen Code (Achtung / Missachtung) gekoppelt hat. Eine im Prinzip wissenschaftliche Option wurde also in eine moralische und politische Option transformiert. Die Verteidiger der Handlungssoziologie kritisierten die Struktursoziologen, weil sie die Menschen als gesellschaftliche Akteure ausgeschlossen haben. Ihrer Meinung nach konnte diese ,,konservative" Soziologie die Bedeutung und Potenziale der Menschen nicht beobachten. Wie ich schon gezeigt habe, gab es tats~ichlich viele Probleme mit der ,,Struktursoziologie", die w~ihrend der Phase der ,,Rebellion" gekennzeichnet 90
worden waren. Anhand dieser Kritik suchte die Soziologie neue Wege, um den Strukturbegriff wissenschaftlich produktiv zu machen. Allerdings wurde die Soziologie durch die oben erw~ihnte moralische Radikalisierung der Kritik in eine Sackgasse gefiihrt. Dies war also der Entstehungskontext zwei der wichtigsten Theorien der gegenw~irtigen Soziologie, n~imlich der Systemtheorie von Niklas Luhmann und der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens. Trotz ihrer Unterschiede haben sich beide Theorien darum bemiJht, die Dichotomie Mikrosoziologie / Makrosoziologie anhand komplexerer Begrifflichkeiten zu iiberwinden.
5.2
Die Struktur autopoietischer Systeme: Niklas Luhmann
Die systemtheoretische Kritik des Strukturfunktionalismus, die Luhmann w~ihrend der sechziger Jahre durchgefiihrt hat, skizzierte schon die Entwicklung einer nicht strukturalistischen Systemtheorie. Die Tatsache, dass diese Theorie keine strukturalistische Theorie ist, bedeutet aber nicht, dass sie iiber keinen Strukturbegriff verfiigt. Das Problem bezieht sich vielmehr auf die Position, die der Strukturbegriff innerhalb der Theorie beanspruchen kann. Im Strukturfunktionalismus und im Strukturalismus ist der Strukturbegriff der zentrale Begriff der Theorie. Luhmann wollte die Bedeutung dieses Begriffes nicht leugnen. Allerdings war ihm klar, dasses n6tig war, andere Begriffe (wie etwa den Funktionsbegriff oder den Operationsbegriff) weiterzuentwickeln, um der strukturalistischen Gefahr zu widerstehen. Das Ergebnis dieser Bemiihungen ist seine Theorie autopoietischer, sozialer Systeme, die man schon als eine Art ,,angemessener" strukturalistischer Soziologie interpretieren kann. Dieser Theorie nach kann der eigentliche Kern des Strukturbegriffes nur in Bezug auf die Problematik der Temporalit~it von Systemoperationen verstanden werden. Wie schon friiher gesagt, bestehen fiir Luhmann die sozialen Systeme ausschlieBlich aus Kommunikation. In diesem Sinne geh6ren weder Menschen noch Maschinen oder Geb~iude zum Gesellschaftssystem. Da es aber kein System ohne entsprechende Umwelt geben kann, fungieren Menschen, Maschinen, Geb~iude, Luft, Sonne, Wasser, usw. als M6glichkeitsbedingungen dieses Systems. Selbstverst~indlich sind Menschen und Wasser wichtigere Umweltbedingungen for die Reproduktion sozialer Systeme als beispielsweise Computer oder Autos. Dies erkl~irt sich, weil es in der Umwelt eines Systems immer andere Systeme gibt, mit denen es unterschiedliche Beziehungen (in der Form von strukturellen Kopplungen) hat. Selbstverst~indlich w~e keine Kommunikation ohne psychische Beteiligung (also ohne Aufmerksamkeit) m6glich. Dies heiBt aber nicht, dass Kommunikation und Bewusstein dasselbe System sind.
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In diesem Sinne erscheinen soziale Systeme immer als Differenz und zwar als die Differenz zwischen System und Umwelt. Ftir die sozialen Systeme kann nur die Kommunikation diese Differenz durchftihren. Wenn eine Kommunikation zustande kommt, wird die Welt in zwei geteilt. Auf der einen Seite gibt es Kommunikation (System) und auf der anderen Seite gibt es keine Kommunikation (Umwelt). Diese Trennung kann aber eine bestimmte Kommunikation nicht aufrechterhalten. Sobald etwas kommuniziert wird, verschwindet die Kommunikation und die undifferenzierte Welt erscheint wieder. Da die Kommunikationen Ereignisse sind, ktinnen sie keine zeitliche Dauer haben. Sogar die schriftliche Kommunikation kann diesem Schicksal nicht entkommen. Buchstaben und S~itze, die im Buch stehen, sind keine Kommunikation an sich. Sie werden zur Kommunikation nur, wenn ihr Sinn von einem Bewusstseinssystem aktualisiert wird. Diese Aktualisierung dauert aber nicht an. Genau wie soziale Systeme bestehen die psychischen Systeme aus ereignisbasierten Operationen (in diesem Fall aus Gedanken). FUr Luhmann ist dieser Mangel an operativer Dauer einer der Griinde, der die erfolgreiche Kooperation zwischen psychischen und sozialen Systemen erkl~rt. Zweifellos lassen sich die TemporaliRiten der psychischen Aufmerksamkeit und der Kommunikation gut koppeln. Der Bestand sozialer Systeme h~ingt also vonder Produktion und Reproduktion kommunikativer Ereignisse ab. Es ist aber klar, dass die kommunikativen Ereignisse nicht willktirlich geschehen. Nicht jede Kommunikation ist fur jede Situation geeignet. Auf die Frage ,,wie sp~it ist es?" kann man nicht mit ,, mir ist kalt" oder ,,mir geht es gut, und selbst?" antworten (oder vielleicht doch, aber nur, wenn man ein Experiment ~ la Garfinkel machen will). In einer wissenschaftlichen Zeitschrift kann man mit Hilfe von Gott nicht argumentieren und man kann auch nicht Bticher mit Orangen statt Geld kaufen. Eine Kommunikation, die geeignet ist, ist eine Kommunikation, die innerhalb einer bestimmten Situation anschlussf'~ihig ist. Nur diese Anschlussf'~ihigkeit kann die Reproduktion von sozialen Systemen gew~ihrleisten. Wie kann ein System entscheiden, welches kommunikative Ereignis anschlussf'~ihig innerhalb eines bestimmten Kontextes ist? Die Antwort lautet: mit Hilfe von Strukturen. Fiir Luhmann sind Strukturen stabile Selektionsprinzipien, welche die Rekombinationsmtiglichkeiten kommuni-kativer Ereignisse im System begrenzen. Da es im Bereich des Sinnes eine im Prinzip unendliche RekombinationskapaziRit gibt, w~iren Systeme ohne strukturelle Selektionsprinzipien von dieser Komplexit~it iiberfordert. Es w~ire f'tir sie unmtiglich eine gewisse interne Komplexit~it aufzubauen, um die Anschlussf'~ihigkeit der kommunikativen Ereignisse zu erhtihen. Um eine gewisse interne Komplexit~it aufbauen zu k/Snnen, miissen 92
diese strukturellen Prinzipien eine relative Stabilit~it haben. Diese Stabilit~it erreichen die Systeme durch Wiederholung und Kondensierung. Wegen dieser Stabilit~it k6nnen Systeme Ereignisse zeitlich iJberbriicken und eine Identit~it entwickeln. Die Entwicklung von Strukturen tr~igt zur Reduktion der Umweltkomplexit~it bei und schafft gleichzeitig eine neue Komplexit~it, namlich die interne Komplexit~it des Systems. Jetzt hat das System also mit mehreren Komplexit~iten zu tun. Um iJberhaupt sich mit diesen Komplexit~iten auseinandersetzen zu k6nnen, mtissen die systemischen Strukturen sehr flexibel sein. Ein System muss immer bereit sein, auf )~nderungen in sich selbst (kommunikative Mutationen) oder in seiner Umwelt zu reagieren und es kann nur seinen Strukturen nach reagieren. Wenn ein System durch seine Strukturen ein Ereignis als Irritation akzeptiert, kann dieses System eventuell auch entscheiden, seine Strukturen entsprechend zu ~indern. Im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus und zum Strukturalismus sind Strukturen fiJr die Systemtheorie von Luhmann nicht konstant, sondern flexibel und variabel. Was konstant in einem System bleibt, ist seine Operationsart, aber nicht seine Strukturen. Um seine Existenz fortzusetzen, muss ein System sich nicht unbedingt darum bemUhen, eine gewisse Struktur aufrechtzuerhalten. Das konstitutive Problem der Kommunikation bezieht sich also nicht auf die Aufrechterhaltung ihrer Stabilit~it, sondern auf die Aufrechterhaltung ihrer Autopoiesis. In diesem Sinne liegt der evolutionare Erfolg sozialer Systeme darin, dass sie f'~ihig sind, ihre Strukturen zu ~indern. Diese Struktur~inderung setzt immer einen Lernprozess voraus. Selbstverst&indlich gibt es immer noch systemische Stabilit&it. Sie muss aber als eine dynamische Stabilit~it verstanden werden. B is jetzt habe ich nur sehr abstrakt iiber die Funktion und die Dynamik yon Strukturen autopoietischer Systeme gesprochen. Es ist aber an der Zeit, etwas iiber die ,,empirische" Form yon Strukturen in sozialen Systemen zu erfahren. Als ereignisbasierte Kommunikationssysteme lassen sich soziale Systeme ausschlieBlich durch Erwartungen strukturieren. Ohne Erwartungen ware es fiJr ein System unm6glich zu entscheiden, welche Kommunikationen zu ihm geh6ren. Die Auswirkungen eines solchen Mangels an Struktur habe ich schon oben skizziert. Die eigentliche Leistung dieser sinnhaften Erwartungsstrukturen liegt darin, dass sie die Anschlussf'~ihigkeit operativer Ereignisse begrenzen und erm6glichen und zwar gleichzeitig. Diese Gleichzeitigkeit der Begrenzung und Erm6glichung operativer Verbindungen fungiert als Bedingungsm6glichkeit der systemischen Autopoiesis. Diese spezifische Temporalisierung yon Strukturen betont Luhmann im folgenden Zitat: ,,Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwartige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die ge93
genw~irtige Zukunft mit der gegenw~irtigen Vergangenheit integrierend". 96 Aus diesem Grund ermtiglichen sie die Wiederholung von ereignisbasierten Selektionen und die Reaktualisierung von Situationen. Wenn Luhmann von Erwartungen als eigentliche Strukturform sozialer Systeme sprach, meinte er allerdings nicht psychische Erwartungen, sondern kommunikative Erwartungen, das heil3t: Erwartungen von Erwartungen. Um diese Verdopplung der Erwartungen zu verstehen, miissen wir uns an die Bedingungen erinnern, unter denen die kommunikativen Ereignisse vorkommen. Soziale Systeme kommen immer unter der Bedingung der doppelten Kontingenz zustande, das heil3t: unter der Bedingung gegenseitiger Intransparenz psychischer Systeme. Da psychische Systeme auch operativ geschlossene autopoietische Systeme sind, ist es unmtiglich f'tir andere (psychische oder soziale) Systeme, strukturelle Zust~inde in einem Bewusstsein zu bestimmen. Die Selektionen eines bestimmten Bewusstseins bleiben also immer kontingent. Um diese grundlegende Ungewissheit kommunikativ zu iiberwinden, entwickeln soziale Systeme die oben erw~ihnten Erwartungsstrukturen. Indem sie situationsbedingte Erwartungen zuschreiben, ktinnen sie operieren, als ob es tats~ichlich mtiglich w~ire, die Erwartungen eines Bewusstseins zu kennen. Das ist aber nur eine Fiktion. In der Tat kann die Kommunikation sich nicht an Bewusstseinszust~inden orientieren, sondern immer nur an kommunikativen Zusammenh~ingen. Um sich selbst zu plausibilisieren, setzt eine Kommunikation immer voraus, dass die anderen Kommunikationen auch erwartungsbedingte Ereignisse sind. Dass diese Art von Erwartungen nur im Bereich der Kommunikation vorkommen k/Snnen, muss durchaus klar sein. Obwohl die psychischen Systeme sich auch durch Erwartungen strukturieren lassen, sind diese Erwartungen Strukturen einer anderen Art. Die operative Trennung zwischen Systemen erm/Sglicht die Beobachtung der spezifischen Dynamik jeder Art von Erwartungen. Ein Individuum kann etwas erwarten, ohne diese Erwartungen in irgendeiner Form zu kommunizieren. Wenn dies der Fall ist, kann das soziale System weder die Erftillung noch die Entt~iuschung dieser Erwartung kommunikativ prozessieren. Es gibt auch viele erwartungsbedingte kommunikative Ereignisse, die unseren eigentlichen Wiinschen nicht entsprechen. In vielen F~illen der auf Macht basierten Kommunikation von Befehlen ktinnen wir diese Entkopplung deutlich beobachten. Diese operative Trennung zwischen psychischen und sozialen Systemen fordert also eine entsprechende Trennung in Bezug auf den Entt~iuschungsbegriff. Sowohl psychische als auch kommunikative Erwartungen ktinnen entt~iuscht werden. Allerdings bleibt die Analyse der psychischen Prozessierung von Ent96Niklas Luhmann,SozialeSysteme,a.a.O.,S. 399. 94
t~iuschungen jenseits der Grenze der Soziologie. Luhmann zufolge gibt es fi~r soziale Systeme zwei strukturbedingte (!) ReaktionsmiSglichkeiten auf diese Erwartungsentt~iuschung. Wenn die Erwartungen eines Systems enttauscht worden sind, kann das System entweder die entt~iuschte Erwartung ~ndern oder sie festhalten. Da die entt~iuschungsbedingte Ver~inderung einer Erwartung einen systemischen Lernprozess voraussetzt, spricht man in diesem Fall von kognitiven Erwartungen. Durch diese ,~nderung versucht das System sich der Situation anzupassen. Ein System kann aber auch entscheiden, von der Entt~iuschung nicht zu lernen, indem es seine Erwartungen festh~ilt. In diesem Fall hat man es mit einer Erwartung normativer Art zu tun. Selbstverst~indlich kann man diese zwei Mtiglichkeiten, die als funktional aquivalente Reaktionen betrachtet werden miissen, im Bereich der Empirie nicht so deutlich trennen. In der Realit~it der sozialen Welt gibt es immer eine Mischung von normativen und kognitiven Erwartungen. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann man iaber die iiblichen Konzeptionen von Gesellschaft als ein konservatives bzw. progressives System hinausgehen. Obwohl es Systeme gibt, die dazu neigen, sich pr~iferenziell anhand normativer bzw. kognitiver Erwartungen zu strukturieren (das Rechtssystem und das System der Wissenschaft gelten hier als gegens~itzliche paradigmatische Beispiele), bedeutet dies nicht, dass diese Systeme iiberhaupt nicht lernen ktinnen oder dass sie kein (relativ) stabiles Set von Erwartungen haben. Obwohl das Rechtssystem haupts~ichlich von normativen Erwartungen strukturiert wird, setzt seine Evolution immer die F~ihigkeit zum Lernen voraus. Im Bereich der Wissenschaft lebt man vonder Spannung, neue Entdeckungen zu machen. Allerdings braucht auch die wissenschaftliche Kommunikation ,,feste" Plattformen (zum Beispiel die Methoden), um iiberhaupt etwas als neues Wissen bezeichnen zu ktinnen. Mit Hilfe der Theorie autopoietischer Systeme ist es Luhmann gelungen, den soziologischen Strukturbegriff zu dynamisieren. W~ihrend der Strukturbegriff des Strukturfunktionalismus und des Strukturalismus sich aul3erhalb der Zeit (und in diesem Sinne fast wir ein a priori) denken l~isst, bezieht sich der Strukturbegriff von Luhmann immer auf Zeit (und Kontingenz). Diese bedeutungsvoile ,~nderung ist die Folge einer konzeptuellen Umstellung in Bezug auf die Temporalit~it der Ph~inomene, welche die Soziologie beobachten will. Luhmann interessierte sich nicht fiir die Dauer von Strukturen, sondern fiir die kontingente Strukturierung von kommunikativen Ereignissen. Allerdings ist die Theorie von Luhmann nicht die einzige sozialwissenschaftliche Theorie, die eine solche Umstellung durchgefiihrt hat. Auch im Bereich der Handlungstheorie hat es diese auf die Temporalit~it der Ereignisse (in diesem Fall: Handlungen) bezogenen ,~nderungen gegeben. Die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens ist meiner Meinung nach das beste Beispiel einer solchen Umstellung. 95
5.3
Von der Struktur zur Strukturierung: Anthony Giddens
Nach acht Jahren Lehrt~itigkeit an der Universit~it Leicester reiste Anthony Giddens am Ende der sechziger Jahre nach Nordamerika, wo er seine wissenschaftliche Arbeit sowohl an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada, als auch an der UCLA (University of California in Los Angeles) in den USA fortsetze. Die ereignisreiche Zeit zwischen 1968 und 1969 verbrachte Giddens in Kalifornien. Aus diesem Grund konnte er unmittelbar die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Radikalisierung s~imtlicher soziokultureller Bewegungen (Studentenbewegung, Hippie-Kultur, usw.) erleben. Die Forderungen nach ,~nderung gingen allerdings weit tiber die Bereiche der Politik und der Jugendkultur hinaus. Wie ich schon gezeigt habe, gab es auch im Bereich der Soziologie wichtige rebellische ,,Bewegungen". Was ich als ,,Revolte gegen die Struktur" charakterisiert habe, erlebte Anthony Giddens besonders w~ihrend seines Aufenthalts in Kalifornien, woes viele Versuche gab, Alternativen zum Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons zu entwickeln. Eine der bertihmtesten sozialwissenschaftlichen Bemtihungen, die an dieser UniversiRit entwickelt worden waren, habe ich schon im letzten Kapitel dargestellt, n~imlich" die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel. Obwohl Giddens am Anfang den antifunktionalistischen Enthusiasmus mit den ,,Rebellen" teilte, nahm seine Arbeit schon sehr frtih eine Richtung, die ihn von anderen Funktionalismuskritikern unterscheidet. Ftir ihn war es klar, dass es ntitig war, die Funktionalismuskritik mit einer theoretischen Entwicklung zu erg~inzen. Diese sollte aber eine Entwicklung sein, welche die ganze Problematik der Sozialwissenschaften in Anspruch nehmen musste. Das heiBt: eine Entwicklung, die sich nicht ausschlieBlich nur mit der Erforschung eines ,,Bereiches" besch~iftigen sollte. Wie Bourdieu lehnte auch Giddens viele der klassischen Dichotomien der Sozialwissenschaften ab. Besonders vehement kritisierte Giddens die damals tibliche Teilung der sozialwissenschaftlichen Theorien in eine auf den ,,Makrobereich" bezogene deterministische Strukturtheorie und eine ftir ,,Mikroforschungen" geeignete voluntaristische Handlungstheorie. Ftir Giddens war diese Bereichstrennung nicht das positive Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, sondem ein Fehler, der das ErkRirungspotenzial der Sozialwissenschaften stark begrenzte. Durch diese Trennung war es m/Sglich zu denken, dass Struktur und Handeln zwei nicht aufeinander bezogene Entit~iten sind. Allerdings war ftir Giddens klar, dass Strukturen sich nicht auBerhalb des Handelns befinden, weil sie nur im Handeln existieren. Wiederum war ihm klar, dass das Handeln nur zustande kommen kann, weil es Strukturen gibt, die es begrenzen und erm/Sglichen. Das Verh~iltnis zwischen Handeln und Struktur kann also nicht im Sinne einer eindimensionalen Kausalitat begriffen werden. 96
Aus diesem Grund spricht Giddens von einer Dualit~it der Struktur. Dies bedeutet, dass fiJr Giddens die in der Echtzeitlichkeit des Handelns aktualisierten Strukturen nicht nur als Handlungsgrenzen, sondern auch als Handlungskatalysatoren fungieren. Wie im Fall der Systemtheorie von Luhmann haben wir es hier mit ereignisbasierten Rekursivit~iten zu tun. Der Unterschied zwischen beiden Soziologen liegt aber darin, dass fiir Luhmann diese Rekursivit~it eine Eigenschaft autopoietischer Systeme ist, w~ihrend Giddens sie auf eine Ontologie der Handlungspotenzialit~iten bezieht. Als Giddens angefangen hat, seine Theorie zu entwickeln, war ihm klar, dass die Sozialwissenschaften, um ihre immer bedrohte Wissenschaftlichkeit zu verteidigen, zuviel Zeit den epistemologischen Problemen widmeten. Mindestens im englischsprachigen Raum war es in diesem Sinne wichtiger, richtige Methoden fiir den Erkenntnisgewinn zu haben als Theorien, welche die Ph~inomene der sozialen Welt erkl~en ktinnen, zu entwickeln. Dieser Vorrang der Methode vor der Theorie Ftihrte die Sozialwissenschaften zu einem strengen Positivismus. Genau wie August Comte in der ersten H~ilfte des 19. Jahrhunderts lehnten die dem Positivismus nahestehenden Zeitgenossen Giddens' die Metaphysik ab. Da sie vtillig iiberzeugt waren, dass es m/Sglich ist, die Ordnung der Welt ohne metaphysische Pr~.suppositionen zu beobachten, konnten sie nicht sehen, dass diese Position wiederum viele metaphysische Pr~isuppositionen voraussetzte. Die positivistischen Methoden waren also nicht ontologisch neutral. Mit Hilfe der Werke von Wissenschaftsphilosophen wie Popper, Kuhn und Lakatos konnte Giddens diesen ,,blinden Fleck" des Positivismus sehen. FOr Giddens liegt die wichtigste metaphysische Pr~isupposition des Positivismus darin, dass er immer an eine natiirliche Ordnung der Dinge glaubt. Aus diesem Grund neigen Positivisten dazu, allgemeingiiltige Gesetze zu etablieren. Ein perfektes Beispiel einer solchen Tendenz stellt die Evolutionstheorie von Talcott Parsons dar. Sogar die positivistischen Autoren, die sich gegen die Konstruktion groBer Theorien h la Parsons ge~iuBert haben (wie etwa Robert K. Merton und seine middle range theories), konnten die aus dieser Prasupposition stammenden Probleme nicht identifizieren. Zwar versucht man sich in den middle range theories mit spezifischen Problemen zu besch~iftigen. Die zeitliche Referenz solcher Konstruktionen bleibt aber nicht ,,spezifisch". Da es in diesen positivistischen Theorien um die Konstruktion von allgemeingiJltigen Quasi-Gesetzen geht, neigen sie also immer dazu, spezifische Ph~inomene zu verallgemeinern. Schon seit dem Anfang der Soziologie hat es jedoch Diskussionen iiber die ,,Gesetzm~iBigkeit" sozialer Ph~inomene gegeben. Sowohl Simmel als auch Weber haben den Anspruch, allgemeingiJltige Gesetze im Bereich der Sozialwissenschaften zu finden, abgelehnt. Giddens stimmt ihnen zu. 97
Um die ontologischen Pr~isuppositionen des Positivismus ontologisch zu bek~impfen, kehrte Giddens zur uralten sozialwissenschaftlichen Diskussion tiber die Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft zurtick. Laut Giddens kann man den methodologischen Verfahren des Positivismus nur folgen, wenn man davon ausgeht, dass es ein ontologisches Kontinuum zwischen Natur und Gesellschaft gibt. Nur so kann man denken, dass es m6glich ist, allgemeingtiltige Gesetze im Bereich der Sozialwissenschaften zu etablieren. Ganz im Gegenteil geht Giddens davon aus, dass es eine ontologische Kluft zwischen natiirlichen und sozialen Welten gibt. Um diese ontologische Kluft zu erkl~en, bezieht sich Giddens auf die Kapazit~.t menschlichen Handelns, Weltzust~inde zu ~indem, n~imlich auf die Agency. Bevor wir uns mit dem Handlungsbegriff von Giddens besch~iftigen, miissen wir wissen, dass dieser Begriff auf einer ftir die Sozialwissenschaften spezifischen Ontologie der M6glichkeiten basiert. Die Pr~isupposition ist also nicht, dass die sozialwissenschaftlichen Ph~inomene genauso wie die nattirlichen Ph/i.nomene bedingungslos Gesetzen folgen (bzw. folgen miissen), sondern, dass sie als Handlungsph~.nomene immer f'~ihig sind, von bestimmten strukturellen Trends abzuweichen. Die Ontologie, auf der die Strukturierungstheorie beruht, interessiert sich also fiir das, was potenziell geschehen kann. Aus diesem Grund lehnt sie jeden Versuch, allgemeingtiltige Gesetze im Bereich der Sozialwissenschaften zu etablieren, kategorisch ab. Da es im Handlungsbereich im Prinzip immer m6glich ist, sich anders zu verhalten, kritisiert Giddens die positivistischen Theorien, die von Anfang an ein festes Erkl~irungsmuster haben, das die Potenziale des menschlichen Handelns begrenzt. Weder Systeme noch Strukturen machen die Geschichte, sondem die Menschen durch ihre Handlungen. Zwar mag dies zu idealistisch klingen. Giddens ist aber nicht so naiv, zu denken, dass es empirisch tats/ichlich immer m6glich ist, sich anders zu verhalten, Strukturen zu ver~indern, usw. Es ist schon klar, dass als metaphysische Pr~isupposition seine Ontologie der M6glichkeiten nur als Rahmen fungiert, innerhalb dessen sich eine sozialwissenschaftliche Theorie entwickeln l~isst. Diese Theorie muss allerdings sowohl strukturelle ,~nderungen als auch strukturelle Tr~igheiten erkRiren k6nnen. Um diese Dynamik zwischen ,~nderung und Tr~igheit zu erkRiren, mtissen wir den Bereich der ontologischen Reflexionen verlassen und uns mit den sozialwissenschaftlichen Elementen der Strukturierungstheorie besch~iftigen. Um soziale Ph~inomene wissenschaftlich befriedigend zu erkl~iren, mtissen die sozialwissenschaftlichen Theorien eine hohe innere Komplexit~it erreichen. Trotz dieser (unverzichtbaren) Komplexit~it lassen sich Theorien in bestimmten Postulaten zusammenfassen. Im Fall der Systemtheorie von Luhmann kann man zum Beispiel sagen, dass das Postulat, dass systemische Geschlossenheit jede 98
Voraussetzung systemischer Offenheit ist, die ganze Architektur der Theorie bestimmt. Entsprechend kann man im Fall der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens so ein Postulat finden, das sowohl die Mtiglichkeiten als auch die Grenzen der Theorie bestimmt. In der Strukturierungstheorie hei6t dieses Postulat: Dualit~it der Struktur. Im Prinzip bedeutet Dualit~it der Struktur, dass ,,the structural properties of social systems are both medium and outcome of the practices they recursively organize". 97 Die Tatsache, dass Struktur sowohl das Medium als auch das Ergebnis von Praktiken ist, bedeutet, dass es keine Struktur jenseits der konkreten Handlungen gibt. In diesem Sinne sind Strukturen und Handlungen immer mitimplizieret. Genau wie im Fall der Systemtheorie von Luhmann existieren in der Strukturierungstheorie Strukturen nur, wenn sie aktualisiert werden. In diesem Sinne sind beide Theorien der Meinung, dass soziale Ph~inomene ,,zeitlose" Ereignisse sind. Der Unterschied zwischen diesen beiden Theorien liegt jedoch darin, dass sie unterschiedliche Vorstellungen von der Operationsart haben, die diese Strukturen aktualisiert. Bei Luhmann heil3t diese elementare Operation Kommunikation und bei Giddens haben wir es mit Handlungen zu tun. Sp~iter werde ich zum Problem der operativen Referenz zuriickkommen, weil es meiner Meinung nach genau an diesem Punkt ntitig ist, theoretisch weiter zu arbeiten, um eine umfassende theoretische Perspektive for die Soziologie zu gewinnen. Mit dem Begriff der Dualit~it der Struktur will Giddens allerdings noch mehr sagen. Es reicht ihm nicht nur, zu zeigen, dass soziale Strukturen eine besondere temporale Existenz haben. Wie immer interessiert sich Giddens auch fiir die M/Sglichkeiten. Im Gegensatz zu der iJblichen Interpretation denkt Giddens nicht, dass Strukturen ausschliel31ich als ,,Zw~inge", ,,Hindernisse" oder ,,Grenzen" der Handlung konzipiert werden sollen. Vielmehr ist er der Meinung, dass Strukturen das Handeln nicht nur begrenzen, sondern es auch ermtiglichen. Um diesen dualistischen Charakter der Strukturen besser zu verstehen, muss man den Strukturbegriff von Giddens unter die Lupe nehmen. Fiir Giddens sind Strukturen sowohl Regeln als auch Ressourcen. Der Regelbegriff schliel3t sowohl Normen als auch Deutungsmuster ein, welche das Handeln (wie schon gesagt) nicht nur begrenzen, sondern auch erm/Sglichen. In Bezug auf diesen Punkt schuldet Giddens zweifellos viel der Ethnomethodologie von Garfinkel. Genau wie Garfinkel kritisiert Giddens die Passivit~it des strukturfunktionalistischen Akteurs. In der Tat benutzen die Akteure die gesellschaftlichen Normen als Deutungsmuster, um eine gewisse Situation nicht nur aktiv, sondern auch reflexiv aufrechtzuerhalten. In der regelm~il3igen Durchfiihrung ihrer Praxis schaffen die Akteure Regeln (normativer und interpretativer
97AnthonyGiddens, The Constitution of Society., a.a.O., S. 25. 99
Art), die sich allerdings st~indig unter Transformationsdruck befinden. Diese aktive und reflexive Anderung von Regeln bezieht sich auf die Tatsache, dass soziales Handeln immer in einem bestimmten Kontext vorkommt (Indexikalit~it). Aus diesem Grund miissen die Akteure die Bedingungen ihrer Handlungen sRindig reflexiv Uberwachen (reflexive monitoring of action). Diese reflexive Oberwachung, die immer vonder Kenntnis bestimmter Regeln ausgeht, erm6glicht eventuelle Abweichungen. Im Prinzip ist es v611ig irrelevant, wie minimal diese Abweichungen sein m6gen. Anderungen, die v o n d e r Perspektive der Geschichte aus bedeutungslos erscheinen, spielen eine wichtige Rolle ftir den Akteur in seinem allt~iglichen Leben, in jedem Bereich also, in dem er seine Transformationskapazit~iten (Agency) austibt. Es ist diese reflexive Handlungstiberwachung, bei der wir die Intentionalit~it menschlicher Handlung beobachten k6nnen. Allerdings beziehen sich weder die reflexive Uberwachung noch die Handlungsintentionalit~it auf das B ild eines rationalen Subjekts. Die Strukturierungstheorie versucht eine Handlungstheorie und nicht eine RationaliRitstheorie zu sein. Ein deutliches Beispiel einer solchen Rationalit~itstheorie haben wir in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jtirgen Habermas. 98 Trotz seines Titels ist diese Theorie keine Handlungstheorie, sondern eine Theorie der Rationalit~itsformen, die das Handeln bestimmen. Habermas unterscheidet zwischen der zur Lebenswelt geh6renden kommunikativen Rationalit~it, deren Ziel die intersubjektive Verst~.ndigung ist, und der zum systemischen Bereich geh6renden strategischen Rationalit~it, deren Ziel der instrumentelle Erfolg ist. Die Strukturierungstheorie lehnt diese Kopplung zwischen Handeln und Rationalit~it ab. Fiir sie gibt es keine notwendige teleologisch-normative Orientierung, welche die Handlungen von auflen bestimmt. 99 Die Akzeptanz einer solchen Orientierung wtirde also bedeuten, dass es Strukturen auBerhalb der Handlung gibt, die sie bestimmen. Um diese Kopplung zwischen Rationalit~it und Handeln zu vermeiden, teilt Giddens das Bewusstsein in drei Instanzen, n~imlich in das praktische Bewusstsein, das diskursive Bewusstsein und das Unbewusste. Der Begriff des praktischen Bewusstseins bezieht sich auf das von den Akteuren w~ihrend der (diversen) Sozialisationsprozesse erwobene Wissen. Dieses praktische Wissen gilt als Voraussetzung f'tir die Teilnahme an unterschiedlio,
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98 Siehe Jtirgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), 2 Bde., Frankfurt/M, 1995. 99Giddens hat eine Kritik an Habermas geschrieben, die weit tiber diesen Punkt hinaus geht. Siehe: Anthony Giddens, ,,Reason without Revolution?: Habermas's Theoryof CommunicativeAction" in: ders., In Defence of Sociology. Essays, Interpretations and Rejoinders, Cambridge, 1996, S. 173197. 100
chen sozialen Situationen. Wegen der Entwicklung dieses praktischen Bewusstseins ktinnen die Akteure nicht nur soziale Situationen (Handlungsbedingungen und andere Akteure) reflexiv iiberwachen, sondern auch ein ,,theoretisches Verst~indnis" der Griinde ihres Handelns haben. Da diese Akteure mehr von ihren Handlungen wissen, als wir Soziologen vermuten, sollten wir sie als ,,praktische Theoretiker" begreifen. Da dieses praktische Wissen sich nur in den Routinen des Alltags entwickeln Risst, ist es ftir die Akteure nicht erforderlich, ihre Kenntnisse von der sozialen Welt st~indig zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne bleibt das praktische Wissen immer implizit. Die Akteure sind aber f'~ihig, dieses Wissen, falls n6tig, zu verbalisieren. Es ist genau diese F~ihigkeit, etwas tiber ihre Handlungen sagen zu k/Snnen, was Giddens mit dem Begriff des diskursiven Bewusstseins bezeichnet. Akteure haben also immer implizite Grtinde daftir, etwas zu tun. Sie mtissen aber nicht st~indig tiber diese Griinde diskursiv reflektieren. Wen sie aber herausgefordert werden, ihre Praxis zu erkl~en, sind sie f'~ihig, diese Grtinde zu verbalisieren. Selbstverst~indlich meint Giddens nicht, dass alles, was ein Akteur tiber sein Handeln sagt, ,,wahr" ist. Er denkt aber, dass die Erkl~rungen des Akteurs wichtig for das sozialwissenschaftliche Verst~indnis der Handlung sind. In diesem Sinne lehnt Giddens die strukturfunktionalistischen Erkl~ungen ab, die versuchen Grtinde zu finden, die aul3erhalb der Handlung liegen. Er denkt also nicht, dass es ,,gesellschaftliche Bedtirfnisse" (im Sinne von funktionalen Bedtirfnissen) gibt, die das Handeln erkl~en. Zwar benutzt Giddens auch den Systembegrift. Er lehnt aber die Idee ab, dass soziale Systeme dieselbe innerliche Einheit biologischer oder physischer Systeme genieBen. Ftir Giddens sind soziale Systeme Praxiszusammenh~inge, die sehr unterschiedliche Systematisierungsniveaus haben. Diese Zusammenh~inge ermtiglichen die Erweiterung von Praxen in Raum und Zeit (systemische Integration). Sie sind also die Voraussetzung eines sozialen Lebens jenseits des Bereiches blol3er Interaktionen (soziale Integration). Sowohl das praktische als auch das diskursive Bewusstsein werden in der Strukturierungstheorie vom Unbewussten unterschieden. In den drei Bereichen spielt das Ged~ichtnis eine entscheidende Rolle. Um tiber die Grtinde und Bedingungen ihres Handelns kommunizieren zu k6nnen, mtissen die Akteure f'~ihig sein, sich an bestimmte Erfahrungen zu erinnern. Im Bereich der Praxis, in dem es nicht n6tig ist, etwas verbal auszudrucken, sondern nur der Situation entsprechend zu handeln, nehmen Akteure auch psychische Ged~ichtnismechanismen in Anspruch. Das Ged~ichtnis des Unbewussten ist dadurch charakterisiert, dass es weder reflexiv im Laufe des Handelns, noch diskursiv im Laufe einer verbalen Erkl~irung in Anspruch genommen werden kann. Selbstverst~indlich fungiert es 101
immer als unverzichtbare Voraussetzung jedes Handelns. Es kann aber niemals ,,unmittelbar" in die anderen Bereiche eingeschlossen werden. Im Gegensatz zu den psychoanalytischen Oberlegungen von Sigmund Freud denkt Giddens aber nicht, dass diese psychische Instanz als eine Zuschreibungseinheit ftir Motivationen begriffen werden soil. W~rend fur Freud all die menschlichen T~itigkeiten (von bedeutungsvollen bewussten Entscheidungen bis zum kleinsten ,,Fehler") psychisch motiviert sind, denkt Giddens, dass die groBe Mehrheit der allt~iglichen T~itigkeiten nicht unmittelbar motiviert sind. In diesem Sinne besch~iftigen sich Psychoanalytiker immer damit, was ,,dahinter" steckt. Wenn man beispielsweise einen Fehler beim Sprechen begeht, versuchen Psychoanalytiker, unbewusste Grtinde als Erkl~'ungen (geheimnisvolle Neigungen, Traumata, usw.) ftir solche Fehler zu finden. Allerdings gehen Psychoanalytiker davon aus, dass man immer (oder fast immer) korrekt spricht. Sie setzten also immer ein idealisiertes B ild der mtindlichen Kommunikation voraus, die als Modell gilt, gegentiber dem alle mtiglichen Abweichungen sich ,,messen" lassen. Die Kommunikation im Alltag ist aber nicht perfekt. Als Handlung ist Kommunikation immer von solchen ,,Fehlern" bedroht. Diese Fehler leiten sich jedoch nicht (oder nicht immer) aus bestimmten psychischen Grtinden ab. Oftmals kann die soziale Situation die Erscheinung solcher Fehler erkl~en. Wenn wir uns beispielsweise in einer psychoanalytischen Therapiesession befinden, in der wir bewusst versuchen eine koh~ente Erkl~irung zu geben, sind wir vonder Situation so gespannt, dass wir mehr dazu neigen, solche mtindlichen Fehler zu begehen. Es sind also genau unter bestimmte Bedingungen, unter denen wir Angst davor haben, einen solchen Fehler zu begehen, weil wir bewusst motiviert sind, solche Fehler nicht zu machen (das heiBt: in nicht-allt~iglichen Situationen), was dazu ftihrt, dass wir sie mit groBer Wahrscheinlichkeit begehen werden. Die Untersuchungen von Erving Goffman zeigen uns viele interessante Beispiele solcher Situationen. I~176 In unserem allt~iglichen Handeln setzen wir uns mit zeitlichen und sozialen Bedingungen auseinander, die das idealisierte Bild einer fehlerlosen Kommunikation absolut unmtiglich machen. Wenn wir im Alltag kommunizieren, sprechen wir nicht einen vollendeten Satz nach dem anderen, sondern viele unvollkommene ,,Nebens~itze" innerhalb eines groBen Satzes (eines Handlungsflusses). Wir dtirfen uns also nicht wundern, dass es Fehler gibt, sondern, dass//berhaupt gewisse Ordnung und Koh~enz entstehen ktinnen. Worum geht es aber hier eigentlich? Selbstverst~indlich ist es f'tir Giddens nicht entscheidend, die ErklErungen von Freud abzulehnen. Ihm geht es um die Entwicklung eines sozialwissenschaftlich angemessenen Begriffes des Unbe10oSiehe dazu: ErvingGoffman,Formsof Talk, Philadelphia, 1981. 102
wussten. Um dieses Ziel zu erreichen, bezieht sich Giddens auf die psychologische Theorie von Erik H. Erickson, mit deren Hilfe er das Unbewusste als den Bereich begreift, in dem sich die routinebezogenen ,,ontologischen Gewissheiten" entwickeln. Kern dieser Uberlegungen ist die Idee, dass Menschen sich nur als kompetente soziale Akteure behaupten ktinnen, wenn sie Angst, Unruhe und Selbstentwertung vermeiden k6nnen. Der einzige Weg diese Ph~nomene zu vermeiden ist die Entwicklung von praktischen F~ihigkeiten in routinierten T~itigkeiten. In diesem Punkt erg~inzt Giddens Ideen der Ph~.nomenologie von Harold Garfinkel mit den Uberlegungen von Erving Goffman. Nur in der allt~iglichen Wiederholung von T~itigkeiten ktinnen Akteure ein Sicherheitsgeftihl entwickeln, das fundamental ftir die souver~ine Durchftihrung solcher T~itigkeiten ist. Ohne dieses Sicherheitsgeftihl W~il'e es ftir die Akteure absolut unmtiglich, sich absichtlich (im Sinne einer praktischen Intentionalit~it) von den Strukturen der Situation zu distanzieren. Aus diesem Grund sieht Giddens im Begriff der Rollendistanz von Goffman ein deutliches Beispiel von Agency. Diese Sicherheit, die sich nur in allt~iglichen Routinen erwirbt, strukturiert das spezifische Ged~ichtnis des Unbewussten. Diese Ged~ichtnisart schafft jene ,,ontologische Gewissheit", welche die Entstehung von Vertrauen und Autonomie ermtiglicht. Diese gewisse Kontrolle tiber das eigene Handeln schliegt nicht nur bestimmte mentale F~ihigkeiten, sondern auch den Ktirper des Akteurs ein. Diese ontologische Gewissheit l~isst sich also in den kompetenten Bewegungen der Agenten ablesen. Es ist beispielsweise klar, dass, wenn wir gelernt haben, wie man ein Fahrrad f'~ihrt, brauchen wir beim Fahrradfahren nicht mehr daran zu denken, was wir tun sollen. Wir tun es einfach. Und wir ktinnen es problemlos (also kompetent) tun, weil wir in der Praxis wissen (ohne tiber dieses Wissen zu reflektieren), dass wir Fahrrad fahren ktinnen. Allerdings ktinnen wir diese F~ihigkeit durchftihren, nur weil wir wissen (und an dieser Stelle unterscheidet sich das Wissen vom blogen Glauben eigentlich nicht), dass das Ger~it namens Fahrrad tats~ichlich funktioniert, dass es andere Leute gibt, die genau wie wir wissen, was ein Fahrrad ist und die solche Ger~ite ,,respektieren" (oder eben nicht), dass es bestimmte Wege far Fahrr~ider gibt, usw. Erst diese lange Liste von ontologischen Voraussetzungen ermi3glicht die kompetente Durchftihrung der T~itigkeit. Wenn dies nicht der Fall w~e, mtissten wir uns st~indig um viele andere Sachen ktimmern, w~ihrend wir Fahrrad fahren (wieso kann diese Sache funktionieren? Wie kann ich tiberhaupt sicher sein, dass dieses Fahrrad mein Gewicht tragen kann? Was werden die Nachbarn denken, wenn sie sehen, dass ich so ein Gerat fahre? Wie kann ich genau wissen, dass kein Auto mich und mein Fahrrad tiberfahren wird?). Selbstverst~indlich ktinnen wir nicht total sicher sein, dass alles 103
funktionieren wird. In der Routine haben wir aber gelernt, der Welt zu vertrauen. Aus diesem Grund k6nnen wir in der Praxis so tun, als ob es sicher w~e, dass alles was wir voraussetzen, tats~ichlich geschehen wird. Nur diese ontologische Gewissheit und die daraus entstandene praktische Beherrschung einer T~itigkeit erm6glichen die volle Entwicklung der Agency. Selbstverst~indlich gibt es eine einfache Form der Agency. Schon als Kinder k6nnen wir erkennen, dass wir durch unsere Handlung f'~ihig sind, in die Welt kausal einzugreifen. Diese Agency muss sich aber in routinierten T~itigkeiten weiter entwickeln und auf sehr unterschiedlichen Ebenen des menschlichen Lebens sich ausdriicken. Es ist eine Sache, einen Ball mit dem Fu6 zu treten und eine ganz andere Sache eine Symphonie zu schreiben. Es ist aber auch m6glich, die praktische Kapazit~t der Akteure zu begrenzen. Ein deutliches Beispiel sieht Giddens im Verhalten der Gefangenen in den deutschen Konzentrationslagern w~ihrend des zweiten Weltkrieges. Wegen der permanenten Demtitigung und Angst haben viele der Gefangenen ihre F~ihigkeit verloren, sich als Agenten zu behaupten. Ohne jene Kontrolle fiber das eigene Leben, entwickelte sich unter diesen Leuten ein Fatalismus, der sie normalerweise zum Tod f'tihrte. Nur diejenigen, die aus irgendwelchem Grund f'~ihig waren, sich (egal wie minimal) als Akteure zu behaupten, indem sie eine gewisse Kontrollsph~ire behalten haben, haben tiberlebt. I~ Allerdings miissen wir nicht so weit gehen, um das Ph~inomen der ontologischen Ungewissheit zu beobachten. In vielen der sogenannten ,,Entwicklungsl~inder", in denen sich die wirtschaftliche Situation rasch ~indert und die politischen Entscheidungen sich durch Betrug oder Gewalt durchsetzen, kann man Akteure beobachten, die iiberhaupt kein Interesse haben, sich als solche zu behaupten, um ihre Umst~inde zu ver~indem. Die permanente Unsicherheit verursacht eine gro6e Handlungsapathie. Wie wichtig diese ontologische Sicherheit ist, l~.sst sich auch in den Experimenten von Garfinkel beobachten. Wenn wir einer Situation ihre Normalit~it nehmen, fiihlen sich die Akteure irritiert und sind manchmal unf'~ihig die Interaktion fortzusetzen. Bevor ich mich mit dem anderen Element des Strukturbegriffes von Giddens besch~iftige, m6chte ich mich hier kurz der Raum-Zeitproblematik in der Strukturierungstheorie zuwenden. Oben habe ich schon gesagt, dass Giddens den Systembegriff nur in Bezug auf konkrete Praxiszusammenh~inge benutzt. Nach der Analyse der routinebezogenen ontologischen Gewissheit l~isst sich diese besondere Begriffsanwendung besser erkl~iren.
101Giddens hat diese Beispiele aus dem Buch von Bruno Bettelheim, The Informed Heart, New York, 1960, genommen. 104
Routinen k6nnen in im Laufe der Zeit durch die Wiederholung von T~itigkeiten entstehen. Diese zeitbedingte T~itigkeitswiederholung setzt aber auch einen spezifischen Raum voraus. Raum spielt also eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der ontologischen Gewissheit. In den allt/iglichen Routinen bewegen wir uns in spezifischen R~iumen, in denen wir sowohl vertraute Gegenst/inde als auch bekannte Leute treffen. Wir wissen, wo bestimmte Sachen sind und was zu tun ist, wenn etwas nicht ganz richtig funktioniert. Wir fangen routinebezogene Interaktionen mit Leuten an, die auch da sind. Wenn diese Interaktionen sich st/indig wiederholen, entsteht ein System. Die Entstehung eines systemartigen Praxiszusammenhanges setzt also immer Raum und Zeit voraus. Die Emergenz von Systemen ist fiir die Reproduktion des Sozialen unverzichtbar, weil nur sie die Erweiterung von Praxen in Raum und Zeit gew/ihrleisten k6nnen. Im Gegensatz zu Luhmann begreift Giddens diese Systeme nicht wie problembezogene L6sungen, die eine Funktion ftir die Gesellschaft erftillen. Giddens kritisiert diese Anwendung eines Funktionsbegriffes, weil er vermutet, dass sie eine Ordnung fiber die menschlichen Handlungen hinaus voraussetzt. Selbstverst/indlich hat Luhmann diese Art metaphysischer Pr~isuppositionen abgelehnt. Sp~iter in diesen Untersuchungen werde ich mich jedoch mit der problematischen Anwendung des Gesellschaftsbegriffes bei Luhmann auseinandersetzen. Bedingung und Ergebnis sozialer Systeme bei Giddens sind die Kollektive. Die Systemreproduktion setzt die Existenz einer gr61]eren Anzahl an Menschen voraus, die stfindig in bestimmten R~iumen interagieren. Leute, die Kinder haben und erziehen. Hier geht es also um Generationsketten, die als Bedingung der Reproduktion von Praxiszusammenh/ingen fungieren. Diese wiederholten Praxen erm6glichen die Entstehung von Institutionen, die Giddens als die Reproduktion von Regeln und Ressourcen begreift. Zwar k6nnen diese Sets von Regeln und Ressourcen nur durch spezifische Handlungen aktualisiert werden. Allerdings k6nnen sie eine wichtige Rolle ftir die soziale Reproduktion nur spielen, weil sie jenseits der Handlungen existieren. Beispielsweise existiert das Geld als Gegenstand jenseits der Handlung. Seine soziale Wirkung h~ingt aber von seiner Aktualisierung in der Handlung ab. Jenseits der durch die Interaktion unter Anwesenden strukturierten sozialen Integration gibt es also eine systemische Integration, welche die Ausdehnung der Praxen in Raum und Zeit erkl/irt. Mit Hilfe dieser Unterscheidung zwischen sozialer und systemischer Integration versucht Giddens tiber die Unterscheidung Mikrosoziologie / Makrosoziologie, die er vehement kritisiert, hinaus zu gehen. Giddens ist der Meinung, dass diese Unterscheidung mehr Probleme als Antworten schafft, weil sie die Sozialwissenschaften im allgemeinen und die Soziologie im besonderen in zwei Bereiche geteilt hat, die gegeneinander um den 105
theoretischen Vorrang konkurrieren. Dieses Problem habe ich schon oben analysiert. Aus der Perspektive der Strukturierungstheorie ist klar, dass Interaktionen, Institutionen und Systeme sich gegenseitig voraussetzen. Um ein vollstandiges Verst~indnis des Strukturbegriffes der Strukturierungstheorie zu erreichen, ist es n6tig das zweite Element der Definition von Giddens zu analysieren, n~imlich die Ressourcen. Ressourcen beziehen sich auf die Kapazit~it des Handelns, Weltzust~inde zu ~indem. Wir haben schon die einfache Agency behandelt, die jede Handlung sozusagen ,,besitzt". Giddens begreift diese Agency als die Macht, etwas zu ~indem. Diese einfache Agency wird allerdings mit Hilfe der Ressourcen gesteigert. In diesem Sinne sind diese Ressourcen Katalysatoren, welche die Macht von Akteuren, Weltzust~inde kausal zu ~indem, steigern. Diese Ressourcen werden zweigeteilt. Auf der einen Seite gibt es allokative Ressourcen, mit deren Hilfe Kontrolle tiber Gegenst~inde ausgetibt wird. Auf der anderen Seite gibt es autoritative Ressourcen, die Herrschaft tiber andere Akteure erm6glichen. Als Kontroll- und Herrschaftsinstanzen bezieht sich der Ressourcenbegriff auf Kontroll- und Verteilungskonflikte. In der Analyse sozialer Systeme lassen sich drei strukturelle Dimensionen unterscheiden, in denen sowohl die Regeln als auch die Ressourcen sich reproduzieren, n~imlich die Dimension des Symbolischen, die Dimension der Legitimation und die Herrschaftsdimension. Im Bereich des Symbolischen wird die Bedeutung (Regeln als Deutungsmuster) produziert und reproduziert. Diese Produktion und Reproduktion findet normalerweise diskursiv statt. Die Dimension der Legitimation bezieht sich wiederum auf die normativen Regeln, die in den Rechtsinstitutionen ihre konkrete Form bekommen. Im Bereich der Herrschaft werden sowohl die autoritativen als auch die allokativen Ressourcen produziert und reproduziert. W~ihrend der institutionelle Kern der Reproduktion autoritativer Ressourcen der Bereich der Politik ist, reproduzieren sich die allokativen Ressourcen im Bereich der wirtschaftlichen Institutionen. Diese drei Dimensionen sind immer eng miteinander verbunden. Beispielsweise fungiert die Akkumulation allokativer und autoritativer Ressourcen als Voraussetzung for die erfolgreiche Durchsetzung symbolischer Ordnungen. Allerdings distanziert sich Giddens in seiner Analyse der Herrschaft sowohl von den Reflexionen von Michel Foucault als auch vonder Theorie des kommunikativen Handelns von Jtirgen Habermas. Ftir Giddens sollen weder die Macht noch die Herrschaft als ,,negative" Ph~inomene verstanden werden. Als Ausdruck der menschlichen Agency sind diese Ph~.nomene in jedem Handeln immer mitimpliziert. Sie mtissen also als konstitutive Elemente des Handelns begriffen werden. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen muss als eine Folge zweiter Ordnung verstanden
106
werden, da die Verteilungsprobleme weder in der Definition von Macht noch in der von Herrschaft konstitutiv sind. Da die Macht handlungskonstitutiv ist, spricht Giddens in Bezug auf das Problem der Verteilung von einer Dialektik der Kontrolle. Dialektik der Kontrolle bedeutet, dass die soziale Austibung von Macht immer als ein Verh~.ltnis in zwei Richtungen verstanden werden muss. Sowohl der Herrscher als auch der Beherrschte kt~nnen durch ihre entsprechenden Handlungen Macht austiben. Sogar diejenigen, die nur wenig Macht haben, k6nnen ihre Ressourcen mobilisieren und Macht tiber den M~ichtigen austiben. Unter extremen Umst~inden bezieht sich diese Macht letztendlich auf die Mtiglichkeit, sich zu weigern. Ein Mensch, der vor einer Pistole steht, hat auch die Mtiglichkeit, sich zu weigern, etwas zu tun (zum Beispiel einem Befehl zu folgen). Unabh~ingig vom Ergebnis solcher Weigerung (vielleicht wird diese Person erschossen) versucht die Strukturierungstheorie zu zeigen, dass diese MOglichkeit existiert. Es ist genau diese M/Sglichkeit, etwas (anderes als erwartet) zu tun, die den Kern der menschlichen Agency ausmacht. Giddens interessiert sich also nicht for die Notwendigkeit der sozialen Welt, sondern ftir ihre Kontingenz. Es ist dieser Begriff, der eine komparative Analyse der Systemtheorie von Luhmann und der Strukturierungstheorie von Giddens erm6glicht.
5.4
Kontingenz als Fundament des Sozialen: Systemtheorie und Strukturierungstheorie im Vergleich
Zweifellos spielt der Kontingenzbegriff in diesen beiden Theorien eine bedeutungsvolle Rolle. Die Referenzrahmen, unter denen diese Theorien die Kontingenz des Sozialen zu erkRiren versuchen, sehen allerdings ganz anders aus. Bei der Systemtheorie von Luhmann bezieht sich diese Kontingenz auf den Sinnbegriff und bei der Strukturierungstheorie von Giddens auf den gerade erw~ihnten Begriff der Agency. Obwohl Luhmann sich ftir die Entwicklung einer Ontologie nicht interessiert hat (vielmehr hat er die Ontologie systemtheoretisch mit Hilfe der Unterscheidung Sein / Nicht-Sein dekonstruiert), kann man als Beobachter zweiter Ordnung seiner Theorie sehen, dass es in dieser Theorie auch gewisse ,,ontologieartige" Pr~isuppositionen gibt. Solche Pr~missen lassen sich besonders deutlich in Bezug auf den Grundbegriff soziologischer Wissenschaft, n~.mlich den Sinn beobachten. ~~ ~02Sehr frtih in seiner Karriere hat Luhmann die Bedeutung des Sinnbegriffes anerkannt. Siehe Niklas Luhmann,,,Der Sinn als Grundbegriffder Soziologie",in: ders., / Jtirgen Habermas,Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie- Was leistet die Systemforschung?,Frankfurt/M, 1971, S. 25-100. 107
FUr Luhmann fungiert der Sinn als jenes Medium, das die selektive Erzeugung von sozialen und psychischen Formen erm6glicht. Jenseits dieses medialen Bereiches ktinnen Operationen dieser Systeme nicht stattfinden. Der Sinn bestimmt also die Grenze von dem, was tiberhaupt kommuniziert (oder gedacht) werden kann. Da die Beobachtung dieses Bereiches immer Sinn voraussetzt, besteht auch keine M/Sglichkeit den Sinn von auBen zu beobachten. In der Kommunikation Risst sich allerdings die Form dieses Mediums mit Hilfe der Unterscheidung aktuell / potentiell bestimmen, das heiBt, dass es im Sinnbereich immer einen Verweisungstiberschuss und deshalb ein Prozessieren von Komplexit~it gibt. Diese abstrakten Oberlegungen mtissen jetzt exemplifiziert werden. Wie wir schon gesehen haben, setzt jede Kommunikation die Aktualisierung der Strukturen sozialer Systeme voraus. Diese (tats~ichliche) Aktualisierung bedeutet aber nicht, dass es keine anderen (potenziellen) Kommunikationsmtiglichkeiten gibt. Es bedeutet nur, dass (aus irgendeinem Grund) das System eine Entscheidung getroffen hat, indem es eine bestimmte kommunikative Form ausgew~lt hat. Um seine Autopoiesis fortzusetzen, muss aber diese Kommunikation f'~ihig sein, sich mit anderen noch nicht aktualisierten Kommunikationen (also: potenziellen) zu verkntipfen. Die Produktion eines Systems setzt also immer voraus, dass es diese noch-nicht-aktualisierten Elemente gibt. Deswegen l~isst sich die auf dem Sinn basierte Gesellschaft als ein Horizont, und zwar als der Horizont aller m6glichen Kommunikationen begreifen. Wegen dieser KomplexiRit funktionieren die Systeme, die im Bereich des Sinns operieren, nicht wie triviale Maschinen. Da es immer mehr Mtiglichkeiten gibt, als diejenigen die gerade aktualisiert worden sind, k/Snnen sie sich sRindig tiberraschen. Die Operationen, die im Medium Sinn stattfinden, f'tihren also immer eine Komplexit~itsreduktion durch, ohne diese Komplexit~it zu vernichten. Diese gleichzeitige Reduktion und Aufrechterhaltung der Komplexit~it wird durch eine besondere Art von Operation ermtiglicht, n~imlich die Negation. Nur sinnhafte Systeme verf'tigen tiber die Mtiglichkeit etwas zu negieren. In der Umwelt der sinnhaften Systeme gibt es nur ,,Positivit~it" im Sinne von Realit~it. Alles ist, was es ist. Erst durch die sinnhafte Negation entsteht die Mtiglichkeit, etwas von etwas zu unterscheiden (,,das ist ein Haus, aber nicht mein Haus"). Allerdings liegt die groBartige Generalisierungsleistung der Negation darin, dass sich durch sie nicht nur etwas (Bestimmtes) von etwas (Bestimmten) unterscheiden l~isst, sondern sich auch etwas (Bestimmtes) von allem anderen (Unbestimmtem) unterscheiden Risst. In der Aktualisierung einer M/Sglichkeit bezieht sich die Negation auf die ganze Welt. Noch eine wichtige Eigenschaft der Negation ist, ihre F~ihigkeit reflexiv operieren zu k/Snnen. Das heiBt, dass eine Negation immer auf sich selbst angewen108
det werden kann. Durch diese Reflexivit~it der Negation k6nnen die Systeme, die im Medium Sinn operieren, immer alles, was sie frtiher ausgeschlossen haben wieder einschliel~en. Es ist genau diese Reflexivit~it, welche die oben erw~ihnte Aufrechterhaltung der Komplexit~it gew~ihrleisten kann. Die Negation ist also in jeder Operation immer mitimpliziert. Der Systemtheorie von Luhmann nach operieren sowohl psychische als auch soziale Systeme in diesem Sinnbereich. Die Tatsache, dass beide Systeme den Sinn als operatives Milieu teilen, gilt als Erkl~irung fiir die besondere Bedeutung der Interpenetration zwischen diesen Systemen. Beispielsweise g~be es ohne Sinn kein Problem der (doppelten) Kontingenz. Wenn es fiJr psychische Systeme nicht m6glich w~ire, zwischen Elementen auszuw~ihlen, w~e es auch aus der Perspektive der Evolution nicht n6tig gewesen, ein drittes System zu entwickeln, das eine Art ,,Vermittlungsfunktion" zwischen psychischen Systemen erf'tillt. FiJr Luhmann ist es klar, dass es Systeme gibt, die nicht im Sinnbereich operieren wie etwa Organismen oder Maschinen. Genau diese Unterscheidung zwischen dieser Art von Systemen ist diejenige, die als funktionales Aquivalent zur Unterscheidung zwischen Natur und Kultur in der Strukturierungstheorie betrachtet werden kann. Es mag sein, dass die systemtheoretische Analyse der Problematik der Kontingenz viel formaler als diejenige der Strukturierungstheorie ist. Trotz dieses Unterschieds ist es deutlich, dass es zwischen beiden Theorien auch viele ) ~ n lichkeiten in Bezug auf diesen Punkt gibt. Je nach Theorie erf'tillen die Begriffe Sinn und Agency dieselbe Funktion, n~imlich die konstitutive Kontingenz der sozialen Welt sichtbar zu machen. Entweder als Medium psychischer und sozialer Operationen oder als ontologisches Potenzial des Handelns gilt die Anerkennung der Kontingenz als unverzichtbare Voraussetzung sozialwissenschaftlicher Erklarungen. Da beide Perspektiven die Kontingenz als wichtigste Pr~isupposition fiir die Theorieentwicklung halten, kann es nicht iiberraschen, dass die Weiterentwicklungen der Theorien auch sehr ~ihnlich sind. In Bezug auf unser Problem, n~imlich auf das Problem der Konstruktion eines sozialwissenschaftlich angemessenen Strukturbegriffes, haben diese Theorien sehr ~ihnliche Antworten entwickelt. Allerdings lassen sich diese )idanlichkeiten nur auf einer sehr formalen Ebene beobachten. Das heil3t, dass es n6tig ist, eine gewisse dpoche der ,,sachlichen" Inhalte der Theorien zu machen, um iJberhaupt die ,~hnlichkeiten beobachten zu k6nnen. Wir miissen also ,,vergessen", dass die Theorie von Luhmann eine auf Kommunikation basierende Systemtheorie ist und dass die Theorie von Giddens auf dem Handlungsbegriff beruht. Im n~ichsten Kapitel werde ich aber zu der Unterscheidung Kommunikation / Handeln zurtickkommen, um 109
die sozialwissenschaftlichen Leistungen, die sich diese Theorien gegenseitig erbringen ktinnen, genauer unter die Lupe zu nehmen. Da beide Theorien die Kontingenz des Sozialen als Pr~.supposition teilen, mtissen sie die Entwicklung eines ,,verdinglichten" Strukturbegriffes ablehnen. Ftir sie kann es also keine Struktur jenseits der kommunikativen Operation bzw. des Handelns geben. In diesem Sinne besteht eine formale ,~quivalenz zwischen den Begriffen Autopoiesis und Dualit~it der Struktur. Beide Begriffe erm/Sglichen die Oberwindung sowohl der deterministischen funktionalistischen und strukturalistischen Theorien als auch der sinnlosen Trennung der Sozialwissenschaften in einem Mikro- und einem Makrobereich. Die Beobachtung dieser ,~hnlichkeiten ist allerdings keine neue Entdeckung. Luhmann hat schon in seinem Buch iiber Organisationssysteme diese ,~hnlichkeiten bemerkt. Nachdem er beschrieben hat, wie Strukturen durch Operationen erzeugt und reproduziert werden, erkRirt er in einer FuBnote: ,,Wir befinden uns hier in voller Obereinstimmung mit Anthony Giddens Theorie des ,,structuratio n " - mit der einzigen Ausnahme, dass Giddens eine systemtheoretische Grundierung dieses Begriffs ablehnt". ~~ Da Giddens die Angemessenheit funktionalistischer Erkl~irungen von Anfang an abgelehnt hat, denke ich, dass es fiir ihn schwieriger ware, diese ,,Konvergenz" zu akzeptieren. Als Beobachter zweiter Ordnung beider Theorien haben wir allerdings vielmehr Freiheit, um ,~hnlichkeiten zu entdecken. In unserem Fall wird diese Freiheit mit Hilfe der Bestimmung der Problematik der Struktur als Bezugproblem geschaffen. In diesem Sinne sind beide Theorien sehr ~ihnlich, weil sie auf dasselbe Problem reagiert haben, namlich auf die Starrheit des Strukturbegriffes in den Sozialwissenschaften. Diese auf dem Kontingenzbegriff beruhende Oberwindung klassischer sozialwissenschaftlichen Probleme ist sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung einer konzeptuellen Revolution, die das Verst~indnis der TemporaliRit sozialer Operationen bzw. Handlungen betrifft. Beide Theorien verstehen die sozialen Ph~inomene als (gegenwartsbezogene) Ereignisse. Aus diesem Grund ktinnen die Strukturen (als Erwartungen oder als Regeln und Ressourcen) nur ,,wirksam" sein, wenn sie in der Kommunikation oder im Handeln aktualisiert werden. Da es keine strukturdeterminierte Ordnung vor der Kommunikation bzw. Handlung gibt und da diese Ph~inomene immer gegenwartsbezogene Ereignisse sind, ist es also unmiSglich, hundertprozentig richtig vorauszusagen, was in der sozialen Welt geschehen wird. Es ist klar, dass die Durchf'tihrung sozialer Operationen die Aktualisierung von Strukturen impliziert. Allerdings steht niemals von Anfang an fest, welche Strukturen aktualisiert werden. Im Prinzip kann es ~03Niklas Luhmann,Organisationund Entscheidung,Opladen / Wiesbaden,2000, S. 50. 110
immer /dberraschungen, Entt~iuschungen, Fehler geben. 1~ Und ich habe ganz bewusst ,,im Prinzip" gesagt, weil klar ist, dass man das theoriebezogene Prinzip der Kontingenz nicht mit dem empiriebezogenen Prinzip der sozialen Kontingenzeinschr~inkung verwechseln soil. Es ist schon klar, dass auch Parsons seine Theorie mit der Analyse der (doppelten) Kontingenz angefangen hat. In diesem Sinn setzte auch er ein theoriebezogenes Prinzip der Kontingenz voraus. In der Weiterentwicklung der Theorie ist allerdings dieses Prinzip allm~ihlich verschwunden. Die Kontingenz des Strukturfunktionalismus bezieht sich auf eine Art absoluten Anfangs (ein state of nature), in dem die Menschen noch nicht sozialisiert worden sind. Wenn sie schon sozialisiert worden sind (und empirisch heil3t dies: immer), gibt es in der Theorie keinen Raum mehr ftir die Kontingenz. Da sie psychisch bedingt, nach Belohnungen streben, und da diese in der Sozialisation gelemten Belohnungen immer kulturbezogen sind, miassen sie sich st~indig darum bemtihen, die Ideale ihrer Gesellschaft zu realisieren. Mit dem Begriff der kybernetischen Hierarchie ist es Parsons gelungen, die Kontingenz nicht nur einzugrenzen, sondem fast zu vernichten. Unter dieser Perspektive wird die Gesellschaft als eine Entit~it begriffen, die vom Menschen fordert, ihre Bedtirfnisse zu erfiJllen. Genau gegen diese Konzeption haben Luhmann und Giddens reagiert. Die L6sung, die sie gefunden haben, liegt darin, die Kontingenz nicht zu vernichten, sondern sie in der Theorie zu bewahren. Es war ihnen klar, dasses mit Hilfe der Kontingenz m6glich ist, das Paar Operation (Kommunikation oder Handlung) / Struktur in ihrer rekursiven Dynamik, dies heil3t: in ihrem Strukturierungsprozess, zu begreifen. Mit Hilfe dieses rekursiven Strukturbegriffs k6nnen wir jetzt einige Mechanismen der gesellschaftlichen Kontingenzeinschr~inkung genauer analysieren.
~04 Selbstverst~indlich h~ingt die soziale Existenz solcher Ph~inomene vom Beobachter ab. Wenn niemand etwas als IJberraschung oder Fehler beobachtet, existiert dieses Ereignis f'tir die Gesellschaft nicht. Da ich aberjetzt versuche, die Theorien zu vergleichen, kann ich dieses konstruktivistische Prinzip nicht in Anspruch nehmen, lch muss also machen, ,,als ob" es etwas wie lJberraschungen, Entt~iuschungen,usw. jenseits der Beobachtung g~ibe. lll
6.
Kontingenzeinschrfinkung I: Der praktische Sinn
6.1
Der Begriff der Kontingenzeinschriinkung
Mit der Pr~isentation und Analyse der Strukturbegriffe der Systemtheorie von Niklas Luhmann und der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens habe ich die Art und Weise gezeigt, in der diese Theorien, die zweifellos zu den einflussreichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven gehtiren, das Problem der Entwicklung eines angemessenen Strukturbegriffes far die gegenw~'tige Sozialforschung gel6st haben. Auf die Unangemessenheit deterministischer Strukturbegriffe haben sowohl Luhmann als auch Giddens mit der Entwicklung operativer Strukturbegriffe reagiert. Zweifellos sind beide Begriffe ,,operativ" in dem Sinne, dass beide Theorien das grundlegende Element ihrer Analyse (Handeln bzw. Kommunikation) als zeitloses Ereignis konzipiert haben. Diese ereignisbasierte Verstandigung des Sozialen erm/Sglicht beiden Theorien eine Perspektiven~inderung. Sie interessieren sich nicht mehr for die Struktur schlechthin, sondern f'tir die Strukturierung sozialer Ph~nomene. Sie interessieren sich also fur die Dynamik des Sozialen. Durch die Inanspruchnahme dieser Dynamik der Strukturierung ist es fur beide Theorien m/Sglich, nicht nur die Starrheit des strukturalistischen und struktur-funktionalistischen Determinismus, sondern auch die Beliebigkeit des existenzialistischen Voluntarismus zu iiberwinden. Die Pr~isupposition die all diese Leistungen hervorbringt heiBt Kontingenz. Nur wenn man die soziale Welt als eine auf Kontingenz basierende Welt versteht, ist es miSglich ihre Strukturen dynamisch zu begreifen. Kontingenz heiBt aber nicht Beliebigkeit. Weder Luhmann noch Giddens sind der Meinung, dass alles beliebig geschehen kann. Sonst w~re es iiberhaupt nicht ntitig gewesen, einen Strukturbegriff zu entwickeln. Bei Luhmann haben wir schon gesehen, dass der Strukturbegriff sich auf die erwartungsbezogene Begrenzung kommunikativer Anschlussmtiglichkeiten bezieht. Im Fall von Giddens erf'tillen die Strukturen (als Regeln und Ressourcen) sozusagen eine doppelte Funktion. Auf der einen Seite begrenzen sie die Handlungskapazit~iten und auf der anderen Seite fungieren sie als Katalysatoren, welche diese Kapazit~iten nicht nur erm6glichen, sondern auch steigern. Wenn nicht Beliebigkeit, was kann dann Kontingenz bedeuten? Dieser Begrift zeigt nur, dass es im Bereich des Sozialen weder Notwendiges noch Unmtigliches gibt. Systemtheoretisch wiirde man sagen, dass der Kontingenz-begriff die Einheit der Differenz von M/Sglichkeit und UnmSglichkeit des Wirklichen bezeichnet. In der sozialen Welt gibt es keine ewigen und allgemeingtiltigen Gesetze, weil im Prinzip alles immer anders sein kann. Diese M6glichkeiten werden aber immer vonder ereignisbasierten Temporalit~.t sozialer Operationen 112
begrenzt. Alles mag m6glich sein, aber nicht gleichzeitig. Dieser Selektionszwang gilt in beiden Theorien als MtJglichkeitsbedingung ftir die Entstehung von Strukturen. Empirisch betrachtet, hangt die Entstehung solcher Strukturen von der Wiederholung ab. Sowohl die systemtheoretische Konsolidierung von Erwartungen als auch die routinebezogene Beherrschung einer Praxis h~ingen von den st~indigen Wiederholungen sozialer Operationen ab. Dies bringt uns zu einem neuen Problem, n~imlich zum Problem der Kontingenzeinschr~inkung. W~ihrend ich mich in den frtiheren Kapiteln darum bemtiht habe, die Starrheit des Strukturbegriffes zu dekonstruieren, werde ich in den folgenden Kapiteln versuchen, eine angemessene Analyse der Entstehung und Aufrechterhaltung von Mechanismen der Kontingenzeinschr~inkung durchzuf'tihren. Da wir jetzt iiber einen operativen Strukturbegriff verf'tigen, muss diese Analyse allerdings gesellschaftsimmanent bleiben. Dies bedeutet, dass es nicht mehr ntitig ist, auf transzendentale Erkl~irungsinstanzen zu rekurrieren, weil die Dynamik der sozialen Welt die Instanz ist, welche diese Einschr~inkungen bedingt. Durch die Analyse dieser Mechanismen der Kontingenzeinschr~inkung wird es mOglich, nicht nur die Strukturierungsdynamik sozialer Ph~inomene zu beobachten, sondern auch die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Regelm~i13igkeiten. Manchmal kondensieren sich diese Regelm~il3igkeiten so sehr, dass sie als eigentliche ,,Tr~igheiten" erscheinen. Wir diirfen aber niemals vergessen, dass sogar diese ,,notwendigen" Erscheinungen operationsbezogen sind und aus diesem Grund bleiben sie immer kontingent. Da ich der Meinung bin, dass in ihren gegenw~rtigen Versionen weder die Systemtheorie noch die Handlungstheorie in der Lage sind, eine angemessene Analyse dieser Mechanismen zu liefern, schlage ich eine Erg~.nzungsstrategie vor. Diese Erg~inzungsstrategie teilt sich in zwei Phasen. In der ersten Phase mtichte ich die auf dem Kommunikationsbegriff basierte Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann mit dem handlungstheoretischen Prinzip des praktischen Sinnes integrieren. Um diesen praktischen Sinn begreifen zu kOnnen, werde ich sowohl die schon analysierte Strukturierungstheorie von Anthony Giddens sowie die Praxistheorie von Pierre Bourdieu in Anspruch nehmen. Die Idee ist also, die Kommunikation als Forschungsgegenstand der Soziologie zu bewahren, ohne auf wichtige Errungenschaften der praxisbasierten Handlungstheorien zu verzichten. Ich bin der Meinung, dass es m6glich ist, den praktischen Sinn als eine neue Art struktureller Kopplung zwischen der Gesellschaft und ihrer menschlichen Umwelt zu begreifen. Um diese Vermittlung zu entwickeln, ist es aber n6tig, mit den systemtheoretischen Analysen des Handelns anzufangen. Diese Analysen zeigen ganz deutlich die Angemessenheit der Kommunikation als eigentlichen Kern soziologi113
scher Forschung. Aus diesem Grund muss die Inanspruchnahme des praktischen Sinnes keineswegs die Riickkehr zu tiblichen Versionen einer akteurzentrierten Handlungstheorie bedeuten. Da die Analyse des praktischen Sinnes eine Dezentrierung des Akteurs am Akteur voraussetzt, haben wir mit Akteuren im klassischen Sinne des Wortes nichts mehr zu tun. !~ Nach der Analyse des praktischen Charakters kommunikativer Ereignisse werde ich in der Lage sein, die zweite Phase der oben erw~ihnten Erg~inzungsstrategie durchzufiihren. In dieser zweiten Phase, mit der ich mich in den nachsten zwei Kapiteln befasse, setze ich mich mit der Problematik der gesellschaftlichen Differenzierung auseinander.
6.2
Kommunikation oder Handlung
Im letzten Kapitel habe ich vorgeschlagen, die Unterschiede zwischen der Systemtheorie als Kommunikationstheorie und der Strukturierungstheorie als Handlungstheorie zu ,,vergessen", um einen formalen Vergleich ihrer entsprechenden Strukturbegriffe durchftihren zu k6nnen. Das Ergebnis dieses Vergleichs war die Feststellung einer Konvergenz zwischen beiden Theorien in Bezug auf einen Strukturbegriff. Beide Theorien charakterisieren sich durch einen auf der konstitutiven Kontingenz des Sozialen beruhenden rekursiven Strukturbegriffs. Jetzt ist es aber an der Zeit, diesen formalen Vergleichsrahmen zu verlassen, um uns mit den ,,sachlichen" Unterschieden dieser Theorien auseinandersetzen zu k6nnen. Zweifellos bezieht sich der grundlegende Unterschied zwischen beiden Theorien auf die divergente Auswahl der zugrunde liegenden sozialen Operation. W~ihrend Giddens sich ftir die ganz tibliche Kategorie des Handelns als grundlegende Operation des Sozialen entschieden hat, hat Luhmann die Kommunikation als elementare Operation des Sozialen begriffen. Meiner Meinung nach liegt die gr6Bte theoretische Leistung von Luhmann darin, dass er diese Entscheidung getroffen hat. Die Inanspruchnahme der Kommunikation als eigentliche Operation des Sozialen hat bedeutungsvolle Wirkungen ftir die Soziologie gehabt. Fiir mich gibt es keine Frage, dass der Kommunikationsbegriff viel geeigneter als der Handlungsbegriff ftir die Analyse gegenw~'tiger Gesellschaften ist. In seiner Ablehnung der Handlungstheorien hat aber Luhmann die Gelegenheit verpasst, Errungenschaften dieser Theorien in Anspruch zu nehmen, die f'tir die sozialwissenschaftliche Analyse spezifischer gesellschaftlicher Bereiche notwendig sind. Diese Errungenschaften beziehen sich auf die Feststellung des praktischen Sinnes als konstitutive Bedingung des Sozialen. Ich bin also der 10~Den Begriff der Dezentrierungdes Akteurs am Akteur habe ich von Armin Nassehi genommen. Vgl. Armin Nassehi, ,,Sozialer Sinn", in: Armin Nassehi / Gerd Nollmann (Hg.), Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann: Ein Theorienvergleich,Frankfurt/M,2004. 114
Meinung~ dass es sich wissenschaftlich lohnt, eine gegenseitige Erg~.nzung der systemtheoretisch basierten Kommunikationstheorie von Luhmann mit den handlungstheoriebezogenen Reflexionen iiber den praktischen Sinn vorzunehmen. Bevor ich jedoch diesen Erganzungsversuch durchftihre, ist es niStig, die Argumentation von Luhmann, was die Unterscheidung Kommunikation / Handlung betrifft, zu pr~isentieren. Historisch hat die Soziologie das Handeln als elementare Operation ihres Forschungsbereiches verstanden. Unterschiedliche Generationen von Soziologen von Max Weber bis Anthony Giddens haben sich deshalb datum bemiiht, eine geeignete Theorie des Handelns zu entwickeln. Am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere hat auch Luhmann in die Richtung einer Theorie des Handelns gearbeitet. Aber je mehr er die Kluft zwischen psychischen und sozialen Systeme feststellte, desto schwieriger fand er, das Handeln als grundlegendes Element des Sozialen zu verteidigen. FOr die Soziologie liegt das vielleicht gr/3Bte Problem darin, dass der Handlungsbegriff sich fast immer auf den Individuumsbegriff (im Sinne eines Akteurs) bezieht und wenn man mit Individuen zu tun hat, muss man st~indig nach Zwecken, Absichten, Motiven, usw. fragen. Obwohl es mtiglich ist, zu denken, dass auch Kollektive handeln, muss man akzeptieren, dass das Handeln solcher Kollektive immer aus individuellen Handlungen besteht. Wenn man aber individuelle Handlungen beobachtet, ist es sehr schwer, etwas eigentlich Soziales in diesen Handlungen zu sehen. Da sich die Soziologie dieser Problematik bewusst war, hat sie beispielsweise schon bei Weber eine Unterscheidung zwischen Handeln und sozialem Handeln durchgef'tihrt. Allerdings hat diese Unterscheidung das Problem nicht geltist. Weitere Versuche haben im Bereich der Disziplin stattgefunden. Sogar Parsons und seine analytische Trennung zwischen Perstinlichkeitssystemen und sozialen Systemen befand sich wegen des Handlungsbegriffes in einer Sackgasse, weil er dasselbe Ph~inomen sowohl als psychisches Geschehen als auch als soziales Geschehen betrachten musste. Die Folge (und die Voraussetzung) solcher Oberschneidung habe ich schon oftmals erw~ihnt. Mit Hilfe eines unglaublich starren Sozialisationsverst~indnisses hat Parsons auf die operative Unabh~ingigkeit beider Systeme verzichtet. Diese n6tige Oberschneidung von psychischen und sozialen Handlungen hat jeden Raum, den es fiJr die doppelte Kontingenz innerhalb der Theorie gab, vernichtet. Noch einen wichtigen Schritt in Richtung einer auf dem Kommunikationsbegriff basierenden Theorie machte Luhmann, als er die Unterscheidung Handeln und Erleben entwickelte. ~~ Als Mechanismen fiir die Prozessierung von ~o60ber die Originalit~it und Bedeutung dieser Unterscheidung siehe: Rudolf Stichweh, ,,Systems Theory as an Alternative to Action Theory?The Rise of 'Communication' as a Theoretical Option", in: Acta Sociologica,vol. 43, No. 1, 2000. S. 5-13. 115
Selektionen verftigen soziale Systeme tiber zwei Mtiglichkeiten, diese Selektionen zuzuschreiben. Soziale Systeme ktinnen solche Selektionen entweder als das Handeln eines Systems oder als das Erleben eines umweltbezogenen Ereignisses verstehen. Da es im ersten Fall um das sinnhafte ,,Verhalten" eines Systems geht, neigt man dazu, diesem System eine Absicht zuzuschreiben. Im Fall des Erlebens besteht aber keine Notwendigkeit, nach Absichten zu suchen, da es immer um Umweltzust~inde geht. Diese Unterscheidung, die viele )i,hnlichkeiten mit den Reflexionen von Goffman tiber die prim~en Rahmen hat, half Luhmann sehr in der Entwicklung seiner Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Diese im Laufe der Evolution entwickelnden Kommunikationsmedien, deren Funktion die Einschr~inkung der Unwahrscheinlichkeit kommunikativer Anschlussf'~ihigkeit (also der Kontingenz!) ist, operieren aufgrund der von Alter oder Ego durchgeftihrten Selektion von Zuschreibungen. Luhmann hat die Zuschreibungsm/)glichkeiten in vier Felder eingeordnet. Diese vier Felder ktJnnen wir in der folgenden Tabelle sehen.
Alters Erleben Alters Handeln
E~os Erleben Wahrheit, Werte Eigentum / Geld, Kunst
Egos Handeln Liebe Macht / Recht
Die Tabelle zeigt, wie diese Kommunikationsmedien operieren. Im Fall des Feldes Alter erlebt / Ego erlebt sehen wir, dass die Kommunikation von Alter das Erleben von Ego ausl/Sst. Beispielsweise, wenn ein Wissenschaftler etwas for wahr h~ilt und dieses als wahres Wissen kommuniziert, impliziert die Annnahme dieser Kommunikation, dass Ego (ein anderer Wissenschaftler, der die Kommunikation von Alter geh/Srt oder gelesen hat) sich auf die Erlebensbedingungen von Alter bezieht, um diese Kommunikation auch als ,,Wahrheit" identifizieren zu k/)nnen. Im Gegensatz dazu wird die Kommunikation mit Hilfe des Mediums Macht nur anschlussf'~ihig, wenn das Handeln von Alter (zum Beispiel ein Befehl) das Handeln von Ego ausRist. Im Bereich der Wirtschaft und der Kunst sehen wir erstaunliche ,~,hnlichkeiten zwischen den Selektionsformen der entsprechenden Kommunikationsmedien, n~imlich Geld und Kunst. In diesen Systemen l/Sst das Handeln von Alter das Erleben von Ego aus. Solange jemand (in diesem Fall Alter) den richtigen Preis einer Ware mit seinem eigenen Geld bezahlt, wird niemand (kein Ego) zum Handeln gefordert. Im Bereich der Liebe passiert genau das Gegenteil. In diesem Fall wird das Handeln von Ego vonder Kommunikation eines Erlebens von Alter provoziert. In all diesen Fallen ist es nur wichtig zu sagen, dass diese Selektionsprozessierung niemals als ontologi116
sche Tatsachen beobachtet werden soil, weil die Zuschreibung von Selektionen immer beobachterabh~ingig (und in diesem Sinne systemabh~ingig) ist. Ftir unsere Problematik ist diese Unterscheidung nur von Bedeutung, weil ihre Beobachtung die Notwendigkeit eines allgemeineren Operationsbegriffes voraussetzt und zwar eines Operationsbegriffes, der so abstrakt ist, dass er sowohl das Handeln als auch das Erleben einschlieBen kann. Wie schon in der Erkl~ung der Tabelle angedeutet, ist dieser Begriff der Kommunikationsbegriff, weil es nur mit seiner Hilfe m6glich ist, zwischen Handeln und Erleben zu unterscheiden. Die Grtinde, warum Luhmann seine Theorie auf den Kommunikationsbegriff aufgebaut hat, diJrften jetzt deutlicher sein. Auf der einen Seite ist das Handeln keine soziale Operation im eigentlichen Sinne, weil sie immer individuenbezogen ist. Auf der anderen Seite ist das Handeln immer eine kommunikative Zuschreibung (unter anderen), welche die Weltkomplexit~it reduziert. Die Tatsache, dass das Handeln eine systemabh~ingige Zurechnung ist, bedeutet aber keineswegs, dass das Handeln sozusagen keine Funktion innerhalb der Kommunikation erfiillt. Nach wie vor ist eine handlungslose Gesellschaft unvorstellbar. Die gesellschaftliche Bedeutung des Handelns kann man schon bei der Analyse des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffes. Unter Kommunikation versteht Luhmann ein Ereignis, das aus der Synthese drei Selektionen besteht, n~imlich aus Mittelung, Information und Verstehen, der Differenz zwischen Kommunikation und Mittelung. Aus der Perspektive der Systemtheorie aus haben wir mit Kommunikation nur zu tun, wenn das Kommunikationssystem ein (sinnhaftes) Ereignis als Mitteilung einer Information versteht. Nur wenn die Differenz zwischen Information und Mitteilung verstanden wird, kann das System sozusagen reagieren, indem es eine neue Kommunikation produziert. Vielleicht ist aber noch nicht ganz klar, warum diese drei Momente der Kommunikation als Selektionen begriffen werden sollen. Noch einmal miissen wir also die Komplexit~it des Sinnes in Anspruch nehmen. Die drei konstitutiven Elemente der Kommunikation werden als Selektionen bezeichnet, weil es immer mehr kommunikative M6glichkeiten gibt, als diejenige die eine bestimmte Kommunikation aktualisiert. Die Kommunikation muss also entscheiden, nicht nur woriiber sie informieren will, sondern auch wie sie diese Information mitteilen will (etwa schriftlich, mtindlich, usw.). Es bestehen auch mehrere Mtiglichkeiten ftir das Verstehen solcher mitgeteilten Information. Weder die Information noch die Mitteilung ktinnen als eindeutige Ereignisse verstanden w'erden. Aus diesem Grund sind soziale Systeme immer gefordert, eine gewisse Interpretation durchzuf'tihren. Diese drei Selektionen sind aber nicht die Leistung eines Akteurs, sondern die Leistung der Kommunikation als autopoietisches System. Beispielsweise bezieht sich der Verstehensbegriff nicht auf das psychische Verstehen eines 117
Akteurs, sondern auf das Verstehen der Kommunikation durch die Kommunikation. Die Theorie schlieBt selbstversRindlich nicht die M/Sglichkeit aus, dass ein psychisches System etwas (auch eine Kommunikation) verstehen kann. Hier ist nur gemeint, dass diese Art von Verstehen zu einem anderen System, n~imlich dem psychischen System geh/Srt. Auf jeden Fall kann das psychische Verstehen nicht als Mtiglichkeitsbedingung der Kommunikation begriffen werden. Beispiele daftir liegen auf der Hand. Beispielwiese kann jemand, der ein Thema in der Schule psychisch nicht verstanden hat, auf eine Frage des Lehrers eine richtige Antwort rein zuf'~illig geben. Ftir die Kommunikation ist es also nicht n/)tig, dass es irgendeine Korrespondenz zwischen ihr und den an der Kommunikation beteiligten psychischen Systemen gibt. Ftir die Autopoiesis der Kommunikation reicht es, wenn mehr Kommunikation zustande kommt. Und diese Kommunikation kann auch die Kommunikation des Nicht-Verstehens sein. Was ist aber mit dem Handeln passiert? Es ist bereits dargelegt worden, dass ftir die Systemtheorie soziale Systeme nur aus Kommunikationen bestehen ktJnnen. Die Ankntipfung an solche Kommunikationen h~ingt aber von Zurechnungsmechanismen ab, bei denen die Kommunikation ihre menschliche Umwelt in der Form von Personen in Anspruch nehmen kann. In diesem Sinne bezeichnet der Personbegriff keinen tat~ichlichen Menschen, sondern nur eine kommunikative Zuschreibungseinheit. Aus diesem Grund mtissen soziale Systeme die Mitteilung einer Kommunikation als Handlung (Mitteilungshandlung) interpretieren. Die Zurechnung der Kommunikation als Handeln ist also eine unverzichtbare Bedingung der Entwicklung sozialer Systeme. Allerdings kann die Kommunikation nicht nur diese Mitteilungshandlung beobachten. Die Kommunikation kann tiber alle m/Sglichen Handlungen kommunizieren. Beispielsweise kann sie erz~ihlen, wie jemand gerannt ist, um einen Bus nicht zu verpassen. Dieses Ereignis kann aber nur sozial relevant sein (im Sinne, dass es in der Kommunikation erz~ihlt werden kann), weil es einen Sinnzusammenhang (es gibt Busse und Zeitpl~ine, usw.) gibt, welcher es der Kommunikation erm6glicht, dieses Verhalten als sinnhafte Handlung zu ,,entkodifizieren". Als bloBes Ereignis ist das Handeln immer identisch mit sich selbst und in diesem Sinne sozusagen ,,blind". Da das Handeln keine Operation ist, kann es sich selbst nicht beobachten und deshalb braucht es immer ein System, das ihm einen gewissen Sinn geben kann. Sowohl psychische als auch soziale Systeme ktinnen einer Handlung einen bestimmten Sinn zurechnen. Da der psychische Sinn eines Handelns unzug~inglich ftir andere Systeme bleibt, k/Snnen wir nur den Sinn, der in der Kommunikation konstruiert worden ist, beobachten. Es kann aber keinen einheitlichen Sinn eines Handelns geben, weil es mehrere soziale Beobachter gibt. Da jedes System seinen eigenen Relevanzbereich 118
schafft, kann es eine Handlung nur seinen Strukturen nach interpretieren. Aus diesem Grund denkt Luhmann, dass Handlungstheorien von seiner auf dem Kommunikationsbegriff basierenden Systemtheorie iiberwunden worden sind. W~ihrend Handlungstheorien sich mit der Konstruktion des Sinnes einer Handlung besch~iftigen (Beobachtung erster Ordnung), interessiert sich die Systemtheorie fiir die Beobachtung des Beobachters (Beobachtung zweiter Ordnung). Wenn die Sozialwissenschaftler sich die Frage nach dem Sinn einer Handlung stellen, ,,erfinden" sie sozusagen nur eine neue Sinnkonstruktion. Aus diesem Grund kann dasselbe Verhalten sehr unterschiedliche soziale Interpretationen haben. Wenn zum Beispiel eine Person in die Kirche geht, bedeutet dieses Verhalten etwas fiir die Religion und etwas ganz anderes fiir die Wissenschaft. Fiir ein anderes System kann ein solches Verhalten tiberhaupt keine Resonanz schaffen. Mit diesen Problemen der sachlichen Differenzierung der Gesellschaft werde ich mich ausfiihrlicher in den n~ichsten Kapiteln befassen. Trotz der grol3en Plausibilit~it der Handlungsanalyse der Systemtheorie bleiben sie eine Ausnahme in der Landschaft der sozialwissenschaftlichen Theorien, die nach wir vor von den auf dem Handlungsbegriff basierenden Analysen beherrscht wird. Da es mittlerweile zwischen diesen Theorien viele Interpretationsmissverst~indnisse gibt, hat es keinen ernsten Versuch gegeben, ihre Ergebnisse gegenseitig zu erg~inzen. Dass sie unterschiedlich sind, wissen wir. Von den Mtiglichkeiten, die es gibt, diese Reflexionen gegenseitig zu erg~inzen, haben wir jedoch keine Ahnung. Die Frage ist aber, ob die Sozialwissenschaften im allgemeinen und die Soziologie im besonderen sich eine neue (scheinbar) unvers/3hnliche Trennung wie diejenige zwischen Mikro- und Makrobereichen leisten kann, ohne ihr Beobachtungsvermtigen deutlich zu verarmen. Obwohl ich ein Verteidiger der theoretischen Vielf~iltigkeit innerhalb der Sozialwissenschaften bin, denke ich, dass es eine unverzichtbare Aufgabe ist, uns st~indig um die Aufltisung und Rekombination wissenschaftlicher Elemente zu bemiihen. Zweifellos fordert die Komplexit~it der Welt immer neue Beobachtungspositionen, die nur in der Dynamik der Aufl/3sung und der Rekombination zustande kommen ktinnen. Wie schon oben angedeutet, m/3chte ich also eine Vermittlung zwischen beiden Theorien durchzuftihren. Noch einmal werde ich also die Prinzipien des komplexeren Denkens von Edgar Morin in Anspruch nehmen. Ganz besonders werde ich mich auf die Dialogik als Prinzip komplexerer Verbindungen beziehen. Da es nicht m/3glich w~ire, die Handlungstheorien wegen ihrer inneren Vielf~iltigkeit als Einheit zu begreifen, werde ich mich ausschliel31ich mit den Ergebnissen von zwei Handlungstheorien besch~iftigen, n~.mlich mit der im letzten
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Kapitel schon analysierten Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und der Praxistheorie von Pierre Bourdieu. ~07
6.3
Die praktischen Grundlagen der Kommunikation
Ich bin der Meinung, dass der Begriff des praktischen Sinnes eine entscheidende Funktion in der Vermittlung zwischen den wissenschaftlichen Ergebnissen der Handlungsforschung und denen der Forschung nach kommunikativen Zusammenh~ingen erftillen kann. Sowohl Giddens als auch Bourdieu interessieren sich f'tir die Analyse dieser Dimension des Sozialen und viele ihrer Reflexionen basieren auf ihr. Diese Autoren begreifen das Handeln weder als die Realisierung der menschlichen Vernunft (Habermas), noch als blol3es Ergebnis eines rationalen Kalktils (Theorien der rational choice). FUr sie ist das Handeln immer eine praktische Angelegenheit. Als praktische Angelegenheit wird das Handeln als zeitbezogenes, strukturvoraussetzendes, struktur-produzierendes und strukturreproduzierendes Ereignis beobachtet. Auch ist fiir beide Theorien ihr Interesse an den Entstehungsbedingungen praktischer Fertigkeiten charakteristisch. Aus diesem Grund ist es keine Oberraschung, dass Bourdieu seinen eigenen theoretischen Rahmen als ,,genetischer Strukturalismus" bezeichnet hat. ~~ Warum sollte man sich jedoch mit diesem Vermittlungsversuch besch~iftigen? Was ware der Gewinn fiir die sozialwissenschaftliche Forschung? Selbstverst~indlich interessiere ich mich nicht f'dr eine ,,politische Vers6hnung" zwischen den Theorien oder f'dr ,,Aufhebung" sozialwissenschaftlicher Differenzen. Nach der Einheit strebe ich nicht. Ich denke aber, dass es nicht nut m6glich, sondern auch empfehlenswert ist, zentrale Aspekte dieser Theorien zu integrieten, um eine relativ neue Perspektive entwickeln zu k6nnen. Trotz der enormen Leistungen der Theorie sozialer Systeme von Luhmann bin ich der Meinung, d a s s e s immer noch viele M~ingel in ihrer theoretischen Architektur gibt. Es gibt viele Ph~inomene, fur die sie keine befriedigende Erkl~ung liefern kann. Das zo7Es muss gesagt werden, dass Bourdieu eine Theorie der Praktik und nicht der Praxis geschrieben hat. Ftir ihn ist der Praxisbegriff viel zu viel mit theoretischen Konnotationen gepr~igtund klingt aus dem Grund zuviel nach Marxismus ,,chic", dem jungen Marx, Frankfurt, usw. Vgl. Pierre Bourdieu, Choses dites, Paris, 1987, S. 24. In den deutschen Ubersetzungen der Werke von Bourdieu wird allerdings dieser Praxisbegriff problemlos verwendet. Deshaib habe ich reich entschieden, beide Begriffe (Praxis und Praktik) als Synonyme zu benutzen. io8 ,,Je dirais que j'essaie d'61aborer un structuralismeg~n~tique: l'analyse des structures objectives celles des diff6rentes champs - est ins6parable de l'analyse de la gen~se au sein des individus biologiques des structures mentales qui sont pour une part le produit de l'incorporation des structures sociales et l'analyse de la gen~se de ces structures sociales elles-mSmes 9l'espace social est le groupes qui s'y distribuent, sont le produit de luttes historiques (dans lesquelles les agents s'engagent en fonction de leur position dans l'espace social et des structures mentales h travers lesquelles ils appr6hendent cet espace". Cf. Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 24. ..
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deutlichste Beispiel bietet ihre Betrachtungsweise sozialer Differenzierung. Im Gegensatz zu ihrer akribischen Betrachtungsweise funktionaler Differenzierung hat sie iiber die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit kaum etwas gesagt. Allerdings teile ich die Kritik vieler Wissenschaftler nicht, was die Systemtheorie (Giddens und Bourdieu eingeschlosseh) betrifft. Ich denke nicht, dass es klug w~'e, uns v o n d e r Systemtheorie zu verabschieden. Kritisierbar finde ich nur die gegenw~irtige Form dieser Theorie. Ich verstehe, dass es n6tig war, Abstand von den iiblichen sozialwissenschaftlichen Reflexionen zu nehmen, um iiberhaupt etwas anderes beobachten zu ktinnen. Mit seiner Inanspruchnahme systemtheoretischer und kybernetischer Reflexionen hat Luhmann diese (gesunde) Distanzierung ermtiglicht. Es ist nicht so, dass er mehr (oder besser) gesehen hat, sondern, dass er wegen einer neuen Perspektive anders gesehen hat. In diesem Sinne schulden die Sozialwissenschaften den Bemiihungen von Luhmann viel. Nur heute (also nur retrospektiv) ktinnen wir sagen, dass Luhmann vielleicht ein bisschen zu weit gegangen ist. Vielleicht hat er zu viel Abstand von den iiblichen Reflexionen sozialwissenschaftlicher Disziplinen genommen. Dies ist die Paradoxie: in seiner Leistung liegt seine Problematik (im Sinne seiner Anschlussunfiihigkeit). Vielleicht hat Luhmann die soziale Welt so dramatisch dekonstruiert, dass es jetzt fast unm6glich ist, sie mit Hilfe seiner Theorie wissenschaftlich zu rekonstruieren. Die soziale Welt von Luhmann sieht so kontingent aus, dass es fast unm6glich ist, die strukturellen Tr~igheiten dieser Welt zu erkl~iren. Andere Theorien sind wiederum besser positioniert, um solche Tr~igheiten zu beobachten. Veilleicht ist es also an der Zeit, die Forschungen von Luhmann durch andere Errungenschaften der Sozialwissenschaften zu erg~inzen. Und mit Erg~inzung meine ich nicht, die einfache Mischung von Begriffen, sondern die koh~ente Entstehung einer relativ neuen Beobachtungsposition. Eine solche Erg~inzung erreicht man nur durch die Oberarbeitung von zentralen Begriffen. Um die soziale Welt wissenschaftlich wieder zu rekonstruieren, miissen wir meines Erachtens den praktischen Sinn in Anspruch nehmen. Die Inanspruchnahme dieses Begriffes setzt aber die Analyse der Verh~iltnisse zwischen Kommunikation, Bewusstsein und K6rper voraus. Wenn Luhmann die Kommunikation analysiert, setzt er immer voraus, dass die Menschen kommunikationsfdhig sind. Um Missverst~indnisse zu vermeiden, miissen wir hier langsam vorgehen. Bevor die Systemtheoretiker diese Behauptung kritisieren, muss ich sagen, dass es mir klar ist, dass ftir Luhmann Menschen nicht kommunizieren k6nnen, weil nur die Kommunikation kommuniziert und dass Menschen keine einheitlichen Systeme sind. Selbstverst~indlich bezeichnen wir in der allt~iglichen Kommunikation den Menschen als eine Art operativer Einheit. Der Systemtheorie nach besteht jedoch dieser Mensch aus 121
unterschiedlichen Systemarten. Also, wenn ich sage, dass Luhmann die kommunikativen F~ihigkeiten des Menschen voraussetzt, beziehe ich mich ausschlieBlich auf die menschliche F~ihigkeit sich als Agent an der Kommunikation im Sinne einer praktischen Angelegenheit zu beteiligen. Allerdings ist dieser praktische Sinn keine angeborene KapaziRit. Die Agenten miissen lernen, sich an sozialen Situationen zu beteiligen. Um diesen Lernprozess zu begreifen, hat man in der Soziologie den Sozialisationsbegriff verwendet. Man muss aber bei der Anwendung dieses Begriffes vorsichtig sein, weil er immer noch zuviel von struktur-funktionalistischen Pr~imissen gepr~igt ist. In dieser ~ilteren Fassung wurde die Sozialisation als die Durchsetzung gesellschaftlicher Kfiteden gegen die Triebe des Menschen angesehen. Die Sozialisation wurde als Erkl~'ung fur die normative gesellschaftliche Integration verstanden. Wie wir schon im Kapitel tiber die Revolten gegen die Struktur gezeigt haben, wurde schon diese Fassung des Begriffes stark kritisiert. Trotz dieser Kritik wird diese Fassung des Begriffes nach wir vor in der sozialwissenschaftlichen Forschung angewendet. Es ist aber auch sicher, dass sie nicht mehr so anschlussf'~ihig ist. In der Systemtheorie von Luhmann finden wir eine neue Fassung dieses wichtigen Begriffes. Da Luhmann sowohl die Idee eines unmittelbaren Kontaktes zwischen Systemen als auch diejenige der normativen Integration des Sozialen ablehnt, kann er die Sozialisation nur als Selbstsozialisation psychischer Systeme verstehen. Diese Figur der Selbstsozialisation will ich nicht bestreiten. Ich bin aber der Meinung, dass Luhmann sie nur oberfl~ichlich analysiert hat. Selbstverst~indlich kann man Griinde f'tir einen solchen Mangel vermuten. Als Theorie, die auf dem Kontingenzbegriff basiert, interessiert sich die Systemtheorie von Luhmann f'tir die ,,Aufdeckung" der Unwahrschein-lichkeit sozialer Ordnung. In unserem Alltagsleben setzen wir beispielsweise voraus, dass andere Leute unsere Kommunikationen verstehen (weil sie beispielsweise unsere Werte teilen). Die Theorie sozialer Systeme zeigt uns wiederum, dass die Kommunikation ein sehr unwahrscheinliches Ph~inomen ist. Die Tatsache, dass jemand uns tiberhaupt verstehen kann (um vom sozialen Wunder der Ubereinstimmung ganz zu schweigen), setzt immer eine ganze (sowohl symbolische als auch nichtsymbolische) Welt voraus. Eine Welt, in der es keine Notwendigkeit (und auch kein Verst~indigungstelos ~ la Habermas) gibt. Um diese Unwahrscheinlichkeit zu bewahren (oder sogar, um sie zu dramatisieren), fiihrte Luhmann keine tiefe Analyse der Sozialisation durch. Die unterschiedlichen Ph~inomene, die im Sozialisationsbegriff eingeschlossen werden (wie die Handlungsautomatismen, die Triebsublimierungen oder die Entwicklung von Neurosen) bleiben in der Systemtheorie fast unbeobachtet.
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Selbstverst~indlich kann man sagen, dass die Analyse der Selbstsozialisation psychischer Systeme nicht das Hauptthema der Theorie sozialer Systeme ist. Um die Annahme, dass soziale Systeme autopoietische Systeme eigener Art sind, zu rechtfertigen, hat Luhmann aber viele Seiten dem Problem operativer Geschlossenheit psychischer Systeme gewidmet. ~~ Trotz seiner Bemiihungen ist es Luhmann nicht gelungen, eine durchaus befriedigende Beschreibung psychischer Systeme zu liefern. Vor allem hatte er groBe Probleme mit der Bestimmung der operativen Einheit solcher Systeme. Ublicherweise wird akzeptiert, dass es um Gedanken geht. Allerdings war es f'tir Luhmann klar, dass das Bewusstsein mehr F~ihigkeiten als nur die F~ihigkeit des Denkens besitzt und dass dies ein Problem ist, weil andere F~ihigkeiten ausgeschlossen werden. ,,Man spricht von Wahrnehmen, Denken, Ftihlen, Wollen als verschiedene F~ihigkeiten des Bewusstseins und l~sst dabei often, was denn die Einheit (der Operationsweise) des Bewusstseins ist. Sicher geht es um ein Prozessieren von Aufmerksamkeit, aber welches Wort sollte man w~ihlen, um dies zu bezeichnen? Ich habe vorgeschlagen, von Denken zu sprechen, bin damit aber nicht sehr zufrieden. Husserl hatte, und das w~ire ein weiterer ernstzunehmender Kandidat, von intentionalen (gerichteten) Akten gesprochen", j~~ Diese Definitionsprobleme waren aber nicht so dramatisch, weil Luhmann sein Ziel schon erreicht hatte, n~imlich eine plausible Beschreibung der operativen Geschlossenheit psychischer Systeme, die als Grundlage der Emergenz autopoietischer sozialer Systeme fungiert. Noch einmal sehen wir, dass Luhmann sich auf die Beobachtung der Kontingenz konzentriert hat. Es gibt aber viele soziale Ph~inomene, die ganz erkl~irungslos bleiben, wenn wir keine ernste Analyse der Sozialisation im Sinne der Entwicklung eines praktischen Sinnes durchfiihren. Trotz der Individualit~it psychischer Systeme ist es offensichtlich, dass es in der sozialen Welt mehr Kontinuit~it als Diskontinuit~it gibt. Meines Erachtens reicht die Analyse der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nicht aus, um die soziale Kontingenzeinschr~inkung zu beschreiben. Man muss den alten Sozialisationsbegriff wieder in Anspruch nehmen, ohne in die Aporien des Strukturfunktionalismus zuriickzukehren. Meiner Meinung nach lassen sich solche Probleme mit Hilfe des praktischen Sinnes vermeiden. Es geht also nicht, um die Entwicklung einer allgemeinen Theorie psychischer Systeme, sondern um die Spezifizierung io9Beispielsweise hat er ein ganzes Kapitel tiber ,,die Individualitiitpsychischer Systeme" in: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 346-376 geschrieben. Viele Aufs~itzekommen hinzu, darunter: ,,Die Autopoiesis des Bewusstseins" aus dem Jahr 1985, neugedruckt in: ders. Soziologische Aufkl~irung Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen, 1995, S. 55-112 und ,,Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme" in: Hans Rudi Fischer/Arnold Retzer/Jochen Schweitzer (Hg.), Das Ende der gro6en Entwtirfe, Frankfurt/M, 1992, S. 117-131. ~0 Niklas Luhmann, ,,Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme", a.a.O., S.123. 123
der sozialrelevanten F~ihigkeiten psychischer Systeme, n~imlich der praktischen F~igkeiten. Es w~ire schon die Aufgabe von Fachexperten, zu tiberpriifen, ob es tiberhaupt mtiglich ist, diese praktischen F~igkeiten mit den anderen F~ihigkeiten des psychischen Systems in einem einheitlichen Operationsbegriff zu beschreiben. Oder vielleicht geht es hier um ein sozialwissenschaftliches begriffliches Konstrukt, das nur innerhalb unserer Disziplinen anschlussf'~ihig ist. Wie oben gesagt, denke ich, dass die sozialwissenschaftliche Analyse des psychischen Systems sich auf seine praxisbezogenen F~ihigkeiten konzentrieren soil. Aus diesem Grund finde ich die von Giddens durchgeftihrte Teilung des menschlichen Bewusstseins in praktisches Bewusstsein, diskursives Bewusstsein und das Unbewusste sehr ntitzlich. Diese Teilung erm6glicht uns, die praxisspezifischen F~ihigkeiten des Bewusstseins auszudifferenzieren. Bevor ich mit der Analyse des praktischen Bewusstseins anfange, mtichte ich ein paar Worte tiber die zwei anderen Dimensionen sagen. SelbstversRindlich lehne ich die sozialwissenschaftliche Bedeutung des diskursiven Bewusstseins nicht ab. Allerdings gilt sie nicht als Schwerpunkt dieser Reflexionen. Diese F~ihigkeit der Agenten, etwas tiber die Umst~inde ihrer Handlungen sagen zu ktinnen, gewinnt an Bedeutung im Rahmen bestimmter Arten empirischer Forschung. In Bezug auf das Unbewusste mtichte ich sagen, dass es nicht mein Ziel ist, die psychoanalytischen Grundlagen der sozialen Welt zu diskutieren. Selbstverst~indlich bin ich der Meinung, dass diese von Giddens beschriebene ontologische Gewissheit eine unheimlich wichtige Rolle in der Erkl~ung der Praxis spielt. Problematisch finde ich aber die Behauptung, dass die Vermeidung der Ungewissheit der letzte Grund f'tir die Entstehung routinebezogener Praxen (und in diesem Sinne des sozialen Lebens) ist. Um seinen Begriff des praktischen Bewusstseins zu entwickeln, hat Giddens sich auf die ethnomethodologischen Forschungen von Garfinkel bezogen. Wie wir schon im Kapitel 4 gesehen haben, betonte Garfinkel in seiner Beschreibung der Merkmale ethnomethodologischer Forschung als Forschung nach praktischen T~itigkeiten die ,,Accountability" menschlichen Handelns. In Bezug auf diesen Begriff schreibt Giddens: ,j take "accountability" to mean that the accounts that actors are able to offer of their conduct draw upon the same stocks of knowledge as drawn upon in the very production and reproduction of their action". ~ Giddens will also nicht die Verbalisierung des praktischen Wissens, sondern ihre Anwendung betonen. W~ihrend dieser Verbalisierung sich auf die Fertigkeiten diskursives Bewusstseins beziehen, Risst sich das praktische Wissen nur im Bereich des praktischen Bewusstseins beobachten. Dieses praktische ~11Anthony Giddens, Central problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis,London/Berkeley,1979,S. 57. 124
Bewusstsein bezeichnet also ein: ,,tacit knowledge that is skilfully applied in the enactment of courses of conduct, but which the actor is not able to formulate discursively". ~2 Dieses stillschweigende praktische Wissen fungiert als M6glichkeitsbedingung der ,,reflexive monitoring of action", also als M6glichkeitsbedingung jeder praxisbezogenen Rationalisierung der Handlung. Wenn Giddens also von Bewusstsein spricht, bezieht er sich nicht (oder nicht nur) auf Gedanken, sondem auf eine besondere Art von Wissen. Ein Wissen, das ftir die Teilnahme an sozialen Situationen unverzichtbar ist. Ohne ein solches Wissen w~.re es unm6glich, Situationen zu identifizieren und die eigene T~itigkeit (Kommunikation oder Handlung) an der Strukturierung dieser Ereignisse anzuschlieBen. Es ist also klar, dass die Teilnahme an sozialen Situationen die sozialbezogene Entwicklung eines handlungs- und kommunikationsf'~ihigen ,,Tr~igers" voraussetzt. Aus diversen Grtinden wollte Luhmann sich von dieser Idee eines individuellen oder kollektiven ,,Tr~igers" verabschieden. In diesem Sinne ist klar, dass die Folgen der Kommunikation weit tiber ihre menschlichen ,,Tr~.ger" hinausgehen. In der Handlungstheorie versucht man diese Folgen als unintendierte Wirkungen des Handelns zu fassen. Ftir Luhmann ist aber die Koh~enz, die man in der Erscheinung solcher Folgen sehen kann, handlungstheoretisch nicht erkl/~'bar. Aus diesem Grund bezieht sie sich auf Mechanismen der Systemdifferenzierung und der Evolution. ~3 Mit der Notwendigkeit einer systemischen Referenz bin ich einverstanden. Allerdings denke ich, dass es nicht besonders ratsam ist, auf die Idee eines Tr~igers zu verzichten. Dieser Tr~iger muss aber nicht mehr als eigenschaftsvoller Adressat verstanden werden, sondem nur als ein handlungsund kommunikationsf'~ihiger Agent. Ein Agent, der immer praktische Grtinde hat, zu tun, was er gerade tut. Selbstverst~indlich will ich die M6glichkeit eines Fehlers nicht v611ig ausschliel3en. Es kann sicher passieren, dass jemand etwas tut, was er eigentlich nicht machen wollte und dass das Ergebnis einer solchen Handlung bzw. Kommunikation von einem Beobachter beispielsweise als ,,Kreativit~it" bezeichnet wird. Es darf aber nicht vergessen werden, dass Fehler kein Ding an sich sind. Um tiberhaupt in der Gesellschaft erscheinen zu k6nnen, h~ingen Fehler vonder Kommunikation ab. Obwohl die Feststellung von praxisbezogenen F~ihigkeiten auch eine kommunikative Zurechnung ist, kann man sie als grundlegende Pr~isupposition der (intentionalen) Teilnahme an der Gesellschaft begreifen. So viel soziale Regelm/iBigkeit w~ire ohne diese Pr~isupposition kaum erkRirbar. i~2AnthonyGiddens, a.a.O., S. 57. Zu dieser Problematik siehe besonders: Niklas Luhmann,,,Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition", in: ders., Gesellschaftsstrukturund Semantik 1, Frankfurt/M, 1993,S. 9-71 (empfehlenswert ist auch das Vorwort). 113
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Die Inanspruchnahme des praktischen Sinnes bedeutet aber nicht, dass wir zum klassischen Bild eines (rationalen) Akteurs zurtickkehren sollen. Sowohl die Strukturierungstheorie von Giddens als auch der genetische Strukturalismus von Bourdieu charakterisieren sich durch ihre Dezentrierung des Akteurs am Akteur. Im Handlungsbegriff beider Theorien haben wir es beispielsweise mit einer intentionslosen Intentionalit/it zu tun. In der Pr~isentation des Habitusbegriffes von Bourdieu werde ich mich ausftihrlich nicht nur mit dieser Problematik, sondern auch mit den Unterschieden zwischen Giddens und Bourdieu auseinandersetzen.
6.4
K6rperlichkeit und indirekte Kommunikation
Der praxisbezogene Sozialisationsbegriff geht allerdings tiber die psychischen Systeme hinaus. Er bezieht sich auch auf die menschlichen K6rper. Der K6rper ist also nicht nur ,,eine allgemeine (und insofern theoretisch triviale) Pr~misse sozialen Lebens ''114, sondern vielmehr das Instrument menschlicher Praxis schlechthin. Wie Marcel Mauss in seinem Essay tiber die Techniken des K6rpers geschrieben hat: ,,Le corps est le premier et le plus naturel instrument de l'homme. Ou plus exactement, sans parler d'instrument, le premier et le plus naturel objet technique, et en m~me temps moyen technique, de l'homme, c'est son corps". ~5 In diesem Sinne kann den K6per nicht nur als eine Vorbedingung der Kommunikation verstanden werden, sondern auch als Instrument der Kommunikation. Der K6rper ist also ein unheimlich wichtiger kommunikativer Bereich. Zweifellos charakterisiert sich der Kommunikationsbegriff der Systemtheorie durch seine Breite. Mit ihm wird beispielsweise der Kommunikationsbegriff von Habermas kritisiert, weil er sich zuviel auf das Ph/inomen der sprachlichen Kommunikation bezieht. Systemtheoretisch begreift man nicht nur eine (verntinftige) Diskussion als Beispiel der Kommunikation. Wenn wir mit Hilfe des Mediums Geld einen Preis bezahlen oder wenn wir der Person, die wir lieben, eine Blume schenken, nehmen wir Kommunikation in Anspruch. Der Systemtheorie nach sieht die Palette kommunikativer Ph~inomene also viel breiter aus. Trotz dieser Verbreiterung des Beobachtungsbereiches ist es der Systemtheorie meiner Meinung nach nicht gelungen, die K6rperlichkeit als spezifische kommunikative Instanz zu begreifen. AuBer einigen Reflexionen tiber Tanz und Sport als soziale Bereiche, deren Analyse die Beobachtung der K6rper in Anspruch nehmen muss, bezieht sich 1~4Niklas Luhmann, Soziale Systeme,a.a.O., S. 334. ~15Marcel Mauss "Les techniques du corps" (1936), in: ders., Sociologieet anthropologie, a.a.O., S. 372. 126
die systemtheoretische Beobachtung der KOrper auf die sogenannten symbiotischen Mechanismen (bzw. symbiotischen Symbole). Diese symbiotischen Symbole ,,ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation sich durch K0rperlichkeit irritieren lasst; die Art und Weise also, in der die Effekte struktureller Kopplung im Kommunikationssystem verarbeitet wtzrden, ohne dass diese die Geschlossenheit des Systems sprengen und eine nichtkommunikative Operationsweise erfordern wtirde". 116 Diese symbiotischen Symbole machen es also mOglich, in der Kommunikation auf die KOrperlichkeit Rticksicht zu nehmen. In der nach Funktionen differenzierten Struktur des gegenwartigen Gesellschaftssystems werden diese Symbole auch funktions-ma6ig ausdifferenziert. Dies geschieht mit Hilfe der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Jedes Medium nimmt eine kOrperliche Referenz in Anspruch, um seine Anschlusschancen zu steigern. Beispielsweise nimmt wissenschaftliche Wahrheit die Wahrnehmung in Anspruch, wie politische Macht die physische Gewalt oder Liebe die Sexualitat. In all diesen Fallen beobachtet die Theorie die Art und Weise, in der die K0rperlichkeit innerhalb der Kommunikation an Bedeutung gewinnt. FOr die Beobachtung der kOrperlichen Kommunikation interessiert sie sich kaum. Dieser Mangei an lnteresse ist jedoch gewisserma6en erklarbar. Wie schon oben gesagt, kann eine Kommunikation laut der Systemtheorie nur zustande kommen, wenn es eine Synthese von drei Selektionen gibt. Diese Selektionen sind: Mitteilung, Information und Verstehen. In diesem Sinne kann die Kommunikation auf Kommunikation nur reagieren (um mehr Kommunikation zu produzieren), wenn sie verstanden hat, dass eine informationsproduzierende Mitteilung stattgefunden hat. Wenn die Absicht eines gewissen Verhaltens nicht als kommunikative Absicht verstanden werden kann, bezweifelt die Kommunikation, ob sie tiberhaupt reagieren soll. In solchen Fallen kann die Kommunikation die Frage stellen, ob das oben erwahnte Verhalten kommunikativ gemeint war oder nicht. Solches Verhalten, das fast immer kOrperbezogen ist, bezeichnet Luhmann mit dem Begriff der ,,indirekten Kommunikation . . 1 1 7 Wahrend es im Bereich der sprachlichen Kommunikation immer (oder fast immer) m/Sglich ist, den Unterschied zwischen Mitteilung und Information zu verstehen, ist der Bereich der indirekten Kommunikation durch seine Undeutlichkeit charakterisiert. FUr Luhmann handelt es sich dabei um ,,Grenzzonen der Empfindlichkeit von Kommunikation gegentiber einem Verhalten, das gar nicht als Kommunikation beabsichtigt war". ~18 Selbstverstandlich gehOren nicht all die kOrperbezogenen Kommunikationen zu diesen Grenzzonen. Auch im Be1~6Niklas Luhmann,Die Gesellschafider Gesellschafi, a.a.O., S. 378. ~s7Siehe dazu: NiklasLuhmann,Die Kunstder Gesellschafi, Frankfurt/M, 1995,S. 34 f. 118 A.a.O., S. 35. 127
reich der k6rperlichen Kommunikation gibt es viele Beispiele von kommunikativen Absichten, die deutlich verstanden werden k6nnen. Wenn wir beispielsweise jemanden mit einer Handbewegung begrtil]en oder beleidigen wollen, ist diese Absicht normalerweise klar. Allerdings gibt es auch Beispiele von k6rperbezogenem Verhalten, deren kommunikative Absichten und sogar deren informative Inhalte nicht so deutlich sind, die aber auch als Kommunikation verstanden werden k6nnen. Ein klares Beispiel ist der Abstand, den wir beim Gespr~ich gegentiber unserem Gesprachspartner halten. Zweifellos ist dieser Abstand sozial determiniert und fungiert als viel mehr als nur eine diffuse Umweltbedingung. Dieses Abstandes sind wir uns allerdings nicht so bewusst, weil er nicht im Bereich eines diskursiven Bewusstseins prozessiert wird. Dieses Abstandhalten und andere Ph~inomene dieser Art k6nnen nur im Bereich des praktischen Bewusstseins interpretiert werden. Wie k6nnte man aber diesen Bereich bestimmen? Selbstverst~indlich w~e es falsch, zu sagen, dass diese indirekte k6rperliche Kommunikation unmittelbar die Autopoiesis von Funktionssystemen irritieren kann. Wie k6nnten Systeme, deren Ausdifferenzierung der verbreitungsmedienkonditionierten Uberwindung der Interaktion viel schuldet, iiberhaupt diese K6rperlichkeit in Anspruch nehmen? Es w~ire aber auch falsch zu sagen, dass diese k6rperliche Kommunikation keine Rolle mehr spielt. Was ist also die reproduktive Nische solcher Kommunikation? Wie kann sie die Strukturierung von Funktionssystemen (wenn tiberhaupt) irritieren? Hier haben wires mit kommunikativen Bereichen zu tun, die Luhmann nicht in Anspruch genommen hat. Obwohl sein Kommunikationsbegriff sehr breit ist, strebt er fast immer nach der Eindeutigkeit von dem, was sprachlich ausgedrtickt werden kann. Da er viel zu viel auf der Ebene von Bewusstsein diskursiver Art arbeitete, konnte er andere Kan/ile der Kommunikation, die im Bereich des praktischen Bewusstseins operieren, nicht berticksichtigen. Diese Probleme lassen sich allerdings auch in Bezug auf andere kommunikative Bereiche sehen. Beispielsweise kritisiert Luhmann die Untersuchungen tiber die soziale Produktion ,,feiner Unterschiede" im Bereich kultureller Artefakte (Sprachstile eingeschlossen) von Pierre Bourdieu, weil er der Meinung ist, dass in solchen F~illen die kommunikative Absicht immer geleugnet werden kann. In Bezug auf die Verletzung eines Kleidungscodes schreibt Luhmann beispielsweise: ,,Wer auf seine Absicht angesprochen wird, kann diese leugnen, und da man dies wissen kann, ist eine Kommunikation dartiber weitgehend blockiert bzw. nur als Provokation m6glich. Nur Bourdivinisten k6nnen dartiber reden, oder wohl nur: schreiben". ~9 Ftir Luhmann kann man also zweifellos fiber Bourdieu 119A.a.O., S. 35. 128
und seine Analysen sprechen. Selbstverst~indlich aber nur, wenn unsere Gastgeber, fiber deren Klavier Dtirers Hase h~ingt (das Beispiel ist von Luhmann), abwesend sind. Man kann (ja darf) seine auf dem Distinktionssinn basierte Einsch~itzung einer solchen Dekoration nicht direkt mitteilen. Fiir Luhmann bleiben indirekte Kommunikationen: ,,in hohem Mal3e kontextgebunden, also nur situativ verst~indlich". ~2~ Wegen dieser Bindung zu spezifischen Kontexten findet Luhmann, dass die Ausdifferenzierung eines Systems indirekter Kommunikation schwer vorstellbar ist. Im Gegensatz zur Universalisierung des Geldgebrauchs im Bereich der Wirtschaft, w~ire es beispielsweise unm6glich indirekte Kommunikationen an beliebige Adressaten zu richten. Mit Luhmann bin ich in Bezug auf die Unm6glichkeit der Ausdifferenzierung eines solchen Systems einverstanden. Allerdings denke ich, dass diese Unmtiglichkeit kein Grund ist, um diese Kommunikation als ein Ph~inomen zweiten Rangs zu behandeln. Sowohl die ktirperliche Kommunikation als auch die Kommunikation ,,feinster Unterschiede" sind Ph~inomene, welche die Sozialwissenschaften in Anspruch nehmen kann, um ein besseres Verst~indnis der sozialen Welt zu entwickeln (ganz besonders im bezug auf das was ich sp~iter mit dem Begriff der ,,Durchsetzung von Programmen" bezeichnen werde). Nicht obwohl, sondern gerade weil sie kein System aufbauen und immer kontextgebunden sind, sind diese indirekten Kommunikationen von grol3er Bedeutung fiir die sozialwissenschaftliche Forschung. Da diese indirekten Kommunikationen nur situativ also nur innerhalb spezifischer Kontexte verstanden werden k6nnen, ist es n6tig (und dies bringt uns zum Thema der Kontingenzeinschr~inkung zuriick), solche Kommunikationen als Leistung eines Sozialisationsprozesses zu verstehen. In diesem Sinne ist es klar, dass Ph~inomene, die mit dem praktischen Sinn zu tun haben, nicht ohne bezug auf die Figur eines sozialisierten Tr~igers analysiert werden k6nnen. Meiner Meinung nach liefert der Habitusbegriff von Pierre Bourdieu eines der besten konzeptuellen Werkzeuge fur die Analyse solcher praxisstiftenden Sozialisationsprozesse, die wiederum als Erkl~irung der Aufrechterhaltung sozialer Tr~igheiten fungieren.
6.5
Notwendigkeit in der Kontingenz: Der Habitusbegriff
Im Kapitel tiber die Revolten gegen die Struktur habe ich die frtihere Kritik von Pierre Bourdieu am Strukturalismus yon L6vi-Strauss schon analysiert. W~ihrend L6vi-Strauss einen quasi transzendentalen Strukturbegriff entwickelte, versuchte Bourdieu yon Anfang an die Leistung der Praxis und der Geschichte 12oA.a.O., S. 36. 129
in der Entstehung und Reproduktion von Strukturen wieder zu begreifen. Mit Hilfe des Habitusbegriffes ist es Bourdieu gelungen, beide Begriffe (Praxis und Geschichte) theoretisch zu verbinden. Meiner Meinung nach ist dieser Begriff besonders geeignet, um praxisbezogene Kontingenzeinschr~inkungsmechanismen zu analysieren. Da der Habitus sich sowohl auf mentale als auch auf k6rperliche Dispositionen bezieht, k6nnen viele der habitusbedingten Mechanismen der Kontingenzeinschr~inkung die Form sozialer Tr~igheiten gewinnen. Diese Tr~igheiten negieren die grundlegende Kontingenz des Sozialen selbstverst~.ndlich nicht. Wie bereits oben ausgeftihrt, gibt es in der Gesellschaft weder Notwendiges noch Unm6gliches p e r se. Im Laufe der Geschichte konstruiert die Gesellschaft ihre eigenen ,,Notwendigkeiten". Die eigentliche Leistung des Habitusbegriffes liegt darin, dass er die Notwendigkeit innerhalb der Kontingenz sichtbar macht. 121 Um diese ,,Notwendigkeiten" erfolgreich durchzusetzen, nimmt die Gesellschaft mit Hiife der Rekursivit~it des praktischen Sinnes ihre menschliche Umwelt in Anspruch. Wie im Fall der Sprache und der Wahrnehmung haben wir es hier mit einer Form der strukturellen Kopplung zu tun. In dieser strukturellen Kopplung geht es weder um die sprachliche noch um die schriftliche Beobachtbarkeit der Kommunikation (obwohl nicht negiert werden kann, dass die Sprachformen den praktischen Sinn widerspiegeln k6nnen). Auch geht es nicht um die sprachlose Kommunikation der Kunst, die nur ein Resonanzmedium in der Wahrnehmung findet. Was w ~ e also die Eigenschaft dieser strukturellen Kopplung? Obwohl noch viel geforscht werden muss, bevor eine befriedigende Formel erreicht werden kann, kann man sagen, dasses sich hier um die Konstruktion eines intentionalen Automatismus oder besser gesagt um eine intentionslose Intentionalit~it handelt. Wie andere Formen struktureller Kopplung ist der praktische Sinn weder System noch Umwelt, sondern ein Vermittlungsmedium, das die Selektion von Formen erm6glicht. Da die Entwicklung dieses praktischen Sinnes Ergebnis der Sozialisation ist, kann er vonder Soziologie beobachtet werden. Da er sich aber in den Agenten sozusagen niederRisst, kann er ohne Rekurs auf ihre ,,Tr~iger" nicht beobachtet werden. Wie im Fall der Wahrnehmung erm6glicht dieses Medium die Inanspruchnahme der K6rperlichkeit. Aber im Gegensatz zu dieser begreift es den K6rper ~2~ ,,Mais,par ailleurs, faisant le d6sespoir de ceux qu'il faut bien appeler les absolutistes, 6clairEs ou non, qui d6noncent son relativisme d6senchanteur, le sociologue d6couvre la n6cessit6, la contrainte des conditions et des conditionnements sociaux,jusqu'au c0eurdu ~,sujet ~, sous la forme de ce que j'appelle l'habitus. Bref, il porte le dEsespoir de l'humaniste absolutiste h son comble en faisant voir la n6cessit6 dans la contingence, en r6v61ant le syst~mede conditions sociales qui ont rendu possible une mani~re particuli6re d'Etre ou de faire, ainsi n6cessit6 sans ~tre pour autant nEcessaire" Pierre Bourdieu, ,,Fieidworkin Philosophy", in: ders., Choses dites, a.a.O., S. 25 f. 130
nicht nur als eine Art passiver Empffinger von Reizen, sondern auch als aktive Kommunikationsinstanz. Anhand des Habitusbegriffes lassen sich die wichtigsten Eigenschaften dieses praktischen Sinnes beobachten. Dieser Begriff hat eine lange Geschichte. Schon in der Philosophie von Hegel kann man ihn, als Versuch den moralischen Formalismus von Kant zu kritisieren (Sittlichkeit gegen Moralit~it), sehen. Auch bei Husserl spielte dieser Begriff in seinen Versuchen, den Bereich der Bewusstseinsphilosophie zu verlassen, eine wichtige Rolle. Im Bereich der Sozialwissenschaften benutzte schon Marcel Mauss diesen Begriff, um die Sozialisation des K6rpers zu begreifen. Uber die Besonderheiten dieses Begriffes hat Mauss geschrieben: ,,J'ai donc eu pendant de nombreuses ann6es cette notion de la nature social de 1' ~ habitus ~. Je vous prie de remarquer que je dis en bon latin, compris en France ~ habitus ~. Le mot traduit, infiniment mieux qu' - habitude ~, 1' ~ exis ~, 1' ~ acquis ~ et la ~ facult6 ~ d'Aristote (qui 6tait un psychologue). I1 ne d6signe pas ces habitudes m6taphysiques, cette ~ m6moire ~ myst6rieuse, sujets de volumes ou de courtes et fameuses theses. Ces ~ habitudes ~ varient non pas simplement avec les individus et leurs imitations, elles varient surtout avec les sociEt6s, les 6ducations, les convenances et les modes, les prestiges. I1 faut y voir des techniques et l'ouvrage de la raison pratique collective et individuelle, 1~ oh on ne voit d'ordinaire que l'~me et ses facult6s de r6p6tition". ~22 Mit Hilfe dieses Habitusbegriffes ist es m6glich, Ph~inomene, die wir normalerweise far ,,nattirliche Tatsachen" halten, als Ergebnis der Sozialisation zu analysieren. Beispielsweise entwickelt jede Gesellschaft unterschiedliche K6rpertechniken in Bezug auf Geschlecht und Alter. Die Unterschiede zwischen den Techniken sind so dramatisch, dass Mauss sogar von einer Gesellschaft der Frauen und einer Gesellschaft der M~inner spricht. Die Effekte der Sozialisation lassen sich tiberall beobachten. Wir gehen, schlafen, essen, trinken oder tanzen in einer bestimmten Art und Weise, weil wir diese besondere Art und Weise im Laufe der Sozialisation gelernt haben. Fast alles was wir mit unserem K6rper tun, haben wir gelernt. Bereiche wie die Hygiene und die Reproduktion bleiben selbstverst~indlich nicht auBerhalb dieser gesellschaftlichen Bestimmung. Ganz absichtlich spreche ich hier von gesellschaftlicher Bestimmung, weil es absolut unm6glich w~ire, ohne solche Techniken zu (tiber)leben. Bestimmung heiBt aber nicht, dass es unm6glich ware, alte Techniken durch neue zu ersetzen. Dazu braucht man aber viel Ubung, weil sich das, was man in vielen Jahren gelernt hat, nicht so einfach vergessen Risst. Zweifellos entwickelt der K6rper sein el.o
~22Marcel Mauss, ,,Les techniques du corps", in: a.a.O., S. 368 f. 131
genes praktisches Ged~ichtnis. Die Entwicklung dieses praktischen Ged~ichtnisses wird in der Erweiterung des Habitusbegriffes, die Bourdieu durchgeftihrt hat, deutlicher. Schon in seiner ersten systematischen Pr~isentation des Habitusbegriffes im Rahmen des Nachwortes der franzSsischen Ubersetzung des Werkes Gothic Architecture and Scholasticism von Erwin Panofsky, ist es deutlich, dass Bourdieu diesen Begriff als eine Vermittlungskategorie zwischen Kollektivit~it und Individualit~it versteht. Der Habitus ermiSglicht, dass ,,le cr6ateur participe de sa collectivit6 et de son 6poque et qui oriente et qui dirige, ~ son insu, ses actes de cr6ation les plus uniques en apparence". ~23 Wenn man den Habitusbegriff benutzt, beobachtet man also eine Verdoppelung der gesellschaftlichen Realit~it. Auf der einen Seite hat sie eine objektive Existenz. Eine Existenz, die sich als Verdinglichung des Sozialen manifestiert. In diesem Bereich besteht diese gesellschaftliche Realit~it aus historischstrukturierten Positionsfeldern. Auf der anderen Seite l~isst sich die subjektive Existenz des Sozialen in der Form des Habitus beobachten. Die Akteure ktinnen an der Dynamik eines Feldes teilnehmen, nur weil sie den entsprechenden Habitus verinnerlicht haben. Ohne diesen Habitus w~e es ftir sie unmtiglich, die Eigenwerte (die entsprechende Kapitalform) dieses Feldes anzuerkennen. Beispielsweise kann ein Laie nicht verstehen, warum es so interessant fur einen Soziologen ist, eine Dissertation tiber die Strukturierung der Gesellschaft zu schreiben. Um dieses Interesse verst~indlich zu machen, w~e es ntitig, nach Analogien zu suchen, dies heiBt nach sozialen Dingen (Geld, Prestige, usw.), die einen entsprechenden Wert for diese Person h~itten. Diese ntitige Erg~inzung zwischen Habitus und Feld begreift Bourdieu als eine ,,ontologische Mitschuld". Die Analyse und Anwendung dieses Habitusbegriffes setzen also immer Begriffe wie Feld und Kapital voraus. Da diese Begriffe zur Problematik der gesellschaftlichen Differenzierung geh6ren, werde ich hier keine ausftihrlichen Begriffsdefinitionen entwickeln. Wenn ich diese Problematik in den n~ichsten Kapiteln analysiere, werde ich mich mit diesen Begriffen auseinandersetzen. Dies bedeutet aber nicht, dass ich kein Wort tiber die Ausdifferenzierung von Feldern und Habitus besonders in Bezug auf die daraus entstandenen Probleme ftir die Koh~enz der Habitustheorie sagen werde. In der Analyse der elementarsten Habitusformen (die sogenannten prim~en Formen des Habitus) ist es allerdings nicht ntitig mit einer akribisch definierten Differenzierungstheorie zu arbeiten. Am Anfang seiner ethnologischen Untersuchungen hat Bourdieu den Feldbegriff mit der Idee der LebensumsRinde sehr oft ersetzt. Je mehr sich Bourdieu for Probleme der gegenw~'tigen Gesellschaft 123 Pierre Bourdieu, Nachwort zu: Erwin Panofsky, Architecture gothique et pensfe scolastique, Paris, 1967,S. 142. 132
interessiert hat, desto bedeutungsvoller wurde die Entwicklung eines deutlichen Feldbegriffes. Beispielsweise kommt der Feldbegriff in einer der ausftihrlichsten Definitionen, die Bourdieu zum Habitusbegriff jemals geschrieben hat, so gut wie nicht vor: ,,Les conditionnements associ6s h une classe particuli~re de conditions d'existence produisent des habitus, syst~mes de dispositions durables et transposables, structures structur6es pr6dispos6es h fonctionner comme structures structurantes, c'est-h-dire en tant que principes g6n6rateurs et organisateurs de pratiques et de repr6sentations qui peuvent ~tre objectivement adapt6es ~ leur but sans supposer la vis6e consciente de fins et la ma~trise expresse des op6rations n6cessaires pour les atteindre, objectivement ~ r6gl6es ~ et ~ r6guli~res ~ sans 8tre en rien le produit de l'ob6issance ~ des r~gles, et, 6tant tout cela, collectivement orchestr6es sans 8tre le produit de l'action organisatrice d'un chef d'orchestre". TM Der Habitus fungiert also als ein Produkt der Geschichte, das wiederum Geschichte produziert. Selbstverst~indlich haben wir hier noch einmal mit der Rekursivit~it zu tun. Es diirfte jetzt deutlich geworden sein, dass der Einfluss des Habitus allgegenw~rtig ist. Nicht nur unser Wahrnehmungsverm6gen, sondern auch die Art und Weise, in der wir die Ph~inomene der Welt einordnen, h~ingt von unserem Habitus ab. Wegen dieser Allgegenwart ist es sehr einfach, der Habitusbegriff als einen deterministischen Begriff zu interpretieren. Es ist Bourdieu nicht immer gelungen, diesen deterministischen Ton zu vermeiden und aus diesem Grund wurde der Begriff stark kritisiert. Es ist also ntitig zu wiederholen, dass der Habitusbegriff kein kontingenznegierender Begriff ist. Der Habitus schr~inkt nur die Kontingenz ein, indem er den Raum des M#glichen in Bezug auf den Sozialisationsprozess bestimmt. Die Untersuchungen von Bourdieu tiber den Zusammenhang zwischen sozialer Klasse und Geschmack sind in Bezug auf diese Problematik paradigmatisch. Beispielsweise ist es sehr unwahrscheinlich (aber nicht unmtJglich), dass ein Werk moderner Kunst einem Individuum aus einfachen Verh~iltnissen gefallen kann, weil es wiederum wahrscheinlich ist, dass dieses Individuum, wegen seiner Positionierung innerhalb des sozialen Raumes, nur tiber ein sehr geringes kulturelles Kapital verf'tigt. Ftir Bourdieu geht es also immer um Wahrscheinlichkeiten bzw. Unwahrscheinlichkeiten. Bourdieu lehnt die Mtiglichkeit nicht ab, dass sich dieses Individuum aus irgendwelchem Grund fiir eine solche Kunst interessieren kann. Allerdings stellt er durch seine empirischen Untersuchungen fest, dass dieser Fall sehr unwahrscheinlich ist. Der Habitus fungiert auch als eine Art praktisches ,,Realit~itsprinzip", weil sich mit seiner Hilfe die objektiven M6glichkeiten
~24Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris, 1980,S. 96 f. 133
und die subjektiven Erwartungen gegenseitig erg~inzen lassen. Durch den habitusbedingten praktischen Sinn kann man die zuktinftige Entwicklung einer gegenw~rtigen Situation antizipieren und habitusentsprechende Entscheidungen treffen. Da der Akteur diese Entscheidungen in Echtzeit treffen muss, ktinnen sie nur ausnahmsweise reflektiert werden. Zeit ftir Uberlegungen gibt es kaum. In dieser praktischen Art und Weise reduziert der Habitus die Komplexit~it der Welt. In dieser Einstellung zwischen objektiven M/Sglichkeiten und subjektiven Erwartungen sieht Bourdieu die Tr~igheit von Ph~inomenen wie Klassenzugehtirigkeit und Herrschaft. In diesem Sinne funktioniert diese Einstellung wie eine Art self-fulfilling-prophecy. Akteure, die zu einer bestimmten ,,sozialen Klasse" gehtiren, k/Snnen sich die Welt aul3erhalb der Grenzen ihres Habitus nicht vorstellen. Ihre Erwartungen und Wtinsche sind vom Habitus gepdigt. Dies heil3t, dass das oben erw~ihnte Individuum nicht nur nicht tiber das kulturelle Kapital verftigt, moderne Kunst zu verstehen, sondern auch, dass es fast unmtiglich ist, dass es sich ftir so etwas wie Kunst interessiert. Nur wenn man tiber ein bestimmtes Kapital verftigt, kann man eine entsprechende illusio entwickeln. Die illusio ermtiglicht die Identifizierung des sozialen Wertes von Verhaltensweisen und Gegenst~inden. Mit Hilfe dieser Begrifflichkeit l~isst sich die praktische Steuerung der Unterscheidung Interesse / Indifferenz beobachten. Allerdings setzt der Habitus nicht nur Grenzen, sondern bringt auch Kreativit~it hervor. Nur wenn man die Regeln eines Spieles kennt, kann man Ztige innerhalb dieses Spieles machen. Da jede Spielsituation kontingent ist und deshalb ganz anders als andere Spielsituationen aussehen kann, kann man hier nicht nur von einer ewigen Handlungswiederholung sprechen. Ganz im Gegenteil: Eigentlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand zweimal in derselben Situation vorfindet und noch unwahrscheinlicher, dass diese Person auf diese Situation in genau derselben Art und Weise reagiert. Selbstverst~indlich sind diese ,~nderungen nur ausnahmsweise dramatisch oder revolution~. In der Regel haben wir mit minimalen Abweichungen zu tun. Es gibt aber auch Situationen, in denen diese ,,ontologische Mitschuld" zwischen Habitus und den objektiven Umst~inden nicht mehr funktioniert. Auf Grund der wachsenden Gesellschaftsdifferenzierung kommt diese Entkopplung heutzutage h~iufiger vor. Um dieses Ph~inomen zu bezeichnen, hat Bourdieu den Begriff der Hysterese angewendet.
134
6.6
Die Hysterese des Hab:,tus
Die Hysterese des Habitus l~isst sich mit der Geschichte von ,,Don Quijote" exemplifizieren. Die Hysterese von Don Quijote besteht darin, dass er ein Ritter in einer Zeit sein wollte, in der diese Praktik nicht mehr passend war. Aus diesem Grund hat er die Situationen, in denen er sich befunden hat, immer falsch interpretiert. Mit Hilfe seines Habitus konnte er also die objektive Entwicklung sozialer Situationen nicht richtig antizipieren und deshalb ist er immer gescheitert. Im Fall dieses klassischen Romans hat die Entkopplung von Praxis und sozialen Umst~inden selbstverst~indlich mit dem Wahnsinn von Don Quijote zu tun. Aul3erhalb der Welt der Fiktion bezieht sich diese Entkopplung wiederum auf Transformationen der sozialen Welt: ,,En effet, la r6manence, sous la forme de l'habitus, de l'effet des conditionnements primaires rend raison aussi et aussi bien de cas o~ les dispositions fonctionnent ~ contretemps et o~ les pratiques sont objectivement inadapt6es aux conditions pr6sentes parce qu'objectivement ajust6es h des conditions r6volues ou abolies". 125 Die Forschungen, die Bourdieu in Algerien wahrend der sechziger Jahre durchgeftihrt hat, haben ihm sehr geholfen, diese Entkopplungen zwischen Habitus und objektiven Strukturen anhand der Folgen der sogenannten ,,Modernisierungsprozesse" zu analysieren. ~26 Wie in vielen der sogenannten ,,Entwicklungsl~inder" haben in Algerien diese Modernisierungsversuche stattgefunden, deren Folge die Zerst6rung traditioneller Lebensweisen (ganz besonders in Bezug auf die Migration Land-Stadt) war. Unter diesen neuen Umst~inden kann das Handeln dieser Akteure nicht mehr eindeutig sein. Alles was sie tun, bezieht sich teilweise auf die alte Situation, teilweise auf die neue Situation und kann auch teilweise schon eine zuktinftige Situation skizzieren. Wegen dieser Unbestimmtheit ist es sehr schwer ftir diese Akteure richtige Strategien zu finden, um eine Kapitalform zu akkumulieren. Dieser Bruch fordert fast immer eine reflexive Auseinandersetzung der Akteure mit ihrer alten Weltanschauung. Ideen und Werte, die normalerweise implizit bleiben, werden allm~ihlich zu Diskussionsthemen. ~27 Die Probleme solcher Entkopplungen gehen allerdings weit tiber die subjektive Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt hinaus. Wenn es kein Verh~iltnis zwischen Habitus und objektiver Struktur gibt, kann sich diese objek~25Pierre Bourdieu, Le sens pratique, a.a.O., S. 104 f. ~26Siehe besonders: Pierre Bourdieu, Travail et travailleurs en Alg6rie, a.a.O. ~27Eine ~ihnliche Diagnose in bezug auf diese reflexive Auseinandersetzungmit der Tradition entwickelte Giddens viele Jahre sp~iterin: "Living in a Post-Traditional Society", in: Anthony Giddens, In Defense of Sociology, a.a.O.S. 8-64. Es muss aber gesagt werden, dass bei Giddens alles optimistisch klingt. Ganz im Gegensatz finden wir in den Analysen von Bourdieu eine Art kritischer Nostalgie. 135
tive Struktur als gesellschaftliches Programm nur schwer durchsetzen. Wenn die Akteure die Werte eines Systems nicht anerkennen ktinnen, weil sie keine entsprechende illusio entwickelt haben, kann dieses System seiner Logik nach nicht funktionieren. Wenn die Akteure, beispielsweise, nicht verstanden haben, dass das symbolische Kapital im Sinne der Ehre nicht mehr als herrschende Kapitalform gilt, ktinnen sie nur eine mangelhafte (,,irrationale") Teilnahme an der Logik der neuen herrschenden Kapitalform, n~imlich des tikonomischen Kapitals haben. Die Folgen dieser Hysterese lassen sich allerdings nicht nur in den sogenannten EntwicklungsRindern beobachten. Im Herz der hochindustrialisierten L~inder finden auch diese Entkopplungen zwischen Habitus und objektiven Umst~inden statt. Im Buch La mis~re du monde haben Bourdieu und seine Mitarbeiter diese Entkopplungen in Frankreich haupts~ichlich als Ergebnis der Verschlimmerung sozialer Positionierung angesehen. 128 In vielen Interviews wird konstatiert, dass ein Ungerechtigkeitsgef'tihl herrscht, das mit der Tatsache zu tun hat, dass es eine Distanz zwischen geglaubter und tats~ichlicher Positionierung gibt. Selbstverst~indlich wtinschen wir uns alle, eine bessere Position innerhalb des sozialen Raums zu haben. In der Forschung iiber das Elend der Welt geht es allerdings nicht so sehr (oder nicht nur) um Wiinsche, sondern um Folgen der Hysterese. Die Akteure leiden nicht, weil sie merken, dass sie ihre Zeile nicht erreichen k/Snnen, sondern, weil sie einen Entwertungsprozess erlebt haben. Vielleicht geschieht dieser, weil ihre soziale Position (zum Beispiel als Btirokrat) an Wert verloren hat, vielleicht, weil sie aus einer sozialen Klasse abgestiegen sind. Unter diesen Umst~inden ist es sehr schwer, die stabile Korrespondenz zwischen Geschmack und sozialer Klasse, die Bourdieu in La distinction konstatiert hat, zu finden. Ganz umgekehrt wird in La mis~re du monde beobachtet, dass es diese deutliche Korrespondenz nicht mehr gibt, weil viele Akteure ihre habitusbezogenen Erwartungen nicht mehr erfiillen ktinnen. Was sie tun und was sie sind, entspricht nicht mehr ihrem Habitus. 6. 7
Drei Theorien und die Bedeutung des Raumes
Wie ich schon gezeigt habe, teilen Giddens und Bourdieu ein Interesse an der Erforschung der Praxis. Was Giddens haupts~ichlich mit dem Begriff des praktischen Bewusstseins bezeichnet, analysiert Bourdieu mit Hilfe des Habitusbegrifles. Trotz der vielen ,~hnlichkeiten, die es zwischen den Analysen von Giddens und denjenigen von Bourdieu gibt, sind ihre Begrifflichkeiten weder ~iquivalent noch austauschbar. Zwar interessieren sich beide f'tir die Analyse des 128Pierre Bourdieu(Hg.), La mis~redu monde, Paris, 1993. 136
Sozialen als praktischer Errungenschaft. Allerdings beobachtet Giddens dieses Phiinomen aus der Perspektive der Kontingenz des Sozialen, wiihrend Bourdieu in seinen Beobachtungen die Notwendigkeit des Sozialen betont. Das heiBt selbstverst~indlich nicht, dass die Theorie von Bourdieu viSllig deterministisch ist, sondern nur dass sie sich mit Hilfe der Notwendigkeit im Sinne von sozialen Triigheiten strukturiert. Diese Betonung ist zweifellos ein Grund fiir die Probleme, die Bourdieu bei der Erkl~.rung der Transformation eines bestimmten Habitus hat. Diese unterschiedlichen Betonungen sind nicht zuf'~illig. Fiir Giddens ist die Soziologie eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Phiinomenen der modernen industrialisierten Gesellschaften beschiiftigen soil. Obwohl die Theorie der Strukturierung keine soziologische Theorie, sondern eine sozialwissenschaftliche Theorie ist (und dies bedeutet, dass sie sowohl alte als auch neue Phiinomene erkliiren kann), bestreitet Giddens in seiner ,,Einf'tihrung" nicht, dass sie mit einer Neigung for die Analyse moderner Gesellschaften geschaffen wurde, t29 Wfihrend Giddens sich also hauptsachlich fiJr die Beobachtung und Erkl~irung moderner Gesellschaften interessiert, untersucht Bourdieu nicht nur die Neuheiten der Moderne, sondern auch die Tr~gheiten, welche die Entstehung und Konsolidierung dieser gesellschaftlichen Konfiguration begleiten. In diesem Sinne schaffen die Forschungen von Bourdieu nicht nur Informationen, wenn sie auf etwas spezifisch neues (modernes) hinweisen, sondern auch wenn sie die Kontinuit~iten zwischen alt und neu aufdecken. Selbstverst~indlich lehnt Bourdieu die Existenz von Unterschieden zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften nicht ab. Die Feststellung ausdifferenzierter Handlungsbereiche ist schon ein Beweis dieser Unterschiede. Im Gegensatz zu Giddens, denkt Bourdieu aber nicht, dass es n6tig (oder sogar m6glich) ist, Soziologie und Anthropologie zu trennen. In seinen Forschungen hat er bewiesen, dass dieselbe Theorie, die f'tir die Analyse traditionaler Gruppen in der Kabylei geeignet ist, uns auch helfen kann, das Verhalten von groBen Intellektuellen zu verstehen. FOr Bourdieu gibt es auch zwischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen keine Trennung, sondern Kontinuit~it. Und die Feststellung dieser Kontinuit~it zwit2,~"In case there is any doubt about terminology here, let me emphasize that I use the term 'social theory' to encompass issues that I hold to be the concern of all the social sciences. These issues are to do with the nature of human action and the acting self; with how the interaction should be conceptualized and its relation to institutions; and with grasping the practical connotations of social analysis. I understand 'sociology', by contrast, to be not a generic discipline to do with the study of human societies as a whole, but that branch of social science which focuses particularly upon the 'advanced' or modern societies.... This book is written with a definite sociological bias, in the sense that I tend to concentrate upon material particularly relevant to modern societies". Anthony Giddens, The Constitution of Society, a.a.O., S. xvi f. 137
schen Tradition und Modernit~it, zwischen Soziologie und Anthropologie h~ingt zweifellos von der Beobachtung spezifischer r~iumlicher Kontexte ab. Nur unter Berticksichtigung des Raumes ist es mtiglich, habitusdeterminierte Akteure zu beobachten. Ohne Raum wiirde die Theorie von Bourdieu viel ihrer Plausibilit~it verlieren. Selbstverst~indlich nimmt auch Giddens den Raum in Anspruch. In seinen Analysen der Moderne spielt jedoch dieser Begriff bei ihm eine ganz andere Rolle als bei Bourdieu. Als physischer Ort, an dem die Akteure handeln und an dem durch Wiederholung des Handelns Strukturen entstehen, ist der Raum in den Reflexionen der Strukturierungstheorie immer pr~isent. Dieser grundlegende Raumbegriff reicht selbstverst~indlich nicht aus, um die Besonderheiten der Moderne zu charakterisieren. Giddens sieht die Moderne durch ihre Radikalisierung der Entkopplung (disembedding) von Raum und Zeit charakterisiert. ,,By disembedding I mean the 'lifting out' of social relations from local context of interaction and their restructuring across indefinite spans of time-space". ]3~ Giddens setzt zwar die Existenz von lokalen R~iumen, in denen das Handeln stattfindet, voraus, aber interessiert sich haupts~ichlich fur Handlungsfolgen, die fiber diese R~iume hinausgehen, n~imlich ftir die globalen Folgen. Wenn er zu den lokalen R~iumen zurtickkommt, interessiert er sich nicht so sehr fiir die Beobachtung lokaler Dynamiken sozialer Art, sondern f'tir die Auswirkungen, die diese globalen Transformationen auf die Individuen haben. Seine Untersuchungen der Identit~itsentwicklung in der Moderne und der Transformationen der Intimit~it gelten als deutliche Beispiele dieses Interesses an Individuen. TM In Bezug auf diese Raumproblematik lassen sich neue Konvergenzen zwischen Giddens und Luhmann finden. Ohne die von den Verbreitungsmedien der Kommunikation (Schrift, Druck, usw.), welche die r~iumliche und zeitliche Entkopplung der konstitutiven Selektionen der Kommunikation erm/Sglicht haben, h~itte keine operative Schliel3ung der Funktionssysteme stattgefunden. Wegen dieser Verbreitungsmedien ist es also m6glich, dass die Information, die an einem bestimmten Ort mitgeteilt worden ist, viel sp~iter und an einem ganz anderen Ort verstanden werden kann. Ohne die Kontrolle der Wahrnehmung anwesender Akteure im Bereich der Interaktion beriicksichtigen zu miissen, war es for die Gesellschaft mtiglich, ihre eigenen Potenziale zu revolutionieren (zum Beispiel durch die Entwicklung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien) und h6chst unwahrscheinliche Kommunikationen wahrscheinlich zu machen.
~3oAnthonyGiddens,The Consequencesof Modernity,Cambridge, 1990,S. 21. 13JAnthonyGiddens, Modernityand Self-ldentity. Self and Societyin the Late Modern Age, Cambridge, 1991 und AnthonyGiddens,The Transformationof Intimacy,Cambridge, 1992. 138
Die Soziologie setzt sich also st~indig mit beiden Ph~inomenen, n~imlich der Entkopplung von Raum und Zeit und der r~iumlichen und zeitlichen Kontextspezifizierung (eine Spezifizierung, die nicht unbedingt eine Riickkehr in die Interaktion bedeutet) auseinander. Deshalb ist es n6tig, die Theorien zu erg~inzen. Im Kapitel 8 werde ich mich mit diesem Problem besch~iftigen.
139
C
Sachliche und soziale Differenzierung
7.
Das Problem der Differenzierung
Genau wie im Fall der schon analysierten Problematik der Struktur hat die Diskussion tiber die Differenzierung die Entwicklung der soziologischen Theorie begleitet. Ebenso wie im Fall der Strukturproblematik haben wir es hier mit zwei groBen Polen zu tun. W~ihrend sich die Diskussion tiber die Begriffbestimmung der Struktur in Bezug auf die Dichotomie Handlung (bzw. Kommunikation) oder Struktur strukturiert (!) hat, l~isst sich die Diskussion iiber die Differenzierungsproblematik durch die Dichotomie funktionaler oder sozialer Differenzierung bestimmen. ~32 Ftir den ersten Pol wird die Differenzierung haupts/ichlich als eine Differenzierung der Gesellschaft in funktionale Bereiche begriffen. Der zweit Pol verteidigt wiederum den Primat der Differenzierung in ungleiche soziale Gruppen. Kriterien ftir die Differenzierung solcher Gruppen sind allerdings nicht nur wirtschaftlicher Art (soziale Klassen und Schichten). Dies heiBt, dass auch Kriterien wie das Geschlecht, die ethnische Zugeh6rigkeit oder das Alter in Anspruch genommen werden. Diese Dichotomie ist im Laufe der Zeit so wichtig geworden, dass es sogar Autoren gibt, die wie Uwe Schimank von ,,zwei Gesellschaftstheorien" sprechen. 133 FiJr Schimank lassen sich diese Hauptmerkmale beider Theorierichtungen anhand der folgenden Punkte definieren.
132 Diese Begrifflichkeit leitet sich von den Dimensionen, in denen Luhmann das Medium Sinn unterteilt, ab. Neben der Sachdimension, die sich nach der Unterscheidung dies / anderes bestimmen liisst und der Sozialdimension, die sich nach der Unterscheidung Ego / Alter bestimmen l~isst,befindet sich noch die Zeitdimension, die sich in der Gegenwartmit Hilfe der Unterscheidung Vergangenheit / Zukunft bestimmen l~isst.Sieh dazu: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 112 ff. t33 Beispielsweise Uwe Schimank, ,,Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit: die zwei Gesellschaftstheorien und ihre konflikttheoretische Verkntipfung" in: Hans-Joachim Giegel (Hg), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M, 1998, S. 61-88. 141
Empirische Auspragung Was wird beobachtet?
Bezugsproblem Spannungsquelle
Funktionale Differenzierung (sachliche Differenzierung) AIs Ursache
Soziale Ungleichheit (soziale Differenzierung)
Die Ungleichartigkeit der Teile des gesellschaftlichen Ganzen System integration Zwischen den Expansionstendenzen der ausdifferenzierten Teilsysteme und der gesellschaftlichen Integration
Die Ungleichheit der Teile des gesellschaftlichen Ganzen Sozialintegration Wegen der Verteilungskonflikte, die es zwischen Akteure gibt
Als Auswirkung
Wie im Falle des Strukturproblems kOnnen wir die theoretischen Positionen auf ihre klassischen Vertreter beziehen, um die Komplexit~it dieses mannigfaltigen Bereiches zu reduzieren. TM
7.1
Soziale Differenzierung
7.1.1
Die Vorl~,ufer: Jean-Jacques Rousseau und Claude Henri Saint-Simon
Zweifellos hat es eine tiefe Affinit~t zwischen den Reflexionen tiber die soziale Differenzierung und der Kritik der Ungleichheit gegeben. Aus diesem Grund fungieren viele der paradigmatischsten Beispiele dieser Reflexionen gleichzeitig als normativer Appell an die Gesellschafl, um diesen Ungleichheitszustand zu bekampfen. Nehmen wir als Beispiel die Schriften eines der wichtigsten Vorl~ufer dieser Reflexionen, n~imlich Jean-Jacques Rousseau. 135 FUr Rousseau war es klar, dass die Gesellschafl die Menschen korrumpiert. Die auf Standes- und Klassengegensatze basierte soziale Ordnung hat den Men~34In der Einordnung dieser Theorien ist es nicht meine Absicht, zu sagen, dass diese Theorien sich ausschlieBlich mit einer Perspektive beschattigt haben. Dies zu behaupten, ware eine grobe Vereinfachung der Analysen. Im Laufe des Kapitels versuche ich vielmehr zu zeigen, dass, obwohl all die Autoren die zwei Dimensionen identifiziert haben, haben sic fast immer nur eine als entscheidendes Merkmal hervorgehoben. 13.~Ganz besonders: Jean-Jacques Rousseau, ,,Discours sur i'origine et les fondements de I'in~galit~ parmi les hommes" (1755) und ders. Du contrat social ou principes du droit politique, (1762). 142
schen ihre urspriingliche Gleichheit und Freiheit genommen. Um diese Gleichheit und Freiheit zurtick zu bekommen, war es fiJr die Menschen erforderlich in den Naturzustand zuriick zu kehren. Nur diese Riackkehr in die Natur k0nnte die Wiederherstellung einer menschlichen Briiderlichkeit gew~ihrleisten. Politisch bedeutete diese RiJckkehr in die Natur die Etablierung einer radikalen Demokratie. In diesem Sinne lehnte Rousseau sowohl die absolutistische Staatslehre von Thomas Hobbes als auch die von Montesquieu vertretene Idee einer konstitutionellen Monarchie nach dem englischen Muster ab. Die Wiederherstellung der urspriinglichen Freiheit und Gleichheit forderte also die Abschaffung jeder Art von Volksvertretung. Da die Souver~init~it im Volk liegt, mi~ssen die Entscheidungen immer den Ergebnissen von Referenda nach getroffen werden. Da diese Ergebnisse den Gemeinschaftswillen widerspiegeln sollen, geht es in diesen Referenda nicht um die Durchsetzung des Willens einer Mehrheit. Diese Entscheidungen miJssen sich also nicht auf das Wohl einer Mehrheit (egal wie grol3) beziehen, sondern immer auf das Gemeinwohl. Diese Fassung des Gemeinwohls als Ausdruck einer Art reiner praktischer Vernunft hat die Philosophie von Immanuel Kant stark gepr~igt. Die Gew~ihrleistung einer solchen Orientierung kann aber nur durch eine besondere Erziehung erreicht werden, n~imlich durch eine Erziehung, in der die negativen Einfltisse der Gesellschaft fiber das Individuum annulliert werden. Beispielsweise sollen die Individuen, die in dieser Art und Weise erzogen worden sind, keine parteiischen (egal ob wirtschaftlichen, religi0sen oder affektiven) Interessen entwickeln. Wegen seiner Kritik der Gesellschaft und ihrem Fortschritt nahm Rousseau eine besondere Position im Zusammenhang mit der Aufkl~irung ein. Wie andere Aufkl~irer wiinschte sich Rousseau die Freiheit und das Gliick der Menschen. Aber im Gegensatz zur grol3en Mehrheit dachte er, dass sich diese Ziele nicht durch die Vernunft, sondern durch das Herz erreichen lassen. In diesem Sinne hat Rousseau nicht nur die Bewegung der Aufkl~irung fortgesetzt, sondern auch teilweise iiberwunden. Die Reflexionen von Rousseau haben nicht nur den philosophischen Idealismus beeinflusst, sondern auch die Franz0sische Revolution und den Sozialismus. Genau in diesem Ideenzusammenhang finden wir den nachsten Klassiker der sozialen Differenzierung, n~imlich Claude Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon, ~36 der nach der Meinung von Anthony Giddens als eigentlicher ,,Vater" der Soziologie begriffen werden sollte. 137 ~36Saint-Simon hat keine systematische Klassentheorie geschrieben und es ist daher nicht verwunderlich, Widerspriachein seinen Thesen zu finden. Um eine allgemeine Idee seiner Reflexionen zu bekommen, siehe besonders: Claude Henri Comte de Saint-Simone, L'organisateur, (1819-20) und ders., Du syst~me industriel, (1821-22). Das Werk von Saint-Simonhat eine besondere Bedeutung 143
Nach seiner Teilnahme am US-amerikanischen Unabh~ingigkeitskrieg bekannte sich Saint-Simon zu den Idealen der Franz6sischen Revolution. Nach dem Ende der Revolution besch~.ftigte sich Saint-Simon mit der Analyse und Kritik der neuen Gesellschaftsformation, die er schon als ,,Industriegesellschaft" bezeichnete. Diese Reflexionen basierten auf der Skizze einer Theorie der sozialen Klasse. In der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaften sah SaintSimon eine sich wiederholende Folge dreier Phasen, n~imlich Wachstum, Reife und Krise. In ihrer Reife charakterisieren sich die Gesellschaften durch eine starke Integration. In Zeiten der Krise wiederum brechen Konflikte auf Grund der Relativit~it von Werte aus. Saint-Simon war der Meinung, dass sein Zeitalter zu dieser Krisenphase geh6rte, weil die neue Ordnung einer Industriegesellschaft die Strukturen der alten feudalen Ordnung noch nicht v611ig besiegt hatte. Deshalb herrschte das Chaos in dieser Ubergangsphase. Um das Wachstum und die sp/itere Reife der Industriegesellschaft gew/ihrleisten zu k6nnen, war es also absolut n6tig, Fortschritt und Ordnung zu verbinden. Diese Verbindung war die Aufgabe der ,,Industriellen", n~imlich jener Klasse, die aus der Ganzheit derer, die an der industriellen Produktion teilnehmen, besteht. Nicht nur Fabrikanten, sondern Ingenieuren, Wissenschaftler und sogar Ktinstler geh6ren laut SaintSimon zu dieser Klasse. Der gemeinsame Nenner dieser Klasse war also ihre Kritik der feudalen Ordnung. Genau in diesem Sinne dachte Saint-Simon, dass es m6glich w/ire, eine gesellschaftliche Formation, in der es nur eine Klasse g/i.be, zu erreichen. Saint-Simon stellte sich aber diese Idee nicht vor, im Sinne einer Abschaffung sozialer Ungleichheiten. Nach wie vor wtirden die Belohnungen in einer ungleichen Weise verteilt. Aber im Gegensatz zu anderen Epochen wiirde sich die industrielle Ordnung durch so etwas wie eine ,,freiwillige Herrschaft", in der die Besitzer der Fabriken freiwillig auf die Ausbeutung ihrer Arbeiter verzichten wtirden, charakterisieren. Die Ausbeutung von Menschen sollte also durch die Ausbeutung der Natur ersetzt werden. Aus dem Grund ware die Funktion der Regierung in so einer industriellen Ordnung nicht mehr die f'tir die Geschichte der Soziologie, nicht nur wegen ihrer Thesen, sondem auch wegen der Streitigkeiten um ihre Verfassung. Viele der Texte, die Saint-Simon unterschrieben hat, wurden eigentlich von seinem damaligen Sekret~ir, n~imlich Auguste Comte verfasst. Beispielsweise wurde der 1822 mit Saint-Simon als Verfasser erschienene Aufsatz ,,Du contrat social" eigentlich von Comte geschrieben. Ergebnis dieser Situation waren die oben erw~ihntenStreitigkeiten, die zu einer endgtiltigen Trennung ihrer Partnerschaft ftihrten. 1824 ist es Comte endlich gelungen den Text mit dem Titel: ,,Plan des travaux scientifiques n6cessaires pour r6organiser la soci6t6" unter seinem Namen zu vertiffentlichen. 137Das Argument von Giddens in Verteidigung dieser Behauptung lautet: ,,Saint-Simon's ideas have a double line of filiation, leading on the one Hand to the positivism of Comte, and from there, through Durkheim, to the modem theories of 'industrial society'; and on the other to the analysis and critique of 'capitalism' as formulated by Marx and subsequent generations of Marxist ". Anthony Giddens, The Class Structure of the Advanced Societies, London, 1973, S. 23. 144
Steuerung der Menschen, sondern die reine Verwaltung der Dinge. Es w~ire also nicht mehr ntitig, einen Staat als Instrument der Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. In der industriellen Ordnung wtirde auf der anderen Seite die wirtschaftliche Planung eine unheimlich groBe Rolle spielen. 7.1.2
Klassenkampf als Motor der Geschichte: Karl Marx und Friedrich Engels
Viele Elemente der Reflexionen von Saint-Simon werden wir in den Analysen von Marx und Engels wieder finden. Neben der Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und der politischen Okonomie von Adam Smith und David Ricardo gelten die Schriften der sogenannten ,,utopischen Sozialisten" als eine der wichtigsten Quellen des historischen Materialismus. Diese letzte Gruppe, zu der Saint-Simon gehtJrt, wurde von Marx und Engels wegen ihrem Glauben an eine friedliche Ltisung der Klassenfrage als ,,utopische" bezeichnet. Ftir Marx und Engels war klar, dass kein Herrscher auf seine Herrschaft freiwillig verzichten wiirde und dass aus diesem Grund nur die (proletarische) Revolution die Befreiung der Menschheit gew~ihrleisten ktinnte. Aufgrund der historischen Erfahrungen kennen wir heutzutage viele der praktischen Probleme und der Grenzen solcher Revolutionen. Neben anderen Elementen des historischen Materialismus ist die Revolutionslehre zweifellos in Vergessenheit geraten. Es gibt aber auch viele Ideen von Marx und Engels, die die gegenw~irtigen theoretischen Entwicklungen der Sozialwissenschaften anreizen. Unter diesen Ideen finden sich zweifellos ihre Analysen der sozialen Klassen. Die Resonanz von diesen Analysen ist so groB gewesen, dasses fast unmtiglich ist, von sozialer Ungleichheit zu sprechen, ohne die Namen Marx und Engels zu erw~ihnen. Genau wie wenn man an Durkheim und Parsons denkt, denkt man sofort an den Integrationsbegriff oder wenn man an Luhmann denkt, kann man nicht vermeiden an autopoietische Systeme zu denken, wenn man an Marx und Engels denkt, kommt sofort in unserem Kopf die Idee eines vom Klassenkampf abh~ingigen sozialen Wandelns. Um diese Idee des Klassenkampfes richtig zu verstehen, ist es zun~ichst notwendig, den Klassenbegriff zu erkl~en. Zweifellos ist der Klassenbegriff ein sehr erfolgreicher Begriff in den Sozialwissenschaften gewesen, weil er vtillig relational ist. Dies heiBt, dass es unmtJglich ist, die Eigenschaften einer Klasse zu beobachten, ohne sich auf diejenigen einer anderen Klasse zu referieren. Wenn wir also von Klassen sprechen, sprechen wir immer von sozialen Verh~iltnissen. Diese klassenbezogenen Verh~iltnisse sind allerdings Verh~iltnisse spezifischer Art, die sich durch eine vertikale Differenzierung charakterisieren. Selbstverst~indlich ist der Klassenbegriff nicht der einzige Begriff, der solche Ungleichheit beobachtet. Neben diesem 145
Begriff kennen die Sozialwissenschaften andere Begriffe wie Kaste, Stand oder Schicht. Zweifellos spielt die Auswahl eines Begriffes eine unheimlich wichtige Rolle in der Positionierung einer Ungleichheitsanalyse innerhalb des Feldes der sozialwissenschaftlichen Diskussion (beispielsweise als marxistisch oder antimarxistisch). ~38 Charakteristisch ftir den Klassenbegriff von Marx ist, dass er sich ausschlie61ich in Bezug auf die Produktionsmittel bestimmen lasst. Laut Marx sind diese Produktionsmittel all die Gegenst~inde, die in der Arbeit ftir die Produktion und Reproduktion materieller Existenzbedingungen benutzt werden. Darunter finden wir also: Bodensch~itze, Werkzeuge, Maschinen, Werkstoffe, usw. Wenn Marx an Klassen denkt, denkt er also nicht prim~ an die Einkommen der Individuen, sondern an ihre Position innerhalb der Produktionsverh~iltnisse. Der Begriff der Produktionsverh~iltnisse bezeichnet die sozial6konomische Struktur einer Gesellschaft. Diese Struktur wird von Eigentumsverh~iltnisse, Organisationsformen der Wirtschaft und technischen Faktoren (Produktionskrafte) bestimmt. Obwohl Marx bewusst war, dass es in der Realit~it eine Vielfalt von empirischen Klassen gibt, neigte er aus theoretischen Grtinden dazu, sein Klassenmodell mit nur zwei Klassen zu pr~isentieren. Da laut Marx die wirtschaftliche Herrschaft die Voraussetzung der politischen Herrschaft ist, lassen sich die zwei fundamentalen Klassen als die der Herrscher und die der Beherrschten bezeichnen. Im Fall der kapitalistischen Wirtschaft bezeichnen wir die Kapitalisten wegen ihres Besitzes der Produktionsmittel als Herrscher und die Arbeiter wegen ihres Mangels an Besitz als Beherrschte. Da die Arbeiter nur tiber ihre Arbeitskraft verftigen, mtissen sie diese an die Kapitalisten verkaufen. Der Preis dieser Arbeitskraft entspricht aber niemals der Leistung, die sie erbringt. Von dieser Kluft zwischen Lohn und Leistung entsteht der sogenannte Mehrwert, n~imlich der Gewinn der Kapitalisten. Da diese Kluft nur mtiglich ist, weil der Arbeiter mehr Zeit arbeitet als diejenige, die fur die Produktion einer Ware ntitig ist, spricht Marx hier von Ausbeutung der Arbeitskraft als grundlegende Bedingung der kapitalistischen Wirtschaft. Es ist also klar, warum es in einer kapitalistischen Wirtschaft tiberhaupt nicht m/Sglich ist, auf diese Ausbeutung freiwillig zu verzichten. Die Interessen der zwei konstitutiven Klassen schlieBen sich gegenseitig aus. Da sich diese Interessen nicht verstihnen lassen, taucht immer der Konflikt auf. Ftir Marx und Engels ist dieser Klassenkonflikt als Klassenkampf der eigentliche Motor der menschlichen Geschichte. Die historische Transformation von Gesellschaften l~isst sich also nur durch die Beobachtung der Klassenkonflikte erkl~en. Allerdings bleibt ~38Siehe beispielsweise dazu: Reinhard Kreckel, ,,Klassenbegriffund Ungleichheitsforschung", in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen, Lebensl~iufe,Lebensstile, G6ttingen, 1990, S. 51 f. 146
dieser Klassenkampf fast immer latent. Mit Hilfe von ideologischen Mechanismen k6nnen die Herrscher ihre Herrschaft vor den Beherrschten rechtfertigen. Zu diesem ideologischen Oberbau geh6ren die Religion, die Politik und das Recht. In dieser Art und Weise wird Gehorsam gew~ihrleisten, weil die Beherrschten sich nicht fragen werden, warum sie schlechter positioniert sind. Ihnen erscheint alles als die Folge einer ,,logischen" Ordnung. Nur ausnahmsweise bricht also der Klassenkampf in der Form einer Revolution aus. Es reicht also nicht aus, eine Klasse ,,an sich" zu sein, um sich als ein historisches Subjekt zu verhalten. Die endgtiltige Konstitution einer Klasse geschieht nur, wenn sie eine Klasse ,,fUr sich", n~imlich, wenn sie ein bewusster politischer Akteur geworden ist. Diese Idee der Klasse fiir sich ist diejenige, welche die Theorie von Marx so radikal, nicht nur politisch, sondern auch epistemologisch macht. Nach Marx sollen die Klassen also nicht nur als sozialstatistische Kategorien, sondern als Akteure begriffen werden. Wir haben es also mit einem radikalen Klassenrealismus zu tun. 139 7.1.3
Eine multidimensionale Stratifizierungstheorie: Max Weber
Im Gegensatz zu diesem radikalen Klassenrealismus hat Max Weber eine ,,gem~iBigte" Version der Klassenanalyse geliefert. Wie Marx hat auch Weber den Klassenbegriff rein 6konomisch definiert. Diese 6konomische Definition bezieht sich bei Weber allerdings nicht auf den Bereich der Produktion, sondern auf den des Marktes. Es ist also die Position, welche die Individuen im Markt innehaben, als diejenige, die ihre Klassenzugeh6rigkeit bestimmt. Im Prinzip besteht also eine Klasse aus Individuen, die sich in einer gleichen Klassenlage befinden. Der Begriff der Klassenlage umschlieBt typischerweise die Chance der Gtiterversorgung, der ~iuBeren Lebensstellung und der inneren Lebensschicksals, ,,welche aus MaB und Art der Verf'tigungsgewalt (oder des Fehlens solcher) fiber Gtiter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit fiir die Erzielung von Einkommen oder Einkiinften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt". 14~ In seinen Analysen unterscheidet Weber drei Klassenkategorien: Besitzklasse, Erwerbsklasse und soziale Klasse. Der Begriff der sozialen Klasse bezieht sich auf Klassenlagen, die sich durch eine Gemeinsamkeit in den Mobilit~itschancen von Individuen oder von Generationen charakterisieren. Unter solchen sozialen Klassen befinden sich die Arbeiterschaft, das Kleinbtirgertum, die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit und die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten. Die Mtiglichkeit der Entstehung von Klassenverb~inden lehnt Weber 139 A.a.O., S. 55. ~4oMax Weber, Wirtschafl und Gesellschaft, a.a.O., S. 177.
147
nicht ab, im Gegensatz zu Marx und Engels denkt er aber nicht, dass diese Klassenverb~inde die einzigen m/Sglichen Interessenverb~nde sein kiSnnen. Selbstverst~indlich ist er auch nicht der Meinung, dass diese Klassenverb~inde eine Art historische Notwendigkeit darstellen. Um zu zeigen, dass es auch andere M/Sglichkeiten der Stratifizierung gibt, entwickelte Weber neben dem Klassenbegriff die Stand- und Parteibegriffe. Ebenso wie sich die Klassen in Bezug auf die oben erw~ihnte Klassenlage definieren lassen, definieren sich die St~inde mit Hilfe des Begriffes der st~indischen Lage. Diese st~indische Lage bezieht sich auf ,,eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Sch~itzung", TM die auf Lebensfiihrungsart, formaler Erziehungsweise, Abstammungsprestige oder Berufsprestige beruhen kann. Der entscheidende Unterschied zwischen Klassen und St~de liegt nicht nur darin, dass sich die eine auf die subjektiven und die andere auf die objektiven Aspekte der sozialen Differenzierung bezieht. Entscheidend ist es, dass w~ihrend sich der Klassenbegriff ausschlie$1ich in Bezug auf den Markt bestimmen l~isst, nimmt der Standbegriff auch nicht marktbezogene Elemente in Anspruch. Weder Geldbesitz und Unternehmerlage noch Verm/Sgenslosigkeit sind erforderliche ZugehtJrigkeitsqualifikationen an sich (obwohl sie dazu ftihren ktinnen). Selbstverst~indlich bedeutet dies aber nicht, dass die wirtschaftlichen Faktoren iiberhaupt keine Rolle bei der Entstehung von solchen ,,Statusgemeinschaften" spielen. Beispielsweise spielen sie doch eine Rolle, weil die Mitglieder solcher Gemeinschaften normalerweise dazu neigen, dieselben Konsumgewohnheiten zu teilen (manchmal l~isst die Zugehtirigkeit sich ausschlieglich in Bezug auf solche Gewohnheiten bestimmen). Da es einen engen Zusammenhang zwischen Konsum und Eigentum gibt, ist es einfach zu sehen, was fiir eine wichtige Rolle diese Klassenzugehtirigkeit in der Entstehung von St~inden spielen kann. Die Verh~iltnisse zwischen Klasse und Stand laufen allerdings nicht nur in eine Richtung. Eine der wichtigsten M/Sglichkeitsbedingungen ftir die Konsolidierung der Herrschaft einer Klasse ist die Transformation dieser Klasse in einen Stand, n~imlich in eine Art ideologischer Gemeinschaft, die sich darum bemtiht, sich gegeniiber anderen Gemeinschaften zu unterscheiden. Sowohl kulturelle als auch rechtliche Grenzen werden von einer Gemeinschaft entwickelt, um diesen Abstand zu halten. Diese Distinktionslogik l~isst sich besonders deutlich anhand des Zusammenhangs zwischen Glauben und Klasse beobachten. W~ihrend die htiheren Klassen dazu neigen, eine Religion voller Zeremonie zu haben, neigen die mittleren Klassen dazu, eine Religion voller Selbstbemtihung 141A.a.O.,S. 179. 148
und Askese zu ftihren. Wiederum charakterisieren sich die niedrigeren Klassen durch ihren Glauben an Zauberei. Von der Perspektive der etablierten Religion erscheint dieser Glaube an Zauberei nicht als religiiSs, sondern als Aberglaube. Mit Hilfe der Distinktionslogik werden diese Ph~inomene nicht nur wahrgenommen, sondern entwertet. Die Unterscheidung zwischen Klasse und Stand zeigt uns also nicht nur, dass es mehr als eine MiSglichkeit der sozialen Stratifizierung gibt, sondern auch, dass es konkurrierende Kampflogiken um die Macht gibt. Nicht nur Klassen und St~inde, sondern auch Parteien charakterisieren sich durch diesen Kampf um die Machtverteilung. Sowohl die Mitglieder einer Klasse, als auch die eines Standes oder einer Partei versuchen, die Macht (das heil3t: die tiberlegende Position eines bestimmten Bereiches) zu monopolisieren. Im Bereich der Wirtschaft gelingt es der herrschenden Klasse bestimmte lukrative M~kte zu monopolisieren. Im Bereich der Religion geschieht allerdings etwas ~ihnliches, wenn es einer Gruppe gelingt, die religii3se Wahrheit zu monopolisieren, weil nur sie beispielsweise tiber die Kompetenz verf'tigt, die heiligen Texte zu interpretieren. ~42 In diesem Sinne gilt die Suche nach Macht als ein gemeinsamer Nenner dieser drei Ph~inomene. In der Identifizierung dieser unterschiedlichen Herrschaftsbereiche finden wir zweifellos eine der wichtigsten Leistungen der Reflexionen von Weber. Und diese Leistung ist diejenige, welche die Reflexionen von Weber deutlich von den auf der Wirtschaft konsentrierten Reflexionen von Marx unterscheidet. W~ihrend for Marx die ganze Konstellation der Macht auf der ungleichen Verteilung der Produktionsmittel beruht, denkt Weber nicht, dass sich die Herrschaft unmittelbar von einer gtinstigen wirtschaftlichen Position ableiten l~isst. Im Gegensatz zu Marx also erkennt Weber Handelnsbereiche, die sich, wie schon gesagt, nicht von wirtschaftlichen Faktoren ableiten lassen, an. Um die Vielf'~iltigkeit der sozialen Welt zu betonen, nahm Weber den Begriff der ,,Eigengesetzlichkeit" in Anspruch. Er sprach von einer ,,Eigengesetzlichkeit der Marktvorg~inge", von einer ,,Eigengesetzlichkeit des Religii3sen" oder von einer ,,Eigengesetzlichkeit der Rechtsentwicklung". Mit der Anerkennung dieser Bereiche hat Weber auch zu den Reflexionen tiber die sachliche Differenzierung der Gesellschaft beigetragen.
~42,,Der aus der berufsm~igigen Befassung mit Kult und Mythos oder und in noch weit h6herem Grade: mit Seelsorge, das heil3t: Beichte und Beratung von Siindem, erwachsende Rationalismus der Hierokratie suchte tiberall die Gew~ihrungdes religii3sen Heilsgutes far sich zu monopolisieren, und also in die Form dernur von ihr rituell zu spendenden, nicht vom Einzelnen erreichbaren, ,,Sakramentsgnade" oder ,,Anstaltsgnade" zu bringen und entsprechend zu temperieren". Max Weber, ,,Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche", in: ders., Gesammelte Aufsatze zur Religionssoziologie I (1920), Ttibingen, 1988, S. 254 f. 149
Selbstverst~indlich bedeutet dies nicht, dass ftir Marx und Engels diese Art der Differenzierung vtillig unbekannt gewesen w~e. In ihren Beschreibungen der kapitalistischen Wirtschaft haben sie zum Beispiel identifiziert, dass die regionale Differenzierung mit der Konsolidierung internationaler Markte an Bedeutung verloren hat und dass dies eine wichtige Bedingung der sachlichen Trennung zwischen Politik und Wirtschaft war. Diese Beobachtung der sachlichen Differenzierung spielte allerdings nur eine Nebenrolle. Trotz sachlicher Differenzierung ist die Gesellschaft letztendlich vonder wirtschaftlichen sozialen Differenzierung bestimmt. Die Tatsache, dass Weber diese sachliche Differenzierung beobachtet hat, bedeutet keineswegs, dass er dieses Ph~inomen aus einer funktionalistischen Perspektive interpretiert h~itte. Wegen seiner verstehenden Methode lehnte er die auf der Unterscheidung Ganze / Teile basierten ,,organischen Soziologien" ab, deren Leitfigur damals in Deutschland Albert Schaffle w a r . 143 Ftir die funktionale Analyse der sachlichen Differenzierung war allerdings diese Unterscheidung unverzichtbar.
7.2
Sachliche Differenzierung
7.2.1
Die Vorl~iufer: Adam Smith und Herbert Spencer
Wie im Fall der sozialen Differenzierung haben die Reflexionen tiber die sachliche Differenzierung der Gesellschaft eine lange Tradition. Beispielsweise spielt schon in der Ausdifferenzierung (!) der ersten Sozialwissenschaft, n~imlich der t)konomie, die Idee der funktionalen Differenzierung im Sinne der Arbeitsteilung eine wichtige Rolle. Seinem Bild der menschlichen Natur nach dachte Adam Smith, dass sich die Menschen st~indig darum bemtihen, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, um das Gltick zu erreichen. Diese individuellen Bemtihungen ftihren allerdings nicht zu einem Kriegszustand (Hobbes), weil sie im Bereich des/Skonomischen Austausches, n~imlich im Bereich des Marktes von einer ,,unsichtbaren Hand" koordiniert werden, so dass die Suche nach dem eigenen Interesse zu der Steigerung des gesamten Wohlstands ftihrt. Dieser Wohlstand h~ingt wiederum mit der Steigerung der Produktivit~it, welche die Verfeinerung der Arbeitsteilung voraussetzt, zusammen. In seinem klassischen ~43,,Wir sindja bei ,sozialen Gebilden' (im Gegensatzzu ,Organismen')in der Lage: tiber die bloBe Feststellung von funktionellen Zusammenh~ingenund Regeln (,Gesetzen') hinaus etwas aller ,Naturwissenschaft' (lm Sinn der Aufstellung von Kausalregeln ftir Geschehnisse und Gebilde und der ,Erkl~irung' der Einzelgeschehnissedaraus) ewig Unzug~inglicheszu leisten: eben das ,,Verstehen" des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, w~ihrendwir das Verhalten z.B. von Zellen nicht ,verstehen', sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen k/Snnen". Max Weber, Wirtschafiund Gesellschaft, a.a.O., S. 7. 150
Werk The Wealth of Nations hat Smith anhand der Fabrikation von Stecknadel diesen Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Steigerung der Produktivit~it konstatiert. 144 Diese Idee der Arbeitsteilung als Faktor der Leistungssteigerung wurde sp~iter von den ersten Soziologen von der Fabrik auf die Gesellschaft tibertragen. Unter den damals entworfenen Perspektiven gelten zweifellos die Theorien von Herbert Spencer nicht nur als paradigmatisch, weil er die herrschende Figur dieser friihen Phase der Soziologie war, sondern auch, weil es Kontinuit~iten zwischen ihm und den Reflexionen von Adam Smith gibt, die weit tiber den bloBen Arbeitsteilung- bzw. Differenzierungsbegriff hinaus gehen. Wie Smith war Spencer ein vehementer Verteidiger des liberalen laissez faire. Eigentlich hat er viele der liberalen Ideen radikalisiert, indem er den Liberalismus mit dem Sozialdarwinismus erg~inzte. Seinen Reflexionen nach haben Ph~.nomene wie Wettbewerb und Krieg eine entscheidende Bedeutung ftir die menschliche Evolution, in der nur die ,fittest" iiberleben krnnen. Allerdings waren die Theorien von Spencer nicht vrllig amoralisch. Wie Smith mit seiner Theory of Moral Sentiments versuchte Spencer die Grenzen dieser Evolutionslogik zu zeigen. Beispielsweise gilt sie im Bereich der Familie nicht, also in jedem Bereich, in dem Gefiihle wie die Sympathie einer entscheidenden Rolle spielen. Aul3erhalb solcher Bereiche galt aber die Evolution nicht nur als oberstes Naturgesetz, sondern auch als das kognitive Prinzip schlechthin. In diesem Sinne verstand Spencer die Aufgabe der Soziologie als die Erforschung der Evolution. Obwohl Spencer fiber keinen eindeutigen Evolutionsbegriff verfiigte (manchmal bedeutet dieser Begriff Fortschritt, manchmal Differenzierung von Subsysteme, manchmal Steigerung der Arbeitsteilung), bezieht sich dieser Begrift immer auf die Transformation des unzusammenhangenden Homogenen zum zusammenh/ingenden (im Sinne einer wechselseitigen Abh~ingigkeit) Heterogen. In dieser Konzeption der Evolution als Differenzierungsprozess krnnen wir also schon die Lrsung des Hauptproblems des klassischen Funktionalismus finden, n~imlich des Problems der Integration einer differenzierten Gesellschaft. ~45 Fiir Spencer war es also klar, dass je heterogener die Teile eines gesellschaftlichen Ganzen werden, desto abh~ingiger werden sie zugleich voneinander. W~ihrend die kriegerischen Gesellschaften sich durch ihre mittlere GrrBe und ihre schwache Differenzierung charakterisieren, befindet sich das Hauptmerkmal der industriellen Gesellschaften in dem hohen Freiheitsraum ihrer differenzierten Teile. Nur in dieser industriellen Ordnung ist es f'tir das Individuum mrglich, ihr eigenes Interesse zu suchen und gleichzeitig zur Verbesserung des ~44Adam Smith, An Inquiryinto the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London(1776). ~45Die Theorien von Herbert Spencer befinden sich in den drei B~inderseines Hauptwerkes: The Principles of Sociology,New York, 1876-1896. 151
gesellschaftlichen Ganzen beizutragen. Die gegenseitige Abh~ingigkeit ist so groB geworden, dass die Trennung vom Ganzen keinen Sinn mehr ergibt. Eine solche Trennung w~ire nicht nur ftir das Individuum, sondern auch f'tir die Gesellschaft ganz pernizitis. 7.2.2
Arbeitsteilung als Differenzierung des Konfliktes: Emile Durkheim
Im dritten Kapitel dieser Untersuchungen habe ich schon die Analyse der Arbeitsteilung, die Durkheim in De la division du travail social durchftihrte, in Anspruch genommen. Allerdings habe ich dort diese Analyse auf die Problematik der Struktur bezogen. Im Rahmen der Differenzierungsproblematik mtichte ich nun wieder dieses Werk in Anspruch nehmen, um die konfliktbezogenen Grundlagen der funktionalen Differenzierung zu zeigen. Wie es der Fall mit allen Formen utilitaristischer Theorien war, kritisierte Durkheim die Differenzierungstheorie von Herbert Spencer, weil sie auf der Idee beruhte, dass es f'tir Individuen in der modernen Gesellschaft miSglich ist, nur ihren eigenen Interessen zu folgen, ohne die Gesellschaft als Ganze zu besch~idigen. In dieser Idee sah Durkheim mehr die Rechtfertigung einer politischen Meinung als den ernsten Versuch eine wissenschaftliche Erkl~_,'ung zu liefern. Ftir Durkheim war es klar, dass die einzige Konstanz im Bereich der Interessen gerade ihre absolute Inkonstanz ist. Wie ktJnnte sich eine gesellschaftliche Ordnung auf den Interessen der Einzelne begrtinden, ohne st~indig vom Ausbruch eines Krieges aller gegen alle bedroht zu werden? AuBerdem war es Durkheim klar, dass diese Arbeitsteilung nicht nur Benefizien for die Individuen mitgebracht hat. Im Gegensatz zu den utilitaristischen Theorien, die in der aus der Arbeitsteilung resultierenden Bereicherung der Gesellschaft die M/Sglichkeitsbedingung der Steigerung des menschlichen Glticks sahen, hat Durkheim anhand empirischer Forschungen bewiesen, dass f'tir die Individuen diese Moderne nicht nur neue Chancen, sondern auch neue Leiden bedeutet. Ph~inomene wie der ,,egoistische Selbstmord" gab es beispielsweise in den sogenannten primitiven Gesellschaften nicht, in denen es selbstverst~indlich auch Selbstmord gab, allerdings mit einer anderen Form, n~imlich der des ,,altruistischen Selbstmords". ~46 Den utilitaristischen Erkl~ungen fehlte ein angemessener Bezug zu der Gesellschaft als moralisches Milieu. Sie waren aber zu individualistisch, um diese 146,,L'individualismeexcessif n'a pas seulement pour r6sultat de favoriser l'action des causes suicidog~nes, il est, lui-m~me, une cause de ce genre. Non seulement il d6barrasse d'un obstacle utilement g~nant le penchant qui pousse les hommes ~tse tuer, mais il crEece penchant de toutes pi&:es et donne ainsi naissance ~ un suicide special qu'il marque de son empreinte". Emile Durkheim, Le suicide. Etude de sociologie(1897), Paris, 1999,S. 224. 152
Realit~itsebene tiberhaupt beobachten zu k6nnen. Mit der Theorie von Spencer kann man nur rationale Individuen beobachten, die ihre eigenen Interessen verfolgen und die sich nur mit anderen Individuen treffen, um Vertr~ige abzuschlieBen. Die sozialen M6glichkeitsbedingungen solcher Vertr~ige werden von dieser Theorie nicht berticksichtigen. Ganz im Gegenteil ir.teressierte sich Durkheim for diese sozialen Geltungsbedingungen. Wie schon frtiher gezeigt, dachte Durkheim, dass die Geltung eines Vertrages immer die Existenz nichtvertraglicher Elementen, n~imlich einer moralischen Ordnung voraussetzt. Da es aber in der modemen Gesellschaft so viele ausdifferenzierte Bereiche gibt und es deshalb nicht mehr m6glich ist, die ursprtingliche mechanische Solidarit~it der primitiven Gesellschaften zu restituieren, dachte Durkheim, dass in der modernen Gesellschaft nicht nur ein Prozess der Differenzierung von T~itigkeiten stattgefunden hat, sondem auch ein Prozess der Differenzierung von Normen. Fiir Durkheim war es sehr wichtig, eine gesellschaftsimmanente Erkl~irung eines solchen Differenzierungsprozesses zu liefem. Durkheim lehnte wegen seiner methodologischen Pr~imissen die Theorien, die eine Erkl~irung solcher Differenzierung aul3erhalb des Sozialen suchen (beispielsweise in der Idee eines ewigen und allgemeingiiltigen Evolutionsprozesses) ab. Diese Suche nach einer gesellschaftsimmanenten L6sung des Differenzierungsproblems fiihrte Durkheim zur Beobachtung der sozialen Morphologie, n~imlich der Bev61kerungsdichte. ~47 Zweifellos h~ingt die Entstehung und Durchsetzung einer auf der Arbeitsteilung basierten organischen Solidarit/it mit dem Zerfall der mechanischen Solidarit~it der segment/iren Gesellschaften zusammen. Dieser Zerfall der segment/iren Differenzierungsform konnte nur durch das Auftauchen und die Verdichtung neuer sozialer Verh/iltnisse zustande kommen. Soziale Gruppen, die frtiher getrennt waren, haben stabile Kontakte etabliert und durch diese Kontakte wurde ihre urspriingliche isolierte Homogenit/it iiberwunden. Die Steigerung der Arbeitsteilung h~ingt also nicht nur vom Bev61kerungswachstum ab. Mehr Bev61kerung bedeutet nicht unmittelbar die Entstehung sozialer Verh~iltnisse neuer Art. Aber wenn dieses Bev61kerungswachstum sich 147Zwar hat Spencer auch die morphologischen Faktoren in Anspruch genommen. Allerdings war er der Meinung, dass die Ausdifferenzierungvon T~itigkeiten mit der geographischen Ausdehnung der Gesellschaften zusammenh~ingt.Das heiBt, dass der Grund der Ausdifferenzierungdie Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Umweltumst/indenist. Spencer dachte also, dass Faktoren wie Wetter oder Boden zu unterschiedlichen Spezialisierungen f'tihrten. Durkheim lehnte die Bedeutung dieser Umweltfaktoren nicht v611igab. Er dachte aber, dass sie keine angemessene Erkl~irungder Differenzierung von Bereichen wie der Chemie, der Mathematik oder der Psychologie liefem k6nnten. Wie k6nnte beispielsweise das Wetter die Ausdifferenzierung der Soziologie erkl~iren? Wie ich ein bisschen sp/iter zeigen werde, ist es Durkheim gelungen, nicht nur eine angemessene, sondem auch eine gesellschaftsimmanenteAntwort auf dieses Problem im Bereich des Konfliktes zu finden. 153
auf eine Verdichtung der Kontakte bezieht, haben wir vor uns die zwei wichtigsten Bedingungen der Dynamisierung der Arbeitsteilung. Letztendlich bezieht sich dieser Begriff der Verdichtung auf die Tatsache, dass es ftir einen Akteur m/Sglich ist, durch sein Handeln andere Akteure zu erreichen. Ftir Durkheim war es also klar, dass: ,,La division du travail varie en raison directe du volume et de la densit6 des socigt6s, et si elle progresse d'une mani~re continue au cours du dgveloppement social, c'est que les soci6tgs deviennent r6guli~rement plus denses et tr~s ggn~ralement plus volumineuses". 148 Aber die Etablierung einer solchen materiellen Verdichtung (Zusammenhang von Handlungen) setzt immer die Notwendigkeit der Entstehung einer moralischen Verdichtung voraus, welche die Kontinuit~t der Verh~iltnisse gew~.hrleistet. In diesem Sinne hat Durkheim nicht nur die Ausdifferenzierung von Funktionen, sondern auch die Ausdifferenzierung von moralischen Bereichen beobachtet. Von der Verdichtung der sozialen Kontakte ergibt sich also immer die Entstehung einer (bereichspezifischen) Moral. Die sozialen Instanzen, die sich um die Vers/Shnung zwischen Morphologie und normativer Integration ktimmern, sind die sogenannten corporations professionnelles. 149 Die Feststellung des Zusammenhanges zwischen der materiellen und der normativen Verdichtung sozialer Verh~iltnisse liefert allerdings nur einen Teil der Antwort auf die Frage nach den Grtinden der Differenzierung von T~tigkeitsbereichen. Es war also n/Stig, diese morphologischen Analysen mit der Beobachtung der sozialen und symbolischen Folgen dieser Steigerung der Bev/51kerungsmenge und der Verdichtung ihrer sozialen Kontakte zu erg~inzen. Die Beobachtung dieser Folgen f'tihrte Durkheim zu einer auf die Theorie von Darwin basierten Analyse des Konfliktes als Katalysator der Arbeitsteilung. In seinen Forschungen hat Darwin gezeigt, dass je ~ihnlicher zwei Organismen sich sind, desto gr/513er ihre Konkurrenz ums Uberleben wird. Dies geschieht, weil diese Organismen auf Grund ihrer Ahnlichkeiten dieselben Bedtirfnisse haben werden. Diese Bedtirfnisse werden nur erftillt, wenn es genug Ressourcen ftir beide Organismen gibt. Aber wenn ein Bev61kerungswachstum stattfindet und die Ressourcen nicht mehr ausreichen, taucht der Konflikt zwischen diesen Organismen auf. Die Vermeidung einer frontalen Konfrontation fiirdert die Entstehung zus~tzlicher Differenzierung. Zwei Gattungen k6nnen am selben Ort leben, wenn sie sich beispielsweise mit unterschiedlichen Sachen ,,
14sEmile Durkheim,De la division du travail social, a.a.O., S. 244. 149Wenn Durkheim nach I./Ssungenfor das Problem des egoistischen Selbstmordessucht, findet er, dass nur diese beruflichen Gruppen f'~ig sind, sozusagendas moralischeGewebe zu rekonstruieren. Weder der Staat, noch die Religion oder die Familie k~innen diese Funktion erf'tillen. Vgl. Emile Durkheim, Le suicide, a.a.O., S. 434 ff. Dazu siehe auch: ,,Quelques remarques sur les groupements professionnels", Vorwort zur zweiten Auflage von: Emile Durkheim, De la division du travail social, a.a.O., S. I-XLIV. 154
em~ihren. Nur diese Spezialisierung erm6glicht das gemeinsame Leben unter Umst~inde st~indigen Bev61kerungswachstums und steigender Verdichtung der Kontakte. Im gesellschaftlichen Bereich geschieht laut Durkheim etwas ~ihnliches. Die Arbeitsteilung kommt nicht zustande, weil es eine Vermehrung der Umwelten, mit denen sich die Menschen auseinandersetzen miissen, durch das Bev61kerungswachstum stattfindet, sondern weil dieses Wachstum den Kampf ums Oberleben schwieriger macht. Nur die Vermehrung der T~itigkeiten erm6glicht, dass die Menschen ihre Ziele verfolgen, ohne dass alle mit allen direkt im Wettbewerb sind. Dieser Differenzierung der Kampfbereiche reduziert die Misserfolgchancen (und die daraus resultierende Frustration) und vermehrt auf der anderen Seite die Chancen sozialer Anerkennung. In diesem Sinne ist die Arbeitsteilung nicht nur das Ergebnis des Kampfs ums Uberleben, sondern auch ein Mechanismus, der diesen Kampf teilweise mildert. In der Arbeitsteilung kennt jeder Bereich seine eigenen Ziele und Werte. So Durkheim: ,,Dans une m~me ville, les professions diff6rentes peuvent coexister sans &re oblig6es de se nuire r6ciproquement, car elles poursuivent des objets diff6rents. Le soldat recherche la gloire militaire, le pr&re l'autorit6 morale, l'homme d'Etat le pouvoir, l'industriel la richesse, le savant la renomm6e scientifique ; chacun d'eux peut donc atteindre son but sans emp~,cher les autres d'atteindre le leur. I1 en est encore ainsi m~me quand les fonctions sont moins 61oign6es les unes des autres. Le m6decin oculiste ne fait pas concurrence celui qui soigne les maladies mentales, ni le cordonnier au chapelier, nile maqon h l'6b6niste, ni le physicien au chimiste, etc. Comme ils rendent des services diff6rents, ils peuvent les rendre parall~lement". 15~Aber wenn es zwei berufliche Gruppen gibt, die ~ihnliche (oder fast ~ihnliche) Funktionen durch unterschiedliche Mittel erfiJllen, erh6ht sich die Konfliktswahrscheinlichkeit. In diesen F~illen werden diese Gruppen sich gegenseitig bek~impfen, mit dem Ziel die andere Gruppe zu ersetzen. Beispielsweise hat Durkheim einen solchen Konflikt in den Verh~iltnissen zwischen Musikem und Dichtern beobachtet. Je ~ihnlicher also die Funktionserfiillung, desto gr6Ber die Konfliktswahrscheinlichkeit. Wenn man die Analysen von Durkheim tiber das Ph~inomen der Arbeitsteilung liest, ist es unm6glich, die grol3en ,~hnlichkeiten, die es zwischen ihnen und der Feldtheorie von Pierre Bourdieu gibt, nicht zu bemerken. Bourdieu, ein Kenner des Werkes von Durkheim, hat sich zweifellos von solchen Analysen inspirieren lassen. Wenn man diese Analysen in die Terminologie von Bourdieu iibersetzen will, kann man sagen, dass Durkheim nicht nur die Ausdifferenzie150A.a.O., S. 249 f. 155
rung von Feldem, sondern auch die Kiimpfe innerhalb jedes Feldes und die daraus entstehende Ungleichheit konstatiert hat. Kampf und Ungleichheit k/Snnen aber nicht als versprechende Grundlage einer Rekonstruktion der normativen Ordnung fungieren. Deshalb pliidierte Durkheim nicht nur f'tir die oben erwiihnte Verstiirkung der beruflichen Gruppen, sondern auch for die staatliche Regulierung der Wirtschaft. In diesem Sinne hat sich Durkheim nicht nur ftir die Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes interessiert, sondern auch for die Entwicklung technischer Ltisungen des Hauptproblems moderner Gesellschaften, niimlich des Mangels an normativer Integration. Im niichsten Kapitel werde ich mich ausftihrlich mit der Feldtheorie von Bourdieu auseinandersetzen. In diesem Moment ist es allerdings wichtig zu zeigen, dass es in den Analysen von Durkheim nicht nur eine Theorie der sachlichen Gesellschaftsdifferenzierung gibt, sondern auch, dass eine konfliktbezogene implizite Feldtheorie im Sinne einer Theorie der sozialen Differenzierung zu finden ist. Allerdings sind diese Reflexionen von Durkheim nicht so bekannt. Zweifellos hat diese Vemachliissigung damit zu tun, dass in der beriihmten Konvergenzthese von Talcott Parsons nur die normativen Aspekte betont wurden. Im Gegensatz wurden die Reflexionen tiber die Funktion des Konfliktes stark kritisiert. ~51 Da die Theorie von Parsons die herrschende Perspektive der Soziologie for viele Jahre war und da sie einen groBen Einfluss auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann ausgetibt hat, lohnt es sich seine Differenzierungstheorie zu analysieren. 7.2.3
Das AGIL-Schema von Talcott Parsons
Die Differenzierungstheorie von Parsons bezieht sich auf das im zweiten Kapitel schon priisentierte AGIL-Schema. Die ewige Wiederholung der vier funktionalen Erfordernisse des AGIL lassen sich also auch auf das soziale System anwenden, um seine konstitutiven Subsysteme und ihre gegenseitigen Leistungsverhiiltnisse zu begreifen. Diese Anwendung erm/Sglicht die Analyse von Gesellschaften. Mit dem Begrift des sozialen Systems will Parsons ein Subsystem des allgemeinen Handlungssystems bezeichnen, dessen Funktion die Handlungsintegration ist. Wiederum versucht er mit dem Gesellschaftsbegriff eine besondere Art des sozialen Systems zu definieren, das sich for ein HtichstmaB an Selbst-gentigsamkeit im Verhiiltnis zu seinen Umwelten charakterisiert. Als Subsystem des allgemeinen Handlungssystems kann eine Gesellschaft selbstverstiindlich keine vollkomme151Siehe besonders: Talcott Parsons, The Structureof Social Action I, a.a.O., S. 322 f. 156
ne Selbstgentigsamkeit erreichen. Gentigsamkeit soil hier also heil3en: die Stabilit~it in der Austauchbeziehungen und die F~ihigkeit der Steuerung solcher Austausche im Interesse eines guten Systemfunktionierens. In der folgenden Tabelle wird das auf das soziale System angewandte AGILSchema pr~isentiert.
External
Instrumental
Consummatory
A Adaptation
G Goal Attainment
Polity (Politik) L I Latent Pattern Mainte- Integration nance Societal Community Fiduciary System (Gesenschaftliche (Treuhandsystem) Gemeinschaft)
Economy (Wirtschaft) Internal
Im Bereich des sozialen Systems wird die Anpassungsfunktion vom Subsystem der Wirtschaft erftillt. Dies heil3t, dass die Wirtschaft ftir den Bereich extern / instrumentell zust~indig ist. In diesem Sinne ktimmert sich die Wirtschaft um die langfristigen Verh~iltnisse zwischen dem sozialen System und der organischen Umwelt (als Verhaltensorganismus). Das soziale System kann nur auf die Anforderungen einer dynamischen Umwelt reagieren, indem es eine flexible Wirtschaft ausdifferenziert. Durch die wirtschaftlichen Mechanismen der Akkumulation von Kapital wird es ftir ein soziales System m/Sglich, auf unvorgesehene Umweltzust~inde zu reagieren. Nur wenn man tiber Kapital verftigt, kann man es benutzen, um auf unterschiedliche Art und Weise auf solche Umweltzust~inde zu reagieren. Beispielsweise kann man es im Bereich der Produktion oder im Bereich des Konsums einsetzen. In der Ausdifferenzierung dieses Subsystems spielt die Erfindung des Kommunikationsmediums Gelb eine entscheidende Rolle. Die Funktion der Zielverwirklichung, die dem Bereich extern / konsumatorische entspricht, wird vom Subsystem der Politik erftillt. W~ihrend sich die Wirtschaft mit der langfristigen bzw. zuktinftigen Anpassung des Systems besch~.ftigt, befasst sich die Politik mit der Befriedigung gegenw~irtiger Anforderungen. Auf diese Anforderungen reagiert die Politik durch Entscheidungen. Da diese Entscheidungen anerkannt werden mtissen, geht es hier immer um kollektiv bindende Entscheidungen. Aus diesem Grund findet Politik ihre Referenzumwelt nicht mehr im Verhaltensorganismus, sondern im System der Perstinlichkeit. Die Analyse der Integrationsfunktion besagt viel tiber den Theoriestil von Parsons. Diese im Bereich intern / konsumatorische lokalisierende Funktion 157
wird von der sogenannten gesellschaftlichen Gemeinschaft erf'tillt. Der Begriff der gesellschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet ein System sich gegenseitig durchdringender Gesamtheiten und kollektiver Loyalitaten. In diesem Sinne liegt die prim~ire Funktion dieses Subsystems darin, die Loyalit~itspflicht eines Akteurs zu bestimmen. In der gesellschaftlichen Gemeinschaft bedeutet allerdings diese Loyalit~itspflicht nicht Rollenexklusivit~it. Vielmehr wird der Rollenpluralismus gef6rdert. In der modernen Gesellschaft muss beispielsweise ein erwachsener Mann loyal sowohl gegentiber seiner Rolle als Vater im Familienbereich als auch gegeniiber seiner Rolle als Arbeiter im wirtschaftlichen Bereich sein. In diesem Sinne charakterisiert sich das System der gesellschaftlichen Gemeinschaft durch funktionale Differenzierung und Segmentierung. Es ist interessant zu bemerken, dass, obwohl das soziale System die Integrationsinstanz des Handelns ist, eine Wiederholung dieser Funktion innerhalb des sozialen Systems stattfindet. Besonders in einer vom Individualismus gepr~igten gesellschaftlichen Ordnung ist es sehr wichtig die Mechanismen der Handlungsintegration zu verst~ken. Die Erf'tillung von rein sozialen Funktionen muss in so einer Ordnung, in der es einfacher ist, ganz individualistisch zu handeln, plausibilisiert werden. In der Evolutionstheorie von Parsons charakterisieren sich die modernen Gesellschaften durch ihre besondere Art gesellschaftlicher Gemeinschaft, die so generalisiert geworden ist, dass sie erm/Sglicht, dass die gesamtgesellschaftlichen Solidarit~itsverh~iltnisse zwischen Individuen tiber jede Art von Partikularismus (im Sinne von Gruppierungen, Klassen, St~inde, usw.) hinaus gehen. Der moderne BUrger erkennt die Geltung der Institutionen an und ermtiglicht damit die Fortsetzung sozialer Ordnung. Viele der Reflektionen von Durkheim fiber die normative Bedeutung der beruflichen Gruppen innerhalb einer differenzierten Ordnung finden im Begriff der gesellschaftlichen Gemeinschaft eine Art ,~quivalent. Die gesellschaftliche Gemeinschaft fungiert aber nicht nur als eine Art Schutz gegen den Individualismus. Ihre Funktion bezieht sich auch auf die soziale Berticksichtigung kultureller Probleme. Aus diesen Grtinden begreift Parsons die gesellschaftliche Gemeinschaft als Kernkategorie seiner soziologischen Analysen. Die im Bereich intern / instrumentell befindende Funktion, n~imlich die der Bewahrung latenter Strukturen wird vom sogenannten Treuhandsystem erfiillt. Hier geht es um die Legitimierung der normativen Ordnung einer Gesellschaft. Weder die Wirtschaft noch die Politik k6nnen diese normative Ordnung legitimieren. Die gesellschaftliche Gemeinschaft kann aber auch nicht ihre eigenen Normen ohne Bezug auf eine h6here Instanz, n~imlich die kulturellen Werten rechtfertigen. In diesem Sinne bezieht sich immer die Legitimierung von Normen auf religitise Vorstellungen (die sogenannte: ,,last reality"). Egal ob es um primitive oder moderne Gesellschaften geht. Der einzige Unterschied zwischen 158
diesen Arten von Gesellschaften liegt nur darin, dass es in den primitiven Gesellschaften nur eine sehr geringe Differenzierung zwischen der allgemeinen Gesellschaftsstruktur und den religi6sen Organisationen gibt. Im Gegensatz dazu charakterisieren sich die modernen Gesellschaften durch ihre komplexeren Verh~iltnisse zwischen Religion und Legitimierung. In der folgenden Tabelle werden die Verh~iltnisse zwischen der gesellschaftlichen Gemeinschaft und ihren Umwelten gezeigt. I
II
Innergesellschaftliche Funktionen
Bewahrung latenter Strukturen Integration
Zielverwirklichun8 Adaptation
III Innergesellschaftliche Umwelten der Gesellschaftlichen Gemeinschaft Treuhandsystem
IV Aul3ergesellschaftliche Umwelten der gesellschaftli-chen Gemeinschaft Kultur
Politik
Pers6nlichkeitssystem Verhaltenssystem
Gesellschaflliche Gemeinschafl
Wirtschaft
V Funktionen im Handlungssystem
Bewahrung latenter Strukturen Integration
Zielverwir. klichun~ Adaptation
Der Funktionsverteilung nach ist es deutlich zu sehen, dass Parsons die Wirtschaft als Anpassungsinstanz und deshalb als Energiequelle des sozialen Systems begriff. Allerdings wird diese Wirtschaft vom Treuhandsystem kontrolliert. Immer wieder sehen wir also auch die Wiederholung von Funktionen und kybernetischer Hierarchie. Diese kybernetische Hierarchie steuert auch die zus~itzliche Differenzierung der Gesellschaft, n~imlich ihre Stratifizierung (mindestens in ihrem Bewertungsaspekt). ~52 Als generalisierte Eigenschaft aller sozialen Systeme erfiillt die soziale Stratifizierung eine wichtige Funktion, n~imlich die der leistungsad~iquaten Besetzung sozialer Aufgaben (also: Rollen) nach moralischen Kriterien. Anhand ~52,,Stratification in its valuational aspect then is the ranking of units in a social system in accordance with the standards of the common value system". Talcott Parsons, "A Revised Analytical Approach to the Theory of Social Stratification" (1953), in: ders., Essays in Sociological Theory, New York, 1964. S. 388. 159
solcher Kriterien werden also Akteure hierarchisch eingestuft. Im Vergleich zu anderen Mitgliedern einer Gesellschaft oder einer Organisation kann ein Akteur als iiberlegend oder unterlegend bezeichnet werden. ~53 In der modernen Gesellschaft mehr als in frtiheren gesellschaftlichen Figurationen kann ein Akteur nicht nur seiner Familienzugeh6dgkeit (vielleicht ist er der Sohn eines Adels) oder seinen pers6nlichen Eigenschaften (dies heiBt, ob dieser Akteur ein Mann oder eine Frau ist, ob er oder sie ,,sch6n" oder ,,hasslich" ist, usw.) nach eingestuft werden. Wenn sein Handeln beobachtet wird, kann auch die Leistung dieses Handelns bewertet werden. Da das Handeln f'tir Parsons immer ein zielorientierter Prozess ist, kann man dieses Handeln in Bezug auf das Erreichen solcher Ziele einstufen. In diesem Sinne kann ein Handeln ,,nutzbar" oder ,,nutzlos", ,,wiinschenswert" oder ,,ungewtinscht", usw. sein. Der Status eines Akteurs im Schichtungssystem einer Gesellschaft h~ingt also von unterschiedlichen Faktoren ab, zu denen nicht nur die schon erw~ihnten Kritefien g e z ~ l t werden miissen, sondern auch Faktoren wie Eigentum, Autorit~it und Macht. Um seine Analyse der sozialen Klassen durchftihren zu k6nnen, nimmt Parsons nur zwei Dimensionen der sozialen Stratifizierung in Anspruch, n~imlich die Familie und die Leistung im Bereich der Arbeit. Die Hierarchie im Arbeitsbereich bezieht sich auf die Differenzierung von F~ihigkeiten und auf die Struktur von Organisationen. Es ist klar, dass es Aufgaben gibt, deren Durchftihrung schwieriger ist und deren Lernprozess l~inger dauert. Normalerweise werden solche Aufgaben besser eingestuft. Die Struktur der Organisationen ist so komplex geworden, dass die Koordinationsaufgaben an Bedeutung gewonnen haben. Leute, die beispielsweise die Handlungen von vielen Akteuren koordinieren, sind besser eingestuft als die Akteure, die sich nur mit der Implementierung von Entscheidungen befassen. Im Arbeitsbereich wird ein Akteur als ein Individuum beobachtet. Sowohl seine Position (Status) als auch seine Aufgabe (Rolle) werden ihm also als Individuum zugerechnet. Im Bereich der Familie wiederum teilt er seinen Status mit den anderen Familienmitgliedern. Der Status der Familie wird vom Status ihrer arbeitenden Mitglieder bestimmt. 154 Der Begriff der sozialen Klasse fungiert als eine Art Gelenk zwischen beiden Bereichen.
153 ,,Moral superiority is the object of a certain empirically specific attitude quality of 'respect', while its antithesis is the object of a peculiar attitude of 'disapproval' or even, in the more extreme cases, of 'indignation'". Talcott Parsons, "An Analytical Approach to the Theory of Social Stratification" (1940), in: ders., Essays in SociologicalTheory, a.a.O., S. 70. Ls4Hier muss gesagt werden, dass das Model von Parsons ein sehr traditionelles Bild der Familie voraussetzt. Da diese Analyse in der US-amerikanischen Gesellschaft der dreiBigen und vierzigen Jahre durchgef'tihrt worden waren, gehen sie immer davon aus, dass der Vater / Gatte das einzige 160
Nach Parsons I~isst sich also der Klassenbegriff folgendermal3en definieren: ,,A class may be then defined as a plurality of kinship units which, in those aspects where status in a hierarchical context is shared by their members, have approximately equal status. The class status of an individual, therefore, is that which he shares with other members in an effective kinship unit". ~55 Ftir Parsons war es klar, dass der Klassenkonflikt ein konstitutives Ph~inomen der industrialisierten Gesellschatten ist. Im Gegensatz zu Marx und Engels dachte er allerdings nicht, dass dieser Konflikt ihr entscheidendes Merkmal ware. Parsons war auch nicht der Meinung, dass der Klassenkonflikt der wichtigste gesellschaflliche Mechanismus der sozialen Transformation ist. Vielmehr tr~igt die soziale Stratifizierung zur gesellschaftlichen Stabilit~t bei, indem sie die Kriterien der Handlungsmotivation institutionalisiert. Motivierte Akteure werden sich also s~ndig um eine bessere Einstufung im Stratifikationssystem bemtihen. Der Differenzierungstheorie von Parsons nach sollen also all die sozialen Subsysteme zur normativen Integration der Gesellschaft beitragen. Wie wir schon im Kapitel 4 gesehen haben, haben Soziologen aller Denkrichtungen diese Strategie stark kritisiert. Gegenw~irtige theoretische Entwicklungen, wie der von Niklas Luhmann, beschreiben die sachliche Differenzierung der Gesellschaft, ohne das Problem ihrer normativen Integration als das soziologische Problem schlechthin zu beobachten. Im n~chsten Kapitel werde ich mich mit zwei der wichtigsten gegenw~irtigen Differenzierungstheorien, n~imlich der oben erw~ihnten Gesellschaftstheorie von Luhmann und der Feldtheorie von Pierre Bourdieu auseinandersetzen. Mit Hilfe dieser Analysen und der schon durchgef'tihrten Reflexionen tiber den praktischen Sinn werde ich danach einen Erg~inzungsversuch zwischen beiden Theorien skizzieren, dessen eigentliches Ziel die begriffiiche l]berwindung der Kluft zwischen Theorien sachlicher Differenzierung und Theorien sozialer Differenzierung ist.
arbeitende Mitglied der Familie ist. Dies heiBt also, dass sein Status im Bereich der Arbeit den Status der ganzen Familiebestimmt. ~5~Talcott Parsons, ,, Social Classes and Class Conflict in the Light of Recent Sociological Theory" (1949), in ders: Essays in Sociological Theory, a.a.O., S. 328. 161
1
Kontingenzeinschrfinkung lh Systeme, Felder, Programmierung
8.1
Differenzierung nach Funktionen
8.1.1
Die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann
In unterschiedlichen Teilen dieser Untersuchungen habe ich mich mit der Theorie sozialer Systeme besch~iftigt. Kern dieser Theorie ist die Behauptung, dass soziale Systeme ausschliel31ich aus Kommunikation bestehen. Alles andere, Menschen eingeschlossen, geht~rt zur Umwelt dieses Systems. Ein kommunikatives Ereignis (n~imlich eine Operation) teilt die Welt in zwei. Auf der einen Seite haben wir ein System und auf der anderen Seite seine Umwelt (oder besser gesagt: seine Umwelten). Aber ein einziges kommunikatives Ereignis macht noch kein System. Ein System kann also nur zustande kommen, wenn eine strukturierte Kette von Ereignissen entsteht. Da nur die Kommunikation mehr Kommunikation schaffen kann, sagt Luhmann, dass die sozialen Systeme autopoietische Systeme sind. Dies heil3t, dass sie ihre Strukturen nur durch ihre eigenen Operationen reproduzieren k6nnen. Diese Theorie hat uns bisher beispielsweise geholfen, die unterschiedlichen Operativit~itsarten psychischer und sozialer Systeme zu begreifen, um die Unterschiede zwischen Handeln und Kommunikation besser zu verstehen und um die kontingenzbezogenen Mechanismen des Strukturaufbaus zu konstatieren. Mit der Entwicklung dieses theoretischen Rahmens verfolgte Luhmann das Ziel, eine umfassende Theorie der modernen Gesellschaft zu schreiben. AuBer ein paar Wtirter habe ich mich mit dieser Gesellschaftstheorie im Laufe dieser Untersuchungen noch nicht auseinandergesetzt. Nun ist aber die Zeit, sie ausf'tihrlich zu analysieren. Zweifellos bleibt der Gesellschaftsbegriff ein sehr umstrittener Begriff in der Soziologie. Obwohl die Soziologie sich im Prinzip mit der ,,Gesellschaft" befasst, lehnen viele Soziologen die Anwendung diesen Begriff ab. Autoren wie Simmel, Weber, Bourdieu und Giddens sind der Meinung, dass es keinen Gegenstand, den wir als ,,Gesellschaft" bezeichnen ktinnten, gibt. In diesem Sinne haben sie Theorien wie die von Durkheim oder von Parsons kritisiert, die mit einem ,,reifizierten" Gesellschaftsbegriff gearbeitet haben. Im Gegensatz zu diesen Autoren ist Luhmann der Meinung, dass der Gesellschaftsbegriff notwendig f'tir die Soziologie ist, weil es nur mit seiner Hilfe mtiglich wird, die Dynamik der Differenzierung zu verstehen. Allerdings lehnt Luhmann auch die ,,reifizierte" Fassungen dieses Begriffes ab. Luhmann versteht die Gesellschaft als ein besonderer Typ eines sozialen Systems. Die Besonderheit der Gesellschaft liegt darin, dass sie das einzige soziale System ist, 162
dass all die Kommunikationen einschliel3t. Fiir Luhmann ist also die Gesellschaft kein Gegenstand, sondern ein Horizont, und zwar der Horizont aller m6glichen Kommunikationen. 156 Wenn Luhmann also von einer Gesellschaftstheorie spricht, versucht er bestimmt nicht, eine Theorie zu entwickeln, die geeignet ist, um eine geographisch lokalisierbare Gesellschaft (egal ob es um einen Nationalstaat oder um einen Kulturbereich geht) zu analysieren. Die Gesellschaftstheorie soil sich mit der Analyse dieses kommunikativen Horizontes befassen. Wie kann man aber so einen ,,Gegenstand" erforschen? Selbstverst~indlich kann man nicht erwarten, diesen Horizontals Ganzheit zu begreifen (wenn dies m6glich w~ire, h~itten wir nicht mehr mit einem Horizont zu tun). Uber die Kontingenz und Unerreichbarkeit des Mediums Sinn habe ich schon gesprochen. Die Gesellschaft kann also nicht als Einheit erforscht werden. 157 Luhmann denkt aber, dass sie als Differenz begreifbar ist. Die Gesellschaftstheorie von Luhmann besch~iftigt sich also mit der Differenzierung der Gesellschaft. Aufgabe dieser Gesellschaftstheorie ist die Erforschung der drei Sinndimensionen, in denen die Differenzierung der Gesellschaft vorkommt. In der Sozialdimension wird die Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien, welche die Kommunikation wahrscheinlicher machen (zum Beispiel: Liebe, Wahrheit, Macht, Geld, usw.), beobachtet. In der Zeitdimension besch~iftigt sich die Gesellschaftstheorie von Luhmann mit der Analyse struktureller Transformationen, die zur Ausdifferenzierung von Systemen geftihrt haben. Im Bereich der Sachdimension werden die Emergenz und autopoietische Aufrechterhaltung kommunikativer Zusammenh~inge erforscht. Fiir die Erforschung dieser drei Dimensionen bleibt die Referenz auf die Gesellschaft unentbehrlich, weil sie als Rahmen aller Differenzierungs-ph~inomene gilt. Die Gesellschaft kann also nur als Verschiedenheit analysiert werden. Als umfassendes System enth~ilt die Gesellschaft sozusagen jede andere Art sozialer Systeme. Dies heil3t, dasses neben der Gesellschaft (und selbstverstandlich auch: in der Gesellschaft) andere Art von sozialen Systemen gibt. Wir k6nnen bei.o
156Ob Luhmann seiner eigenen Prinzipien treu geblieben ist, ist umstritten. Wenn nicht konzeptuell, mindestens semantisch hat Luhmann mit einem ,,reifizierten" Gesellschaftsbegriffst~indig kokettieren. Beispielsweisehat Luhmann geschrieben: ,,Die Beziehungen zwischen den Teilsystemen haben eine Form, wenn das Gasamtsystem festlegt, wie sie geordnet sind". Niklas Luhmann, Der Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 610. In einer solchen Formulierung l~isstsich die Idee der Gesellschaft als Horizont leicht vergessen. Vielleicht geht es doch nur um den Mangel an theorieasthetischen Mitteln wie Armin Nassehi sagt. Vgl. Armin Nassehi, ,,Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik", in: Zeitschrift t'tir Soziologie, Jg. 33, H 2, 2004. Oder vielleicht geht es hier um ein konstitutives Problem der umfassenden Theorien. t57 Die einzige Art und Weise, in der wir die Gesellschaft als Einheit begreifen k6nnen, ist in der Einheitlichkeit ihrer Operativitiit. Die Einheit der Gesellschaft besteht also in der Einheit ihrer Operation, n~imlichdie Kommunikation. 163
spielsweise Teilsysteme (die sich wiederum in Funktionssysteme, Schichten und Stamme differenzieren lassen), Interaktionssysteme, Organisationen, Familien, usw. beobachten. Es gibt auch Beispiele wie im Fall der Moral von ausdifferenzierten kommunikativen Phanomenen, die allerdings kein System konstituiert haben. FUr Luhmann liegt die methodologische Bedeutung der Differenzierungsph~inomene darin, dass, da sie in allen gekannten Gesellschaften (egal ob primitiven oder modernen, ob abendRindischen oder nicht)stattgefunden haben. Diese Art Universalismus erm6glicht den Vergleich der unterschiedlichsten Gesellschaften und Epochen. Durch die Analyse ihrer Differenzierung wird es also mtiglich, die Struktur einer Gesellschaft zu bestimmen. In diesem Sinne bezieht sich die Struktur einer Gesellschaft auf ihre sogenannte pdmare Differenzierungsform, n~imlich auf die Art und Weise, in der im umfassenden Gesellschaftssystem die intersystemischen Beziehungen durchgefiihrt werden. Noch einmal haben wires also mit der Einschr~inkung der Kommunikationsmtiglichkeiten, also mit Kontingenzeinschr~inkung zu tun. Wenn es zur Identifizierung der im Laufe der Evolution erschienene Differenzierungsformen kommt, kntipft Luhmann an eine alte soziologische Tradition an. Abgesehen von den frtihesten Gesellschaften, die sich vermutlich nur an den Alters- und Geschlechtsunterschieden orientiert haben, ist Luhmann der Meinung, dass sich vier Differenzierungsformen identifizieren lassen. In der folgenden Tabelle werden diese vier Formen und ihre Hauptcharakteristiken (dies heiBt: die Art ihrer intersystemischen Beziehungen) gezeigt. Differenzierun~sform Segmentare Differenzierung
Charakteristik Gleichheit zwischen den geselischaftlichen Teilsysteme
Differenzierung nach Zentrum und Peripherie Stratifikatorische Differenzierun~ Funktionale Differenzierung
Ungleichheit (r~iumlich) Rangm~iBige Ungleichheit Die Teilsysteme sind in ihrer Ungleichheit gleich
Beispiele Nach Abstammung : St~imme, Clans, Familien Nach Residenz: H~iuser, Dtirfer. Oder nach einer Kombination von beiden Kriterien Stadt / Land Zivilisierte / Barbaren Adel / Volk Funktionssysteme: Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Erziehung, HSW.
In den segment~iren Gesellschaften haben wir es also mit einer Art Kommunikation zu tun, die sich sozusagen st~indig um die Aufrechterhaltung der Gleichheit 164
zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen bemtiht. Wie wir schon anhand der Forschungen nach der Gabe von Marcel Mauss gesehen haben, herrscht in solchen Gesellschaften das Prinzip der Reziprozit~it. Die Transformation solcher Struktur f'~ingt mit der morphologisch bedingten Oberwindung der Reziprozit~it an. Mehr Kontakte bedeutete in vielen F~illen die Entstehung von Vorteile, die aus unterschiedlichen Grtinden nicht mehr ausgeglichen werden konnten. Durch diese Akkumulation von Vorteilen (meistens vom Reichtum) wird die Gesellschaft in ein Zentrum und eine Peripherie geteilt. Das deutlichste Beispiel einer solchen Differenzierung findet sich in der Entstehung von St~idten. In diesem Fall interessiert sich die Kommunikation nicht mehr ftir die Aufrechterhaltung der Gleichheit, sondern ftir die der Ungleichheit. Das Zentrum wird in solchen F~illen zum Vertreter der gesamten Gesellschaft. Diese Vorteilszentren gelten als M6glichkeitsbedingung der n~ichsten Differenzierungsform, n~imlich der stratifikatorischen Differenzierung. Durch diese Differenzierung findet ein interessantes Ph~inomen statt, weil sie die Differenzierung der Differenzierung durchftihrt. W~ihrend es im Zentrum eine zus~itzliche Differenzierung in Schichten zustande kommt, strukturiert sich die Differenzierung der Peripherie immer noch durch Segmentierung. Die Teilung der Gesellschaft nach der Unterscheidung Adel / Volk beruht also auf dem Prinzip der Ungleichheit. Um diese Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen aufrechtzuerhalten, hat sich in diesen Gesellschaften die Strategie der Endogamie durchgesetzt. Es ist aber wichtig zu sagen, dass diese Ressourcen nicht nur materieller Art waren. Selbstverst~indlich konnten auch diese Adligen die entsprechende Selbstbeschreibung der Gesellschaft liefern. Die strukturelle Stabilit~it dieser Art Differenzierungsform und die Erfindung wichtiger evolution~en Errungenschaften haben den Weg ftir die neue Differenzierungsform, n~imlich die funktionale Differenzierung vorbereitet. Wegen der relativen Stabilit~it der Ressourcenakkumulation war es f'tir die Oberschicht m6glich, mit der Kommunikation zu experimentieren. Durch diese Experimente hat die Kommunikation allm~ihlich an Komplexit~it gewonnen. Die Steigerung dieser Komplexit~it setzt aber auch die Erfindung der Schrift voraus. Mit Hilfe der Schrift war es endlich m6glich, tiber die Kommunikation unter Anwesenden hinaus zu gehen. Die Kommunikation befand sich vor einer bis damals unbekannten Unwahrscheinlichkeit. Ohne die Kontrolle des r~iumlichen Kontextes und der Interaktion war es fiir die Kommunikation ntitig, neue Strategien zu entwickeln, um ihre Anschlussf'~ihigkeit zu bewahren. Diese neue Unwahrscheinlichkeit wurde mit Hilfe der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gel6st. Sp~iter werde ich mich mit diesen ausftihrlich besch~iftigen. Die letzte Grundbedingung fiir die Durchsetzung einer neuen Differenzierungsform kam mit der Erfindung der Druckerei. Je weniger Bedeutung der 165
Raum und die Zeit ftir die Kommunikation hatten, desto mehr Freiheit hatte sie, um eine funktionale Dynamik zu verfolgen. Obwohl es schon frtiher eine sachliche Gesellschaftsdifferenzierung gab, konnte sie sich nicht als prim~e Differenzierungsform durchsetzen, weil sie immer noch von der Hierarchie beherrscht war. Danach ist aber diese sachliche Differenzierung so unheimlich komplex geworden, dass es nicht mehr mtiglich ftir die Oberschicht war, eine stratifizierte einheitliche Beschreibung der Gesellschaft zu liefern. Die Zeit des Primats der funktionalen Differenzierung war gekommen. Allerdings heiBt dies selbstverst~indlich nicht, dass die anderen Differenzierungsformen verschwunden w~en. Nach wie vor gibt es Segmente, Zentren, Peripherien und nattirlich Schichten. Was Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie sagen will, ist nur, dass diese anderen Formen die Ordnung der Beziehungen zwischen Teilsysteme nicht mehr bestimmen ktinnen. Heutzutage gibt es beispielsweise reiche Leute, die mit viel Luxus und Bequemlichkeiten leben, allerdings k/Snnen sie mit Hilfe ihres Geldes und Einflusses weder die Wahrheit einer wissenschaftlichen Theotie noch die Rechtsm~iBigkeit eines Gesetzes entscheiden. Nach wie vor k/Snnen sie also viele Ressourcen haben, abet diese Ressourcen reichen ftir die semantische Bestimmung der ganzen Gesellschaft nicht aus. W~ihrend in sich den stratifizierten Gesellschaften die IdentiRit jedes Teilsystems nur in Bezug auf seine Position innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie bestimmen lieB, schafft jedes System in der funktional differenzierten Gesellschaft seine eigene IdentiRit. Es gibt also keine Rangordnung mehr, die uns Information tiber die Beziehungen zwischen den verschiedenen Systemen geben k6nnte. Der gemeinsame Nenner heiBt nicht mehr Rangordnung, sondern Funktion. Aus diesem Grund sind sie sowohl gleich als auch ungleich. Sie sind gleich, weil sie alle eine Funktion erftillen. Sie sind aber auch ungleich, weil jedes System eine spezifische (dies heiBt: eine nicht mit den anderen Teilsysteme geteilte) Funktion erftillt. Mit seiner Beschreibung der modernen Gesellschaft sttiBt Luhmann gegen die tibliche Meinung, die besagt, dass es hierarchische Beziehungen zwischen den Teilsysteme gibt. Man kann beispielsweise viele Argumente liefern, um die Behauptung zu untersttitzen, dass die Gesellschaft letztendlich von ihrer Wirtschaft steuert wird. Man k/Snnte abet auch gute Argumente finden, um dieselbe Behauptung diesmal anhand der Religion oder vielleicht der Politik zu machen. Andere Leute bemtihen sich wiederum, um die Notwendigkeit einer neuen Hierarchie mit der Moral auf der Spitze zu verteidigen. Wenn es so viele Kandidaten ftir die Steuerung der Gesellschaft gibt, kann man sich die Frage stellen, ob wir es hier tats~ichlich mit einem strukturellen Charakteristikum zu tun haben, oder ob es sich nur um die Folgen der expansiven Tendenz der Semantik der
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Teilsysteme handelt. Um diese Tendenz verstehen zu k6nnen, ist es aber n6tig, die Operativit~it dieser Teilsysteme zu analysieren. 8.1.2
Die Funktionssysteme
Wenn man die Operativit~it der Teil- oder Funktionssysteme analysieren will, muss man sich zun~ichst mit einem der umstrittensten Begriffe der Sozialwissenschaften iiberhaupt, n~imlich dem Funktionsbegriff auseinander-setzen. Im Kapitel fiber die ,,Revolten gegen die Struktur" habe ich schon gezeigt, dass Luhmann Abstand von Parsons und dem damals tiblichen Strukturfunktionalismus genau in Bezug auf den Funktionsbegriff genommen hat. Im Gegensatz zu Parsons denkt Luhmann nicht, dass der Strukturbegriff eine Priorit~it gegeniiber dem Funktionsbegriff haben soil. Er denkt auch nicht, dass es feste funktionale Bediirfnisse (im Sinne des AGIL-Schemas) gibt, die jedes System erf'tillen muss, um weiter existieren zu k6nnen. Fiir Luhmann ist eine Funktion zun~ichst ein Vergleichgesichtspunkt. Mit seiner Hilfe will Luhmann unterschiedliche Problem- und Probleml6sungszusammenh~.nge vergleichbar machen. Um die Beliebigkeit dieses methodischen Vergleiches zu beschr~inken, nimmt Luhmann die Systemtheorie in Anspruch. Es geht nicht mehr um irgendein Problem, sondem um ein systemisches Bezugsproblem. Wenn die Gesellschaft unsere systemische Referenz ist, haben wires also mit einem Bezugsproblem des Gesellschaftssystems zu tun. Durch die Erf'tillung ihrer spezifischen Funktion 16sen die unterschiedliche Funktionssysteme Probleme der Gesellschaft. Dies heiBt aber nicht, dass die Gesellschaft schon von Anfang an feste Probleme h~itte, die danach durch Funktionssysteme gel6st werden miissen, um die Aufrechterhaltung dieses Systems zu gew~ihrleisten. Diese Probleme kommen immer nur innerhalb konkreter sozialen Situationen zustande. Nehmen wir als Beispiel die Funktion des Rechtssystems. Normalerweise wird gedacht, dass die Funktion des Rechtssystems darin liegt, Konflikte zu 16sen. Allerdings ist diese Funktionsbestimmung nicht so deutlich, weil das Recht auch als Quelle vieler Konflikte beobachtet werden kann. Erst wenn das Recht bestimmte Verhaltensweise als strafbar begriffen hat, kann man es in Anspruch nehmen, um jemanden zu beklagen. Was w~ire dann die eigentliche Funktion des Rechtes? Fiir Luhmann l~isst sich diese Frage folgendermaBen beantworten: ,,Abstrakt gesehen hat das Recht mit den sozialen Kosten der zeitlichen Bindung von Erwartungen zu tun. Konkret geht es um die Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung". 158 Luhmann zufolge ist es also nicht n6tig die ,,Funktionen", die das Recht ftir die Individuen
~58Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt, (I 993) 1997,S. 131. 167
erf'tillt, zu beobachten, sondern diejenige, die es ftir die Kommunikation erf'tillt. Wegen des grundlegenden Problems der doppelten Kontingenz haben wir es im Bereich der Kommunikation immer mit Erwartungsentt~iuschungen zu tun. Die Kommunikation versucht sich von solchen Entt~iuschungen zu schtitzen, indem sie Erwartungen in der Zeit sozusagen ,,fixiert". Diese Erwartungen werde also zu Normen. Durch die Entstehung dieser Normen werden die doppelte Kontingenz und die Gefahr der Entt~iuschung selbstverst~indlich nicht besiegt. Darin liegt aber nicht ihre Funktion. Die Funktion der Norm bezieht sich also nicht auf das Dirigieren von Motiven, sondern ganz im Gegenteil auf die kontrafaktische Absicherung der Erwartungen. Wie Luhmann sagt: ,,Die Norm vers~richt nicht ein normgem~i6es Verhalten, sie schtitzt aber den, der dies erwartet". 59 In dieser Art und Weise bestimmt also Luhmann die gesamtgesellschaftliche Referenz der Bezugsprobleme des Rechtssystems. Derselben Strategie folgt Luhmann in der Bestimmung anderer Funktionen. Andere Beispiele solcher Funktionen sind: die politische Ermtiglichung kollektiv bindender Entscheidungen, die wirtschaftliche Minderung der Knappheit und die wissenschaftliche Produktion neuer Erkenntnisse. Neben der Funktionsbestimmung gibt es Luhmann zufolge noch zwei andere Mtiglichkeiten der Beobachtung von Systemen, n~imlich die der Leistung und die der Reflexion. W~ihrend im Fall der Funktionsbestimmung die Gesamtgesellschaft die Beobachtungsreferenz ist, nehmen wir die anderen Funktionssysteme in Anspruch, wenn wir ihre gegenseitigen Leistungen beobachten wollen. Wie diese Leistungen operieren, kann anhand der Erziehung einfach beobachtet werden. Als autopoietisches System besch~iftigt sich die Erziehung mit der Transformation von psychischen Systemen und mit der Selektion von Personen f'tir Karrieren. Transformation bedeutet hier, dass durch die Erziehung diese psychischen Systeme vorbereitet werden, um an sehr unwahrscheinlicher Kommunikation teilnehmen zu k/Snnen. Es ist schon klar, dass all die Funktionssysteme dieselbe Aufgabe verfolgen, n~imlich unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Interessant im Fall des Erziehungssystems ist aber, dass diese unwahrscheinliche Kommunikation, fiir deren Teilnahme die psychischen Systeme vorbereitet werden, vor allem in anderen Funktionssystemen stattfindet. Im Prinzip werden wir nicht fiir die Schule selbst erzogen, sondern f'tir unsere zuktinftige Karriere. In der Regel findet unser berufliches Leben au6erhalb des Erziehungssystems statt. Selbstverst~indlich kann man Ausnahmen, wie im Fall der P~idagogen, finden. Es ist aber deutlich, dass das Erziehungssystem eine wichtige Leistung fiir die anderen Systeme vollbringt. Indem die Erziehung die Teilnahme an unwahrscheinlicher Kommunikation wahr159A.a.O., S. 135. 168
scheinlich macht, leistet sie etwas und zwar for jedes einzelnes System. Andere Leistungsverh~iltnisse zwischen Funktionssystemen kann man beispielsweise anhand der vonder Wirtschaft erm6glichten Befriedigung von Bedtirfnisse, der technologischen Umsetzung wissenschaftlichen Wissens oder der rechtlichen Konfliktregulierung beobachten. Im Fall der Reflexion haben wir es mit der Selbstbeobachtung eines Funktionssystems zu tun. Durch diese besondere Art von Kommunikation nimmt das System sich selbst als Thema. Interessant ist allerdings, dass diese Selbstthematisierung innerhalb der Grenzen des Systems stattfindet und in dieser Art und Weise tr~igt es zu seiner Autopoiesis bei. Die daraus entstandenen Selbstbeschreibungen werden normalerweise zu voraussetzungsvollen Retiexionstheorien. Solche Reflexionstheorien finden in der Gesellschaft sozusagen zweimal statt. Auf der einen Seite geh6ren sie zu den Funktionssystemen und auf der anderen Seite, wenn es um ihre Wahrheit geht, finden sie im Bereich der Wissenschaft statt. Beispiele solcher Selbstthematisierung finden wir in der Staatslehre der Politik und in der epistemologischen Reflexion der Wissenschaft. Die Analyse der Teilsysteme h6rt allerdings mit diesen Beobachtungsm6glichkeiten nicht auf. Als autopoietische Systeme mtissen auch die Funktionssysteme Kriterien schaffen, um ihre eigenen Operationen zu bewerten. Diese Art operativer Filter wird von Luhmann Code genannt. Im Gegensatz zum Funktionsbegriff, der den Vergleich zwischen Systemen erm6glicht, regelt diese Codierung ,,das Oszillieren zwischen positivem und negativem Wert, also die Kontingenz der Bewertung, an denen das System seine eigene Operationen orientiert". 16~ Genau wie die Sprache, die mit Hilfe des bin~en Grundcodes Ja / Nein operiert, bilden die Funktionssysteme bin~.re Codierungen, um zwischen Kommunikationen, die innerhalb ihres autopoietischen Netzwerkes anschlussf'~ihig sind und Kommunikationen, die nur als ,,Reflexionswerte" gelten, zu unterscheiden. Wenn die Strukturen eines Systems von einem bestimmten kommunikativen Ereignis irritiert werden, schlie6t dieses System das Ereignis in sein operatives Netzwerk ein. Allerdings kann dieser erste strukturelle Filter den Wert (also: die Anschlussf'~ihigkeit) des Ereignisses nicht bestimmen. Hier handelt es sich um die blol3e Identifizierung einer Selbstreferenz (im Unterschied zur Wirkungslosigkeit der Fremdreferenz). Das System wird also von einer Kommunikation sozusagen betroffen. Wie erfolgreich diese Kommunikation innerhalb des Systems sein wird, h~ingt vom zweiten Filter, n~imlich dem Code ab.
~6oNiklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 749. 169
Nehmen wir das Kunstsystem als Beispiel. Wenn die Kunst eine besondere Kommunikation als eigene Operation, also als ktinstlerische Kommunikation identifiziert hat, schlieBt sie diese Kommunikation ein. Innerhalb des Systems wird aber diese Kommunikation mit Hilfe seines Codes bewertet. Im Bereich der Kunst haben wires mit zwei Codeversionen zu tun. Die tibliche Fassung des Codes lautet sch/Sn / h~isslich. Die abstrakte, ftir die Beobachtung der modernen Kunst geeignete Fassung lautet wiederum stimmig / nicht stimmig. Die Tatsache, dass es zwei Versionen des Codes gibt, bedeutet aber keineswegs, dass dieses System zwei Codes h~itte. Die Erfindung neuer Bezeichnungsformen bezieht sich immer auf die Evolution des Systems. Jetzt zurtick zu unserem Beispiel. Wenn das kommunikative Ereignis sich schon innerhalb des Systems findet, muss das System entscheiden, ob diese Kommunikation (dieses Kunstwerk) sch6n bzw. stimmig ist und zu seiner Reproduktion beitragen kann oder ob sie h~isslich bzw. nicht stimmig ist und nur als Reflexionswert ftir zuktinftige Entscheidungen bleibt. Dieselbe Bewertung findet in anderen Funktionssystemen anhand ihrer spezifischen Codes (beispielsweise: recht / unrecht fur das Rechtssystem, wahr / unwahr fur die Wissenschaft, Macht haben / Macht nicht haben ftir die Politik und Zahlung / Nichtzahlung ftir die Wirtschaft) statt. Allerdings sind die Codes nur da, um zu zeigen, welche Optionen es gibt. Dies heiBt, dass sie tiber keine Sinnanweisungen verftigen, die ihnen helfen k/Snnten, Entscheidungen zu treffen. Deshalb habe ich oben gesagt, dass das System die Zurechnungsentscheidung treffen muss. Das System, also nicht der Code. Der Code bleibt gegentiber den systemischen Zurechnungskriterien sozusagen indifferent. In diesem Sinne haben wir es im Bereich des Codes immer noch mit viel Kontingenz zu tun. Diese Kontingenz wird anhand Entscheidungskriterien weiter reduziert. Solche Kriterien werden von Luhmann mit Hilfe des Programmbegriffes bezeichnet. Als Entscheidungsregeln bestimmen die Programme die Bedingungen, unter denen die Zuschreibung des positiven Wertes eines Codes durchgeftihrt werden kann. Im zweiten Kapitel habe ich schon tiber die Programme der Wissenschaft, n~imlich Theorien und Methoden gesprochen. Andere Beispiele solcher Programme finden wir in den Gesetzen des Rechtssystems, in den Regierungs- und Parteiprogrammen der Politik und in den Lehr- und Lernpl~inen der Erziehung. Das Verh~iltnis zwischen Codierung und Programmierung spielt ftir die hier durchgeftihrten Untersuchungen eine entscheidende Rolle, weil es genau anhand dieses Verh~iltnisses m/Sglich wird, die Dynamik, die es zwischen Geschlossenhit und Offenheit in den Systemen gibt, zu analysieren. Ich bin der Meinung, dass der Programmbegriff als konzeptuelles Gelenk zwischen der Theorie funktionaler Differenzierung von Luhmann und der Theorie sozialer Differenzierung 170
von Pierre Bourdieu fungieren kann. Sp~.ter in diesem Kapitel werde ich mich mit diesem Erganzungsversuch besch~,ftigen. Nun ist es aber wichtig, die Verh~iltnisse zwischen Codierung und Programmierung anhand der Unterscheidung Geschlossenheit / Offenheit zu erkl~.ren. W~.hrend die Codes sich ausschlieBlich auf Werte des Systems beziehen, k/Snnen die Programme auf Umweltanforderungen reagieren. Interessant ist es aber, dass diese ,,Empfindlichkeit" der Programme die autopoietische Autonomie der Funktionssysteme nicht gef~ihrdet. ,,Programme transformieren das bloBe ,,Rauschen" der Umwelt in einen fiir das System praktizierbaren Sinn, freilich nur auf der Ebene der Strukturen und nur in einer Weise, die einen Beobachter an das Wortspiei traduttore / traditore erinnern mag". 16~Die eigentliche Funktion der Differenz Code / Programm liegt also darin, dass sie diese Dynamik der Geschlossenheit und Offenheit ermSglichen. W~ihrend der Programmbegriff sich auf die Problematik der Etablierung von Entscheidungsregeln ~ r die Zurechnung der Codewerte bezieht, bezieht sich das letzte Element der Analyse von Funktionssystemen auf die Problematik der Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz solcher Entscheidungsregeln. Programme k/Snnen sich nur durchsetzten, wenn sie sich mit Hilfe von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien plausibilisieren. Die Analyse solcher Kommunikationsmedien fordert eine fitnderung der Sinndimension und zwar von der sachlichen zur sozialen Dimension. Es geht hier also nicht um eine Folge der funktionalen Differenzierung, sondern um eine Art Katalysator solcher Differenzierung, n~.mlich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Die Erfindung von Verbreitungsmedien der Kommunikation hat die Oberwindung der lnteraktion erm6glicht. FUr die Gesellschaft bedeutete diese Uberwindung r~iumlicher, zeitlicher und sozialer Referenzen die Notwendigkeit, neue Mechanismen der Akzeptanz kommunikativer Vorschlage zu entwickeln. Wenn man nur mit bekannten Leuten spricht, muss man nicht alles von Anfang an erzahlen, weil immer vorausgesetzt wird, dass wir als Bekannte Bedeutungen, Werte und Erfahrungen teilen. Was passiert aber, wenn wir mit einem Fremden kommunizieren mtissen? Und noch schlimmer. Wenn wir einem nicht anwesenden Fremden einen kommunikativen Vorschlag beispielsweise schriftlich machen. Wie kann die Kommunikation diese im Prinzip sehr unwahrscheinliche Akzeptanz wahrscheinlich machen? Die Antwort von Luhmann lautet: durch die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Durch eine Regelung der Koordinierung der Selektionen erf'tillen diese Medien ihre Funktion, namlich
161 Niklas Luhmann, ,,Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem", in: ders. SoziologischeAufkl~trung4. Beitr~tgezur funktionalen Differenzierung der Gesellschafl, Opladen, 1987,S. 198.
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,,die Annahme einer Kommunikation erwartbar zu machen in F~illen, in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist". 162 Die Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien von Luhmann hat ihre Wurzeln in den Reflexionen von Parsons tiber die systemischen Austauschsmedien wie etwa Geld oder Macht. ~63Da Luhmann seine Theorie von der Begrenztheit des AGIL-Schemas befreit hat, ist es ihm gelungen, diese Medien nicht mehr als Austauschsmedien, sondern als Kommunikationsmedien zu begreifen. Als lose gekoppelte Elemente mtissen diese Medien zun~ichst an Form gewinnen, um tiberhaupt wirksam zu werden. 164 Diese Formen kommen normalerweise als semantische Institutionen vor, welche die Akzeptanz der Kommunikation untersttitzen. Als paradigmatisches Beispiel solcher Kommunikationsmedien beschreibt Luhmann die Anwendung des Geldes. ,,Der wichtigste Effekt des Mediums Geld ergibt sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene dadurch, dass die Zahlung Dritte beruhigt. Sie k6nnen, obwohl sie auch selbst an den Gtitern und Leistungen interessiert sind (oder in Zukunft interessiert sein k6nnten) zusehen, wie jemand auf knappe Gtiter zugreift, weil er dafiir zahlt. Und sie k6nnen auch akzeptieren, dass dies zu Bedingungen geschieht, die von Vertragspartnern ohne ihre Beteiligung ausgehandelt werden, weil die Gegenleistung in Geld erfolgt, also einer Form, die das Medium regeneriert, weil sie nur in Form der Weitergabe nutzbar ist. Die Selektion einer Handlung, n/imlich des Zugriffs auf knappe Gtiter, wird durch den Code des Mediums Geld in ein blo6es Erleben Dritter transformiert. Sie nehmen es hin wie eine Information tiber ein Faktum, an dem sie nicht beteiligt sind". 165 Neben dem Medium Geld haben wir als Beispiele solcher Kommunikationsmedien nicht nur die im ersten Kapitel schon erw/ihnte wissenschaftliche Wahrheit, sondern auch Medien wie die Macht im Bereich der Politik und der Glaube im Bereich der religi6sen Kommunikation. Meiner Meinung nach gibt es noch ein wichtiges Gelenk zwischen der Theorie funktionaler Differenzierung und der Theorie sozialer Differenzierung in den Verh/iltnissen, die es zwischen Programmen und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gibt. Wie bereits gesagt, setzt die erfolgreiche Durchsetzung eines Programms die strukturelle Untersttitzung eines Kommunikati162Niklas Luhmann,Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 317. 163Siehe Talcott Parsons, Social Systems and the Evolutionof Action Theory, New York, 1977. 164Die Unterscheidung von Medium und Form stammt aus den Reflexionen von Fritz Heider, die eine Erkl~irungdes Ph~inomenswahrnehmungsuchten. Siehe: Fritz Heider, ,,Ding und Medium", in: Symposium 1, 1926, S. 109-157. 165Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt, 1988, S. 69. Zu der Unterscheidung Handeln / Erleben und ihr Verh~iltnis zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien siehe Kapitel 6. 172
onsmediums voraus. Da es aber nicht mOglich ist, dass viele Programme am selben Ort gleichzeitig gialtig sind, kann man sagen, dass ein Wettbewerb zwischen konkurrierenden Programmen stattfindet. Obwohl viele Faktoren eine Rolle in einem solchen Wettbewerb spielen, ist es schon klar, dass den oben erwfihnten Kommunikationsmedien eine entscheidende Rolle zukommt. Ich bin der Meinung, dass man, wenn man solche Kommunikationsmedien nicht mehr in Bezug auf ein ganzes Funktionssystem, sondern in Bezug auf eine r~iumlich und zeitlich lokalisierbare Programmierung in Anspruch nimmt, von einer Art ,,Medienakkumulation" sprechen kann. Wenn diese Medienakkumulation stattgefunden hat, wird die Kontingenz der Programmierung stark begrenzt. Innerhalb solcher Wettbewerbzusammenh~inge werden die Kommunikationsmedien zu Vorteilen. Obwohl Luhmann sehr guten Grtinden hat, um die Anwendung der Semantik eines Funktionssystems fiir die Beschreibung gesamtgesellschaftlicher Ph~inomene abzulehnen, denke ich, dass die von Luhmann angewandten Semantik viele Probleme hat, um wichtige Aspekte der Dynamik der sozialen Differenzierung zu analysieren. Eine der schw~ichsteten Seiten der Gesellschaftstheorie von Luhmann befindet sich zweifellos in seiner Analysen der sozialen Ungleichheit anhand der Unterscheidung Inklusion / Exklusion. Viele dieser Probleme k0nnen meiner Meinung nach mit Hilfe der Feldtheorie von Pierre Bourdieu gel0st werden. Um eine umfassende Theorie der Differenzierung zu haben, wird also die gegenseitige Erg~inzung beider Theorien gefordert. Aber bevor ich mich mit dem Problem der sozialen Differenzierung besch~iftige, m0chte ich noch kurz zwei wichtige soziale Systeme pr~isentieren, nfimlich die Organisationen und die Interaktionen. Organisationen miJssen nicht als Teilsysteme der Funktionssysteme begriffen werden, sondern als soziale Systeme spezifischer Art. Als autopoietische Systeme reproduzieren sich die Organisationen durch eine besondere Art der Kontingenzeinschr~inkung, n~imlich durch die Kommunikation von Entscheidungen. 166 Diese Art Kommunikation beobachtet die Welt mit Hilfe von Alternativen. Die von der Kommunikation ausgew~ihlte Seite der Alternative wird mit dem Entscheidungsbegriff bezeichnet. In der Organisation werden also Entscheidungen getroffen, die als Voraussetzung neuer Entscheidungen, die wiederum als Voraussetzung weiterer Entscheidungen fungieren. In dieser Art und Weise werden Vergangenheit und Zukunft im Moment des Entscheidens verknfipft. Im Gegensatz zu den Funktionssystemen, die strukturell und semantisch von der menschlichen Vollinklusion tr~iumen, k6nnen die Organisationen nur auf der
~66Niklas Luhmann,Organisationund Entscheidung,a.a.O., S. 63 ft. 173
Basis der Mitgliedschaft operieren. Wer kein Mitglied einer Organisation ist, kann selbstverstiindlich nicht mitmachen (dies heiBt: nicht entscheiden). In diesem Sinne miissen die Organisationen sowohl den Eintrittsakt als auch die Bedingungen der Aufrechterhaltung des Mitgliedstatus konditionieren und diverse Motivunterstellungen voraussetzen. In der funktional differenzierten Gesellschaft betrifft die Mitgliedschaft nicht die gesamte Person. Die Mitgliederrolle ist also nur eine Rolle neben anderen. Man kann nicht nur Beamter oder Krankenschwester sein, sondem auch Kunde, Empf',inger von Leistungen, usw. Verschiedene Rollen ergiinzen sich wechselseitig: Arzt / Patient, Lehrer / Schiller, Priester / Gliiubiger, usw. Reine Mitgliedschaft bestimmt allerdings noch nicht, wer was wann entscheiden kann. Um den Altemativenbereich zu bestimmen, werden Entscheidungspriimissen gebraucht. Unter diesen Entscheidungspriimissen finden wir Programmen zweck- und konditionaler Art, Kommunikationswege (beispielsweise hierarchischer Art) und was Luhmann mit dem Begriff des Personaleinsatzes (also: die Eignung bestimmter Personen, um bestimmten Aufgaben zu erf'tillen) bezeichnet. Zwei spezifische Leistungen charakterisieren die Kommunikation von Organisationen. Anders als die Interaktionssysteme, die nur iiber Systeme in ihrer Umwelt kommunizieren k6nnen, kommunizieren die Organisationen mit Systemen in ihrer Umwelt. Dies erm6glicht die Entwicklung von strukturellen Kopplungen. 167 Beispielsweise besteht eine Universitiit aus verschiedenen systemischen Referenzen: Wissenschaft, Erziehung, Wirtschaft, usw. Die zweite Leistung hat mit der Interdependenzunterbrechung zu tun. 168 Das klassische Beispiel dieser Interdependenzunterbrechung befindet sich in der Variation der Preise. Wenn aus irgendwelchem Grund eine Zeitung teuer wird, bedeutet das nicht, dass andere Zeitungen auch teuer werden mtissen. Im Gegensatz zu den Funktionssystemen und den Organisationssystemen strukturieren sich Interaktionssysteme anhand der Unterscheidung anwesend / abwesend. Nur diejenigen die physisch anwesend sind, k6nnen an der Interaktion teilnehmen. Aus diesem Grund setzen solche Systeme nicht nur die Wahrnehmung anderer Personen voraus, sondern auch dass sie wahrnehmen k6nnen, dass sie und ihre Wahrnehmung wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung der Wahmehmung wird von Luhmann als Reflexive Wahmehmung bezeichnet. Interessant bei dieser Wahmehmung ist, dass sie die Kommunikation sozusagen erzwingt. Wenn jemand wahrnimmt, dass er schon wahrgenommen worden wurde, kann er nicht mehr vermeiden, dass sein Verhalten als eine kommunika-
167Niklas Luhmann,Die Gesellschaftder Gesellschaft, a. a. O., S. 834. 168Niklas Luhmann,a. a. O. S. 845. 174
tive Mitteilung verstanden wird. In solchen F~illen wird jeder Versuch die Kommunikation zu vermeiden als Kommunikation interpretiert. Obwohl die Interaktion niemals die Gesamtheit der Gesellschaft eingeschlossen hat, kann man auch ihre Bedeutung als fundamentale Produktionsebene der Kommunikation nicht leugnen. Nach der Erfindung tier Schrift wurde die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft allerdings deutlicher. Dies bedeutet selbstverst~indlich nicht, dass Interaktion und Gesellschaft nichts miteinander zu tun h~itten und dass sie nur in funktionslosen Kontexten vorkommen k6nnte. Sowohl in Funktionssystemen als auch in Organisationen findet Interaktion statt. In einem Forschungsinstitut (Organisation) k6nnen Wissenschaftler sich treffen (Interaktion), um eine theoretischen Diskussionen (Funktionssystem) durchzuf'tihren. Die Interaktion hat sich also an die neue Differenzierungsform der Gesellschaft gut angepasst. Mit der Pr~isentation der wichtigsten Aspekte der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann wollte ich zeigen, wie geeignet diese Theorie for die Analyse der sachlichen Differenzierung der Gesellschaft ist. Zweifellos hat sich keine andere gegenw~irtige Theorie mit dieser Problematik so ausfi~hrlich auseinandergesetzt. Wie schon vielmals angedeutet, bin ich jedoch der Meinung, dass diese Theorie Probleme hat, die eigentliche Dynamik der sozialen Differenzierung zu begreifen. Im folgenden Abschnitt m6chte ich mich mit der systemtheoretischen Analyse sozialer Differenzierung befassen.
8.2
Differenzierung nach Positionen im sozialen Raum
8.2.1
Inklusion / Exklusion: Die systemtheoretischen Analysen
In der Behandlung der Problematik sozialer Differenzierung lassen sich bei Luhmann zwei Phasen identifizieren. In der ersten Phase hat Luhmann diese Problematik mit Hilfe des Klassenbegriffes beobachtet. In der sp~iteren zweiten Phase hat er sie anhand der Unterscheidung Inklusion / Exklusion analysiert. ~69 Von den beiden Phasen ist zweifellos die der Diskussion fiber Inklusion / Exklusion diejenige, die mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. ~7~
~69Diese Teilung in Phasen bedeutet selbstverst~indlich nicht, dass Luhmann die Begrifflichkeit der sozialen Klassen durch die der Inklusion und Exklusion ersetzt h~itte. Diese Phasendifferenzierung l~isst sich durchf'tihren, weil die Unterscheidung Inklusion / Exklusion nur allm~ihlich an Bedeutung gewonnen hat. ~70Es gibt Soziologen, die sogar sagen, dass Luhmann diese Unterscheidung in Anspruch genommen hat, weil er nach einer Reise nach Brasilien, wo er die ,,favelas" gesehen hat, die ,,Menschen" und die Ungleichheit entdeckt hat. Ob diese ,,Entdeckung" tats~ichlich stattgefunden hat, bleibt fragwtirdig, lhre Zurechnung hat allerdings zu neuen Interpretationen der Systemtheorie beigetra175
Wenn Luhmann die Schichtungsph~inomene in der modernen GeseUschaft analysiert, nimmt er also den Begriff der sozialen Klasse in Anspruch. Ftir Luhmann ist es immer klar gewesen, dass die Durchsetzung der funktionalen Differenzierung als prim~e Differenzierungsform der Gesellschaft keineswegs die Uberwindung der Schichtung mitimpliziert. Nach wie vor gibt es Leute, die reicher als andere sind und die deshalb bessere Lebenschancen als andere haben. Luhmann will also die Existenz dieses Ph~nomens nicht bestreiten Was Luhmann in seinen Analysen versucht, ist zu zeigen, dass auch die Schichtung sich an der neuen Differenzierungsform angepasst hat. Im Gegensatz zu den Zeiten des Primats der stratifizierten Differenzierungsform, in denen die Schichtung das Hauptstrukturierungsform der Kommunikation war, muss die Schichtung in der modernen Gesellschaft auf die Regulierung der Interaktion verzichten, weil die funktionale Differenzierung eine sch~irfere Differenzierung zwischen Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen fordert. In diesem Kontext werden Schichten zu sozialen Klassen. TM Die sozialen Klassen der modernen Gesellschaft unterscheiden sich von den Schichten der stratifizierten Gesellschaften durch die grOBere Freiheit der Rollenwahl, die dem Individuum zugelassen wird. W~ihrend in den stratifizierten Ordnungen, der Zugang zu bestimmten Rollen v011ig ausgeschlossen war, charakterisieren sich die Gesellschaften mit Klassenbildung durch ihre relativ freie Rollenzulassung. Dies bedeutet selbstverst~indlich nicht, dass es heutzutage tats~ichlich mOglich w~ire, jede beliebte Rolle zu spielen. Die Zulassungskriterien beziehen sich allerdings nicht mehr auf Herkunft oder Moral, sondern auf Geld oder F~ihigkeiten. Also durch Kriterien, die sich einfacher erreichen lassen. Soziale Klassen passen zur funktional differenzierten Gesellschaft auch besser, weil sie mehr Kontingenz als die alten Schichten zulassen. Dies heil3t, dass die Verteilung als anderbar zu begreifen ist. In dieser ersten Phase hat Luhmann also seine Ungleichheitsanalysen auf die Interaktionsordnung konsentriert und herausgefunden, dass sie keine Rolle mehr in der Regulierung dieser Ordnung spielt. Ob sie tats~ichlich keine Rolle mehr spielt, bleibt allerdings umstritten. Sp~iter m6chte ich mich dieser Frage zuwenden. In diesem Moment ist es nur wichtig zu sagen, dass Luhmann der Meinung ist, dass die Ungleichheitsanalysen der funktionalen Differenzierung nachgeordnet werden muss. Im Gegensatz zu vielen Soziologen interessiert sich Luhmann fiir die soziale Ungleichheit nicht, weil sie ,,normal" und allgegenw~irtig ist, sondern weil ihre Existenz eine Herausforderung gegen die Logik der funkgen. Siehe als Beispiel: Harmut Esser, ,,Wohin, zum Teufel mit der Soziologie", in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft f'tirSoziologie, Heft 42 2003, S. 72 ft. 17~Niklas Luhmann, ,,Zum Begriffder sozialen Klasse", in ders. (Hg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen, 1985, S. 131. 176
tionalen Differenzierung ist. Die Gesellschaflstheorie h~itte sich eher for die Frage interessieren, wie es iiberhaupt mtiglich ist, dass nach wie vor krasse Unterschiede der Lebenschancen reproduziert werden, auch wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft darauf nicht mehr angewiesen ist. Die Antwort lautet: ,,dass dies offenbar ein Nebenprodukt des rationalen Operierens der einzelnen Funktionssysteme ist, vor allem: des Wirtschaftssystems und des Erziehungssystems". ~72In diesem Sinne ist Luhmann der Meinung, dass Ungleichheit keine soziale Funktion erfiillt. In der zweiten Phase analysiert Luhmann die soziale Differenzierung anhand der Unterscheidung Inklusion / Exklusion. Mit dieser Unterscheidung versucht Luhmann die Art und Weise zu beschreiben, in der die Gesellschaft die Teilnahme von Personen an der Kommunikation reguliert. Der Personbegriff bezeichnet wiederum die Art und Weise, in der Individuen als Adressaten in der Kommunikation eingeschlossen werden. Je nach Differenzierungsform reguliert die Gesellschaft die Inklusion bzw. Exklusion von Personen. In segment~iren Gesellschaften hat sich die Inklusion auf die Zugeh6rigkeit zu einem Stamm oder einem Clan bezogen. In den stratifizierten Gesellschaften erfolgt die Inklusion tiber Zugeh6rigkeit zu einer Schicht oder einem Stand. Die funktional differenzierte Gesellschaft verfiigt fiber kein umfassendes Prinzip der Inklusion bzw. der Exklusion. In dieser Ordnung entscheidet jedes System fiber seine eigene Inklusions- bzw. Exklusionsprinzipien. Die Funktionssysteme schlieBen allerdings nicht die Ganzheit einer Person. Heutzutage kann niemand ausschlieBlich zum System der Wirtschaft oder der Politik geh6ren. Man nimmt an der Wirtschaft nur teil, wenn man etwas kaufen bzw. verkaufen will und am Rechtssystem nur, wenn man gesetzliche Konflikte 16sen will. Die moderne Gesellschaft hat sich also nach den grundgesetzlichen Prinzipien der Gleichheit und der Freiheit zu gestalten. Im Prinzip k6nnen wir alle an den unterschiedlichen Kommunikationsbereichen teilnehmen. Und diese Teilnahme k6nnen wir im Prinzip individuell und freiwillig bestimmen. Wie kann aber diese Gesellschaft sich die Allgegenw~irtigkeit sozialer Ungleichheiten erklaren? Wie kann sie diese Ungleichheit, die unsere Freiheit begrenzt, tolerieren? Die moderne Gesellschaft kann die Existenz sozialer Ungleichheit erkl~iren und tolerieren, indem sie diese Ungleichheiten temporalisiert. Solche Ungleichheit existiert nicht, weil die Gesellschaft ihre Versprechungen konstitutiv nicht halten kann, sondern weil sich diese Prinzipien noch nicht v611ig durchgesetzt haben. Ungleichheit wird also als ein tempor~ires und deshalb iiberwindbares Ph~inomen beobachtet.
~72Niklas Luhmann,Die Gesellschaftder Gesellschaft, a.a.O., S. 774. 177
Wegen dieser Temporalisierung der Problematik kann sie nicht sehen, dass die Versprechungen von Freiheit und Gleichheit, die in ihren Teilsystemen angesiedelt sind, nur in der Form von individuellen Karrieren erreicht werden ktinnen und dass die Gestaltung solcher Karfieren immer vonder Mitgliedschaft in Organisationen abh~ingt. Wie wir schon gesehen haben, ist die Mitgliedschaftskonditionierung der Organisationen sehr stark gebaut. In Bezug auf diese Problematik schreibt Luhmann: ,,Die Gesellschaft halt Exklusionen ftir menschenunwtirdig und Ftir funktional nutzlos, ohne sie verhindern zu ktinnen. Die Organisationen gehen von Exklusionen aus, um eine Entscheidungskontrolle tiber Mitgliedschaft und damit ihre eigene Autonomie einrichten zu kiSnnen". ~73 Es ist klar, dass es ganz unwahrscheinlich ist, die ganze Bev61kerung als Mitglied einer bestimmten Organisation rekrutieren zu k6nnen. Und es ist sicher, dass die Mitgliedschaft in jeder Organisation ausgeschlossen ist. Anders als die Funktionssysteme, die als Inklusionsmaschinen gelten, schaffen die Organisationen Exklusion. In diesem Sinne kann man behaupten, dass sie als Exklusionsmaschinen operieren. 174 Noch ein Unterschied zwischen der modemen Gesellschaft und anderen gesellschaftlichen Ordnungen besteht darin, dass in der modernen Gesellschaft der Inklusionsbereich locker integriert ist. Dies bedeutet, dass die Beobachtung der Inklusion einer Person in ein Funktionssystem keine Information tiber die Beteiligung derselben Person an anderen Kommunikationsbereichen gibt. Eine Person kann beispielsweise ein guter Dichter sein. Dies muss aber nicht bedeuten, dass diese Person notwendigerweise reich oder politisch engagiert ist. ,,Im Exklusionsbereich findet man das entgegengesetzliche Bild. Hier ist die Gesellschafi hochintegriert- so sehr das Soziologen tiberraschen mag, die mit dem Begriff der Integration im Sinne der Durkheim - Parsons Tradition positive Vorstellungen verbinden. Hochintegriert deshalb, weil der Ausschluss aus einem Funktionssystem quasi automatisch den Ausschluss aus anderen nach sich zieht ,,175 Aus der Beobachtung der Hochintegration der Exklusion leitet Luhmann die folgende Konklusion ab. Gerade weil es dort um einen Bereich der NichtKommunikation geht, kann die funktional differenzierte Gesellschaft den Exklusionsbereich nicht regulieren. Dies hei6t selbstverst~indlich nicht, dass es im Bereich der Exklusion keine Kommunikation stattfindet. FUr Luhmann ist es
173Niklas Luhmann,Organisationund Entscheidung,a.a.O., S. 392. ~74Vgl. Armin Nassehi / Gerd Nollmann, ,,Inklusionen. OrganisationssoziologischeErg~inzungen der Inklusions-Exklusionstheorie",in: Soziale Systeme.Zeitschrift far soziologischeTheorie, Jg. 3, H. 2, 1997,S. 393-411. ~75Niklas Luhmann,"Inklusion und Exklusion",in: ders., SoziologischeAufkl~irung6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen, 1995,S. 259. 178
aber klar, dass diese Kommunikationen der funktionalen Logik nicht folgen. So haben wir mit einer Gesellschaft zu tun, in der die funktionale Codes sowohl gelten als auch nicht gelten. ,,Und daraus kann man, wenn es hart wird und nicht mehr marginalisiert werden kann, den Schluss ziehen, dass die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Inklusion (mit loser Integration) und Exklusion (mit fester Integration) ,,supercodiert" ist und man sich faktisch zun~ichst immer erst an diesem Unterschied orientieren muss, wenn man sich zurechtfinden will". 176 In diesen Exklusionsbereichen werden Individuen nicht mehr als Personen, sondern nur als Ktirper beobachten. Ktirper, deren Bewegung durch r~iumliche Grenzen kontrolliert werden mtissen. In diesem Sinne gewinnt wieder den Raum an Bedeutung ftir die Gesellschaft. Beispiele solcher r~iumlich determinierten Exklusionsbereichen sind die Ghettos der grol3en Metropolen. Obwohl Luhmann nicht der Meinung ist, dass diese Bedingungen die Autopoiesis der Funktionssysteme gef'~ihrdet, schliel3t er grol3e Wirkungen auf die Funktionssysteme nicht aus. Funktionssysteme wie die Politik, das Rechst oder die Wirtschaft werden von diesen Umst~inden besonders herausgefordert. Luhmann ht~rt also seine Reflexionen tiber das Ph~inomen der sozialen Ungleichheit mit sehr dramatischen Thesen auf. Ohne die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen dieser Dynamik leugnen zu wollen, bin ich jedoch der Meinung, dass die Analysen von Luhmann zu abstrakt sind, um die eigentliche Dynamik der sozialen Differenzierung begreifen zu ktinnen. Ein Paar wichtige Hinweise hat er uns zweifellos schon gegeben. Diese Hinweise mtissen allerdings noch mit Begriffen, die aus anderen theoretischen Rahmen stammen, erg~inzt werden, um ein integriertes Verst~.ndnis der gesellschaftlichen Differenzierung erreichen zu k6nnen. Solche Begriffe k6nnen durch die Analyse der Klassentheorie und der Feldtheorie von Pierre Bourdieu gewonnen werden. 8.2.2
Die Starrheit der sozialen Klassen: Die Klassentheorie von Pierre Bourdieu
Im Gegensatz zu Luhmann interessiert sich Bourdieu haupts~ichlich fur Ph~inomene sozialer Ungleichheit. Diese Ph~inomene, die im Bereich des stratifizierten sozialen Raumes stattfinden, werden von Bourdieu anhand von zwei aufeinanderbezogenen Begriffiichkeiten analysiert. Auf der einen Seite haben wir die Analyse sozialer Klassen und auf der anderen die der sozialen Felder. W ~ r e n d die Analyse sozialer Klassen eine umfassende Perspektive der gesellschaftlichen Stratifizierung in einem bestimmten Moment der Geschichte liefert, charakterisiert sich die Feldanalyse nicht nur durch ihr Interesse an der sachlichen Diffe176A.a.O., S. 260. 179
renzierung, sondern auch dutch ihre diachronische Perspektive. Genau wegen diesem Interesse an der sachlichen Differenzierung k6nnen Elemente der Feldtheorie die systemtheoretischen Analysen von Luhmann erg~inzen. Zun~ichst werde ich mich aber mit der Klassenanalyse von Bourdieu befassen, weil sie wichtige Grundlagen der Feldtheode liefert. Mit seiner Theorie der sozialen Klassen versucht Bourdieu die Analysen von Marx und die von Weber zu erg~inzen. Dies bedeutet, dass er den ,,Klassenrealismus" yon Marx (also ein Modell, in dem sich die Klassen anhand ihrer objektiven Position innerhalb der Produktion definieren lassen) mit der ,,Schichtungsidealismus" yon Weber (also das Modell, in dem die Schichten sich in Bezug auf subjektive Wertsch~itzungen innerhalb Prestigehierarchien definieren lassen) in einem unfassenden Ungleichheitsmodell zu integrieren. Fiir Bourdieu ist es also klar, dass eine solche Trennung zwischen Objektivismus und Subjektivismus iiberwunden werden muss, um die soziale Ungleichheit in ihrer Multidimensionalit~it beobachten zu k6nnen. Um ein solches Ziel zu erreichen, unterscheidet Bourdieu zwischen drei konstitutiven Kriterien der Ungleichheitsbildung innerhalb des sozialen Raums, n~imlich dem Kapitalvolumen, der Kapitalstruktur und der sozialen Lautbahn. ~77 Mit dem Kapitalvolumen ist der Umfang an Kapital gemeint, fiber den die unterschiedlichen Klassen typischerweise verftigen. Dutch den Begriff der sozialen Laufbahn wird die Temporalit~it in Anspruch genommen und zwar, um beobachten zu k6nnen, ob die Position einer Klasse innerhalb des sozialen Raumes w~ihrend der Untersuchungsdauer konstant geblieben ist oder ob sie sich ge~indeft hat. Dieser Begriff erm6glicht die Unterteilung von Klassen. Beispielsweise teilt Bourdieu die Mittelklasse in absteigende, exekutive und neue. Der Begriff der Kapitalstruktur bezieht sich auf die Verh~iltnisse zwischen den unterschiedlichen Kapitalformen. Zweifellos liegt einer der wichtigsten Beitr~ige, die Bourdieu zur Problematik der sozialen Differenzierung gemacht hat, darin, dass er unterschiedliche Kapitalarten identifiziert hat. Im Prinzip unterscheidet Bourdieu zwischen drei Kapitaltypen, n~imlich dem 6konomischen Kapital, dem kulturellem Kapital und dem sozialem Kapital. ~78 Die Definition des 6konomischen Kapitals bezieht sich selbstverst~indlich auf Eigentum und Geld. Im Fall des kulturellen Kapitals haben wit es mit einem komplexeren Ph~inomen zu tun. Diese Kapitalform l~isst sich in drei Zust~inde unterteilen, n~imlich den inkorporierten, den objektivierten und den institutionalisierten.
177Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement. Paris, 1979, S. 128. 17s Siehe: Pierre Bourdieu, ,,Las formas del capital. Capital econ6mico, capital cultural y capital social", in: ders., Poder, derecho y clases sociales, Bilbao, 2000, S. 131-164. 180
eines Habitus voraus, sonst w~e es beispielsweise unmtiglich den Prestige eines akademischen Titels oder einer T~itigkeit anzuerkennen. Die Verh~iltnisse relativer Autonomie, die es zwischen den Kapitalformen gibt, sind klar. Obwohl alle im Prinzip unabh~ingig sind, untersttitzen und fordern sie sich gegenseitig. Man kann viele Freunde haben und dies kann selbstverst~indlich viel helfen. Es hilf aber mehr, wenn unsere Freunde einflussreich oder reich sind. Ohne die Universit~t besuchen zu haben, kann man sich mit der Philosophie besch~iftigen und sogar mehr als Leute mit akademischen Titeln wissen. Allerdings reicht dieses Wissen nicht, wenn diese Person eine Stelle an der philosophischen Fakult~it einer Universit~t haben will. In solchen Fallen ist die soziale Anerkennung einer institutionalisierten Leistung erforderlich. Aus diesem Grund sagt Bourdieu, dass es bestimmte (zeitlich und raumlich bedingte) Transformationsverfahren zwischen Kapitalformen gibt. In diesen Transformationsverfahren spielt selbstverst~indlich das Geld eine hervorragende Rolle, weil jede Art des Kapitalerwerbs Geld kostet. Deswegen teilt Bourdieu die herrschende Klasse in zwei Unterklassen. Auf der einen Seite haben wir die herrschenden Herrschenden, also diejenigen, die fiber mehr/Skonomisches Kapital verfiigen und auf der anderen Seite haben wir die beherrschten Herrschenden, also diejenigen, die tiber mehr kulturelles aber weniger 8konomisches Kapital verftigen. Unter der Klasse der Herrschenden und der oben erw~ihnten Mittelklasse identifiziert Bourdieu die Klasse der Beherrschten, also jene Klasse, die tiber einen sehr geringen Umfang an Kapital verftigt. Die Beobachtung des sozialen Raumes einer (nationalen) Gesellschaft in einem bestimmten Moment ihrer Geschichte fordert also nicht nur die typische Anspruchnahme des Kapitalvolumens, sondern auch die Analyse der Kapitalstruktur. Da die Beobachtung der sozialen Laufbahn den Vergleich zwischen unterschiedlichen Strukturierungsphasen eines sozialen Raumes voraussetzt, kann man sie nicht von Anfang an durchftihren. Um die Positionen eines sozialen Raumes besser erforschen zu k/Snnen, schl~igt Bourdieu das folgende Schema vor. Kapitalvolumen (+)
~176
Okonomisches Kapital (+) Kulturelles Kapital (-)
Kulturelles Kapital (+) Okonomisches Kapital (-)
Kapitalvolumen (-) 182
Die Positionen dieses Schemas werden anhand von zwei Kriterien besetzt. Das erste Kriterium bezieht sich auf die sozialen Positionen und das zweite auf die Lebensstile. Der Raum sozialer Positionen wird in der modernen Gesellschaft von der (sozialen) Distanz, die es zwischen den beruflichen Gruppen gibt strukturiert. Im Fall der franz6sischen Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahren, die als Gegenstand der unfangreichen Forschungen in La distinction gilt, haben wir die freien Berufen als paradigmatisches Beispiel einer Berufsgruppe mit sowohl hohem 6konomischen als auch kulturellen Kapital und als Gegenbeispiel die Leute, die im Bereich der Landwirtschaft besch/iftigt sind, deren tikonomisches und kulturelles Kapital in der Regel sehr niedrig sind. Wiederum bezieht sich der Raum der Lebensstile auf symbolische Merkmale der Lebensf'tihrung. Hier haben wires also mit Ph~inomenen, die Max Weber anhand des Statusbegriff analysierte, zu tun. Es geht also um Wertsch~itzungen, Pr~iferenzen, Wahrnehmungen, usw. Es geht also um das was man normalerweise isst, was man normalerweise trinkt, was man im Kino sieht, welche Musen man besucht, welche Musik man h6rt, welches Auto man f'~ihrt usw. All diese gelten als Distinktionsmerkmale, welche die Schaffung einer symbolischen Distanz erm6glichen, also jener Distanz, die sich nicht vom blogen Umfang des 6konomischen Kapitals ableiten l~isst. Die Homologie, die es zwischen dem Raum sozialer Positionen und dem Raum der Lebensstile gibt, l~isst sich mit Hilfe des Habitusbegriffes als soziale Bedingung der Entstehung und Entwicklung eines Geschmacks erkl/iren. ,,Ayant l'esprit tout ce qui pr6c~de et en particulier le fait que les schemes g6n6rateurs de l'habitus s'appliquent, par simple transfert, aux domaines les plus diff6rents de la pratique, on comprend imm6diatement que les pratiques ou les biens qui sont associ6s aux diff6rentes classes dans les diff6rentes domaines de la pratique s'organisent selon des structures de opposition qui sont parfaitement homologues entre elles parce qu'elles sont toutes homologues de l'espace des oppositions objectives entre les conditions". ~79Wir haben es hier also mit dem Ph/inomen des Klassenhabitus zu tun. Die eigentliche Dynamik der Verh~.ltnisse zwischen sozialen K!assen kann nur mit Hilfe des Kampfbegriffes verstanden werden. Jede Klasse k~impf um etwas. Die herrschende Klasse bemtiht sich um die Erhaltung ihrer Position (was nicht ausschliel3t, dass es zwischen Gruppierungen dieser Klasse auch K~impfe um die Kriterienbestimmung stattfindet). Die Mitglieder der Mittelklasse bemtihen sich darum die herrschende Klasse zu erreichen. Im Bereich der beherrschten Klasse wird der Kampf fast immer zu einem blol3en Kampf ums Uberleben reduziert.
~79Pierre Bourdieu, La distinction, a.a.O, S. 196. 183
Dieser Kampf um Positionierung findet allerdings nicht nur im Bereich der Klassen statt. Je mehr Bourdieu sich mit sozialen Ph~inomenen auseinandergesetzt hat, desto deutlicher wurde for ihn, dass diese Dynamik allgegenwiirtig in der Gesellschaft ist. Aus diesem Grund wurde das Modell des sozialen Raumes angewendet, um die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche als Kampffelder zu analysieren. Wann immer und wo immer etwas als ,,wertvoll" bezeichnet wird, bricht diese Logik des Verteilungskampfes aus. Deshalb hat Bourdieu die grundlegenden Elemente einer allgemeinen Theorie sozialer Felder entworfen. Mit diesen setze ich mich im folgenden Ausschnitt auseinander. 8.2.3
Verteilungskonflikte tiberall" Die Feldtheorie
Fiir Pierre Bourdieu bestehen die modemen Gesellschaften aus unterschiedlichen Handlungsbereichen, die als Felder bezeichnet werden k/Snnen. ~8~ Der Feldbegriff wird von Bourdieu folgendermaEen definiert: ,,En termes analytiques, un champ peut ~tre dEfini comme un rEseau, ou une configuration de relations objectives entre des positions. Ces positions sont dEfinies objectivement dans leur existence et dans les determinations qu'elles imposent b. leurs occupants, agents ou institutions, par leur situation (situs) actuelle et potentielle dans la structure de la distribution des diffErentes esp~ces de pouvoir (ou de capital) dont la possession commande l'acc~s aux profits spEcifiques qui sont en jeu dans le champ, et, du m~me coup, par leurs relations objectives aux autres positions (domination, subordination, homologie, etc.)". ~8~ Felder bestehen also aus Beziehungen zwischen Positionen. Ftir Bourdieu ist es wichtig zu betonen, dasses in der Feldanalyse immer um die Beobachtung von Beziehungen geht, weil er der Meinung ist, dass sich die Realit~it der sozialen Welt nur anhand ihrer Relationalitat begreifen l~isst. Im Gegensatz zu Luhmann begreift Bourdieu diese Beziehungen nicht als ,,funktionale" (also: symmetrische), sondern als hierarchische (also: asymmetrische). Das Prinzip, nach dem sich die Beziehungen zwischen Positionen bestimmen lassen, ist die ungleiche Verteilung des feldspezifischen Kapitals. Je mehr Kapital man hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass man das Feld bestimmen kann. Die Verteilungskonflikte innerhalb der Felder werden also durch den Kapitalumfang entschieden.
~s00bwohl ich es schon angedeutet habe, ist es hier wichtig zu betonen, dass wenn Bourdieu vonder ,,Gesellschaft" spricht, bezieht er sich auf nationale Gesellschaften. Ein umfassender Gesellschaftsbegriff ~ la Luhmann wird von Bourdieu vehement abgelehnt. Deshalb spricht er lieber von Gesellschaften. 181Pierre Bourdieu mit Loi'cJ.D. Wacquant, REponses. Pour une anthropologie reflexive, a.a.O., S. 72f. 184
Nach der Ausbreitung des Modells auf die ganze Gesellschaft hat der Kapitalbegriff die Konturen, die er in der Theorie der sozialen Klassen hatte, fast verloren. Ohne den Begriff stets pr~zis zu definieren, spricht Bourdieu in seinen Untersuchungen von den unterschiedlichsten Formen des Kapitals. Wie schon gesagt, wo immer er einen sozialen ,,Wert" identifizicrt, wendet er diesen Kapitalbegriff an. Einige Beispiele solcher Kapitalformen sind: das linguistische Kapital, das technische Kapital und das juristische Kapital. Dies bedeutet nicht, dass Bourdieu auf die ,,alte" Unterteilung verzichtet hat. Obwohl Bourdieu dies nicht systematisch ausgearbeitet hat, lassen sich viele der neuen Kapitalformen von den ,,altere ' n" ableiten. In diesem Sinne ist das juristische Kapital ein symbolisches Kapital, das technologische Kapital ein kulturelles Kapital und das finanzielle Kapital ein 6konomisches Kapital. Die typische Definition eines feldspezifischen Kapitals in den Texten von Bourdieu sieht folgendermaBen aus" ,,le capital scientifique est une esp~ce particulier de capital symbolique...qui consiste dans la reconnaissance (ou le cr6dit) accord6 par l'ensemble des pairs-concurrents au sein du champ scientifique (le nom de mentions dans le Citation index en est un bon indicateur, que l'on peut am61iorer, comme je l'ai fait dans l'enqu~te sur le champ universitaire franqais, en prenant en compte des signes de reconnaissance et de cons6cration tels que le prix Nobel ou, h l'6chelle nationale, les M6dailles du CNRS et aussi les traductions en langues 6trang~res ,,. ~82 Das feldspezifische Kapital fungiert aber nicht nur als ,,Wert" und als ,,Waffe" innerhalb des Feldes, sondern auch als Eintrittsbedingung. Man kann den Wert des Kapitals nur wahrnehmen, wenn man tiber einen feldspezifischen Habitus verftigt, so wie es nur m6glich ist, innerhalb des Feldes ,,rational" zu handeln, wenn man habitusbezogene Praxen hervorbringen kann. Die Verh~iltnisse zwischen Habitus und Feld werden von Bourdieu folgendermaBen deftniert: ,,La relation entre l'habitus et le champ est d'abord une relation de conditionnement 9 le champ structure l'habitus qui est le produit de l'incorporation de la n6cessit6 immanente de ce champ ou d' un ensemble de champs plus ou moins concordants- les discordances pouvant ~.tre au principe d'habitus divis6s, voire d6chir6s. Mais c'est aussi une relation de connaissance ou de construction cognitive" l'habitus contribue h constituer le champ comme monde signifiant, dou6 de sens et de valeur, dans lequel il vaut la peine d'investir son 6nergie ,,.~83 Um an einem Feld teilnehmen zu k6nnen, mtissen allerdings die Akteure nicht nur an den Wert des feldspezifischen Kapitals glauben, sondern auch Interesse an der Weiterexistenz des Feldes haben. Allerdings werden dieser Glaube und ~s2 Pierre Bourdieu, Les usages sociaux de la science. Pour une sociologique clinique du champ scientifique, Paris, 1997, S. 20. ~83Pierre Bourdieu mit Loi'cJ.D. Wacquant, a.a.O., S. 103. 185
dieses Interesse nie thematisiert. Sie bleiben immer ein implizites Wissen. Wenn man sich fragt, ob es sich lohnt das Spiel des Feldes zu spielen, wird das Spiel gefiihrdet. Dieses implizite Wissen wird von Bourdieu als illusio bezeichnet. Ohne sie g~ibe es keine Motivation, das Spiel zu spielen. In diesem Sinne existiert die Interesselosigkeit in den Feldern nicht. Sogar die Felder, in denen man angeblich kein Interesse verfolg (wie etwa die Wissenschaft oder die Kunst) strukturieren sich durch Interessen und Positionierungsk~impfe. Diese Interessen k~Snnen allerdings von Au6enseitem nicht identifiziert werden, weil sie tiber den entsprechenden Habitus nicht verftigen. B isher habe ich nur von den Komponenten eines Feldes gesprochen, es ist aber Zeit fiber die Grenzen des Feldes zu sprechen. Interessanteweise sind auch die Grenzen eines Feldes ein konstitutiver Aspekt seiner Dynamik. Dies hei6t, dass die Grenzen eines Feldes nicht von Anfang an bestimmt sind. Als Ergebnis eines historischen Prozesses kann ein Feld der konstitutiven Kontingenz der sozialen Welt nicht entkommen. Aus diesem Grund kann kein Feld von Anfang an tiber feste Grenzen verftigen. Was gestern als wissenschaftliche Wahrheit gait, gilt heute nicht mehr. Was frtiher ,,in" war, finden wir heute h~isslich oder altmodisch. Die Grenzen eines Feldes bewegen sich also st~indig. Diese Bewegung wird vonder Kampfdynamik bestimmt. Wie im Fall der sozialen Klassen gibt es in den Felder Herrschende und Beherrschte. Im Bereich der Wirtschaft beispielsweise haben die M~ichtigen eine bessere Position, um die Preisen zu beeinflussen, indem sie ihre Interessen in den Verhandlungen mit ihren Lieferanten durchsetzen k6nnen. Die Herrschenden sind also diejenigen, welche die Grenzen des Feldes durch ihre Macht (Kapital) bestimmen, indem sie seine doxa, also die ,,fichtige Meinung", die innerhalb des Feldes gilt, bestimmen. Wenn diese doxa sich durchgesetzt hat, wird sie nicht mehr in Frage gestellt. Im Feld der Mode beispielsweise werden die herrschenden Designers diejenigen, welche die Bedeutung des Wortes ,,Mode" bestimmen. Die anderen Designer mtissen diese Definition akzeptieren, oder das Risiko eingehen, als Au6enseiter zu erscheinen. Wie Max Weber ist Bourdieu der Meinung, dass es im Bereich der Religion um die legitime Interpretation des Glaubens (bzw. der heiligen Schriften) geht. Indem eine Gruppe von Akteure ihr doxa durchsetzt, erreicht sie das Monopol der symbolischen Gewalt. Die Bedingungen der Teilnahme werden also durch den Kampf bestimmt. Sp~iter werde ich zeigen, wie sich diese Reflexion tiber die Grenzen eines Feldes mit dem systemtheoretischen Begriff der Programmierung erg~inzen l~isst. Die Gesellschaftsdifferenzierung bei Bourdieu bezieht sich hier nicht auf Funktionen, sondern auf Ausdifferenzierung unterschiedlicher Typen von Macht und Legitimit~it. Er interessiert sich nicht f'tir den funktionalen Beitrag, der ein 186
Feld der Gesamtgesellschaft machen kann, sondern ftir den Kampf um Autonomie, die jedes Feld durchftihrt. FUr Bourdieu ktinnen die Felder allerdings nicht eine totale Autonomie erreichen. Da sie auch Beziehungen mit anderen Feldern haben, kann man nur von einer relativen Autonomie sprechen. In diesem Sinne impliziert der Begriff der relativen Autonomie immer den der relativen Abh~ingigkeit mit. Wie im Fall der Klassenanalyse, in der das tJkonomische Kapital den Vorrang genieBt, miissen die verschiedenen Felder auch das Geld (fast immer) in Anspruch nehmen, um zu operieren. Ohne Geld w~ire es unm6glich, Theaterstticke zu inszenieren oder wissenschaftliche Forschung durchzuftihren. Je mehr ein Feld Geld braucht, desto heteronomer ist dieses Feld, weil dieses Bedtirfnis nach Geld viele Entscheidungen des Feldes bestimmt. Wenn wir innerhalb des Feldes der Kunst das Unterfeld des Theaters mit dem Unterfeld der Poesie vergleichen, sehen wir, was Bourdieu meint. Da die Inszenierung eines Theaterstticks Geld kostet, mUssen die Produzenten und Regisseuren den Faktor Publikum (als Einkommensquelle) in Anspruch nehmen. Es w~ire sehr unwahrscheinlich, Sponsoren oder Investoren f'tir ein Theatersttick, an dem sich niemand auBer einer Gruppe von Intellektuellen interessiert, zu finden. Wenn es aber um die Inszenierung eines sehr popuRiren Theaterstticks geht, also um ein Theatersttick, das den Gewinn gew~ihrleistet, werden sicher viele Investoren sich ftir die Produktion interessieren. Das Theater h~ingt also von vielen Faktoren ab. Im Gegenteil ist der Dichter, was die Wirtschaft betrifft, (fast) frei. Papier und Kugelschreiber braucht er (vielleicht auch ein W/Srterbuch), um sein Produkt hervorbringen zu ktinnen. Falls er seine Gedichte vertJffentlichen will, muss er selbstverst~indlich nach einem Verlag suchen. Die Bedingungen des Marktes der Dichtung sehen aber sehr anders als die des Marktes des Theaters aus. Im Bereich der Poesie weiB man, dass es hier um eine Angelegenheit fiir wenige Leute (eine intellektuelle Elite) geht und dass deshalb niemand, weder der Dichter noch der Verlag, viel Geld damit gewinnen wird. Deshalb entspricht die Figur des Dichters dem Ideal des Kiinstlers (l'art pour l'art). Im Bereich der Wissenschaft passiert etwas ganz ~ihnliches zwischen der angewendeten Physik und der Mathematik. W~ihrend die ersten viel Geld for Forschung bekommen, ktinnen die Mathematiker unser Verst~indnis der Welt fast ohne Hilfe von Technologie und Ressourcen ~indern. Eigentlich finden viele Mathematiker die mathematischen Anwendungen der Physik fast ,,vulg~". Und im Bereich der Soziologie haben wir ein sehr ~ihnliches Beispiel in der gegenseitigen Kritik zwischen ,,Theoretikern" und ,,Empirikern". Nicht nur innerhalb der sozialen Klassen, sondern auch innerhalb der verschiedenen Felder entstehen also ,,Klassen" und das BediJrfnis nach Distinktion.
187
Um die Autonomie- und Abh~ingigkeitsverh~iltnisse aller Felder innerhalb des sozialen Raumes einer (nationalen) Gesellschaft beobachten zu k6nnen, hat Bourdieu den Begriff des Feldes der Macht entwickelt. Wie die anderen Felder ist das Feld der Macht ein Feld von Kr~iften. Seine Struktur wird allerdings durch die Kraftverh~iltnisse aller Kapitalformen bestimmt. Durch den Kampf, der in diesem Feld stattfindet, wird das herrschende (bzw. legitime) Herrschaftsprinzip bestimmt, also der soziale Wert jeder Kapitalform. Aus diesem Grund darf das Feld der Macht keineswegs mit dem politischen (bzw. staatlichen) Feld verwechselt werden. Wie in all den anderen Felder darf die Herrschaft nicht als die unmittelbare Durchsetzung des Willens der herrschenden Klasse verstanden werden, sondern als eine Art Nebenfolge sozialer Beziehungen. Aus diesem Grund wird diese legitime Herrschaft durch die Dynamik jedes einzelnen Feldes verst~kt. Strategien, die im Bereich der Felder stattfinden, tragen zur Strukturierung des Feldes der Macht bei. In diesem Sinne wirken sie in zwei Bereichen ein. Deshalb gibt es immer eine enge Homologie zwischen der Struktur des Machtfeldes und der Struktur jedes einzelnen Feldes. Diese Art Verdopplung kann in Bezug auf die Positionierung des Feldes kultureller Produktion innerhalb des Machtfeldes und des sozialen Raums gezeigt werden. Is4 Das Feld der kulturellen Produktion wird von Bourdieu in zwei Subfelder unterteilt. Auf der einen Seite haben wir den Bereich der ,,begrenzten Produktion", dies hei6t, jenen Bereich, in dem das Prinzip ,~artpour l'art" (also das feldspezifische Kapital) gilt. In diesem Bereich bemfihen sich die Kfinstler darum, von anderen Kiinstlern anerkannt zu werden. Dieser Bereich wird wiederum in zwei ,,Klassen" unterteilt, n~imlich die der etablierten Avantgarde und die der Boheme. W~ihrend die Etablierten die doxa dieses Unterfeldes bestimmen, bemtiht sich die Boheme darum, diese doxa zu ~indern. Auf der anderen Seite befindet sich der Bereich der Grol3produktion. In diesem Bereich verliert das Feld teilweise seine Autonomie, weil es dort mehr um die Anerkennung eines nichtktinstlerischen Publikums geht. Aus diesem Grund spielt das Geld in diesem Bereiche eine gr66ere Rolle. Obwohl die Mitglieder dieses Bereiches sowohl fiber kulturelles als auch fiber 6konomisches Kapital verffigen, fehlt ihnen das feldspezifische Kapital. Die doxa, die sie etablieren, ist also eine doxa, die der Logik der Heteronomie folgt, indem sie zulassen, dass nicht-kfinstlerische Kriterien das Feld bestimmen. Auf der Spitze dieses Unterfeldes befinden sich Leute,
~s4 Diese Analysen von Bourdieu beziehen sich auf den Kampf um Autonomie des literarischen Feldes in Frankreich, der zwischen den zweiten H~ilftedes XIX. und die ersten Jahren des XX. Jahrhunderts stattgefunden hat. Siehe dazu: Pierre Bourdieu, Les r~gles de l'art. Gen~seet structure du champ litt6raire, Paris, 1992. 188
die zum Kreis der herrschenden Herrschenden geh6ren, n~imlich Leute mit 6konomischem und kulturellem Kapital. Wie es in der folgenden Tabelle ~85 deutlich wird, unterscheidet Bourdieu das Feld der Macht vom Rest des sozialen Raums. Wegen ihres Mangels an Kapital k6nnen die Leute, die sich in der unteren H~ilfte des sozialen Raums befinden, am Kampf um die kulturelle (bzw. kiinstlerische) doxa nicht teilnehmen. Nach dieser Pr~isentation der Feldtheorie bin ich endlich in der Lage, den Erg~inzungsversuch zwischen Theorien der sachlichen und Theorien der sozialen Differenzierung durchzufiihren.
~85A.a.O., S. 207. 189
Feld der kulturellen Produktion
SSK + (Etablierte Avantgarde)
OK+ KK +
Teilfeld
Teilfeld
Autonomie + OKSSK +
Autonomie OK + SSK -
Begrenzte Produktion (Bohemische Avantgarde)
Grol3produktion (Vaudeville, Feuilleton, Journalismus)
OKKK + Feld der M a c h t
OK + KK-
SSK -
Nationaler sozialer R a u m
OKKK-
OK - 6konomisches Kapital KK- kulturelles Kapital SSK- spezifisches symbolisches Kapital
190
8.3
Zu einer Theorie der Programmierung
8.3.1
Immer noch Dichotomien
Selbstverst/indlich ist es nicht meine Absicht zu beitaupten, dass die von mir dargestellten Theorien die ganze Problematik der Gesellschaftsdifferenzierung einschlieflen k6nnen. Allerdings gehe ich davon aus, dass sie zwei der wichtigsten und repr/isentativsten Differenzierungstheorien der Gegenwart sind. In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass die gegenw/irtige Soziologie immer noch Probleme hat, diese Differenzierungsprinzipien, n/imlich das Prinzip der sachlichen Differenzierung und das der sozialen Differenzierung theoretisch zu integrieren. Auf der einen Seite setzten wir uns mit symmetrisch differenzierten Funktionen und auf der anderen Seite mit asymmetrisch differenzierten Positionen, Klassen oder Schichten auseinander. Wie schon gesagt, gibt Luhmann zu, dass es soziale Differenzierungsformen in der modernen Gesellschaft gibt, die nicht dem Muster der Funktionalit/it folgen. Ph~inomene wie die Stratifizierung, die Distinktionsbemtihungen und die soziale Exklusion gibt es also in der Gesellschaft nach wie vor. Da sie aber angeblich ,,keine Funktion" fiir diese Gesellschaft erftillen, kann die Gesellschaftstheorie von Luhmann ihre eigene Dynamik nicht analysieren. Wenn Luhmann sich beispielsweise mit der sozialen Ungleichheit anhand der von Bourdieu beobachteten Distinktionsbemiihungen auseinandersetzt, schreibt er in einer FuBnote: ,,Anders als Bourdieu wiirde ich jedoch meinen, dass dieses Bemtihen gerade in seiner Vergeblichkeit und im Fehlen eines gesellschaftsstrukturellen Hintergrundes beeindruckt". ~86 Erf'tillt aber so ein allgegenw/irtiges Ph/inomen tats/ichlich keine Funktion in der Gesellschaft? Wenn wir solche Ph/inomene wegen ihres angeblichen Mangels an Funktion vonder soziologischen Forschung ausschlieBen, verpassen wir nicht die Chance, die eigentliche Dynamik der sozialen Welt soziologisch zu begreifen? Wenn wir von Exklusion sprechen, beschreiben wir etwas, oder werfen wir nur einen Begriff in die Welt, der gleichzeitig alles und nichts erkl~irt? Sind die Leute in den favelas tats/ichlich aus den Funktionssystemen ausgeschlossen, oder nehmen sie an ihnen nur in einer anderen Art und Weise teil? Auf welcher gesellschaftlichen Reproduktionsebene wiirden sich diese Exklusionen besser beschreiben lassen? Zweifellos hat die Gesellschaftstheorie von Luhmann fiir die Soziologie viel geleistet. In Bezug auf die Problematik der sozialen Differenzierung hat sie allerdings keine befriedigende Beschreibung geliefert. ~86Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S. 774 f. FuBnote333. 191
Die Einseitigkeit bleibt aber nicht nur auf der Seite von Luhmann. Im Fall von Bourdieu haben wir dieselbe Art von Problemen. Dieses Mal jedoch in Bezug auf die Beschreibung sachlicher Differenzierung. Im Werk von Bourdieu kann man eine deutlichere Analyse der sozialen Stratifizierung innerhalb einer sehr beschr~inkten Theorie der sachlichen Differenzierung finden. Bourdieu erkl~.rt die Gesellschaftsdifferenzierung zu einer Differenzierung von Kampfbereichen. Kann aber tats~ichlich gedacht werden, dass alles was in der Gesellschaft geschieht der iSkonomischen Logik der Felder folgt? W ~ e dies nicht ein Versuch, die ganze Gesellschaft anhand eines ihren Teilsystems, n~imlich ihrer Wirtschaft verstehen zu wollen? W ~ e diese Reduktion richtig, wenn es mit Hilfe der Theorie funktionaler Differenzierung mtiglich ist, die Verschiedenheit der operativen Logiken gesellschaftlicher Bereiche zu beobachten? Kann die Feldtheorie als umfassende Theorie der Gesellschaft prEsentiert werden? Oder besch~iftigt sie sich nur mit einem (auf jeden Fall durchaus wichtigen) Aspekt der sozialen Welt? Wir befinden uns also vor zwei sehr kompetenten Theorien, die allerdings nicht umfassend genug sind, um beide Differenzierungsdynamiken zu analysieren. Um so eine umfassende Theorie erreichen zu ktinnen, ist es ntitig, die wissenschaftliche Dynamik der Aufltisung und Rekombination von Elementen wieder in Anspruch zu nehmen. Meiner Meinung nach lassen sich Elemente beider Theorien sehr gut integrieren. Um diese Integration durchfiihren zu ktinnen, muss ich mich ganz kurz wieder auf die Reflexionen tiber die Verh~iltnisse zwischen Kommunikation und praktischem Sinn beziehen. Wie ich schon gezeigt habe, fungiert der praktische Sinn als eine strukturelle Kopplung zwischen Kommunikation und (praktischem) Bewusstsein. Dies heiBt, dass die Kommunikation als eine Praxis begriffen werden kann. Die Personen k6nnen an der Kommunikation ,,erfolgreich" teilnehmen, weil sie praktisch wissen, was, wo, wann und mit wem sie etwas kommunizieren kiSnnen. Da dieses Wissen ein praktisches Wissen ist, sind sich diese Personen normalerweise diesen Kriterien nicht bewusst. Wenn sie damit anfangen, tiber diese Kriterien nachzudenken, bewegen sie sich vom Bereich des praktischen Bewusstseins zum Bereich des reflexiven Bewusstseins (das wiederum praktisch ist, aber wie eine Art Beobachtung zweiter Ordnung operiert). In diesem Sinne kann die Gesellschaftsdifferenzierung nur stattfinden, weil die Flexibilit~it des praktischen Sinnes diese Differenzierung von sachlichen Bereichen und sozialen Strategien ermiSglicht. Die Kommunikation kann sich ,,erfolgreich" von einem Frame (im Sinne von Goffman) zu einem anderen Frame bewegen, weil sie sozusagen ein praxisorientiertes System ist. ~87 187Ich bin der Meinung,dass der Rahmenbegriffeiner der interessantesten und ein viel versprechender Begriffe der Soziologie ist. Mit seiner Hilfe ist es miSglich, die kontext- und praxisbezogene 192
Innerhalb dieses kommunikativen Praxisbereiches lassen sich nicht nur Funktionssysteme, Organisationen oder Interaktionen identifizieren, sondern auch Felder. Da Begriffe wie Funktionssystem, Organisation oder Interaktion als Ph~inomene kommunikativer Art schon von Luhmann definiert worden sind, werde ich mich hier ausschlieBlich mit der Definition des Feldbegriffes als kommunikatives Ph~inomen besch~iftigen. 8.3.2
Felder als Programmierungsr~iume
Ein soziales Feld kann als ein Kommunikationszusammenhang verstanden werden, der zustande kommt, wenn sich die Kommunikation in den Funktionssystemen, den Organisationen oder den Interaktionen nach der Feldlogik strukturiert. In diesem Sinne sind Felder kommunikative Ph~inomene eigener Art. Obwohl Felder innerhalb der Funktionssysteme zustande kommen ktinnen, bedeutet dies weder, dass ein ganzes Funktionssystem sich nach der Feldlogik strukturieren k6nnte, noch dass Funktionssystem ausschlieBlich aus Felder bestehen wtirden. Der Feldbegriff und der Funktionssystembegriff tiberschneiden sich nicht, weil es doch klar ist, dass in einem Funktionssystem viel mehr Kommunikation stattfindet, als diejenige, die sich nach der Feldlogik strukturiert. Felder sind auch keine Organisationen. Selbstverst~indlich k6nnen Felder innerhalb einer Organisation oder zwischen vielen Organisationen zustande kommen. Die Teilnahme an Feldern ist aber nicht immer nach formalen Mitgliedschaftskriterien konditioniert. Da einige Interaktionssysteme sich nach der Feldlogik strukturieren lassen, bedeutet dies keineswegs, dass all die Interaktionssysteme Felder w~iren. Der Feldbegriff und der Konfliktbegriff lassen sich auch nicht tiberschneiden. Es ist klar, dass Konflikte (wie tiberall in der Gesellschaft) innerhalb der Felder auftauchen k6nnen, dies bedeutet aber nicht, dass diese Felder ausschlieBlich aus Konflikten bestehen. Auf der einen Seite setzt die Existenz eines Feldes die Entstehung eines Verteilungskonfliktes voraus. Aber auf der anderen Seite fungieren diese Felder als Mechanismen der AllianzschlieBung und der Konflikteinschr~inkung.
Anwendung sozialer Strukturen zu beobachten. Diese Rahmen sind sowohl Ergebnisse als auch Voraussetzungen der struktureller Kopplung zwischen Kommunikation und Bewusstsein. Eine forschungsangemessene Anwendungdieses Begriffes fordert allerdings die Anspruchnahmeder drei Sinndimensionen. Rahmen sollen also nicht nur als von Personen in Anspruch genommeneStrukturen (Sozialdimension), die zur Verst~indigung von Situationen beitragen (Sachdimension), verstanden werden, sondern auch als Strukturen, die das Ergebnis eines historischen Prozesses sind (Zeitdimension). Selbstverst~indlichsetzt die richtige Beobachtung dieser Dimensionen die Spezifikation eines Raumes immer voraus. 193
Felder p e r se gibt es also nicht. Um soziale Form gewinnen zu kiSnnen, mtissen die Felder andere Systeme in Anspruch nehmen. Entscheidend ist nur, dass die Kommunikation, die in diesen Systemen vorkommt, sich nach der Feldlogik strukturiert. Wenn dies geschieht, taucht innerhalb dieser Systeme ein Feld auf. Die Kommunikation folgt der Feldlogik, wenn ein Kampf um die Verteilung knapper Werte (Kapitalformen) innerhalb eines Systems stattfindet. In den Funktionssystemen und in den Organisationen finden solche Verteilungsk~impfe beispielsweise im Bereich der Programmierung statt. In den Interaktionssystemen bezieht sich diese Feldlogik beispielsweise auf Ph~inomene wie die nichtverbale Kommunikation. Da unser K/Srper in der Interaktion einfach nicht aufhtiren kann, zu kommunizieren, gilt er als perfekter Kanal der Ritualisierung von Machtsgefiillen (zwischen Geschlechtern, Klassen, Kulturen, usw.). Dieses hochkomplexe Kommunikationssystem kann uns viel v o n d e r Position der Beteiligten innerhalb des sozialen Raums verraten. Zum Beispiel, je m~ichtiger man ist, desto grtiBer ist der Raumanspruch. Wie ich bereits gezeigt habe, verftigen die systemischen Codes tiber keine Sinnanweisung fiir die Zurechnung der bin~en Systemwerte. Deshalb k6nnen diese Systeme nur anhand von Programmen entscheiden, welche Kommunikationen zum positiven Wert des Codes passen. Aus diesem Grund folgt nicht die ganze Kommunikation eines Systems der Feldlogik, sondern nur die kommunikative Praxis, die sich um die Durchsetzung eines bestimmten Programms bemtiht. Mit der Begriffiichkeit von Bourdieu wtirden wir sagen, dass es hier um die Durchsetzung einer doxa geht. 188 Diese Verteilungskonflikte ktinnen nur innerhalb von Feldern vorkommen, weil es doch klar ist, dass es in der Gesellschaft als kommunikativer Horizont keine Ressourcenknappheit gibt. Die Reproduzierbarkeit des Mediums Sinn kennt selbstverst~indlich keine Grenzen. Was die Autopoiesis der Gesellschaft gew~ihrleistet, ist, dass in der Gesellschaft immer mehr Kommunikation produziert werden kann. Wie die Gesellschaft kennen die Funktionssysteme auch keine Grenzen. In einem Funktionssystem kann es problemlos mehrere Programme geben. Im Bereich der Religion gibt es beispielsweise mehrere religi/Sse Programme (Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Islam, Buddhismus, usw.) und innerhalb solcher Programme gibt es eine Vielfiiltigkeit von Subgruppen. In der Erziehung finden wir viele Lehr- und Lernplane und in der Wissenschaft eine groBe Menge von Theorien und Methoden. Laut der Gesellschaftstheorie von Luhmann ist die Wirtschaft das einzige System, das sich in Bezug auf die Problematik der Knappheitsminderung durch ~ss Die Unbestimmtheitdieses Begriffes erm6glicht eine doppelte Anwendung. Auf der einen Seite fungiert die doxa als ein Programm und auf der anderen als ein Medium (Metaprogramm),in dem spezifische ProgrammeFormgewinnen k6nnen. 194
Knappheitssteigerung strukturiert. In der modernen Geldwirtschaft kann allerdings diese Knappheit nicht nur als Knappheit der Gtiter und Leistungen verstanden werden, sondern vielmehr als Knappheit des Geldes. Mit Hilfe des Geldes kann die Wirtschaft sozusagen Abstand von ihrer Umwelt nehmen, indem sie ihre eigene Knappheit produziert. In diesem Sinne bedeutet das Steigen eines Preises nicht, dass die Ressourcen, die fiir die Produktion dieser bestimmten Ware n6tig sind, knapper geworden w~en. Das wirtschaftliche System und nicht seine Umwelt bestimmt also die Preise. Deshalb sind die Programmierungsm6glichkeiten der modernen Wirtschaft im Prinzip auch unbeschr~inkt. Die Frage lautet nun, wie lassen sich bestimmte Programme (Preise, Budgets, usw.) durchsetzen ? Dass die Programmierung in der horizontbezogenen Virtualit~t der Gesellschaft keine Grenzen kennt, bedeutet nicht, dass in der tats~ichlichen Welt der funktionsbezogenen Kommunikation dasselbe Prinzip gilt. Durch empirische Beobachtungen ist es m6glich festzustellen, dass die Programmierungsm6glichkeiten eigentlich sehr begrenzt sind. Es mag viele Programmen geben. Sie k6nnen allerdings nicht am selben Ort und zum selben Zeitpunkt gelten. Wie kann also die Kommunikation entscheiden, welches Programm innerhalb eines spezifischen Kontextes giiltig ist? Meine Antwort lautet: durch die Produktion von Asymmetrien, also von Feldern. Nur innerhalb eines Feldes kann den Raum fiir Programmierungsm6glichkeiten als ein beschr/inkter Raum erscheinen. In diesem Sinne erscheinen innerhalb der Felder all die symbolischen Werte (Kapitalformen), welche die erfolgreiche Durchsetzung eines Programms erm6glichen, und nicht nur das Geld, als ,,knappes Gut". Die Funktion von Feldern besteht also darin, Asymmetrien in der Programmierung der Kommunikation zu schaffen, um die Durchsetzung eines kontextspezifisch geltenden Programms zu plausibilisieren. Da die Bedingungen der Entstehung der Knappheit symbolischer GiJter von einem Fall zu einem anderen Fall variieren, kann ein Feld nur anhand empirischer Forschung bestimmt werden. Nur eine auf dem Kommunikationsbegriff basierende Theorie erm6glicht die Differenzierung solcher Reproduktionsbereiche. Wie bereits gezeigt wurde, kann ein und dieselbe Kommunikation anschlussf'~ihig innerhalb eines Funktionssystems, einer Organisation und einer Interaktion sein. Ein kommunikatives Ereignis kann also zu mehreren Systemen ,,geh6ren" und zwar gleichzeitig. Im selben Sinne kann dasselbe Ereignis beispielsweise zur Reproduktion eines Funktionssystems und zur Reproduktion eines Feldes beitragen.
195
8.3.3
Die N~ihe und die Ferne: Die Schwerkraft der Felder
Der Kampf um die Kapitalverteilung strukturiert also die Felderkommunikation. Dieses Prinzip besagt allerdings kaum etwas tiber die Kriterien der Teilnahme an einem Feld. Welche Kommunikationen geh/Sren zu einem Feld und welche nicht? Da Felder keine Funktionssysteme sind, reicht es nicht aus, wenn zwei (oder mehr) Kommunikationen sich auf dieselbe gesellschaftliche Funktion beziehen, um in einem Feld teilnehmen zu k/Snnen. Da sie keine Organisationen sind, lassen sich soziale Felder nicht nach der Unterscheidung Mitglied / NichtMitglied differenzieren. Obwohl in den Feldern interaktive Kommunikation stattfinden kann, w~ire es falsch, ein Feld ausschlieBlich aufgrund der Unterscheidung anwesend / abwesend identifizieren zu wollen. Die Kriterien der Teilnahmen an Feldem entscheiden sich aufgrund der Unterscheidung nah / fern. Diese Unterscheidung soil hier aber nicht nur in Bezug auf R~iumlichkeit verstanden werden, sondern auch in Bezug auf sachliche, soziale und zeitliche Positionierungen. Is9 Je n~iher man r~iumlich, zeitlich, sachlich und sozial ist, desto gr/SBer die Ressourcenspannung und wahrscheinlicher die Entstehung eines Feldes. 19~ Es ist also wahrscheinlicher, dass ein Feld zwischen zeitgen/Sssischen (zeitliche N~ihe) Forscher desselben Faches (sachliche N~ihe), die im selben Institut arbeiten (r~iumliche N~ihe) und die mehr oder weniger tiber denselben wissenschaftlichen und institutionellen Kapitalumfang verftigen (soziale N~ihe), entsteht als dass ein Feld zwischen Forscher unterschiedlicher F~icher, Instituten (bzw. L~inder) oder wissenschaftlichen Prestige entstehen wtirde. Diese Dimensionen ktinnen je nach Situation wieder konfiguriert werden. Kommunikative Adressaten (Firis,~ In der Theorie von Luhmann spielen der Raum und die r~iumlichen Unterscheidungen keine nennenswerte Rolle. Meiner Meinung nach ist diese ,,Nachl~issigkeit" einer der gr/SBten theoretischen Miingel seiner Gesellschaftstheorie. Ich bin davon tiberzeugt, dass die wissenschaftliche Analyse sozialer Ph~inomene, die Anspruchnahme des Raumes fordert. Die Rolle des Raumes in der sozialwissenschaftlichen Forschungen ist so entscheidend, dass es sich lohnt, dariiber nachzudenken, ob der Raum sich nicht wie eine eigenst~indige Sinndimension begreifen I~isst, oder ob es nicht bessere w~ire, statt von einer Zeitdimension, von einer Raum-Zeitdimension zu sprechen. Die L6sung dieses Problem wtirde allerdings diese Untersuchungen tiberfordern. Deshalb wage ich mich nicht zu behaupten, dass der Raum eine eigenst~indige Sinndimension ist, obwohl ich ihn manchmal als solche behandle. In der internen Debatte der Systemtheorie wurde diese Problematik schon thematisiert. Siehe beispielsweise: Rudolf Stichweh, ,,Raum, Region und Stadt in der Systemtheofie", in: Soziale Systeme, Jg. 4, H. 2, 1998, S. 341-358. In diesem Aufsatz verteidigt Stichweh das Argument, dass die Entscheidung von Luhmann, den Raum nicht als eine eigenstiindige Sinndimension zu begreifen, eine empirisch-historische Entscheidung sei, ,,die der soziokulturellen Evolution zuzurechnen ist und die der Theoretiker nicht trifft, sondern nur nachkonstruiert" (S. 344). 19oGewissermaBen wiederhole ich hier das Argument von Durkheim tiber die Grtinde der Arbeitsteilung (siehe Kapitel 7). Ich tue es allerdings auf einer htiheren Abstraktionsebene, und ohne die Gesellschaft mit irgendeinem Organismus zu vergleichen.
196
men, Theorien, Kfinstler, Staaten, usw.), die fiber einen sehr hohen Kapitalumfang verffigen, ktJnnen beispielsweise an den Programmierungsk~impfen mehrerer r~iumlicher R~iume teilnehmen. In diesem Fall kann die soziale N~he (~ihnlicher Kapitalumfang) die r~iumliche Distanz fiberbrficken, und translokale (bzw. transnationale) Felder entstehen lassen. Wie Bourdieu in seinen Forschungen fiber die Entstehung eines literarischen Feldes zeigt, tr~igt diese soziale N~ihe zur Strukturierung eines Machtfeldes bei, das fiber die sachlichen Differenzen hinausgeht. Ein Feld also, in das die unterschiedlichsten Kapitalformen treten, um die Struktur ihrer wechselseitigen Verh~iltnisse zu konfigurieren. Selbstverst~indlich wird durch diese Entfernungsbeziehungen nicht nur tiber die Konkurrenz, sondern auch tiber die potenziellen Allianzen entschieden. Die Emergenz eines Feldes setzt normalerweise die Entstehung von Gruppen voraus. Akteure, die denselben Kapitalumfang und dieselbe doxa teilen, schlieBen normalerweise Allianzen ab. Da diese Allianzen formaler oder informaler Art sein ktinnen, ktJnnen sie nicht nur in Funktionssystemen oder Organisationen, sondern auch im Bereich der Interaktion vorkommen. Im folgenden Beispiel kann sehr deutlich beobachtet werden, wie Felder auch im Bereich der Interaktion unter Nachbarn entstehen k6nnen. In den von Norbert Elias und John L. Scotson durchgeffihrten Untersuchungen der von den Nachbarn der englischen Gemeinschaft Winston Parva getroffenen Unterscheidung zwischen Etablierten und AuBenseitern, ktinnen wir diese Entstehung einer feldkonditionierten Allianz deutlich beobachten. 191 In diesem Fall ist eine sehr enge Gruppenzugehtirigkeit in Bezug auf zeitliche Distanz entscheidend. Je sp~iter man in der Gemeinschaft angekommen ist, desto unf'~ihiger ist man, die Strukturierung der Interaktionen zu beeinflussen. In diesem wie in allen Feldern haben wir also Herrschende, die fiber die Kriterien der doxa (in diesem Fall handelt es sich um Kriterien der Stigmatisierung neuer Nachbar) entscheiden und Beherrschte, die aus diesen Entscheidungen ausgeschlossen werden. ~92 ~9~Norbert Elias und John L. Scotson, The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry into Community Problems, London, (1965) !994. ~92 Im folgenden Zitat erkRirt Elias die Situation dieser Gemeinschaft ganz deutlich: ,,Walking through the streets of the two parts of Winston Parva, a causal visitor might have been surprised to learn that the inhabitants of one part thought of themselves as vastly superior to those of the other. So far as the standards of housing were concerned, the differences between the two parts were not particularly evident. Even if one looked more closely into the matter, it was at first surprising that the inhabitants of one area felt the need and were able to treat those of the other as inferior to themselves and, to some extent, could make themfeel inferior. There were no differences in nationality, in ethnic descent, in 'colour' or 'race' between residents of the two areas; nor did they differ in the type of occupation, their income and educational levels - in a word, in their social class. Both were working-class areas. The only difference between them was that mentioned before: one group was 197
In all diesen Beispielen geht es also nicht um die kommunikative Erreichbarkeit des Sinnes (Gesellschaft als Horizont), sondem um die in der Gegenwart immer begrenzten Chancen seines Geltendmachens (Gesellschaft als Positionierung innerhalb von Felder). Welche symbolischen Mechanismen tragen jedoch zur Durchsetzung eines bestimmten Sinnes bei? Im folgenden Abschnitt m6chte ich mich dieser Frage zuwenden. 8.3.4
Durchsetzungsmechanismen: Kommunikationsmedien und Kapitalformen
W~ihrend sich die Annahme eines kommunikativen Vorschlags in den Funktionssystemen mit Hilfe der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Wahrheit, Recht, Macht, Eigentum / Geld, Kunst, usw.) wahrscheinlicher macht, fungieren die Kapitalformen in den verschiedenen Feldern als Durchsetzungsmechanismen. Beide Begrifflichkeiten bezeichnen differenzierte gesellschaftliche Strukturen, welche die Anschlussm6glichkeiten einer bestimmten Kommunikation innerhalb eines bestimmten Funktionssystems bzw. Feldes wahrscheinlicher machen. Es besteht also eine ,~quivalenz in Bezug auf ihre Funktion, was keineswegs bedeutet, dass sie austauschbar w~en. Wie die Programmierungsm6glichkeiten k6nnen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien im Horizont der Gesellschaft nicht als knappe Gtiter begriffen werden. ~93 Im Gegensatz setzen die Kapitalformen immer Akkumulationsm6glichkeiten und eine entsprechende Knappheit von symbolischen Ressourcen voraus. Aus diesem Grund ist es notwendig die kommunikativen Referenzen immer vor den Augen zu haben. Die unterschiedlichsten Faktoren k6nnen zur Kapitalakkumulierung beitragen, darunter auch die Kommunikationsmedien. Im Fall des Geldes oder der politisch legitimierten Macht ist es klar, wie diese Akkumulation funktioniert. Je mehr Geld man hat, desto reicher ist man und je h6her man in der politischen Hierarchie ist, desto m~ichtiger ist man. In anderen F~illen ist diese Akkumulation allerdings nicht so deutlich. Man kann nicht sagen, dass jemand tiber ,,mehr" Wahrheit, Kunst, Glaube oder Recht verftigt. In solchen F~illen kombinieren sich die Leistungen eines Kommunikationsmediums mit anderen Kapitalformen, die nicht nur akkumulierbar (Bildung, Prestige, Publikationen, soziale Beziehungen) sind, sondern sich auch Personen, Gruppen oder Organisationen zuschreiben lassen. Im Bereich der Religion kann beispielsweise der Glaube einer Performed by old residents established in the neighbourhood for two or three generations and the other was a group of newcomers", a.a.O., S. xvii. 193Selbstverst~indlich ist das wirtschaftliche Medium des Eigentums bzw. des Geldes die einzige Ausnahme. 198
son nicht gemessen werden. Was sozial gemessen werden kann, ist allerdings ihr Kapazit~it die heiligen Schriften ,,richtig" zu interpretieren. Ein Laie kann sehr religi/3s sein, aber er wird nur sehr geringe Chancen haben, um die Programmierung des katholischen Glaubens zu beeinflussen. Diese Programmierungschancen werden in der Regel von den Experten monopolisiert. Die Wahrheit einer Theorie kann auch nicht gemessen werden. Deshalb werden andere Faktoren (wie die Prestige der Zeitschriften, in denen der Verfasser einer Theofie Aufs~itze vertiffentlicht hat, oder die Universit~it, an der diese Person arbeitet) in Anspruch genommen, um die Programmierung der Wissenschaft innerhalb eines Feldes zu entscheiden. Es ist aber klar, dass wenn die Argumente dieser Theorie nicht auf dem Kommunikationsmedium Wahrheit beruhen wtirden, w~ire diese Theorie innerhalb der Wissenschaft absolut anschlussunf'~ihig. Die Kommunikationen mUssen also das entsprechende Kommunikationsmedium in Anspruch nehmen, um innerhalb des Systems akzeptiert zu werden (wenn sie sozusagen die Grenze der Selbstreferenz eines Systems passieren). Ob diese Kommunikationen in einem bestimmten Kontext zum herrschenden Programm werden oder nicht, wird nach der Feldlogik entschieden. Und diese Feldlogik nimmt viele andere Faktoren als nur die Kommunikationsmedien in Anspruch. Deshalb k/Snnen minimale (feine) Unterschiede zur Durchsetzung einer systemischen doxa beitragen. Sie sind also keineswegs ,,vergeblich" wie Luhmann meinte, sondern grundlegende Mechanismen der Plausibilisierung kommunikativer Angebote durch Asymmetrisierung.
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Schlussbetrachtungen" Die kritische Leistung der Soziologie ,,Ainsi, paradoxalement la sociologie lib~re en lib6rant de l'illusion de la libert6, ou, plus exactement, de la croyance mal plac6e dans des libert~s illusoires". 194
Anhand der Analyse und theoretischen Weiterentwicklung zwei der wichtigsten konzeptuellen Bezugsprobleme der soziologischen Theorie habe ich mich in diesen Untersuchungen darum bemiiht, die rekursiven Verh~.ltnisse, die es in der sozialen Welt zwischen Notwendigkeit und Kontingenz gibt, zu zeigen. Sowohl im Fall der Strukturierung als auch im Fall der Differenzierung wird der Raum des Mtiglichen durch die praktische Dynamik der Kommunikation eingeschr~inkt. Im Fall der Strukturierung werden die konstitutive (doppelte) Kontingenz des Sozialen und die im Prinzip uneingeschr/inkten M6glichkeiten der Agency durch die Entwicklung eines k6rperbezogenen Habitus begrenzt. Dieser k6rperbezogene Habitus fungiert also als M6glichkeitsbedingung aller sozialen Tr/igheiten. Selbstverst/indlich wird die Kontingenz nicht vernichtet, sondern, wie gesagt, nur praktisch eingeschrankt. Da in der modernen Gesellschaft eine dramatische Uberwindung des lokalen Raumes und eine unglaubliche Steigerung der sachlichen Differenzierung der Gesellschaft stattgefunden hat, wird dieser k6rperbezogene Habitus st~indig herausgefordert. Ph~inomene der Hysterese des Habitus kommen in der modernen Gesellschaft h/i.ufiger vor als je zuvor. Die Spannung zwischen dem Tempo des k6rperbezogenen Habitus und dem Tempo der K~mmunikation haben zu qualitativ neuen Verh~iltnissen zwischen Notwendigkeit und Kontingenz in der sozialen Welt gefiihrt. Im Fall des zweiten Bezugsproblems, der Gesellschaftsdifferenzierung, wird der Raum der Programmierungsm6glichkeiten durch die aus der praktischen Logik der Felder abgeleitete Asymmetrisierung der Kommunikationsm6glichkeiten eingeschr~inkt. Die Spannung, die es zwischen Notwendigkeit und Kontingenz gibt, l/i.sst sich sehr deutlich anhand der widersprtichlichen Verh/iltnissen zwischen einer sachlichen Differenzierung funktionaler Art und einer von Ungleichheit gepr/agten sozialen Differenzierung beobachten. Also zwischen einer sachlichen Differenzierung, die immer mehr Inklusion ver~94Pierre Bourdieu,Chosesdites, a.a.O., S. 26. 201
spricht, und einer sozialen Differenzierung, die als eine Exklusionsmaschine operiert. Zum Schluss ist es abet wichtig zu sagen, dass es hier nicht um eine normative Bewertung dieser Dynamik geht. Kontingenz hei6t nicht Freiheit, so wie Notwendigkeit nicht Unfreiheit heigt. Aus der Beobachtung dieser Dynamik k6nnen wit keine Handlungsanweisungen fiJr die Verbesserung der Gesellschaft ableiten. Was nicht heiBt, dass die Soziologie keine kritische Wissenschaft ist. Die kritische Leistung der Soziologie besteht in der permanenten Infragestellung unseres iiblichen Bildes der sozialen Welt. In diesem Sinne habe ich die kritische Arbeit der Soziologie mit diesen Untersuchungen fortgesetzt.
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